Kafka und Prag: Colloquium im Goethe-Institut Prag 24.–27. November 1992 [Reprint 2015 ed.] 9783110902556, 9783110140620


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German Pages 286 [288] Year 1994

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Table of contents :
Vorwort: Kafka a Praha
Inhaltsverzeichnis
Kafka und die Prager deutsche Literatur
Die Kafkas: Juden? Christen? Tschechen? Deutsche?
Der Prager Zionismus zu Kafkas Zeit
„Vom Judentum“. Anmerkungen zum Sammelband des Vereins „Bar Kochba“
Franz Kafkas Sorgen mit der tschechischen Sprache
Franz Kafka und die bildende Kunst
Kafkas Stadt? Prag im Zyklus der toten Städte
Der Schlüssel zum Schloß im Roman von Franz Kafka
„Brücken“ von Kafka zu Stifter
Die fiktive Wahrheit des Traums Strategien in Franz Kafkas ,Durchbruchstexten‘
Prag und Babylon Zu Kafkas „Das Stadtwappen“
Geschichte ohne Ende Zu Kafkas Kritik der historischen Vernunft
Die zwei Welten bei Franz Kafka
Die aufbauende Zerstörung der Welt Zu Franz Kafkas „Der Hungerkünstler“
Zwischen Wlaschim und Prag Stadt-Land-Antinomien bei Franz Kafka und Max Brod
Das Jahrhundert der Grete Samsa Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit
Die Publizistin Milena Jesenská
Dreißig Jahre später
Die Kafka-Rezeption in Böhmen (1913–1949)
Zur Rezeption Franz Kafkas in der Tschechoslowakei
Franz Kafka auf dem tschechischen Theater
Franz Kafka in den Werken der modernen tschechischen Prosa
Franz Kafka in Havels Prag
Mitarbeiterverzeichnis
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Kafka und Prag: Colloquium im Goethe-Institut Prag 24.–27. November 1992 [Reprint 2015 ed.]
 9783110902556, 9783110140620

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Kafka und Prag

Kafka und Prag Colloquium im Goethe-Institut Prag 2 4 . - 2 7 . November 1992 Herausgegeben von

Kurt Krolop Hans Dieter Zimmermann

w DE

Walter de Gruyter Berlin · New York 1994

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Kafka und Prag : Colloquium im Goethe-Institut Prag, 2 4 . - 2 7 . November 1992 / hrsg. von Kurt Krolop ; Hans Dieter Zimmermann. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 ISBN 3-11-014062-4 NE: Krolop, Kurt; Goethe-Institut

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Vorwort: Kafka a Praha

1947 erschien in Prag eine kleine Schrift, herausgegeben von Hugo Siebenschein, Edwin Muir, Emil Utitz und Peter Demetz: „Franz Kafka a Praha". 1963 sagte Eduard Goldstücker auf der berühmten Kafka-Konferenz in Liblice: „Ich glaube, die entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spielt die gründliche wissenschaftliche Erhellung eben jenes Fragenkomplexes, der sich unter der Überschrift ,Kafka und Prag' zusammenfassen läßt." Das Colloquium „Kafka a Praha / Kafka und Prag", das im November 1992 im Prager Goethe-Institut stattfand, ist eine Station, nicht die letzte, auf dem Weg der Erhellung der Beziehungen Kafkas zu Prag. Kafka und Prag ist ein vielschichtiges Thema. In diesem Band wird es unter drei Aspekten erörtert. Zunächst wird in verschiedenen Beiträgen das Leben der Prager Juden der Generation Kafkas umrissen, ein schwieriges Leben in doppelter Frontstellung gegenüber den Tschechen und den Deutschen. Kafkas Verhältnis zur tschechischen Sprache und Kunst gehört zu diesem Aspekt wie der Einfluß der deutschsprachigen Literatur Böhmens auf sein literarisches Schaffen. Der zweite Aspekt befaßt sich mit Kafkas Werk, aber auch dies im Zusammenhang der Geschichte Mitteleuropas in diesem von Nationalismus und Totalitarismus zerrissenen Jahrhundert. Der dritte Aspekt schließlich: die fortdauernde Wirkung Kafkas in seiner Vaterstadt Prag, also seine Rezeption in der tschechischen Literatur und auf dem tschechischen Theater. Den Beschluß macht ein kleiner Beitrag Ernst Pawels: ein Stadtrundgang in Havels Prag auf Kafkas Spuren. Das Colloquium im Goethe-Institut Prag wurde zwar von deutscher Seite organisiert und von der Kölner Fritz-Thyssen-Stiftung finanziert, aber es war kein deutsches Colloquium. Es kam den Veranstaltern, dem germanistischen Institut der Karls-Universität Prag und dem Institut für deutsche Philologie, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der T U Berlin, darauf an, ihre Mittel und Möglichkeiten dafür einzusetzen, das Gespräch zwischen den tschechischen Kafka-Forschern und einigen wichtigen internationalen Kafka-Forschern zu befördern — und diesmal

VI

Vorwort: Kafka a Praha

in voller Freiheit zu führen. Kurt Krolop von der Karls-Universität Prag und Klaus Hermsdorf von der Humboldt-Universität Berlin waren die einzigen deutschen Referenten dieses Colloquiums, beide Teilnehmer jener berühmten Kafka-Konferenz von Liblice. Man könnte fast von einem Veteranentreffen sprechen, denn neben Eduard Goldstücker war auch Jürgen Born wieder dabei und Frantisck Kaufmann, dessen damaliger Vortrag über „Kafka und die tschechische Literatur" heute noch Bestand hat. Auch Kafka-Forscher, die vor dem November 1989 nicht nach Prag hätten einreisen können, saßen nun mit den in Prag verbliebenen an einem Tisch: nicht nur Eduard Goldstücker, der aus der zweiten Emigration nach Prag zurückkehrte, sondern auch Peter Demetz, der 1949 emigrieren mußte, und Rio Preisner, der 1968 seine Vaterstadt Prag verlassen mußte. Und der Philosoph Karel Kosik, dessen Werk „Die Dialektik des Konkreten" aus eben dem Jahre 1963 ebenfalls ein Signal des intellektuellen Aufbruchs war, der zum „Prager Frühling" führte, Karel Kosik, der 1970 von der Universität relegiert wurde, hielt im Goethe-Institut erstmals wieder einen öffentlichen Vortrag in seiner Vaterstadt Prag. Eine Kafka-Konferenz in Prag 1992 war also immer noch ein politisches Ereignis, auch wenn sie nun unbeeinflußt von politischen Eingriffen in der ehemaligen Botschaft der DDR am Ufer der Moldau stattfinden konnte. Da Kafka so lange als dekadenter Autor von den Kommunisten verpönt war, wurde jedes Engagement für diesen im Grunde genommen unpolitischen Autor zu einem politischen Bekenntnis. Ein Grund lag aber auch im Werk selbst. Der Prager Germanist Jiri Stromsik, auch er 20 Jahre von der Universität ausgesperrt, sprach auf dem Marbacher Kafka-Colloquium von 1990, das 1992 im Druck erschien („Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ,Der Process' ") von „Kafkarny", von kafka-artigen Ereignissen. Das Wort hat sich im Tschechischen eingebürgert für absurde, undurchsichtige bürokratische Aktionen. Dem Prager Leser von Kafkas „Der Process" — so Stromsik — war es bis 1989 fast unmöglich, diesen Roman als Kunstwerk zu lesen, er las ihn als realistische Schilderung seines Alltags. Aber politisch war diese Konferenz auch dann, wenn wir an die Stadt Prag denken, wie sie zur Zeit Kafkas war: an das spannungsreiche, aber doch auch fruchtbare Zusammenleben von Tschechen, Juden und Deutschen. Dieses Zusammenleben wurde von deutschen und österreichischen Nazis zerstört: durch die deutsche Okkupation, durch die Verfolgung und Ermordung der Juden, der schließlich als Reaktion die Austreibung der Deutschen folgte.

Vorwort: Kafka a Praha

VII

Nationalismus und Rassismus erheben wieder ihr schreckliches Haupt in Europa. Welche entsetzlichen Opfer sind noch nötig, damit wir endlich lernen, daß die Unterschiede von Nation, Rasse, Religion die allen Menschen gemeinsamen Grundlagen nicht berühren. Wie kommt es denn sonst, daß ein Prager Jude, der in deutscher Sprache in einer weitgehend tschechischen Stadt schrieb, die Wurzeln der menschlichen Existenz in diesem Jahrhundert freilegte, derart, daß er heute weltweit gelesen wird? Genauso wie sein Landsmann, der im selben Jahr 1883 geborene und ein Jahr vor ihm gestorbene, große tschechische Schriftsteller Jaroslav Hasek. Karel Kosík hat in einem Aufsatz „Hasek a Kafka" einmal beide nebeneinander gestellt, diese zwei höchst unterschiedlichen Prager Gestalten, die auf ihre je eigene Weise auf dieselbe Herausforderung reagierten. Kosík entwirft eine eindrucksvolle Szene. Schweijk wird von seinen zwei Wächtern die Nerudova hinuntergeführt auf die Karlsbrücke, er spricht unausgesetzt auf seine zwei Wächter ein. Josef K. kommt ihm über die Karlsbrücke entgegen, mit seinen zwei Henkern, die er ununterbrochen beobachtet. Schweijk und K. begegnen einander, sehen einander aber nicht. Unsere Kafka-Konferenz 1992 in Prag war auch eine Hommage an diese merkwürdige und wunderbare Stadt, in der diese beiden Autoren lebten und schrieben: eine Hommage an die Stadt Prag. Unser Dank gilt der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Finanzierung und Dr. Bloss und seinen Mitarbeitern im Prager Goethe-Institut für die freundschaftliche Zusammenarbeit. Die Referate des Prager Colloquiums wurden um vier Beiträge ergänzt.

Kurt Krolop

Hans Dieter

Zimmermann

Inhaltsverzeichnis

Jürgen Born Kafka und die Prager deutsche Literatur

1

Anthony Northey Die Kafkas: Juden? Christen? Tschechen? Deutsche?

11

Ernst Pawel Der Prager Zionismus zu Kafkas Zeit

33

Andreas Herzog „Vom Judentum". Anmerkungen zum Sammelband des Vereins „Bar Kochba"

45

Josef Cermák Franz Kafkas Sorgen mit der tschechischen Sprache

59

Jirí Kotalik Franz Kafka und die bildende Kunst

67

Josef Kroutvor Kafkas Stadt? Prag im Zyklus der toten Städte

83

Hugo Rokyta Der Schlüssel zum Schloß im Roman von Franz Kafka

87

Kurt Krolop „Brücken" von Kafka zu Stifter

93

Jorgen Egebak Die fiktive Wahrheit des Traums. Strategien in Franz Kafkas ,Durchbruchstexten'

113

Peter Demet% Prag und Babylon. Zu Kafkas „Das Stadtwappen"

133

χ

Inhaltsverzeichnis

Stéphane Moses Geschichte ohne Ende. Zu Kafkas Kritik der historischen Vernunft

141

Rio zwei Preisner Die Welten bei Franz Kafka

151

Hans Dieter Zimmermann Die aufbauende Zerstörung der Welt. Zu Franz Kafkas „Der Hungerkünstler"

167

Klaus Hermsdorf Zwischen Wlaschim und Prag. Stadt-Land-Antinomien bei Franz Kafka und Max Brod

175

Karel Kostk Das Jahrhundert der Grete Samsa. Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit

187

Marta Kotjk-Marková Die Publizistin Milena Jesenká

199

Eduard Goldstücker Dreißig Jahre später

209

Josef Cermàk Die Kafka-Rezeption in Böhmen (1913-1949)

217

Ludvik Väclavek Zur Rezeption Franz Kafkas in der Tschechoslowakei

239

Jiri Mun^ar Franz Kafka auf dem tschechischen Theater

245

Frantisek

Kaufmann

Franz Kafka in den Werken der modernen tschechischen Prosa . . .

257

Ernst Pawel in Havels Prag Franz Kafka

269

Mitarbeiterverzeichnis

275

Jürgen Born Kafka und die Prager deutsche Literatur

„Vergessene Autoren im Schatten Kafkas" lautet der Untertitel, den Hartmut Binder dem Haupttitel seines Sammelbandes „Prager Profile" hinzufügte. 1 Dieser Untertitel ist doppeldeutig. Zum einen bedeutet er, das liegt auf der Hand: überschattet von der Größe der literarischen Gestalt Kafkas — und daher, wie der Herausgeber meint: zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Zum andern bedeutet er aber: im Schatten keines Geringeren als Kafka, also immerhin zu seinem Umkreis gehörend — und daher interessant. Denn der Schatten einer Gestalt fallt nur auf die, welche ihr nahestehen oder doch nicht allzu fern. — In seiner Rezension des erwähnten Sammelbandes hob Peter Demetz das Problematische eines solchen Unternehmens hervor, das sich in dem Untertitel der Sammlung andeutet: Der löblichen Absicht, vergessene Autoren zu würdigen, stehe die „Entwürdigung von Autoren" gegenüber, die „an einem Kafka-Aufhänger marktgerecht aufbereitet" würden. 2 Freilich ist der erwähnte, manchen höchst lesenswerten Beitrag enthaltende Sammelband nicht die erste Publikation über deutschsprachige Autoren Prags, die sich in den siebziger und achtziger Jahren jenes ,KafkaAufhängers' mit Erfolg bedienten. Kaum bekannte Schriftsteller aus Prag, bei denen sich — anders als bei dem kleinen Odradek in Kafkas Erzählung „Die Sorge des Hausvaters" — ein fester Wohnsitz in der Moldaustadt hat nachweisen lassen, werden über Nacht berühmt. Das Etikett ,aus dem Kreis' oder, bescheidener: ,aus dem weiteren Kreis um Kafka' sichert ihnen sofort die Aufmerksamkeit des Lesepublikums. Gewiß sind unter diesen Autoren auch solche, die diese Aufmerksamkeit verdienen, nur sollte sie — da kann man Peter Demetz beipflichten — nicht auf diese wenig würdige Weise erreicht werden. 1

2

Berlin: Gebr. Mann, 1991. (Schriften der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen/Kulturhistorische Reihe). Peter Demetz: Neu ist der Ruck. Concordia, Jung-Prag und die Arconauten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 4. 1992.

2

Jürgen Born

Ein solches nachträgliches Anwachsen der dichterischen Bevölkerung einer Stadt öffnet überdies unfreiwilliger Komik Tür und Tor, ja es setzt sowohl die Autoren als auch die, welche sie als Dichter proklamieren, der Gefahr der Lächerlichkeit aus. Ein Kritiker wie Karl Kraus ließ sich schon j 1914 durch die stark zunehmende Zahl der Prager Dichter zu dem bösen Vergleich mit den Vierbeinern aus der Familie der Nager verleiten. 3 Selbst die von H. G. Adler geschätzte Zahl von 140 deutschsprachigen Prager Dichtern 4 bereitet uns noch ein gewisses Unbehagen. Wenn ich heute zu Ihnen über „Kafka und die Prager deutsche Literatur" spreche, so mag dieser Titel — zumindest bei den jüngeren Zuhörern — den Eindruck erwecken, Kafka sei seit eh und je die herausragende literarische Gestalt dieser Stadt gewesen. Er ist es beute, ohne Frage — er war es damals, im ersten Viertel des Jahrhunderts, ganz gewiß nicht. Er war bestenfalls einer von vielen, wenn — etwa in Darstellungen der zeitgenössischen Literatur — von den Autoren Prags die Rede war. Rudolf Wolkan ζ. B. würdigt in seiner „Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern" (Augsburg 1925) Mauthner, Rilke, Salus, Werfel ausführlich; Max Brod, Auguste Hauschner und Ludwig Winder werden mehrmals genannt, Friedrich Adler, Ε. E. Kisch, Gustav Meyrink und Oskar Wiener zumindest erwähnt. Der Name ,Kafka' kommt in dieser Literaturgeschichte des Jahres 1925, ein Jahr nach dem Tode des Dichters, überhaupt nicht vor. Aber schon zu seinen Lebzeiten, als Oskar Wiener 1919 Beiträge von immerhin 37 Prager Dichtern in einer Anthologie, „Deutsche Dichter aus Prag", versammelte, war Kafka nicht darunter. Heute kaum noch genannte Vertreter der Prager deutschen Literatur wie Johannes Asti, Carl Bayer, Gusti Hackel, Franz Herold — alle sind sie da, nur Franz Kafka nicht. Und dabei versichert uns der Herausgeber in der Einleitung, er sei „ganz ohne Voreingenommenheit ans Werk gegangen" und er nennt seine Auswahlkriterien: „Wer etwas trifft oder durch anerkannte Bücher seine Berechtigung zur Teilnahme erwiesen hat, ist hier vertreten." 5

3

4

5

Karl Kraus: „In Prag, w o [...] der Kindheitsvirtuose Werfel alle befruchtet, so daß sich dort die Lyriker vermehren wie die Bisamratten [...]" In: Die Fackel X V I . Jahr, Nr. 398 (21. April 1914), S. 19. H. G . Adler: Die Dichtung der Prager Schule. In: Im Brennpunkt: ein Österreich. Hg. v. Manfred Wagner. Wien: Europaverlag, 1976, S. 67. Deutsche Dichter aus Prag. Ein Sammelbuch hg. und eingeleitet von Oskar Wiener. Wien/Leipzig: Verlag Ed. Strache, 1919, S. 7.

Kafka und die Prager deutsche Literatur

3

Kafka entsprach 1919 offensichtlich nicht diesen Kriterien, jedenfalls hat sich der Herausgeber wohl kaum darum bemüht, ihn in die Reihe seiner Autoren — Friedrich Adler, Baum, Brod, Rudolf Fuchs, Ε. E. Kisch, Leppin, Mauthner u. a. — aufzunehmen. Der übrigens von Friedrich Feigl mit Tuschzeichnungen ausgestattete Band enthält denn auch eine Reihe — leicht ins Dämonische stilisierter — Abbildungen von Adler, Baum, Leppin, Mauthner, Salus, Werfel und von dem Herausgeber Oskar Wiener. Feigls bekannte Tuschzeichnung ,Kafka bei der Lesung des Kübelreiters', entstand nicht, wie Klaus Wagenbach behauptet — und in seinem Gefolge manch anderer ernst zu nehmende Kafka-Forscher —, zu Lebzeiten Kafkas und schon gar nicht „bei einer privaten Lesung in Prag", 6 sondern wurde auf Anregung des aus Prag stammenden Kunsthistorikers Josef P. Hodin im Mai 1946 in London angefertigt; das Blatt trägt eine Widmung an Professor Hodin mit diesem Datum. 7 Schade, kann man da nur sagen. Ich hätte es Klaus Wagenbach gern geglaubt, daß es eine künstlerische Darstellung „zu Lebzeiten Kafkas" gewesen sei, wenn auch die einzige. 8 Doch nicht einmal das traf zu. So bekannt war der Dichter vor 1924 offenbar noch nicht, daß man ihn portraitiert hätte. Dieser Grad der Unbekanntheit lag, wie wir wissen, zu einem Gutteil an Kafka selbst. Paul Raabe schrieb einmal, daß Kafka — im eigentlichen Sinne des Wortes — zu den „Stillen im Lande" zählte; die laute Sprache des Expressionismus, der „Aufschrei" in ihrer Dichtung, waren ihm fremd. 9 Wir wissen zudem, wie sehr er zögerte, etwas zum Druck zu geben. Kafkas Unbekanntheit lag aber auch an der mangelnden Sensibilität seiner Zeitgenossen, die für den Modus des Kafkaschen Erzählens „von innen", wie Friedrich Beißner sagte, 10 keinen Sinn oder, sagen wir einmal, noch keinen Sinn hatten. Selbst auf einen Robert Musil wirkte Kafkas erstes Buch, „Betrachtung", „wie ein Spezialfall des Typus [Robert] Walser", wenn Musil auch, in der gleichen Rezension, an Kafkas Erzählung „Der 6

7 8 9

10

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Berlin: Klaus Wagenbach Verlag, 1983, S. 163. Mitteilung Prof. J. P. Hodins vom 8. 2. 1990 an den Verfasser. Klaus Wagenbach: Franz Kafka, S. 163. Paul Raabe: Franz Kafka und der Expressionismus. In: ZfdPh Bd. 86, H. 2, S. 169. Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka und andere Vorträge. Mit einer Einleitung von Werner Keller. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S. 24 ff u. a.

4

Jürgen Born

Feigls Tuschzeichnung ,Kafka bei der Lesung des Kübelreiters'.

Heizer", der er größere Selbständigkeit zugestand, Gefallen fand. 11 Und selbst ein Kurt Pinthus, Lektor bei Kurt Wolff, dem damaligen Verleger der literarischen Avantgarde, kritisierte an der Erzählung „Das Urteil", der Autor habe „gerade das wichtige Geschehen der seelischen Umschaltung übergangen." Es werde nämlich „nicht ersichtlich, unter welchem Zwang der junge Mann, den sein irrsinnig gewordener Vater wegen nicht begangener Sünden zum Tode des Ertrinkens verurteilt, nun alsbald wirklich sich von einer Brücke ins Wasser stürzt." 12 Als 'die Erzählung, etwa drei Jahre davor, zum erstenmal im Druck erschien, als Beitrag zu Brods Jahrbuch „Arkadia", war sie von der Kritik

11

12

Robert Musil: Literarische Chronik. In: Die neue Rundschau, Berlin 25. Jg., H. 8 (August 1914), S. 1169; wiederabgedruckt in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912—1924. Hg. v.Jürgen Born unter Mitwirkung von Herbert Mühlfeit und Friedemann Spicker. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1979, S. 34—36. (Im weiteren unter der Sigle: KuR I, bzw. für die Kritik von 1924-1938: KuR II). Zeitschrift für Bücherfreunde, Leipzig, N. F. 9 (Februar/März 1918), H. 11/12, Sp. 5 5 8 - 5 6 2 ; wiederabgedruckt in: KuR I, a. a. O., S. 88.

Kafka und die Prager deutsche Literatur

5

überhaupt nicht beachtet worden. Erwähnung fanden andere in diesem Band vertretene Prager Autoren, vor allem die Gedichte von Franz Janowitz, Kafkas Erzählung wurde nicht einmal genannt. 13 Lakonisch bemerkte dazu Max Brod fast ein halbes Jahrhundert später: „Um Kafka kümmerte sich damals noch keine Menschenseele." 14 Genau besehen waren es auch außerhalb des engsten Freundeskreises nur ganz wenige, die einen Sinn für Kafkas Erzählweise hatten und ein Gespür für den literarischen Rang seiner Dichtung. Von den Prager Bekannten gehörten dazu sicher Otto Pick und Johannes Urzidil. Kafka selbst schien die geringe Aufmerksamkeit, die das Publikum seinen Texten entgegenbrachte, nicht sonderlich zu kümmern. Er schrieb, wie er schreiben mußte, schrieb, so könnte man sagen, aus innerer Notwendigkeit. Literarische Moden interessierten ihn nicht. „Die Guten", so notierte er einmal, „gehn im gleichen Schritt. Ohne von ihnen zu wissen, tanzen die andern um sie die Tänze der Zeit." 15 Max Brod hat dieses Wort seines Freundes für eine Gedenktafel ausgewählt. 16 Er hätte kein die Überzeugung Kafkas besser kennzeichnendes Zitat wählen können. Denn die „Tänze der Zeit" überließ Kafka anderen Autoren. Und das waren damals vor allem die Vertreter des literarischen Expressionismus. Kurt Wolff, der sich bis in die fünfziger Jahre hinein immer wieder dagegen verwahrte, als Verleger des Expressionismus abgestempelt zu werden, führt rückblickend aus: „Dichter und Schriftsteller von Rang, die ich stolz bin, damals verlegt zu haben, hatten mit dem sogenannten Expressionismus nichts zu tun." Und er nennt als ersten „Kafka, der Johann Peter Hebel dichterisch [...] näher steht als irgend einem Schriftsteller des 20. Jahrhunderts." 17 Kafka erkannte allerdings auch, daß seine Kompromißlosigkeit in allen Fragen des Schreibens, seine bewußte Unabhängigkeit von allen literarischen Moden, nicht ohne ökonomische Folgen für ihn als Schriftsteller bleiben würde. Als er sich ernsthaft mit dem Plan trug, seinen Posten in 13 14 15

16

17

Vgl. KuR I, S. 80 f. Max Brod: Streitbares Leben. München: Kindler, 1960, S. 87. Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1992, S. 53 ( = Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumanjj, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit). Sie wurde am Hause Grunewaldstraße 13 in Berlin-Steglitz angebracht, wo Kafka im Herbst 1923 wohnte. Kurt Wolff: Autoren, Bücher, Abenteuer. Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers. Berlin: Klaus Wagenbach, [1965], S. 23 f.

6

Jürgen Born

Prag zu kündigen, um nach Berlin zu gehen, gestand er sich ein, daß er mit Büchern, wie er sie schreibe, seinen Unterhalt nicht werde bestreiten können. Er werde vielmehr gezwungen sein, sich in Berlin „im untersten Journalismus irgendwo festzuhalten." 18 Schon seine erste Buchveröffentlichung, „Betrachtung", hatte in der Öffentlichkeit nur wenig Widerhall gefunden. Als sie Ende 1912 erschienen war, bemerkte er gegenüber Rudolf Fuchs: Elf Bücher seien bei der Buchhandlung André in Prag abgesetzt worden, zehn habe er selbst gekauft, er möchte nur wissen, wer das elfte hat. 19 Das mag eine jener Übertreibungen sein, die Kafka liebte, die Abrechnungen des Kurt WolffVerlages aber lassen, auch in späteren Jahren, keinen Zweifel daran, daß Kafkas Bücher weder ihrem Autor noch dem Verleger nennenswerte Einkünfte brachten. So konnte der Verlag — zum Vergleich sei zunächst einer seiner erfolgreichsten Autoren genannt — innerhalb von zwei Jahren 150 000 Exemplare von Gustav Meyrinks „Golem" absetzen, Kafkas „Betrachtung" aber (Erstauflage und einzige Auflage: 800 Exemplare) blieb über zwölf Jahre hinweg ,lieferbar'. 20 Und das trotz der Bemühungen des ihm sehr verbundenen Verlegers, der vieles tat, um seinen allzu stillen Autor bekanntzumachen: Als der Fontanepreis des Jahres 1915 Carl Sternheim, gleichfalls Kurt Wolff-Autor, zugesprochen wurde, bat ihn der Verleger, die Preissumme an Kafka weiterzureichen, und zwar „als ein Zeichen seiner Anerkennung" für die Bücher „Der Heizer" und „Die Verwandlung". So sollte ein wenig von dem Glanz des Preises — Kafka empfand das als peinlich — auch auf ihn fallen. In seinen Erinnerungen hat es Kurt Wolff kurz und bündig formuliert: „Man kann ohne Übertreibung sagen, daß alles, was von Kafka zu Lebzeiten veröffentlicht wurde, unter Ausschluß der Öffentlichkeit erschien." 21 Nein, Kafka war zu Lebzeiten, verglichen mit seinen Prager Schriftstellerkollegen, kein bekannter, kein erfolgreicher Autor. Brod, Meyrink, Werfel überragten ihn an literarischem Ansehen bei weitem. Ein Titel wie „Kafka und die Prager deutsche Literatur" hätte damals zumindest Verwunderung ausgelöst. 18

19

20

21

Franz Kafka: Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1967, S. 535. R. Fuchs: Erinnerungen an Franz Kafka. In: M. Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1966, S. 368. Vgl. Joachim Unseld: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. München, Wien: Carl Hanser Verlag, 1982, S. 186. Kurt Wolff: Autoren, Bücher, Abenteuer, S. 74.

Kafka und die Prager deutsche Literatur

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Doch schauen wir uns im Kreise der aus Prag stammenden deutsch schreibenden Autoren noch einmal um, die nicht zu seinen engsten Freunden zählten, so blieb die Reaktion auf die Bücher Kafkas eher verhalten. Rilke habe einmal, so heißt es in den Erinnerungen der Fürstin von T h u m und Taxis, „mit seinem lustigen Kinderlachen [...] irgendeine komische Verwandlungsgeschichte, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte," erzählt: „Ein commis voyageur, der am Morgen aufwachend plötzlich entdeckt, daß er ein großer Käfer geworden sei — man ist selbst Käfer geworden, sagte er, und macht alle die drolligen Gefühle und Komplikationen des Käfers mit." 22 Eine sonderbare Reaktion, so will mir scheinen, auf die Geschichte seines Prager Landsmanns vom Leiden und elenden Sterben des Handlungsreisenden Gregor Samsa. Immerhin, einmal äußerte sich Rilke zustimmend zu Kafkas Prosaarbeiten, nachdem ihm nämlich der Verleger Kurt Wolff Ende Januar 1922 den Sammelband „Ein Landarzt" geschickt hatte. Aber es ist auch Höflichkeit gegenüber dem ihm freundschaftlich verbundenen Verleger, die diesen Dankesbrief bestimmt. 23 Die Öffentlichkeit erreichte die hier bekundete Zustimmung ohnehin erst Jahrzehnte später. Werfeis Verhältnis zu Kafka, den er ja spätestens seit 1909 persönlich kannte, war zwiespältig — wie übrigens auch das Kafkas zu Werfeis Prosadichtung und zu dessen Dramen, besonders „Schweiger". Roger Bauer hat das 1979 in einer überzeugenden Studie dargelegt. 2 4 — Viel zitiert wird die Reaktion Werfeis, als Max Brod ihm und Willy Haas Skizzen von Kafka vorlas, die in Franz Bleis Zeitschrift „Hyperion" 1908 bzw. 1909 erscheinen sollten. „Das geht niemals über Bodenbach hinaus!" sagte Werfel, so berichtet Haas. 25 (Bodenbach war damals die Grenzstation zwischen Böhmen und dem Deutschen Reich.) Max Brod gibt aus seiner Erinnerung Werfeis Zitat ein wenig anders wieder, aber durchaus sinngemäß: „Hinter Tetschen-Bodenbach wird kein Mensch Kafka verstehen." 2 6 Und noch Anfang der fünfziger Jahre — eine Welle der Kafka22 23

24

25

26

Unveröff. Aufz. der Fürstin von Thum und Taxis, vgl. KuR I, S. 185. Vgl. Kurt Wolff: Briefwechsel eines Verlegers 1 9 1 1 - 1 9 6 3 . Hg. v. Bernhard Zeller und Ellen Otten. Frankfurt am Main: Verlag Heinrich Scheffler, 1966, S. 152. Cf. Κ. und das Ungeheuer: Franz Kafka über Franz Werfel. In: Claude David (Hrsg.): Franz Kafka. Themen und Probleme. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980, S. 1 8 9 - 2 0 9 . Willy Haas: Die literarische Welt. Erinnerungen. München: Paul List Verlag, 1957, S. 30. Max Brod: Franz Kafkas Glauben und Lehre. München: Kurt Desch, 1948, S. 112.

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Jürgen Born

Begeisterung war gerade durch die Literaten-Kreise Englands, Frankreichs und der USA gegangen — schrieb Willy Haas: „nichts in der Welt" sei ihm „unverständlicher, als was ein New Yorker oder Londoner oder Pariser Intellektueller von 1940 oder 1950 denn überhaupt an Kafka finden" könne, diesem „gleichsam ,pragerischsten' Privatbesitz des Pragers von 1905 oder 1910." 27 Vielleicht sind gerade diese Bemerkungen, die Werfeis von 1909 und die Haas' von 1950, besonders aufschlußreich. Für beide war Kafka jener stille, etwas sonderbar wirkende Mensch, den sie aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von seinen gelegentlichen Besuchen des Café Arco her kannten. Und der blieb er in ihrer Erinnerung auch für sie. 28 Dagegen spricht nicht, daß Werfel, als Kafka von der Krankheit gezeichnet im Sanatorium lag, sich rührend um ihn kümmerte und daß er im Jähre 1937 in einem Brief an Robert Klopstock schrieb, Kafka sei „ein Herabgesandter, ein großer Auserwählter" gewesen. 29 Ich glaube, weder Haas noch Werfel merkten, vielleicht weil sie ihm aus den Jahren ihrer Begegnung zu nahe waren, daß das, was dieser Kafka in dem kargen Prager Deutsch — freilich mit der für ihn eigentümlichen Gewissenhaftigkeit gegenüber der Sprache — schrieb, Weltliteratur war. Und zwar im Goetheschen Verständnis des Wortes: zu den größten dichterischen Leistungen aller Literatur gehörend und damit Gemeingut der Menschheit. Denn entscheidend war nicht, wie bei Nationalliteraturen, eine bestimmte sprachliche Eigentümlichkeit, deren Mangel im Prager Deutsch etwa Fritz Mauthner beklagt, sondern die Sprache seiner Bilder. Sie sind an keinen bestimmten Kulturkreis gebunden, sondern weisen — ähnlich wie Mythen und Träume — archetypische Grundzüge auf, sind Ursituationen menschlicher Erfahrung: Gefangenschaft und Streben nach Befreiung, das Ausgeschlossensein und der Wunsch, eingelassen oder .aufgenommen' zu werden, das Warten auf Einlaß vor einem Tor, der unendlich anmutende Weg zu einem erstrebten Ziel und dgl. Das erklärt mir jedenfalls, warum Kafkas Dichtungen auch auf anderen Kontinenten, in ganz anderen Kulturkreisen verstanden wer-

27

28

29

Willy Haas: Aus Anlaß von verlorenen und wiedergefundenen Briefen. In: Imprimatur 10. Jg. (1950/51), S. 6 9 - 7 1 . Vgl. dazu meinen Beitrag ,Der junge Willy Haas und sein Freundeskreis'. In: Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Hg. v. der Österreichischen Franz Kafka-Gesellschaft, Wien-Klosterneuburg. Wien: Braumüller, 1989, S. 3 7 - 4 5 , bes. S. 42 f. Nach KuR II, S. 423; vgl. auch Werfeis Brief an Brod vom 28. April 1924 in: Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer, 1966, S. 148 f.

Kafka und die Prager deutsche Literatur

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den. So sehr wir Leser in den deutschsprachigen Ländern die Klarheit der Kafkaschen Prosa bewundern mögen, was dieser Dichtung ihre Weltgeltung verschafft, sind ihre einprägsamen Bilder. Sie haben dazu geführt, daß man heute nicht zögert, Kafka den ersten Platz unter den Erzählern der deutschsprachigen Dichtung Prags einzuräumen.

Anthony

Northej

Die Kafkas: Juden? Christen? Tschechen? Deutsche?

Im Zuge der Liberalisierung im politischen und religiösen Leben der europäischen Länder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich in abgeschwächter Form auch in Teilen der Donaumonarchie bemerkbar machte, war den Juden des k. und k. Reiches nach Jahrhunderte währender Stagnation die Möglichkeit geboten, aus den Ghetto-Gemeinden in neue Lebensverhältnisse einzutreten. Nach dem Aufbruch aus den ländlichen Gemeinden galt es allem voran für viele sich zu entscheiden, in welchem Maße sie dem Glauben ihrer Väter treu bleiben und zu welcher Volksgruppe sie gezählt werden wollten — zu den Deutschen oder zu den Tschechen. „Ich bin Ende oder Anfang" schrieb Franz Kafka einmal im Hinblick auf seine Beziehungslosigkeit im Glauben. 1 Trotz seiner deutschsprachigen Erziehung und trotz seiner Liebe zu der deutschen Literatur (Goethe, Kleist, Grillparzer) gab er sich nie wie manche seiner Zeitgenossen einer kritiklosen Sympathie für deutsche Politik und Ambitionen hin. Innerhalb eines ausgedehnten Verwandtenkreises waren zahlreiche Richtungen vertreten. Es wird die Aufgabe dieses Beitrags sein, eine kleine Darstellung der Lage einiger Mitglieder der näheren Familie und der weiteren Verwandtschaft zweier Generationen zu vermitteln. Dabei ergeben sich typische Verhaltensmuster, mit denen Kafka zum Teil sympathisierte.

Herkunft der Familie Kafka Bekanntlich kamen die Kafkas aus dem kleinen Wossek in der Nähe von Strakonitz, einer ganz und gar tschechischen Gegend. Es soll gleich hinzugefügt werden, daß sie wahrscheinlich erst seit der Wende zum 1

Franz Kafka: Das vierte Oktavheft. In: Max Brod (Hrsg.): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Gesammelte Werke, Taschenbuchausgabe in sieben Bänden. Frankfurt am Main, 1983, S. 89.

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19. Jahrhundert in diesem Dorf ansässig waren. Im August des Jahres 1802 bekam Franz Kafka, Franzens Urgroßvater, die Familiantenstelle des im Februar verstorbenen Abraham Fischel. 2 Da man nichts über seine Eltern aufzuschreiben wußte, ist anzunehmen, daß er aus einem anderen naheliegenden Dorf gekommen war. Cimelice, Strassowitz oder Drhovle (alle wenige Kilometer östlich von Wossek und Strakonitz entfernt) kommen in Frage. Ursprünglich kamen die Kafkas wohl aus Pisek, wo 1691 der Jude Löbl Kafka durch seine Aufdeckung einer Verschwörung und eine Anzeige bei dem Stadtkommandanten die Stadt vor den Folgen eines Aufstandes rettete. 3 Das Gut Wossek war in den Besitz der Gebrüder Daubek gegangen, die aber das Schloß des Dorfes nicht bewohnten, sondern in Prag ansässig waren. Nebenbei bemerkt, bezeugt die Erwähnung Eduard Ritter von Daubeks im Namensverzeichnis des Deutschen Casino in Prag im Jahre 1882 — 83 als einen Gründer dieses Vereins seine offen gezeigte Deutschfreundlichkeit. 4 Johann Gottfried Sommers „Das Königreich Böhmen statistisch-topographisch dargestellt" gab an, daß die herrschende Sprache in diesem Dorf die böhmische war. 5 Die jüdischen Einwohner Wosseks beherrschten alle die tschechische Sprache gut, wenigstens die Männer, die im Handelsverkehr mit den Tschechen standen. Die jüdische Bevölkerung Wosseks war nicht gering. Um 1840 hatte das Dorf zwanzig jüdische Familien, eine Zahl, die sich zehn Jahre später noch gehalten hatte. 6 Das waren mehr jüdische Einwohner als im größeren Pisek mit seinen fünfzehn Familien und kaum weniger als in Strakonitz, wo fünfundzwanzig Familien wohnten. Das Dorf hatte (wie Pisek und Strakonitz) eine Synagoge, aber keinen Rabbiner und keine Schule. (Pisek und Stra2

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Familiantenbuch für Wossek, Státní ústrední archiv ν Praze, Prag, Milady Horákové. Jaroslav Polák-Rodycana: Dëjiny Zidû ν Písku. In: Hugo Gold (Hrsg.): Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart: Ein Sammelwerk. Band I, Brünn-Prag, 1934, S. 491. Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Casino im Jahre 1882/83 und Rechnung für das Vereinsjahr 1881/82, das ist für die Zeit vom 1. Oktober 1881 bis 30. September 1882. Johann Gottfried Sommer: Das Königreich Böhmen statistisch-topographisch dargestellt. Achter Band: Prachiner Kreis. Prag, 1840, S. 103. Sommer: Das Königreich Böhmen, S. 103 für die Daten 1833, für Daten um 1850: Die Notablensammlung der Israeliten Böhmens in Prag, ihre Berathungen und Beschlüsse (Mit statistischen Tabellen über die israelitischen Gemeinden, Synagogen, Schulen und Rabbinate in Böhmen). Hg. v. Albert Kohn, Wien, 1852, S. 41 f..

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konit2 auch nicht.) Eine Übersicht der Hausbesitzer Wosseks aus dem Jahre 1837 gibt ein Judenspital mit dazugehörigem Garten in der Nähe der Synagoge an. 7 Da kein Dokument aus den Jahren 1837 bis 1852 eine Schule erwähnt, stellt sich die Frage, wo Hermann Kafka und seine Geschwister ihren Normalschulunterricht genossen und in welcher Sprache er abgehalten wurde. Wenn Hermann die christliche Volksschule (vielleicht im nahe gelegenen Ort Gemnice oder Jemenice) besuchte, dann war dies sicherlich eine tschechische Schule, und es ist fraglich, wieviel deutsch er dort gelernt haben würde. Nach den Josefinischen Reformen des späten 18. Jahrhunderts sollte jedem Mitglied der jüdischen Gemeinde eine Volksschulbildung in deutscher Sprache zugänglich sein. Größere Judengemeinden hatten ihre eigenen Rabbiner und ihre eigenen jüdischen Schulen (1850 gab es im gesamten böhmischen Raum 36 Schulen). 8 Die nächst größere Bezirkshauptmannschaft mit genug jüdischen Einwohnern, um eine selbständige Schule zu erhalten, war Klattau. Möglicherweise teilten sich Pisek, Wossek und Strakonitz zeitweise einen Rabbiner und einen Lehrer. Vom Jahre 1823 bis 1827 besaß Wossek einen Rabbiner, der wohl auch Unterricht erteilte. 9 In seinem Buch über das Leben der Landjuden erwähnt Hugo Herrmann, daß Familien in kleinen Gemeinden oft ihren eigenen Lehrer bestellten. 10 Die Hüter des jüdischen Kultus sahen in dieser letzteren Lösung jedoch die Gefahr, daß „[...] die heiligste Angelegenheit des Menschen, das wichtigste Interesse des Staates — die Bildung und Erziehung seiner Kinder und Bürger in der Hand des ersten besten verdorbenen Studenten oder herabgekommenen Hausierers" gegeben würde. 11 Will man den Grundlagen von Hermann Kafkas Deutschkenntnissen nachgehen, muß man sicherlich auch die Synagoge und den Religionsunterricht in Betracht ziehen. In seinem Buch „The Making of Czech Jewry" stellt Hillel Kieval fest, daß Deutsch die Sprache der Synagoge in Böhmen war, hauptsächlich, weil die Rabbiner des reformierten Glaubens in Seminaren und mit Büchern ausgebildet wurden, in denen Deutsch vor7

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Provinz Böhmen Original Bau Parzellen Protokoll der Gemeinde Wossek, böhmisch Wosek im Prachiner Kreis, Bezirk Wosek 1837 im Státní ústfední archiv ν Praze, Prag, Milady Horákové, Sk Prách 775. Die Notablensammlung, S. 413 f. Geburtsmatrik der Guth-Wosseker Judenschaft angefangen 1802, HBMA 1479, Státní ústfední archiv, Milady Horákové. Hugo Herrmann: In jenen Tagen. Jerusalem, 1938, S. 222. Die Notablensammlung, S. 414.

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herrschte. 12 Er zitiert den jüdisch-tschechischen Schriftsteller Vojtech Rakous, dessen Vater auf deutsch, eine Sprache, die er nur am Sabbat gebrauchte, ehrfürchtig über die deutschen und jiddischen Worte philosophierte, die er in der Predigt aufgeschnappt hatte. Bemerkenswert ist, daß Rakous auch das Jiddische mit einbezieht, denn diese als „Jargon" sonst so oft verpönte Umgangssprache bildete bestimmt auch einen Teil der Kommunikation. Von Franz Kafka wissen wir, daß sein Vater später auch ab und zu jiddische Wörter in seine Rede einfließen ließ. „Die erste und wichtigste Aufgabe" einem Beschluß der Notablenversammlung der Israeliten Böhmens in Prag im November 1850 zufolge, war „die Erhaltung und Pflege der jüdischen Religionslehre". 13 Nachdem in früheren Zeiten der Religionslehrer nur „des Befahigungs-Zeugnisses des Kreisrabbiners zum Schlachten nach jüdischen Gebrauche" bedurfte und der Unterricht, ähnlich wie der Beruf des jüdischen Hauslehrers, „zum Asyl verunglückter Viehhändler und Hausierer" herabgesunken war, versuchte man ihn nun zu verbessern und zu vereinheitlichen. 14 Hermann Kafkas Fähigkeit, noch nach vielen Jahren mit einer vom Sohn bewunderten Selbstverständlichkeit in der Synagoge die richtige Stelle im Gebetbuch zu finden, beweist die Gründlichkeit des Religionsunterrichts, den er als Kind genossen hatte. Die Basis der Religionsunterrichts war jedoch — wie noch in modernen Zeiten — die jiddische Sprache, die „Muttersprache" wie sie Hugo Bergmann nannte. 15 In seinem „Brief an den Vater" beschreibt Kafka das Judentum des Vaters: „Du hattest aus der kleinen ghettoartigen Dorfgemeinde wirklich noch etwas Judentum mitgebracht, es war nicht viel und verlor sich noch ein wenig in der Stadt und beim Militär, immerhin reichten noch die Eindrücke und Erinnerungen der Jugend knapp zu einer Art jüdischen Lebens aus [...]". 1 6 Wossek war also zur Jugendzeit des Vaters noch dem ostjüdischen „Städtl", wenn nicht gleich, so doch wenigstens ähnlich. Bergmann verbindet aber gerade die ostjüdische Lebensweise mit der Sprache: „Der Ostjude braucht nur zu

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Hillel J. Kieval: The Making of Czech Jewry: National Conflict and Jewish Society in Bohemia 1 8 7 0 - 1 9 1 8 . New York/Oxford, 1988, S. 36. Die Notablensammlung, S. 28. Die Notablensammlung, S. 4. Hugo Bergmann: Unsere Stellung zum Jidischen. In: Jawne und Jerusalem. Gesammelte Aufsätze. Berlin, 1919, S. 28, 33. Franz Kafka: Brief an den Vater. In: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S. 145.

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leben und er lebt jüdisch", sagt er, „Diese Selbstverständlichkeit des Jüdischseins verdankt er vor allem der jidischen Sprache." 17 Man darf also annehmen, daß in der Generation von Kafkas Großvater Deutsch/Jiddisch — vielleicht mit Tschechisch untermischt — die Sprache im Haus und im alltäglichen Verkehr mit der Umwelt war. Aus verschiedenen im Tagebuch, in Briefen und im „Brief an den Vater" beschriebenen Gesprächen geht hervor, daß Franz Kafkas Familie zu Hause in Prag fünfzig Jahre später meistens deutsch sprach. Hartmut Binder führt in der Biographie seines Kafka-Handbuchs weitere Beweise dafür an. 1 8 Man sollte hinzufügen, daß Hermann Kafkas drei Jahre beim Militär, die Kafka offensichtlich als assimilierendes Erlebnis betrachtet, beitrugen, sein Deutsch zu verbessern. Sicher ist aber auch, daß Hermann Kafka dem Tschechischen nahe stand (in größerem Maße als sein Sohn). Beweisführend dafür ist, daß er auf einen tschechischen Satz zurückgriff, um seine zweite Tochter Valli als Braut zu bezeichnen. Er enthielt das tschechische Wort „knëzna" (Prinzessin) und für den wortmächtigen Dichter Franz bedeutete dies eine glückliche Wahl: „[...] von der Liebe, Bewunderung und Zartheit, die sich in dem Wort ,Knëzna' vereinigen, ist in ,Fürstin' keine Ahnung, denn dieses Wort ist ganz auf Pracht und Breite hingerichtet." 1 9 Hermann verwendete in seinem Geschäft, wie mehrfach bemerkt worden ist, tschechisch. Aus noch nicht veröffentlichten Briefen Irma Kafkas an Ottla geht aber hervor, daß dort auch viel Deutsch gebraucht wurde, besonders mit den jüdischen Kunden und Mitarbeitern. 2 0

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Bergmann: Unsere Stellung zum Jidischen, S. 29. In seinem Tagebuch schrieb auch Kafka über dieses selbstverständliche jüdische Leben, das er an Ostjuden bemerkt hatte. Franz Kafka: Tagebücher. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. In: Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe, Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Frankfurt, 1990, S. 733 (auch S. 730). j Hartmut Binder: Kafka-Handbuch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. v. Hartmut Binder, Band 1 : Der Mensch und seine Zeit. Stuttgart, 1979, S. 117. Hugo Herrmann: In jenen Tagen, S. 192: „Der Großvater war von Hause aus gewöhnt, deutsch zu sprechen."; S. 215: „Alle [Land]Juden [...] sprachen überall deutsch, und ihre nicht allzu umfangreiche Lektüre bestand aus deutschen Büchern. [...] Andererseits sprachen alle Juden geläufig cechisch". Aus einem Brief an Feiice v o m 13./14. 1. 1914. Franz Kafka: Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Erich Heller und Jürgen Born, Taschenbuchausgabe, Frankfurt am Main, 1976, S. 249. Mein Dank geht an Dr. Josef Cermák für die Benutzung von Irmas Briefen an Ottla.

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Die Herkunft der Löwys Mütterlicherseits genoß die Familie einen höheren gesellschaftlichen Rang. Der Umzug der Eltern Julie Kafkas samt Familie nach Prag im Jahre 1877 wäre nicht vonstatten gegangen, ohne den Rückfall einer sicheren finanziellen Grundlage. 21 Schon mehrere Jahre zuvor war der Vater Jakob mit seinem vorzeitig ausgezahlten Erbteil von seiner Geburtsstadt Humpoletz in das größere Podiebrad gezogen, um ein Schnittwarengeschäft zu gründen. 22 Der Prozeß der Assimilierung war daher bestimmt weiter fortgeschritten. Klaus Wagenbach erblickt in der Löwy'schen Bevorzugung deutscher Namen einen deutlichen Assimilierungstrend. 23 Julie Löwys Großvater hatte Verbindung zu der christlichen Gemeinde von Humpoletz. In Isaak Löwys Testament aus dem Jahre 1859 wurde nicht nur die Summe 24 Gulden, 18 Kreuzer den armen Israeliten Humpoletz' zugedacht, sondern auch ein Betrag von 10 Gulden für „das hochwürdige Humpolecer christliche Seelsorge- und Pfarramt" bestimmt, „zur Vertheilung als Almosen an arme Christen", beide Gaben für das Heil seiner Seele. 24 Vielleicht wollte Isaak seinen guten Willen nach langjähriger geschäftlicher Zusammenarbeit mit christlichen Handelsleuten bezeugen. Diese ungewöhnliche Schenkung kann als Liberalisierung und als Ansatz zur Verweltlichung gedeutet werden. In dem 1911 geschriebenen Tagebuchbruchstück über seine Herkunft erweckte Franz Kafka selbst den Eindruck, daß die Vergeistigung, die Frömmigkeit, ja sogar ein Hauch von Mystizismus (und zugleich ein Hang zu Selbstzerstörung) dem Erbteil der Familien Löwy und Porias zuzuschreiben sei. 25 Um ein kleines Gegengewicht zu schaffen, sollte jedoch erwähnt werden, daß der Familie Kafka auch Gelehrte angehörten. Im Jahre 1827 wohnte der 1791 geborene aus Cimelice stammende Rabbiner Angelus Kafka in dem Haus Nummer 30, dem Kafka-Haus, das damals von Jakob Kafka bewohnt wurde, das Haus, in dem später der junge Hermann Kafka und seine Geschwister auf die Welt kamen und aufwuch21

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Popisnych listu evidence prazského obyvatelstva (starà fada, cizí pïisluânici), Archiv hlavního mesta Prahy. Testament Isaak Löwys, Sign. IV. 1860/91, Okresní archiv ν Pelhrimovë. In diesem Testament schreibt Löwy von seinem am Lebensende stark verminderten Vermögen. Klaus Wagenbach: Franz Kafka: Eine Biographie seiner Jugend 1883—1912. Bern, 1958, S. 21 f. Testament Issak Löwys. Kafka: Tagebücher, S. 318 f.

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sen. 26 (Angelus' Tochter Katharina wurde dort geboren.) Bekanntlich gab man dem 1837 auch im Wosseker Haus Nr. 30 geborenen Vater Hermann Kafkas, der später in Prag erfolgreicher Weinhändler wurde, auch den Namen Angelus. 27 Es ist also sehr wahrscheinlich, daß der Rabbiner Angelus mit Hermanns Familie verwandt war. (Wie er mit den Wosseker Kafkas genau verwandt war, konnte noch nicht festgestellt werden.) Somit hat diese Seite der Familie des Dichters auch ihre Intellektuellen. Angelus Kafka war in jüdischen Kreisen hoch angesehen und starb 1870 als Kreisrabbiner in Pilsen. 28 1845 veröffentlichte er ein Buch in Prag mit dem Titel „Derech Emunah. Mosaische Religionslehre in Fragen und Antworten und in 2 Abschnitte eingeteilt". 29 Aus der Familie des Rabbiners entsproß ein anderer Prager Dichter, Hugo Salus, der in der kurzen Geschichte „Freund Kafkus", die 1908 in der Wiener Neuen Freien Presse erschien, seines Großvaters Familie gedachte. 30 In der „Kindergeschichte" — ein höchst ironischer Untertitel — wird eine Woyzeck-Geschichte erzählt. Ein reisender Trödelhändler wird von seiner Frau betrogen, die ein Verhältnis mit einem Offizier eingeht. Die untreue Mutter wird von dem jungen Sohn, Richard, und der sprechenden Dohle Kafkus beobachtet. Am Ende muß der Sohn den Freund Kafkus erwürgen, weil ein strenges Gerechtigkeitsgefühl die Dohle dazu treibt, den Ehebruch der Mutter zu entdecken. Obwohl die Familie nicht ausdrücklich als jüdische Familie bezeichnet wird, erinnert der Trödlerberuf des Vaters sehr an den „Pinkeljuden", den auch Hermann Kafka eine Zeit lang als junger Mann darstellte, wie Klaus Wagenbach es in seiner Biographie beschreibt.31 Interessant ist, daß die Dohle nicht Kafka heißen will. „Ich will nicht Kafka heißen, [...] denn alle Namen auf ,a' sind Mädchennamen [...] Ich heiße Kafkus! Und so will ich heißen! Basta!' Er sagte aber nicht Basta, sondern Kaf-Kaf oder eigentlich Ka Ka, was aber nicht hierher gehört, sondern in die Naturgeschichte." 32 Salus deutet hier bestimmt an, wie hänselnde Kinder auf dem Schulhof den Namen Kafka durch Auslassung des „f's umgestalteten. 26 27 28

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Geburtsmatrik der Guth-Wosseker Judenschaft. Geburtsmatrik der Guth-Wosseker Judenschaft. Todesfalle. Pilsener Zeitung, Blätter für Politik, allgem. Interessen und Unterhaltung. IX. Jahrgang, Nr. 41 (21. V. 1870), S. 3. Otto Múñeles: Bibliographical Survey of Jewish Prague, Jewish Monuments in Bohemia and Moravia. Band I. Prague, 1952, S. 170. Die Auskunft über die Verwandtschaft Angelus Kafkas mit Hugo Salus verdanke ich Herrn Peter Barber, London. Neue Freie Presse, Nr. 15684 (19. IV. 1908), S. 1 0 1 - 1 0 4 . Wagenbach: Franz Kafka, S. 18. Salus: S. 102.

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Der Umzug in die Stadt Um den nach 1848 nun besser möglichen gesellschaftlichen Aufstieg zu verwirklichen, zogen viele Juden aus den Dörfern in größere Städte, vor allem in die Hauptstadt Prag. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Eingliederung — die keineswegs als vollständig gedacht werden kann — brachte die Assimilierung mit sich: nicht Aufgabe des Judentums, nicht Konversion zum christlichen Glauben, sondern Vernachlässigung des Glaubens. Vor allem nach jahrhundertelanger gesetzlich festgelegter Herausstreichung des Jüdischen durch eine bestimmte Tracht oder sogar durch aufgenähte Zeichen und auch durch diskriminierende Gesetze wie das Familiantengesetz, trachteten viele Juden nun alle Merkmale, die als Kennzeichen ihres Glaubens erkannt werden konnten, zu dämpfen. Als Hermann Kafka in die Stadt zog, versickerte allmählich — wie die schon zitierten Worte seines Sohnes bemerkten — sein Judentum. (Seine Wahl des Wortes „Confirmation" anstatt „Bar-mizwah" sieht Wagenbach als assimilatorisch an. 33 ) Verständlicherweise waren gesellschaftlicher Aufstieg in die Mittelschicht und Erlangung eines gewissen Wohlstandes seine Hauptanliegen. Die Armut der kleinen Dorfgemeinde — deren Überwindung im Gespräch mit dem Sohn immer als Paradebeispiel diente — stand als Schreckgespenst hinter ihm, eine Mahnung für den Untüchtigen. Gewisse Aspekte des Judentums waren auch mit dieser Armut verbunden — das Amt des Schächters, das sein Vater ausgeübt hatte, zum Beispiel. Der Schächter stand auf dem untersten Rang in der Gemeinde-Hierarchie und war durch die Gewalttätigkeit seines Berufs von geistigen Tätigkeiten ausgeschlossen. Die schon zitierte jüdische Notablenversammlung hatte sogar die Zusammenlegung des Schächteramts mit dem des Synagogendieners in kleinen Gemeinden empfohlen. 34 Ob dies tatsächlich in Wossek in der Gestalt Jakob Kafkas geschehen war, ist nicht gewiß. Wir wissen aber von Julie Wohryzek, der zweiten Verlobten Kafkas, daß Hermann nicht gut auf den Schammes zu sprechen war. Hermann wurde ausfällig, als sein Sohn die Absicht aussprach, die Tochter eines Synagogendieners zu heiraten. 35 Das war jetzt unter der Würde seiner Familie. Hermann Kafkas Prager Wohnstätten blieben aber immer im oder am Rande des Stadtteils, das noch als Ghetto angesehen wurde. 36 Zwar rückte 33 34 35 36

Wagenbach: Franz Kafka, S. 59. Notablensammlung, S. 34. Kafka, Brief an den Vater, S. 155 f. Eine Durchsicht der Einwohnermeldekarten auf den Namen Kafka in der Zeitspanne ca. 1 9 1 0 — 1 9 4 8 zeigt, daß mehr als die Hälfte der Personen mit diesem Namen sich nicht als jüdisch erklärten.

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er ständig auf, als er von der Meiselgasse schließlich in ein Haus am Ende der Niklasstraße zog, ein Haus mit Blick auf das Moldauufer, wo Kafka bekanntlich die Werke „Das Urteil" und „Die Verwandlung" schrieb. Die Niklasstraße galt anscheinend immer noch als Ghetto. Hugo Bergmann bestätigt dies wieder in seinem „Brief an einen Dichter" mit einem vielsagenden Ein-Satz-Soziogramm: „Ich traf einmal im Felde einen gefangenen russischen Juden, dem schenkte ich ein dünnes Buch von Asch. Er war Handelsmann aus Kiew, ein Durschnittsjude, wie ein Reisender oder Agent aus der Prager Niklasstraße. " 37 Ob sich Bergmann nun in seiner Wahl des Berufes in diesem Vergleich nach Kafkas Gregor Samsa richtete — seine Aussage also eine frühe Kafka-Rezeption spiegelt — oder, ob tatsächlich die Niklasstraße für ihre Reisenden und Agenten bekannt war, bleibe dahingestellt. Fast alle anderen Kafkas, die nach Prag gezogen waren, hatten sich auch im Ghetto niedergelassen und blieben auch nach der Jahrhundertwende in seiner Nähe, als viele wohlhabendere Juden in modischere Gegenden zogen. Richard Löwy, der Bruder Julie Kafkas, wohnte 1910 auch in der Niklasstraße, wie auch die Familie der Tante Julie Ehrmann, die viel später als Hermann Kafka (nach 1910) aus Strakonitz in die Hauptstadt gezogen war. 38 Angelus Kafka, der reiche Weinhändler, Vetter von Hermann Kafka, bezog schon früh (in den 70er Jahren) das Gebäude in der Plattnergasse. Andere Verwandte aus Wossek hatten in unmittelbarer Nähe gewohnt oder Geschäfte, Weinstuben oder Cafés gehabt.

Liberal, deutsch und christlich Die Familie eines Bruders von Angelus, Dr. Moritz Kafka, verbildlicht ein häufiges Entwicklungsmuster. Moritz machte sich in Advokaten-Kreisen sehr verdient und bemühte sich sehr um die deutsche Advokatenkammer in Prag. Im Falle seines Sohnes Bruno wurde die liberale, doch deutschtümelnde Richtung viel ausgeprägter. Franz Kafka muß ihm in seiner Studentenzeit oft begegnet sein, als beide Mitglieder der „Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag" war. Dieser Verein war sehr 37

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Schrägdruck von mir. Hugo Bergmann: Brief an einen Dichter. In: Jawne und Jerusalem, S. 52. Information über Wohnsitz der verschiedenen Familien aus den Einwohnermeldekarten im Státní ústrední archiv in Prag, Karmelitská.

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stark deutsch-nationalistisch geprägt, besonders die Jahrgänge vor der Jahrhundertwende. Ihre Versammlungen hatten oft mit dem Singen des „Deutschlandlieds" und der „Wacht am Rhein" und unendlichen Heilrufen geendet. 39 Nach den Badeni-Unruhen von 1897 setzte eine etwas ruhigere Epoche ihrer Geschichte ein. Die Anzeigen der Vorträge in der „Bohemia" — auch einer Lesung von Max Brod — wurden aber noch 1905 mit den unzweideutigen Worten versehen: „Deutsche Gäste sind willkommen". 40 Man darf trotz Kafkas frühem Hang zum Sozialismus, trotz seiner Gerechtigkeitsliebe nicht vergessen, daß er mehrere Jahre Mitglied der „Leseund Redehalle" blieb, gewissermaßen einer Tradition folgend. Nicht nur, daß jüdische Studenten dieser Gruppe oft beitraten, auch innerhalb der Familie war es so üblich: Moritz und Bruno Kafka, aber auch der Onkel Siegfried Löwy waren Mitglieder gewesen. Als Vertreter der deutschen Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, die aus der deutschdemokratischen Freiheitspartei hervor gegangen war, focht Bruno in den 20er Jahren für die Sache der deutschen Minderheit. „So war sein Leben von Anfang bis zu Ende mit Prag verwachsen, als dessen treuer deutscher Sohn er auch allezeit mit ganzer Kraft und mit dem ganzen ihm zu geböte stehenden politischen Talent für die Interessen des Prager Deutschtums eingetreten ist" schrieb die „Prager Juristische Zeitung" bei seinem Tode im Juli 1931. 41 Die „Prager Presse" schrieb von dem „grenzenlosen Vertrauen", das ihm die Prager Deutschen entgegenbrachten, räumte jedoch ein, daß er seine reichen Kenntnisse, seine seltenen Fähigkeiten und auch seine Gesundheit für das Ziel der „Befriedung zwischen Deutschen und Tschechen" einsetzte und erwähnte auch die große Achtung und Wertschätzung, die er auch in der tschechischen Gesellschaft genoß. 42 Seine Stellung als Dekan und später als Rektor der deutschen Universität und seine wachsende politische Tätigkeit, die ihn schließlich zum Hauptrepräsentanten der deutschen Minderheit werden ließen, machten ihn zum Vertreter eines immer größer werdenden Kreises von christlichen Wählern. Das, gekoppelt mit der ohnehin sich beschleunigenden Tendenz zur Assimilation, ließ ihn vom Judentum abrücken. 39

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Bericht der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag über das Jahr 1898. Prag, 1899, S. 3 5 - 5 1 . Deutsche Zeitung Bohemia, 78. Jahrgang, Nr. 47 (16. II. 1905), Morgen-Ausgabe, Beilage, S. 4. Robert Mayr: Bruno Kafka: Ein Nachruf. In: Prager Juristische Zeitung, 11. Jahrgang, Nr. 17 (1. X. 1931), Spalte 593 f. Prager Presse, Nr. 188 (14. VII. 1931), S. 3.

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Schließlich konvertierte er offiziell zum Christentum und liegt heute auf den christlichen Wolschaner Friedhof begraben. Von den drei Brüdern Hermann Kafkas siedelte der älteste, Filip, von Wossek in die rein tschechische Stadt Kolin um, der Zweitälteste, Heinrich, in die nordböhmische Stadt Leitmeritz, die sich im Zuge des frühen 19. Jahrhunderts immer mehr in eine deutsche Stadt verwandelte. Johann Gottfried Sommer schrieb etwas herablassend: „Zum Besten der böhmischen Dienstboten werden in der Stadtkirche noch zuweilen böhmische Predigten gehalten." 43 Es ist bezeichnend, daß Franz Kafka sich viel mehr in der Umgebung seiner in Leitmeritz lebenden Tante Karoline zu Hause fühlte — „[...] in dem noch aus der Kindheit her bekannten Kontor meines Onkels (eigentlich eines Stiefonkels ...)". 44 Sie hatte schon früh ihren Mann, Heinrich Kafka, verloren und den Geschäftsführer der Leitmeritzer Galanteriewarenhandlung, Sigmund Kohn, geheiratet. Nicht die deutsche Stadt zog ihn an, sondern mehr die Tante, „eine jetzt kränkliche, aber noch immer sehr lebendige, kleine, runde, schreiende, händereibende, mir seit jeher angenehme Person" und die herzliche, aber auch jüdische Atmosphäre dieser Familie, denn Sigmund Kohn war viel orthodoxer als die Prager Kafkas. Die liberalen Mitglieder seiner Familie meinten, er sei zu pedantisch, zu engstirnig im Glauben gewesen und charakterisierten ihn als einen typischen „Ghettojuden". 45

Ein Vertreter des tschechischen Nationalismus Obwohl Hermann Kafkas älterer Bruder Filip in die tschechische Stadt Kolin zog, kann man nicht behaupten, daß sich seine Söhne nun alle als Tschechen fühlten. Nirgends wird die nationale Spaltung so deutlich wie bei dieser Familie. Filip selbst beherrschte sowohl die deutsche als auch die tschechische Sprache und hatte in seinem Wohnort — obwohl im Koliner Ghetto gelegen — sicherlich viel mehr Gelegenheit tschechisch zu sprechen. Der Sohn Dr. Robert Kafka eröffnete ein Advokatenbüro in Kolin. Das tschechische Schild, das dieses Büro anzeigte, gibt klar genug zu erkennen, welche Sprache vorherrschte. Er war auch als tschechischer 43

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Sommer: Das Königreich Böhmen. Erster Band: Leitmeritzer Kreis (1833), S. 8. Kafkas Brief an Feiice vom 9 . - 1 0 . XII. 1912, Briefe an Feiice, S. 171. Auskunft über Sigmund Kohn von seinem Neffen Walter Kohn.

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Nationalist bekannt. Bei seinem Tode 1922 schrieb eine Koliner Zeitung, daß er ein geschätztes Mitglied der Jungtschechischen Partei gewesen war. 4 6 Während des Krieges zog er nach Prag, wo er seine Karriere erfolgreich fortsetzte und einen gesellschaftlichen Salon betrieb, der bekannte Nationalfiguren wie die Sängerin Destinova als Gast einlud. Die Hinwendung zum tschechischen Nationalismus verband sich also auch hier mit einem gesellschaftlichen Aufstieg (womit nicht behauptet werden soll, daß Robert den Nationalismus nur als Mittel zum Aufstieg verwendete). Gerade Robert war es, den Franz Kafka so sehr bewunderte. Er erwähnte ihn mehrmals in Briefen, im Zusammenhang mit den Statuen von Jan Hus in Prag und Kolin, die Symbole für tschechische Nationalisten darstellten. Franz ließ sich von seinen Eltern beauftragen, im August 1916 als Hochzeitsgeschenk ein Bild für Robert und seine Braut auszusuchen, die am 2. Juli geheiratet hatten. 47 Offensichtlich dachten Hermann und Julie Kafka, daß Franzens Sympathie für Robert ihn dessen Geschmack besser einschätzen lassen würde. Franz reichte den Auftrag gleich an Feiice in Berlin weiter. Mit dem „unbestechlichen Blick für das durchschnittliche jüdische Hochzeitsgeschenk" sollte sie bei dem Maler Friedrich Feigl, der sich in Wilmersdorf niedergelassen hatte, ein Bild kaufen. 4 8 Offensichtlich war der Vetter noch stark genug jüdischer Tradition verbunden, so daß ein Geschenk, wie Kafka es charakterisierte, für ihn passend schien. Zwar teilte Robert nicht den starken Glaubensdrang seines Vetters, versuchte aber nicht wie manch anderer Kafka, die jüdische Herkunft zu verleugnen. Es scheint, daß er seinen Glauben mit seinem Nationalismus verdeckte, d. h., daß er seine ganze Energie in die jungtschechische Bewegung setzte. Bekanntlich rückten viele tschechisch-national denkende Juden nach den antisemitischen Nebenwirkungen der Baden-Unruhen (1897) von der jungtschechischen Partei ab. 4 9 Robert ließ sich aber nicht dadurch beeinflussen. Er gab sich wahrscheinlich der üblichen Assimilationstendenz hin, ohne aber das Judentum ganz und gar aufzugeben. Er heiratete Elsa Robitschek, eine Verwandte des bekannten Prager Mediziners Dr. Egmont Münzer, durch den Kafka für Robert Klopstock die Zulassung zum Medizinstudium in Prag erreichen wollte. 5 0 Die Tatsache, 46 47

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Hlád Demokracie, Nr. 13 (25. III. 1922), S. 2. Das Datum der Trauung aus Robert Kafkas Einwohnermeldekarte im Státní ústrední archiv ve Praze. Briefe an Feiice, S. 683. Kieval, The Making of Czech Jewry, S. 77. Franz Kafka: Briefe 1 9 0 2 - 1 9 2 4 . Hg. v. Max Brod. Frankfurt am Main, 1976, S. 349, 357, 365, 367, 369.

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daß Münzer im Mai 1917 einen Vortrag „Die Juden in der Geschichte" im Deutschen Verein für Völkerkunde und Sprachwissenschaft hielt und ihn ein Jahr darauf sogar veröffentlichte, deutet auf eine starke Bindung auch der Familie von Robert Kafkas Frau an das Judentum. 51 Er starb noch vor Kafka, und dieser erinnerte sich auf seinem Totenbett, wie die Ärzte ihn in seinen letzten Monaten mit unnützen Therapien gequält hatten. Nach seinem Tode wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Strasnice beigesetzt. Mütterlicherseits scheint Robert Kafkas Familie viel fester im Glauben gewesen zu sein. Ein Halbbruder Roberts, Dr. Josef Polácek, war in der großen jüdischen Gemeinde der Stadt Teplitz besonders in ihrer B'nau B'rith Organisation sehr tätig. Das und die Tatsache, daß er bekanntlich einen „Schnorrer" nie abweisen konnte, bewog Franz dazu, die Truppe der jiddischen Schauspieler, in der Jiczak Löwy mitwirkte, an ihn zu empfehlen. 52

Auswanderung als Gelegenheit zum Neuanfang Filip Kafkas Familie weist in der Figur des ältesten Sohnes einen anderen Weg: Auswanderung. Nach kurzem Besuch des tschechischen Gymnasiums riß Franz Kafkas Cousin Otto in jungen Jahren (1897) von zu Hause aus, um in Buenos Aires und später in New York sein Glück zu finden. Sein Aufstieg vom einfachen Verkäufer zum reichen Stahlexporteur, seine vom Schicksal auf und ab geführte Laufbahn ist an anderer Stelle ausführlich beschrieben worden. 53 Obwohl die k. und k. Monarchie Auswanderung zu hemmen versuchte und Zeitungen Berichte über die Not der Auswanderer veröffentlichten, galt das Ausland, besonders Nord- und Südamerika, 51

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Dr. Egmont Münzer: Die Juden in der Geschichte. Nach einem am 23. Mai 1917 im Deutschen Verein für Volkskunde in Prag gehaltenen Vortrage. Wien/ Leipzig, 1918. In diesem Buch belegt Münzer den jüdischen Anteil an den ethischen Werten der westlichen Welt und versucht damit die antisemitischen Angriffe v o n Houston Stewart Chamberlain abzuwehren. Anthony Northey: Kafka's Relatives: Their Lives and His Writing. New Haven/ London, 1991, S. 75 f. Die englische Übersetzung v o n meinem im Wagenbach Verlag erschienenen Buch „Kafkas Mischpoche", Berlin 1988, und zahlreichen vorher veröffentlichten Artikeln enthält die dem Leser zugänglichsten letzten Ergebnisse meiner Forschungsarbeit. Northey: Kafka's Relatives, S. 5 2 - 5 5 .

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doch im allgemeinen als Raum der unbegrenzten Möglichkeiten. Es bot sich nicht nur die Gelegenheit, ein Vermögen zu verdienen, sondern auch die Vergangenheit — alte Lebens- und Glaubensformen — hinter sich zu lassen, gewissermaßen einen Neuanfang zu machen. Im Jahre 1906 hatte das Otto Kafka auch in anderer Hinsicht nötig, denn das Kreisgericht in Jicin hatte am 13. September einen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Das mit „Steckbrief betitelte Dokument nannte ihn „dringend des Verbrechens des Betruges begangen an der Graf Harrachschen Glasfabrik Direction in Neuwelt durch Entlockung von Waren im Werte von mehr als 600 Κ und des Barbetrages von 250 Κ verdächtig". 54 In den Vereinigten Staaten gab Otto ganz klar zu verstehen, daß er auf der Seite des jungen deutschen Reiches stand. Als er im ersten Weltkrieg unter Verdacht der Spionage in New York verhaftet und für kurze Zeit interniert wurde, trug man ihm seine Ansichten zur Last. Zwar waren die Beschuldigungen der Spionage unbegründet, doch stellte es sich im Laufe der Untersuchungen heraus, daß Otto noch nach Beginn des Krieges seine Deutschfreundlichkeit laut verkündet hatte. Laut Bericht von dem Assistant Attorney General der Vereinigten Staaten, Rufus Sprague, sprach er kurz nach Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg öffentlich die Meinung aus, daß Woodrow Wilson mit seiner Kriegserklärung an Deutschland das amerikanische Volk verraten hatte. 55 Er ging auch so weit, die Versenkung der „Lusitania" durch deutsche U-Boote zu rechtfertigen, weil das Passagierschiff unerlaubtes Kriegsgut für England geladen hatte. 56 Diese Ansicht im Jahre 1917 in den USA nur anzudeuten, war gefährlich. Die Kriegspropaganda hatte diesen Zwischenfall, bei dem auch Amerikaner ihr Leben ließen, zu einem Beispiel deutscher Infamie hochgeschrien. Otto Kafkas Parteinahme für Deutschland gerade zu diesem Zeitpunkt gibt einen Beweis seiner Überzeugung von Deutschlands Vorherrschaft unter den Nationen. Nach einigen Wochen Arrest kam zwar verständlicherweise wieder der Opportunist Otto Kafka zum Vorschein, und er behauptete nun — wie so manch anderer Kafka in dieser Zeit — 54

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Dokument des Kreisgerichts in Jicin, 13. IX. 1906 datiert, im Státní ústfední archiv, PR 1 9 2 1 - 3 0 , Κ 6 1 5 - 2 0 , 1494. Brief v o m 5. VIII. 1918 von Rufus Sprague, Assistant Attorney General an den Attorney General, Classified Subject File, Nr. 9 — 16-12-5422, Records of the Department of Justice, Record Group 60, National Archives, Washington D. C. Auch andere Berichte in der Akte Kafkas kommen auf diese Meinung zu sprechen. Seine Behauptung wurde übrigens ungefähr 70 Jahre später durch Taucharbeiten am Wrack bestätigt.

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ein Staatsbürger des von den österreichischen Habsburgern unterdrückten tschechischen Staate zu sein. Einer der ihm gewogenen Zeugen schrieb sogar: „In the matter of your loyalty to the United States, I know of your hatred of the land that has practically enslaved your people and forced allegiance on you as a birthright." 57 Aber auch unter dem Druck des polizeilichen Verhörs stand Otto noch fest zu seinem darwinistischen Glauben vom Überleben des Stärkeren und ließ durchblicken, daß er unter den europäischen Ländern Deutschland als das lebenstüchtigste Land betrachtete. 58 Was Ottos Judentum betraf, so darf man sicherlich behaupten, daß er es ohne viele Umstände in der Neuen Welt abstreifte. Die Vereinigten Staaten zeigten sich durchaus nicht freier von Antisemitismus als Europa. Eine allzu starke Bindung an den jüdischen wie auch an den katholischen Glauben bedeutete ein Hindernis für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg in der anglo-protestantisch geprägten Welt eines General Coleman DuPonts, eines Frank Hitchcocks, und Senator Sam Chiltons. Am besten verleugnete man den jüdischen Ursprung und schlug sich auf die Seite der Christen. Das hat Otto Kafka anscheinend gemacht. Den mehr als ein Dutzend jüdischen Arbeitern seiner New Yorker Stahlfirma, Vulcan Steel Company, befahl er jedenfalls an ihrem höchsten Feiertag Yom Kippur zu arbeiten, mit der Begründung, in Amerika habe man keine religiösen Feiertage, nur staatliche. 59 Die Bemerkung in einem Brief seiner Akte in Washington: „[...] Kafka is Czech — (supposedly a Jew)" läßt durchblicken, daß Grund zum Zweifeln geboten war. 60

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„In der Sache Ihrer Loyalität den Vereinigten Staaten gegenüber weiß ich von Ihrem Haß gegen das Land, das Ihr Volk fast versklavt hat und ihnen als Erbrecht eine Untertanenpflicht auferzwungen hat."; James J. Pearson, Consulting Engineer, Allied Construction Machinery, Corporation, 120 Broadway, New York, Brief vom 22. 7. 1918 an Otto Kafka, Classified Subject File, Nr. 9-16-12-5422, Records of the Department of Justice, Record Group 60, National Archives, Washington D. C. Aufzeichnungen von einem Verhör Otto Kafkas: Statement of Otto Kafka to J. W. Kemp and Wm. B. Matthews, special agents, and John F. Daly, stenographer, New York, N. Y., August 12, 1918, S. 21, OG 35957, Roll 382, National Archives, Washington D. C. Aufzeichnungen von einem Verhör Otto Kafkas: Statement of Otto Kafka to J. W. Kemp and Wm. B. Matthews, etc., S. 21. Handgeschriebenes Memorandum von John Hanna, Special Assistant to the Attorney General, 24. VIII. 1920, Classified Subject File, Nr. 9-16-12-5422, Records of the Department of Justice, Record Group 60, National Archives, Washington D. C.

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Auswanderung in die Abhängigkeit Otto Kafkas Leben in Amerika stellt eine Verwirklichung des „American dreams", des amerikanischen Wunschtraums nach Erfolg dar. Die Karrieren von zwei Brüdern Julie Kafkas, von Alfred und Josef Löwy, bieten Beispielsvarianten des Erfolgs im Ausland. Die internationale Finanzwelt bot ihnen das geeignete Vehikel, die alte Heimat hinter sich zu lassen. Sie schlössen sich den „multinationals" ihrer Zeit an, den Banken und großen Finanzleuten, die oft in technologisch ganz unterentwickelten Ländern Verkehrswege und -mittel bauten, um später die Rohstoffe des Landes ausbeuten zu können. Uber das Leben von Alfred und Josef Löwy habe ich andernorts ausführlicher berichtet. Beide fanden in dem Bankhaus der Gebrüder Philippe und Maurice Bunau-Varilla in Paris Arbeit. Philippe, Zögling der renommierten École Polytechnique, beteiligte sich als Ingenieur an dem verfehlten französischen Versuch, den ersten Kanal in Panama zu bauen. Als Redakteur des Sensationsblatts „Le Matin" stand Maurice oft im öffentlichen Rampenlicht. Alfred Löwy ging von Wien nach Paris, wo er 1878 in die Bank der Varillas überwechselte. (Sie hatten außer in Panama, Spanien und im Kongo auch in Wien geschäftliche Interessen.) Nach 14 Jahren beantragte er die französische Staatsangehörigkeit. Als Grund seines Nationalitätenwechsels gab er „sympathie pour la France" an. Kurz danach kam er durch die Varillas an den Posten des Direktors der spanischen Eisenbahngesellschaft Compañía de los Ferrocariles de Madrid a Cáceres y Portugal y del Oeste de España. Die Varillas waren mächtige Kapitalisten, die mit Ministern verschiedener Regierungen in Verbindung standen. Philippe Bunau-Varilla war ein Duzfreund von Albert Thys, dem Sonderbeauftragten König Leopolds II. von Belgien. Thys hat im Auftrag des Königs die Entwicklung des Kongogebiets überwacht und seinem Freund die Möglichkeit gegeben, finanziell dort einzusteigen. Dadurch kam Varillas Protégé Josef Löwy zuerst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Panama und später (1891) nach Matadi als Buchhalter für die Société Anonyme Beige pour le Commerce du Haut Congo und später als Vorstand (chef comptable) der sich immer erweiternden Buchhaltungsabteilung der Compagnie du Chemin de fer du Congo. Sicherlich sollte er auch Augen und Ohren offen halten, um die Interessen der Bunau-Varillas zu wahren. Einem internationalen Bankier zu dienen, versprach eine verheißungsvolle Zukunft, forderte aber auch einen Preis, einmal die völlige Hingabe

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an den Gönner und Förderer. Man ersetzte das Staatszugehörigkeitsgefühl durch eine starke Bindung an eine Person. Dies trifft auf jeden Fall für Alfred Löwy zu. Seine Briefe an Philippe Bunau-Varilla zeigen eine servile Haltung diesem Mann gegenüber. Er mußte jede Stimmung des Gönners ablesen, ihm zu den Erfolgen telegraphieren und Freude zeigen oder sich mit ihm über die gemeinsamen Feinde ärgern. Alfred verstieg sich in blumige Lobeshymnen über seinen Chef. Der von den Panama-Gegnern scharf angegriffene Philippe wurde zu einem leidenden Christus, Panama zu einem Golgatha. Der in die Zukunft blickende Philippe wurde mit Moses verglichen, der die Menschheit in eine bessere Welt führen würde. Alfred Löwy wird in diesen Augenblicken leicht zu einer lächerlichen Figur. Nach außen, also für die Kafkas in Prag, stellte er eine höchst erfolgreiche Gestalt dar. Er hatte sich auf internationalem Boden bewährt, war vom Präsidenten Emil Loubet mit der französischen Ehrenlegion und auch mit spanischen Orden ausgezeichnet und dem amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt vorgestellt worden. Kafka hatte sogar 1902 seinen Onkel um eine Stelle angegangen — ohne Erfolg, denn — was er nicht wissen konnte — Alfred Löwy hatte gerade fünf Monate zuvor um seine Stelle als Direktor der im Defizit befindlichen Madrid a Cáceres Linie bangen müssen. 61 Er hatte seinen Gönner lediglich angebettelt, ihn irgendwie zu verwenden, wenn die Firma in andere Hände gelangen sollte. Im Laufe der Zeit durchschaute Franz Kafka seinen Onkel. (Das soll natürlich nicht heißen, daß er ihn weniger liebte.) Bei Alfreds Besuch in Prag 1912 beschrieb der Dichter mit Ironie in seinem Tagebuch einen fein gekleideten Mann, der durchs Wohnzimmer schwebt — dem Abort zu. In der Beschreibung seines Lebens in Madrid, die Kafka in Löwys Worten widergibt, wird jedoch klar, daß dieser Mensch einen Status der höheren Madrider Gesellschaft erreicht hat. Dafür hat er aber ein leeres, sinnloses Leben annehmen müssen. Er entbehrt nach seinen eigenen Worten eines Familienlebens oder jeglichen bedeutungsvolleren Kontakts zu anderen Menschen. 62 Die materielle Abhängigkeit wird zu einem zentralen Thema in Kafkas Amerika-Roman, besonders in Karls Verhältnis zu seinem neugefundenen Onkel Jakob. Es findet aber eine ironische Umkehrung der fiktiven und der wirklichen Rolle statt. Der im Leben von seinen Gönnern äußerst abhängige Onkel wird im Roman zum geldmächtigen Tyrann, der über das Leben seines Neffen bestimmen will. Die Lage des Erzählers des 61 62

Kafka: Briefe, S. 13. Kafka: Tagebücher, S. 434 f.

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Fragments „Erinnerung an die Kaldabahn", spiegelt die Wahrheit von Onkel Alfreds Abhängigkeit viel getreuer. 63 Die Gebrüder Löwy, wie auch Otto Kafka, strebten eigentlich einem Internationalismus zu. Das heißt, sie waren bereit, ihre persönliche Vergangenheit und die Geschichte und Traditionen ihrer Vorfahren zu vergessen. Ihre Staatsangehörigkeit aufzugeben hätte wohl keine tiefgreifende Tat bedeutet, hatte doch dieser Staat die Juden Jahrhunderte lang vernachlässigt oder sogar unterdrückt. Aber es ging ja gar nicht darum eine Staatsangehörigkeit abzulegen, sondern mehr in eine Sphäre zu rücken, in der die Zugehörigkeit zu einem Lande nebensächlich war. Otto bezeichnete sich in seinem Verhör im August 1918 als einen „international", obwohl einer seiner Feinde dies negativer formulierte: „I think the man who said that his loyalty is to money-making rather than to any country probably hit it right." 64 Seine Begeisterung für das Wilhelminische Reich fand ihren Grund weniger in nationalistischer Gesinnung oder gar Fanatismus, sondern mehr aus seiner rationalen Einschätzung, daß Deutschland zu dieser Zeit das dynamischere, technologisch entwickeltere Land darstellte. Alfred Löwy verbrachte die letzten sechsundzwanzig Jahre seines Lebens als französischer Staatsbürger in Madrid. Sein Bruder Josef Löwy lebte in Panama (Mitte der 80er Jahre), im Kongo (1891 bis 1905), in China, in Kanada, sogar im Ruhestand in Frankreich (ab 1911) in den angenehmen Umständen eines gehobenen Beamten und zuletzt Privatiers, die eine Zugehörigkeit zu jedem Staat vorläufig unwichtig erscheinen ließen. Wer interessierte sich in Panama oder im Kongo für Nationalität? Eher war eine robuste Gesundheit gefragt. China um die Jahrhundertwende war ein Tummelplatz vieler westlicher Nationen, und europäische Einwanderung nach Nordamerika unterlag lange Zeit keiner nennenswerten Kontrolle. An beiden Orten war die Verbindung zu einem europäischen Unternehmen der beste Ausweis. Nur der erste Weltkrieg konnte diesen Trend zum Internationalismus aufhalten, denn mit dem Ausbruch des Krieges wurden 63

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Auch Kafkas Abhängigkeit im trostlosen Leben in Prag sollte damit geschildert werden. Eine ausführlichere Interpretation bei Northey: Kafka's Relatives, S. 4 1 - 4 9 . „Ich glaube, daß der Mann es gut getroffen hat, der sagte Kafkas Loyalität gelte mehr dem Geld verdienen als irgendeinem Lande." Alfred Bettman, Justice Department, in einem Memorandum an Mr. O'Brien, Sept. 16, 1918, Classified Subject File, Nr. 9-16-12-5422, Records of the Department of Justice, Record Group 60, National Archives, Washington D. C. und Aufzeichnungen von einem Verhör Otto Kafkas: Statement of Otto Kafka to J. W. Kemp and Wm. B. Matthews, etc., S. 21.

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plötzlich die Papiere genauestens überprüft. Josef Löwy mußte erkennen, daß er es versäumt hatte, sich um die französische Staatsbürgerschaft zu bemühen. Otto Kafka hatte zu spät seine Bereitwilligkeit erklärt, Amerikaner zu werden. Die Konversion zum Katholizismus des in Prag lebenden merkwürdigen Onkel Rudolfs hat die Kafka-Forschung hervorgehoben. Der Bruder der beiden ausländischen Löwys mag vielleicht durch seine katholischreligiöse Inbrunst stärker aufgefallen sein, besonders im Vergleich zu den erfolgreichen anderen Löwy-Kindern Richard und Siegfried, die in Böhmen geblieben waren. Es ist aber sicher, daß die Brüder in Spanien und Frankreich, Alfred und Josef, auch vom Glauben ihrer Vorväter abrückten. Beide wurden auf christlichen Friedhöfen beigesetzt, Alfred im Jahre 1923 auf dem Cementerio de la Sacramental de Santa Maria in Madrid, Josef 1932 in Les Troches oberhalb Veveys. Alfred Löwys Beerdigungsfeier fand am 6. März 1923 in der Kirche San Gregorio y Santa Coleta statt; ein großes Kreuz zierte seine Todesanzeige in der Madrider Zeitung. 6 5 Ganz konnten sich beide Löwys wohl nicht von ihrem Judentum distanzieren. Ihre Gönner waren an dem französischen Panamakanalbau beteiligt und wurden somit auch in den darauffolgenden Panamaskandal der 90er Jahre verwickelt, der unangenehm scharfe antisemitische Nebenauswirkungen hatte. Das Hetzblatt „La Libre Parole" setzte die VarillaBrüder in die Reihe Bankiers, die angeblich Teil einer internationalen jüdischen Finanzverschwörung bildeten. Der Antisemitismus des Panamakanals wurde von der darauffolgenden Dreyfus-Affare weitergeführt und mehrfach intensiviert. Philippe Bunau-Varilla, dessen Mitschüler an der École Polytechnique Alfred Dreyfus gewesen war, ergriff ziemlich früh die Partei des verleumdeten Hauptmanns, und sein Bruder Maurice veröffentlichte das berühmte Entlastungsdokument, den bordereau, in seiner Zeitung. 6 6 Ein Brief Alfred Löwys an Philippe Bunau-Varilla vom 26. Juni 1906 zieht eine Verbindungslinie zwischen den zwei Affaren. Er hat deutlich zu spüren bekommen, daß man durch Ablegung des Glaubens seinen Ursprüngen und somit dem Antisemitismus nicht entgehen konnte. Diese persönliche Erfahrung beeinflußte dann sicherlich auch den Rat, den er seinem Neffen gab. 6 7 65

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Auskunft aus dem Archiv der Parroquia de San Gines, Madrid und der Madrider Zeitung „El Sol" (2. IV. 1923), S. 2. Eine ausführlichere Schilderung der Karrieren beider Löwys und ihrer Rollen in dem Finanz- und Investitionsimperium der Bunau-Varillas steht in meinem Buch „Kafka's Relatives", S. 7 - 4 9 . Er konnte gute Kenntnisse der Dreyfus-Affare bei Frana voraussetzen, denn die Prager Zeitungen (die „Bohemia" zumindest) hatten über lange Zeit hinweg täglich darüber berichtet.

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Zionismus Viele junge Juden aus der Generation Kafkas, sich der judenfeindlichen Atmosphäre Europas wohl bewußt und mit der Assimilationsfreudigkeit ihrer Eltern unzufrieden, schlugen sich auf die Seite eines militanteren Judentums. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wurden mehrere Vereine in Prag gegründet, die einen härteren Kurs gegen den Antisemitismus steuerten und die Selbstsicherheit der Juden in Böhmen fördern wollten. Mit dem Aufkommen der Politik Herzls mündeten die meisten dieser Organisationen nach 1910 im Zionismus, wenn sie nicht schon bei ihrer Gründung zionistisch waren. 68 In dieser Bestrebung vereinigte sich jüdischer Glaube mit dem Auswanderungsdrang, der die junge Generation ergriffen hatte. Palästina war nun das Ziel der jungen Begeisterten, deren Eltern zum Teil ihren Fanatismus belächelten oder verwarfen. 69 Max Brod verkörpert das beste Beispiel eines Zionisten im Umkreis Franz Kafkas. Unter den Mitgliedern der Familie Kafka findet man nahezu keine Vertreter, höchstens die Schwester Ottla, die 1920 Pläne machte, sich zur Hachschara (landwirtschaftliche Vorbereitung für Palästina) anzumelden, schließlich aber einen Christen heiratete. 70 Sonst gab es in der Familie nur angeheiratete Zionisten, Dr. Hugo Low ζ. B., einen Rechtsanwalt aus Karlsbad, dessen Bruder, Karl, mit einer Cousine Kafkas, Hedwig, der ältesten Tochter Ludwig Kafkas verheiratet war. In seinem Tagebuch schreibt Kafka unter dem Datum 12. September 1912: „Abends Dr. Low bei uns" und fügt mit leicht spürbarem Überdruß hinzu: „Wieder ein Palästinafahrer". 71 Die etwa vier Wochen zuvor vollzogene Trauung seines Bruders Karl mit Hedwig Kafka veranlaßte höchstwahrscheinlich Löws Besuch bei den Kafkas. 72 Einige Tage darauf nahm ihn Franz zu seinem Freund Hugo Bergmann, einem eifrigen Zionisten. Das Ergebnis von Hugo Löws Reisen nach Palästina waren einige Artikel darüber in der Zeitschrift „Selbstwehr", die Kafka bestimmt kannte. 73 68

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Jüdische Organisationen, die in dieser Zeit in Prag gegründet wurden, waren: „Verein jüdischer Beamten in Prag", „Jüdischer Politischer Verein", „Jüdischer Arbeiterverein Poale Zion", „Jüdischer Volksverein in Prag der ,Zion'", „Bar Kochba", „Bureau des Zionistischen Distrikts-Komitees für Böhmen". Hugo Hermann: In jenen Tagen, S. 90, 147, 287. Kafka: Briefe, S. 511. Kafka: Tagebücher, S. 437. Hedwig Kafka und Karl Low wurden am 18. 8. 1912 getraut laut Antrag auf einen Personalausweis, den Hedwig am 27. 2. 1940 ausfüllte. PR 1931 — 1940, 8401, L 989, Státní ústfední archiv ν Praze, Karmelitská. Kafka: Tagebücher, S. 440, Kommentarband, S. 124.

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Kafkas vielfach zitierter Wunschtraum, nach Palästina auszuwandern, soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß er selbst dem Zionismus sehr kritisch gegenüber stand. Er sah in ihm höchstens den „Eingang zu dem Wichtigeren". 7 4 Sein durch Krankheit geschwächter Körper besaß auch nicht die Energie, die der Zionismus verlangte. Eher beeindruckten ihn die Ostjuden, angefangen bei den Mitgliedern der ostjüdischen Schauspieltruppe, die 1911 — 1912 in Prag gastierte. Wie die Art Juden, die sie in ihren Schauspielen und Liedern darstellten, waren sie „Leute, die in einer besonders reinen Form Juden sind, weil sie nur in der Religion aber ohne Mühe, Verständnis und Jammer in ihr leben". 7 5 Die Truppe bot nicht nur eine Möglichkeit für Kafka, das Judentum und die jiddische Sprache neu zu entdecken, sondern sie gab ihm auch Hoffnung. Umgeben von einer ihr feindlich gesinnten Kultur hatte sich diese Truppe ein Fleckchen Judentum erhalten und bewahrt. Sie trug ihre Welt mit sich. Kafka beschrieb seine Rührung in diesen Worten: „Bei manchen Liedern, der Aussprache .jüdische Kinderloch', manchem Anblick dieser Frau [Klug], die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht, ohne Neugier nach Christen, gieng mir ein Zittern über die Wangen". 7 6 Dieses Gruppenzugehörigkeitsgefühl überragte alle anderen nationalen Bindungen. Der Aspekt des Diasporazustands, der üblicherweise den Schauspielern anhaftete und ihnen eine Verletzlichkeit und Armseligkeit verlieh, war — im Kontrast zu den nationalen Palästinaansprüchen der Zionisten — ein Schlüsselmerkmal für Kafka, lief die Heimatlosigkeit des europäischen Judentums, das Fremdsein in der christlichen Welt doch parallel zu seiner inneren Veranlagung zum Alleinsein. Eine noch unbekannte Kafka-Anekdote aus einer späteren Zeit soll abschließend ein weiteres Beispiel liefern, daß der Dichter gewissermaßen die Staatenlosigkeit, d. h. das Ausgeschlossensein, als ein konstituierendes Element des Judentums betrachtete. Im Frühjahr 1920 weilte Kafka in Meran, um sich zu erholen. Dort machte er einige Ausflüge mit einem Ingenieur und Fabrikbesitzer aus Kempten, den er einige Male in Briefen erwähnt. 7 7 Dieser Mann, Ludwig Ott, erzählte, daß als Kafka und er eines Tages durch die Stadt gingen, sie einen chassidischen Juden sahen. (Meran hatte damals eine kleine jüdische Gemeinde.) In dem langen, etwas faden-

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Brief an Feiice, 2. VIII. 1916, Briefe an Feiice, S. 675. Kafka: Tagebücher, S. 58. Kafka: Tagebücher, S. 59. Kafka: Briefe, S. 275, Briefe an Milena. Hg. v. Willy Haas, Taschenbuchausgabe, Frankfurt am Main, 1982, S. 25 f., 43, 54.

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scheinigen schwarzen Mantel, dem schwarzen Hut, den Seitenlocken stach diese Erscheinung sofort ins Auge. Ott gab später zu, ihn „stach der Haber", denn auf die fremd aussehende Gestalt deutend, fragte er Kafka etwas frech und herausfordernd, woran er denke, wenn er so einen seiner Glaubensgenossen auf der Straße sehe. Kafka blickte ihn an, lächelte und sagte nur ein einziges Wort: „Heimat". 78

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Für diese Anekdote geht mein Dank an die Tochter Ludwig Otts.

Ernst Pawel

Der Prager Zionismus zu Kafkas Zeit

Es gibt da die berühmte Geschichte vom Groucho Marx, der eines Tages seinem Bruder erklärte, daß er dem Greentree Country Club beitreten wollte. Worauf Harpo auf seine rabbinisch-weise Art den Kopf schüttelte. „Quatsch. Da kommste nie rein. Die nehmen keine Juden. Geh zum Brandeis Club. Der ist mindestens so vornehm." „Du Esel," empörte sich Groucho, die Augen himmelwärts schraubend. „Ich würde doch nie einem Club angehören, der mich als Mitglied aufnimmt." Wie so manch ein fauler Witz enthält auch dieser einen Kern bitterer Wahrheit, und zwar das Dilemma des Westjuden im Zeitalter der Emanzipation. In fast allen Ländern Westeuropas war die jüdische Bourgeoisie fest davon überzeugt, daß die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der gesetzlichen unvermeidlich folgen würde. Und man kann es ihnen ja nicht übel nehmen. Schließlich bekamen die Juden Österreich-Ungarns ihre vollen Bürgerrechte erst 1867 — sieben Jahre nach Sigmund Freuds und Theodor Herzls Geburt und nur sechszehn Jahre vor Kafkas — und sie waren durchaus dazu berechtigt, auf eine wenn auch schrittweise aber doch unaufhaltsame Assimilation zu rechnen. Was es mit dieser Assimilation auf sich hatte, und warum sie fast überall scheiterte, steht hier nicht zur Rede. Aber die Entwicklungen, die schließlich zur Katastrophe führten, kamen gerade in Prag am frühsten und am deutlichsten zum Ausdruck. Daß seinerzeit nur eine winzige Minderheit der Prager Juden die Zeichen lesen konnte, ist kein Vorwurf. Die Mehrzahl glaubte noch wie überall an den Sieg der Vernunft in den Affaren der Menschheit. Diese Illusion wurde unserer Generation gründlich ausgetrieben. Schlauer aber als unsere Vorfahren sind wir dadurch auch nicht geworden. Jedenfalls gab es in allen andern Ländern Westeuropas nur jeweils einen Verein, der den anspruchsvollen Forderungen eines Groucho Marx hätte genügen können. In Prag jedoch gab es zwei. Ein Jude, der hier auf

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Assimilation erpicht war — und das umfaßte so ziemlich die Gesamtheit des jüdischen Bürgertums — hatte die Wahl zwischen Tschechen und Deutschen und die Qual einer Entscheidung, die mit dem schroffen Aufstieg des Nationalismus als Säkular-Religion immer schwieriger wurde. Die rapide Industrialisierung in Böhmen und Mähren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte potentiell revolutionäre Konsequenzen im Allgemeinen, aber mit besonderer Auswirkung auf das Prager Judentum. Erstens verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung der Stadt in den let2ten Jahrzehnten. Zweitens kamen die Zuwanderer vorwiegend aus der tschechischen Provinz; Tschechisch war ihre Alltagssprache, und ihre kulturelle Orientierung brachte sie unerbittlich in direkten Konflikt mit der traditionell deutsch-orientierten jüdischen Stammbevölkerung. Man kann also in gewisser Hinsicht von zwei jüdischen Gemeinden in Prag sprechen: auf der einen Seite die noch dominante, die dank der deutsch-jüdischen Schulen am deutschen Kulturbereich erzogen war und sich politisch mit dem österreichischen Liberalismus identifizierte, und auf der anderen Seite eine neue, mit dem tschechischen Nationalismus sympathisierende. Schon 1876 organisierten jüdische Studenten an der noch ungeteilten Karls-Universität den Verein tschechisch-jüdischer Akademiker, das erste Anzeichen einer neuen politischen und kulturellen Entwicklung. Seinerzeit sahen die Proponenten der beiden Fraktionen diesen Konflikt als eine Art Kulturkampf: einerseits das Judentum als integraler Teil der aufsteigenden tschechischen Nationalbewegung, andererseits eine fest im deutschen Kulturgut und im österreichischen Liberalismus verankerte „mosaische Konfession." Daß beiderseits die Assimilation als das heiß ersehnte Endziel erschien, machte die Polemiken nur um so hitziger. Wie so oft aber wurde der Ausgang dieser blutlosen Caféhaus-Schlachten von äußeren Entwicklungen entschieden, auf die die ideologischen Gegner gar keinen Einfluß hatten. Wie alle Religionen keimt der Nationalismus in edlen Gefühlen und schönen Worten. Aber viel aufrührender, aufregender und vor allem politisch wirksamer als Liebe zum Eigenen ist der Haß gegen die Anderen, die eben an allem schuld sind. Wie die Situation in unserer post-kommunistischen Welt nur allzu offensichtlich macht, hat sich der Keim der Vaterlandsliebe und Stammestreue in einen bösartigen Haß-Virus verwandelt, der der ganzen Menschheit zum Verhängnis zu werden droht. Man kann den Einzelheiten dieser Evolution nicht in einem kurzen Vortrag gerecht werden, aber sie begann in den letzten Jahrzehnten des

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19. Jahrhunderts, und es ist kaum erstaunlich, daß die Juden, diese ewig „Anderen", ihre ersten Opfer wurden. Der tief in den Massen eingewurzelte Antisemitismus spielte immer eine gewisse, wenn auch ambivalente Rolle in der tschechischen Nationalbewegung, aber erst mit dem Aufstieg der Jung-Tschechen wurde er offiziell zur Parteilosung. 1892 eröffneten nationalistische Politiker einen anti-jüdischen und anti-deutschen Boykott, in dem die Juden als hinterhältige Handlanger der Deutschen angeprangert wurden. Antisemitische Krawalle und Ausschreitungen waren an der Tagesordnung, mehrere Ritualmordprozesse schürten den hysterischen Judenhaß, und der Sturm um die Badeni-Sprachgesetze, der in einem Ausnahmezustand endete, schonte weder Juden noch Deutsche; in tschechisch-radikalen Augen waren beide gleich schuldig. Der endgültige Zusammenbruch der jüdischtschechischen Bewegung kam 1897, als die Jung-Tschechen einen berüchtigten Antisemiten, Vaclav Breznovsky, als ihre eigene Version des charismatischen Lueger aufstellten. Die alternativen Kandidaten waren ein katholischer Priester und ein Sozialdemokrat, so daß sich die überwiegend bürgerlichen und resolut anti-marxistischen Prager Juden gezwungen sahen, für einen Sozialisten zu stimmen. Breznovsky erhielt die überwiegende Mehrheit, und die Jung-Tschechen rächten sich mit einem Aufwall von polemischem Antisemitismus, der allen Illusionen einer weiteren Zusammenarbeit und eventueller Assimilation ein Ende bereitete. Soweit die Tschechen, mit Ausnahme natürlich einiger progressiver Elemente, wie ζ. B. Masaryk's Realistenpartei. Aber das deutsche Lager war in der Zwischenzeit den Juden gegenüber noch viel weniger gastfreundlich geworden. Georg von Schönerers all-deutsche Partei war nur die einflußreichste unter mehreren antisemitischen Gruppen und Fraktionen, die man als Vorreiter des Nazismus betrachten kann. In Prag, wo die Juden 45% der deutschsprechenden Bevölkerung ausmachten, ist der deutsche Antisemitismus zuerst auf der Universität militant geworden. 1891 organisierten die deutsch-nationalen Studenten ihre eigenen „judenreinen" Burschenschaften. Es dauerte aber nicht lange, bis andere deutsche Vereine ähnliche Rassenvereinigungen bildeten und eine frühe Art Arierparagraphen einführten. Die liberale Lese- und Redehalle wurde gespalten und der jüdischen Mehrheit überlassen; es ist ironisch, aber typisch für die schiefe Lage des Prager Judentums, daß gerade die von den Deutschen als jüdisch verschriene Halle mit ihrer vorbildlichen Bibliothek, öffentlichen Vorlesungen, Konzerten und Veranstaltungen noch bis zur Jahrhundertwende als Zentrum deutscher Kultur in Prag fungierte.

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Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, daß die Kafkasche Generation — er ist 1883 geboren — entscheidend anders reagierte als ihre Väter, die noch dankbar für die Emanzipation waren und resigniert auf Gott und Kaiser Franz Joseph bauten. Gesetzlich besaßen sie von Geburt an volle Bürgerrechte; dem zum Trotz, und obwohl die meisten von ihnen zweisprachig aufwuchsen, machten ihnen die tschechischen wie die deutschen Nationalisten von Anfang an klar, daß sie als Juden ein zersetzendes und unassimilierbares Fremdelement darstellten, verhaßt — je nach den dominanten Vorurteilen — als kapitalistische Ausbeuter, sozialistische Umstürzler, Deutschtümler oder Slavenfreunde. Sie sahen sich also in einer hoffnungslosen Zwickmühle, die eine radikale Lösung erforderte. Schon 1893 gründeten jüdische Studenten in Prag ihre eigene Verbindung, die Maccabäa, aber die historisch logische Reaktion war der von Theodor Herzl einberufene erste zionistische Kongreß in Basel im Jahre 1897. Der Zionismus als Sehnsucht nach dem gelobten Land ist so alt wie das jüdische Volk. Aber der Zionismus als eine politische Bewegung, die den Antisemitismus mit einem aktiven jüdischen Nationalismus beantwortete, begann auf diesem Kongreß und mündete 50 Jahre später — merkwürdigerweise bis auf sechs Monate genau in der Zeitspanne, die Herzl vorausgesagt hatte — in der Gründung des jüdischen Staates. Diese Säkularisierung des Judentums, d. h. seine Transformation von der Religion zur Nation, hatte nicht nur politische, sondern auch weitgehende psychologische Folgen. Für die jiddisch-sprechenden, im Stetti aufgewachsenen Ostjuden war ja die Volkszugehörigkeit nie ein Problem gewesen; den Westjuden jedoch ermöglichte die Ideologie des Zionismus endlich, sich auch als Angehörige eines distinkten, separaten Volkstums zu fühlen: „Juden, so wie die Tschechen Tschechen und die Deutschen Deutsche sind," um Kafka zu zitieren. Die Botschaft des zionistischen Kongresses wurde unterstrichen von den wüsten antisemitischen Ausschreitungen, die zwischen 1897 und 1900 den unglückseligen Badenischen Sprachgesetzen folgten. Herzl selbst begann die zionistische Offensive im strategisch wichtigen Böhmen mit einem Artikel in seiner Wochenschrift „Die Welt", in der er die böhmischen Juden ermahnte, in der Kontroverse zwischen Deutschen und Tschechen strenge Neutralität zu bewahren. „Der große Hader in Böhmen um die Sprachverordnungen zeigt die österreichischen Juden in einer wunderlichen Lage," schrieb er am 5. November 1897. „Sie gehen mit denen, die gestern ihre heftigsten Feinde waren — und es morgen wieder sein werden.

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Wäre die Sache nicht so furchtbar ernst, man könnte sie unendlich komisch finden." In einer Zeit, wo es weder Radio noch Fernsehen gab und seine eigene Zeitung ihn totschwieg, gelang es diesem in Budapest geborenen Wiener Journalisten, binnen nur zwei Jahren eine internationale Organisation aufzubauen und von Türken, Deutschen und Engländern als verhandlungsfähiger Fürsprecher für das jüdische Volk anerkannt zu werden. Es war eine einzigartige Kombination von Willenskraft, spinnerischer Phantasie und unverfrorener Chuzpe, die es Herzl ermöglichte, das Judentum erstmalig als ein politisches Konzept in die Diplomatie der Großmächte einzuführen. Ohne diesen Präzedenzfall wäre ζ. B. die Balfour Declaration undenkbar gewesen. Die erste offen zionistische Organisation in Böhmen war der 1899 von Filip Lebenhart und Karl Rezek gegründete „Jüdische Volksverein Zion". Er improvisierte eine Notsparkasse, die vielen von dem tschechischen svuj k svemu Boykott geschädigten jüdischen Kaufleuten kurzfristige Darlehen zur Verfügung stellte, was ihm besonders in der Provinz viel Sympathie brachte. Im selben Jahre jedoch vereinigten sich in Prag die tschechisch und deutsch-sprechenden jüdischen Studenten zum ersten Mal in dem zionistischen „Bar Kochba"-Bund, und mit der Radikalisierung des Studententums im allgemeinen war es ganz natürlich, daß die Prager Studenten sehr bald die Führung der zionistischen Bewegung in Böhmen übernahmen. Man spricht vom Prager Deutsch, von der Prager Literatur. Man könnte auch vom Prager Zionismus als einem Zionismus sui generis sprechen. Es ist natürlich selbstverständlich, daß eine jüdische Bewegung, d. h. eine Bewegung, die ausschließlich aus Juden besteht, fast so viele Fraktionen wie Mitglieder hat, und der Zionismus ist keine Ausnahme. Dank seiner Persönlichkeit und seiner außergewöhnlichen Überzeugungskraft gelang es Herzl für ein paar Jahre, ein weites Spektrum religiöser und ideologischer Meinungen organisatorisch unter einen Hut zu bringen, aber schon gegen Ende seines kurzen Lebens — er starb 1904 im Alter von nur 44 Jahren — drohte der Bewegung die Gefahr einer endgültigen Spaltung. Die grundlegenden Gegensätze waren schwer zu überbrücken. Auf der einen Seite standen die Verkünder des kulturellen Zionismus, die in der Heimkehr nach Palästina hauptsächlich ein Mittel zum Zweck, d. h. den Weg zur physischen und moralischen Regeneration des jüdischen Volkes sahen. Die Herzische Fraktion, andererseits, die sogenannten politischen Zionisten, waren wie ihr Führer selbst ehrlich davon überzeugt, daß nur ein international anerkannter und gesicherter jüdischer Staat die Judenfrage

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lösen könnte. Erst einmal „ein Land ohne Volk für das Volk ohne Land"; dann könnte man es sich leisten, über Kulturfragen zu streiten. Von ungefähr 1901 bis 1905 stand der Prager „Bar Kochba" unter der Führung von Hugo Bergmann fest auf der Seite der kulturellen Fraktion. Bergmann selbst war eine für die Prager Szene vielleicht nicht untypische, aber in der Außenwelt doch ganz außergewöhnliche Persönlichkeit: ein Universalgelehrter, der weitschweifende geistige Interessen mit intensiver praktischer Arbeit zu verbinden wußte. Er war wie Kafka 1883 geboren, und vom ersten Elementarschuljahr bis zum Abitur im Altstädter Gymnasium waren die beiden nicht nur Klassenkameraden, sondern auch enge Freunde. Ohne Bergmanns Hilfe, besonders in Mathematik, wären Kafkas Schuljahre wahrscheinlich noch viel traumatischer verlaufen, als er sie ohnehin in Erinnerung hatte. In der Pubertät kühlte die Freundschaft etwas ab. Bergmann, obwohl nicht orthodox, war religiös und aktiv im jüdischen Gemeindeleben, während Kafkas Hauptinteresse der Literatur galt und er eine in jeder Beziehung agnostische Phase durchmachte. Trotzdem blieben sie lebenslange Freunde, und Bergmann, der 1920 die Tat dem Worte folgen ließ und nach Palästina auswanderte — er gründete die National- und Universitäts-Bibliothek in Jerusalem und war 1936 — 38 Rektor der Hebräischen Universität — spielte eine wichtige Rolle, praktisch sowohl als symbolisch, in den späteren Träumen des schon todkranken Kafkas von einer Flucht ins gelobte Land. Das Ziel des „Bar Kochba" unter Bergmann war vor allem, was er die „kulturelle Regeneration" nannte. Mitglieder wurden ermutigt nicht nur hebräisch, sondern auch jiddisch zu lernen, und sie mußten, um Ämter zu besetzen, erst eine Prüfung in jüdischer Geschichte bestehen. „Ein zionistischer Student, der nicht hebräisch kann, ist eine contradictio in adjecto", so Bergmanns ständig wiederholte Losung. Diese betont nationalistische Einstellung der jungen Zionisten hieß, daß sie einerseits den kosmopolitischen Liberalismus zurückwiesen und andererseits ausgesprochene Sympathie für ähnliche Nationalbewegungen hegten, besonders natürlich für die tschechische. Alle Juden, gleich welcher politischen Orientierung, bewunderten und verehrten Tomas Masaryk als Humanisten und unbestechlichen Wahrheitskämpfer und wußten ihm Dank für seinen beispielhaften Mut in dem Polnaer Ritualmordprozeß. Doch die Assimilanten störte es immer, daß er die philosophischen und moralischen Grundlagen der Assimilation nie wirklich akzeptierte; für ihn waren die Juden eine Nation, und er sympathisierte von Anfang an mit dem Zionismus. Schon 1898 erschienen in den Realistenpublikationen „Cas" und „Nase Doba" ausführliche Artikel über die neue Bewegung,

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und in seinen „Soziologischen Grundlagen des Marxismus" erwähnte Masaryk, daß er Herzls „Judenstaat" gelesen habe und daß er, was die Judenfrage betraf, die zionistische Lösung der marxistischen bei weitem vorziehe. Noch im selben Jahre wurde Alfred Löwy, einer der „Bar Kochba"-Gründer, von ihm eingeladen, in der tschechischen Studentenverbindung „Slavia" einen Vortrag über den Zionismus zu halten. Unter Hugo Bergmann wurden die Beziehungen sogar enger, und 1905, in einem Artikel in „Nase Doba", dankte Masaryk ausdrücklich „einigen Juden, die mein Interesse in ihrer religiösen Frage verstanden und meine Aufmerksamkeit auf den russisch-jüdischen Schriftsteller Ahad Haam lenkten." Ahad Haam geb. Asher Ginzberg, der Stimmführer des kulturellen Zionismus, war der große Gegenspieler Herzls. Seine Ideen über einen ethischen Nationalismus, die den „Bar Kochba" inspirierten, waren den Masarykschen Idealen sehr verwandt und öffneten einen Dialog zwischen den Zionisten und der Realistenpartei. „Bar Kochba" unter Bergmann verschmähte hochmütig den kindischen Studentenklimbim mit seiner Deutschtümelei, seinen Mensuren, Farben, Kneipen und Krawallen. Aber auch unter den Prager Studenten gab es eine bedeutende Fraktion der Herzl-Anhänger, die mit der exklusiven Beschränkung auf „innere Ausbildung" unzufrieden waren und politische Aktion forderten. Die Fraktionskämpfe führten schließlich zum Austritt der Rebellen, die ihre eigene schlagende national-jüdische Verbindung „Barissia" gründeten und mit Pauken und Trompeten bzw. Schwert und Faust die jüdische Ehre auf dem Prager Graben gegen die antisemitischen Burschenschaften verteidigten. Im heutigen technisch fortgeschrittenen Zeitalter schlägt man sich natürlich nicht mehr gegenseitig die Fresse ein; solche Streitereien werden mit Maschinenpistolen erledigt. Aber weit wichtiger als diese noch kindischen Balgereien war die zionistische Wochenschrift „Selbstwehr", welche die „Barissia" im März 1907 herauszugeben begann. Drei Jahre später fiel die „Selbstwehr" in die Hände des kulturellen Flügels und blieb schließlich das offizielle Blatt der zionistischen Bewegung bis zum Einmarsch der Nazis. Der Nachfolger Bergmanns in der Führerschaft des „Bar Kochba" war Leo Herrmann, eine gleichfalls ungewöhnliche und ungewöhnlich begabte Persönlichkeit. Herrmann, geboren 1888 in Landskron, war Vorsitzender der Verbindung von 1908 bis 1909 und Redakteur der „Selbstwehr" bis 1913, als Kurt Blumenfeld ihn nach Berlin in die Exekutive der Zionistischen Organisation berief. Seine Nachfolger in der „Selbstwehr" waren Siegmund Kaznelson und, ab 1919, Felix Weltsch, der intime Freund Kafkas und Brods.

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Als „Bar Kochba"-Vorsitzender bat Leo Herrmann im Herbst 1908 Martin Buber, am 10. Jahrestag der Verbindung teilzunehmen. Buber war zwar erst 30 Jahre alt, aber früh übt sich, was ein Prophet werden will, und nach siebenjähriger Wanderung in der Wüste des Chassidismus war er mehr als bereit, nun seine Botschaft der Welt zu verkünden, und der Ruf nach Prag kam ihm dazu sehr gelegen. Seine erste Vorlesung im Januar 1909 war ein eklatanter Erfolg. Er zog seine Hörer ganz in seinen Bann und kam im April und Dezember 1910 wieder nach Prag, wo seine Auslegungen über Wahrnehmungsorientierung, Geistesorientierung und die Natur der Gemeinschaft den Prager Zionismus bis in den ersten Weltkrieg tief beeinflußten. Daß diese NeoRomantik mit ihren verschwommenen Formeln einen besonders großen Reiz auf die Vorkriegsjugend ausübte, ist leicht verständlich. Jedoch gab es einen Prager Juden, der die zwanghafte Gewohnheit hatte, jedes Wort zu prüfen und auf die Waage zu legen. Am 16. Januar 1913 schrieb Kafka an Feiice Bauer: Denke nur, ich bleibe heute abend — ich sah es schon seit einem Monat kommen — nicht zuhause. Es reut mich schon jetzt, und ich will zufrieden sein, wenn es mich eine viertel Stunde lang während des heutigen Abends nicht reut. Buber hält nämlich einen Vortrag über den jüdischen Mythus; nun Buber würde mich noch lange nicht aus meinem Zimmer treiben, ich habe ihn schon gehört, er macht auf mich einen öden Eindruck, allem, was er sagt, fehlt etwas.

Dieses harte Urteil wird wohl kaum gemildert durch Kafkas Bemerkung drei Tage später: Gestern habe ich auch mit Buber gesprochen, der persönlich frisch und einfach und bedeutend ist und nicht mit den lauwarmen Sachen zu tun haben scheint, die er geschrieben hat.

Inzwischen war die Anzahl der ausschließlich tschechisch-sprechenden und tschechisch erzogenen Mitglieder schon so angewachsen, daß im Dezember 1909 ein tschechischer Zweig des „Bar Kochba" unter dem Namen „Spolek zidovskych akademiku Theodor Herzl" gegründet wurde, die sehr aktiv in der böhmischen und mährischen Provinz wurde. Trotz dieser konkreten Erfolge ist es jedoch klar, daß die wahre Liebe der zionistischen Intellektuellen viel mehr der Philosophie als der Politik galt. Die geistige Führerschaft — Hugo Bergmann, Leo Herrmann, Hans Kohn, Robert Weltsch, Oskar Epstein, Siegmund Kaznelson — widmete endlose Nächte und zahllose Artikel den Grundfragen der jüdischen Erneuerung, über deren Notwendigkeit sie sich alle einig waren, aber über deren Natur sich jeder seine eigene Meinung bildete.

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Bis zum Ausbruch des Krieges ging Theorie über Praxis; aber dann wehte ein neuer Geist. Buber — und er war nicht der einzige — begrüßte den Ausbruch der Feindseligkeiten als den Auftakt zum Neuen Leben, aber die Prager Zionisten, die fast alle in die trostlose k. und k. Armee eingezogen wurden, bekamen dort eine Lektion in Realismus, die sich nach dem Krieg sehr positiv in der nüchterner} Politik der sogenannten Gegenwartsarbeit auswirkte. Noch während des Krieges schmiedeten Max Brod und Siegmund Kaznelson, beide nicht eingezogen, Pläne für die Wiederbelebung der zionistischen Bewegung nach dem schon höchstwahrscheinlichen Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, und im April 1918 erschienen die von Ludvik Singer redigierten „Zidovske zpravy" als das tschechische Gegenstück zur "Selbstwehr". Im Februar 1920 wurde die jüdische Nationalität formell von der jungen tschechoslovakischen Regierung anerkannt — das erste Mal in der europäischen Geschichte, daß eine moderne parlamentarische Demokratie die Juden als eine offizielle Minderheit mit entsprechenden Rechten behandelte. Die zionistische Bewegung spielte dabei unzweifelhaft eine bedeutende Rolle, aber sie dankte ihren Erfolg wohl doch hauptsächlich der Sympathie Masaryks, dessen Realistenpartei in den Augen der siegreichen Westmächte den tschechischen Nationalismus repräsentierte. In einem Telegramm an die amerikanische Zionistische Organisation versprach Masaryk den Juden dieselben Rechte wie der deutschen Minderheit. „Was Zionismus anbetrifft, kann ich nur meine Sympathie mit ihm und mit der Nationalbewegung des jüdischen Volkes überhaupt ausdrücken." Aus eigenem Antrieb sandte Masaryk auch ein Telegramm an Max Brod, in dem er versprach, die Rechte der Juden im zukünftigen Staate voll zu achten. Die Nachkriegsscharmützel zwischen Zionisten, Marxisten, tschechisch und deutsch-orientierten bürgerlichen Assimilanten und der Aufstieg einer neuen Generation sind ein Kapitel für sich. Ich möchte hier mit ein paar Bemerkungen über Kafkas eigene Stellung zum Zionismus schließen. Daß er Zionist war, stimmt nicht. Daß er kein Zionist war, stimmt auch nicht. Da er sich ja nie in eine schlichte Kategorie einkapseln läßt, ist es klar, daß alle Versuche, ihn mit einem starren Dogma zu identifizieren, nicht nur fehlschlagen müssen, sondern glatter Unfug sind. Das hat Hunderte von verbohrten Seelen nicht davon abgehalten, ihn in dicken Wälzern als Marxist, Anarchist, frommen Juden, verkappten Christ und — last but not least — deutschen Klassiker zu beschreiben und zu analysieren. Halten wir uns an die Tatsachen.

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Wie die meisten Sprößlinge der bürgerlichen Assimilation hat er, wie er es ja in dem „Brief an den Vater" beschreibt, in seiner Kindheit vom Judentum fast nichts mitbekommen. Aber das Milieu, in dem er aufwuchs, war vornehmlich jüdisch, und es dauerte eine Weile, bis er sich des spezifischen Dilemmas des zwischen den Stühlen sitzenden Prager Juden bewußt wurde. Sein offenes Bekenntnis zum Judentum wird im allgemeinen mit dem Auftritt der jiddischen Theatergruppe im Café Savoy im Herbst und Winter 1911/12 in Verbindung gebracht. Ob es wirklich die schlechten Schauspieler und armseligen Stücke waren, die ihn so beeindruckten, wie sein Tagebuch es behauptet, scheint mir allerdings zweifelhaft. Ich glaube vielmehr, daß der nun 28jährige endlich gezwungen war, sich Rechenschaft über seine fragwürdige Situation als Nicht-Tscheche, Nicht-Deutschêr und nicht-jüdischer Jude zu geben, und daß er schon lange innerlich vorbereitet war auf die Begegnung mit Menschen, deren jüdische Stammesangehörigkeit für sie so selbstverständlich war wie die tschechische und deutsche für die Tschechen und Deutschen. Außerdem — und das war offensichtlich für ihn von höchster Wichtigkeit — hatten sie ihre eigene Sprache. Wir brauchen hier nicht auf die Bedeutung der Sprache in dem Leben eines Dichters hinzuweisen. Aber je mehr sich Kafka dem Judentum und jüdischem Nationalismus widmete, um so mehr fühlte er sich unwohl in seiner Muttersprache — die eben nicht die Sprache einer jüdischen Mutter hätte sein sollen. Es war ihm, wie er es ausdrückte, als hätte er ein fremdes Kind aus der Wiege gestohlen. Er war nicht besonders begabt für Fremdsprachen, aber Hebräisch hat er in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens gebüffelt, als ob er es sich doch noch ganz zu eigen machen wollte. Er hatte eine Reihe von mehr oder weniger kompetenten Lehrern, aber im Herbst 1922 kam eine 19jährige junge Frau aus Jerusalem nach Prag, die in Palästina geboren und mit Hebräisch als ihrer Muttersprache aufgewachsen war: Puah Ben-Tovim, von Hugo Bergmann als eine außergewöhnlich begabte Schülerin nach Prag geschickt, um dort Mathematik zu studieren, gab dem schon todkranken Dichter dreimal in der Woche hebräischen Unterricht, aber darüber hinaus brachte sie ihm auch einen authentischen Hauch Palästinas und das Beispiel eines neuen Geschlechts junger Juden. Formelles Mitglied der zionistischen Organisation war Kafka nicht; das war einfach nicht seine Art. Aber die „Selbstwehr" las er treu jede Woche, seine Schwester Ottla ermutigte er, Landwirtschaft zu lernen, und zumindest im letzten Lebensjahr war er entschlossen — so entschlossen wie eben Kafka je war —, nach Palästina auszuwandern. Bergmann hatte ihm sein

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Haus und seine unbegrenzte Gastfreundschaft angeboten, und die Reise nach Müritz im Sommer 1923 war von ihm als eine Art Vorprüfung seiner Reisefahigkeit gedacht. Wie wir wissen, kam es anders. Die Immanenz des Todes vereinfacht das Leben. Er, der mit seinem epistolaren Liebesleben seine Opfer und sich selbst jahrelang herumgequält hatte, verliebte sich diesmal ganz ohne Floskeln und Fanfaren in eine 19jährige Ostjüdin, die in einem chassidischen Haus aufgewachsen war und jiddisch und hebräisch fließend beherrschte. Auf einmal war alles ganz selbstverständlich: die beiden zogen zusammen nach Berlin, wo sie fleißig hebräische Bücher lasen und verzweifelt mit der wilden Inflation kämpften, die sie bald zu Hungerrationen zwang. Es war ihr Traum, im Frühjahr nach Tel-Aviv auszuwandern und dort ein kleines Restaurant zu eröffnen, mit Dora in der Küche und Franz als Kellner. Puah Ben-Tovim, die die beiden ein paar Mal in Berlin besuchte, erzählte mir, daß Dora keinen blauen Dunst von Haushalt, geschweige denn von Küche hatte, und der Vorstellung Kafkas als Kellner könnte nur Charlie Chaplin gerecht werden. Aber in Tel-Aviv würde solch ein schrulliges Restaurant noch heute kaum auffallen.

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„Vom Judentum". Anmerkungen zum Sammelband des Vereins „Bar Kochba" Der Zionismus, wenigstens in einem äußeren Zipfel, den meisten lebenden Juden erreichbar, ist nur der Eingang zu dem Wichtigeren. 1

Der vom Verein jüdischer Hochschüler „Bar Kochba" Prag herausgegebene Sammelband „Vom Judentum" arbeitet an der Grundlegung eines jüdischen Selbstverständnisses, das primär weder religiös-mosaisch noch politisch-zionistisch zu verstehen ist. Als eines der ersten Dokumente des in die Breite wirkenden Kulturzionismus stellt das im August 1913 im Kurt-Wolff-Verlag Leipzig erschienene Buch einen spezifisch jüdischen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Moderne dar, der nicht nur in der Kulturphilosophie und Geistesgeschichte sondern auch in der Literatur der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts tiefere Spuren hinterlassen hat. Die Auseinandersetzung mit der von der Literaturwissenschaft weitgehend unbeachteten Strömung vermag über Einsichten in eine interessante Spielart des Zionismus hinaus differenzierte Einblicke in die geistige Welt einiger wesentlicher Autoren jüdischer Herkunft zu vermitteln. Der für Prager jüdische Intellektuelle besonders gewichtige Kulturzionismus war statt mit der territorialen Lösung der Judenfrage in Palästina mit der Judentumsfrage vor allem auch in der Diaspora beschäftigt. Die an „Vom Judentum" orientierte, folgende Beschäftigung mit Spezifik und Weite eines modernen Judentums beleuchtet eine Strömung, in deren unmittelbarem Kontext Franz Kafka stand. Obwohl die viel diskutierte Frage, ob Kafka Zionist war oder nicht letztlich nicht zweifelsfrei beantwortet werden kann: Einer Antwort, inwiefern er es war, kommt man erst näher, wenn man weiß, was Zionismys sein kann und wie fließend er in nichtzionistische Auffassungen vom Judentum übergeht. 2 1

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Franz Kafka: Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Ludwig Dietz, Frankfurt am Main, 1969, S. 675. Vgl. bes.: Ritchie Robertson: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur. Aus dem Englischen von Josef Billen. Stuttgart, 1988 und: Franz Kafka und das Judentum. Hg. v. K. Grözinger, St. Moses und H. D. Zimmermann. Frankfurt am Main, 1987.

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I. Zur Vorgeschichte des Bandes gehört das Wirken des Kulturphilosophen Martin Buber, der an diesem nicht nur mit einem eigenen Beitrag und durch redaktionelle Hilfestellung beteiligt war 3 , sondern eine Vielzahl der Mitarbeiter auf den Weg brachte bzw. sie in vorhandenen Ansätzen entscheidend bestärkte. Buber hatte sich seit 1898 zum Zionismus bekannt, unter dem Einfluß Achad Haams (1856-1927) und Nathan Birnbaums (1864-1937) sah er dessen Kern jedoch in der geistig-nationalen Selbstbesinnung der Judenheit. Statt wie der Begründer des politischen Zionismus und Verfasser von „Der Judenstaat" diplomatisch wurde er kulturell aktiv. So eröffnete er eine Sektion für jüdische Kunst und Wissenschaft, begründete den Jüdischen Verlag und gab eine Anthologie Jüdischer Künstler heraus. 1904 zog sich Buber von parteizionistischer Betätigung soweit zurück, daß er nicht einmal mehr seinen Schekel, den Mitgliedsbeitrag, zahlte. Für mehrere Jahre widmete er sich dem Studium der Legenden der ostjüdischen Chassidim, deren ergreifend ursprüngliche und lebendige Volksfrömmigkeit den Mitteleuropäer so sehr begeisterte, daß sie ihm zum Vorbild einer Erneuerung der Lebenspraxis abendländischer Kultur wurde. Charakteristisch war, daß sich Bubers Interesse für Mystik durchaus nicht auf jüdische beschränkte, sondern er sich in seinen 1909 veröffentlichten „Ekstatischen Konfessionen" darüber hinaus auch mit christlicher und fernöstlich-asiatischer Mystik beschäftigte. — Als 1906 und 1908 mit „Geschichten des Rabbi Nachman Bratzlaw" und „Die Legende des Baal Schern" die ersten Bände mit nachgedichteten chassidischen Erzählungen erschienen, propagierten die Geleitworte jedoch das Beispiel der Vergöttlichung von Wirklichkeit und Alltag, das sich sehr deutlich auf die eigene, jüdische Herkunft bezog. Die unverstellt urtümliche Religiosität der Chassiden sollte für eine neue Gesellschaft wegweisend werden. Sie hob sich gleich nach zwei Seiten von gegenwärtiger jüdischer Praxis ab: Sie stand im Widerspruch zur dogmatisierend verengten, rationalistischen Gesetzesreligion der orthodoxen Rabbiner und opponierte gleichzeitig gegen die 3

Die Herausgeber waren noch Studenten und Buber kümmerte sich auch um Details, tastete die Herausgeberschaft „Bar Kochbas" aber nie an (Leo Herrmann: Aus Tagebuchblättern. In: Der Jude. Sonderheft zu Martin Bubers 50. Geburtstag. Berlin, 1928, S. 162). Vermutlich vermittelte der damals Fünfundreißigjährige die Beiträge der schon namhafteren Mitarbeiter. Wie sein Briefwechsel (Anm. 4, Brief v. 29. 4. 13) belegt, kümmerte er sich beispielsweise um die fristgemäße Einreichung der Aufsätze Wassermanns und Wolfskehls.

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westjüdischen Assimilanten, die ihre Beziehung zur nationalen Geistestradition aufgegeben hatten. Durch die Lebenszeugnisse der Söhne Franz Kafka und Max Brod wissen wir, wie stark das emanzipatorische Streben der dem Ghetto entwachsenen Väter auch im Prag der Jahrhundertwende das Judentum verkümmern ließ. Der aus dem Maccabäa hervorgegangene Verein jüdischer Hochschüler „Bar Kochba" arbeitete dieser Entwicklung entgegen. Unter dem Schulfreund Kafkas, Hugo Bergmann, der ihn ab 1901 leitete, wurde er zum wirkungsvollen Mittelpunkt der zionistisch orientierten Intellektuellen Prags. Im Anschluß an Achad Haams Bestrebungen, das Judentum national-kulturell zu regenerieren, wurde eine zionistische Kulturarbeit organisiert. Über Bildungsprogramme, Sprachkurse und Vorträge sollten die Westjuden an die jüdische Geschichte, Kultur und Kunst herangeführt werden. Buber hatte den „Bar Kochba" gemeinsam mit Berthold Feiwel 1903 erstmals besucht und war von den Pragern als Delegierter für den Zionistischen Kongreß nominiert worden. Intensivere Beziehungen ergaben sich, nachdem der neue Obmann des Jahres 1909 Leo Herrmann (1888 — 1951) — der bald darauf die Wochenschrift „Selbstwehr" unter den Einfluß des Vereins bringen sollte — die Isolierung der jungen Zionisten beklagte, Buber einlud und ihn bat, den jüdischen Studenten und der assimilierten Mehrheit Prags „das Judentum in Erinnerung zu bringen" 4 . Was folgte, waren die berühmten „Drei Reden über das Judentum", die die Ergebnisse der jahrelangen Studien öffentlichkeitswirksam machten und, wie sich zeigen sollte, den messianischen Erwartungen und Sehnsüchten der intellektuellen Jugend des ganzen deutschen Sprachraums sehr unmittelbar entgegen kamen. Mit seiner zweiten Rede, „Das Judentum und die Menschheit", konnte sich Buber jedoch vor allem in der böhmischen Hauptstadt beheimatet fühlen. „Buber fand hier zum ersten Mal einen jüdischen Kreis, der seine Lehre dankbar aufnahm, sie weiterbildete und weitergab an später breiter werdende Kreise", schrieb Hans Kohn im Rückblick. 5 Wie sein Vereinsfreund Robert Weltsch (1891-1982) - der Jahrzehnte die „Jüdische Rundschau" leitete — im Sammelband ausführt (S. 161 —

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Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Hg. u. eingeleitet von Grete Schaeder, Heidelberg, 1972. Brief v. 14. 11. 08, S. 158. Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Hellerau, 1930, S. 90.

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164) 6 , grenzte sich Buber in drei Richtungen vom Herzischen Zionismus ab: Erstens, über den formal-organisatorischen Zusammenschluß zur Erreichung politischer Ziele hinaus ging es ihm um die Änderung des individuellen Lebens, um „innere Wandlung" und die Bereitschaft zur persönlichen Tat. Zweitens, wollte er das national-jüdische Zusammengehörigkeitsbewußtsein geistig-kulturell unterbauen. Buber orientierte auf die Beschäftigung mit jüdischer Volkskultur, Geschichte, Mythologie, Weisheit, Mystik und die Auseinandersetzung mit „spezifisch jüdischen Denken und Fühlen". Drittens, sollte die unbedingte Verwirklichung persönlichen Judentums der Befreiung aus der Knechtschaft und der „Entartung" (S. 164) der europäischen Entwicklung dienen.

II. Unter der Voraussetzung, daß den Beteiligten die Zugehörigkeit zur jüdischen Volksgemeinschaft bewußt sei, hielten sich die Herausgeber, was die Inhalte der Beiträge betraf, bewußt relativ offen. Während Leo Herrmann später meinte, daß man „sogar Wert darauf (legte), Männer mitarbeiten zu lassen, für die auch die Einstellung zum jüdischen Problem, die uns mit Buber verband, schon zu bestimmt umgrenzt war" 7 , betonte Hans Kohn (1891 — 1971) einleitend, „daß einige der Aufsätze [...] nicht etwa als programmatisch für den Verein gelten können." (S. VII). Gemeinsames Ziel war, westjüdischen Lesern Vorstellungen von Sinn und Möglichkeiten der Erneuerung des persönlichen Lebens aus dem jüdischen Geist zu vermitteln. Nicht zuletzt aufgrund der programmatischen Weite ist der Band vielgestaltiger als hier vorführbar ist. Allein die Beiträge von Bubers Freunden Gustav Landauer (1870—1919) und Moritz Heimann (1868 — 1925) 8 , die nicht zionistisch orientiert waren, wären eingehenderer Betrach6

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Robert Weltsch: Theodor Herzl und wir. In: Vom Judentum. Hg. v. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt-Wolff-Verlag, 1913, S. 155 — 168. Zitate aus dem Band werden im Text mit einfacher Seitenzahl belegt. Leo Herrmann: Aus Tagebuchblättern. In: Der Jude. Sonderheft zu Martin Bubers 50. Geburtstag, S. 162. Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken, S. 250 — 257 und Moritz Heimann: Jüdische Kunst, S. 2 5 8 - 2 6 0 .

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tung wert. Ich konzentriere mich im folgenden auf die Prager Autoren und versuche, die Einheit und Heterogenität eines folgenreichen Geistesjudentums über die Besprechung einzelner Beiträge wenigstens anzudeuten. Die von Buber erstrebte geistige Erneuerung des Westjuden turns war vom persönlichen Erleben der besonderen Religiosität der Chassiden während der Kindheit bei seinem Großvater in Galizien geprägt. Für den Studenten der Universitäten von Wien, Leipzig, Berlin und Zürich wurde die den Menschen ergreifende, gottentbrannte Frömmigkeit und ihre Verwirklichung in sittlicher Tat zukunftsweisend. „Der Mythos der Juden" (S. 21—31), ein Vortrag, den er zum 20. Jahrestag des Vereines bereits im Jahr zuvor in Prag gehalten hatte, setzt die „lebendige Kraft des jüdischen Gott-Erlebens" (S. 25) gegen den politischen Nationalismus und die Dogmen der Rabbiner. Im Widerspruch zum „offiziellen spätjüdischen Priestertum" ist der „Mythos" für den Neoromantiker Buber nicht der „Erbfeind" der „Religiosität", sondern, im Gegenteil, seine eigentlich „nährende Quelle" (S. 22). Wie für die gesetzesdeutenden Rabbiner kann Gott Jahwe nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sein Wesen bestünde aber gerade nicht in der dem Menschen entrückten göttlichen Unaussprechlichkeit und Andersartigkeit. Buber geht es um die Überbrückung der Kluft zwischen Gott und den Menschen; am Vorbild des Ostjudentums soll das Westjudentum auf das mystisch-sinnliche Erleben der einheitstiftenden Begegnung Gottes mit seinem selbst zurückorientiert werden. Das vermittelnde Priestertum wird ausgeschaltet, seit den erzählenden Büchern der Bibel sei die erstrebte „überzweckhafte Volksreligiosität" (S. 22) durch Gottes Äußerungen in Natur und Historie immer wieder direkt lebendig gewesen. Als weit fortgeschrittener Schüler Bubers erweist sich vor allem Hugo Bergmann, dessen „Die Heilung des Namens" (S. 32 — 43) selbst beträchtliche Wirkung hatte. Aus dem „Kiddusch haschem", „Geheiligt werde dein Name", des dritten Buch Moses (22. Kapitel, Vers 32) leitet der Kopf der Prager Geisteszionisten einen universell-ethischen Auftrag ab, den die Juden im Interesse der ganzen Menschheit zu erfüllen haben: Gott heiligt, indem die Gemeinde ihn heiligt; Haschem, der Name, ist zunächst nur Redeobjekt, er verwirklicht sich in der Heiligung, dem Kiddusch, als dem sittlichen Handeln des Menschen. An Pentateuch, Kabbalah, Sohar und Midrasch wird belegt, daß der Mensch das göttliche Schöpferwerk zu erneuern hat, bzw. durch Gott zum Welterhalter werden darf. Für das Selbstverständnis dieses Judentums bedeutungsvoll ist, daß das „Geschenk" des Auftrags von dem einzigen Gott kommt, der nicht nur

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der jüdische, sondern der aller monotheistischen Religionen ist. „Die Lehre Jesu von Nazareth" kann, „wenn sie nur wahrhaft im Wesen ergriffen", deshalb letztlich auch „jüdisch" sein (S. 39), das „Kiddusch Haschern" verwirklicht sich deshalb aber immer noch in einem der Menschheit dienenden, von Gott erwählten Judentum. Bergmann schließt mit dem Satz: „Der Zionismus ist unser Kiddusch haschem." Buber und Bergmann teilen das Ideal eines unbedingten und unvermittelten Verhältnisses des Menschen zu Gott. „Dasjenige Leben wird also Gott bewähren, das sich heraushebt aus der Verflechtung der Bedingtheiten, der Rücksichten und Kompromisse, das unbedingte Leben." (S. 42). Die von Moses Mendelssohn herkommende Linie eines kosmopolitisch geprägten ethischen Monotheismus will sich in einer gemeinschaftlichsozialen Ordnung verwirklichen und ist durchaus auch in Beziehung zur praktischen Ethik eines Moses Heß (1812—1875) zu sehen. In „Streitbares Leben" bezeichnet Max Brod gerade Bergmann als seinen „wichtigsten Lehrer", dem er „die Richtlinien" seines Lebens verdanke. 9 Die Grundlegung des sittlichen Zionismus, die der „Kiddusch haschem" — Aufsatz darstellt, brachte ihn zu einem genaueren Verständnis von Sinn und Aufgaben der Entscheidung für das Judentum und zu den Begriffen des „Nationalhumanismus" und der „Distanzliebe". „Der jüdische Dichter deutscher Zunge" — so heißt sein Beitrag in „Vom Judentum" (S. 261—266) — erklärte sich den Deutschen fortan nur noch kulturverwandt, in Differenz zu Kafka fühlte er sich allerdings noch in ihrer Sprache beheimatet. 10 Was für Hans Kohn die Juden zum Retter vor dem Abgrund der Welt macht, ist nicht ihre Auserwählung durch den monotheistischen Gott, sondern „daß Judäa nicht nur geographisch in der Mitte zwischen Europa und Asien liegt". Wenn die Juden den in ihnen fortwirkenden „Orient" und den „Gehalt Asiens"11 wiederbeleben, „kann das Heil (der Menschheit) noch einmal von ihnen ausgehen" (S. 10). Da sie am Bau des „unerträgMax Brod: Streitbares Leben. Autobiographie 1884 — 1968. Frankfurt am Main, 1979, S. 219. 10 Max Brod: Heidentum, Christentum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch. München, 1921, Bd. 1, S. 1 5 - 2 0 . - In einem Brief an Brod hat Kafka die deutsche Sprache im gleichen Jahr als „selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes" und jüdische Literatur in deutscher Sprache als „Zigeunerliteratur" bezeichnet. (Briefe 1 9 0 2 - 1 9 2 4 , S. 3 3 6 - 3 3 8 ) . " Dies steht in auffallendem Gegensatz zu den „Kulturbildern aus Klein-Asien" Karl Emil Franzos', die wenige Jahrzehnte zuvor noch in Mitteleuropa das Licht und im Osten das Dunkel sahen. 9

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lichen Gefängnisses", das die heutige Zivilisation sei, am Spannen des Netzes der Unfreiheit und Bedingtheit (S. 9) entscheidend beteiligt gewesen seien, wären sie dazu geradezu verpflichtet. Der mit „Der Geist des Orients" (S. 9 — 20) überschriebenen Betrachtung liegt eine Dichotomie von orientalisch-jüdischem und griechischeuropäischem Geist zugrunde, die Kohn bei Buber, aber auch bei Bergson und Landauer vorgeprägt fand. 12 Statt das Leben in Alltag und Rausch auszuleben, sei es den Juden bestimmt, es „zusammenzunehmen" und in eine Richtung zu bringen (S. 14). Der erst ζweiundzwanzigjährige Kohn, von dessen zahlreichen Büchern das 1930 veröffentlichte „Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit" erwähnt sei, steht in der Linie umfangreicher Explikationen „spezifisch jüdischen Denkens", die Margarete Susman und Kurt Singer an Spinoza und Bergson vornehmen 13 . Dem indogermanischen Geist einer dominierenden Prägung durch das „Ich" würde bei Spinoza der sinnlich erlebbare göttliche All-zusammenhang als eine durch Liebe vermittelte jüdische Bindung entgegengestellt: Im Judentum sei Selbstbewußtsein immer Gottesbewußtsein (S. 69). Ein Beitrag besonderer Autorität ist der Wiederabdruck eines Aufsatzes des heimlichen Begründers der mitteleuropäischen zionistischen Bewegung. Der mit neunundvierzig Jahren älteste Mitarbeiter, Nathan Birnbaum, gründete bereits 1883, als Herzl noch der deutsch-nationalen Studentenvereinigung „Albia" beitrat, den jüdisch-nationalen Studentenverein „Kadima" und polemisierte schon dreizehn Jahre vor dem „Judenstaat", 1882, gegen die „Assimilationssucht der sogenannten Deutschen mosaischer Konfession". Zeitlebens kritisierte der in Wien geborene Ostjude die westliche Moderne, durchlief ansonsten aber durchaus mehrere Entwicklungsphasen 14 . Schon Mitte der neunziger Jahre verschob sich der Schwerpunkt seines Wirkens von der „Judenfrage" zum geistig-kulturellen 12

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Buber konfrontierte griechischen Raumsinn (als Dominanz von Auge und Bild) mit orientalischem Zeitsinn (als Herrschaft des Ohres und der Musik). Seine vierte Rede „Der Geist des Orients" (In: Vom Geist des Judentums. Leipzig: Kurt Wolff, 1916) stellte dem „motorischen" Orient das „sensorische" Abendland gegenüber. Während der Grieche über den Eindruck zum Bilde und zum Erlebnis der Gestalt komme, ginge der Jude v o n der Seele zur Bewegung und zum Erlebnis der Tat. Margarete Susman: Spinoza und das jüdische Weltgefühl, S. 5 1 — 7 0 und Kurt Singer: Von der Sendung des Judentums, S. 71 — 102. Zu Birnbaum: Joachim Doron: Jüdischer Nationalismus bei Nathan Birnbaum (1883 — 1897). In: Grab, Walter (Hrsg.): Jüdische Integration und Identität in Deutschland und Österreich 1848—1918. Internationales Symposium April 1983. Tel Aviv, 1984, S. 1 9 9 - 2 3 0 .

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Judentum, für das die Ostjuden und ihre Volkssprache grundlegend wurden und das keinesfalls nur als Antwort auf den Antisemitismus verstanden werden sollte. Im Beisein Kafkas hatte er am 18. Januar 1912 auch einmal in Prag referiert. In „Das Erwachen der jüdischen Seele" (S. 239—249) polemisiert Birnbaum gegen den „mechanistischen Territoriums- und Staatsgedanken" dem er selbst angehangen habe (S. 241). Er mindere das Heiligkeitskapitel des Judentums und seine lebendige Volkstümlichkeit, ja er suche sogar das Hebräische zu verweltlichen. Dezidiert wendet sich Birnbaum gegen die neuen falschen Propheten, die er mit den Assimilanten gleichsetzt: „Das Judentum leidet an der Rebellion, die seine Flachköpfe angezettelt haben, um aus dem jüdischen Volke gerade die Heiligkeit, gerade die Gottesvolkschaft, gerade den allereigensten Genius zu bannen. Wenn diese Leute heute nicht mehr assimilatorische, sondern quasi nationale Kostüme tragen, so können sie mich damit über ihren wahren Charakter nicht täuschen [...]" (S. 244). In einer von den Bar Kochbanern nicht geteilten übergroßen Gewißheit jüdischer Renaissance15 gebraucht Birnbaum Formulierungen, die für den Band generell repräsentativ sind: „Dann werden wir nicht mehr sein die ewig stümpernden Projektemacher einerseits, und Spielbälle andererseits in den Händen entfremdeter, entjüdischter „Versorger"; nicht mehr sein die öden, selbstgefälligen Journalistennaturen, nicht mehr sein die naseweisen, beschränkten Ausschrotter von Broschüren- und Enzyklopädienweisheiten. Unsere Massen werden nicht mehr in Sackgassen ohne Horizonte verkümmern und nicht mehr dem Partei-Idiotismus auf der einen und dem niedrigsten Opportunismus auf der anderen Seite entgegengreifen." (S. 249) Wenn Hans Kohn im Geleitwort betont, das Buch entspringe „der Notwendigkeit der Aussprache einer Generation [Herv.-A. H.], die in dem Bewußtsein lebt, daß in ihrem Leben und durch ihr Leben das Schicksal des Judentums eine entscheidende Wendung erfahrt" (S. V), dann kündigt sich eine besondere Variante expressionistischer Aufbrüche und Erneuerungsstrebungen an. Auch bei den Zionisten heißen die Losungsworte „Sehnsucht", „Sammlung", „Gemeinschaft", „geistige Revolution", „Tat", „Verwirklichung", „Unbedingtheit", „Befreiung" und „Menschheit". Das Pen15

Leo Herrmann und Hans Kohn, die Birnbaums Arbeit wiederholt würdigten, stießen sich vor allem an seinem Optimismus. (Leo Herrmann: Nathan Birnbaum. Berlin, 1914; Hans Kohn: Im Dienste der Verheißung. In: Jüdische Rundschau, Nr. 91, 15. 11. 27, S. 646.

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dant liefern das Dilemma der Zeit kennzeichnende Begriffe wie „Selbstgenügsamkeit", „Zerstreuung", „Sinnlosigkeit", „Siechtum" und „Knechtschaft". Ein ethisch-aktivistischer Zug kennzeichnet die Arbeiten vor allem der jüngeren Mitarbeiter, unter den Pragern seien neben Bergmann, Kohn und Weltsch Wilhelm Stein, der gebürtige Prager Erich von Kahler (1885—1970)16 sowie vor allem auch Oskar Epstein (1888-1940) genannt, der in „Erhaltung oder Erneuerung?" (S. 173 — 178) die Wirkrichtung der neuen jüdischen Generation sehr deutlich ausweist: „Von der Heimlichkeit zur Offenheit, von der Charakterlosigkeit zur Mannhaftigkeit, von der Kleinmütigkeit zum Glauben, vom Kompromiß zur Konsequenz, vom sowohl — als auch zum entweder — oder, von der Frivolität zum Ernst, vom Mauscheltum zum Judentum" (S. 177). Neben den Pragern wären der Berliner Ludwig Strauß (1892 — 1953) mit „Die Revolutionierung der westjüdischen Intelligenz" (S. 179 — 185) und der Heidelberger Privatdozent Arthur Salz (1881-1963) mit „Versacrum" (S. 169-172) zu erwähnen. Die Beiträge der älteren, unter ihnen die des vierundvierzigjährigen Karl Wolfskehl (1869-1948) „Das jüdische Geheimnis" (S. 3 - 4 ) und Alfred Wolffs „Jüdische Romantik" (S. 122—134) sind dagegen mehr von der Neoromantik der Jahrhundertwende geprägt. Ein Beitrag Richard Beer-Hofmanns (1866—1945), um den Buber vergeblich ersucht hatte 17 , hätte durchaus hier hingehört. — Gemeinsamer Nenner beider Generationen ist der Wunsch, die Beschränktheit der gegenwärtigen mitteleuropäischen Wirklichkeit hinter sich zu lassen, in neue Seinstotalitäten und Gemeinschaften zu gelangen, um sich in ihnen schöpferisch zu verwirklichen.

III. Verallgemeinernd kann gesagt werden, daß sich „Vom Judentum" keinesfalls auf die Auseinandersetzung mit der Judenheitsproblematik beschränkt, sondern mit einer allgemeinen europäischen Zivilisations- und Kulturkrise befaßt ist. So wenden sich nahezu alle Beiträge gegen den von Faktizität, Empirie und Logizität dominierten Geist der Moderne, dem 16

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Wilhelm Stein: Unsere Geschichte (S. 1 3 5 - 1 3 8 ) ; Erich Kahler: Über Pathos (S. 1 1 7 - 1 2 1 ) . Buber (Anm. 4), Brief v. 3. 4. 13.

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aus sozialhistorischen Gründen besonders auch Juden zur Herrschaft verholfen hätten. Wenn Robert Weltsch den „Projektemachern", „Journalistennaturen" und „Enzyklopädisten" Birnbaums die „Schauspieler" und „Fälscher" beistellt, „Lüge" und „Kriecherei", „rationalistische(r) Überhebung und materialistische(r) Geschäftigkeit" kritisiert (S. 163), sollte das nicht als Symptom jüdischen Selbsthasses, sondern als das eigene Volk nicht schonende Kapitalismuskritik verstanden werden. Unter Rückbindung an die jüdische Tradition wird eine radikale Erneuerung der Gesellschaft angestrebt. Allein durch ihre Existenz widerlegt die kulturkritische Strömung wie nebenbei das Vorurteil vom „kapitalistisch-materialistischen Geist des Judentums". Ihr „Jerusalem" ist freilich so über-national, daß die Frage erscheint, inwiefern noch sinnvoll von Zionismus gesprochen werden kann. Palästina ist kein Ort kolonialer Inbesitznahme durch die Juden, sondern geistiger Boden der gesamten Menschheit: „Wir wollen Palästina nicht „für die Juden": wir wollen es für die Menschheit, denn wir wollen es für die Verwirklichung des Judentums", meint Buber 18 . Brod, der nicht zufallig gerade diesen Satz zitierte, bezeichnete „Judenstaat" als irreführenden Terminus 19 . Nicht nur Buber und Brod auch Kohn, Weltsch und Bergmann haben für einen Friedensbund mit den arabischen Palästinensern und ein binationales Israel plädiert. Die Mitglieder des „Berit Schalom" verwickelte das später in Auseinandersetzungen mit den radikalen politischen Zionisten. Der Sammelband „Vom Judentum" aber erregte den Widerspruch des IX. Zionistischen Kongresses, der einen Monat nach dessen Erscheinen, im September 1913, in Wien tagte. Die religiöse Fraktion kritisierte insbesondere den Beitrag des Mitglieds des Engeren Actions Comitées und Historikers der zionistischen Bewegung, Adolf Böhm (1873 — 1941), wegen seines „merkwürdigen Interesses für Jesus von Nazareth". In Parallele zur ethischen Bibelexegese Bergmanns hatte er in „Wandlungen im Zionismus" (S. 139—154) von dem „Fortschritt" gesprochen, „den es bedeutete, als das Christentum den Quell der religiösen Sittlichkeit ins Innere der Menschenbrust verlegte" (S. 152). 18

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Martin Buber: Zion, der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu Cohens „Antwort". In: Der Jude, H. 7 (Okt.) 1916. Das Zitat findet sich in Streitbares Leben. Autobiographie 1884—1968, Frankfurt am Main, 1979, S. 56. In „Die dritte Phase des Zionismus" betonte Brod: „Der Zionismus erstrebte nie mehr als eine zusammenhängende jüdische Siedlung im Rahmen des türkischen Staates [...]". In: Die Zukunft. Hg. v. M. Harden, 20. 1. 17, Nr. 16, Berlin, S. 79.

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Wenn der Vizepräsident des Kongresses das Buch als „symptomatisch für eine gewisse Geistesrichtung" bezeichnete20, dann hatte er wohl vor allem dessen Satz im Sinn „Innerhalb der zionistischen Bewegung (habe) bisher nur ein Denker, Achad Haam, konsequent und klar die Richtung gewiesen, in der die Renaissance des Judentums erstrebt werden solle" (S. 150). Obwohl Böhm für die Einheit der zionistischen Bewegung plädierte, sah er Achad Haam im schärfsten Gegensatz zur Herzischen Auffassung (S. 149 f.) und zum Zionistischen Kongreß, den dieser schon 1897 heftig kritisierte. Schon im Januar vor Erscheinen des Bandes aber hatte sich der Generalsekretär des jüdischen Weltkongresses, der praktische Zionist Kurt Blumenfeld, ausgesprochen abfällig über die „Buberklique" geäußert: „Der Prager Bar Kochba wird immer unbrauchbarer. Buber [...] ist ihr Rebbe und bringt die Leute aus der Partei und schließlich aus dem Zionismus heraus. [...] Natürlich haben die maßgebenden Bar Kochbaner auf den Nachwuchs keinen Einfluß und die fast durchweg höchst durchschnittlichen Jüngeren verbummeln zionistisch in einer durchaus begreiflichen Reaktion gegen die dekadente Hypergeistigkeit der Buberklique."21 Nicht zufällig fand der Kulturzionismus gerade bei den Prager Intellektuellen einen günstigen Boden. Die Frage, welcher Nation man sich angleichen sollte, war in der Dreivölkerstadt, zwischen Tschechen und Deutschen, für die Juden nicht einfach zu beantworten. Brod meinte, die „Fragwürdigkeit der Assimilation" drängte sich hier „leichter" auf „als in einem einsprachigen Milieu". 22 Die deutschsprechenden Juden bekannten sich zur Kultur- und Bildungstradition Deutschlands und Österreichs, wandten sich seit Beginn des Jahrhunderts emotional aber auch den Tschechen zu, suchten jedoch zunehmend nach den geistigen Wurzeln der eigenen, jüdischen Gemeinschaft. Das selbstbewußt gewordene Prager Kultur-Judentum wollte sich im friedlichen Miteinander mit anderen Nationalitäten verwirklichen. Die überdurchschnittlich starke, isolierte Fraktion jüdischer Intellektueller konnte dies in der Zusammenarbeit mit tschechischen Künstlern und 20

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Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des IX. Zionisten-Kongresses in Wien. Vom 2 . - 9 . 9. 1913. Hg. vom Zionistischen Aktionskomitee, Berlin/ Leipzig, 1914, S. 326 ff. Brief Kurt Blumenfelds an Martin Rosenblüth v. 16. 1. 1913 in: Miriam Sambursky und Jochanan Ginat (Hrsg.): Kurt Blumenfeld: Im Kampf um den Zionismus. Briefe aus fünf Jahrzehnten. Stuttgart, 1976, S. 43. Anm. 9, S. 50.

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Schriftsteller tun, als deren Partner, Vermittler und Förderer sie auftraten. 23 Der hohe Anteil sozial wohlsituierter, musisch gebildeter, liberaler Akademiker und ihr Einfluß in der Dreivölkerstadt bildete keinen besonders günstigen Boden für nationalistischen Partikularismus und radikal-politischen Kampf um die Lösung der Judenfrage. Die unter dem Einfluß „Bar Kochbas" und der „Selbstwehr" stehende neue Generation jüdischer Intellektueller und Künstler befand sich in einer Opposition zu ihren materialistisch-emanzipatorisch ausgerichteten Vätern und suchten nach der geistigen Identität ihres Volkes. Diese entdeckten sie nicht nur in ihren urgroßväterlichen Vorfahren, sondern fanden sie in den Spuren der großen Vergangenheit der Stadt. 24 Prag war das Zentrum einer künstlerischen und philosophischen, kosmopolitisch ausgerichteten zionistischen Bewegung, die ihre Leitfiguren außer in Buber vor allem in Achad Haam und Nathan Birnbaum fand 25 . Statt auf Kolonialisation Palästinas war sie auf soziale und kulturelle Volksarbeit in der Diaspora orientiert: „Wir wollen heraus aus dem Galuth, auch wenn wir räumlich in ihm bleiben müssen.", meinte Bergmann 26 . Dies führte zur Beschäftigung mit jiddischer und hebräischer Literatur und Sprache, für die sich besonders Nathan Birnbaum bzw. Hugo Bergmann einsetzten. Obwohl Kafka hier bewußt ausgespart bleiben sollte: Daß er sich wie kein anderer für das in Prag gastierende ostjüdische Theater interessierte und eine „Rede über jiddische Sprache" hielt, muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Zur Wiedergewinnung jüdischen Nationalbewußt23

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Hans Tramer, der in „Prague — City of Three Peoples" (In: Yearbook of Leo Baeck Institute, IX, 1964, S. 305—339) über das künstlerische und intellektuelle Prag zu Beginn des Jahrhunderts schrieb, meint: „The character of the town, its culturally isolated existence, the inevitable contact with an intellectual elite that was nationally alien and spoke a different language, have all left their ineradicable and visible traces on the poetic works of many authors of Prague" (S. 327). Tramer schrieb: „Prague was well suited to revive the romantic longing for an individual past, for a proud self-consciousness. In Prague, in the presence of the old places, or the royal castles without a king, one could learn to appreciate the yearning and the dream of a people for its mighty past and a new future." (Anm. 23, S. 315). Von der Beschäftigung mit beiden zeugen neben Leo Herrmanns und Kohns Birnbaum-Aufsätzen (Anm. 15) vor allem Hugo Bergmanns Rezension zu Achad Haam: A m Scheideweg (In: Bd. 1. Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 38 (1914). S. 554—556) und sein Aufsatz: Die nationale Bedeutung Achad Haams (In: Der Jude, 1 (1916/17), S. 3 5 8 - 3 6 1 ) . Jawne und Jerusalem. Gesammelte Aufsätze. Berlin, 1919, S. 15.

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seins verlangte er, daß „jeder immer bereit sein muß, den auf ihn entfallenden Teil der Literatur zu kennen, zu tragen, zu verfechten [.,.]" 2 7 . Für Julie Wohryzek borgte er sich einen Aufsatz 28 , der die Entwicklung des Zionismus von Herzl zur unter Achad Haams Einfluß stehenden Volksarbeit im Galuth darstellte. In „Die dritte Phase des Zionismus" hatte Max Brod geschrieben: „Nach Achad Haam kann Palästina nie eine „Heimstätte" für das ganze jüdische Volk werden, sondern nur eine „Heilstätte" für den jüdischen Geist [...]. „Die ideale Frage" ist für Achad Haam immer nur die „Neubelebung" der Herzen, „die Wiederaufrichtung einer eigenthümlichen jüdischen Geisteskultur, zum Heil des jüdischen Volkes und damit mittelbar der ganzen Menschheit." 29 Das säkularisierte neue Judentum, das sich an sinnlich Erlebbaren, an Märchen, Legenden, Mystik und Mythos vor allem auch den Ostjuden orientierte, wurde entscheidend aber nicht ausschließlich vom Prager „Bar Kochba" repräsentiert. Neben der österreichischen Fraktion um den gebürtigen Wiener Martin Buber und den Vorsitzenden der westösterreichischen Zionisten Adolf Böhm wären auch deutsche Kulturzionisten zu nennen. Ludwig Strauß wurde bereits erwähnt; Moses Calvary (1883 — 1942) steuerte dem Band der Prager einen Beitrag über „Das neue Judentum und die schöpferische Phantasie" bei (S. 103 — 116) und Moritz Goldstein (1880—1977), der im Jahr zuvor die berühmte „Kunstwart"-Debatte entfesselt hatte, schrieb „Wir und Europa" (S. 195—209). Für die Literaturwissenschaft interessant ist, daß sich der bei Kurt Wolff erschienene Sammelband vor allem auch auf Schriftsteller stützte: Neben Wolfskehl und Max Brod sind Jakob Wassermann und Arnold Zweig mit eigens für ihn geschriebenen Aufsätzen zu nennen. 30 Das bedeutsamste Dokument der dritten Phase des Zionismus aber war für Max Brod Bubers Zeitschrift „Der Jude" 31 . Sie ist aus der gemeinsamen Arbeit an „Vom Judentum" unmittelbar hervorgegangen 32 ; bei dessen 27

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Franz Kafka: Tagebücher 1 9 1 0 - 1 9 2 3 . Frankfurt am Main, 1983, (25. 12. 11) S. 152. Franz Kafka: Briefe 1 9 0 2 - 1 9 2 4 . Hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main, 1966 (6. 2. 19) S. 252. Brod (Anm. 19), S. 78 und 79. Jakob Wassermann: Der Jude als Orientale, S. 5 —8 und Arnold Zweig: Die Demokratie und die Seele des Juden, S. 210—238. Brod (Anm. 19), S. 82. Auf die Hintergründe, die Publikationsgeschichte des Sammelbandes und einige Folgeprojekte geht eine Fassung des vorliegenden Beitrags ein, die der Verf. auf einem von Klaus Schuhmann veranstalteten Kolloquium „Literaturgeschichte als Verlagsgeschichte — der Kurt Wolff Verlag in Leipzig" während der Buchmesse am 4. 6. 93 in Leipzig vorgetragen hat.

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Vorbereitung spielte vor allem der Bar Kochbaner Hugo Herrmann (1887—1940) 33 eine entscheidende Rolle. Im „Juden" publizierten weitere Prager Autoren, die im Kontext des Kulturzionismus zu sehen sind: Neben Felix Weltsch (1884-1964) und Siegmund Kaznelson (1891-1971) ist Oskar Baum (1883—1941) zu nennen. Franz Kafka aber veröffentlichte hier im Oktober und November 1917 seine Tiergeschichten „Schakale und Araber" und „Ein Bericht für eine Akademie", die als Satiren auf die westjüdische Assimilation betrachtet werden können. 34

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Erziehung im Judentum (S. 186—194). Vgl. Robertson (Anm. 2), S. 218 ff.

Josef Cermák Franz Kafkas Sorgen mit der tschechischen Sprache

Als der frischgebackene Jurist Franz Kafka im Jahre 1907 nach der obligatorischen einjährigen Gerichtspraxis bei der Prager Zweigstelle (Generalagentur) der Assicurazioni Generali seinen Dienst antrat, mußte er ein vorgedrucktes Anstellungsgesuch und einen detaillierten Fragebogen ausfüllen, der „alle seine Person und seine Befähigungen betreffenden erforderlichen Angaben" beinhaltete. Auf die Fragen in der Rubrik Nr. 12 „Kennen Sie außer Ihrer Muttersprache noch andere Sprachen? Welche? Wie weit reichen Ihre Kenntnisse darin? Können Sie diese Sprachen bloß verstehen oder auch sprechen, oder sich ihrer auch schriftlich bei Ubersetzungen und Aufsätzen bedienen?" antwortete Kafka handschriftlich selbst: „böhmisch, außerdem französisch und englisch, doch bin ich in den beiden letzten Sprachen außer Übung". Was das Tschechische betrifft, war das eine gewagte Äußerung und kein Wunder, daß sie nicht einmal nach Jahren dem Gedächtnis dieses rigoros wahrheitsliebenden Menschen entschwand und daß sie ihm sogar zu einem sein ganzes Leben lang anhaltenden Trauma wurde. Es existiert bis jetzt keine philologisch begründete Analyse von Kafkas Tschechisch. Seine Freunde und ihm nahestehende Menschen äußerten sich zu dieser Frage mit Vorsicht und ihre Meinungen gehen auseinander. Die Urteile tschechischer Kafka-Forscher, meistens recht summarisch, beruhen mehr oder weniger auf dem Eindruck, den Kafkas tschechisch geschriebene Texte auf einen gebürtigen Tschechen machen. Oft stützen sie sich auf mündliche Überlieferung, welche jedoch mit äußerster Vorsicht zu nehmen ist, da Kafkas Biographie seit den 30er Jahren mit Mythen und Legenden durchwirkt ist. So gibt es zum Beispiel die Meinung, daß Kafka ein bilinguischer, zweisprachiger 1 Mensch war. Diese tschechischen Vermutungen wurden begreiflicherweise von der ausländischen, hauptsächlich deutschen Kafka-Forschung übernommen. In Deutschland wurde

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Mit bilinguisch meine ich eine gleichwertige Kenntnis von zwei Sprachen, d. h. im gegebenen Falle des Deutschen und des Tschechischen.

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die These von der vollkommenen Tschechischkenntnis Kafkas für lange Zeit von Klaus Wagenbach mit autoritativer Gültigkeit formuliert. Erst in den letzten Jahren erheben sich vereinzelt skeptischere Stimmen. Bei der Beurteilung von Kafkas Tschechisch muß man seine passive Kenntnis von der aktiven und in beiden Bereichen dann die geschriebene Form von der gesprochenen unterscheiden, also das, was die bürokratische Wendung „in Wort und Schrift" bezeichnet. Es ist reichlich belegt, daß Kafka sein ganzes Leben lang tschechische Bücher, Zeitschriften und Zeitungen las und daß er das Gelesene gut verstand. Besonders wertvoll sind in dieser Hinsicht seine Korrespondenz und seine Tagebücher, in denen Tschechisch, sei es auch nur in kleinen Zitationen, Sätzen oder Satzsplittern, ziemlich oft erscheint, vor allem in den Briefen an Milena. Da wird die Sprache der Adressatin nicht nur immer wieder reflektiert, sie wird auch zu einem Band der Beziehungen zwischen Kafka und Milena. Ihre Korrespondenz ist in dieser Hinsicht durch zwei Merkmale gekennzeichnet, die Kafkas Verhältnis zum Tschechischen charakterisieren. In einem der ersten Briefe vom April 1920 liest man: „Gewiß verstehe ich tschechisch. Schon einigemale wollte ich Sie fragen, warum Sie nicht einmal tschechisch schreiben. Nicht etwa deshalb, weil Sie das Deutsche nicht beherrschten [...] Aber tschechisch wollte ich von Ihnen lesen, weil Sie ihm doch angehören, weil doch nur dort die ganze Milena ist [...] Also tschechisch, bitte." Und in einem Brief vom Juli desselben Jahres: „[...] bitte zwing mich nur nicht cechisch zu schreiben [...]" Die meisten tschechischen Splitter in den Briefen an Milena sind Zitationen aus deren Briefen. Die Art, wie Kafka sie kommentiert und wie sie in den Briefkontext passen, beweist Kafkas gute passive Kenntnis des Tschechischen. Stellenweise praktiziert er ein reizendes Makkaronisch: „[...] und natürlich bist du kein nemluvnë oder so ist es also samozrejmé." Man findet auch etliche Zitationen, in denen Kafka die tschechische Umgangs- oder sogar Slangsprache einwandfrei abhört und reproduziert: „Je, ona nevi, co je biják? Kindásek" oder wenn er das Wort Seelentränker, das Boot, in welchem er auf der Moldau ruderte, ins Tschechische als „mañas" übersetzt, oder dann, wenn er die Frage eines Schwimmeisters von der Prager Sophieninsel: „Chtël byste si zajezdit?" perfekt wiederholt. Die Erfahrung mit dem Tschechischen aus der Jugendzeit beweist der Name eines Kinderspiels "Skatule skatule hejbejte se" usw. Das beste Beweismaterial zur passiven Tschechischkenntnis Kafkas bieten jedoch seine Bemerkungen zu Milenas Übersetzungen seiner Prosastücke, des „Heizer" und etlicher Texte aus der Kurzprosasammlung „Die Betrachtung" (leider ist nur ein Bruchstück der Bemerkungen erhal-

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ten). Die zärtlich gefärbte Courtoisie seiner Randbemerkungen wird von einem kritischen Unterton durchdrungen. Gleich im ersten Absatz des „Heizer" ζ. B. macht Kafka auf eine mehr nuancierte Möglichkeit aufmerksam, wie die Wortverbindung arme Eltern besser zu übersetzen wäre (nicht „chudi", sondern vielmehr „ubozi rodice") oder auf einen reicheren Bedeutungszusammenhang der Verbindung freie Lüfte (hier hat er zweifellos nicht nur die Bedeutung frei strömend im Sinn, sondern gleichzeitig frei im Zusammenhang mit der Freiheitsstatue als Symbol der amerikanischen Freiheit im selben Satzgefüge). Es kann nicht der leiseste Zweifel bestehen, daß Kafka das Tschechische passiv so gut beherrschte, daß er sich in diese Sprache einfühlen konnte, so daß er es wagte, bis zu den versteckten Bedeutungsmöglichkeiten durchzudringen, daß er sich sogar zu etymologisieren und riskante sprachpsychologische Assoziationen zu bilden traute, die einem gebürtigen Tschechen gar nicht einfallen, und mit der tschechischen Sprache auf diese Weise zu experimentieren. Einige Beispiele aus den Briefen an Milena: „[...] ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das Tschechische ist mir viel herzlicher, deshalb zerreißt Ihr Brief manche Unsicherheiten, ich sehe Sie deutlicher, die Bewegungen des Körpers, der Hände, so schnell, so entschlossen, es ist fast eine Begegnung, allerdings wenn ich dann die Augen bis zu Ihrem Gesicht heben will, bricht dann im Verlauf des Briefes — was für eine Geschichte! — Feuer aus und ich sehe nichts als Feuer." Oder: „Heute etwas, was vielleicht manches erklärt Milena (was für ein reicher schwerer Name vor Fülle kaum zu heben und gefiel mir anfangs nicht sehr, schien mir ein Grieche oder Römer nach Böhmen verirrt, tschechisch vergewaltigt, in der Betonung betrogen und ist doch wunderbar in Farbe und Gestalt eine Frau, die man auf den Armen trägt aus der Welt, aus dem Feuer ich weiß nicht und sie drückt sich willig und vertrauend dir in die Arme, nur der starke Ton auf dem i ist arg, springt dir der Name nicht wieder fort? [...]" Und zum dritten Mal: "Dann das Judentum. Sie fragen mich ob ich Jude bin, vielleicht ist das nur Scherz, vielleicht fragen Sie nur, ob ich zu jenem ängstlichen Judentum gehöre [...] Und dann redet noch Milena von Ängstlichkeit, gibt mir einen Stoß vor die Brust oder fragt, was im Tschechischen an Bewegung und Klang ganz dasselbe ist: jste zid? Sehen Sie nicht, wie im „jste" die Faust zurückgezogen wird, um Muskelkraft anzusammeln? Und dann im „zid" den freudigen, unfehlbaren, vorwärts fliegenden Stoß? Solche Nebenwirkungen hat für das deutsche Ohr die tschechische Sprache öfters. Sie fragten z. B. einmal, wie es komme, daß ich meinen hiesigen Aufenthalt von einem Brief abhängig

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mache und antworteten gleich selbst: nechápu. Ein fremdartiges Wort im Tschechischen und gar in Ihrer Sprache, es ist so streng, teilnahmslos, kaltäugig, sparsam und vor allem nußknackerhaft, dreimal krachen im Wort die Kiefer aufeinander oder richtiger: die erste Silbe macht einen Versuch die Nuß zu fassen, es geht nicht, dann reißt die zweite Silbe den Mund ganz groß auf, nun paßt schon die Nuß hinein und die dritte Silbe endlich knackt, hören Sie die Zähne? Besonders dieses endgiltige Schließen der Lippen am Schluß verbietet dem andern jede andere weitere gegenteilige Erklärung [...]". Allerdings findet man in Kafkas tschechischen Texten und in den Bemerkungen zu Milenas Ubersetzungen auch Fälle, die die begrenzte Möglichkeit seiner Tschechisch-Kenntnisse nachweisen. Er hält sich z. B. über der exhortativen Partikel jen (nur) im Satz „Pronásledujte jen (toho ubohého clovëka) — Verfolgt nur (den armen Menschen)" auf. Die deutschen Kafka-Forscher machen in letzter Zeit öfters darauf aufmerksam, daß nicht einmal Deutsch für Kafka ein völlig sicheres, selbstverständliches Instrument war, mag es schon subjektiv oder durch die Abgeschlossenheit des Prager Deutsch gewesen sein. Eine ähnliche, nur noch viel größere Unsicherheit ist im Gebrauch der zweiten Landessprache zu spüren. Kaum wird man je erfahren, wie oder wie gut Kafka tschechisch sprach. Eine noch heute lebende tschechische Augenzeugin (eines der Kinder, die im Jahre 1922 in Plana an der Luschnitz vor seinen Fernstern Lärm machten) charakterisiert sein Tschechisch mit den Worten: „Er sprach recht fließend, aber es war zu hören, daß er kein Tscheche war." Dafür haben wir die Möglichkeit, obgleich das überlieferte Material ziemlich spärlich ist, die Qualität von Kafkas Tschechisch in seinen tschechisch geschriebenen Briefen zu beurteilen. Insgesamt sind uns 31 tschechische Briefe Kafkas aus den Jahren 1908 — 1924 überliefert worden. Fünfundzwanzig von ihnen sind an die Arbeiter-Versicherung-Anstalt, deren Direktion, Vorstand oder Verwaltungsausschuß und in den Nachkriegsjahren vornehmlich an den Direktor der Anstalt Dr. Bedrich Odstrcil, adressiert. Kafka hatte die ganze Zeit mit der Stilisierung der tschechischen Briefe große Schwierigkeiten. Ein Teil von ihnen wurde zweifellos nach den eingeführten Mustern und Schablonen stilisiert, insbesondere diejenigen, in denen er um Versetzung in eine höhere Gehaltsstufe oder um außerordentliche Urlaubsgenehmigung ersucht. In diesen schablonenhaften, mit bürokratischer Routine aufgeschriebenen Texten findet man auch keine besonderen Verstöße gegen das Standardtschechisch der Zeit. Nur ihre Sprache ändert sich im Verlauf der Zeit von der österreichisch-ungarischen patriarchalischen Förmlichkeit zu einer beweglicheren, aber in derselben

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Tradition verankerten bürokratischen Rechtschaffenheit der Tschechoslovakischen Republik. Interessanter von unserem Standpunkt aus sind die Briefe oder Gesuche, deren Inhalt und schriftliche Form mehr individualisiert sind, bei denen man aber zugleich sprachliche Hilfe entweder durch Kollegen in der Anstalt oder jemanden aus der Familie voraussetzen kann. In diesen Texten ist auch das Ringen mit dem Tschechisch deutlicher (z. B.: „hlavni zjevy nemoci mé trvají jesté dále", Brief aus Schelesen vom Februar 1919). Die echten Schwierigkeiten kamen erst nach dem Kriege (bis dahin amtierte man in der Versicherung „utraquistisch", in den beiden Landessprachen, obzwar diese Zweigleisigkeit nur förmlich war, weil nur deutsche Versionen der Akten erledigt wurden, die tschechische Fassung wurde immer ad acta weggelegt), als Kafka mit dem Direktor Dr. Odstrcil korrespondieren mußte, dessen vollkommenes Tschechisch er maßlos bewunderte. Am Anfang wendet er sich an seine jüngste Schwester, später an ihren Mann Dr. Josef David mit einer Bitte um Hilfe. Die Eheleute David werden dann zu Übersetzern und manchmal auch Redakteuren seiner deutschen Briefkonzepte. So entstand eine sehr komplizierte Art von Zusammenarbeit, besonders als Kafka längere Zeit außerhalb Prags in Meran, Matliary oder in Berlin weilte. Das deutsche Konzept wanderte immer nach Prag, wo das Übersetzerehepaar den Text in die tschechische Fassung übertrug, die dann dem Verfasser zurückgesandt wurde, der darin dann — wenn wir seiner Behauptung in einem Brief an Josef David vom Januar 1921 buchstäblich glauben sollen — noch ein paar kleine Fehler hineinsetzte, damit Herr Direktor Odstrcil glaube, daß wirklich Kafka selbst den Brief geschrieben hatte. So funktionierte einige Zeit lang ein kleines Familienübersetzungsbüro. An seinen Schwager, dessen Stellung in der Familie ein bißchen prekär war, wandte sich Kafka immer mit vielen Entschuldigungen und Rücksichten. Die ganze komplizierte Erledigung seiner tschechischen Korrespondenz kostete ihn viel Kraft und Sorgen. Am meisten ärgerte er sich jedoch über sich selbst: sein böses Gewissen quälte ihn, weil er schon so lange die Welt betrog. „Was soll ich aber armer Junge — das gilt sowohl mir als Pepa — jetzt tun, nach dem ich nun schon einmal die Lüge meines prachtvollen Tschechisch, eine Lüge, die wahrscheinlich niemand glaubt, in die Welt gesetzt habe," schreibt er an Ottla Anfang des Jahres 1924. Aber nicht einmal sachlich war die Zusammenarbeit mit den Familienübersetzern ohne Probleme. Als Josef David im Dezember 1923 einen besonders hohe Ansprüche stellenden Brief an den Anstaltsdirektor übersetzt hat und das Gesuch zu voller Zufriedenheit des Petenten erledigt worden ist, bittet Kafka noch um Übersetzung eines kleines Dankbriefes.

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Und gerade dabei ist ein fataler Fehler unterlaufen. Kafka bedankt sich darin beim Herrn Direktor für die so freundlich gefaßte Erledigung seines Ansuchens wie auch für die liebenswürdige Aufnahme seiner Schwester und für „die gütige Einsicht, mit der Sie die nach außen hin vielleicht etwas sonderbare, nach innen hin nur allzu wahre Geschichte meines letzten Jahres beurteilen." Mit dem Wort „Geschichte" meint Kafka die ganze Geschichte seines komplizierten Gesundheitszustands im Jahr zuvor. Josef David übersetzte jedoch den Satz in Unkenntnis des Kontextes folgendermaßen: „Jsem vdëcen Vám za Vas laskavy náhled, jímz povídku mého posledního roku, zevnë snad ponëkud podivnou, uvnitr vsak prílis pravdivou, posuzujete." Das Wort „Geschichte" wurde anstatt „Werdegang" oder „Historie" falsch als „Erzählung" übersetzt. Kafka hat diesen Fehler übersehen und den Brief weggeschickt. Damit wurde auch den Kafka-Forschern eine Falle gestellt (der tschechische Text des Briefes wurde im Jahre 1963, das deutsche Konzept erst im Jahre 1974 herausgegeben), daß Kafka, der seine Werke niemand außer seinen nächsten Freunden anvertraut hatte, auf einmal eine seiner Erzählungen dem Direktor der Versicherung zum Lesen und Beurteilen übergeben hatte und zwar in einer Zeit, als er dort nicht mehr angestellt war. Nichtsdestoweniger bemühten sich die Kafka-Forscher, die „Erzählung" zu identifizieren, einer als „Der Bau", ein anderer als „Ein Hungerkünstler". Am beweiskräftigsten für das Studium von Kafkas Tschechischkenntnissen sind die tschechisch geschriebenen Briefe, die er offensichtlich ohne fremde Hilfe verfaßte. Das gilt sicher für sechs Briefe, die er spontan seinem Ubersetzer Josef David schrieb. Dieser kannte doch sehr gut das Geheimnis seiner Tschechischkenntnisse, und Kafka konnte frei schreiben, ohne Befürchtung, sich bloßzustellen. In diesen Briefen, die weder sehr zahlreich noch sehr umfangreich sind, erscheint sein schriftliches Tschechisch so, wie es wirklich war. Die Qualität seiner Tschechischkenntnisse anhand dieser Briefe zu charakterisieren ist jedoch ziemlich schwierig, da sich in der Struktur seiner tschechischen sprachlichen Äußerungen heterogene Elemente vermischen. Es kommt da auch zu einer Kreuzung und Mischung verschiedener Sprachebenen. Kafkas Tschechisch beruht vor allem auf dem Sprachmuster des Deutschen. Besonders deutlich sieht man es in der Wortfolge, im Satzbau und in Präpositionsverbindungen. „Zde namáhám se ziti klidnë; sotva ze nëkdy noviny dostanu do ruky, ani Tribunu nectu, nevim ani co dëlaji komunisté ani co ríkají Nëmci, jen co Madari ríkají slysím ale nerozumím [...] Je tu na blízku maly lécebny oddíl a vecer to táhne píes silnici a nie jiného nez

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ty pardálové se porád tocejí" (es handelt sich um einen bekannten Schlager der Zeit Tóete se pardálové, tocte se péknë dokola, Dreht euch, ihr Panther im Kreis) oder „[...] jeden ζ nich se naucil pët slov o tëch pardalech a patrnë ztratil tím rozum, kdykoliv se objeví, to rve." Das Satzgebilde wird nach dem Muster der deutschen Syntax gebaut, die Tendenz, das Zeitwort auf das Satzende zu setzen, fällt auf. Auch die aktuelle Satzgliederung und dadurch die Wortfolge sind deutsch bestimmt ... „Kràsnë, kràsnë jsi to udëlal, ted já tam jen jestë udëlàm nëkolik malych chyb, ne aby tam byly chyby vubec ... aie aby tam byl primëreny pocet jich." Ein anderes Charakteristikum von Kafkas Tschechisch ist eine semantisch-lexikale Unsicherheit im Gebrauch bestimmter Worte oder Wortverbindungen, oft wieder unter dem Einfluß des Deutschen. „A ty krásné hory a lesy ν okruhu dívají se na to tak vàznë; trvá to jen chvilku dennë; ted ty skoro jiz podzimnë chladnë-teplé dny; A co délás ty, kdyz nemás nikoho, komu muzes dëlat strach pred Berlinern. Pepo, më dëlat strach!" Diese semantisch-lexikale Unsicherheit und begrenzte Kenntnis der tschechischen Phraseologie äußert sich dann in der Notwendigkeit, deutsche Wendungen im tschechischen Text zu benutzen, z. B. „To je jako-Eulen nach Athen tragen"; „Tëch 20 Κ predai jsem jednomu Kinderhortu." Eine weitere Gruppe von Kafkas „Unzulänglichkeiten" im tschechischen Sprachgebrauch bilden Verstöße gegen die Rektion und überhaupt die Morphologie. Ζ. B.: „je tu Tatra; nehet pravého malícka; celé noce kasel; a kdyz jsem se do toho psaní na reditele pustil; pak by ta malá dovolená niceho nepomohla". Das Streben danach, sich im Tschechischen schriftsprachlich auszudrücken, kontrastiert bei Kafka mit Elementen der tschechischen Umgangssprache. Er zog keine scharfe Grenze zwischen der tschechischen Schrift- und Umgangssprache. Beispiele: „NejdHv to s tèma kalhotama a ted zas to; a zatrh jsem si pri torn nehet; Cesti vojáci nejsou ostatnë ty nejhorsi, ty sañkují a smëji se a kriceji jako dëti." Was den Verbaspekt, das Schwierigste, was es im tschechischen Sprachgebrauch gibt, betrifft, meint Antonin MëSïan (im Aufsatz „Slavisches bei Franz Kafka"), er sei bei Kafka einwandfrei gewesen. In Wirklichkeit ist es so, daß Kafkas tschechische Texte kein Dokumentierungsmaterial zu dieser Frage bieten. Aber in einem Falle besteht doch aller Grund zu skeptischerer Beurteilung, wenn Kafka im Januar 1924 in einer kurzen Mitteilung an die Direktion der Versicherung schreibt: „Potvrzeni o ziti, úradem ovërené, pravidelnë zaslu." Die authentisch tschechischen Briefe Kafkas bezeugen den hybriden Charakter seiner Tschechischkenntnisse. Die Interferenz seiner Mutter-

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spräche äußert sich sowohl auf der lexikal-semantischen als auch auf der grammatischen Ebene. Sein Tschechisch ist durch ein unzulänglich entwickeltes Gefühl für die Unterscheidung der stilistischen Schichtung der Sprache gekennzeichnet, das Streben nach einer Sprachkorrektheit kontrastiert oft mit dem Gebrauch von umgangssprachlichen, deutlich unschriftsprachlichen Elementen, die für die gesprochene Sprache kennzeichnend sind. Tschechisch war für Kafka eine angeeignete Sprache, es war, wie die Engländer sagen, seine second language, überdies dadurch privilegiert, daß er mit ihr durch mehrfache sehr intime Bände verbunden war und daß er sie nur wenig als Fremdsprache empfand. Indem er tschechisch schrieb, durchlebte er die auch uns bekannte Unsicherheit, die sich einstellt, wenn wir uns in einer Sprache ausdrücken müssen, welche uns gefühlsmäßig nahesteht und die wir potentiell gut beherrschen, deren Geheimnisse, Feinheiten und Nuancen uns jedoch entgehen. Wir verstoßen dann gegen ihre Natur und ziehen unsere Muttersprache zu Hilfe. In unseren „Fehlern", Unsicherheiten und Unrichtigkeiten spiegelt sich dann getreu der Abgrund, der die passive von der aktiven Kenntnis einer Sprache trennt, in die uns einzufühlen und hineinzudenken wir bemüht sind.

J i f í Kotalík

Franz Kafka und die bildende Kunst

Im Verhältnis zur Persönlichkeit und dem Werk Franz Kafkas wird das Gebiet der bildenden Kunst eher gelegentlich und marginal in der Beziehung zu den Hauptanliegen seines Lebens und Schaffens erwähnt. Auch die direkten Zeugnisse von des Schriftstellers Interesse für die Malerei und Bildhauerei der Gegenwart und Vergangenheit sind stets kurz bemessen und bruchstückartig, eigentlich zufallig, — und das sowohl in seinen Tagebüchern und Briefen als auch in der Fachliteratur, wo dieses Thema bisher weder in Gänze noch eingehend beleuchtet worden ist. Die Absicht bei meinen heutigen Bemerkungen ist es, wenigstens daran zu erinnern, daß Kafka seit seiner Jugend ein ständiges Verhältnis zur bildenden Kunst hatte, wie mehrere Umstände beredt zeigen. Vor allem wird dies durch seine eigenen Zeichnungen bezeugt, die im allgemeinen den Charakter kleiner graphischer Marginalien am Rande von Tagebucheintragungen, Briefen an Freunde, Exzerpten und Notizen tragen. Zum ersten Mal wurden sie gelegentlich von Max Brod veröffentlicht, der dann auch in späteren Texten — namentlich in dem Buch über Glauben und Kunst Franz Kafkas — von der Bedeutung des großen zeichnerischen Könnens spricht, das nicht bloß eine Kuriosität oder unverbindliche Erholung ist; er hatte deshalb auch im Sinne, sich diesen Zeichnungen systematischer in einer vollständigeren Ausgabe zu widmen. Auf den ersten Blick handelt es sich hier ohne Zweifel um Werke von gelegentlichem Charakter; sie sind jedoch im Ausdruck sicher und ausgereift, darüber hinaus stehen sie in offenbarer Beziehung zu den künstlerischen Tendenzen jener Zeit, namentlich dem Expressionismus, teilweise auch dem Futurismus. Als Motiv dient in der Regel das Individuum, in der Welt verkeilt — der einsame und geheimnisvolle Passant, eine von einem Geländer oder Vorschlag umzingelte Gestalt (als ob in Andeutung eines Käfigs), auch der Mann beim Tisch zusammengefaltet oder sitzend auf den Boden gestützt; manchmal haben wir wie ein ausgeprägtes Stenogramm einer schnellen und jähen Handlung — ein Jockey in voller Fahrt, eine Figur in rascher Bewegung (bald in energischen Linien, bald

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in dynamisch angelegten Kurven). Manchmal sind die Zeichnungen unmittelbar mit der Schrift verbunden, nur selten spiegeln sie eine konkrete Szenerie aus der Realität wieder (z. B. Goethes Haus in Weimar). Es ist bezeichnend, daß Franz Kafkas Interesse für die bildende Kunst seit seiner Jugend von seinem Mitschüler vom Altstädtischen Deutschen Staatsgymnasium und vertrauten Freund Oskar Pollak beeinflußt und bekräftigt wurde; zu ihrem gemeinsamen Wegweiser in der Welt der Kultur wurde, wenn auch nur für kurze Zeit, die Zeitschrift „Kunstwart", herausgegeben von Ferdinand Avenarius (mit dem Untertitel „Rundschau über Dichtung, Theater, Musik und bildende Künste"); hier sind wohl die Wurzeln des zukünftigen Interesses Franz Kafkas für die einzelnen schöpferischen Gebiete. Oskar Pollak selber, nach einem kurzen Versuch eines Chemie-Studiums (auch hier folgte ihm Franz Kafka) widmete sich dem Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien, war eine Zeitlang Stipendiat des Österreichischen Instituts in Rom, drei Jahre wirkte er als Assistent von Prof. Max Dvorák in Wien, zwei Jahre dann in Rom als Assistent des Osterreichischen Instituts und habilitierte sich als Dozent; am 11. Juni 1915 fiel er an der italienischen Front. Neben später herausgegebenen Schriften über die Geschichte der Barockliteratur in Rom war er Autor einer Schrift über die Bildhauer Johann und Ferdinand Brokoff, 1910 veröffentlichte er seine Studien zur Geschichte der Architektur Prags 1520 bis 1600, darüber hinaus schrieb er Artikel über moderne Kunst (Adolf Loos, Oskar Kokoschka u. a.). Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß eben Oskar Pollak Franz Kafka gründlich in die Geschichte der bildenden Kunst einführte und ihm verhalf, in die Geschichte des Prager Organismus, die Architektur und Skulptur des .alten Prag einzudringen; hat doch der zukünftige Schriftsteller eben an ihn am 20. 12. 1902 das später so oft zitierte, glühende Bekenntnis zur gemeinsamen Stadt gerichtet: „Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen [...]". Es ist nicht ohne Bedeutung, daß Franz Kafka 1901 an der Prager Universität Vorlesungen über die holländische Malerei und über die christliche Skulptur zu besuchen begann; von seinem unermüdlichen Interesse zeugt die Notiz von seiner Reise nach Paris vom 8. September 1911 über Gemälde der florentinischen, römischen und venezianischen Schule (Simone Martini, Raffael, Tizian, Tintoretto), über die spanische und die flämische Malerei (Velasquez, Rubens). Und es ist wohl anzunehmen, daß Franz Kafka, sowohl bei seinen Auslandsreisen als auch zu Hause, die Sammlungen von Museen und Galerien gelegentlich besuchte, sobald sich ihm die Gelegenheit bot.

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Entscheidende Impulse jedoch zur Vertiefung der Kenntnis und des Interesses, namentlich in der Richtung der aktuellen Erscheinungen der zeitgenössischen Kunst, brachten die Jahre der Freundschaft mit Max Brod. War es doch eben er, der Franz Kafka, dem übrigens gut vorbereiteten und zur Aufnahme der böhmischen Kunst der Vergangenheit und Gegenwart ungewöhnlich empfanglichen, die Erkenntnis neuer schöpferischer Initiativen vermittelte, nicht selten auch ein persönliches Treffen mit ihren Protagonisten. Es ist einer der unvergänglichen Verdienste Max Brods um unsere moderne Kunst, daß er bereits beim ersten Zusammentreffen den einsetzenden Antritt der jungen Generation begriff und würdigte, dessen erster Vorbote die Ausstellung der Gruppe Osma (die Acht) im Frühling 1907, in den provisorischen Räumen eines gemieteten Ladens in der Königshof-Gasse war. Er war der einzige unter den Prager Kritikern, der über die Ausstellung ausführlich und anerkennend berichtete, und zwar in der Berliner Zeitschrift „Gegenwart" am 18. 5. 1907 unter der Aufschrift „Frühling in Prag". Der umfangreiche Aufsatz, bereits von vorausgehender Kenntnis einiger Teilnehmer der Ausstellung ausgehend, charakterisiert die Einzelnen sehr treffend. Von den acht Teilnehmern waren drei Prager Deutsche — kein Wunder, daß Max Brod mit Freude feststellt: „Und mächtiger als alles bewährt sich das Milieu der alten schönen Stadt, das Generationen lange Beisammenleben [...] wir haben die Melodien von Suk und Smetana miteinander, miteinander das Belvedereplateau, seltsame Spaziergänge, Regen und Wind, die Wellen der Moldau, die Sagen und die denkwürdigen Stellen [...]". (Der Text des Referats wurde von Max Brod in das Buch „Der Prager Kreis" übernommen.) Zu der allmählichen Ausprägung und gedanklichen Orientierung des sich konzentrierenden Interesses Franz Kafkas für die bildende Kunst, zu der Fähigkeit, die grundlegenden Werte zu erkennen und konkrete Impulse auf diesem Gebiet aufzunehmen, hat ohne Zweifel die Prager Kultur der bildenden Kunst in der Zeit des Lebens des Schriftstellers beigetragen. Und das insbesondere während der Zeitspanne, als sich die spezifischen Züge seines kreativen Ausblicks und Ausdrucks herausbildeten: ungefähr vom Jahre 1898, als nach der Aktivierung des Vereins der bildenden Künstler Mânes, der Gründung der „Revue Volné smëry" und mit den ersten Ausstellungen ihrer Mitglieder sich ein neues Kapitel des Wirkens eröffnet, bis zum Jahr 1914, als der Aufschwung der kulturellen Bemühungen jäh und abrupt vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterbrochen wird. In dieser Zeitspanne von nicht ganzen zwanzig Jahren beginnt Prag früh und unerwartet (obwohl mit Hinblick auf seine Traditionen

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weder unberechtigt noch unbegründet) voll mit den aktuellen Problemen der zeitgenössischen Kunst zu leben, und das in überraschender Breite und Vielfalt der Bestreben und Ansinnen. Franz Kafka erkannte und erlebte — analog wie damals auch in der Literatur — wie sich in der bildenden Kunst im Parallelismus der Entwicklung und in der gegenseitigen Beeinflussung die schöpferischen Programme zweier Generationen trafen. Einerseits die Generation des Impressionismus, des Symbolismus, des Jugendstils, die in der tschechischen Kultur üblicherweise als die Generation der 90er Jahre bezeichnet wird. Und andererseits die unmittelbar nachfolgende Generation, die als die des Expressionismus und des Kubismus bezeichnet werden kann, zu der übrigens auch Franz Kafka mit seinem Geburtsdatum gehörte (ebenso wie alle anderen aus dem Umkreis des Prager Kreises). Diese zwei von den Generationen her verschiedenen, dabei jedoch aneinander in vieler Hinsicht organisch anknüpfenden Programme sind dann im konkreten künstlerischen Schaffen nicht nur in ihrer zeitlichen und mechanischen Folge zu verfolgen, sondern auch in ihrer gedanklichen Polarisierung, ihrer gegenseitigen Durchdringung und manchmal auch direkt in Symbiose. In dieser Hinsicht — und das ist ein zweiter wesentlicher Unterschied — weist das Leben der bildenden Kunst in Prag jener Zeit eine ungewöhnliche Spanne der internationalen Zusammenarbeit auf; dies spiegelt sich ganz besonders beweiskräftig in der Folge der Ausstellungen wider, die in dem anmutigen Holzpavillon veranstaltet wurden, der am Fuße des Kinsky-Gartens im Jahre 1902 anläßlich der großartigen Auguste-RodinAusstellung von Jan Kotéra gebaut wurde (in der Sachlichkeit der Auffassung und dem zarten Dekor ein wenig nach dem Vorbild von Olbrichs Secession in Wien). Hier wurde dank dem Verband der bildenden Künstler Mânes im Laufe der Jahre mit programmatischer Systemgerechtigkeit nicht nur die Erkenntnis der grundlegenden Werte des In- und Auslands, sondern auch die der offenen Probleme und Kämpfe um das Bild und den Ausdruck der Zeit vermittelt. An diesem imponierenden dynamischen Geschehen, das damals das Leben der bildenden Kunst in Prag charakterisierte, hatten Künstler dreier Umkreise teil.

I. Selbstverständlich reiht sich hier Franz Kafka logischerweise in die Zusammenhänge der deutschen Kultur ein, an derer Aktivität er selbst seit seiner Jugend — wenn auch nicht sehr konsequent — teilnahm (in Stu-

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dentenvereinen und kulturellen Vereinigungen). Der Begriff der deutschen Kultur umfaßte dabei jedoch damals oft heterogene Erscheinungen: zum einen Bilder und Skulpturen von Künstlern, die durch Geburt und Schaffen ununterbrochen mit Prag (oder gegebenenfalls mit anderen Bereichen Böhmens und Mährens verknüpft waren, zum anderen aber auch (gemäß dem im allgemeinen mechanischen Kriterium der Sprache) Werke von durch Abstammung und Tätigkeit nach Österreich oder Deutschland gehörenden Künstlern, die über eine längere oder kürzere Zeitspanne in Prag lebten, oder sich hier doch wenigstens gelegentich an Ausstellungen beteiligten. Hier dann war in der Generation der 90er Jahre sicherlich Emil Orlik die Hauptpersönlichkeit, der bislang nicht voll gewürdigte Maler und Graphiker, darüber hinaus einer der wenigen europäischen Künstler, die ein unmittelbares Verhältnis mit der bildnerischen Kultur vermittelten; sein vielseitiges und umfangreiches Werk wird bestimmt durch die Spanne zwischen der strukturellen Gesetzmäßigkeit des Jugendstils und den freieren Skizzen der expressionistischen Observanz. Es ist angemessen, gleichfalls Richard Teschner zu erwähnen, den Maler des sachlichen Blicks und kultivierten Ausdrucks, stets allerdings in den Grenzen des Brauchs der Zeit. Von den Professoren der Akademie der bildenden Künste — neben dem liberalen Franz Thiele, dessen Name in den Biographien einer Reihe von Tschechen und Deutschen der expressionistischkubistischen Generation auftritt, und neben Karl Krattner, dem in die Rezepte der alten Meister verschauten — sollte vor allem das Werk des Malers oder wohl eher Graphikers August Brömse zusammenfassend vorgestellt werden, des Lehrers nicht nur bedeutender tschechischer, sondern damals auch jugoslawischer Künstler, vor allem jedoch eines Künstlers geistiger Veranlagung und nicht selten tragischer Visionen (sehr geschätzt wurde er von Max Brod, er könnte auch Franz Kafka nahegestanden haben). Und naturgemäß gehört ein gewichtiger Platz der Persönlichkeit und dem Werk Alfred Kubins, gebürtig aus Leitmeritz, dem Graphiker und Illustrator, dessen Werk — in der Spanne vom lyrischen Symbolismus zu den quälenden Empfindungen der menschlichen Existenz — Franz Kafka gut kannte, oft in einer überraschenden Resonanz mit seinen eigenen Vorstellungen. Unter den Künstlern, die eine Zeit lang an dem Leben der Prager bildenden Kunst beteiligt waren, ist auch an Max Oppenheimer zu erinnern, der — ähnlich wie seine Generationsgenossen aus Böhmen — eine Synthese von expressionistischen und kubistischen Prinzipien anstrebte. Die deutschen Bildhauer in Prag blieben im allgemeinen in den zeitgemäßen, wenn auch bereitfertig bis virtuos bewältigten zeitlichen

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Tendenzen befangen (Franz Metzner, Hugo Lederer, Franz Barwig); deshalb fand auch Franz Kafka keinen Weg zu ihnen. Dafür waren ihm jedoch einige deutsche Maler nahe — Prager, die unbefangen und freundlich, in selbstverständlicher Solidarität, gemeinsam mit ihren tschechischen Generationsgenossen künstlerische Eroberungen anstrebten. Drei von ihnen, wie schon gesagt, nahmen in den Jahren 1907/8 direkt Anteil an den Ansätzen der jungen Generation in den ersten Ausstellungen der Gruppe Osma, die den Weg freigaben zu neuen Bemühungen und Zielen unserer modernen Kunst. Vor allem Willi Nowak, der Max Brod besonders nahestand (und ihn auch porträtierte), der kultivierte Maler der lyrischen Sicht, mit ausgeprägtem Sinn für die Gesetzmäßigkeiten des Förmlichen und Räumlichen, für den Entwurf des Gemäldes in Hinsicht auf Farbe und Licht; Franz Kafka besuchte ihn damals im Atelier. Früh anerkannt zu Hause (über seine erste Ausstellung schrieb F. X. Saida) sowie im Ausland (namentlich dank Julius Meier-Graefe), verlebte er mehrere Jahre in Deutschland; nach seiner Rückkehr nach Prag wurde er zum Professor an der Akademie der bildenden Künste ernannt, wo er eine ganze Generation bedeutender tschechischer und slowakischer, aber auch europäischer Künstler erzog (darunter in Schweden Endre Nemes, in Großbritannien Jakob Bornfriend, der schwedische Theatermann Peter Weiss). Seinen Schülern imponierte er daneben als edler Mensch, der während der tragischen Zeiten des Zweiten Weltkriegs die Kontinuität der Werte aufrechterhielt. Dann Friedrich Feigl, zuerst der Maler von expressionistisch begründeten Visionen der Stadt — auch in übertragenen Szenerien erkennt man unbeirrbar Prag, stets quasi in das Zwielicht der Melancholie der Gefühle und Farben gehüllt. In elastischen Tuschzeichnungen porträtierte er Franz Kafka und einige andere des Prager Kreises. Jahrelang lebte er in London, wo er auch starb, jedoch bereits ohne sich in internationalen Zusammenhängen geltend machen zu können. Zuletzt Max Horb, ein ungewöhnlich begabter Maler der expressionistischen Orientierung, der durchdringenden Sicht und der nachdrücklichen Gebärde in kompakten Flächen und Linien, leider jung gestorben: bezeichnenderweise wurde sein Grabstein von dem früheren tschechischen Bildhauer jener Zeit Jan Stursa gestaltet. In diesen Umkreis — und deshalb auch unter die Freunde Franz Kafkas, wie er sie etwa im Kaffeehaus Arco traf — gehört jedoch auch Georg Kars. Nur ein Zufall verhinderte, daß er an der ersten Ausstellung der Osma teilnahm (wie darüber Max Brod schreibt): ein Maler einer sachlich begründeten und ungemein robusten Sicht, der auf seine Art die zeitbe-

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dingten Impulse des Expressionismus und des Kubismus aufnahm und dann lange mit der Umwelt der „L'École de Paris" verknüpft war. Und dann Alfred Justitz, etwas jünger und deshalb sich verspätet in die Phalanx der Prager Kubisten anreihend; dabei reifte er früh in der Linie ihrer Impulse zu einem Maler sicherer struktureller Fähigkeiten heran, zum Ausdruck sowohl in der Tektonik als auch in der Oberfläche des Gemäldes. — Viele der angeführten Künstler haben unzweifelhafte Zusammenhänge — ob offenbar oder verdeckt, bewußt oder unbewußt — mit einigen Pointen, in Bedeutung oder Form, des literarischen Werkes Franz Kafkas. Einige von ihnen haben zu Recht einen bleibenden Platz in der Geschichte der tschechischen Malerei; im großen und ganzen jedoch, in der anzustrebenden Zusammenfassung aller Persönlichkeiten zweier Generationen deutscher Künstler, die um die Jahrhundertwende in Prag tätig waren (von denen wenigstens an einige in der Tätigkeit der Galerie der bildenden Kunst in Regensburg erinnert wird), handelt es sich hier für uns noch immer um ein offenes Kapitel, das nach eingehender Bearbeitung ruft — eine der bedrückenden Schulden der tschechischen Kunstgeschichte.

II. Den zweiten und besonders wesentlichen Umkreis der bildenden Kunst in Prag, vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs, bildet eine große Reihe tschechischer Künstler, die sich zur einheimischen Tradition meldeten (allerdings in nachdrücklicher qualitativer Abgrenzung, die durch die Namen Josef Navrátil, Josef Mânes, Karel Purkyné, Mikolás Ales bestimmt wird), dabei ohne jede zugespitzt nationalistische Einfarbung. Dies wird überzeugend bestätigt von der durch den Verein der bildenden Künstler Mânes entfalteten Aktivität, der bald zum Brennpunkt der schöpferischen Bestreben der ganzen Generation der 90er Jahre wurde. Zu ihren mächtigen Erscheinungen gehörte Antonin Slavicek, der vom Ausgangspunkt eines lyrisch eingefärbten Plenärismus früh zu einer energisch impressionistischen Sicht gelangte, von expressionistischem Nachdruck modifiziert. Namentlich in pathetisch gemalten Szenerien der Stadt Prag der Jahre 1902 — 08 (etwa „Die Elisabethbrücke", „Regnerischer Abend" und „Der Marienplatz", bis „Prag von Letná aus"). Ihre Atmosphäre ersteht unwillkürlich von den jugendlichen Versen Franz Kafkas in seinem Brief an Oskar Pollak:

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Jiïi Kotalík Menschen, die über dunkle Brücken gehn vorüber an Heiligen mit matten Lichtlein. Wolken, die über grauen Himmel ziehn vorüber an Kirchen mit verdämmernden Türmen. Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt und in das Abendwasser schaut, die Hände auf alten Steinen.

Auch die Bilder Jan Preislers, zu Anfang am entgegengesetzten Pol der symbolistischen Richtung und schließlich von tektonisch konzipierter Absicht, klingen stellenweise mit des Schriftstellers Vorstellungen gleich. Ganz besonders aber war Franz Kafka von der führenden Persönlichkeit des tschechischen Symbolismus in der Bildhauerei Frantisek Bileks gefesselt. Sein Schaffen bricht in klassischen Prinzipien der Statuität auf und arbeitet, mit dem Nachdruck auf innerem Geschehen und geistiger Vorstellung, auf das Gefühlserlebnis und die symbolische Mitteilung hin, in plastisch expressiven Gesten und entfalteten Geschichten, mit einem Sinn für fließende Silhouetten und ihre Gradation. In enigmatischer Schichtung von Reliefflächen und erregten Räumen durchdringen sich spirituelle Vorstellungen mit einem Rhythmus der Formsymbole und Zeichen, unter denen auch die Schrift nicht fehlt, eine häufiger auftretende Komponente seiner Plastiken und Graphiken. Des Bildhauers Vorstellung wird auch in Aufgaben monumentaler Art offenbar: im Jahre 1905 in der ungewöhnlich barocken Figur des Moses, oder dem robusten Gebet über den Gräbern, dessen pathetische Geste die Stille des Friedhofs in Chynov überwacht, oder dann in der inneren sowohl wie auch äußeren Bewegung der aus Holz geschnittenen Figur Erstaunen (1907). Einige wenige Denkmäler verwirklichen dann kühn und kompromißlos die Visionen des Künstlers: Die rudimentäre Masse und drastische Expression der Trauer am Grabe des Schriftstellers Václav Benes Trebizsky am Wyschehrad 1908 erweckte einen Sturm der Mißbilligung. Den traditionellen Vorstellungen der Solemnität entsprach auch das Jan-Hus-Denkmal für Kolin nicht, an dem der Bildhauer in den Jahren 1902 — 12 in einer Reihe vorbereitender Skizzen arbeitete. Als Resultat entstand eine ungewöhnliche architektonisch-plastische Auffassung; die Statue ohne Sockel ragt wie direkt aus dem Boden hervor, des Predigers Erscheinung wächst aus Flammen, die die verzehrende Glut des Gedankens und das Schicksal des Märtyrertods ausdrücken. Max Brods Zeugnis belegt, wie Franz Kafka eben durch dieses Werk hingerissen war, er bewunderte es auf der Stelle; später verlangte er von

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seinem Freunde energisch, er solle über Frantisele Bílek eine Monographie schreiben und ihn so der Welt entdecken. Dabei war sich Max Brod wohl bewußt, daß sich zwischen den visionären Erscheinungen Frantisele Bíleks, der gotisch ernsten und tiefen Musik Ladislav Vycpáleks, mit der er sich damals befaßte, und der Sicht und den Vorstellungen Franz Kafkas interessante Parallelen finden ließen unter dem gemeinsamen Nenner Prag. Ganz besonders nahe stand jedoch Franz Kafka der jungen Generation, der er schließlich dem Alter nach angehörte. Ihr Antritt, signalisiert in den Jahren 1907 — 08 durch zwei Ausstellungen der Gruppe Osma (Die Acht, nach der Anzahl der Teilnehmer), gewann an programmatischer Zielstrebigkeit: vom Expressionismus und teilweise Fauvismus, über ein zähes Durchdenken der Lektion Paul Cézannes, gelangten die Maler an die Schwelle der Problematik des Kubismus — aus direkten Anregungen der Pariser Schule, namentlich Pablo Picassos und George Braques, jedoch in eigener Auslegung. Der Kubismus wurde in den Jahren 1911 — 13 auf dem Boden der Gruppe bildender Künstler, auf mehreren Kollektivausstellungen mit inernatioanaler Beteiligung und auf den Seiten zweier Jahrgänge der „Revue Umëlecky mésícník" (der dritte blieb unvollendet) für eine Zeitlang zum grundlegenden Programm der Generation; den Malern gesellten sich die Architekten zu; die Prinzipien und Formen des Kubismus gingen von Gemälden zu Projekten und baulichen Realisationen, in die angewandte Kunst verschiedener Art über. Aus dem Rang der Historiker und Kritiker standen den Künstlern Antonin Matëjcek, V. V. Stech und namentlich Vincenc Krama>r zur Seite, der damals seine gediegene Privatkollektion von Bildern aus der Jugendzeit von Picasso, Braque, Derain zu begründen begann. In Prag entstand damals eine ungemein interessante und völlig originelle, wenn auch entwicklungsgeschichtlich begrenzte Variante des Kubismus, dessen Formen einige besondere Züge trug: in der Verbundenheit mit Elementen des Expresionismus, im deutlichen Akzent des barocken (als Wahrzeichen der heimischen Tradition), nicht selten im Streben zur Monumentalisierung. — Dabei kann wohl als Zeichen der unbewußten Verwandtschaft zu sehen sein, daß zu dem Zeitpunkt, als sich die tschechischen Maler eifrig und zielbestrebt auf neue Wege begeben, Franz Kafka die „Beschreibung eines Kampfes" schreibt — ein wahres Epigrah seiner Zeit. Die Absichten der Jungen spiegeln sich besonders charakteristisch im Schaffen Emil Filias wider, dessen ausgeprägtes Malertalent wie auch ungewöhnlicher Überblick ihm eine Vorrangstellung unter seinen Generationsgenossen sicherte. Seine ersten Bilder sind im geistigen Pathos und künstlerischen Plan teilweise von dem Erlebnis des Werks Edvard Münchs

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bestimmt (darunter im Jahre 1907 „Der Dostojewski-Leser" — das charakteristische Thema einer ganzen Generation); über die plastisch verstandene Tektonik im Geiste Honoré Daumiers kam Emil Filia 1910 — 11 zum Kubismus, zuerst in eigener, dramatisierender Auffassung. Während seines Aufenthalts in Amsterdam von 1914 an steigert sich in seinen Stilleben die analytische Aufmerksamkeit, zugleich in der konstruktiven und der farblichen Auflösung zeigt sich eine neugewonnene Beziehung zur Realität der einfachsten Dinge in der Atmosphäre des Interieurs. Bohumil Kubista dagegen gelangte von analogen Ausgangspunkten aus zu unterschiedlichen Schlüssen, die auf konsequenter und strenger Tektonik beruhen. Den Höhepunkt seiner Bestrebungen bilden förmlich und koloristisch gestraffte bis asketische Gemälde, in denen sich konstruktive Absichten mit bedeutungsträchtiger, oft psychologisch akzentuierter Expressivität durchdringen. In diesem Sinne stehen besonders die Ölgemälde mit Altprager Motiven, namentlich „Der hl. Sebastian", in bedeutungsbezogenen, kompositorischen ausdrucksträchtigen Zusammenhängen in vieler Hinsicht den Schriften Franz Kafkas nahe. Dies ist dann ohne Zweifel im Zusammenhang mit dem bildhauerischen Werk Otto Gutfreunds zu behaupten; in rascher und intensiver Entwicklung waren seine Ausgangspunkte erst die umfassende Komposition (im Sinne des Werkes E. A. Bourdelles). Seit 1911 strebte der Künstler dann die Dramatisierung der Plastik an, und dies in zweierlei teils verschiedener Formulierung: Der erste Weg über die analytisch begründete Figur des Job führt zum weiten Format der Beklemmung; es handelt sich hier um eine beunruhigende, analytisch akzentuierte Aufwellung der Oberfläche, in Bruch und Aufeinandertreffen, Auf- und Abwallen der Flächen, von scharfen Kanten bestimmt, dabei im steigenden Maße der Expression und der psychologischen Spannung. Der zweite Weg, durch zwei HamletVariationen und den Don-Quichote-Kopf bezeichnet, führt in der Richtung betonter Analyse, die die Oberfläche erodiert und die Masse dynamisiert. Dies ist eine Lösung, die in vieler Hinsicht plastisch großzügiger und formell nachdrücklicher ist; hier kommt in vollem Ausmaß das Schaffensprinzip des Expressionismus zur Geltung, in häufiger Verzerrung und Übertreibung, zugleich jedoch findet sich der Künstler hier an der Grenze des Kubismus, verstanden und weiterentwickelt in den Aspekten und Mitteln der konstruktiven Absicht. Zu diesen Plastiken Otto Gutfreunds sind direkte Analogien in den Werken der Maler der Osma zu finden: bei Emil Filia, Vincenc Benes, Antonín Procházka. Ausschlaggebend ist hier besonders die Verwandtschaft mit den Werken von Bohumil Kubista (z. B. „Epileptische Frau",

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„Hl. Sebastian"); beide Künstler stellen sich die gleichen Aufgaben, in ihrem Trachten nach Harmonisierung der strukturellen und der ausdrucksmäßigen Aspekte. Darüber hinaus weisen die Themen der Figuren und Bilder in ihrer kraftvollen emotionalen Wirkung auf eine Gleichheit des Sinnes, auf eine gemeinsame Dimension der geistigen Welt unserer Kultur hin. Wir finden uns in einer Zeit, da es das Anliegen der jungen Kunst ist, nicht bloß formale Probleme zu lösen, sondern in gleichem Maße die Gesellschaft und die Epoche forschend zu analysieren, die individuellen Betrübnisse und Schmerzen zu bezeugen, ein getreues Bild der menschlichen Unsicherheiten und Desillusionen zu zeichnen. Mit Recht wurde bei der Erläuterung der Beziehung des Werks Otto Gutfreunds und seiner Plastik „Beklemmnis" zu der Atmosphäre des damaligen Prag bei der Ausstellung des Werks des Künstlers im Jahre 1965 der Name Franz Kafkas erwähnt (im Vorwort des Katalogs der Ausstellung aus der Feder von Václav Procházka und Petr Hartmann). Entsprechende Einstellungen, mit häufigem Hinblick auf die psychologische Introspektion, erscheinen damals auch in der tschechischen Literatur: z. B. in den Jugenderzählungen der Brüder Capek, in den Büchern von Ladislav Klima, Jakub Demi, in den ersten Gedichten Richard Weiners. Es ist bekannt, daß Franz Kafka einige der tschechischen Schriftsteller kannte, namentlich aus dem Umkreis des „Klub mladych" (Klub der Jungen); offensichtlich kannte er auch Jarloslav Hasek — wenigstens vermittelt durch gemeinsame Freunde. (Übrigens wurde das Werk beider bereits vor einiger Zeit von Karel Kosik hellsichtig in gegenseitige oder eher in eine polarisierende, jedoch komplementäre Beziehung gebracht.) Es sei denn auch erlaubt, bei der Betrachtung der Zusammenhänge zwischen bildender Kunst und Literatur, eben an die Worte Jaroslav Haseks zu erinnern, wie sie in seinem Erinnerungsband im Jahre 1928 E. A. Longen verzeichnet; übrigens war er selbst Maler, einer der Teilnehmer der ersten Ausstellung der Osma. Am Anfang des Ersten Weltkriegs, am Tag nach seiner Assentierung zum Militär, sagte Jaroslav Hasek: „Ich halte mich selber für keinen Künstler, finde jedoch, daß Kunst bedeutet, die Wahrheit in ihrem Wesen aufdecken. Kunst ist ewige Bewegung, es muß ständig gescharrt und gegraben werden von der Oberfläche hinunter in die Tiefe. Es ist gleichgültig, mit welchen Mitteln das geschieht, welchen Charakter sie haben, ob tragisch oder komisch, auch die Technik muß jedoch ihren starken Ausdruck haben, denn sie ist das Instrument des Geistes des Künstlers. Mir gefallen die modernen Richtungen, zum Beispiel in der bildenden Kunst. Mir gefallt der Kubismus, weil er den Raum auf der Leinwand auf eine neue Art ausdrückt. Ich pfeife auf die Natur, wie

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sie die Photographie darbietet, denn ich sehe in der Natur immer viel mehr und überhaupt erscheint sie mir ganz anders, als sie die Photographie wiedergibt oder bestimmte Maler. Dasselbe ist in der Literatur [...]." — Bezeichnend finde ich, daß auch der Dichter und Redakteur St. K. Neumann, der später mit wahrer Hingabe Franz Kafka in die tschechische Literatur einführte, als langjähriger und durchdringender Kritiker der bildenden Kunst mit der modernen Kunst des expressionistischen und kubistischen Umkreises vertraut war (wie sein Buch „Es lebe das Leben!" bezeugt). In der Beziehung Franz Kafkas zu Prag und seiner Geschichte, zu den bedeutenden Erscheinungen der tschechischen Literatur und Kunst seiner Zeit, können wir uns auch auf ein völlig unparteiisches (wenn auch naturgemäß persönlich in der Bewunderung zu dem Schriftsteller und der Liebe zu seiner Stadt befangenes) Zeugnis berufen; hier meine ich das einzigartige von dem italienischen Sia visten Angelo Maria Rippelino 1973 unter dem Titel „Praga magica" herausgegebene Buch (erst jetzt ist es in tschechischer Übersetzung erschienen). Und als 1987 das Centre Georges Pompidou in Paris die Ausstellung „Le siècle de Kafka" veranstaltete, wurde in ihrem Rahmen (ebenso wie in der umfangreichen gleichnamigen Publikation in der Auffassung und Redaktion von Jascha David) wenigstens in einer Reihe von Reproduktionen der Zusammenhang mit der bildenden Kunst beleuchtet; von der tschechischen Malerei und Bildhauerei jener Zeit wurde da in der Beziehung zu Franz Kafka mit Recht vor allem Bohumil Kubista und Otto Gutfreund Aufmerksamkeit gezollt. Es ist stets erfreulich, wenn sich Thesen und Ansichten, Erkenntnisse oder Vermutungen auch in der Kontinuität der Zeit bestätigen; in dem umfangreichen Katalog zur Ausstellung des tschechischen Kubismus in Düsseldorf, Prag und Brünn in den Jahren 1991—92 haben Karel Srp und Tomás Vlcek in der Interpretierung der Angstgefühle neuerdings die innere Verbundenheit der Vorstellungen Franz Kafkas mit dem Werk des Bildhauers Otto Gutfreund und einigen tschechischen Schriftstellern erhärtet; zugleich erläutern sie, daß die Bedeutung des Inhalts geometrischer Formen für die kuboexpressionistische Generation klar auch vom Roman Franz Kafkas „Das Schloß" bewiesen wird.

III. In Prag hatte Franz Kafka jedoch auch die Gelegenheit, auf imponierendem Niveau eine ungewöhnliche Weite der künstlerischen Bestrebungen der zeitgenössischen Kunst Europas kennenzulernen. Voran steht sicherlich

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der Zyklus der Frankreich gewidmeten Ausstellungen — dem Lande, dessen Kultur auch er systematisch verfolgte. Die erste war eine umfassende Kollektion Auguste Rodins im Jahre 1902 unter persönlicher Teilnahme des Künstlers; im selben Jahr folgte eine Ausstellung der französischen Kunst der Gegenwart. Die Plakate dieser Unternehmungen, ebenso wie aller darauf folgenden Ausstellungen, leuchteten auf den Prager Straßen und Anschlagflächen als Botschaft der antretenden Zeit auf, in neuen Formen der dekorativen Wirkung. Etwas später, 1907, stellte eine gänzlich dem Impressionismus gewidmete Ausstellung die Genesis, die Hauptfiguren und auch das Vermächtnis dieses wohl schwerwiegendsten Phänomens in der europäischen Kunstgeschichte der neuen Zeit vor. 1909 präsentierte sich Ε. A. Bourdelle, ein Bildhauer dekorativ abgestufter Auflösung der Formen. 1910 lernte Prag eine wesentliche Auswahl des Salon des Indépendants in Paris kennen; das Hauptgemälde der Ausstellung, „Das große Baden" von André Derain, wurde damals vom Verein Mânes aus einer Geldsammlung unter seinen Mitgliedern gekauft (heute befindet es sich in der Nationalgalerie). Und schließlich 1913 konnten die Besucher die aktuellen Bestreben der „L'Ecole de Paris" kennenlernen, einerseits in Werken konsequent kubistischer Prägung (angeführt durch Picasso und Braque), andererseits im weiteren offenen Horizont der zeitgenössischen Tendenzen. Im Laufe der Jahre war auch die Kunst der übrigen Länder Europas zu Gast in Prag: Deutschlands, Rußlands, Großbritanniens, Belgiens; auch polnische und kroatische Künstler, sowie nicht selten Künstler aus Skandinavien zeigten ihr Werk. In dieser Richtung war von größter Wirkung die Ausstellung Edvard Münchs 1905, gleichfalls mit persönlicher Beteiligung des Künstlers; die reichhaltige Kollektion von Gemälden und Zeichnungen bedeutete wohl sein bedeutendstes Auftreten außerhalb Norwegens (wie die Rekonstruktion der Ausstellung im Edvard-Munch-Museum in Oslo 1971 zeigte). Edvard Münchs Werk bezwang die Repräsentanten der Generation der 90er Jahre, tief und fürs ganze Leben betraf es dann die antretende junge Generation. Es scheint mir wahrscheinlich, daß dieses wichtige Ereignis auch Franz Kafka nicht gleichgültig lassen konnte; schließlich hatte er Freunde im Umkreis der Zeitschrift „Moderni revue", der Kunst Edvard Münchs war auch eine Sondernummer der „Revue Volné sméry" gewidmet. Ereignisse und Erscheinungen haben naturgemäß Einfluß, direkt oder indirekt, schon durch ihre Existenz. — Einige der Ölgemälde und graphischen Blätter scheinen mit des Schriftstellers Vorstellungen geistig verwandt: „Mann und Frau", „Der Tod und das Kind",

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„Tanz des Lebens", das häufige Thema der Angst, oder Menschenmassen mit fiebrigen Augen in den Straßen der Stadt, das Selbstbildnis. So konnte Franz Kafka in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in Prag einen überraschenden Reichtum von Werten der bildenden Kunst der Gegenwart kennenlernen, in einer Konsequenz, die wir damals — ausgenommen Paris und teilweise Berlin — kaum irgendwo sonst aufgefunden hätten: in einem Umfang von West bis Ost, Nord bis Süd (etwa im inspirierenden Beispiel Umberto Boccionis). Es ist offensichtlich, daß die Zeittendenzen des Expressionismus, des Kubismus, zum Teil des Futurismus, des Schriftstellers bildnerische Sicht der Dinge und Geschehnisse bereicherten, in ihrem Interesse für das scharfe Detail und ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit der raumbezogenen Vorstellungskraft, und daß solcherart die Einflüsse der Bilder und Skulpturen wohl in vieler Hinsicht in der Struktur seines Werkes offenbar sind. Die Frage nach dem Verhältnis Franz Kafkas zur bildenden Kunst könnte weiterhin auch entgegengesetzt orientierte Dimensionen finden: in der Erinnerung an die Einflüsse, durch die seine Prosa wenigstens teilweise auf die Kristallisierung der individuellen bildnerischen Programme wirkte, ob schon in geistiger und formeller Verwandtschaft oder in der gelegentlichen Interpretation der Illustratororen. In diesem Zusammenhang werden mit Recht die Narrien Marc Chagall und Paul Klee angeführt; in den 30er Jahren machte sich dann um eine neue Sicht des Vermächtnisses Franz Kafkas der Surrealismus in der Person André Bretons verdient, in Verbindung mit seinem Prager Aufenthalt 1935 und schließlich dem Artikel in der „Revue Minotaure" Nr. 10 des Jahrgangs 1937; bestätigt wird dies auch durch die Werke von Max Ernst, Yves Tanguy, Toyen, die Plastiken von Albert Giacometti u. a. Gleicherweise läßt sich auch in der neuen Entwicklungsetappe der 40er und 50er Jahre an die Resonanz des Werks Franz Kafkas oft doch mindestens erinnern: zum Beispiel bei Wols und im Umkreis der Gruppe Cobra, dem Amerikaner Jackson Pollock, der französischen Bildhauerin Germain Richier, dem Mexikaner José Louis Cuevas, dem Italiener Renato Guttuso, dem Spanier Juan Genoves, dem Bulgaren Christo, den Deutschen Josef Beuys und Wolf Vostell und anderen. In der tschechischen Kunst treffen wir direkte und indirekte Interpretationen des Werks Franz Kafkas an in der Präzision des graphischen Werks Frantisek Tichys, den Illustrationszyklen Adolf Hoffmeisters, den poetischen Collagen Juri Kolárs, den Illustrationen Zdenek Seydls, den Reliefs Karel Hladiks. Vom Anfang der 60er Jahre dann namentlich im wesentlichen Anteil der jüngeren Generation, den Bildern Jiri Balcars und Mikulás Medeks, den

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Plastiken Karel Neprass, Vladimir Precliks, Jan Koblasas, Zbynëk Sekals, D a n Kulkas, den Graphiken Dana Puchnarovás und anderen. Dies alles ist jedoch nur ein knappes und unvollständiges Namensverzeichnis — und bereits auch ein ganz anderes Kapitel, jenseits der Grenzen der Frage nach dem Verhältnis von Franz K a f k a zur bildenden Kunst und nach der eventuellen Aufnahme von Bildern und Skulpturen in seinem literarischen Werk. 1

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Zu dieser anspruchsvollen und komplizierten Problematik hat die Franz-KafkaGesellschaft im Sinn, sich um die Veranstaltung einer Ausstellung zu bemühen, die in der Konfrontation der angesammelten Werke es ermöglichte, zu der Beleuchtung der konkreten Beziehungen und Impulse beizutragen, die der Schriftsteller bewußt oder unbewußt aus Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen und Graphiken aufnehmen konnte.

Josef

Kroutvor

Kafkas Stadt? Prag im Zyklus der toten Städte

Nach Anbruch der technischen Zivilisation versank so manche historische Stadt in einen tiefen Schlaf, verschloß sich vor der Welt und begann ihr zweites Leben. So entstand im 19. Jahrhundert der Mythos der „toten Städte", der Mythos eines Venedig, Brügge, Toledo, Ravenna, Petersburg und in gewissem Sinne auch Prags. Gemessen an der melancholischen Schönheit Venedigs werden nun auch andere Städte beurteilt, und sicher nicht zufallig vergleicht Grillparzer Prag mit der legendären Lagunenstadt. Mitte des vorigen Jahrhunderts zeigt sich die englische Schriftstellerin George Eliot von Prag überrascht; ihre Beschreibung der Stadt stammt aus der Novelle „The lifted Veil": Die Stadt war so trocken, daß der breite Fluß wie ein Stück Blech aussah, und die dunklen Statuen, die mich auf der endlosen Brücke mit abwesendem Blick verfolgten, erschienen mir in ihren altertümlichen Gewändern und unter der K r o n e ihrer Heiligenscheine als die einzigen wahren Bewohner und Platzhalter, während die rohe hastende Menge, die hin und her wimmelte, wie ein Schwärm ephemerer Besucher wirkte, die die Stadt für einen einzigen Tag wie Heuschrecken überschwemmt hatten [...].

Es ist, als hätte die literarische Phantasie, die vom Mythos der „toten Städte" beeinflußt ist, die tiefen Visionen Franz Kafkas bereits vorgezeichnet. Mitte des vorigen Jahrhunderts war Prag tatsächlich eine vergessene Stadt, eher Trugbild als lebendige Wirklichkeit. Über Prag wurde schon jahrelang in Wien entschieden, Prag schien nur von seinem einstigen Ruhm zu leben. Trotzdem sind unter der Oberfläche bereits die neuen Kräfte der nationalen Wiedergeburt am Werk, der mit der Zukunft des Volkes verbundene Mythos überwindet den Mythos der „toten Stadt". So wird es übrigens auch später sein: Hinter einer Maske der Gleichgültigkeit verbergen sich immer heimliche Sehnsüchte und Leidenschaften, die historische Umwälzungen vorbereiten. Für Franz Kafka war Prag nie ein Ort der Behaglichkeit und Zufriedenheit, er nahm es mit Abstand, entfremdet, als leblose, kalte Stadt wahr.

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Josef Kroutvor

Bereits in „Beschreibung eines Kampfes" erscheint Prag in anderem Licht, als es sonst Städtebilder schildern. Kein Wort über das Malerische, lyrische Passagen werden durch Metaphysik ersetzt. Die Stadt ist vollkommen durchgefroren, menschenleer, doch trotzdem faszinierend. Aus Dämmerung und Dunkelheit tauchen die Dominanten auf — der Laurenziberg, die Ferdinandstraße (die heutige Nationalstraße), die Moldau, die Schützeninsel, der Kreuzherrenplatz oder die Karlsgasse. Überall breitet sich Dunkelheit aus, nur am Mühlenturm leuchtet die Turmuhr. Vielleicht ist auch die Zeit stehengeblieben, die Uhr aber läuft weiter. Prag schläft, es ist schon dreiviertel eins, ein tiefer Schlaf hat die ganze Stadt mit einem Geheimnis eingehüllt. Kafkas beklemmendes Prag-Bild entspricht auch seinem Lebensstil, jener ständigen Flucht vor der Banalität des Alltags: „Den Tag über im Amt, abends in Gesellschaft, in der Nacht auf den Gassen und nichts übers Maß. Eine in ihrer Natürlichkeit schon grenzenlose Lebensweise!" Kafka sucht ein Privatleben, einen innerlichen Existenzraum — er teilt nicht die Sorgen der anderen Bürger, er geht nicht einkaufen, unterhält sich nicht wie die anderen, sondern streift lieber allein durch die nächtlichen Straßen. Der Gang gleicht dem Gleiten eines Eisläufers, so unnatürlich wirkt die Bewegung des hoffnungslos einsamen, gedankenverlorenen Spaziergängers. In Kafkas früher Erzählung ist noch nichts Mythisches, der Mythos tritt erst im größeren Kontext des Romans zutage. Kafka beginnt den „Prozeß", den Roman der „toten Stadt", bei Ausbruch des ersten Weltkrieges. In dieser Zeit hat er eine kleine Junggesellenwohnung in der Bilkova, von wo aus er sich zu später Stunde auf seine Spaziergänge durch die Stadt begibt. Das Bild hat sich verdunkelt, Prag hat seine Konturen und konkreten Namen verloren. Die Zeit auf der Turmuhr ist weit vorgerückt, nicht nur die Stadt, sondern die ganze Welt, hüllen sich in Dunkelheit. In dem Roman erblicken wir den Fluß, die Brücke, die Insel im Fluß, mehr aber erfahren wir nicht. Und trotzdem fühlen wir, daß es Prag ist, daß die undurchsichtige Atmosphäre dem Charakter der Stadt und deren innerem Labyrith entspricht. Kafkas „Prozeß" ist kein Roman im üblichen literarischen Sinne, viele Leser beklagen sich zu Recht über mangelnden lesbaren Stoff. Die Wirkung des Romans liegt wahrscheinlich in etwas anderem als in der traditionellen Art und Weise des „Romanlesens". „Der Prozeß" wirkt eher wie das Fragment eines modernen Epos', einer Legende oder eines Mythos', der Roman fesselt durch seine Botschaft mehr als durch sein literarisches

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Erzählen. Es ist Prag, und ist es doch nicht, die Stadt schweigt unheilverkündend und hütet ihr Geheimnis. Kafka brachte den romantischen Mythos der „toten Städte" zum Höhepunkt, nahm ihm aber gleichzeitig die Romantik und poetische Stilisierung. Prag trat dem europäischen Zyklus der „toten Städte" als spezifisches Phänomen bei. Zum historischen Vermächtnis kamen noch der Mythos, die Botschaft, das Signal von der Kreuzung der Kulturen, direkt aus dem Herzen Europas. Die treffenden Illustrationen zu Kafkas „Prozeß" könnten Egon Schieies Bild aus dem Zyklus der „Toten Städte" sein, deren Entstehung ebenfalls in die Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg fällt. Schiele fand seine „tote Stadt" in Cesky Krumlov, dessen Wesen er auf eine nicht alltägliche Weise darstellte. Auch Schiele nimmt sich des Sujets aus romantischen Beweggründen an, doch das Ergebnis ist ein völlig anderes. Die einzig mögliche Interpretation seines Zyklus' ist eine metaphysische, die Stadt wird als verlassenes Schneckenhaus der menschlichen Existenz erlebt. Nicht einmal Schiele achtet auf Genre, Historismus und lyrische Passagen, er malt die Stadt als ein Phänomen, ein bestimmtes Ganzes. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg kristallisiert sich aus dem Prager Sujet eine universale Gestalt, ein ganz moderner Zyklus heraus. Interesse am Prager Labyrinth äußerten auch andere Autoren, vor allem im bildkünstlerischen Bereich. Frantisek Drtikols fotographisches Album „Aus Höfen und Höfchen des alten Prag", das 1911 herausgegeben wurde, muß nicht nur die Altprager Idylle der verschwindenden stillen Winkel darstellen. Wenn wir uns von der Nostalgie alter Fotographien lösen, erblicken wir einzigartige künstlerische Dokumente. Die Struktur des Labyrinths ähnelt in einigen Fällen kubistischen Bildern. Drtikols Erkundung der toten, nichtsdestotrotz lebenden Stadt, reicht über die Aufgabe des Malers oder Fotographen von Stadtansichten hinaus. Ein anderer Prager Zyklus ist Frantisek Koblihas graphisches Album von 1913, eine Reihe großer schwarz-weißer Holzschnitte. Auch wenn Kobliha nicht so weit geht wie Drtikol — er ist konventioneller — erlebt auch er Prag trotzdem als Schicksalsthema. Prag hat seinen Zauber, aber auch seine Macht, sein Fatum. Nicht umsonst bemerkte Kafka, daß Prag „Krallen" habe... Die schwarz-weiße Stimmung von Koblihas Zyklus korrespondiert mit ähnlichen monochromen Gefühlen bei Kafka und Drtikol. Zu den vergessenen Prager Zyklen gehört ein Album mit zehn graphischen Blättern von Egon Adler, einem Prager Expressionisten, den die Erde verschlungen zu haben scheint.

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Kafkas „Prozeß" entstand in einer Zeit, als sich in Prag zwei bedeutende Kunstrichtungen — der Expressionismus und der Kubismus — kreuzten. Der Expressionismus wurde eher als deutsches Phänomen empfunden, während der Kubismus mit Paris in Verbindung gebracht wurde. Der Einfluß des Expressionismus auf Kafkas Werk wurde schon oft erwähnt, vom Kubismus aber ist keine Rede. Trotzdem kann man auch in Kafkas Roman Stellen finden, die an kubistische Flächen voller aufgehäufter Formen und scharfer Kanten erinnern. Manchmal ist es sogar kompliziert, beide Ismen zu unterscheiden, Kuboexpressionismus ist so vielleicht der treffendste Begriff. Auch der „Prozeß" ist voller räumlicher Kürzungen, enger und schräger Durchblicke, die äußere Welt bricht sich und zersplittert bei der Begegnung mit der innerlichen Welt. Im August 1937 kommt Albert Camus nach Prag, der existentialistische Denker und Nachfolger Kafkas. Camus trifft die Stadt in einer düsteren Stimmung an; die unheilverkündende Vorahnung des Krieges liegt bereits in der Luft. Der fade Geruch saurer Gurken hat wenig zu tun mit dem Duft einer angenehmen, freundschaftlich gesonnenen Stadt. Aus dem kurzen Aufenthalt entsteht die Erzählung „Tod in der Seele", deren Titel keines weiteren Kommentars bedarf. Der verzweifelte Camus flieht aus der „Toten Stadt" zu südlichen Gestaden und Meeren, in Städte, die dem Offenen zugewandt sind. Der Leser von Kafkas Werk, der noch dazu vom Kafkaschen Mythos geprägt ist, findet heute Prag nicht mehr so vor, wie er es sich erlesen und in seinen Vorstellungen erschaffen hat. Das heutige Prag strebt nicht gerade danach, eine „tote Stadt" zu sein, unternehmerische Begeisterung und wirtschaftliche Veränderungen erfassen die ganze Stadt. Man renoviert, wo es nur geht, buchstäblich über Nacht entstehen neue Läden, öffnen Cafés, kleine Galerien und Passagen. Josef K. würde sich wundern. Kafkas Stadt ist eher im Inneren verborgen, in der geheimnisvollen und unergründlichen Seele der Stadt.

Hugo Rokjta

Der Schlüssel zum Schloß im Roman von Franz Kafka

Ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender, für Ihre freundlichen Worte, für den Glückwunsch, den Sie mir zu meinem 80. Geburtstag übermittelt haben. Ich möchte mit den Worten eines lieben Freundes, der achtundneunzig Jahre alt wurde, antworten: „Wenn man siebzig, achtzig und vielleicht etwas darüber wird, so ist das weder ein Verdienst noch eine Schande." Mein Beitrag zur Entstehung des Schloßromans geht zurück in eine Zeit, die der Kafka-Forschung bei uns alles andere als günstig war. Ich erspare Ihnen die Hinweise, welchen Situationen man ausgesetzt war, wenn im kümmerlichen Berufsdasein publik wurde, man beschäftige sich auch noch mit Franz Kafka. Mein Beruf als Denkmalpfleger erleichterte es mir allerdings, auf Spurensuche zu gehen. Ausländische Forscher waren besser in der Lage, ihren Spuren nachzugehen. Sie kennen wohl die Anekdote: „Ein ausländischer Forscher bemühte sich um ein Einreisevisum bei einem für die Kultur zuständigen Diplomaten der CSSR in einer der Auslandsvertretungen. Man empfing den Forscher mit viel Höflichkeit und empfahl ihm, wenn er seine KafkaForschung in Prag betreiben wollte, müsse er sich an den Autor Franz Kafka mit der Bitte um eine Einladung wenden." Meine Spurensuche geht zurück auf eine Begegnung im Café „Slavia". Ich lernte dort in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg einen beständigen Gast, um mit Franz Werfel zu sprechen, in der Person des Herrn Stanislav Jandik kennen. Er war Redakteur im Ruhestand einer tschechischen Zeitung. Familiäre Gegebenheiten bewogen Herrn Jandik, den Tag überwiegend im „Slavia" zu verbringen. Er empfing außer Freunden auch höhere Schüler und Schülerinnen der umliegenden Schulen, denen er behilflich bei der Anfertigung schwieriger Hausarbeiten war. Es dauerte einige Zeit, bis wir auf Franz Kafka zu sprechen kamen. Nach längerem Zögern eröffnete er mir seinen Lebenslauf, der ihn auf unerwartete Weise mit der Familie Kafka zusammenbrachte. Nach dem Tod seines Vaters wurde seine Mutter nämlich Kochfrau im Hause Kafka.

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Hugo Rokyta

Herr Jandík betonte immer wieder, daß seine Mutter nicht Köchin war, sondern Kochfrau. Der Unterschied zwischen einer Kochfrau und einer Köchin hätte darin bestanden, daß die Köchin den Haushalt ihrer Dienstgeber teilt, dort wohnt und verköstigt wird. Die Kochfrau muß aus Gründen, die in ihrem Familienbereich liegen, sozusagen ambulant im Hause erscheinen; sie kocht dort und geht dann wieder. Eine Kochfrau verhungert nicht am Herd, sie erhält außerdem einen Lohn, mit dem sie ihren Sohn ernähren konnte. Sie spielte über den Rang einer Kochfrau hinaus im Hause Kafka die Rolle einer Stütze der Hausfrau, ja, sie war eine Vertraute der Mutter Kafka und geschwisterliche Freundin der Schwestern des Franzi, wie er in der Familie genannt wurde. Nun hat mir Herr Jandík in einer nicht wiederzugebenden Form das Leben seiner Mutter im Hause Kafka in einer Weise geschildert, die in der Literatur ohnegleichen ist. Der Mangel an Zeit erlaubt mir nicht, Ihnen Zitate aus diesen langen Gesprächen wiederzugeben; wenn ich es erlebe und Gott will, werden sie Ihnen in nächster Zeit zur Verfügung stehen. Herr Jandík hat mir Einblick nicht nur in den Haushalt der Familie Kafka gegeben, sondern auch in ein Stadtviertel, in dem sich Kontraste einzigartig begegneten: das sogenannte fünfte Viertel, wie man in Prag sagte. Prag bestand zur Zeit Josef des Zweiten aus vier Städten, dann kam im vorigen Jahrhundert das fünfte Viertel, das ehemalige Ghetto hinzu. Es ist jenes Viertel, das Sie heute in der vornehmen Pariserstraße am Altstädter Ring sehen, das zur Zeit der sogenannten Assanierung entstand; das war eine Maßnahme, in der man zur Freude der besitzenden Juden dieses einzigartige Städtchen niederlegte, bis auf jene fünf oder sechs denkwürdige Bauten, die Sie heute noch sehen. Das fünfte Viertel war zur Zeit Kafkas, als die Familie dort in mehreren Häusern nach und nach wohnte, ein ewiger Bauplatz. Es war der Schlupfwinkel all jener Existenzen, die in den traditionellen Armenvierteln Prags wie Kosire und Zizkov nicht mehr ihr Dasein finden konnten. Darüber hinaus wuchs eine neue Stadtbevölkerung, Reste des Mittelstandes des ehemaligen Ghettos, vermengt mit Zugezogenen. Das Viertel bot also ein Kaleidoskop Prager Typen. Stanislav Jandík hat darüber geschrieben: seine Arbeit „Das fünfte Viertel — die Jugendlandschaft von Franz Kafka" ist in einem wenig beachteten Almanach des Verlags Melantrich erschienen. Ich nehme an, daß die wenigsten KafkaForscher das Buch zu Gesicht bekommen haben. Die Mutter des Herrn Jandík also, von der hier die Rede sein wird, ich habe ihr Bild mitgebracht, ist bereits im „Kübelreiter" als „Herrschaftsköchin" von Franz Kafka beschrieben worden. Sie reicht dem verhungernden und verdursteten

Der Schlüssel zum Schloß im Roman von Kafka

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Bettler an der Türschwelle den Bodensatz des Kaffees, das war in Prag so ungefähr das Letzte, was man einem Bettler anbieten konnte. Frau Jandíková hat an familiären Abendrunden im Hause Kafkas teilgenommen und ihrem heranwachsenden Sohn regelmäßig darüber berichtet. Im fünften Viertel erlebte Franz Kafka eine obskure Welt von Menschen auf einer Stufe der Unmündigkeit, die wir von den Dorfbewohnern in „Das Schloß" kennen. Hier schieden sich messerscharf zwei Zivilisationen, wie sie uns in der Welt dieses Romans begegnen. Woher sollte auch Franz Kafka in seinem relativen kurzen Leben bei seinen wenigen Reisen solche obskuren Existenzen, Schiffsbrüchige aller Lebensbereiche kennenlernen? Hier gab es die Mädchen, die an die Frieda im Roman erinnern, Aushilfskellnerinnen, die durch die Gunst eines Liebhabers auf Zeit es schließlich zu einer billigen Kaschemme vierter Kategorie brachten. Hier im fünften Viertel fanden sich also all die skurillen Personen, die uns in den Werken Kafkas erstaunen. Nun die Frage, warum Franz Kafka ein Schloß in Böhmen zum Schauplatz seines Romans machte und welches? Kafka kannte vier bis fünf Schlösser in Böhmen, und er kannte das Genre des Schloß- und Dorfromans durch Bozena Nëmcovà und Marie von Ebner-Eschenbach. Wenig diskutiert wirde bisher in der Kafka-Forschung das seinerzeit viel gerühmte Buch „Schloß Nornepygge" seines Freunds Max Brod. Auffallen muß, daß sowohl Franz Kafka wie Max Brod über die Quellen des Schloßromanes beharrlich schwiegen. Hier beginnt meine Spurensuche. Ich war am 11. Oktober 1968 nach längerer Pause, von Prag kommend, in Wien eingetroffen und erfuhr, daß Max Brod im Auditorium Maximum der Universität seinen mit Spannung erwarteten Vortrag über Franz Kafka halten werde. Noch vor Beginn kam es zu einer herzlichen Begrüßung, wir standen seit seinem Aufenthalt im Jahre 1964 in Prag in brieflicher Verbindung. Max Brod lud mich zu einem Beisammensein nach dem Vortrag im Kreise seiner Wiener Freunde ein. Ich dankte und bat ihn, mich nicht hinzuziehen. Es würde wohl zwischen uns beiden zu einem Zwiegespräch über Prag kommen müssen. Brod pflichtete mir bei und lud mich für den nächsten Tag in seiner Wiener Domizil, ins Grafenhotel ein, zu einem, wie er sagte, Frühstück am späten Vormittag, das für mich, wie er humorvoll meinte, ein vorgezogenes Mittagessen sein würde. So besuchte ich ihn am 12. Oktober in der Dorotheergasse. Nach der Begrüßung sprach Brod belustigt von der Gedenktafel an der Hotelfront, die ihn schon zu seinen Lebzeiten neben Franz Kafka und Peter Altenberg als berühmten Gast anführte. So könne er sich beim Heimweg von einem nächtlichen Bummel nicht verirren. Er hatte Sorgen

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um seine Prager Freunde in diesem Jahr. Die Ereignisse vom August 1968 bewegten ihn. Bald aber kamen wir auf seine bitteren Erinnerungen an die unverdienten, aber schonungslosen Seitenhiebe von Karl Kraus gegen die „Arconauten" zu sprechen, die Besucher des Prager Cafe „Arco" gegenüber dem Masaryk-Bahnhof, das Kraus gelegentlich ein Provinzlokal dritter Güte nannte. Er hatte auch ärgerliche Erinnerungen an den zum Richter in allen germanistischen Sachen sich aufwerfenden Pavel alias Paul Reimann, der in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als dogmatischer Parteibeamter die Prager Literatur, die tschechische und die kargen Erzeugnisse der deutschen Sprache ideologisch zensurierte. Aus dem Kreis der deutschen Zwischenkriegsgeneration in Böhmen nannte er dagegen Josef Mühlberger, von dem er mit Wärme sprach. Nun hielt ich den Augenblick für geeignet, mit jener Frage zu kommen, die mich seit Jahren bewegt hatte. Ausgerüstet mit einem Resümee der vergleichbaren Gegegenheiten bei Personen und Ereignissen lautete meine Frage an Max Brod: Gibt es zwischen dem Schloßroman von Kafka und „Schloß Nornepygge" Parallelen oder Gemeinsamkeiten? Gibt es ein Geheimnis um die Entstehung des Schloßromans von Kafka, worin besteht dieses Geheimnis? Gab es etwa eine Abmachung zwischen den beiden Autoren, war eine Gegenüberstellung des Themas beabsichtigt gewesen oder war es möglich, daß Gemeinsamkeiten unbeabsichtigt entstanden? Ist es wirklich ein Zufall, daß gewisse Szenen in „Schloß Nornepygge" zu bestimmten Kapiteln in Kafkas Schloßroman, ja sogar in seinem „Amerika" in Beziehung stehen? Man könnte das Verhältnis der beiden Schloßromane zueinander seitenverkehrt nennen, so daß eine Absprache der Autoren angenommen werden könnte? Abermals argumentierte Max Brod fast Wort für Wort wie in einem Brief an mich vom 11. Oktober 1967. Ich zitiere: „Was Kafka anbelangt, so kann ich mich an kein Gespräch mit ihm über diesen Roman von mir erinnern. Sic. Wahrscheinlich lag ihm das Grelle, Extreme, Radikale gerade dieses Werkes nicht. Langsam zog er mich nach meiner Sturm- und DrangPeriode in die stillen, aber immer tiefen Wasser Flauberts hinüber. In dieser Hinsicht gibt ja Raabe in den ,Weltfreunden' in dem Essay über meine Jugendarbeiten die entsprechende Analyse, die absolut richtig ist." Ende des Zitates. Ich wagte damals in Wien zu opponieren: in Prager Kreisen, die mit Kafkas Familie vertraut seien, wisse man noch heute, also 1968, von einem bestimmten Abend im Elternhaus Kafkas, als im Kreise der Schwestern und Freunde die beiden Autoren Brod und Kafka sich zu einer Art literarischer Schachpartie bekannt hätten, zu kontrastierenden Abrissen

Der Schlüssel zum Schloß im Roman v o n Kafka

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einer Darstellung der Themen im Schloß bei Kafka und in „Schloß Nornepygge" bei Brod. Ja mehr noch, man habe in diesem Kreis dieses Experiment mit verständnisvoller, heiterer Anteilnahme verfolgt. Schon bangte ich um eine unwillige Reaktion Max Brods. Ich erwartete sogar einen Abbruch unserer Unterhaltung. Nichts dergleichen geschah. Nach einer kurzen Pause nachdenklich gespannter Erinnerungen kam völlig, ja geradezu gelöst und freundlich die Frage: „Woher wissen Sie das?" Ich nannte Namen und Textstellen. „Woher wissen Sie das?" lautete die Antwort von Max Brod an mich, keineswegs: „Woher wollen Sie das wissen?" War es ein vorgefaßter Verzicht auf seine Anteilnahme am Entstehungsprozeß des Schloßromans von Franz Kafka, der ihm ein jahrzehntelang gehütetes Schweigen auferlegt hatte? Wollte Max Brod mit der eigenmächtigen Veröffentlichung der Fragmente von Kafka jede Spur einer Minderung der Originalität seines Freundes auslöschen? Hat er sich deshalb von „Schloß Nornepygge" losgesagt, bis — und das hat er mir zweimal gesagt — bis auf das schöne Kapitel über den Aufenthalt von Hector Berlioz in Prag, von dem er mir sagte, er stünde heute noch dazu. Jedenfalls: kein Zeichen des Unmutes war gefolgt, im Gegenteil, nach dieser so kurzen Entgegennahme meiner Behauptung folgte eine friedliche Unterredung über zahlreiche Prager Aktualitäten und Freunde. Dann galt es Grüße an Prager Freunde zu schreiben. Ich schrieb ein Diktat, allen voran galt sein Interesse dem Komponisten Ladislav Vycpálek, nach Leos Janácek der ihm vertrauteste tschechische Komponist. Es waren Stunden seit dem Beginn unserer Unterredung vergangen. Eine herbstliche Dämmerung kündigte sich in der schmalen Dorotheergasse an. Ich glaubte nun eine aufkommende Müdigkeit bei meinem Gastgeber zu bemerken. Wir schickten uns an, Abschied zu nehmen. Unerwartet begleitete mich Max Brod bis zur Mitte der Dorotheergasse. Ich kann Ihnen heute noch die Stelle zeigen, an der wir Abschied nahmen. Ich blickte für einen Augenblick in seine auffallend großen und klaren Augen. Völlig unerwartet umarmte er mich an jenem frühen Abend in der Dämmerung des 12. Oktobers 1968 mit den Worten: „Auf Wiedersehen in Prag!" Es sollte unsere letzte Begegnung sein. (Nach einem Tonband-Mitschnitt) In der anschließenden Diskussion erzählte Hugo Rokyta, daß er noch den Gefängnisgeistlichen gekannt habe, also ein Vorbild für die gleichnamige Figur im „Schloß"-Roman möglicherweise. Noch in der Republik nach 1918 habe es einen katholischen Geistlichen gegeben, der als Gefängnisgeistlicher zu den Honoratioren Prags gehört habe.

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Brücken" von Kafka zu Stifter* „Auch zu einem anderen großen Altösterreicher, zu Adalbert Stifter, dessen .Nachkommenschaften' Kafka sehr liebte, führen Brücken." Ernst Weiß: Bemerkungen zu den Tagebüchern und Briefen Franz Kafkas (1957)

Der erste, der einen Traditions2usammenhang zwischen Adalbert Stifter und Franz Kafka noch zu dessen Lebzeiten hergestellt hat, dürfte Otto Pick gewesen sein. In der „Prag, im Juli 1922" 1 datierten Einleitung seines Endes 1922 vorgelegten Sammelbuchs „Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei" heißt es, um eben deren Eigenart sowohl von „reichsdeutscher" wie österreichischer Erzählkunst abzuheben: „Ein undefinierbarer Hauch, fremd und vertraut zugleich, weht uns aus den Dichtungen der deutschen Dichter aus der Tschechoslowakei entgegen, wir fühlen ihn, wenn wir ,Witiko' lesen, aus Rilkes Lyrik und Erzählungen weht er uns an und die gläsern klare Prosa eines Franz Kafka ist wohl derjenigen Adalbert Stifters, aber keineswegs etwa der Sprache des Norddeutschen Thomas Mann verwandt. Es ist auch nicht das, was irrtümlich als .österreichisch' bezeichnet zu werden pflegt." 2 Und auch noch zwei Jahre später, in seinem Bericht über die Dichterehrung am Grabe Franz Kafkas, hat Otto Pick Adalbert Stifter mit Nachdruck als die einzige kommensurable Gestalt im Bereich deutscher Prosadichtung hervorgehoben: „Der deutsche Dichter Franz Kafka, dessen Prosa seit Adalbert Stifter die lauterste im Bereiche deutschen Schrifttums ist f...]." 3

* Die Abkürzungen in den Anmerkungen dieses Beitrags werden in der Sigelliste auf Seite 111/112 aufgelöst. 1 Otto Pick: Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei. Ein Sammelbuch. Herausgegeben und eingeleitet von Otto Pick. Reichenberg/Prag/Leipzig/Wien, 1922, S. X V . 2 Ebenda, S. X I - X I I . 3 O. P. [d. i. Otto Pick]: Dichterehrung. In: PP Nr. 161/IV (12. Juni 1924), S. 4; jetzt auch in K K R , Bd. 2, S. 31.

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Die hier erstmals statuierte, obwohl nicht eingehender motivierte Traditionslinie wurde zunächst auch kaum weiter konkretisiert; zwar gehörte die durch Max Brod vermittelte biographische Information, daß Stifters „Nachsommer" mit Hebels „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" zu den Lieblingsbüchern Kafkas gehört habe, seit Ende der zwanziger Jahre zum fundus instructus kritischer Würdigungen, doch konnte die bloße Mitteilung dieses Sachverhalts bei Lesern, deren Stifter- und Hebel-Bild gleichsam noch nicht entharmlost war, leicht zu Mißverständnissen führen, konnte einem Idyllik-Verdacht Vorschub leisten, dem Ludwig Marcuse 1929 mit der dialektischen Volte zu begegnen trachtete: „Kafka war ein Hoffnungsloser, der die Idylle liebte." 4 In seiner Kafka-Biographie von 1937 hat schließlich Max Brod für die literarischen Aversionen und Präferenzen des toten Freundes die nicht unproblematische Opposition „Dekadenz" versus „positive Lebensgestaltung" postuliert und Stifter dabei dem affirmativen Pol zugeordnet: „Für die Autoren der ,Nachtseite', der Dekadenz, hatte er [...] nie das geringste Interesse. Machtvoll zog es ihn zu den einfachen positiven Lebensgestaltungen. Zu seinen liebsten Büchern gehörten Stifters ,Nachsommer' und Hebels ,Schatzkästlein'." 5 Im Zusammenhang damit zählt Brod den Verfasser des „Nachsommer" zu Kafkas „Lieblingsautoren seiner späteren Zeit" 6 , das heißt, wie dem Kontext zu entnehmen ist, einer Zeit nach dem gemeinsamen Studium, woraus Hartmut Binder 1979 den damals durchaus plausiblen Schluß gezogen hat: „Stifter [...] scheint während der ersten Berufsjahre in sein [d. i. Kafkas, K. K.] Gesichtsfeld getreten zu sein, sonst hätten sich vermutlich Spuren dieser Rezeption in den seit 1911 vergleichsweise zahlreich überlieferten Lebenszeugnissen Kafkas erhalten." 7 Inzwischen läßt sich jedoch anhand eines der 1988 von Klaus Hermsdorf edierten, an Paul Kisch gerichteten Schreiben Franz Kafkas mit höchster Wahrscheinlichkeit vermuten, daß dieser bereits Anfang 1902 Nietzsches zunächst als Einzeltitel erschienene, 1886 als zweiter Band von „Menschliches, Allzumenschliches" vereinigte Schriften „Vermischte Meinungen und Sprüche" (1879) 8 sowie vor allem 4 5

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Ludwig Marcuse: Franz Kafka. In: K K R , Bd. 2, S. 231. Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie (Erinnerungen und Dokumente). Prag, 1937, S. 6 3 - 6 4 (ÜFK, S. 49). Ebenda, S. 49 (ÜFK, S. 46; Hervorhebung K . K.). KHB, Bd. 1, S. 322. N K S A , Bd. 2, S. 378—534. — Den vielzitierten 99. Aphorismus dieser Sammlung, „Der Dichter als Wegweiser für die Zukunft" (ebenda, S. 4 1 9 f.), hat Ernst Bertram bereits 1918 auf Stifters „Nachsommer" bezogen, vgl. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918, S. 244 — 245. Karl

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„Der Wanderer und sein Schatten" (1880) gekannt und zumal die literaturbezüglichen Aphorismen der letztgenannten Sammlung besonders präsent gehabt haben muß, 9 darunter sicherlich auch das wirkungsgeschichtlich so folgenreiche 109. Aphorisma „Der Schatz der deutschen Prosa", welches unter den wenigen Werken, die auf die Frage „was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden?" 10 als Antwort dienen könnten, Stifters „Nachsommer" mit besonders „unzeitgemäßem" Nachdruck hervorhebt. 1 1 Dieser mit solcher Entschiedenheit ausgesprochenen Empfehlung tatsächlich auch nachzukommen, war indessen noch lange nach der Jahrhundertwende alles andere als einfach oder gar bequem: der vollständige „Nachsommer" war seit der in die Stereotypausgabe der „Gesammelten Werke" von 1871 übernommenen Zweitauflage von 1863 nicht wieder in den Buchhandel gekommen, 1 2 und auch als Stifter Ende 1898 urheberrechtlich „freigewor-

Privat: Adalbert Stifter. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten. Berlin 1946, S. 351—352. — Unter die „Lesefehler" des von Marie Baumgartner hergestellten Druckmanuskripts, die nicht nur in die Erstausgabe (vgl. NKSA, Bd. 13, S. 157 f.), sondern auch in die weiteren, zu Kafkas Lebzeiten zugänglichen eingingen, gehört offenbar auch die ungewöhnlichere Lesart „Weg^eiger" anstatt ,,Wegim¿er". In dieser „Weg^eiger"-Version hat Kafka die von Nietzsche vorgeprägte Metapher übernommen und mindestens zweimal an bedeutsamer Stelle verwendet, vgl. Κ ΚΑΤ, S. 356 (31. Dezember 1911): „Da ich aber als Wegzeiger in die Zukunft immer nur meine Unfähigkeit ansah — nur selten meine schwache litterarische Arbeit — brachte mir ein Uberdenken der Zukunft niemals Nutzen"; zur Charakteristik der Aufsätze Milenas heißt es später, „daß solche Prosa natürlich nicht um ihrer selbst willen da ist, sondern eine Art Wegzeiger auf dem Weg zu einem Menschen" (KBM, S. 22, 25./29. Mai 1920). 9 Vgl. Franz Kafka: Karten und Briefe an Paul Kisch. In: Sinn und Form, Heft 4/XL (Juli/August 1988), S. 8 0 9 - 8 1 7 , vor allem die strenge Kritik einer von Paul Kisch vorgelesenen „Geschichte" in dem Brief vom 4. Februar 1903: „Eine Federundtintengeschichte mehr und nicht einmal mit besonderer Feder und aus besonderer Tinte. Eine Geschichte, die ohne Tintenfaß nicht geschrieben, nicht entstanden wäre [...]" (ebenda, S. 810). Der Nietzsche-Bezug gerade dieser Stelle liegt besonders klar auf der Hand, vgl. NKSA, Bd. 2, S. 610: „133. / Schlechte Bücher. — Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern." 10 NKSA, Bd. 2, S. 599. " Nietzsches hohe Wertschätzung des „Nachsommer" hat sich nicht nur nicht vermindert, sondern zunehmend gesteigert; 1888 nennt er „den ,Nachsommer' Adalbert Stifters [...] im Grunde das einzige deutsche Buch nach Goethe, das für mich Zauber hat." (NKSA, Bd. 13, S. 624). 12 So konnte noch Anfang 1914 Rilkes Wunsch, den „Nachsommer" kennenzu-

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den" war, bliebt der „Nachsommer" aus den dann einsetzenden Auswahlausgaben ausgespart. 13 Die Rückerinnerung an die Empfindung der Sehnsucht nach einem gerühmten Buch, das einem durch seine Unzugänglichkeit gleichsam vorenthalten wird, steht hinter jener Stelle in einem der Briefe Kafkas an Milena Jesenská, an der es heißt: „[...] ich weiß, was eine solche Sehnsucht bedeutet und dem, der einem ein solches Buch vorenthält, trägt man es dann nach. Ich war z. B. gegen einige Leute voreingenommen, weil ich, ohne es beweisen zu können, bei jedem von ihnen jenen ,Nachsommer' vermutete" 14 ; „jenen Nachsommer" will hier besagen: jenen so hoch gepriesenen und doch so schwer zu beschaffenden „Nachsommer". Wann also Kafka dieses Buch tatsächlich gelesen hat, ist nach wie v o r ungewiß; vielleicht sogar erst in einer der Neuausgaben, die Hermann Bahrs Ende 1 9 1 8 als beschämende Bilanz dieses Stifter-Gedenkjahrs vorgelegte Ehrenrettungsschrift „Adalbert Stifter. Eine Entdekkung" 15 ausgelöst hat. 16 Als ausgemacht darf jedenfalls gelten, daß ihm spätestens seit 1902 die hohe Wertschätzung des „Nachsommer" durch Nietzsche bekannt gewesen ist und ihn bewogen haben mag, die Prosa der „Studien" etwa oder der „Bunten Steine" mit neuen Augen zu sehen und zu lesen sowie auch weitere Texte außerhalb dieser Sammlungen kennenzulernen, unter denen Ernst Weiß die „Nachkommenschaften" als

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lernen, nur durch die Zusendung der Originalausgabe (der Erstausgabe von 1857) erfüllt werden, vgl. Joachim W. Storck: Stifter und Rilke. In: Lothar Stiehm (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestag. Heidelberg, 1968, S. 290 ff. Das gilt selbst noch für die umfassendste und kundigste dieser Editionen, die erste Auflage der von Gustav Wilhelm (1869 — 1949) für „Bongs Goldene Klassiker-Bibliothek" besorgten Auswahl (6 Teile, Berlin/Leipzig 1911); erst der zweiten Auflage (1926) konnte der „Nachsommer" als 7. Teil angefügt werden. KBM, S. 407 (Januar/Februar 1923). Zürich/Leipzig/Wien 1918. = Amalthea-Bücherei. Erster Band. — Als Erscheinungsjahr ist 1918 (trotz des Copyright-Vermerks „1919") belegt durch den bibliographisch und bibliophil gewissenhaften Richard von Schaukai: Adalbert Stifter. Beiträge zu seiner Würdigung. Aussburch, 1926, S. 33. Die ersten Neueditionen des vollständigen „Nachsommer"-Textes, die noch vor der berühmteren Insel-Neuausgabe von 1920 bereits 1919 vorgelegt wurden, gehen beide auf die Initiative des Münchener Stifterforschers und -herausgebers Max Stefl (1888-1973) zurück: Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Die Ausgabe besorgten Max Stefl und Max Scherret. St. Gallen, 1919; ders., dass., Mit Kupfern von Ferdinand Staeger. 3 Bde. München, 1919; vgl. dazu Max Stefl: Nachwort. In: Adalbert Stifter. Erzählungen in den Urfassungen. Hg. v. Max Stefl. Bd. 1. Augsburg, 1953, S. 3 6 1 - 3 6 4 .

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ein von Kafka besonders innig geliebtes Spätwerk ausdrücklich hervorgehoben hat. 17 A n äußeren Anlässen zur Bestärkung solcher Hochschätzung hat es gerade in Prag nicht gefehlt: gerade während Kafkas vorübergehenden Germanistikstudiums (Sommersemester 1902) v o r allem bei August Sauer hatte dieser in seiner Zeitschrift „Deutsche Arbeit" unter dem Titel „Die neue Stifter-Ausgabe der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" 18 einen ersten Bericht über die 1901 begonnene Edition veröffentlicht; 1 9 ebendort referierte ein Jahr später Sauers Kollege Adolf Hauffen in dem Beitrag „Stifters .Nachsommer'" 20 über Bemühungen der zukünftigen Literaturwissenschaft, Nietzsches provozierende Umwertung dieses Romans kritisch nachzuvollziehen; bereits an der Schwelle des publikationsreichen Stifter-Gedenkjahrs 1905, dem ein vielbeachtetes Stifter-Heft der „Deutschen Arbeit" 21 galt, war in Prag 1904 nicht nur die erste Biographie „des größten

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Ernst Weiß: Bemerkungen zu den Tagebüchern und Briefen Franz Kafkas. In: E. W.: Die Ruhe in der Kunst. Ausgewählte Essays, Literaturkritiken und Selbstzeugnisse 1918-1940. Hg. v. Dieter Küche. Berlin/Weimar, 1987, S. 216; abgedruckt auch in KKR, Bd. 2, S. 441. Deutsche Arbeit, Heft 7/1 (April 1902), S. 5 7 8 - 5 8 2 . SSW, Bd. 14. Prag, 1901: Vermischte Schriften. Erste Abtheilung. Hg. v. Dr. Adalbert Horicka: die „Einleitung" des Bandes ist datiert „Wien, am .Matheistag in der vasten' 1902" (ebenda, S. LXIII). Deutsche Arbeit, Heft 6/II (März 1903), S. 481 - 4 8 8 (mit Hinweis auf Nietzsche, ebenda, S. 485). Deutsche Arbeit, Heft 12/IV (September 1905); literarische Beiträge von Ferdinand von Saar (1833-1906), Martin Greif (1839-1911), Josef Victor Widmann (1842-1911), Peter Rosegger (1843-1916), Detlev von Liliencron (1844-1909), Wilhelm Fischer (1846-1932), Emil von Schönaich-Carolath (1852-1908); Josef Gangl (1868-1916), Oskar Wiener (1873-1944), Richard Schaukai (1874-1942), Hedda Sauer (1875-1953); wissenschaftliche Beiträge von Anton Schlossar (1849-1942), August Sauer (1855-1926), Adalbert Horcicka (1858-1913), Alois John (1860-1935), Adolf Hauffen (1863-1930), Wilhelm Kosch (1879-1960), Gustav Jungbauer (1886-1942). - Vgl. auch W. K. [d. i. Wilhelm Kosch]: Die Jahrhundertfeier von Stifters Geburtstag. In: Deutsche Arbeit, Heft 3/V (Dezember 1905), S. 2 1 2 - 2 1 6 ; der Löwenanteil der Beiträge zum Stifter-Gedenkjahr 1905, in das auch der 50. Geburtstag August Sauers fiel, wurde von dessen Schülern bestritten; an erster Stelle ist hier wiederum Wilhelm Kosch zu nennen (Adalbert Stifter. Eine Studie. Leipzig, 1905, S. 3: „August Sauer zum fünfzigsten Geburtstag. 12. Oktober 1905."; Adalbert Sauer und die Romantik. Prag, 1905. = Prager deutsche Studien. Hg. v. Carl von Kraus und August Sauer. Erstes Heft.) Neben Rudolf Fürst und Spiridion Wukadinovic ist hier vor allem der Tetschener Gymnasiallehrer und rührige Mitarbeiter der „Tetschen-Bodenbacher Zeitung" Paul Joseph

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österreichischen Prosaschriftstellers" 2 2 v o n Alois R a i m u n d H e i n erschien e n , 2 3 s o n d e r n auch B a n d I d e r g r o ß e n P r a g e r Stifter-Ausgabe, deren Initiator u n d erster H e r a u s g e b e r A u g u s t Sauer in den v o m Juli 1904 datierten W o r t e n „ Z u r E i n f ü h r u n g " das P r o g r a m m einer d r i n g e n d erforderlichen G c n c r a l r e v i s i o n des k o n v e n t i o n e l l e n Stifter-Bildes e n t w a r f : „ E i n f ö r m l i c h e r R a t t e n k ö n i g v o n w e i t v e r b r e i t e t e n L e g e n d e n ist zu zerstören. E s ist nicht richtig, d a ß Stifter eine leidenschaftslose N a t u r g e w e s e n ist; es ist n i c h t richtig, d a ß Stifter v o n A n f a n g an sich als F a n a t i k e r der R u h e e i n g e f ü h r t habe, es ist nicht richtig, daß er die N a t u r nicht zu beseelen verstehe, ja es ist nicht einmal richtig, daß er n u r das Kleine u n d Kleinliche zur D a r s t e l l u n g g e b r a c h t h a t . " 2 4 W e n n a u c h der g e n a u e Phasenablauf der Stifter-Rezeption K a f k a s w a h r scheinlich nie vollständig aufzuhellen sein w i r d , so hat sie g l e i c h w o h l , wie mir scheint, an einzelnen P u n k t e n h i n r e i c h e n d deutliche S p u r e n hinterlassen, u n d z w a r auch in d e n L e b e n s z e u g n i s s e n . So finden sich gleich im ersten H e f t der T a g e b u c h a u f z e i c h n u n g e n , n a c h der ersten E i n t r a g u n g v o n S o n n t a g , d e m 19. J u n i 1910, nicht w e n i g e r als sechs m e h r o d e r m i n d e r

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Harmuth erwähnenswert, der für die von Kafka sehr geschätzte „Sammlung ,Die Fruchtschale' Verlag Piper" (KB, S. 282) nach dem Zeugnis von W. K. (s. oben, (S. 214) „eine wertvolle Gedankenauslese aus Stifters Werken" zusammengestellt und eingeleitet hatte: Adalbert Stifter. Eine Selbstcharakteristik des Menschen und Künstlers. Ausgewählt und eingeleitet von Paul Joseph Harmuth. München/Leipzig, o. J. [1905]: R. Piper & Co. = Die Fruchtschale. Eine Sammlung. Fünfter Band. — Zwar bleibt der „Witiko" noch gänzlich außerhalb des Einzugsbereichs der 296 ausgewählten Textstellen, doch sind bereits nicht weniger als 38 davon dem „Nachsommer" entnommen, und die „Mappe" ist häufiger nach der von Aprent erstmals mitgeteilten letzten Fassung zitiert als nach der „Studien"-Version. Mit dem Dank an seinen „hochverehrten Lehrer, Prof. Dr. August Sauer in Prag" (ebenda, S. XLI) verbindet Harmuth die Wirkungsabsicht, „das Büchlein" möge „ein bescheidener Beitrag zu dem neuen Stifterbilde sein [...], wie es aus seiner [Sauers, K. K.] Schule hervorgegangen" (ebenda, S. XLII). Allein schon durch die Aufnahme in die neue Reihe ist indessen ein Entdeckungsanspruch erhoben, vgl. Klaus Piper: Zum Geleit. In: Reinhard Piper: Bücherwelt. Erinnerungen eines Verlegers. Ausgewählt und eingeleitet von Klaus Piper. München, 1979, S. 11: „Als eine Bühne für literarische Entdeckungen wurde die Reihe ,Die Fruchtschale' gegründet." Alois Raimund Hein: Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Prag, 1904, S.V. S. Anm. 22. — Einen vor allem um Materialien des Stifter-Heftes der „Deutschen Arbeit" (s. Anm. 21) ergänzten Auszug daraus bietet: Alois Raimund Hein: Adalbert Stifter. Leipzig, o. J. [1912], = Universal-Bibliothek Nr. 5445, = Dichter-Biographien. Sechzehnter Band. SSW, Bd. 1, 2. Aufl., S. X - X I .

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weit ausgeführte Anläufe zu einem Text, in dem ein Icherzähler, ein Junggeselle in seinen „vierziger Jahren" 25 , ohne Widerreden dulden zu wollen, gegen ganze Scharen von Vertretern der „städtischen Welt" 26 den Vorwurf zu erheben gedenkt, daß ihm seine Erziehung im Milieu dieser Menge von Leuten, in mancher Richtung, sehr, ja schrecklich geschadet habe, ihn mehr verdorben habe, als er begreife. 27 Die positive Kontrastfolie dieses vorzuwerfenden negativen Erziehungsresultats, das kontrastive Gegenbild, das zu leben und zu sein dem Stadterziehungsgeschädigten verwehrt gewesen ist, erhält den Namen „Der kleine Ruinenbewohner" und ausmalende Beschreibungen wie: „Auf die Gefahr hin, daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann, gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbewohner gewesen, abgebrannt von der Sonne, die da zwischen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Epheu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen wären." 28 Daraus wird in einer weiteren, etwas reicher instrumentierten Version: „Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen." 29 Und schließlich findet sich im zweiten Tagebuchheft die isolierte, wie die Uberschrift eines unausgeführten Textes wirkende Eintragung „Der kleine Ruinenbewohner. " 30 Daß hier ein assoziativer Bezug oder vielmehr Rückbezug vorliegt, erscheint durch das Demonstativpronomen in der Wendung ,Jener kleine Ruinenbewohner" der ersten Version deutlich genug signalisiert; in der idealen Kontrastfigur des „kleinen Ruinenbewohners" sind offenbar zwei Knabengestalten aus zwei aufeinanderfolgenden und -bezogenen „Studien" Adalbert Stifters kontaminierend verschränkt: der „Haidebewohner", der 25 26 27

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KKATT, S. 24. Vgl. ebenda, S. 1 5 1 - 1 5 8 und 461, dazu K K A T K , S. 50. KKATT, S. 1 7 - 2 8 , 112, dazu K K A T K , S. 14 und S. 301, wo diese Ansätze unter der Bezeichnung „Ruinenbewohner-Texte" zusammengefaßt sind. KKATT, S. 17; zur Wiederaufnahme des Assoziationskomplexes „Der kleine Ruinenbewohner" vgl. KKAN/IIA, S. 39 und 195. KKATT, S. 1 9 - 2 0 , dazu die Varianten KKATA, S. 1 6 0 - 1 6 1 . KKATT, S. 112, dazu K K A T K , S. 38.

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zehn- oder zwölfjährige „Haidebube" Felix aus dem „Haidedorf', den das Titelbild zum ersten Band der „Studien" auf dem Gipfel des Roßberges auf einem überhängenden Blocke aus grauem Granit sitzend zeigt, 31 und die jugendliche Gestalt des einführenden Icherzählers im „Hochwald", der gleichsam als Ruinenbewohner in der „Waldruine" einer ehemaligen „Waldburg" 32 heimisch geworden ist („immer sah die Burg wie eine Ruine aus. [...] Die Burg hatte [...] keine Bewohner mehr" 32a ): „Oft saß ich in vergangenen Tagen in dem alten Mauerwerk, ein liebgewordenes Buch lesend, oder bloß den lieben aufkeimenden Jugendgefühlen horchend, durch die ausgebröckelten Fenster zum blauen Himmel schauend, oder die goldenen Thierchen betrachtend, die neben mir in den Halmen liefen, oder statt all dessen bloß müßig und sanft den stummen Sonnenschein empfindend, der sich auf Mauern und Steine legte — " 33 . Ist hier vor allem die sozusagen in die Natur reintegrierte Umwelt des „Ruinenbewohners" betont, die Wandlung der ehemaligen „Waldburg" zur vegetationsdurchwucherten „Waldruine", 34 so wird in Felix, dem „herrlichen Sohn der Haide" mit dem „tiefbraunen Gesichtchen voll Güte und Klugheit", 35 das Idealprodukt einer in des Worts verwegenster Bedeutung naturwüchsigen, Deformierungseinflüssen der „städtischen Welt" und Umwelt nicht ausgesetzten Erziehung vorgeführt: „Die Sonne sah ihn an, und lockte auf die schlummernden Wangen eine Rothe, so schön und so gesund, wie an gezeitigten Äpfeln, oder so reif und kräftig, wie an der Lichtseite vollkörniger Haselnüsse [...]. So lebte er nun manchen Tag und manches Jahr auf der Haide, und wurde größer und stärker [...]. Seine Erziehung hatte er vollendet, und was die Haide geben konnte, das hatte sie gegeben [...]. Die Wiese, die Blumen, das Feld und seine Ähren, der Wald und seine 31 32

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Reproduziert in SSW, Bd. 1, 2. Aufl., vor S. 1. Die Eckkapitel „1. Waldburg" (ebenda, S. 2 1 1 - 2 3 4 ) und „7. Waldruine" (S. 3 1 4 — 323) bilden hier die symbolhafte Klammer für fünf Binnenkapitel, die alle Komposita mit dem Bestimmungswort „Wald" zur Überschrift haben: „2. Waldwanderung", S. 2 3 4 - 2 5 2 ; „3. Waldhaus", S. 2 5 2 - 2 6 3 ; 4. „Waldsee", S. 2 6 3 - 2 7 6 , „6. Waldfels", S. 3 0 0 - 3 1 4 . Ebenda, S. 322 f. Ebenda, S. 215. Zu einem Rückverwandlungsprozeß der „Entwilderung" wird die Phantasie des Lesers aufgefordert, vgl. ebenda, S. 217: „Und nun, lieber Wanderer, [...] gehe jetzt mit mir zwei Jahrhunderte zurück, denke weg aus dem Gemäuer die blauen Glocken, und die Masliebchen und den Löwenzahn, und die andern tausend Kräuter; streue dafür weißen Sand bis an die Vormauer, setze ein tüchtig Buchenthor in den Eingang [...]". Ebenda, S. 177.

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unschuldigen Thierchen sind die ersten und natürlichsten Gespielen und Erzieher des Kinderherzens. Uberlaß den kleinen E n g e l nur seinem eigenen inneren Gotte, und halte bloß die Dämonen ferne, und er wird sich wunderbar erziehen und vorbereiten." 3 6 Nicht die so imaginierte Kindheit und J u g e n d eines „kleinen Ruinenbewohners", durch nichts belastet als den Druck seiner guten Eigenschaften, die mit der „Macht des U n k r a u t s " in ihm emporgewachsen wären, ist dem Icherzähler der Kafkaschen „Ruinenbewohner-Texte" indessen zuteil geworden, sondern im Gegenteil die durch eine endlos große Anzahl von Personen fehlgeleitete, verderbliche Erziehung in der „städtischen Welt": „Erwartet man vielleicht, daß ich irgendwo abseits erzogen worden bin? Nein, mitten in der Stadt bin ich erzogen worden mitten in der Stadt. Nicht zum Beispiel in einer Ruine in den Bergen oder am See." 3 7 Was Walter Benjamin an Stifter zu rühmen wußte, nämlich daß dieser „ganz wundervolle Naturschilderungen gegeben hat und daß er auch von dem menschlichen Leben, wo es noch nicht als Schicksal entfaltet ruht, also von den Kindern wunderbar gesprochen hat", 3 8 das dient hier als Lichtfolie finstersten Vorwurfs — „dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft" 3 9 —, und der Glanz dieser lichten Folie ist Abglanz Stifterschen Spiegelglanzes. In Analogie und Kontrast zu der in der Abgeschiedenheit einer „Waldruine" vorgeführten Jugendgestalt des Erzählers im „ H o c h w a l d " wie zu dem auf so poetische Weise von der Sonne „abgebrannten" Heideknaben Felix, welche beide die Licht- und Sonnenseite des Assoziationskomplexes „der kleine Ruinenbewohner" repräsentieren, gibt es in Stifters „ S t u d i e n " selbst als Pendant und Entsprechung zum „herrlichen Sohn der H a i d e " eine andere Knabengestalt, einen Sohn nicht der Heide, sondern der Wüste: „ein K n a b e mit schwarzen, rollenden Augenkugeln und mit der ganzen morgenländischen Schönheit seines Stammes ausgerüstet. Dieser K n a b e war Abdias, der J u d e " , 4 0 und er ist im allerwörtlichsten Sinne als „in einer Ruine in den B e r g e n " , nämlich „tief in den Wüsten innerhalb des Atlasses" 4 1 aufgewachsener und erzogener „kleiner Ruinenbewohner" darge36 37 38

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Ebenda, S. 179. KKATT, S. 19. Walter Benjamin: Stifter. In: W. B.: Gesammelte Schriften. II/2. Frankfurt am Main, 1991, S. 608. KKATT, S. 18; vgl. Kurt Krolop: „Heimat" in Gänsefüßchen oder Kafka und Prag. In: Kafka und Prag. Prag, 1991, S. 1 9 - 2 3 . SSW, Bd. 3, S. 10. Ebenda, S. 7.

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stellt, als Bewohner freilich nicht sonnenbeschienener, sondern unterirdischer Räume der Ruine einer ehemaligen Römer-, doch dermaligen Wüsten-, Trümmer- und Geisterstadt, deren einzige Mitbewohner neben den jüdischen Stammesgenossen jene als Verächtlichkeitssynonym der Aussätzigkeit geltenden Kreaturen sind, deren Namen mit ihrer Assoziationsspur zu einer vielinterpretierten Tiergeschichte Kafkas führt: die Schakale. 42 Gleichsam als Mitbürger der jüdischen „Ruinenbewohner" sind sie in den Stifterschen Text mit geradezu leitmotivischem Nachdruck eingewoben: „Tief in den Wüsten innerhalb des Atlasses", so beginnt der Erzähler seine Geschichte von dem Juden Abdias, „Tief in den Wüsten innerhalb des Atlasses steht eine alte, aus der Geschichte verlorene Römerstadt. Sie ist nach und nach zusammengefallen, hat seit Jahrhunderten keinen Namen mehr, wie lange sie schon keine Bewohner hat, weiß man nicht mehr, [...] der Berber, wenn er auf seinem schnellen Rosse vorüber jagte und das hängende Gemäuer stehen sah, dachte entweder gar nicht an dasselbe, und an dessen Zweck, oder er fertigte die Unheimlichkeit seines Gemüthes mit ein paar abergläubischen Gedanken ab, bis das letzte Mauerstück aus seinem Gesichte und der letzte Ton der Schakale, die darin hausen, aus seinem Ohre entschwunden war. [...] Dennoch lebten außer den Schakalen, der ganzen übrigen Welt unbekannt, auch noch andere Bewohner in den Ruinen. Es waren Kinder jenes Geschlechtes, welches das ausschließendste der Welt, starr bloß auf einen einzigen Punkt derselben hinweisend, doch in alle Länder der Menschen zerstreut ist [...]. Düstre, schwarze, schmutzige Juden gingen, wie Schatten, in den Trümmern herum, gingen drinnen aus und ein und wohnten drinnen mit dem Schakal, den sie manchmal fütterten." 43 Die jüdischen „Ruinenbewohner" teilen mit ihren „Mitbewohnern" das gleiche Schicksal der Ab- und Ausgeschiedenheit: „[...] über der todten Stadt hing schweigend das düstere Geheimniß, als würde nie ein anderer Ton in ihr gehört, als das Wehen des Windes, der sie mit Sand füllte, oder der kurze, heiße Schrei des Raubthieres, wenn die glühende Mondesscheibe ober ihr stand und auf sie niederschien. Die Juden handelten unter den Stämmen herum, man ließ sie und fragte nicht Viel um ihren Wohnort — und wenn Einer ihrer andern Mitbewohner — ein Schakal, hinauskam, so ward er erschlagen und in einen Graben

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Zur Interpretationsgeschichte von „Schakale und Araber" (KSE, S. 132 — 135) vgl. KHB, Bd. 2, S. 3 9 7 - 3 2 9 . SSW, Bd. 3, S. 8; die Urfassung akzentuiert die Isolationspartnerschaft von Juden und Schakalen noch krasser, vgl. SEU, Bd. 2, 7: „Nur ein Geschlecht teilte mit dem Schakal [...]".

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geworfen." 4 4 Und schließlich sind es auch diese „andern Mitbewohner", denen der dreißigjährige Abdias nach fünfzehnjähriger Handelstätigkeit in aller Welt bei der Heimkehr in die Ruinenstadt als ersten wieder begegnet und ihnen zu begegnen auch vorbereitet ist: „— und nachdem fünfzehn Jahre vergangen waren, kam er wieder zum ersten Male in die verschollene Römerstadt. Er kam in der Nacht, er kam zu Fuße, weil man ihm sein Kamel geraubt hatte, er war in ganz zerrissene Kleider gehüllt und trug Stücke eines Pferdeaases in der Hand, um davon den Schakalen zuzuwerfen, daß er sie von seinem Leibe hielte." 4 5 Gerade das hier wiederkehrende Motiv des Vorgangs „Juden füttern Schakale" erschien Stifter offensichtlich als so charakteristisch und prägnant, daß er es ursprünglich sogar auf dem Titelbild des III. Bands der „Studien" festgehalten wissen wollte: „Geiger wird den Juden zeichnen, wie er die Schakale füttert." 4 6 Ohne auf die weitverzweigte Interpretationsgeschichte des Kafkaschen Textes „Schakale und Araber" in diesem Rahmen näher eingehen zu können, 4 7 scheint es mir doch evident zu sein, daß diese wohl unverkennbare Assoziationsspur zur Legitimation von Deutungsmöglichkeiten, die hier einen mehr oder minder deutlichen Bezug auf jüdische Problematik erblicken, nicht unerheblich beizutragen vermag. 4 8 In Kafkas Berliner Zeit, während der er wieder mit Ernst Weiß zusammentraf, dürfte dessen Arbeit an dem Essay „Adalbert Stifter" gefallen sein, der dann am 20. April 1924, als Kafka bereits in Kierling lag, im „Berliner Börsen-Courier" erschienen ist. 49 Ernst Weiß verdanken wir nicht nur den äußerst aufschlußreichen späteren Hinweis auf Kafkas Vorliebe für die „Nachkommenschaften", 5 0 sondern auch auf dessen — kaum verwunderliche — Affinität zu Stifters „Hagestolz", der Kafkas Abschrek44

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Auch an dieser Stelle ist das Motiv der Gleichsetzung bzw. Gleichbehandlung von Juden und Schakalen in der Urfassung schärfer formuliert, vgl. SEU, Bd. 2, S. 8: „[...] ein düsteres Geheimnis hing schweigend über der toten Römerstadt, und wenn einmal einer ihrer Bewohner hinauskam zu den Menschen, so wurde der eine getreten und verspottet, der andere, wie der Schakal, erschlagen und in einen Graben geworfen." SSW, Bd. 3, S. 14. SSW, Bd. 17, 2. Aufl., S. 125 (Stifter an Heckenast, 17. Juli 1844). S. Anm. 42. Vgl. KHB, Bd. 1, S. 507, und Pavel Trost: Franz Kafka und das Prager Deutsch. In: Germanistica Pragensia II (1964), S. 32 f. Ernst Weiß: Adalbert Stifter. In: E. W.: Die Ruhe in der Kunst (s. Anm. 17). S. 1 0 6 - 1 1 3 und S. 446. Ernst Weiß: Bemerkungen zu den Tagebüchern und Briefen Franz Kafkas (s. Anm. 17), S. 216.

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kungsexempelsammlung biographisch dokumentierbarer unglücklicher Junggesellenexistenzen — eine Tagebucheintragung nennt als Beispiele Flaubert, Kierkegaard und Grillparzer 51 — um den „grandios düster prächtigen Karakter" 52 einer Dichtungsgestalt ergänzt, mit der verglichen alle literarischen Vorläufer des Typus „Hagestolz" nach dem kompetenten Urteil Bruno Adlers alias Urban Roedls als „nur bizarre Schatten" wirken. 53 Ernst Weiß, der von allen Texten Kafkas die erstmals im Oktober 1922 erschienene Erzählung „Ein Hungerkünstler" als Muster künstlerischer Vollendung am allerhöchsten schätzte, 54 hat in seinen Stifter-Essay einen Passus eingewoben, in dem die Gestalten Stifters, Kafkas und seines Hungerkünstlers auf bemerkenswerte Weise in- oder vielmehr übereinandergeblendet erscheinen, so daß sich für den kontextbewußten Leser der Vexierbildeffekt ergibt, aus diesen Sätzen über Stifter einen vorweggenommenen Nachruf auf den Verfasser des „Hungerkünstlers" nicht nur hineinlesen, sondern auch heraushören zu können: „Wer war rein und sittlich, wenn nicht Stifter? Wenn ein Mann alle Forderungen, die er an die Welt im weitesten Umkreis setzt und die er nie erfüllt sieht, ohne trüben Rest in Forderungen an sich selbst umsetzt, dann muß man ihn in hohem Sinne sittlich nennen. Aber welches irdische Schicksal kann ihm dann genügen, welche irdische Speise kann ihn sättigen, welches gute Geschick wird ihn vor Bitterkeit und Verzweiflung retten? [...] Er hungerte nach Gnade. Einmal spricht er von einem, an dem sich die Gnade der Gottheit besonders erwiesen haben sollte. Aber es ist nicht so: ,An ihm hat sich eher ihre Verwünschung als ihre Gnade gezeigt — ihre Weisheit, Gnade und Wundertätigkeit haben sich an jemand ganz anderem erwiesen.' [...] 5 5 Unrein wird der Reine in dieser unseligen Welt auch durch seine Reinheit. Aber sein Werk, mit allen unsichtbaren Lebensströmen genährt, wie die Geister der Toten in der Odyssee, beginnt in seinem innersten Blute zu leuchten und wird nicht aufhören zu leuchten mit der milden, 51 52 53

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K K A T T , S. 803 (27. August 1916). SSW, Bd. 17, 2. Aufl., S. 122 (Stifter an Heckenast, 17. Juli 1844). Urban Roedl [d. i. Bruno Adler]: Adalbert Stifter. Geschichte seines Lebens. Berlin, 1936, S. 226. Vgl. Ernst Weiß: Die Jugend im Roman. In: Die Ruhe in der Kunst (s. Anm. 17), S. 144: „Sein ,Hungerkünstler' ist vollendet." Ernst Weiß hat dieses Stifter-Zitat für seinen Kontext etwas „zurechtgemacht"; es handelt sich im Original um den letzten Satz des letzten Textes des letzten Bandes der „Studien", vgl. Adalbert Stifter: Der beschriebene Tännling. In: SSW, Bd. 4/1, S. 307: „ A n ihr [Hanna, K. K ] hat sich eher ihre [der heiligen Jungfrau, K. K.] Verwünschung als ihre Gnade gezeigt, — ihre Weisheit, Gnade und Wunderthätigkeit haben sich an Jemand ganz anderem erwiesen."

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fast schattenlosen Flamme, deren Geheimnis dieser Meister ebensowenig vererbt hat wie die Meister der östlichen Landschaftsmalerei, mit denen ihn so viel verbindet, ohne daß er sie kannte." 56 Wie man allein schon dieser Textprobe entnehmen kann, ist das „neue Stifterbild" 57 , das der Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß — wohl doch schon im Wissen um des Freundes Krankheit zum Tode — hier entworfen hat, den konventionellen Herablassungs- und Verwerfungsklischees vom Kleinmaler, Idylliker, Blumen- und Käferbeschreiber, „Böhmerwalddichter", vom behäbigen Adalbert Stifter, kurz, jenem „förmlichen Rattenkönig von weitverbreiteten Legenden" 58 , zu deren Zerstörung August Sauer genau zwanzig Jahre zuvor aufgerufen hatte, bereits meilenweit entrückt, und dieser entharmlosten Sicht dürfte auch Kafka nicht ferngestanden sein. Der letzte Absatz des Weißschen Essays, gleichsam dessen verewigende Schlußkadenz, ist die Explikation eines längeren Zitats aus dem Schlußkapitel des dritten Studienbandes, der „Mappe meines Urgroßvaters", 59 dieser in jeder Hinsicht wohl größten Landarztgeschichte deutscher Sprache, deren stoffliche und motivische Analogien zu Kafkas Einzeltext „Ein Landarzt" einer eigenen Untersuchung wert wären, welche hier nicht geleistet werden kann. Exemplarisch hingewiesen sei statt dessen auf eine strukturelle Analogie zu einem anderen Text des Bandes „Ein Landarzt", der 239 Worte umfassenden, ebenso vieldeutigen wie vielgedeuteten Parabel „Eine kaiserliche Botschaft", 60 deren meines Wissens jüngste Interpretation letzthin Christoph Bartmann im ersten Band der neuen Folge des Jahrbuchs „brücken" vorgelegt hat. 61 56

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60

61

Ernst Weiß (s. Anm. 49), S. 109 — 110; „welche irdische Speise kann ihn sättigen [...]?" (ebenda, S. 110): diese deutliche Anspielung auf den Schluß des „Hungerkünstlers" (KSE, S. 171: „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt") hat Ernst Weiß wenige Monate später noch einmal aufgegriffen, vgl. Ernst Weiß: Ein Wort zu Wedekinds „Schloß Wetterstein", ebenda, S. 122: „[...] dem bösen Dämon des Unterganges [...], der selbst nach Untergang hungert, und doch diese einzig ihn sättigende Speise nicht finden kann, dem Amerikaner Atakama". S. Anm. 21. S. Anm. 24. SSW, Bd. 2, S. 359: „Seine letzte Heilung ist ein Kind gewesen" bis „wieder etwas holen solle." Vgl. Ernst Weiß (s. Anm. 49), S. 1 1 2 - 1 1 3 (ebenda, S. 113: „soll/e" anstatt „solle"). Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. München und Leipzig, o. J. [Mai 1920], S. 9 0 - 9 4 , vgl. KHB, S. 324 f. Christoph Bartmann: Eine kaiserliche Botschaft. Modalität als Denkspiel. In: brücken. Neue Folge. Germanistisches Jahrbuch 1991/92. Hg. v. Michael Berger und Kurt Krolop. Berlin/Prag/Presov, 1992, S. 1 1 7 - 1 2 1 .

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Was immer dieser Text sonst noch bedeuten kann oder mag, er ist zunächst, wie Bartmann zeigen konnte, eine in ihrem sprachlichen Vollzug sich realisierende Unermeßlichkeitsparabel, Darstellung der Unermeßlichkeit oder, paradox formuliert, der Unendlichkeit einer Distanz, mit deren versuchter Reduktion „nichts gewonnen wäre", wie die märchentonhaft wiederkehrende Formel nachdrücklich versichert. 62 Beglaubigungsfunktion für die Authentizität und Überlieferungstreue des Wortlauts der in ihrem ursprünglichen Zusammenhang als „Sage" 63 angekündigten Parabel übernimmt eingangs das Zitatsignal „so heißt es," was man in freierem Sinne als „so sagt man" oder in buchstäblicherem als „so steht geschrieben" auffassen kann: „Der Kaiser — so heißt es — / hat Dir, dem Einzelnen, dem / jämmerlichen Untertanen, dem / winzig vor der kaiserlichen Son/ ne in die fernste Ferne geflüch- / teten Schatten, gerade Dir hat / der Kaiser von seinem Sterbe- / bett aus eine Botschaft gesendet." 64 Der nie zum Ziel durchdringenden, durch mehrfach rückstauende „Aber"-Sätze zu geringfügigster Unbeträchtlichkeit, ja fast gänzlicher Scheinhaftigkeit reduzierten Bewegung der Botschaft und ihres Boten strebt die Scheinaktivität des scheinadversativ von einer definitiven Vergeblichkeits- und Unmöglichkeitsbeteuerung auch graphisch markant abgehobenen zehnten und letzten Satzes entgegen: „Niemand dringt / hier durch und gar mit der Bot- / schaft eines Toten. — Du aber / sitzt an Deinem Fenster und er- / träumst sie Dir, wenn der Abend / kommt." 65 Prosaparabelschreiber ist auch Stifter gewesen: nicht nur mit weniger bekannten Kurztexten wie „Menschliches Gut", 66 „Der Tod einer Jungfrau" 67 oder „Der späte Pfennig", der die Klassifikation „Eine Parabel" ausdrücklich als Untertitel führt, 68 sondern auch in kontextmotivierten Einschüben in größeren Erzählzusammenhängen, also in ähnlicher Position und Funktion wie Kafkas „Eine kaiserliche Botschaft" im ursprünglichen Kontext der chinesischen Draperie des Fragments „Beim Bau der

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Franz Kafka (s. Anm. 60), S. 93; der hier durch Schrägstriche (/) gekennzeichnete Zeilenumbruch unterstreicht den Parallelbezug: „[...] und gelänge / ihm dies, nichts wäre gewon- / nen; die Treppen hinab müßte / er sich kämpfen; und gelänge / ihm dies, nichts wäre gewon- / nen [...]". K S E , S. 296. Franz Kafka (s. Anm. 60), S. 90. Ebenda, S. 94. SSW, Bd. 13/2, S. 4 9 9 - 5 0 2 . Ebenda, S. 5 1 3 - 5 1 9 . Ebenda, S. 4 8 1 - 4 8 7 .

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chinesischen Mauer." 69 Eine Parabel dieses letzteren Typus, textgenetisch hervorgegangen aus Theodizee-Reflexionen der „Urmappe" („wie groß muß Ziel und Zweck der Allheit sein, daß dieses mein grenzenloses Unglück nur ein Schrittlein der großen Reise ist" 70 ), stellt auch die als Aufzeichnung des Landarztes Augustinus motivierte Parabel vom „Wagen der Welt" dar, die in der zweiten, der „Studien"-Fassung der „Mappe meines Urgroßvaters" (F2) ihre erste Ausgestaltung erfahren hat: „Man sagt, daß der Wagen der Welt auf goldenen Rädern einhergeht. Wenn dadurch Menschen zerdrückt werden, so sagen wir, Das sei ein Unglück; aber Gott schaut gelassen zu, er bleibt in seinen Mantel gehüllt und hebt Deinen Leib nicht weg, weil Du es zuletzt selbst bist, der ihn hingelegt hat; denn er zeigte Dir vom Anfange her die Räder und Du achtetest sie nicht. Deswegen zerlegt auch der Tod das Kunstwerk des Lebens, weil Alles nur ein Hauch ist, und ein Reichtum herrscht an solchen Dingen. — Und groß und schreckhaft herrlich muß das Ziel sein, weil Dein unaussprechbar Wehe, Dein unersättlich großer Schmerz nichts darinnen ist, gar nichts — oder ein winzig Schrittlein vorwärts in der Vollendung der Dinge. Das merke Dir, Augustinus, und denke an das Leben des Obrist. Gedenke daran." 71 Die Umformung dieser Stelle in der Fragment gebliebenen „Letzten Mappe" (F 4 ) weist eine Tendenz nicht nur zu objektivierender und veranschaulichender Erweiterung auf, gleichsam zu enumerativer Reihung von Stationen der „großen Reise" zum „Zweck und Ziel der Allheit", sondern auch zu größerer Kontextunabhängigkeit, verselbständigender Insich-Geschlossenheit, eine Tendenz, der einerseits die einleitende Beglaubigungsformel „Man sagt" geopfert wird, andererseits aber auch die Amplifikation der die — analog zu Kafka — textabschließende adversative Gegenbewegung eines „Du aber"-Schlußsatzes zu verdanken ist: „Das Geschik fahrt in einem goldenen Wagen. Was durch die Räder nieder gedrükt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen Mann ein Felsen fallt oder der Blitz ihn tödtet, und wenn er nun das Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, so wird es ein anderer thun. Wenn ein Volk dahin geht, und zerstreut wird, und das nicht erreichen 69

70 71

Vgl. auch die Stiftersche Version und Nutzanwendung der Evangelien-Parabel vom unfruchtbaren Feigenbaum (Lukas, Kap. 13, 6—9), das in der Urfassung des „Hagestolz" die Erzählung einleitet (SEU, Bd. 2, 277), in den „Studien" sie beschließt (SSW, Bd. 3, S. 396 f.). SEU, Bd. 1, S. 174. SSW, Bd. 2, S. 151.

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kann, was es sonst erreicht hätte, so wird ein anderes Volk Mehreres erreichen. Und wenn ganze Ströme von Völkern dahin gegangen sind, die Unsägliches und Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen, und Unsägliches und Unzähliges tragen und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann das enden wird. Und wenn du deinem Herzen wehe gethan hast, daß es zuket und vergehen will, oder daß es sich ermannt und größer wird, so kümmert sich die Allheit nicht darum, und dränget ihrem Ziele zu, das die Herrlichkeit ist. Du aber hättest es vermeiden können, oder kannst es ändern, und die Änderung wird dir vergolten werden, denn es entsteht nun das Außerordentliche daraus." 72 Bei Stifter wie bei Kafka liegen in Text rahmung und Text bewegung erstaunlich analoge Unendlichkeits- bzw. Unermeßlichkeitsparabeln vor, die sich jedoch — ähnlich wie im Falle des „kleinen Ruinenbewohners" — in der Themendurchführung nicht reduplikatorisch, sondern kontrafaktorisch zueinander verhalten, nicht wechselseitig affirmierend, sondern gegenseitig sich aufhebend. Als Ergebnis der Beschäftigung mit dem, was bei Kafkas Erzähler „vergleichende Völkergeschichte" 73 heißt, realisiert der Stiftersche Textvollzug die von Herder bezogene erhabene Vision eines zielstrebigen Prozesses lebens-, generations-, Völker- und epochentranszendierenden Fortschritts und Forschreitens, dessen Vergeblichkeit, ja Unmöglichkeit die Kafkasche Parabel in ihrem sprachlichen Vollzug „beweglichen Stillstands" gegenläufig zu sinnfälliger Evidenz zu bringen trachtet. 74 Kenner von Geschichte und Entwicklung der Stifter-Philologie werden freilich, selbst wenn sie einzuräumen bereit sind, daß Kafka die „Studien"Fassung der „Mappe" (F 2 ) wohl gelesen haben muß, spätestens an dieser Stelle die berechtigte Frage erheben, wie er denn des Textes der „Letzten Mappe" (F 4 ) hätte habhaft werden können, da diese doch bekanntlich erst 1939 von Franz Hüller (1885—1967) vollständig ediert worden ist. 75 Dar72

73 74 75

SSW, Bd. 12, S. 248—249; bemerkenswert nicht zuletzt die Analogie der „und wieder"-Sequenzen, vgl. Franz Kafka (s. Anm. 60), S. 93: „[...] und wieder Treppen und / Höfe; und wieder ein Palast; / und so weiter durch Jahrtau- / sende;". K S E , S. 294. Vgl. Anm. 61. SSW, Bd. 12; eine 1 8 6 4 von Stifter begonnene „Dritte Fassung" (F3) wurde erst 1987 nach der Handschrift ediert, vgl. Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Faksimileausgabe der Dritten Fassung. Transkription von Alois Hofman. Faksimile-, Transkriptions- und K o m mentarband. = Manu scripta. Band 3. Faksimileausgaben literarischer Handschriften. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. — Der Passus vom „goldenen Wagen" (Transskription, S. 191 f) stellt eine Vorform von F 4 dar.

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auf ließe sich antworten: zwar ist eine vollständige Ausgabe der „Letzten Mappe" tatsächlich erst fünfzehn Jahre nach Kafkas Tod vorgelegt worden, doch hatte Stifters Freund und Kollege Johannes Aprent (1823 — 1893) bereits 1870 im ersten Band seiner Nachlaßedition „Vermischte Schriften von Adalbert Stifter" unter dem Titel „Die Mappe meines Urgroßvaters. Bruchstücke aus einem unvollendet gebliebenen Werke" wesentliche Partien der letzten Fassung veröffentlicht, darunter auch die wortgetreu wiedergegebene, nur orthographisch leicht normalisierte endgültige Version der erörterten Stelle vom „goldenen Wagen" der Welt bzw. des Geschicks. 76 Diese Ausgabe war und ist sowohl in der Prager Universitätsbibliothek als auch in der Bibliothek von August Sauers Deutschem Seminar gleich mehrfach vorhanden und dürfte infolgedessen vor 1919 sogar noch leichter beschaffbar gewesen sein als die vollständige Originalausgabe des „Nachsommer". Bedenkt man, daß das, was Kafka seine „Gier nach Büchern" 77 genannt hat, vornehmlich auf autobiographische oder autobiographisch stilisierte Texte gerichtet war und dabei oft Titel entlegenster Art erfaßte, 78 dann wird einem eine Kenntnisnahme der Aprentschen Edition durch den Stifter-Leser Kafka gar nicht mehr so besonders unwahrscheinlich vorkommen. An dieser Stelle möchte ich abbrechen, um zu den eingangs zitierten Stifter/Kafka-Analogien Otto Picks zurückzulenken. Kafkas letztes Lebensjahrfünft ist zugleich das erste Lustrum einer nicht zuletzt durch Hermann Bahrs Entdeckungsschrift ausgelösten, überaus intensiven Stifter-Renaissance gewesen. 79 Max Brod hat einmal mit der ihm oft eigenen Hyperbolik unter den deutschböhmischen Dichtern, die „unendlichen Einfluß auf uns, den Prager Kreis, hatten", 80 Adalbert Stifter an vorderster Stelle genannt; bei näherem Zusehen wird man das — abgesehen von Rilke und einigen Namen der ihm zugeordneten „Halbgeneration" 81 wie Oskar Wiener, Ottokar Winicky, Hedda Sauer — wohl im buchstäblichen 76 77

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79

80 81

Pest, 1870, S. 125. Franz Kafka: Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922 — 1924. Hg. v. Josef Cermák und Martin Svatos. Praha, 1990, S. 32 (Faksimile), S. 33 (Transkription; Kafka an Elli Hermann, 2 6 . - 2 7 . Juli 1922). So etwa die von mir als Bezugstext identifizierten Aufzeichnungen „Erdmuthes", vgl. Franz Kafka: Briefe an Feiice. Hg. v. Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt am Main, 1967, S. 665, 671, 676, 718 f., 725. Vgl. Anm. 16 und die ausführliche Darstellung der Rezeptionsgeschichte durch Franz Hüller in SSW, Bd. 9, S. C X I - C L X V I . Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1966, S. 64. Ebenda, S. 73.

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Sinne nur bei denjenigen Autoren bestätigt finden können, deren Formierungsjahre in eben jenes Lustrum der Stifter-Renaissance gefallen sind oder diese bereits zur Voraussetzung hatten, also etwa bei Johannes Urzidil, Josef Paul Hodin oder H. G. Adler. Auch in dieser Hinsicht ist unter seinen Generationsgenossen Kafka mit seinem Interesse für Stifter eher die Ausnahme als die Regel gewesen; denn daß gerade für Max Brod Adalbert Stifter von „unendlichem Einfluß" gewesen sei, wird sich beim besten Willen nicht erweisen lassen; wie für das Thema Karl Kraus, so dürfte auch für das Thema Adalbert Stifter Max Brod nicht der bevorzugte Gesprächspartner Kafkas gewesen sein: eher schon, wie bereits angedeutet, Ernst Weiß. Hält man Um- und Ausschau nach konkreten Spuren Stifterscher Prosafaktur in Kafkas Spätwerk, so wird man sie vor allem in der 1922 erfolgten Niederschrift des „Schloß"-Fragments zu suchen haben und dort auch am deutlichsten finden können, besonders in der Dialogführung der Anfangspartien, und zwar sowohl in den — wie schon im „Prozeß"-Text — weder durch Sozial- noch durch Regionalbedingtheit vollständig erklärbaren Einbrüchen des „Ihrzens" in die Anrede als auch im sprachgestischen Duktus von Wechselreden wie: ,,,Geh!' sagte K., ,Du hältst jeden für mächtig. Mich etwa auch?' ,Dich', sagte er [der Wirt, K. K.] halte ich nicht für mächtig.'" 8 2 Oder, einige Seiten weiter: „,Wer seid Ihr? Wem habe ich für den Aufenthalt zu danken?' ,Ich bin der Gerbermeister Lasemann', war die Antwort, ,zu danken habt Ihr aber niemandem.'" 8 3 Diesen Typus von Wechselrede, einerseits der bereits 1903 von Richard M. Meyer am „Nachsommer" beschriebenen, einfache Ja- oder NeinRepliken vermeidenden sogenannten „lateinischen Antworten" 84 , andererseits eines gewissermaßen akribischen Lakonismus im Dialog, wird man in deutscher Erzählprosa nach dem „Witiko" tatsächlich so leicht nicht wiederfinden. Jürgen Born hat gestern von der kulturübergreifenden Wirkungsmacht der Kafkaschen Bilder gesprochen, 85 zu deren Charakteristik der unabweisliche Eindruck verzwickter Sinnfälligkeit oder sinnfälliger Verzwicktheit gehört. Eines davon ist dem Verhältnis des Schaffenden zum Vorgeschaffenen gewidmet: „Die Höhlung, welche das geniale Werk in das uns 82 83 84

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K K A S T , S. 16. Ebenda, S. 26. Vgl. Richard M. Meyer: Adalbert Stifters Nachsommer. In: Die Zeit, Nr. 436 und 4 3 7 / X X X 1 V (1903), 31. I. und 7. II. 1903; dazu Julius Kühn: Die Kunst Adalbert Stifters. 2. Aufl. 1943, S. 237 und 335. Vgl. S. 8 dieses Bandes.

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Umgebende gebrannt hat, ist ein guter Platz, um sein kleines Licht hineinzustellen. Daher die Anfeuerung, die vom Genialen ausgeht, die allgemeine Anfeuerung, die nicht nur zur Nachahmung treibt." 86 In diesem Sinne will auch die hier versuchte Beschreibung der Leuchtkraft verstanden sein, die, um noch einmal mit Ernst Weiß zu sprechen, von der „milden, fast schattenlosen Flamme" des Stifterschen Werks für das ausgegangen ist, was Kafka mit seiner uns so vertrauten subversiven Untertreibungssucht „sein kleines Licht" genannt hat.

Sigelliste KB KKAN/IIA

KKAST KKATA

KKATK KKATT KHB

KKR

86

Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Hg. von Max Brod. New York, 1958. Franz Kafka: Kritische Ausgabe der Schriften, Tagebücher und Briefe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. — Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main, 1992. dass.: Das Schloß. Hg. v. Malcolm Pasley. Textband. Frankfurt am Main, 1982. dass.: Tagebücher. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Apparatband. Frankfurt am Main, 1990. dass.: Kommentarband. Frankfurt am Main, 1990. dass.: Textband. Frankfurt am Main, 1990. Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. v. Hartmund Binder. Stuttgart, 1979. Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912—1924. Hg. v. Jürgen Born unter Mitwirkung von Herbert Mühlfeit und Friedemann Spicker. Frankfurt am Main, 1979; Bd. 2: Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924—1938. Hg. v. Jürgen Born unter Mitwirkung von Elke Koch, Herbert Mühlfeit und Mercedes Treckmann. Frankfurt am Main, 1983.

KKATT, S. 438 (15. September 1912).

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KBM

KSE NKSA

PP SEU SSW ÜFK

Kurt Krolop

Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt am Main, 1983. Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Paul Raabe. 7 5 3 - 7 7 7 . Tausend. Frankfurt am Main, 1990. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980. Prager Presse. Prag, 1921 ff. Adalbert Stifter: Erzählungen in der Urfassung. Hg. v. Max Stefl. 3 Bde. Augsburg, 1952/1953. Adalbert Stifters Sämtliche Werke. „Prag-Reichenberger Ausgabe". Prag, 1901 [recte: 1902] ff. Max Brod: Über Franz Kafka. 4 1 . - 4 2 . Tausend. Frankfurt am Main, 1989.

Jorgen Egebak Die fiktive Wahrheit des Traums Strategien in Fran2 Kafkas ,Durchbruchstexten'

I. Die folgende Studie versteht sich als eine Annäherung an die Frage, was zum sogenannten ,Durchbruch' Kafkas im Herbst 1912 führte. „Das Urteil", „Die Verwandlung" und das erste Kapitel des Romanfragments „Der Verschollene", „Der Heizer", werden in der Kafkaforschung häufig unabhängig von einander gedeutet. Zwischen diesen Texten besteht aber, schreibt Kafka, ,eine offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung'. 1 Meine Überlegungen gelten der hier angedeuteten geheimen Verbindung. Meine Deutung bezieht sich auf zwei Texte: eine kurze Passage aus dem „Heizer", die ,im gewissen Sinne' den Hafen in New York zum Thema hat, und die Tagebucheintragung eines Traumes, der sich an einem Ort abspielt, der, ,im gewissen Sinne', der Hafen von New York ist. Im Roman heißt es: Inzwischen gieng vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von Fäßern, die wunderbar verstaut sein mußten, daß sie nicht ins Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit, kleine Motorboote, die Karl jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte ansehen können, rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper tauchten hie und da selbständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärtsgerudert und waren voll von Passagieren, die darin, so wie man sie hineingezwängt hatte still und erwartungsvoll saßen, wenn es auch manche nicht unterlassen konnten die Köpfe nach den wechselnden Scenerien zu drehn. Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke. 2 1 2

Brief an Kurt Wolff 11. 4. 1913. In: Franz Kafka: Briefe 1902-1024. Hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main, 1958, S. 116. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Der Verschollene. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main, 1983, verkürzt KKAVI, hier S. 26 f.

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Und im Tagebuch: Ein Traum: Ich befand mich auf einer aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge. Irgendjemand oder mehrere Leute waren mit mir, aber das Bewußtsein meiner selbst war so stark, daß ich von ihnen kaum mehr wußte, als daß ich zu ihnen sprach. Erinnerlich sind mir nur die erhobenen Knie eines neben mir Sitzenden. Ich wußte zuerst nicht eigentlich wo ich war, erst als ich mich einmal zufallig erhob, sah ich links vor mir und rechts neben mir, das weite klar umschriebene Meer mit vielen reihenweise aufgestellten, fest verankerten Kriegschiffen. Rechts sah man Newyork, wir waren im Hafen von Newyork. Der Himmel war grau aber gleichmäßig hell. Ich drehte mich frei, der Luft von allen Seiten ausgesetzt auf meinem Platze hin und her, um alles sehen zu können. Gegen Newyork zu, gieng der Blick ein wenig in die Tiefe, gegen das Meer zu gient er empor. Nun bemerkte ich auch, daß das Meer neben uns hohe Wellen schlug und ein ungeheuerer fremdländischer Verkehr sich auf ihm abwickelte. In Erinnerung ist mir nur, daß statt unserer Flöße lange Stämme zu einem riesigen runden Bündel zusammengeschnürt waren, das in der Fahrt immer wieder mit der Schnittfläche je nach der Höhe der Wellen mehr oder weniger auftauchte und dabei auch noch der Länge nach sich in dem Wasser wälzte. Ich setzte mich, zog die Füße an mich, zuckte vor Vergnügen, grub mich vor Behagen förmlich in dem Boden ein und sagte: Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard. 3 Die Notiz im Tagebuch könnte man als eine Präfiguration des Romanabschnittes auffassen. 4 Die Eintragung im Tagebuch ist jedoch auch ein auf zwei Seiten beschriebenes Papier, auf welchem sich die eine Seite auf Kafkas Produktion im Herbst 1912, die andere jedoch auf die frühere Produktion, bezieht. Folgendes von Bedeutung geschieht durch die Verbindung von Traumnotiz und Romanabschnitt: Das schreibende Ich wird vom geschriebenen Ich getrennt. Die Beziehung zwischen diesen Instanzen ist im früheren Teil von Kafkas Texten, vor allem „Beschreibung eines Kampfes" und „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" 5 ganz anders. Es geschieht außerdem eine Trennung zwischen dem schreibenden und dem empirischen Ich, dem Verfasser Kafka während des Schreibens, und einem Kafka, der nicht schreibt. Diese Trennung ist gleichzeitig ein Konflikt. Als Lebensprojekt ist der Prozeß des Schreibens zum Scheitern verurteilt, im Falle Kafkas aber auch dazu, immer wieder neu erprobt zu werden. 3

4 5

Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller. Malcolm Pasley. Frankfurt am Main, 1990, verkürzt Κ ΚΑΤΙ, hier S. 436 f.; 11. 9. 1912. Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. München, 1976, S. 92. Diese Texte werden aber in diesem Aufsatz nicht sehr eingehend berücksichtigt.

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II. Der Romanabschnitt kann auf mindestens drei verschiedene Weisen gedeutet werden. Die beiden ersten Deutungen können überzeugend eindeutig dargelegt werden, während die Dritte prinzipiell nicht abschließbar ist. Karl Rossmann, in der kritischen Ausgabe 17 Jahre alt, ist aus Europa im Hafen von New York angekommen. Seine Eltern haben ihn verstoßen, weil er mit der Köchin der Familie, die ihn verführte, ein Kind bekommen hat. Jetzt befindet er sich in der Kapitänskajüte in der Absicht, dem Heizer sein Recht zu verschaffen. Kurz die erste Deutung: Der Textabschnitt ist von selten einer autoritativen Erzählerinstanz sehr symbolgeladen, w o g e g e n der Erzähler sonst meistens in Karls Pupillen verschwindet. Die Darstellung des Hafenlebens zeigt, was sich dort abspielt, während Karl sich der Sache des Heizers annimmt, im Text durch das Wort .Inzwischen' markiert. Er hat keine Zeit, aus dem Fenster zu gucken: ,wenn er Zeit gehabt hätte', lautet die Aussage. Es muß also eine Erzählerstimme sein, die das Folgende außerhalb von Karls Bewußtsein darstellt: Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke. Aus diesem Satz geht eindeutig hervor, daß es nicht um Karls eigene Rezeption und Reflexion darüber geht, was außerhalb der Kajüte registriert wird, abgesehen davon, daß er die Dunkelheit in der Kajüte bemerkt, wenn das Schiff vorbeifährt. Das übrige Hafenleben, das hier beschrieben wird, sieht er nicht, denn er ist in seiner Naivität vom Bedürfnis nach Gerechtigkeit, von seinem Einsatz für den Heizer gepackt, der, wie auch er selbst, verstoßen und unterdrückt ist. Die Kapitänskajüte ist der Ort der Rationalität. Er ist sowohl von den Gerechtigkeitsbestrebungen als auch von der symbolischen Bedeutung des letzten Satzes im Abschnitt weit entfernt. Die Satzaussage hat einen allgemeinen Charakter und kann symbolisch auf zweierlei Weisen verstanden werden, die möglicherweise miteinander verbunden sind. Erstens: Der Verkehr ist den ökonomischen Gesetzen unterworfen. Der Mensch ist nicht Herr seiner Arbeitswelt. Die Passagiere werden wie Stückgüter behandelt. Hilflos sind sie der Arbeitswelt ausgeliefert, eben wie Menschen in der archaischen Vorzeit den elementaren Naturkräften ausgesetzt waren. 6 Zweitens: Menschen stehen Naturkräften und auch gesellschaft6

Vgl. Wilhelm Emrich: Franz Kafka. Frankfurt am Main/Bonn, 1965, S. 227 f.

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liehen Kräften, die einen solchen Charakter angenommen haben, daß sie nicht von den Menschen beherrscht werden können, hilflos gegenüber. Eine solche Interpretation signalisiert, daß Karls naive Bestrebungen im ganzen Roman umsonst sind. Dieser Auslegung steht eine zweite Deutung gegenüber. Karl projiziert seine eigenen Gedanken auf den Heizer. Er hat ein falsches, unreflektiertes Vertrauen darin, dessen Innerstes sehen zu können. Er ist naiv. Das Erzählte wird immer durch Karls Bewußtsein gebrochen. Die augenscheinliche Objektivität ist das Produkt eines extremen Subjektivismus. Dieser Textabschnitt ist durch Karls Subjektivität verzerrt. Er hat deshalb keine besondere, symbolische Autorität. Die Frage, wie es sich „in Wirklichkeit" verhält, unabhängig von der Vermittlung der Perspektivfigur, kann nicht beantwortet werden, und sie ist deshalb kein legitimer Gegenstand der Deutung. 7 Wenn im letzten Satz des Abschnittes von hilfslosen Menschen die Rede ist, ist dies dadurch motiviert, daß Karl merkte, wie der Heizer gerade seiner Sache schadete. Immer wieder verfallt Karl dem Drang, das Äußere als ein Abbild des Inneren zu verstehen. Er fragt immer wieder nach der Bedeutung des Sichtbaren. Der letzte Satz geht also ganz und gar auf Karls Rechnung. Die dritte Deutung ist nicht imstande, mit derselben Art von Überzeugung wie die vorigen zu sprechen: die des Entweder—Oder. Zu der ersten und der zweiten Deutung fügt sich die Dritte: Ihr habt beide recht, aber Ihr irrt Euch auch beide. Es geht nicht um das Eine oder das Andere, sondern gleichzeitig um beide Möglichkeiten. Wir können nicht die präzise Bedeutung der Aussage ,wenn er Zeit gehabt hätte' bestimmen, ihren erzählerischen Status festlegen. Sie könnte sowohl die Aussage des Erzählers sein, als auch Karls eigener Gedanke. Wenn sie eine Aussage des Erzählers sein sollte, dann würde sie die symbolische Deutung des letzten Satzes im Abschnitt unterstreichen. Wenn sie aber Karls Gedanke sein sollte, könnte man nicht abweisen, daß er doch ab und zu aus dem Fenster schaut. Wir müssen beide Möglichkeiten offenhalten. Dann sieht man ein zweideutiges Verhältnis zwischen Realistischem, nämlich dem psychologischen Porträt Karl Rossmanns, und Metaphysischem, nämlich in der Bedeutung von allgemeinen, überindividuellen Bedingungen zivilisatorischer und natürlicher Art, wie sie in diesem Roman dargestellt werden. 8 7

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Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten. Bad Homburg v. d. H., 1970, S. 47. Dieses könnte vielleicht als eine Bewegung im Verhältnis zwischen der Metapher

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III. Die bisher ausgeführte Interpretation gibt obendrein eine Perspektive, mit der komplizierte Spiegelungen zwischen dem Subjekt und der Umwelt in den frühen Text verglichen werden können. Einige der frühen Hauptfiguren leiden nämlich an frustrierten metaphysischen Sehnsüchten. Die Doppeldeutigkeit von „Realismus" und „Metaphysik" ermöglicht Kafka zwar nicht eine endgültige Lösung, aber wohl eine Handhabung des Problems, das früher eine Hemmung seiner literarischen Produktivität ausmachte: seine Neigung zur Identifikation mit seinen Hauptfiguren. 9 Ein Problem, das ich eine ,neuromantische' Identifikation nennen möchte. Zunächst seien jedoch einige Perspektiven aufgezeigt, die sich bei der Interpretation im Roman, „Der Verschollene", ergeben. Auch andere Textabschnitte des Romans haben eine entsprechende, unentschiedene Doppeldeutigkeit, obwohl die Beispiele deutlich machen, daß Karl tatsächlich das perzipiert, was dargestellt wird. Das gilt ζ. B. in dem ausführlichen flashback, der Erinnerung an die Verführungsszene mit der Köchin: „Karl, o Du mein Karl", rief sie, als sehe sie ihn und bestätige sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl K o p f und Hals aus den Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. 1 0

Hier ist die überwältigende weibliche Sexualität, durch die weibliche Schlauheit vermittelt, wie eine Naturkraft, die den unerfahrenen Karl verschluckt. Die anscheinend züchtige Darstellung der Kopulation, ,ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst', ist selbstverständlich ein Ausdruck

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und der Metonymie aufgefaßt werden; vgl. Jorgen Egebak: ,quer durch die Worte kommen Reste von Licht'. Über Kafkas modernistische Metaphorik. In: Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ,Der Process'. Würzburg, 1992, besonders S. 1 7 2 - 7 8 . Ein Problem, dessen Erörterung nicht hier gemacht werden soll; vgl. aber Marthe Robert: Einsam wie Kafka. Frankfurt am Main, 1985, S. 41 ff., 135 ff. K K A V I , S. 42 f.

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der naiven Auffassung der Situation von selten Karls, zeigt aber auch die Natur, hier von der Köchin repräsentiert, die sich destruktiv gegen ihn richtet. Tatsächlich ist dieser Vorgang auf dem sexuellen Gebiet eine Wiederholung der destruktiven Subjekt-Umwelt-Beziehungen in der „Beschreibung eines Kampfes", aber auch eine Parallele zur symbolischen Bedeutung des letzten Satzes im Romanabschnitt über das Leben im Hafen von New York. Gleichzeitig aber ergänzt er das psychologische Porträt Karl Rossmanns. Ein anderes Beispiel ist die New Yorker Straße, die Karl vom hochgelegenen Balkon des Wolkenkratzers seines Onkels sehen kann: Und morgen wie abend und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfangen ineinandergestreute Mischung v o n verzerrten menschlichen Figuren und v o n Dächern der Fuhrwerke aller A r t darstellte, von der aus sich noch eine neue vervielfältigte wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen v o n einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut, fortgetragen und immer wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen."

In dieser Romanpassage mit ihrer bemerkenswerten syntaktischen Akzeleration gibt es auch mehrere andere Relationen, die man bemerken sollte. Die vertikale Dimension, oben und unten, die Benutzung der Sinne, das Sehen, Hören, Riechen, die ständig neue Verwirrung und zunehmende Wildheit im Unterschied zum Licht, das ein mächtiges, agierendes Subjekt impliziert, das aber dennoch immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut und fortgetragen wird. Die Metapher, die Glasscheibe, die das Chaos überdeckt und die dagegen schützt, aber auch immer wieder zerschlagen wird, zeigt, daß die Vorstellung beschützt zu sein, illusorisch ist. Karl perzipiert die Szenerie. Der Textabschnitt scheint aber auch auf die Lichtmetaphorik hinzuweisen, die im „Process" entfaltet wird. Die metaphysische Bedeutung kann jedoch weder im „Verschollenen", noch im „Process" festgehalten werden. Nach meiner Auffassung wäre es keine Überinterpretation, die sexuellen Bedeutungen des Ausdruckes ,ein immer drängender Verkehr' heranzuziehen. ,Verkehr' hat in der hiermit verbundenen Traumeintragung ein am-

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K K A V I , S. 55.

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bivalentes Bedeutungspotential. Das drohende Bombardement der Sinneseindrücke ist wohl auch eine sexuelle Drohung. Ein letztes Beispiel aus dem „Verschollenen" unter diesem Gesichtswinkel der Doppeldeutigkeit des Hafenabschnittes ist die Straßenszenerie. Auch diese betrachtet Karl von oben. Hier findet ein amerikanischer Wahlkampf statt. Man soll wissen, daß der Kandidat auf den Schultern eines anderen Mannes getragen wird: Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am andern, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich scheinbar ohne Widerstand die Gasse auf und abwärts treiben, der Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er sein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief [...]. 1 2

Hier gibt es mehrere Hinweise zur Darstellung des Hafenlebens: Die Hilflosigkeit des Kandidaten, daß er und sein Träger der Gefahr des ,Menschenmeeres' ausgesetzt sind: ,Die Menge flutete'. In der Menschenmenge steht keiner mehr aufrecht, im Unterschied zu den Steuermännern der kleinen Motorboote im Hafenabschnitt, die ,nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes schnurgerade dahin' fahren. Ob Meer, ob weibliche Sexualität oder Menschenmenge, in allen Fällen zeigt die Situation im Roman unter diesem Gesichtswinkel die Hilflosigkeit dessen, der diesen Kräften ausgesetzt ist. Aber der Allgemeingültigkeit dieser Aussagen steht entgegen, daß sie gleichzeitig Karls Gemütszustand ausdrücken. Als Interpret darf man sich nicht auf eine Möglichkeit festlegen und «die andere aus dem Blickfeld lassen. Es gibt jedoch eine augenfällige Ausnahme davon, daß die Romanfiguren hilflos sind. 13 Kafka scheint eine kleine Signatur im Text vom Hafenleben hinterlassen zu haben: den Steuermann. Es fallt jedenfalls auf, daß der Steuermann sein Boot mit .Zuckungen der Hände' lenkt, wie der Schreibende die Feder. Diese metaphorische Deutung weist auch auf das hin, was Karl eben nicht tut: Er schreibt nicht. Es wird hier eine Trennung der Hauptfigur des Romans vom Verfasser vorgenommen, eine Trennung der Figur, über die geschrieben wird, von dem, der über sie schreibt.

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K K A V I , S. 333. Ich berücksichtige hier nicht die Figuren, die sich mit Schwindel und Machtentfaltung durchschlagen.

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IV. Jetzt stellt sich folgende Frage: Wie verhält sich die Traumeintragung als Präfiguration zum Romanabschnitt? Es ist dieselbe Lokalität, Hafen von New York, genannt. Im Romanabschnitt werden die Bewegungen der Schiffe dargestellt. In der Traumnotiz wird das Wort .Verkehr' direkt verwendet. Dieses Wort bedeutet ,Land-, Wasser- oder Luftverkehr', .Kommunikation', aber auch ,Geschlechtsverkehr'. Die eigentümlichen, schamhaften Schwimmkörper im Romanabschnitt stehen für die offenbar phallischen Baumstämme in der Traumnotiz. Beide Texte zeigen dieselben gewaltsamen und eigentlich unbeherrschbaren Kräfte. Die physischen Positionen Karls und die des traumaufzeichnenden Kafka sind unterschiedlich. Auch ihre Gemütszustände unterscheiden sich. Den entscheidenden Unterschied finde ich im Verhältnis zwischen den hilflosen Menschen im Romanabschnitt — den Steuermann ausgenommen — und dem Behagen des traumnotierenden Kafka. Der Gemütszustand hat mit seiner Position im Traum zu tun: Zuerst sitzt er und spricht, dann erhebt er sich und schaut, und dann setzt er sich wieder: .Ich setzte mich, zog die Füße an mich', genau wie man sich an den Schreibtisch setzt und die Füße an sich zieht. Kafkas Selbstbewußtsein ist nämlich dadurch fundiert, daß er am Schreibtisch sitzt, wenn er den Traum im Tagebuch niederschreibt. Im Traum befindet sich Kafka auf einer Landzunge, von Menschenhänden aus Quadern gebaut; das bedeutet wohl rechtwinklig und flach wie Papier. Er gräbt sich zuletzt in der Notiz vor Behagen förmlich in den Boden ein, wie man die Feder ins Papier gräbt, wenn man schreibt, was er ja während der Aufzeichnung des Traums tut. Die Verbindung zwischen der festen Grundlage und dem Schreiben findet man übrigens schon früher als in diesem Traum. Im Tagebuch schreibt Kafka am 9. 5. 1912: Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem Roman festhalte, ganz wie eine Denkmalsfigur, die in die Ferne schaut und sich am Block festhält. 14

Und im Tagebuch heißt es am 6. 6. 1912: Jetzt lese ich in Flauberts Briefen: Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge und ich weiß nichts von dem was in der Welt vorgeht. — Ähnlich wie ich es für mich am 9. V. eingetragen habe. 15 14 15

K K A T I , S. 421. K K A T I , S. 425.

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Das Schreiben, die Herstellung eines schreibenden Ichs, das nicht mit dem geschriebenen Ich identisch ist, scheint mir Kafka gegen die gewaltsamen Kräfte, auch die sexueller Art, zu schützen. Der Verkehr auf dem Pariser Boulevard ist ebensowenig harmlos wie der Verkehr im Hafen von New York. Er hat in der Traumnotiz keinen drohenden Charakter, ist aber ,interessant'. 16 Die Herstellung des Unterschiedes zwischen dem schreibenden und dem geschriebenen Ich findet jedoch nicht in der Traumnotiz statt, sondern in der Verbindung zwischen der Traumnotiz und dem Romanabschnitt. Durch diese Verbindung wird auch der Unterschied zwischen dem Schreibenden und dem Nicht-Schreibenden hergestellt. Das Selbstbewußtsein und das Behagen im Traum ist mit dem Schreiben deutlich verbunden, während die Hilfslosigkeit im Romanabschnitt mit dem Nicht-Schreiben zusammenhängt, analog dem Wohlfühlen Kafkas beim Schreiben. Es geht ihm schlecht, wenn er nicht schreiben kann. Das Schreiben bedeutet eine Möglichkeit, die Situation zu bewältigen. Diese Möglichkeit ist aber auch gleichzeitig problematisch. Das Körperliche, welches in der Traumnotiz von dem Meer-Symbol und den phallischen Baumstämmen ausgedrückt wird, verbindet sich mit dem Schreibprozeß, so ganz explizit im Kommentar nachdem er in der Nacht vom 2 2 . - 2 3 . 9. 1912 in einem Zug „Das Urteil" geschrieben hat: ,Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. [...] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.' 17 Und vielleicht noch eindringlicher am 1.2. 1912: [...] die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen.' 18 In diesen Zusammenhang gehört aber auch, daß er, wenn er im August 1913 nochmals „Das Urteil" kommentiert, das Folgende schreibt: Folgerungen aus dem ,Urteil' für meinen Fall. Ich verdanke die Geschichte auf Umwegen ihr. Georg geht aber an der Braut zugrunde. Um unmittelbar danach, am selben Tag, fortzusetzen: ,Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins. Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Jungge16

17 18

Wie bekannt endet „Das Urteil" mit folgendem Satz: ,In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.' (Franz Kafka: Erzählungen. Hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main, 1986, S. 53). Kafka erzählt Max Brod, daß er dabei an eine heftige Ejakulation gedacht hat (Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt am Main, 1966, S. 114). Κ Κ Α Τ Ι , S. 460 f. Κ Κ Α Τ Ι , S. 491.

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selle, das ist die einzige Möglichkeit f ü r mich, die Ehe zu ertragen. Aber sie?' 19

Die Verbindung des Körperlichen mit dem Schreibprozeß ist gleichbedeutend mit einer Distanz zur körperlichen Nähe. Das Schreiben ersetzt die körperliche Nähe — oder sollte es tun. Der hohen Einschätzung der Sprache entspricht eine Geringschätzung des Körpers. Man könnte sogar von einer literarischen Transsubstantiation des Körpers sprechen. 20 Der Versuch, einen künstlichen Raum der Selbst-Referenz zu schaffen, bedeutet die Möglichkeit einer Suspension der Probleme, mit denen die Figuren der frühen Texte kämpfen, der destruktiven Verhältnisse zu Objekt und Umwelt. Eine entsprechende Funktion scheint mir Kafkas Verbindung mit Feiice Bauer zu haben, weil sie nur in der Form des Briefwechsels funktioniert. Kafkas Briefe an Feiice sind wohl Abguß einiger der narzißtischen Projektionen, die auf die frühen Hauptfiguren zerstörend wirken, und wohlgemerkt auf Kafka, insofern er sich mit ihnen identifiziert. 2 ' Der Briefwechsel ist eine Art Fiktion, die der Unterscheidung zwischen Kafka und den geschriebenen Hauptfiguren dienen kann. Seine Briefe tragen wenigstens einige der Projektionen, die damit von den sogenannten ,Durchbruchstexten' getrennt werden können. Es ist aber unstreitig eine prekäre Balance, da sie ja trotzdem auch den empirischen Kafka einbeziehen, ganz zu schweigen von Feiice. Der Brief ist wohl das einzige sprachliche Verfahren, das Problem zu bewältigen. Im Brief kann man sowohl allein sein, als auch kommunizieren. Hier wird es versucht, die Regel der Kommunikation zu beherrschen, den Abstand zwischen dem ,Ich' und dem ,Du' zu regulieren. Der Brief kann sich zwischen den beiden Extremen, der totalen Zusammenschmelzung und der totalen Selbst-Behauptung, halten. Der Brief kann als eine literarische Maschine aufgefaßt werden, die den Abstand zwischen ,Ich' und ,Du' setzt. Der Brief als Kommunikationsform erfindet sozusagen den Kommunikationspartner. Der Brief ist eine Art Fiktion, die sich im Raum der Selbst-Referenz abspielt. So gesehen ist der Brief auch ein Protest 19 20

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K K A T I , S. 574 f. Detlef Kremer: Die Identität der Schrift. Flaubert und Kafka. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1989, Bd. LXIII, Hft. 3, S. 561; vgl. auch Detlef Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens. Schreiben als Lebensentzug. Frankfurt am Main, 1989. Die Identifikation Kafkas mit seinen frühen Hauptfiguren sollte eingehend erörtert werden. Hier begnüge ich mich jedoch damit zu nennen, daß diese eben eine Pointe bei Marthe Robert ist, vgl. ihr Buch Einsam wie Franz Kafka. Frankfurt am Main, 1985.

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gegen die allerdings notwendige Sozialisation durch die Sprache. Der Brief schwebt zwischen zwei Unmöglichkeiten in einer Gesellschaft mit einer zwanghaften, ritualisierten Sprache: sich selbst durch die eigene Sprache zu schaffen, gegenüber der Selbstbildung durch die Sprachausübung anderer Menschen. 22 Möglicherweise kann der Briefwechsel mit Feiice als eine sprachliche Schutzstelle gegenüber der Kafkaschen Familie aufgefaßt werden. Desto schlimmer wird es, wenn Kafkas Mutter sich einmischt und an Feiice schreibt. Ein derartiger Briefwechsel ist zwar mehr als der eine Partner, jedoch auch weniger als die zwei. Deshalb wird die konkrete, physische Begegnung der Briefpartner eine Drohung gegen den Briefwechsel als Fiktion.

V. Kafkas literarische Produktion vom September 1912 bis zum Januar 1913, sein Bewußtsein als Schriftsteller, ist unzweifelhaft eng mit der Begegnung mit Feiice Bauer am 13. 8. 1912 verbunden, vor allem aber mit dem Briefwechsel mit ihr. Es geht hier nicht darum, was sie als selbständiges Subjekt bedeuten könnte, sondern vielmehr um die Bedeutung als Objekt, die Kafka ihr zuschreiben könnte. Den Schwierigkeiten, die die Hauptfiguren der frühen Texte in der anziehenden und drohenden Umwelt erleben, suchte Kafka durch den Briefwechsel zu entgehen, indem er Feiice zugleich festhalten und den Abstand zu ihr wahren wollte. Feiice war nicht nur notwendig, sie repräsentierte auch ein drohendes Zuviel. Der Traum, vom Hafen in New York, der wahrscheinlich Kafka die Einsicht ermittelte, was das Schreiben als Schutz gegen Unruhe, unter gewissen Bedingungen, bedeuten könnte, wurde am 11.9. 1912 niedergeschrieben. Er schreibt das erste Mal an Feiice am 20. 9. Am selben Tag schreibt er einen gemeinsamen Brief an Max Brod und an Felix Weltsch, verheimlicht aber seine erotische Situation hinter der Information, daß seine Schwester jetzt verlobt ist, genau wie Georg Bendemann im „Urteil" in seinen Briefen an den Freund in St. Petersburg nicht von seiner eigenen, nur von der Verlobung zufalliger Bekannter schreibt. 23 In der Nacht 22

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Gerhard Neumann: Franz Kafka: Das Urteil. Text, Materialien, Kommentar. München/Wien, 1981, S. 81, 151 f. Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main, 1989, S. 113 f.

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zwischen dem 22. und 23. 9. 1912 schreibt Kafka „Das Urteil". Wenige Tage später fangt er an, den „Heizer" zu schreiben, den Text, woran der Hafentraum sich knüpft, vermutlich an dem Tag, 28. 9., an dem er die erste Antwort Felices bekommt. 24 Im November unterbricht er die Arbeit am „Verschollenen", um „Die Verwandlung" zu beginnen. Warum? Es hat wohl mit dem Verhältnis zu Feiice zu tun, die nicht so viele Briefe schreibt wie er, also nicht ganz der erfundenen Briefpartnerin entspricht. Es hat wohl auch damit zu tun, daß Kafkas Familie, vor allem die Mutter, einbezogen wird, der Briefwechsel also als Fiktion gefährdet wird. Am 6.11. teilt Kafka Feiice seine Privatadresse mit, während sie vorher ihre Briefe an das Büro schicken mußte. Am 11. 11. nennt er sie zum ersten Mal ,Du'. Am 15. 11. hat er Bedenken und sehnt sich nach der Zeit zurück, wo er ihre Briefe im Büro empfing. Am 16. 11. schreibt Kafkas Mutter, die seine Taschen durchsucht hat, an Feiice, in der Hoffnung in ihr eine Verschworene gegen Kafkas ,Schreiberei' zu finden. Am 17. 11. beschreibt Kafka, wie die Sehnsucht nach Briefen von Feiice ihn im Bette überfallen hat. Er hatte sich dazu entschieden, nicht aufzustehn, ehe ein Brief von ihr gekommen war. Dann hatte er einen Wunschtraum von einer Flut von Briefen. Der letzte Satz des Briefes lautet: ,Ich werde Dir übrigens heute wohl noch schreiben, wenn ich auch noch heute viel herumlaufen muß und eine kleine Geschichte niederschreiben werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt'. 25 Einige behaupten, daß die Ausgangssituation in der „Verwandlung" Kafkas eigener Situation am 17. 11. entspricht. Wie bekannt, beginnt „Die Verwandlung" damit, daß Gregor aus unruhigen Träumen erwacht, und sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt findet. Man muß zugeben, daß das Ausbleiben des Briefes von Feiice und Kafkas Reaktion auf ein Gefühl der Isoliertheit deutet, das Gregors Isolation als Insekt entsprechen könnte. 26 Dieses erklärt aber überhaupt nicht die Verwendung der Insekt-Metapher.

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Vgl. KKAVII (Apparatband), S. 55 und Franz Kafka: Briefe an Feiice. Hg. v. Erich Heller, Jürgen Born. Frankfurt am Main, 1983, verkürzt BF, hier S. 44. BF, S. 102; vgl. Hartmut Binder: Kafka. Der Schaffensprozeß. Frankfurt am Main, 1983, S. 160 f. Wolf Kittler, in: W K , Gerhard Neumann (Hrsg.): Franz Kafka. Schriftverkehr. Freiburg, 1990, S. 102.

Die fiktive Wahrheit des Traums

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VI. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den drei Texten „Das Urteil", dem ersten Kapitel des „Verschollenen" und der „Verwandlung". Georg (gr. Georgios, von georgos, Bauer), dessen Name auf den Familiennamen Bauer zeugt, heißt die Hauptfigur im „Urteil". In dem „Verschollenen" schreibt Kafka am Anfang mehrmals Georg, statt Karl. 27 Im Manuskript zur „Verwandlung" sieht man, daß Kafka erst Georg, dann Karl, statt Gregor, schreibt. 28 Außerdem kann man schon hier, nicht erst im „Process" Anspielungen auf die Seelenwanderung finden, aber eben Anspielungen, die sich nicht eindeutig interpretieren lassen. Georg, der im „Urteil" ertrinkt, taucht vielleicht im Hafen von New York als Karl auf, und Gregors Familienname weist vielleicht auf den buddhistischen Begriff der Wiedergeburt, ,Samsara'. Hinzu kommt, daß es möglicherweise auch eine Wirkung der Begegnung mit Feiice und des Briefwechsels ist, daß Briefe eine besondere Rolle in den drei Texten spielen. Briefe kommen in Kafkas fiktionalen Texten auch früher vor, nämlich in den „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande". Dort aber werden die Briefe von Rabans Körper überholt, d. h. die Briefe können hier nicht die physische Konfrontation verhindern. In den drei späteren Texten bekommen die Briefe strukturbildende Funktion. Im „Urteil" gibt es zunächst einen Brief an den russischen Freund, in dem diesem die Verlobung mitgeteilt werden soll, der aber nie abgeschickt wird. Der mündliche Streit zwischen dem Vater und dem Sohn, den Gregor verliert, dreht sich darum, wer von ihnen die meisten Briefe mit der russischen Figur auswechselt. Es verhält sich so, daß der Brief nicht abgeschickt wird, weil Gregor es nötig hat, dem Vater vom Brief zu erzählen. Gregor kann also nicht das Briefgeheimnis bewahren, das die Voraussetzung dafür ist, daß der Briefwechsel als Schutzraum gegen die Familie funktionieren kann. Der Vater beschuldigt ihn auch, sich im Geschäftsbüro eingeschlossen zu haben, um Briefe nach Russland zu schreiben. Der Briefwechsel ist ein Zeichen des Uberlebenkönnens. Im „Verschollenen" verschafft ein Brief von der verführerischen Köchin Karl die Verbindung mit seinem Onkel und ist eine erste Rettung für ihn, 27 28

K K A V I I (Apparatband), S. 124 f f , 129 f. Dieses wird aus dem noch nicht herausgegebenen Apparatband zur kritischen Ausgabe von ,Drucke zu Lebzeiten' hervorgehen. Siehe aber Wolf Kittler, Gerhard Neumann (Hrsg.): Franz Kafka. Schriftverkehr. Freiburg, 1990, S. 97, Note 82.

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trennt ihn aber auch vom Heizer. In der „Verwandlung" schließlich verschaffen die Briefe an die Arbeitgeber der überlebenden Familie die Freiheit von der Arbeit, die Gregor nur durch die Verwandlung möglich wurde, was ja zu seiner Vernichtung führt. Die Briefe in diesen Texten haben deshalb eine ähnliche Funktion des Überlebens wie Kafkas Briefe an Feiice in der Realität. 29 Von größerer Bedeutung ist aber, daß das Fiktionsuniversum in der „Verwandlung" eine fiktive Verwirklichung der Phantasie Rabans in den „Hochzeitsvorbereitungen" ist, die davon handelt, im Bett wie ein großer Käfer liegen zu bleiben, während der Körper den Konfrontationen ausgesetzt wird, denen Raban immer zu entgehen versucht. In den „Hochzeitsvorbereitungen" geht es um eine Regressionsphantasie der Hauptfigur, während das Insekt Gregor die dominierende Figur in der „Verwandlung" ist, und, in einem biographischen Kontext, mit dem Schreibprozeß verbunden, auf das Schreiben als Alternative zum Arbeitsleben verweist. Ein entsprechender Unterschied wird nämlich mit der Trennung von Körper und Schrift in Kafkas eigenem Dasein gemacht, wo aber die Schrift das Körperliche in sich aufnimmt. Das bedeutet aber nicht, daß der Körper kategorisch eliminiert wird. Es bedeutet vielmehr, daß das Körperliche während des Schreibprozesses in die Schrift aufgenommen wird. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Schreibenden und dem empirischen Subjekt, beziehungsweise dem Käfer Raban und dem Körper Raban in der Welt. Diese zeitbegrenzte Trennung von Körper und Schrift ist vermeintlich eine Voraussetzung der experimentellen Ausformung der Lebenssituationen in Kafkas fiktionalen Texten. „Die Verwandlung" kann als ein Experiment mit seiner eigenen Lage gesehen werden: Was wird geschehen, wenn ich in der Familie bleibe und auch schreibe? Bildlich gesprochen endet Gregor auf dem Boden, trocken und flach wie Papier. Er wird in die Mülltonne geworfen. Gregor repräsentiert den mißglückten Schreibprozeß, die Erzählung selbst aber den geglückten. Man könnte auch behaupten, daß „Das Urteil" ein Experiment mit der gedachten Situation darstellt, daß Kafka das Arbeitsleben wählt. Kafka war der Meinung, daß Gregor an seiner Braut zugrunde geht. Selbst hat er die geglückte Erzählung bei seinen Bemühungen um Feiice verwendet. Und „Der Verschollene" könnte als ein Versuch mit dem Problem der Auswanderung 29

Wolf Kittler, in: W K , Gerhard Neumann (Hrsg.): Franz Kafka. Schriftverkehr. Freiburg, 1990, S. 100.

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verstanden werden, das Kafka tatsächlich mit Feiice am 13. 8. besprach, wobei allerdings nicht an eine Auswanderung nach Amerika, sondern nach Palästina gedacht war. 30

VII. Die Begegnung mit Feiice ist wahrscheinlich eine wichtige Voraussetzung dafür, daß Kafka die prekäre Trennung von Körper und Schrift versucht hat, mit der daraus folgenden literarischen Produktivität; neuen Strategien, aber auch neuen Problemen die er später als ,Scham' im „Process' thematisieren wird. Jetzt sind die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, Kafkas Beschreibung von dem Zusammentreffen mit Feiice zu verstehen. Es ist gewiß schwierig, diese als den Eindruck eines verliebten Mannes zu sehen, der von einer Frau fasziniert ist: Feiice Bauer. Als ich am 13. VIII zu Brod kam, saß sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mir ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, daß seine Leere offen trug. Freier Hals. Uberworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war [...] Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. [...]. 31

Hier wird meines Erachtens keine gewöhnliche, körperlich eingestandene Liebe geschildert. Kafka verwendet solche Ausdrücke wie .Dienstmädchen', eine Frau, die einem Dienste tun könnte, ,leeres Gesicht', ein Gesicht, das für Einschriften empfänglich ist. Der Briefwechsel, besonders aber seine Briefe an sie, die ja ihre Briefe voraussetzen, ist notwendig für Kafkas literarische Produktion. Die Briefe setzen Abstand voraus, wogegen die körperliche Nähe die Produktivität stören würde. Feiice soll zur Verfügung stehen, aber nicht präsent sein. Auch das Gespräch, das ja körperliche Nähe bedeutet, ist Kafka eine Pestilenz. Er schreibt im August 1913 an Feiice: ,Nur das Schreiben ist die mir entsprechende Form (der) Äußerung, und sie wird es bleiben, 30

31

BF, S. 43; vgl. auch Heinz Hillmann, in: Hartmut Binder (Hrsg.); KafkaHandbuch II. Stuttgart, 1979, S. 28 ff. K K A T I , S. 431 f; 20. 8. 1912.

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auch wenn wir beisammen sind.' 3 2 D a hat das Bedenken sich längst bei Kafka eingestellt: Sie wird ja sicher nicht das asketische Leben, wie er es nennt, und Schreiben vor Gespräch akzeptieren können. Dennoch: Der Balanceakt ermöglicht eine neue Schreibweise. Er bringt auch eine weitere Änderung der Themen mit sich. „Beschreibung eines Kampfes" und „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" handeln beide von Liebesproblemen; das Arbeitsleben dagegen ist zur Seite geschoben. In den ,Durchbruchstexten' ist das Arbeitsleben einbezogen, während das Liebesleben mehr oder weniger an den Rand gedrängt ist. Das Liebesleben spielt statt dessen eine besondere Rolle in Kafkas Briefen an Feiice. Verglichen mit der spiegellabyrinthischen Struktur in der „Beschreibung eines Kampfes", deren Figuren in der chinesischen Schachtelkomposition alle mit denselben narzißtischen Problemen kämpfen, gehen mehrere Komponenten in die späteren Texte ein: Hauptfigur, Familie, Arbeit und die Geliebte als Möglichkeit der Flucht. Die Geliebte hat eine periphere Funktion, wahrscheinlich weil Kafka versucht, Feiice in dieser Periode als das Bild von ihr, das er in den Briefen sehen will, festzuhalten. Die Hauptfiguren in den frühen Texten fühlen sich alles andere als wohl. Dasselbe kann man selbstverständlich von den späteren Hauptfiguren sagen. Für Kafka verhält es sich aber anders, zumindest wenn er schreibt. Anders gesagt: Die Text-Figuren sind problematisch, weil sie Probleme verkörpern, die mit dem empirischen Kafka verbunden sind, so ζ. B. daß sie Experimente ausführen, die Kafkas Lebenssituation betreffen. Der Schreibprozeß hat jetzt eine neue Bedeutung und Funktion bekommen, indem er das Körperliche in seinem Verlauf aufsaugt. Ein Beispiel aus einem frühen Text verdeutlicht diese Entwicklung. ,Der Betende' in „Beschreibung eines K a m p f e s " (Version Α.), leidet an ,Seekrankheit auf dem festen Lande'. Er ist nie von seinem Leben überzeugt gewesen. Die Dinge zerbrechen in seinen Vorstellungen von ihnen. E r denkt sich, daß sie einmal lebend waren, daß sie aber jetzt versinken. Deshalb hat er eine quälende Lust, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, bevor sie ihm erscheinen. Um ihn umher versinken die Dinge wie ein Schneefall, während für andere ein kleines Schnapsglas fest auf dem Tisch wie ein Denkmal steht (Version B). 3 3 32 33

BF, S. 448. Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen. Parallelausgabe nach den Handschriften. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Max Brod. Textedition von Ludwig Dietz. Frankfurt am Main, 1969, S. 90 und 91.

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Was Lord Chandos bei Hugo von Hofmannsthal als das wahre Wesen der Dinge erlebt, welches sich schweigend ihm offenbart, ist nur eine Frage für den ,Betenden', der in Ubereinstimmung mit seinen Erfahrungen immer die Antwort bereit hat: Er hat Angst. Der .Betende', mit Lord Chandos verglichen, erlebt negative Epiphanien. In der Epiphanie, dem Offenbarungsaugenblick, erfahrt die tatsächliche Wirklichkeit der Dinge eine metaphysische Symbolisierung. Diese Transzendierung der empirischen Wirklichkeit ist in der „Beschreibung eines Kampfes" unmöglich. Das unaufhörlich beobachtende Subjekt ist in der Betrachtung der Dinge verloren, die sich ihm nicht eröffnen. Außerhalb des Subjektes sind die Menschen und Dinge nicht nur entfremdet als Objekte der Projektionsversuche des Subjekts. Es geschieht auch eine Verzerrung des betrachtenden Subjekts, welches leer zurückbleibt. Wenn von irgendeiner Art des Wiedererkennens im Verhältnis zum Objekt die Rede ist, dann nur als die drohende Gestalt des Anderen. 34 Daraus entsteht Verzweiflung, Paranoia, Aggression. Die frühen Figuren Kafkas scheinen Ausdrücke frustrierter dichterischen Allmachtsphantasien zu sein. Es sind neuromantische Vorstellungen und Probleme von der Art, die Kafka später ironisierte. Er hatte selbst solche Vorstellungen, als er glaubte, die kalte Welt mit seinem Feuer wärmen zu können. 35 Er distanziert sich auch auf eine herablassende Weise von seiner Figur. Karl Rossmann, der genauso naiv ist, wie es Kafka früher war: Karl erhoffte in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel 2U denken. 36

VIII. Kafkas ziemlich weitgehende Identifikation mit seinen Hauptfiguren in den frühen Texten wird, so scheint mir, im Herbst 1912 eingeschränkt, und nimmt eher den Charakter einer Trennung an, und zwar in der Form 34

35 36

Ludo Verbeeck: Scheidewege am Jahrhundertbeginn: zu Hofmannsthal und Kafka. In: Roger G o f f i n e. a. (Hrsg.): Littérature et Culture Allemand. Hommages à Henri Plard, Bruxelles 1985, S. 278 f. K K A T I , S. 147; 19. 1. 1 9 1 1 . K K A V I , S. 60.

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einer Verdoppelung. Wenn diese Verdoppelung eine Wirkung der Begegnung mit Feiice ist, dann muß auch bemerkt werden, daß Kafka nicht immer schreiben konnte, und daß die Distanz des Briefwechsels nicht immer aufrecht erhalten werden konnte. Den Konflikt zwischen dem schreibenden und dem empirischen Ich gibt es immer, aber er kann während des Schreibens suspendiert werden. Schriftsteller sein ist Scheinleben. Die erhöhte Möglichkeit der literarischen Produktivität steht im Gegensatz zum Leben mit anderen Menschen. An die Stelle der Identifikation mit den Figuren tritt jetzt die Verdoppelung. Auf der einen Seite der schreibende Kafka, auf der anderen die geschriebenen Figuren. Der Epiker weiß alles; Kafkas Figuren wissen bestimmt nicht alles. Kafka als Schriftsteller ist klüger als seine Hauptfiguren. Er ist es wegen der Fähigkeit zur Verdoppelung, die er jetzt entwickelt. Die Verdoppelung ist als eine Trennung des schreibenden Ichs von dem geschriebenen Ich, der Hauptfigur im fiktionalen Text, zu verstehen. Diese Trennung ermöglicht die Reflexion des empirischen Ichs. Die reflexive Trennung geschieht durch die Sprache, also durch das schreibende Ich, das ja ζ. B. auch für die Doppeldeutigkeiten im „Verschollenen" verantwortlich ist. Das geschriebene Ich ist eine Art sprachliche Objektivierung des empirischen Ichs. Aber die fiktiven Hauptfiguren kennen nicht ihre Fehler und Irrtümer. Das empirische Ich dagegen hat die Möglichkeit solcher Kenntnisse durch seine Reflexion über das geschriebene Ich. Kafkas künstlerische Sprachentfaltung läßt sich also als Selbsttherapie denken. 37 Daß Kafka sich dessen bewußt war, oder es ihm später bewußt wurde, scheint mir aus der „Wahrheit über Sancho Pansa" hervorzugehen: Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten ausführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten.

37

38

Charles Baudelaire: De l'essence du rire. In: Curiosités esthétique: L'Art romantique et autres Oeuvres critiques. Hg. v. H. Lemaître. Paris, 1962, S. 241 — 63, und Paul de Man: The Rhetoric of Temporality. In: PdM: Blindness and Insight. Minneapolis, 1983, S. 2 1 1 - 1 6 . Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main, 1992, S. 38.

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Die künstlerische Selbsttherapie wirkt aber nur, wenn er schreibt, denn die strategische Grundlage ist schwach. Deshalb insistiert K a f k a auf dem Schreiben — deshalb auch der immer wieder 2urückkehrende Konflikt zwischen dem schreibenden Ich und dem empirischen Ich. K a f k a bleibt in Probleme mit der Familie, mit der Arbeit, mit Feiice, verwickelt. Kafkas Entdeckung, daß er Feiice im Schreibprozeß benutzen kann, bietet keine Lösung seines Problems, weil die reflexive Trennung von empirischem und geschriebem Ich durch die Entfaltung des schreibenden Ichs notwendig Probleme mit sich führt: Der Einbruch der empirischen Wirklichkeit kann nur kurzfristig aufgeschoben, nicht eliminiert werden. Deshalb finden sich auch die Widersprüche und Vorbehalte, die sich an den Begriff,Tat-Beobachtung' knüpfen, im Tagebuch viel später: ,Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe, TatBeobachtung [...]. 39 ,Tat-Beobachtung' ist mit einem Bindestrich versehen. So gilt der Begriff jetzt der vielleicht gefahrlichen, vielleicht erlösenden Kombination des aktiven Lebens in reduzierter Form und der sprachkünstlerischen Reflexion. Ich finde nicht, daß K a f k a in der Periode der ,Durchbruchstexte' zu dieser Einsicht gekommen ist, die ja immer noch eine prekäre Balance zum Ausdruck bringt, aber auch eine höhere Einschätzung der vita activa als die literarischen und biographischen Phänomene, die ich besprochen habe. In der Traumeintragung wird Feiice vom Meer repräsentiert, welches in der geschriebenen Darstellung dazu führt, daß K a f k a sich wohl fühlt. Das heißt: Sie wird von dem Schreibprozeß repräsentiert, dessen Voraussetzung seine Vorstellung von ihr ist. Aber der Traum davon, das Leben in die Schrift aufzuheben, zeigt sich als eine fiktive Wahrheit. Sie hat nur ihre Gültigkeit in sehr begrenzten Zeitperioden. Wir verdanken aber dem Traum, seinen Voraussetzungen und seinen Verzweigungen, diese immer noch anregenden Texte.

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Κ ΚΑΤΙ, S. 892; 27. 1. 1922.

Peter Demet% Prag und Babylon Zu Kafkas „Das Stadtwappen"

Eine Prager Konferenz ist der richtige Ort, Franz Kafkas „Das Stadtwappen" — einen merkwürdigen Bericht über den babylonischen Turmbau — genauer zu lesen. Ich mache mich nicht anheischig, eine ambitiöse Interpretation zu liefern, eher labile und disparate Erfahrungen in der Lektüre eines Prosastückes, das die Aufmerksamkeit nur selten auf sich zog. Ich glaube an einen fortschreitenden Prozeß der Interpretation eher als an problematische Ergebnisse, und finde mein eklektisches Vergnügen am Texte darin, literaturhistorische, strukturelle und semantische Hinweise zu sammeln, die zukünftigen Interpretationen von Nutzen sein könnten. Babylon, und seine Geschichte der vielen Sprachen, liegt unserer Heimatstadt ontologisch näher als anderen Orten, und es entbehrt nicht eines notwendigen Sinnes, daß alte Chroniken, vor allem auch die „Chronica Boëmorum" des Prager Dekans Cosmas (1125 n. Chr.), mit dem babylonischen Turmbau beginnen, aber ich spreche nur deshalb davon, weil es mir produktiver zu wissen schiene, wie Kafka Cosmas illuminiert, nicht umgekehrt. Nicht überraschend, daß sich in der von religiösen und nationalen Konflikten so gezeichneten Stadt der Gedanken an Babylon in der Imagination erneut, nicht so sehr in der Tschechischen, die in sich selbst ruhen darf, als in der Deutsch-Jüdischen, an den plötzlichen Abgründen und ungewissen Grenzen. Aber selbst dieser Satz, wie alle Sätze im Studium Kafkas, bedarf sogleich der Revision, denn ein babylonisches Motiv ist schon in den kriegerischen Volksgesängen der revolutionären Hussiten zu hören, die Babylon auf dem Hradschin lokalisieren, wo der König noch residierte, ein neues Jerusalem aber in der aufständischen Altstadt (das geht allerdings auf Johanni Offenbarung, und nicht auf Genesis, II, 1—9, zurück). Bezeichnender schon, daß Babylon und seine Konflikte in einer öffentlichen Diskussion auftauchen, die der tschechische Germanist Arnost Kraus, auch er starb in Theresienstadt, im Jahre 1907 in der „Cechischen Revue" provozierte; die Zeitschrift hatte sich, wie später die amtlichere

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„Prager Presse", das Ziel gesetzt, tschechische Entwicklungen einem Publikum zur Kenntnis zu bringen, das der tschechischen Sprache nicht mächtig war. Arnost Kraus polemisiert gegen den Gedanken, die kleinen Völker sollten sich einem größeren Sprachkörper anschließen; es sei wünschenswert, sagt er, daß die kleinen Völker die Kultur der anderen kleinen Völker studierten. An Schwärmereien für eine verbindende Sprache, sei es das Englische, oder Esperanto, fehle es nicht, aber in einer Gemeinsamkeit kleiner Völker sei es viel wesentlicher, die Geistesarbeit der anderen authentisch zu verfolgen (hier liegt der Grund, warum die Niederlandistik und die Skandinavistik in der tschechischen Germanistik ausgeprägtere Traditionen haben als anderswo). In einer kafkaesken Verkehrung wird Babylon zum Segensort, der Mangel wird zur Tugend, und Kraus bekennt sich dazu, „ein Babel schaffen zu wollen, Babel ist der älteste Mittelpunkt einer internationalen, von verschiedenen Sprachen kleiner Völker getragenen Kultur." Unmittelbares Studium an den Quellen also, keine Zwischenhändler, keine Umwege über historische oder artifizielle Weltsprachen. In der Diskussion erklärten die Prager Zionisten, die Juden hätten ganz besondere Gründe, an diesem Babelprojekt mitzuwirken, denn sie wären „durch die Geschichte selbst bestimmt, an der Vermittlung friedlicher Ideen teilzunehmen". Assimilation, vor allem die sprachliche, sei abzulehnen (obzwar die zionistische Zeitung das in der deutschen Sprache vorbringt), und die Prager Juden „werden freilich Hebräisch und Jiddisch als Sprachen ansehen, die in Babel kultiviert werden müssen". Babel als Ziel, nicht als Fluch der Vergangenheit, und ein babylonisches Prag, schon als Vorgestalt jener „polemischen Stadt", wie sie Josef Kroutvor in seinen jüngsten Essays vorschwebt. Ein Schriftsteller jüdischer Herkunft und deutscher Sprache, der das Bild Babels in der Epoche erneuerte, um sich über Literatur und Geschichte Rechenschaft abzulegen, ist der Brünner, Wiener, und als Dramatiker, Prager, Ernst Weiss, der dem Städtetheater manche Förderung verdankte. Weiss war der alten Monarchie loyaler zugetan als die meisten seiner Prager Kollegen, und in seinen Rezensionen und Essays der zwanziger Jahre spricht Weiss vom Sturz des großen Turmes, der Gewaltiges, Schönes, und Problematisches vereinte. Im Gedanken an den Fall eines grandiosen Bauwerkes hegt er, jedenfalls in seinem Rousseau-Essay von 1922, die ausgeprägte Hoffnung auf mögliche Reinigung und neue Kontur: „Während die letzten Staubwolken sich erheben, die letzten Dünste lange verborgener Verwesung sich zu entwölken beginnen, entsteht, klarer, freudiger, alles, was überlebt hat". Das mächtige und wunderbare Reich ist dahin, „unser Babylon ist doch gefallen, sein Schönes ist in die Winde

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zerstreut"; anstelle von Seßhaftigkeit und Sicherheit leider nur mehr Unstetes und Ungesichertes, „wir hausen [...] wie die Hirten und Nomaden [...] heimatlos sind wir auf der Stätte der früheren Heimat". Merkwürdig, wie Ernst Weiss die Melancholie des nachbabylonischen Momentes in geschichtsphilosophischen Trost verwandelt, der noch immer an den Rand der Hoffnung führt, nicht für die Vielen und die Massen, sondern für den kreativen Einzelnen, „vielleicht ist der Turm von Babylon deshalb gefallen, damit wir neue vielfaltige Sprachen lernen, das die Masse vom Erdboden verschwinde und der Einzelne neues, göttliches Leben gewinne". Hartmut Binder hat das Bild vom babylonischen Turm zum Range eines zentralen Motivs in Kafkas Werk erhoben, und selbst wenn ich mich gegen diese Monopolisierung wehre, darf ich nicht leugnen, daß es in seinen Schriften, früh und spät, und in zwei seiner Briefe erscheint. Daß frühe Beispiel, in „Beschreibung eines Kampfes", enthält kritische Gedanken zur Poetologie, wie es einem jungen Schriftsteller wohl ansteht, und impliziert die Frage, welche Kunst- und Schreibweisen anderen vorzuziehen seien. Es genügt jedenfalls nicht, das Turm-von-Babylon-Motiv in diesem frühen Prosastück einfach zu katalogisieren und Gesprächssituation und die rhetorische Polemik außer acht zu lassen. Ein Ich-Sprecher findet sich hier im Gespräch mit einem Kollegen-Schriftsteller, der durch seinen schauspielernden Solipsimus auffallt, und selbst wenn ich der Versuchung nicht erliege, diesen Literatur-Partner Franz Werfel zu nennen, vermag ich mich doch, insbesondere nach der Lektüre von Klaus Wagenbachs Essay (auch über die Kunstsprache der Prager Dichter) dem Verdacht nicht zu entziehen, daß der Sprecher über die metaphysisch aufgeregte Rhetorik seiner Prager Kollegen urteilt, „dieses Fieber, diese Seekrankheit auf fester Erde". Leider hat sich sein Partner nicht damit begnügt, eine Pappel eine Pappel zu nennen; er begnügt sich nicht, „vor lauter Hitze" mit den „wahrhaftigen Namen der Dinge" und schüttet in einer auffalligen Eile Benennungen über die Dinge hin. Im Grunde will er gar nicht wissen, was für ein Baum die Pappel ist, nennt sie „den Turm von Babel", und der Sprecher meint ironisch, der Andere hätte den im Winde schwankenden Baum eben so gut „Noah, wie er betrunken war" nennen können. Die Metapher vom babylonischen Turm ist nicht geeignet, Einsicht in die Dinge zu fördern (im Gegenteil), aber doch Einsicht in gutes oder schlechtes Schreiben, wie sich das der Sprecher vorstellt, — eben weil die Metapher zum zentralen Beispiel für den falschen Stil wird. In der Analyse des „Stadtwappens", um Kafkas Prosastück mit Max Brods Titel zu nennen, folge ich zunächst den strukturellen Anregungen

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Werner Zimmermanns, finde aber nicht vier, sondern drei Bestandteile des Textes; der erste erstreckt sich bis Zeile 27 („von neuen anzufangen"), charakterisiert durch einen doppelten Wechsel der Perspektive; dann der zweite (Zeile 27 bis 43); zuletzt der dritte, der aus den fünf letzten Zeilen besteht. Im ersten Bestandteil wird, um eine strukturelle Formel zu finden, im Wechsel berichtet und analysiert, und wenn ich den distanzierten Bericht mit Β und die Analyse, aus größerer Nähe, mit A bezeichne, ergibt sich die chiastische Formel Β : A — A : Β; die dogmatische Formel ist allerdings nicht ganz genau, denn der Text selbst setzt sie an einer Stelle außer Funktion. In der ersten Hälfte des epischen Elements wechselt jedenfalls ein Bericht über die Organisation der Arbeit (B, Zeile 1 — 5), und ein näheres Eingehen auf die Gedanken der Planungskommission (A, Zeile 5 — 8); der Chronist berichtet, nicht ohne diskrete Ironie, von der komplizierten Organisation des Unternehmens, ehe sein Hinweis auf „die damals herrschende Meinung" die Analyse dieser Meinung und ihre Implikationen signalisiert. Die andere Hälfte des ersten Erzählteiles (Zeile 9 — 26) wiederholt den Perspektivenwechsel, aber eben in verkehrter Reihenfolge. Zeile 9 bis 23 entfaltet die Gedanken der Planer; die Größe des Projektes ist wesentlicher als die Größe des Turmes, und der Fortschrittsoptimismus erwartet immer Besseres von zukünftigen Generationen. Der Berichterstatter reproduziert diese Gedanken mit Präzision, und stürzt sich, indem er das Argument wiedergibt, so tief in den Gedankengang der Planer, daß er sich zuletzt selbst vergißt, um sich mit ihrem „wir" zu identifizieren: Er spricht ihre rhetorische Frage aus und wandelt sich so, zumindest für einen Augenblick, vom Chronisten zum Anwalt der Planungsbehörde, ja wird eines ihrer Mitglieder. An dieser Stelle aber (Zeile 21) schlägt die Nähe in Distanz um, denn dem Moment der rhetorischen Identifikation folgt wieder der distanzierte Bericht oder, mit einer Filmanalogie, dem Close-up das Panning der Kamera. Die Frage ist nur, ob die Rhetorik der Planungskommission nicht ihre Spuren im Bewußtsein des Berichterstatters hinterlassen hat; seine Erwartungen, die nächsten Generationen betreffend, sind von den Erwartungen der Planer gefärbt, und nur das Zitat „eher" (Zeile 23) läßt darauf schließen, daß er dem Argument der anderen, das er eben so überzeugend vorgetragen hat, nicht selbst ganz zum Opfer gefallen ist. Im zweiten Erzählteil überwiegt der Bericht (Zeile 27—43) mit seinem charakteristischen Imperfektum (die einzige Ausnahme ist in Zeile 35 zu finden), und die Überraschungen sind eher lexikaler als perspektivischer Art. Unter den Worten, die so klingen, als hätte sie der Text gleichsam von der Straße her oder aus den Zeitungen absorbiert (in Kafkas Texten

Zu Kafkas „Das Stadtwappen"

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nicht eben häufig), fallt „die Landsmannschaft" sogleich auf, weil sie, zumindest für eine neuere Leserschaft, einen Organisationsbegriff späterer politischer Auseinandersetzungen vorausnimmt. Ein Blick ins „Grimmsche Wörterbuch" belehrt zwar, jedoch in diesem Falle nicht genug. Das Wort bezieht sich seit dem späten 18. Jahrhundert auf Gruppen gleicher regionaler Herkunft, etwa bei Lessing, Wieland, Moser, Goethe, und bezeichnet dann, in einem schon verengten Sinne, regionale Vereinigungen von Universitätsstudenten, oft im Gegensatz zu anderen Studentenkorps. Auch an den K. und K.-Universitäten gebraucht man das Wort, aber eher gegen Ende des 19. Jahrhunderts (in der Prager Lese- und Redehalle der Studenten wird man davon sicherlich davon gesprochen haben). Das Wort hat allerdings noch eine zweite Quelle, und die ist das Jiddische, wo es, ohne die akademische Verengung auf Studenten, eben den „Landsmann" bezeichnet, der sich seit seiner Emigration aus dem „Schtetl" mit anderen, aus der gleichen Gegend, in der Landsmannschaft organisiert, um an seine Heimat zu denken, Freundschaften zu pflegen, oder gar durch eine gemeinsame Kasse dafür zu sorgen, daß die Mitglieder einer Landsmannschaft auch auf dem Friedhof beieinander liegen. In New York gab es zu Beginn des Jahrhunderts Dutzende dieser jüdischen Landsmannschaften, und den jüdischen Emigranten in Prag, die im ersten Weltkrieg vor den Russen flohen, war dieses Wort der jiddischen Umgangssprache nicht fremd. Der Text der Berichterstattung neigt jedenfalls zu der älteren deutschen und jiddischen Semantik; die Arbeiter, die sich in Landsmannschaften vereinigen, sind also Zugereiste, die untereinander der Dolmetscher bedürfen, Quartiere bauen und verschönen. Ihre ganze Stadt, die ihrer Kunstfertigkeit so viel verdankt, ist schon ein Babel, ehe es zu einem Babel wird. Ein anderes Wort, das den Interpreten anzieht, ist (Zeile 51) „Himmelsturmbau", weil es durch seine syllabische und semantische Prägung aus Kafkas Wörterbuch herausfallt. Ich lese das Wort, das die melancholischen Eindrücke der zweiten und dritten Generation mit der fast unhörbaren Ironie des Chronisten verbindet, auf doppelte Weise, und die zweite verstärkt die Negation. In der herkömmlichen Lesart, die mit den Elementen , Himmels-Turm-Bau' arbeitet, sind die Silben, dem Herkommen nach, so fugenlos ineinander gefügt, wie es die Arbeiter mit den Steinen tun sollten. Sie tun es aber nicht, und der gefügte Bau des vielsilbigen Wortes ist ein künstlicher Ersatz, weil flatus vocis, für die architektonische Materialität, die fehlt. Die zweite Lesart, die einen einzigen Konsonanten im mikrologischen Widerspruch gegen die traditionelle Grammatik mit der dritten Silbe verbindet (also: Himmel-Sturm-Bau) verstärkt die bibli-

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sehe Assoziation, denn die Bewohner des ebenen Landes wollten sich ja himmelsstürmend „einen Namen machen", — das so gelesene Wort sabotiert aber diese Assoziation zugleich durch die Spur einer Geste, der keine Entschlossenheit mehr entspricht. Im Bericht der Chronisten ist nirgends die Rede davon, daß da ein überwältigender „Ziguratt" wirklich zur Höhe strebte. Die Planungsenergien sind längst ins Horizontal-Gewerkschaftliche abgelenkt, und die Baudiskussion will zunächst nur die Fundamente legitimieren, die in Kafkas Vorstellungswelt auch sonst erscheinen, so zum Beispiel im „Gruftwächter". Ob diese Fundamente auch wirklich gelegt wurden, ist noch eine ganz andere Frage. Eugène Ionesco schrieb einmal in den fünfziger Jahren, dieser Turm sei zerstört worden, weil ihn die Menschen nicht beendeten. Wollte ich Ionescos Gedanken zu Ende denken, ich würde glauben, die Stadt wäre zerschmettert worden, weil sie, anstelle des Turmes, ausgebaut und verschönert worden war, und so bezeugte, daß die Menschen ihrer Blasphemie untreu geworden waren — aber wer weiß nicht, welches Verlangen nach transzendentaler Gegenwart sich in der Blasphemie maskiert, und gerade in ihr? Es heißt ja: die Stadt wurde zerschmettert (diese Architektur der metaphysischen Indifferenz), nicht der Turm, denn es war ja keiner da — wäre er da gewesen, er hätte gezeigt, daß sich die Menschen zumindest zu einem negativen Verhältnis zur Transzendenz gedrängt fühlten, wenn sie schon kein affirmatives besaßen. Der dritte Erzählteil endlich, die letzten fünf Zeilen, setzt sich in Gegenwart zu den vorangegangenen Berichten und Analysen; anstelle des narrativen Imperfektums, im Bericht, oder des Präsens, in der Gedankenanalyse, tritt das Perfektum und das Futurum; die letzten Zeilen sind also gesprochen, nicht geschrieben, und der Chronist und Analytiker verwandelt sich in einen Bekenner, Warner, und Propheten, der seine Gewißheiten aus archaischeren Quellen schöpft und den plötzlichen Untergang der Stadt, wie Jeremias und Jesaias, voraussagt. Max Brod meinte, Kafka habe an das Wappen der Stadt Prag gedacht, das eine geballte Faust zeigt, aber weniger topographische Lokalisierung des Textes wäre mehr. Das Wappen der Prager Altstadt, aus dem später das Wappen der Großstadt hervorging, zeigte vor dem Jahre 1949 drei Zinnentürme und ein offenes, aber leeres Tor, und erst nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, Türme, Tor, und im Tore die gepanzerte Hand, die ein blankes Schwert gegen Eindringlinge zückt (zu Kafkas Zeiten bedurfte es keiner heraldischen Studien, denn das Wappen war in dieser Gestalt an der Seitenwand jeder Straßenbahn zu sehen). Eine geballte Faust, wie Brod impliziert, führte das Prager Wappen nie; und Kafka, wenn er an das Prager Wappen dachte, hat das heraldische

Zu Kafkas „Das Stadtwappen"

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Emblem korrigiert, wie er auch ein anderes korrigierte, nämlich die Freiheitsstatue im Hafen von New York — ihr gab er das Schwert anstatt der Fackel, die sie sonst hält, und im Prager Wappen fehlt das Schwert, und die nackte und gewaltige Faust drängt den Warner dazu, von der zukünftigen Zerschmetterung zu reden. Das korrigierte Prager Emblem mag aber die böhmische Leserschaft daran erinnern, daß der gepanzerte Arm mit Schwert im Prager Altstadtwappen ein am 20. April 1649 attestiertes Geschenk des habsburgischen Kaisers Ferdinands III. an seine loyalen Bürger war, welche die Prager Altstadt im letzten Augenblick des Dreißigjährigen Krieges gegen die Schweden verteidigten, die sich eben noch der Kleinseite auf der anderen Seiten der Moldau bemächtigt hatten — eben jene protestantischen Schweden, welche die Sache der böhmischen Aufständischen, Jahre nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berge, fortführten und viele tschechische Flüchtlinge zu den Ihren zählten. Es gibt eine geradezu epische, wenn auch ein wenig gravitätische Beschreibung dieser „furchtbaren Geschichte": „die Studenten und Professoren der karolingischen Universität tun sich auf das Kräftigste hervor, tüchtige Hauptleute beleben das Militär: die Frauen besorgen Verwundete, und die Juden, unfähig Waffen zu tragen, erweisen sich unermüdlich beim Löschen"; und wenn sich auch der Wille gezeigt haben mag, zu kapitulieren, war es das Verdienst des kaiserlichen Befehlshabers Don Innocentio Conti, die Verhandlungen zu verzögern und zu warten, daß inzwischen die Nachricht vom Friedensschluß in Münster eintraf. „Die höchstbedrängte Stadt erfreute sich ihres Charakters", so fahrt Goethe fort, denn es ist kein geringerer, in seinen Exzerpten aus der „Monatsschrift der Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen", „der Kaiser war dankbar für die großen Aufopferungen, für allgemeine Lieb und Treue, und begünstigt alle [...]". Ich glaube durchaus nicht, daß sich Kafka dieser Geschichte bewußt war, als er ein Wappen beschrieb (ohne Schwert), aber es entbehrt nicht einer historischen Ironie, daß seine Korrektur des Emblems, wenn es eine war, eine historische Abirrung der Bürger bezeugt (die nach dreißigjährige Gehirnwäsche nicht mehr begriffen, wer ihre Feinde oder ihre Freunde waren), und das innerhalb eines Textes, der selbst als die Geschichte eines alten Abirrens von dem einmal getroffenen Entschlüsse gelesen werden darf. Am Ende des kafkaschen Textes ist es bedenkenswert, daß der Chronist oder besser: der ehemalige Chronist, der sich zum Warner und Propheten gewandelt hat, mit einem Male eingesteht, von einem prophezeiten Tag gewußt zu haben, ebenso wie die Planer und Bauleute auch, denen die in der Stadt umlaufenden Mythen nicht unbekannt gewesen sein dürften. Der

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Peter Demetz

schon prophezeite Tag, und das Bewußtsein davon, verändert aber alles; man ist angehalten, den ganzen Text noch einmal von vorn zu lesen, und alles Tun und Denken erstarrt wie in einem plötzlichen und fahleren Licht. Die Leute wissen, daß der Tag der Zerschmetterung vorhergesagt ist, und die Frage erhebt sich, ob sie den Turm planten, gegen die zerschmetternde Kraft von oben, Turm gegen Faust, oder ob sie sich, in ihrer Alltäglichkeit, in Organisationsprojekte, Verschönerungsanlagen, und Kunstfertigkeiten zerstreuen wollten, ehe die gefürchtete und ersehnte Faust zuschlägt. Jedenfalls gibt es zwei Arten von Texten, die in diesem Text zum Vorschein kommen; Argumente und Friedensschlüsse die einen, Sagen und Lieder die anderen, die einen im Irdischen wirkend und das Irdische fördernd, die andern mit dem Erhabenen, das gewaltiger ist als das begrenzte Menschliche, Auge in Aug. Der Bericht beginnt ja, mit den originalen Worten der Erhabenheit, „Im Anfang war [...]", um dann sogleich in das Pathos der Unterkünfte, Verkehrswege und Arbeiterstädte abzustürzen, oder sich sogar mit der törichten Zukunftsperspektive der Planungskommission zu identifizieren, ehe sich der Blick des Berichterstatters, und zuletzt des Warners, wieder ins Erhabene, also das Überwältigende, Schreckliche, und ganz Andere öffnet; im Bündnis mit eben jenen Textarten, wie Sagen und Liedern, die unberührt sind von flacher Betriebsamkeit, allzu billigem Fortschrittsglauben und landsmannschaftlichen Verschönerungsprojekten. In diesem Sinne hat das Stadtwappen, ebenso wie Kafkas „Beschreibung eines Kampfes" mit der Poetologie zu tun — in „Beschreibung eines Kampfes", die Polemik gegen die Unsachlichkeit und das falsche Klischee, hier das fortschreitende Oszillieren und Schwanken einer Erzählweise, die das Begrenzte hinter sich läßt, um endlich das Unendliche, auch in seinem Schrecken, vorzuführen und zu zeigen. Man hat Kafkas „Stadtwappen" eine Parabel genannt, und sie ist auch eine —, eine von seiner Art zu schreiben, von der verborgenen Sehnsucht nach dem Erhabenen, mitten im Alltäglichen, überhaupt.

Stéphane Moses

Geschichte ohne Ende Zu Kafkas Kritik der historischen Vernunft

„Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung, [...] so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen." 1 Dies ist der Anfang von Kafkas Erzählung über die biblische Geschichte jenes Turmes, den die Menschen der Vorzeit zu bauen beabsichtigten, jenes Turmes, dessen Höhe den Himmel erreichen sollte. Die Geschichte der Genesis spielt sich in der Urzeit der Menschheit ab, als diese, noch vereint in ursprünglicher Harmonie, „eine Zunge und eine Sprache" 2 war. Dennoch barg diese Einigkeit den Keim der Entzweiung schon in sich. Um ihr zuvorzukommen, beschlossen die Menschen, sich alle an einem und demselben Ort zu versammeln, um dort eine Stadt zu gründen, die Mutter aller Zivilisation. Als Symbol ihrer Eintracht gingen die Menschen daran, einen Turm zu errichten; doch gemäß der Bibel — und entgegen Kafkas Erzählung — verliefen die Arbeiten sehr schnell, so schnell, daß Gott sich beunruhigte über eine derartige Machtkonzentration in den Händen einer einzigen Stadt, welche so Gefahr lief, die Welt zu beherrschen. Die Einheit der Sprache — oder anders gesagt, die Transparenz der Kommunikation — konnte jedoch unter der Arbeitsteilung nicht aufrecht erhalten werden, welche jenes übermenschliche Unternehmen erforderte. Die Einwohner jener Stadt teilten sich auf, trennten sich und zerstreuten sich auf der ganzen Erdoberfläche, „daß sie aufhören mußten, die Stadt zu bauen". Sie wurden also schlußendlich Opfer gerade jenes Übels, das sie verhindern wollten. Möglich, daß ihr Irrtum darin bestand, in Überstürzung (und das heißt mit Gewalt) eine Einheit zu erreichen, die sie bereits besaßen. Möglich auch, daß sie wider

1

2

Franz Kafka: Das Stadtwappen. In: Gesammelte Werke, Beschreibung eines Kampfes. Hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main, 1983, S. 70. Genesis XI, 1—9. Nach der Übersetzung Martin Luthers.

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Willen von einer Dispersion eingeholt wurden, welche ursprünglicher als alle Einheit ist. Wenn gemäß der Bibel die Sünde der babylonischen Generation in ihrer Ungeduld zu liegen scheint, so sieht sie Kafka im Prinzip des Zögems selbst. Alles was im biblischen Text als Eile und Entschlossenheit auftritt, wird bei Kafka zu Langsamkeit und Unentschlossenheit. Tatsächlich wird die biblische Geschichte, welche Kafka als Modell dient, in seiner Erzählung von Grund auf umgedeutet: anstatt die Erbauung des Turmes aufzuzeigen, erzählt er die Geschichte seiner Nicht-Erbauung: Man argumentierte nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles anderes nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht aber muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühen? [...] Solche Gedanken lähmten die Kräfte, und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. [...] So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Dazu kam, daß schon die zweite oder dritte Generation die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus erkannte, doch war man schon viel zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen. Wie so oft bei Kafka inszeniert der Text die Schilderung seines eigenen Verschwindens: Von Verzögerung zu Verzögerung verflüchtigt sich die Geschichte, die er zu erzählen sich vorgenommen hat; ebenso führt die Anstrengung, die Baukunst zu vervollkommnen, zum Schluß nur dazu, den Bau aufzugeben. Die biblische Passage schlägt um in ihr Gegenteil: Es geht nicht mehr darum, Gründe vorzuführen, weshalb der Turm nicht gebaut werden d a r f , sondern Gründe, weshalb er nicht gebaut werden kann. Das heißt aber, daß Kafka zwar die Bedeutung des biblischen Textes ins Gegenteil gewendet, die Form der Parabel aber beibehalten hat. Sowohl für ihn wie in der Bibel symbolisiert der babylonische Turm die Bemühung der Menschheit, ein ideales Ziel zu erreichen, und zugleich das Scheitern

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dieser Bemühung. Doch während in der Bibel das Scheitern vor allem auf den Eingriff einer den Menschen gegenüber höheren Macht erfolgt, beruht es bei Kafka auf einem der Menschheit inhärenten Mangel. Das Scheitern von Babel scheint hier auf eine immanente Logik der Selbstzerstörung zu verweisen, oder, vielleicht, auf die Wurzeln des Todestriebes. Es geht gewissermaßen um eine Verkümmerung des Verhältnisses ^ur Zeit, oder genauer, des Verhältnisses %ur Zukunft. Der babylonischen Generation erscheint die Zeit als eine unbegrenzte Größe, vergleichbar einer unendlich verlängerbaren Linie oder einem endlos fließenden Fluß: „[...] so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich." Zeit ist hier als eine neutrale, als eine leere Form gedacht, die immer verfügbar und bereit ist, mit Handlungen der Menschen aufgefüllt zu werden. Deshalb „muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben"; auf der Zeitachse, wo ein Augenblick sich an den anderen reiht, verliert jede Aufgabe ihre Dringlichkeit; alle möglichen Formen des psychischen Bezuges zur Zukunft — Erwartung, Hoffnung, Geduld und Ungeduld — verfließen zur Ununterscheidbarkeit; die Zukunft, ohne die ihr wesentliche Dimension des Neuen, wird zu gegebener Zeit ohne Überraschung eintreten, wie eine notwendige Etappe eines einförmigen Verlaufs. In der Zeit-Auffassung der Babylonier ist leicht eine Allegorie der modernen Vorstellung der geschichtlichen Zeit erkennbar. 3 Zweifellos handelt es sich hier um eine kritische Allegorie, welche darauf zielt, die Widersprüche eines Geschichtsbildes zu entlarven, das in der Aufklärung entstanden war und sich im 19. Jahrhundert beinahe zu einem Naturgesetz etabliert hatte. In der Philosophie der Aufklärung erscheint Geschichte als ein Prozeß, der von einem Weniger zu einem Mehr verläuft, von Verwirrung zu Ordnung, von Unklarheit zu Klarheit. Gewiß erkannte man auch das Dasein geschichtlicher Rhythmen, welche von Aufstieg und Fall der Weltreiche zeugen. Doch jenseits dieser Bewegungen wurde Geschichte als Ganzes als Vektor eines kontinuierlichen Fortschrittes konzipiert, bestimmt, die Menschheit zu ihrer Vollendung zu führen. Daher auch der Begriff eines idealen Endes der Geschichte, eines telos, in dessen Richtung sie sich bewegt. Mehr noch: dieser telos (wie auch die Idee der natürlichen Finalität) hat die Funktion eines imanenten Prinzips, welches den Ablauf 3

Die Wichtigkeit der Kritik der geschichtlichen Vernunft in Kafkas Aphorismen ist v o n Beda Allemann unterstrichen worden (Fragen an die judaistische KafkaDeutung am Beispiel Benjamins. In: Kafka und das Judentum. Hg. ν. Κ. E. Grözinger, S. Moses, H. D. Zimmermann, Frankfurt am Main: Athenäum, 1987; S. 3 5 - 7 0 ) .

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der Geschichte regelt. Demgemäß wäre die Wirkung einer historischen Vernunft anzunehmen, welche von innen her den Verlauf des menschlichen Geschicks leitete. Diese teleologische Auffassung gipfelt in Hegels Interpretation der Geschichte als dialektischen Prozeß, im Verlauf dessen sich das Absolute selbst verwirklicht. Im Verhältnis zu jenem unausweichlichen Fortschreiten der Vernunft in der Geschichte wird die Funktion der menschlichen Entscheidung reduziert auf bestenfalls ein Mittel im Dienste eines sie unendlich übersteigenden Zwecks. Jede menschliche Handlung ist kontingent; ihr Sinn (d. h. ihr Gelingen) hängt ab von ihrer Übereinstimmung oder Divergenz im Verhältnis zur Dynamik der Vernunft, welche in der Geschichte am Werk ist. Nun ist aber die Arbeit der Vernunft langsam, womöglich unendlich; wie wissen wir dann, ob die Zeit schon reif ist für die Verwirklichung unserer Pläne? „Solche Gedanken", schreibt Kafka, „lähmten die Kräfte". Führt der Glaube an die unvermeidliche Notwendigkeit des Fortschritts nicht ebenso unvermeidlich zu einer Art Apathie, oder mindestens zum endlosen Aufschub jeglicher Handlung? „Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühen?" Der ganze Kafkasche Text dreht sich um dieses „schon heute". Was die historische Vernunft ausschließt, ist eben jene Idee, daß sich der telos, die Vollendung der Geschichte, „schon heute" ereignen kann. Der Gedanke des geschichtlichen Fortschritts beruht auf dem Glauben an eine unendliche Zeit, wobei hier der Begriff der „Unendlichkeit" nicht die Idee einer Fülle oder die Eigenschaft einer Alterität ausdrückt, sondern eine Unabschließbarkeit, die Endlosigkeit einer beliebig erweiterbaren Folge: „So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders." Zeit wird dabei als eine vollkommen homogene Serie konzipiert, bestehend aus einer Folge von gleichförmigen temporalen Einheiten, als ein neutrales Medium, vergleichbar mit demjenigen der klassischen Mechanik, bestehend aus einer Kette von Ursachen und Wirkungen, die niemals die Entstehung eines radikal Neuen zulassen können. Es ist bezeichnend, daß die Geschichte bei Hegel endlos dasselbe Szenario zu wiederholen scheint, nämlich dasjenige des Auftretens und Verschwindens „geschichtlicher Völker" auf der Bühne des Werdens. In dieser Hinsicht wird der telos der Geschichte nicht als eine zu jenem Zeitpunkt, ζ. B. „schon heute", aktualisierbare Wirklichkeit verstanden, sondern vielmehr als ein Postulat, oder als eine Linie, deren Ende sich in dem Maße entfernt, wie wir uns ihm annähern: „Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner

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Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen." Mit der endlosen Verzögerung aller Ideale wird auch die Utopie des „ewigen Friedens" weit in die Zukunft verlegt. Mehr noch: jene endlose Verschiebung der Verwirklichung der Utopie wird nun schon selbst zur Ursache einer neuen Gewalt. Die ständige Vervollkommnung der Baukunst wird zum Selbstzweck, hinter dem das ursprünglich verfolgte Ziel aus den Augen verloren wird; der technische Fortschritt wird zum Herrschaftsmittel und verschärft die Rivalitäten: „Nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht." Einmal definiert als asymptotisches, d. h. unerreichbare Ideal, löst sich die Utopie auf zu einer puren Abstraktion, welche nur noch die Entmutigung, es zu erreichen, fördern kann: „schon die zweite oder dritte Generation (erkannte) die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus". Die Vorstellung der Utopie als „unendliche Aufgabe" kehrt sich hier gegen sich selbst; der Begriff einer unendlich verlängerbaren, also endlosen Zeit, schließt a priori die Hoffnung aus, die Welt werde eines Tages ihre Bestimmung wirklich erreichen. Ist daneben ein anderes Geschichtsbild denkbar? Davon wird in Kafkas Text nichts gesagt. Die Nachfahren von Babel jedenfalls haben die Wahl bloß zwischen Resignation („doch war man schon viel zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen") und der Erwartung der Apokalypse. Doch letztendlich sind dies zweifellos nur zwei Aspekte der gleichen Verzweiflung. Denn wenn das gesellschaftliche Zusammensein nur noch auf dem enttäuschten Bewußtsein beruht, daß es nie einen wesentlichen Wandel geben wird, also auf der Enttäuschung aller Hoffnungen, dann wird die gesamte utopische Energie — als Kompensation — hinfort in eschatologische Träume zerfließen, in Erwartung der endzeitlichen Katastrophe, welche die Welt zerstören wird, damit aus ihren Ruinen womöglich eine neue Menschheit erscheine. Dies ist es auch, was Kafka im letzten Abschnitt der Erzählung nahelegt: Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgende Schlägen zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen.4 Wie ein Echo antwortet auf Kafkas Erzählung eine Novelle von Jorge Luis Borges, deren Thema ebenfalls die Zeit ist, doch gerade gegenteilig verstanden: Zeit nicht als endlose Ausdehnung, sondern als äußerste 4

Die Stadt Prag, in der Kafka geboren ist und gelebt hat, trägt eine Faust in ihrem Wappen.

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Kontraktion. „Das geheime Wunder" scheint stellenweise eine Antwort zu sein auf Kafkas „Das Stadtwappen". Borges' Geschichte handelt in Prag, nämlich jener Stadt, welche Kafka am Ende seiner Erzählung allegorisch mit dem biblischen Babel identifiziert. Dazu kommt, daß der Held von Borges' Novelle, Jaromir Hladik, ein Schriftsteller („Abgesehen von einigen Freundschaften und vielen Gewohnheiten machte die problematische Ausübung der Literatur sein Leben aus") und Jude ist. Schließlich entspricht der Schilderung der menschlichen Kriegslust in „Das Stadtwappen" — 1917 redigiert, also mitten im ersten Weltkrieg — in Borges' Erzählung (geschrieben 1943) die Darstellung des deutschen Einmarsches in Prag im Jahr 1939, der fast sofortigen Verhaftung Hladiks und seiner Verurteilung zum Tode (welche u. a. mit seinen Arbeiten über die jüdische Mystik begründet wird: „eine Untersuchung der indirekten jüdischen Quellen bei Jakob Böhme" und eine Untersuchung des Sefer Je^irah). Die Handlung von „Das geheime Wunder" fokussiert auf die zehn Tage, während deren Hladik in seiner Zelle in Prag auf seine Hinrichtung wartet. Am meisten quält ihn dabei die Vorstellung, nicht mehr die Zeit zu haben, das Buch zu vollenden, an dem er zur Zeit arbeitet: eine Tragödie in drei Akten in Versen mit dem Titel „Die Feinde": „Er hatte den ersten Akt schon beendet, auch ein paar Szenen des dritten; der metrische Charakter des Werkes erlaubte ihm, es ständig zu überprüfen, die Hexameter zu verbessern, ohne das Manuskript vor Augen zu haben. Er dachte daran, daß noch zwei Akte fehlten, und daß er bald sterben würde." In der Nacht vor seinem Tode wendet er sich an Gott mit der Bitte, ihm ein zusätzliches Lebensjahr zu gewähren: „Um dieses Drama zu vollenden, das mich und Dich rechtfertigen kann, brauche ich noch ein Jahr. Gewähre mir diese Tage, Du, dessen die Jahrhunderte sind und die Zeit." Der Tag der Hinrichtung ist gekommen, der 29. März 1939, neun Uhr morgens. Das Ende der Erzählung sei in fast vollständiger Länge wiedergegeben: Das Kommando formierte sich, richtete sich aus. Hladik erwartete aufrecht vor der Kasernenwand die Salve. Jemand äußerte Besorgnis, die Wand könne Blutspritzer abbekommen; da befahl man dem Verurteilten, ein paar Schritte vorzutreten. Absurderweise mußte Hladik an die langwierigen Vorbereitungen der Fotografen denken. Ein schwerer Regentropfen streifte Hladiks Schläfe und rollte langsam die Wange herab; der Feldwebel brüllte den letzten Befehl. Das physische Universum blieb stehen. Die Gewehre waren auf Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten sollten, waren unbeweglich. Der A r m des Feldwebels verewigte eine unabgeschlossene Gebärde. Auf eine Fliese des Hofes warf eine Biene einen festen Schatten. Wie auf einem Bild hatte der Wind zu wehen aufgehört.

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Hladik versuchte einen Schrei, eine Silbe, eine Handbewegung. Er begriff, daß er paralysiert war. Kein noch so schwacher Laut erreichte ihn mehr aus der gestauten Welt. Er dachte: ,Icb bin in der Hölle, ich bin tot.' Er dachte: ,Ich bin wahnsinnig.' Er dachte: ,Die Zeit ist stehengeblieben.' Dann überlegte er, daß in diesem Fall ja auch sein Denken stehengeblieben wäre. Er wollte die Probe machen; ohne die Lippen zu bewegen, sagte er sich die mysteriöse vierte Ekloge von Vergil vor. Er stellte sich vor, die schon ferngerückten Soldaten teilten seine Angst; er wollte sich mit ihnen in Verbindung setzen. Es erstaunte ihn, daß er keinerlei Ermüdung empfand, nicht einmal ein Schwindelgefühl durch das lange unbewegliche Stehen. Nach einer unbestimmten Zeit schlief er ein. Als er aufwachte, war die Welt noch immer unbeweglich und stumm. Auf seiner Wange dauerte der Wassertropfen an; im Hof der Schatten der Biene, der Rauch der Zigarette, die er fortgeworfen hatte, kam nicht dazu, sich zu verflüchtigen. Es verging ein weiterer ,Tag', bevor Hladik begriff. Ein volles Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk zu beenden: Ein Jahr gewährte ihm seine Allmacht. Gott vollbrachte für ihn ein geheimes Wunder: Das deutsche Blei würde ihn zur Stunde töten, aber in seinem Geist würde ein Jahr vergehen zwischen dem Befehl Feuer zu geben und der Ausführung des Befehls.. Von der Bestürzung ging er zu fassungslosem Staunen, vom Staunen zu Ergebung, von der Ergebung zu plötzlicher Dankbarkeit über. Er verfügte über kein Dokumentationsmaterial als sein Gedächtnis; das Abwägen jedes Hexameters, den er hinzufügte, nötigte ihn zu einer vorteilhaften Strenge, von der jene nichts ahnen, die vorläufige und verwaschene Sätze aufs Geratewohl hinsudeln und vergessen. Er arbeitete nicht für die Nachwelt, nicht einmal für Gott, über dessen literarische Vorlieben er wenig wußte. Peinlich genau, unbeweglich, geheim spann er in der Zeit sein hohes unsichtbares Labyrinth. Zweimal überarbeitete er den dritten Akt. Er tilgte das eine oder andere allzu deutliche Symbol. [...] Keine Äußerlichkeit lenkte ihn ab. Er ließt fort, kürzte, erweiterte; in einem Fall kam er auf die erste Fassung zurück. Er gewann schließlich den Hof, die Kaserne lieb. [...] Er beendete sein Drama; nur die Frage eines einzigen Beiwortes galt es noch zu lösen. Er fand es; der Wassertropfen rollte über seine Wange herab. Er stieß einen verrückten Schrei aus, bewegte das Gesicht, die vierfache Salve warf ihn nieder. Jaromir Hladik starb am Morgen des 29. März, zwei Minuten nach neun Uhr. 5 Was ist Hladik in jenem winzigen Augenblick geschehen, der den Feuerbefehl des Feldwebels v o m Abfeuern der Salve trennt? Dazu gibt uns der Text zwei scheinbar gegensätzliche Hinweise: einerseits heißt es, „das physische Universum blieb stehen"; andererseits erfahren wir, daß die Zeit weiterhin vergeht: „Er dachte: ,Die Zeit ist stehengeblieben.' Dann 5

Jorge Luis Borges: Das geheime Wunder. In: Fiktionen, übers, v. Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, Frankfurt am Main: Fischer, 1992, S. 1 3 1 - 1 3 8 .

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überlegte er, daß in diesem Fall ja auch sein Denken stehengeblieben wäre." Nun begnügt sich Hladik nicht nur mit Denken und Reflektieren; er stellt sich vor, er wünscht, er erstaunt, er rezitiert die vierte Ekloge von Vergil, er schläft ein und wacht auf. Ist daraus zu schließen, daß in der Logik des Textes der Stillstand des physischen Universums nicht auch den Stillstand der Zeit bedeutet? Doch beinhaltet die Wahrnehmung der Zeit, sonst eng verbunden mit der Erfahrung von Wandel, als Stillstand aller Bewegung („die Männer, die ihn töten sollten, waren unbeweglich. Der Arm des Feldwebels verewigte eine unabgeschlossene Gebärde. Auf einer Fliese des Hofes warf eine Biene einen festen Schatten. Wie auf einem Bild hatte der Wind zu wehen aufgehört") nicht beinahe notwendig die Idee des Stillstandes der Zeit? Eine erste Antwort könnte in der Unterscheidung von physischer Zeit und psychischer Zeit liegen: Letztere kann weiterlaufen, auch wenn die erste für einen sehr kurzen Augenblick scheinbar zum Stillstand gekommen ist. Vorstellbar wäre eine momentane Unterbrechung des Zeitverlaufs, gewissermaßen das Festhalten auf einem Bild, auf dem die Welt ihren Atem anhielte, während das Bewußtsein des Verurteilten in schwindelerregender Geschwindigkeit weiterarbeitete. Eine solche Erklärung könnte das Gefühl (oder die Illusion) vorstellbar machen, daß die physische Zeit für einige Sekunden erstarrt ist. Doch erfahren wir aus dem Text, daß der Stillstand des Universums sich verlängert, vorerst für einen Tag, dann für einen zweiten Tag, schlußendlich für die Dauer eines ganzen Jahres. Daher auch der Eindruck des Lesers, daß diese Erscheinung viel zu lange dauert, um eine bloße Sinnestäuschung zu sein. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch die angewandte literarische Erzählperspektive verstärkt: die Szene ist „von außen" beschrieben, als ob es sich um eine objektive Wirklichkeit handelte, bevor der Erzähler eingreift und die Erscheinung als eine psychische Erfahrung der Romanfigur enthüllt. Das physische Universum ist also nicht tatsächlich zum Stillstand gekommen, sondern nur in der Vorstellung des Verurteilten. In Wirklichkeit aber verliert hier der Unterschied zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven viel von seiner Trefflichkeit. Denn die physische Zeit selbst, die Zeit der Uhren und Kalender, kann wohl in unterscheidbaren quantitativen Einheiten gemessen werden (Sekunden, Minuten und Stunden, Tage, Monate und Jahre). Doch wird sie zugleich in qualitative Größen übersetzt, wenn sie von der Psyche erfahren wird: Was hier zählt sind Bewußtseinsinhalte, ihre Häufigkeit, ihre Dauer, ihre Intensität. Zu sagen „die psychische Zeit ist zum Stillstand gekommen" heißt, daß sich der Geist für einen Moment von der äußeren Realität und den Mitteln, sie zu messen, isoliert hat, um sich gänzlich in sich zurück-

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zuziehen; der Aufhebung der physischen Zeit entspricht die äußerste Intensivierung der psychischen Zeit. Dabei von Kontraktion der physischen Zeit oder von Erweiterung der psychischen Zeit zu reden, läuft auf dasselbe hinaus. Während der wenigen Sekunden, die den Feuerbefehl vom Eintreffen der Ladung trennen, hat sich Hladiks Bewußtsein derartig angespannt, daß es in wenigen kurzen Augenblicken die Arbeit eines ganzen Jahres vollbringen kann. In seinem Bewußtsein ist es der Inhalt eines ganzen gelebten Jahres, das im Aufblitzen eines Augenblickes kondensiert ist. „Gott vollbrachte für ihn ein geheimes Wunder" — ein „Wunder", denn Hladik erfährt in einer Erleuchtung eine innere Intensität, welche ihn weit jenseits der gewöhnlichen Rhythmen der erlebten Zeit bringt; „geheim", denn nichts von diesem Wunder gelangt nach außen; keiner außer ihm wird je wissen, daß das Werk, für welches er gelebt hat, vollendet wurde. Für die anderen, für die Nachwelt wird er immer der Autor einer unvollendeten Tragödie bleiben. Daß die Utopie vorweggenommen werden kann, daß sie „schon heute" gelebt werden kann, oder daß sie im Gegenteil nur als eine rein regulative Idee konzipiert werden muß, als ein asymptotisches Ideal, dessen Verwirklichung sich immer wieder verzögert, je länger wir voranschreiten, dies ist der tiefere Gegensatz zwischen der Idee der Zeitlichkeit in Borges' Erzählung und derjenigen, welche nach Kafka die Kultur der Babylonier charakterisiert. Die Erfahrung, die der Prager Schriftsteller Jaromir Hladik in Borges' Erzählung als eine rein individuelle macht, entspricht auf der Ebene der kollektiven Erfahrung jener in der jüdischen Mystik und in den Schriften des hohen Rabbi Low auf den gesamten geschichtlichen Prozeß bezogenen Wahrnehmung der historischen Zeit als einer ständig erneuerten Aktivierung der messianischen Utopie. Gershom Scholem und Walter Benjamin haben diese äußerst spezifische Zeitauffassung erwähnt, indem sie die talmudische Legende zitieren, von den Engeln, „die jeden Augenblick neu in unzähligen Scharen geschaffen werden, um dann, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben, zerstört zu werden und im Nichts zu vergehen." 6 Diese paradoxe Denkfigur, wonach sich das Ende schon jetzt mitten in der Zeitlichkeit ereignen kann, untergräbt die Grundlage der geschichtlichen Vernunft. Tatsächlich impliziert diese Figur, daß die Zeit nicht mehr als eine gerichtete Achse gedacht wird, wo jedes Nachher unvermeidlich auf ein Vorher folgt, oder als ein Fluß, der von der Quelle zu seiner Mündung fließt, sondern als eine Nebeneinanderstel6

Gershom Scholem: Walter Benjamin und sein Engel. Frankfurt am Main, 1983, S. 32.

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lung von jeweils einmaligen und nicht totalisierbaren Momenten, Momente also, die nicht wie Etappen eines irreversiblen Prozesses aufeinander folgen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewegen sich demnach nicht auf einer geraden Linie, welche ein Beobachter von außen erkennen könnte; vielmehr sind sie koexistent als drei permanente Bewußtseinsstufen: Im Aufblitzen des Augenblicks vor seinem Tod nimmt der Held von Borges' Erzählung die Vollendung seines Werkes vorweg, welche er im gewöhnlichen Ablauf der Zeit wohl nie erreicht hätte. Entsprechend hätten die Menschen von Babel, nach Kafka, zweifellos den Turm „bis zum Himmel" sehr schnell bauen können, unter der Bedingung, sie wären „schon heute" ans Werk gegangen. Der in seiner ganzen Intensität erlebte gegenwärtige Augenblick unterbricht den langweiligen Ablauf der Tage und polarisiert in seinem Kraftfeld die utopischen Virtualitäten, welche die historische Vernunft weit in den Raum der Zukunft verlegt. Die Engel, von denen Scholem spricht, verweisen auf die Auffassung der geschichtlichen Zeit als permanente Schöpfung, als unaufhörliches Ereignen von Neuem. Alle Kräfte der Geschichte konzentrieren sich hier auf die Wirklichkeit der Gegenwart. Unsere Zeiterfahrung, heißt es bei Augustinus, ist immer diejenige des gegenwärtigen Augenblicks; die Vergangenheit (in Form der Erinnerung) und die Zukunft (in allen Formen der Erwartung — Furcht und Hoffnung, Geduld und Ungeduld, Vorhersehung und Utopie) sind nichts als Modalitäten unseres Daseins inmitten der Gegenwart. Dies könnte auch für Kafkas Kritik der historischen Zeitlichkeit in der Erzählung „Das Stadtwappen" gelten. Damit das Utopische nicht durch die Vorstellung eines linearen, endlosen Fortschritts neutralisiert werde, gilt es, schon jetzt das radikal Neue vorwegzunehmen, welches in der gegenwärtigen Konstellation verborgen liegt. Doch das Jetzt, von dem hier die Rede ist, ist kein vorübergehendes. Es bezeichnet nicht die flüchtige Bewegung der Vergangenheit zur Zukunft. Ganz im Gegenteil: Jene Aktualisierung der Zeit unterminiert von innen her die Kohärenz der geschichtlichen Zeit, bringt sie aus den Fugen, zerstört sie in unzählige messianische Augenblicke. Es ist diese Vorwegnahme der Utopie, die wohl mit Kafkas „schon heute" gemeint ist. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Kilcher.

Rio Preisner

Die zwei Welten bei Franz Kafka Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest v o n Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufallig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir. 1

Durch diesen Aphorismus von Franz Kafka verläuft eine unsichtbare, aber tiefe Zäsur, die zwei ganz verschiedene Weltauffassungen trennt: Ein als „unerträglicher" Aufenthalt in der Gefängniszelle gewertetes Leben ruft die Vorstellung einer im Körper eingekerkerten Seele hervor; ein anderes Leben dann, jenseits dieses Eingekerkertseins, wird zwar nicht ausgeschlossen, jedoch vom bestehenden Leben durch eine unüberschreitbare Schranke getrennt. Dabei bleibt es unklar, ob mit jenem anderen Leben irgendeine Form des Lebens nach dem Tode oder, unabhängig vom Tode, die Möglichkeit eines Lebens in Freiheit, die Möglichkeit einer Befreiung, gemeint wird. Schwer faßbar ist auch die Funktion des Todes im Aphorismus. Das Leben in Einkerkerung weckt im Menschen eine Sehnsucht nach dem Tode; jedoch nicht einmal der Tod wird als echter Befreier betrachtet; im Gegenteil, auch der Tod bringt nur eine scheinbare Befreiung, die sich im Verlauf der Zeit lediglich als eine neue Spielart der Einkerkerung erweist. Trotzdem steht die Todessehnsucht in wesentlichem Zusammenhang mit der „beginnenden Erkenntnis". Was wird erkannt? Es wäre falsch, den Inhalt der Erkenntnis mit dem Bild im zweiten Teil des Aphorismus gleichzusetzen, der, wie gesagt, vom ersten durch eine Zäsur getrennt ist. Die „beginnende Erkenntnis" läßt 1

Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hg. v. Max Brod. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. New York, 1953, S. 40.

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sich vielmehr durch ein Bild charakterisieren, das analoge Züge zu dem zweiten Teil des Aphorismus aufweist: daß man nämlich aus einer Zelle in die andere durch einen sozusagen neutralen „Gang" außerhalb der Zellen geführt wird. Der Übergang von Zelle zu Zelle — über die Schwelle oder durch das Tor des Todes — ist also kein fließender, geschieht auch nicht sprunghaft, sondern eröffnet eine geheimnisvolle Übergangsdimension. Die erste Hälfte des Aphorismus entfaltet ihr Bild zwar vor dem Hintergrund einer mythischen Lehre vom ewigen Kreislauf, aber der Kreis scheint nicht restlos geschlossen zu sein. Gerade im Punkt der sich schließenden Berührung scheint er — trotz allem — eine unerklärliche Fluchtmöglichkeit zu bieten. Dabei darf auch der Haß nicht übersehen werden, mit dem der Mensch trotzig, wenn auch hilflos, seine wahrhaft tragische Einkerkerung im Kreislauf der Zellen ablehnt; eine Einstellung, die vollkommen unterschieden ist ζ. B. von Nietzsches übermenschlich freier Entgegennahme des versklavenden Mythos der ewigen Wiederkehr. — Das Eingekerkertsein; die Folge der Zeiten; die Herrschaft unbekannter Mächte, die den Häftling aus seiner Zelle in eine andere führen und begleiten; der unklare Sinn und Gehalt des Todes, der trotzdem ersehnt wird: dies alles weist auf die Herrschaft eines zwar unergründlichen, jedoch unerbittlichen Gesetzes hin. Man könnte fast sagen, daß die erste Hälfte des Aphorismus die uralte Tragödie des Lebens unter dem Gesetz einer geheimnisvoll ungreifbaren Strafe darstellt. Im zweiten Teil des Aphorismus betreten wir eine ganz andere Welt. Was in der ersten Hälfte im Zustand von bloßer Möglichkeit, Unausgeprägtheit und Vieldeutigkeit verblieb, wird nun eindeutig durchlichtet. Trotzdem wird darin nicht mehr von Erkenntnis gesprochen, sondern von Glauben, genauer von „Rest von Glauben". Es scheint, daß Kafka hier den Glauben weder als eine Art erweiterter Erkenntnis noch als höhere Stufe derselben auffaßt, sondern als etwas an der Erkenntnis Entlanglaufendes. Er weicht zwar vor der positivistischen Klassifizierung des Glaubens als contra rationem aus, lehnt aber gleichzeitig die Bestimmung des Glaubens als supra rationem ab. Erkenntnis und Glauben treten im Aphorismus in beträchtlich abgeschwächter Gestalt hervor. Keine Spur mehr von Erkenntnisklarheit und Glaubensfülle, auch wenn durch die Bezeichnung „Rest von Glauben" die längst abhanden gekommene Fülle von Glauben zart angedeutet wird. Vergessen wir jedoch nicht: Die beginnende Erkenntnis kann auch als eine hoffnungsträchtige, sich durch ungeahnte Klarheit und Reichtum entwickelnde aufgefaßt werden. So gesehen, erschiene die Tatsache, daß dabei ein „Rest von Glauben" mitwirkt, nicht

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nur als ein Zeichen der ständigen Gleichläufigkeit von Glauben und Erkenntnis, sondern auch als eine Auffassung des Glaubens, der sozusagen den Beginn der „beginnenden" Erkenntnis anregt. Wenn wir ein derartig integrierendes Verhältnis zwischen Erkenntnis und Glauben annähmen, könnte dadurch die Zäsur zwischen den beiden Welten des Aphorismus gewissermaßen überbrückt werden. Doch das auf dem tiefsten Grund des Rests von Glauben schlummernde Geschehnis erneuert die Zäsur wiederum in voller Kraft. Dies geschieht nicht nur, weil der Kreislauf der Zellen plötzlich unterbrochen bzw. eingestellt wird, sondern weil er absolut überwunden wird durch die — anscheinend zufällige — Ankunft des „Herrn", der den Gefangenen „ansieht" und seine zutiefst verwandelnden und befreienden Worte spricht: „Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir." Stehen sich da also die Welt des Eingekerkertseins und die Welt der Freiheit schroff gegenüber? Ich meine, es geht hier um mehr. Der Befehl: „Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren" kann nicht anders als ein befreiender verstanden werden. Der Wunsch: „ E r kommt zu mir" bestimmt jedoch die Befreiung als den Aufenthalt beim „Herrn", also als eine Art von Gebundenheit, die aber bei weitem nicht Unfreiheit genannt werden darf — wie es etwa Kant und sein später Schüler Sartre oder im Namen der erkannten Notwendigkeit Marx getan hätte. Die Befreiung bekommt die Gestalt von Anknüpfung einer personalen Beziehung zwischen Herrn und einstigem Gefangenen. Bedeutet das vielleicht, daß es früher gar keine Beziehung gab, was sich gerade im Eingekerkertsein offenbarte, oder daß die Einkerkerung nur eine verschleierte Spielart der Beziehung zwischen Herrn und Häftling darstellt, etwa als Ergebnis einer „Herrnvergessenheit" des Häftlings — allerdings keineswegs in analogiam zur Heideggerschen „Seinsvergessenheit"? Vergeblich suchen wir im Aphorismus selbst nach einer klaren und eindeutigen Antwort auf diese zweifache Frage. Man kann sich ihr aber wohl durch die Analyse des Verhältnisses von Erkenntnis, Haß und Glauben nähern. Erkenntnis und Haß im Aphorismus weisen auf die Tatsache hin, daß die Einkerkerung eine „Qualität" oder „ F o r m " ergibt, die der Gefangene selbst seiner menschlichen Existenz einprägt — und keineswegs der Herr. Davon zeugt auch der Umstand, daß der Mensch seine Zelle erst hassen lernt, woraus gefolgert werden kann, daß es eine Zeit gab, in der der Mensch seine Zelle liebte, oder sie wenigstens wohl vertrug, in der er sich (scheinbar) frei fühlte, d. h. in der er sich in sie aus eigenem Willen und mit einem trügerischen Gefühl von Befreiung und Scheinerlösung selbst verurteilte. Es scheint, daß also nicht der „ H e r r " den Menschen einkerkert,

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sondern der Mensch sich selbst. Des „Herrn" Befehl: „Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren", widerspricht jedoch auf den ersten Blick der Interpretation durch Selbstgefangennahme. Nun könnte gefragt werden: Wem erteilt der „Herr" seinen Befehl? Jene dritte Macht nannten wir anonyme, unbekannte Mächte, Es-Mächte also; ein Name, der allerdings nicht viel erklärt, auch wenn ihn die Psychoanalytiker mit Vorliebe gerade auf den Fall K a f k a anwenden. Was für eine Macht führt den Gefangenen von Zelle zu Zelle und bietet ihm dadurch die irrationale oder eher paradoxe Chance der Befreiung? In der ersten Hälfte des Aphorismus kann der Übergang aus einer Zelle in die andere unter dem Zutun eines Scharfrichters oder besser eines personifizierten Todestriebes begriffen werden. Der Gang von Zelle zu Zelle weckt geradezu die Vorstellung des Totentanzes. Gehören also die unbekannten Mächte und unerbittlichen Gesetze ins Gehege des Todes? Der Mensch „bittet" ja jene Mächte, sie sollten ihn aus der alten Zelle in eine andere führen. Fordert er den Tod zum Tanze auf? In gewissem Sinne ja, nur, daß auf dem Grund seiner auffordernden Bitte die Hoffnung (ein Rest von Glauben) auf Befreiung schlummert, also auf Befreiung vom Tode, zu dem er gleichzeitig hingetrieben wird. In der geheimnisvollen Verbindung von Todessehnsucht und Hoffnung auf Befreiung erblickt Kafka „das Zeichen beginnender Erkenntnis", einer Erkenntnis in nicht minder geheimnisvoller Symbiose mit dem „Rest von Glauben". Hoffnung und Todessehnsucht dieser Art entstehen und entfalten sich zu solchen Bezügen erst im Zustand der Einkerkerung. Die Zelle prägt dem menschlichen Dasein jene gegensätzliche Intentionalität auf, durch die sich erst jenes Dritte heranbildet, nämlich die Befreiung — einstweilen als bloße Möglichkeit, und dies gerade, weil es nun um die wahre und einzig mögliche Befreiung geht. Daher darf der Tod nicht mit Befreiung gleichgesetzt werden; aber er darf auch keineswegs als etwas wesensinnig mit der Existenz des Menschen Verbundenes aufgefaßt werden (wie ihn etwa Rilke feierte). Der „Erkennende" „bittet" um ihn, ruft ihn herbei, fordert ihn auf. Der Tod kommt also von anderswo her — trotz seiner intimen Beziehung zu den Tiefen der Gefangenenexistenz des Häftlings. Außerdem weist der Tod hier einen ganz eigenartigen Bezug zum Haß des Menschen auf. Einerseits entscheidet sich der Mensch aus Haß gegen seine Zelle für den Tod; andererseits reift seine Todesentscheidung gerade, weil der Mensch hassen lernt, also sozusagen als Frucht seiner haßerfüllten Gelehrigkeit. Der ersehnte Tod ist vielgestaltig: Er erscheint als ein ins unendliche Labyrinth der Zellen hineinführender Tod, aber auch als Er-

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hörer und Erfüller des Hasses, als Tod, der aus dem Irrgarten der Zellen in die neutrale Zone der möglichen Befreiung hinausführt. Auch der „Rest von Glauben" steht ohne Zweifel in engem Bezug zum Tode, diesmal jedoch ausschließlich als zu einer Macht, die der Möglichkeit von Befreiung erst ihre Kontingenz erteilt. Möglichkeit der Möglichkeit: dies wäre die Scheidungslinie, die der durch das Trivium von Erkenntnis, Haß und Glauben erbetene Tod absteckt, und gleichzeitig Summe und Fazit der ersten Hälfte des Aphorismus. Aus dem Bisherigen folgt, daß der „Herr" im Drama des Eingekerkertseins eine schwer faßbare Rolle spielt. Man kann jedoch nicht sagen, daß er in der ersten Hälfte des Aphorismus ganz abwesend wäre. Man könnte vielleicht von der abwesenden Anwesenheit oder anwesenden Abwesenheit des „Herrn" in der Welt des Eingekerkertseins sprechen; das Eingekerkertsein an sich wird vom Menschen, von dessen Erkenntnis, Willen, Leidenschaften, Trieben und Glauben, und dann allerdings auch von dem mit dem Menschen wesensinnig verwobenen, wenn auch von ihm unabhängigen Tode bestimmt und beherrscht. Der „Herr" erscheint, oder besser, vergegenwärtigt sich erst in der zweiten Hälfte des Aphorismus. Sein Erscheinen ist zufällig, und so kann von Vergegenwärtigung nur in der unwirklichen, potentiellen Gestalt einer Projektion des „Rests von Glauben" gesprochen werden, allerdings nicht im Sinne von Ludwig Feuerbach. Hinter Zufälligkeit und Möglichkeit der befreienden Ankunft des „Herrn" verbirgt sich eine ungemein komplexe Bedeutungsstruktur, die nur in gedrängter Andeutung analysiert werden kann. Konzentrieren wir uns vorerst auf die möglichen Auslegungen der Zufälligkeit. Erstens ließe sich darin ein Hinweis auf die transzendentale Unabhängigkeit des „Herrn" erblicken, die in bezug auf den Gefangenen die Form eines scheinbaren Zufalls, also eher des Unberechenbaren annimmt. Zweitens könnte man das Zufallige als Kennzeichen von Uninteressiertheit und Teilnahmslosigkeit des „Herrn" erklären (etwa im Geiste des Deismus), auch wenn diese Interpretation im Widerspruch zur Tatsache steht, daß der „Herr" den Gefangenen zuerst ansieht, bevor er seinen befreienden Befehl erteilt. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß auch des „Herrn" Blick und Befehl — als Projektionen des „Rests von Glauben" — bloße Potentialitäten sind. Drittens könnte das Zufällige ins Absurde integriert werden, und zwar gleich in zweifachem Sinne: in die Absurdität einer Befreiung als nicht zu verwirklichender Möglichkeit (der „Rest von Glauben" sinkt dann zur Umschreibung eines vergeblichen Glaubens) oder in die Befreiung, die, absurd an sich, in Wirklichkeit nur

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scheinbar, sozusagen in den Schranken des unendlichen Labyrinths befreit. Das Absurde solch einer Befreiung (als Ausdruck einer bloß illusiven, unwirklichen Projektion des „Rests von Glauben") ließe sich daher als noch unerkannte („beginnende Erkenntnis"), noch nicht durchschaute Situation des Gefangenen begreifen, der seinem allzumenschlichen Wesen nach substantiell gefangen ist und daher nie befreit werden kann, weil er eben unbefreibar ist, bildhaft ausgedrückt: als die Situation des Gefangenen, der gerade in eine neue Zelle geworfen wurde, die er nur noch nicht genügend hassen lernte. Dadurch hätte sich der mythische Kreis in seiner hermetischen Geschlossenheit trotzdem wieder bestätigt, die Zäsur hätte sich als Täuschung, die zufallige Ankunft des „Herrn" als bloße Projektion eines „Rests" von vergeblich noch so unteilbarem, ganzheitlichem Glauben erwiesen. Dieser nihilistische Schluß könnte außerdem auch durch die Feststellung bekräftigt werden, daß ein ähnlicher Widerspruch mit absurdem Ausgang auch im Bezugsetzen von Zufall und Freiheit verborgen sei... Des „Herrn" Befehlszusatz; „Er kommt zu mir" scheint jedoch das Absurde und Zufällige, die illusionäre Projektion des Glaubens sowie den verschleierten Widerspruch im Akt der Befreiung durch ein kategorisches und autoritatives Setzen eines ganz anderen Zieles und Sinnes zu überbrücken. Angesichts der furchtbaren kreisförmigen Determiniertheit der Wiederkehr von Einkerkerung taucht als allerletzte Frucht der tiefsten Hoffnungslosigkeit (jener Summe aller illusiven, grund- und bodenlosen Zufälligkeiten der sich endlos wiederholenden Tode) die Gnade auf. Auch da kann man allerdings dem Zweifel unterliegen, ob wir bei dieser Interpretation nicht unserer eigenen, durch den Imperativ der direkten Rede des Befehls des „Herrn" hervorgerufenen und bedingten Illusion zum Opfer fallen, und ob die Zäsur zwischen Eingekerkertsein und Freiheit nicht nur ein schimmernder, und stets entweichender Schein sei — allerdings in beiderlei Bedeutung des Wortes. Fassen wir das bis jetzt Erreichte zusammen: In Kafkas Aphorismus lassen sich Umrisse von zwei Welten unterscheiden, die durch eine schwer greifbare, stets sich verschiebende und versetzende Zäsur voneinander getrennt werden. Auf der einen Seite zeichnet sich die Welt einer unendlichen, sich widerspiegelnden Folge von Zellen ab, verbunden durch einen nicht minder labyrinthischen Tod. Diesen Tod kann man „erbitten", er kommt nicht durch Zufall, aber auch nicht gesetzmäßig, auch wenn er gleichzeitig das Gesetz zu bestätigen scheint, das über den Gefangenen und seine Zellen dominiert. In dieser Welt gibt es neben Erkenntnis und Haß auch einen „Rest von Glauben", der den sozusagen auf seinen eigenen

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Wunsch stets von neuem eingekerkerten Gefangenen, also den in seinem Menschsein verfangenen Menschen, wie eine Boje über dem versunkenen Schiff kennzeichnet, und zwar teils als im Ausweglosen gestrandetes, teils als ein möglicherweise zu befreiendes Wesen. Die unendliche Flucht von Zellen, die durch einen nie endenden Tod verbunden sind, kann als Bild der Lügenwelt, des Reichs der Unmenschlichkeit gedeutet werden, das sich jedoch immer wieder (mit jeder neuen Zelle) für die augenblicklich einzige, wahre, wirkliche und vielleicht sogar humane Welt ausgibt. Dabei wird jedoch die Lüge jener Welt nicht von dieser Welt ausgesprochen, sondern ist wie eine eiserne Kugel an den Gefangenen gekettet, der sich mit ihr aus einer Zelle in die andere im unendlichen Labyrinth seines Ichs, seiner Existenz hinschleppt. Solange sich der Gefangene passiv und mit wonnevoller Hoffnung aus einer Zelle in die andere fortbewegt, offenbart sich ihm die jeweilige Lügenwelt als die einzige, außerhalb der nur mehr als Nichts lauert. Erst die „beginnende Erkenntnis" enthüllt ihm, daß es etwas von der Lügenwelt Unabhängiges gibt, nämlich das Gesetz. Die Erkenntnis des Gesetzes entdeckt zwar dem Gefangenen die Lüge seiner Welt, bietet ihm aber nicht die Möglichkeit, sie zu überwinden. So wird das die Erkenntnis der Lügenwelt ermöglichende Gesetz gleichzeitig zum Zeichen und Siegel des Todes. Mit anderen Worten: Solange der Gefangene im erkennenden Betrachten des Gesetzes verharrt, bleibt er unfähig, sich seiner eigenen Gefangennahme zu entwinden. Zur wahren Befreiung kann es erst durch Erfüllung des Gesetzes kommen, die nur die Gnade des „Herrn" bringt, auf die der „Rest von Glauben" hofft. — Auf der anderen Seite verwandelt sich durch die Entscheidung des „Herrn": „Er kommt zu mir" die Welt von Gesetz und Tod in die Welt der Gnade. Die Welt von Gesetz und Tod wird dadurch allerdings nicht beseitigt, sondern nur mit Sinn erfüllt, der wohl seit Anbeginn in allem mitenthalten war, aber vom Menschen nicht bemerkt wurde. Der Zustand der Einkerkerung läßt sich daher auch als Zustand des unbemerkten (oder nicht bemerkbaren?) Sinnes der Welt auffassen, in der das unerbittliche Gesetz und der Tod walten. Im Unterschied zwischen Unbemerktem und Nicht-Bemerkbarem liegen Geheimnis und Umfang der Gnade verborgen. Begreifen wir das Eingekerkertsein als die Lage des sich im Labyrinth der eigenen Lügenwelt verirrten Menschen, so kann man allerdings mit Recht fragen, ob dieser Mensch überhaupt der Freiheit fähig sei, oder genauer, ob er fähig sei, des „Herrn" befreiende Gnade empfangend zu begreifen, auch wenn wir ihn als ein potentiell zu befreiendes Wesen bezeichnet haben. Die Befreiungsmöglichkeit scheint hier nämlich vom kooperierenden Willen des Gefangenen vollkommen unabhängig zu sein,

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vollkommen abhängig dagegen von der Gnade des „Herrn". Des „Herrn" Befehl: „Er kommt zu mir" muß den Gefangenen vor allem von seiner eigenen Unfähigkeit und seinem Unvermögen befreien, die Gleichsetzung seines Menschseins mit dem Eingekerkertsein zu überwinden. Würde der Befehl den Gefangenen nur durch einen äußerlichen Akt der Entfesselung befreien — etwa im Sinne des Befehls „Bindet ihn los!" — würde seine Gefangenenexistenz wesentlich unverändert weiter bestehen; die Befreiung würde wiederum zum Schein, zur Absurdität entarten. Des „Herrn": „Er kommt zu mir" würde dann höchstens eine neue (sadomasochistische?) Spielart des Übergangs aus einer Zelle in die andere bedeuten; zuletzt wäre der „Herr" mit dem Gefangenen identisch geworden, seinen Befreiungsbefehl würde eigentlich der Gefangene sich selbst geben, womit die Unaufhebbarkeit des Urteils über sich selbst auf ewige Zeiten besiegelt wäre. — Die wahre Gnade der Befreiung erfordert die Aufhebung der tiefsten Gründe des Gefängnisses, die Aufhebung der Lügenwelt, die Erneuerung der Welt der Wahrheit, der wirklichen Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: durch die wahrhaft befreiende Gnade wird das Sein offenbar. Kafka bemüht sich in seinem ganzen Werk, den Weg zum Sein abzustecken, womit er unwillkürlich auch die Abstraktionen und Scheinwirklichkeiten im dialektischen System überwindet, das die Moderne und Postmoderne beherrscht. Darin gesellt er sich zu den Waisenkindern einer im Sein verankerten, aus dem Sein emporwachsenden, das Seiende feiernden Kultur. Kafka war es allerdings nicht mehr gegönnt, in den realen Sicherheiten einer solchen Kultur zu leben; nur ein Relikt in Gestalt von „Rest von Glauben" an Befreiung aus der Lügenwelt der unantastbar reinen Begriffe und unverbindlich flüchtigen Phänomene, der scheinbaren Werte, an die versunkene Durchlichtung des Seins blieb in ihm wach, die unromantische Sehnsucht nach Erfassen von wirklicher Wirklichkeit und Sinn des Menschseins, die leise Ahnung der wahren Freiheit. Einen analogen Versuch der Befreiung des Menschen aus den Fesseln des Unwirklichen und Scheinbaren in das ideale Reich der Seinsfülle, ebenfalls in der Form eines bildhaften Gleichnisses, treffen wir bereits im 6. Jahrhundert v. Chr., in der sogenannten „Achsenzeit", bei Piaton an, und zwar im großartigen Höhlengleichnis der „Politela" (VII, 514). Platon entfaltet das bekannte Gleichnis in vier Phasen. Die erste Phase bietet das Bild von Menschen, die, in der Höhle angekettet, darauf angewiesen sind, Schatten zu verfolgen, die von Dingen herrühren, die „jemand" hinter ihrem Rücken (fast wie im Schattentheater) vorführt. Jene Schatten werden durch ein von „oben" einfallendes Licht an die Hinterwand der Höhle geworfen. Die zweite Phase schildert die gewaltsame

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Entfesselung eines der Gefangenen, sein allmähliches Erblicken und Erkennen der wirklichen Dinge sowie das schmerzlich geblendete Schauen der Lichtquelle in der Höhe. Die dritte Phase beschreibt die Rückkehr des befreiten Erwählten in die Dunkelheit der Höhle zu den gefesselten Genossen; die vierte dann seinen tragischen, gewaltsamen Tod aus der Hand derer, denen er die tiefe Wesenserkenntnis und Höhenschau vermitteln wollte. Mir geht es hier nicht um eine Interpretation des Platonischen Höhlengleichnisses, sondern nur um den Vergleich mit dem Aphorismus von Kafka, um Feststellung von Analogien und Unterschieden, die zum vertieften Verständnis des paradigmatischen Aphorismus Kafkas beitragen könnten. Auch aus Piatons Gleichnis läßt sich eine Ahnung der Existenz von zwei Welten ableiten: der phantasmatisch stofflichen Welt der Höhle und der wahren geistigen Welt der strahlenden Ideen, von denen alles Seiende abgeleitet wird. Das Eingekerkertsein berührt bei Piaton jedoch nicht den ganzen Menschen, sondern nur seine Seele. Das stofflich Körperliche bindet und verurteilt den dadurch gefesselten Menschen in die Höhle der Schatten. Die Freiheit, auch als bloße Möglichkeit, betrifft ausschließlich die Seele. Sie ist es, die losgelöst von allem Stofflichen in die blendende Welt der Ideen aufsteigt, um mit ihnen einszuwerden. Kafkas Gefängniszellen halten jedoch den ganzen, unteilbaren Menschen gefangen, der sich mehr nach dem Tode als nach den Ideen sehnt. Auch die Möglichkeit der Befreiung betrifft stets den ganzen Menschen aus Fleisch, Blut und Seele. In dieser Ganzheitlichkeit des Geschicks (der Einkerkerung) und aller menschlichen Möglichkeiten (bis in die Befreiung) — und zwar im Unterschied zu Piatons dualistischem Spiritualismus — ist die ontologische, eschatologische sowie kosmologische Differenz zwischen der antiken und der mit ihr verwandten modernen Gnosis und der jüdisch-christlichen Offenbarungstradition mitenthalten. Die Bezüge sind aber viel verwickelter. Trotz des Dualismus scheint Piatons Höhlengleichnis auf der Vorstellung einer nahtlosen Verbindung, ja gegenseitigen Durchdringung der Welt der Gebundenheit und der Welt der wahren Erkenntnis aufgebaut zu sein; diese beiden Welten umfassen einander im einheitlichen Kosmos. Die Einheitlichkeit erweist sich jedoch als bloßer Schein, wovon eine Rede von Widersprüchen zeigt, die in dem scheinbar harmonischen Vierphasenräderwerk des Höhlengleichnisses verborgen liegen. Vor dem Hintergrund dieser Widersprüche tritt nachträglich nicht nur die Anwesenheit einer verborgenen Zäsur in Piatons Höhlengleichnis hervor, sondern klärt sich auch unser Problem der Zäsur in Kafkas Aphorismus, die Spannung nämlich zwischen der schwer zu bestimmenden

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Bahn der Zäsur und ihrer scharfen Konturiertheit. Der Aufstieg zu den Ideen und die Rückkehr aus ihrem Reich stehen bei Piaton im schroffen Widerspruch zu den Sinnen des (ganzen) Menschen, die ja nicht imstande sind, die Ideen zu sehen, und daher auch unfähig, zur Möglichkeit einer vermittelnden Veranschaulichung von Ideen und somit zur Möglichkeit der Befreiung des Menschen beizutragen. Derselbe Widerspruch bezieht sich bei Piaton auch auf die Ideen selbst, soweit sie selbst dem gefesselten Menschen in seiner finsteren Höhle unmittelbar erscheinen wollten. Statt ihn zu befreien, würden sie ihn des letzten Augenlichts berauben und ihn in eine noch tiefere Finsternis seiner hoffnungslos „durchlichteten" Blindheit stürzen. An diesen Widersprüchen dürfte wohl auch jeder Versuch scheitern, zwischen den beiden Welten im Kosmos zu vermitteln. Der Held von sokratischem Geist müßte dann nicht nur einmalig scheitern, sondern wäre zum ewigen Kreislauf seines Scheiterns verurteilt. Kafka selbst beschreibt diesen Widerspruch des spiritualistischen Dualismus — der in existentieller Umschreibung auf den Menschen bezogen bedeutet: absolute Unmöglichkeit der Befreiung, Verlust aller Hoffnung, absolute Determinierung durch blinde Gesetze — geradezu als widerwilliger Vertreter dieses Dualismus in seinem bemerkenswerten Aphorismus: „Die Tatsache, daß es nichts gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit" 2 , womit er — ohne es geahnt zu haben — auch jenen verborgenen Widerspruch in Piatons Höhlengleichnis aufdeckt. Eine ähnliche Einstellung läßt sich übrigens auch in Kafkas autoanalytischer Prosa „Der Jäger Gracchus" finden, wo gegen Ende gesagt wird: „[...] denn niemand weiß von mir, und wüßte er von mir, so wüßte er meinen Aufenthalt nicht, und wüßte er meinen Aufenthalt, so wüßte er mich dort nicht festzuhalten, so wüßte er nicht, wie mir zu helfen". 3 Die Hoffnungslosigkeit des Jägers Gracchus, der in seiner Barke an der unendlichen Grenzscheide zwischen Leben und Tod eingekerkert ist, steht in scheinbar gegensätzlichem Bezug zum „Rest von Glauben" des Gefangenen in unserem Aphorismus. Im „Rest von Glauben" wird jene Unmöglichkeit der Hilfe miteinbezogen, aber nur um gleichzeitig zu zeigen, daß diese Unmöglichkeit erst in ihrer abgründigen Unaufhebbarkeit zum Objekt des wahren transformierenden Wunders der wahren befreienden Gnade des „Herrn" werden kann. Alle anderen „natürlicheren" und menschlicheren Formen der Hilfe sind im voraus zum Scheitern verurteilt, 2 3

Ebenda, S. 46. Franz Kafka: Gesammelte Werke. Beschreibung eines Kampfes. New York, 1956, S. 102.

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ja mehr noch: Sie bestätigen und verhärten die Hoffnungs- und Auswegslosigkeit des an das Rad der fortlaufenden Immanenz der Lügenwelt gefesselten Gefangenen. Kehren wir jedoch zu Piaton zurück. Die Illusion des undurchdringlichen Kosmos, in dem nur die vom Körper getrennte Seele und daher nur ein restlos vergeistigter Mensch an dem Ideengut partizipieren kann, führt folgerichtig zur Verwandlung sowohl alles lebendigen wie auch leblosen Seienden in ein schattenhaftes Welttheater. Auf dieser Bühne wird bereits die Möglichkeit der Verwandlung all des Seienden in eine bloße Lügenwelt, in ein Labyrinth von endlosen Gefängniszellen offenbar, in die — aus eigenem, absurden Willen — der lebendige Leichnam des MenschenGefangenen für immer gebannt, verworfen ist: Kafkas Jäger Gracchus. Piaton ahnte unbewußt den verborgenen Widerspruch in seinem Höhlengleichnis. Eine direkte Partizipation der Höhlenwelt am Reich der Ideen setzt sich der Gefahr aus, daß entweder die Wahrnehmung der Ideen verunstaltet wird oder die Befreiung in einen unendlichen mythischen Kreislauf von vergeblichen und scheinbaren Befreiungen mündet. Piaton, angeregt durch die griechische Tragödie oder geführt durch seine philosophische Intuition, erahnte die Möglichkeit einer Lösung im Akt der Opferung des Helden. Aber auch da gilt Piatons Lösung bei weitem nicht eindeutig. Wenn wir uns die beiden dramatischen und dynamischen Augenblicke des Höhlengleichnisses anschaulich vor Augen führen — die gewaltsame Befreiung des Gefangenen in der zweiten Phase, seine Rückkehr und der gewaltsame Tod aus den Händen der alten Mitgefangenen in der vierten Phase — entdecken wir auch hier einen Widerspruch. Im ersten Falle handelt es sich um befreiende, im zweiten um zerstörende Gewalt. Wenn befreiende Gewalt immer durch zerstörende Gewalt aufgehoben würde, also jedesmal im Tode des Helden, wie es in der griechischen Tragödie fast zur Regel wurde, wäre es allerdings höchst chimärisch, überhaupt von Befreiung zu sprechen, was ja letzten Endes auch als Ergebnis des Versuchs gelten muß, beide Momente ohne Zäsur — im geschlossen einheitlichen Raum der kosmischen Partizipationen — durch den Mythos der ewigen Wiederkehr zu erklären, wo Folge mit Voraussetzung eins ist, wo Befreiung mit dem Tode (der keine neue Lösung bringt) gleichgesetzt wird. Dieser Mythos beherrschte bekanntlich nicht nur die Welt der Antike, sondern fast alle archaischen Kulturen und erneuerte sich mit neuer Wucht an der Schwelle der modernen totalitären Machtsysteme. In der sogenannten Postmoderne erhebt er globale Ansprüche.

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Aber schon die bloße Tatsache, daß Piaton beide Momente der Gewaltanwendung in ein geradezu dialektisches Verhältnis stellt, zeugt davon, daß er die Möglichkeit ihrer Aufhebung in eine Synthese, aus der erst die Gestalt der wahren und einzig möglichen Befreiung des Menschen (in unteilbarer Verbundenheit von Körper und Seele) hervortreten kann, wohl ahnen, wenn auch nicht fassen konnte. Eine solche Synthese hätte den Gefangenen der Lügenwelt die Befreiung gerade und nur durch den Tod ihres Befreiers bringen müssen, ja mehr noch: Sie hätte die Gefangenen — die in ihrer Blindheit nichts als ihren Befreier immer wieder töten können — zur Erkenntnis führen müssen, daß sie, als permanente Mörder ihres Befreiers, die Befreiung nur durch Verwandlung ihrer blinden Verfolgung in bewußte Nachfolge des Befreiers bis in den bitteren Tod hinein nach seinem eigenen Vorbild erreichen können. Sobald wir diesen Gedanken aussprechen, werden wir uns bewußt, wie sich in der scheinbar fugenlosen Einheitlichkeit des platonischen Gleichnisses eine schmerzhafte Zäsur auftut. Durch den Tod des Befreiers weist Piaton auf die Lösung des zentralen Widerspruchs zwischen den beiden Welten, der Höhlenwelt und des Ideenreiches hin. Die Befreiung wird durch das Mysterium eines Trotzdem vollbracht, das sich trotz aller Unmöglichkeit der Befreiung aufrechterhält. Dieses Trotzdem und Dennoch zerschneidet nämlich den gordischen Knoten der Aporien im spiritualistischen Dualismus: der sich daraus ableitenden reinen, absoluten Seele bzw. des reinen, absoluten Geistes, der die Idee seiner selbst in ihrer Widerspiegelung im blendenden Licht und tiefster Finsternis anschaut. Später hat bekanntlich Hegel diesen Widerspruch durch die dialektische Identität von Sein und Nichts zu lösen versucht, in die auch der Mensch gesetzmäßig befreit wird, allerdings um den Preis des Verlustes seiner personalen Identität. Das platonische Trotzdem dagegen erscheint als das letzte Vermächtnis der Helden der griechischen Tragödie. Auch bei Kafka läßt sich jene Befreiung trotz Befreiungsunmöglichkeit (die durch „die Tatsache, daß es nichts gibt als eine geistige Welt" gestützt wird) beobachten. Während bei Piaton die Zäsur zwischen den beiden Welten noch ganz verdeckt wird, bleibt sie bei Kafka — obzwar anwesend — fast unbestimmbar, wie ja auch der Ort von Gracchus „Aufenthalt" unbestimmbar ist. Bei Piaton kann von der Ahnung einer wahren, echten Befreiung gesprochen werden, die jedoch mißlingen muß in einer Welt, die Piaton selbst in ein Welttheater verunwirklichte, womit die Zäsur der ontologischen Differenz verwischt wurde. Bei Kafka dagegen ist vom Bewußtsein der Unmöglichkeit der Befreiung aus einer Lügenwelt zu sprechen, in die der Mensch sich selbst gefangengenommen hat, jedoch

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mit einem „Rest von Glauben" an ein ganz und gar transzendentales Trotzdem. Bei Kafka ist die kosmische Welt der unpersönlichen Ideen spurlos verschwunden und wurde durch das transzendentale Reich des aus eigenem unerforschlichen und freien Entschluß kommenden „Herrn" und Befreiers ersetzt. Der Einfluß der jüdisch-christlichen Kultur tritt darin zutage. Nichtsdestoweniger weist Piatons unter dem gnadenlosen Himmel der unpersönlichen Ideen geopferter Held gegenüber Kafkas „Herrn" und Gefangenen eine existentiell tragische Dimension auf. Sein unschuldig verurteilter Gerechter überwindet sozusagen die menschliche Indifferenz der absoluten Ideen, indem er ihnen durch seine Aufopferung seine unteilbare Menschlichkeit gegenüberstellt, sterbend für die Idee (in äußerster Manifestation seines Eros) personifiziert er sie. Das Opfer, das sich paradox an eine abstrakte Idee anknüpft, stellt die Vorstufe einer unterscheidenden Ontologie des Seins des Seienden dar. Anders ausgedrückt: Die absolute Abgewandtheit der Platonischen abstrakten Idee wird einerseits durch das Opfer zu einer anwesenden Abgewandtheit gezwungen und dadurch verwesentlicht, und andererseits gleichzeitig vom Seienden genauer unterschieden, das in die Welt der Finsternis versunken ist. Fassen wir die Ergebnisse der Gegenüberstellung von Piatons Gleichnis und Kafkas Aphorismus zusammen: Auf der ontologischen und noetischen Ebene (denn es geht ja letzten Endes um die Erkenntnis des Seins) wird bei Piaton durch das Bild der gewaltsamen Befreiung desjenigen, der nach seiner Rückkehr aus dem idealen Reich der Freiheit der Gewalt aller Unfreien zum Opfer fallt, die verschüttete Differenz zwischen der Welt der Finsternisse und Schatten und der Welt der blendenden Ideen trotzdem — wenn auch unbewußt — gewahrt. Der Ort der Differenz ist identisch mit dem Ort der Opferung des tragischen Befreiers. Durch die Absolu tierung der zu den Ideen aufsteigenden Seele belastet Piaton sein Gleichnis allerdings rechtzeitig mit einer Reihe von inneren Widersprüchen, die vor allem das Schlüsselmoment der Rückkehr bedrohen, nämlich das Problem der Befreiung des Gefangenen, das Piaton nicht löst, vor dem er in seiner „Politela" aufs Feld der allgemeinen „Politik" zurückweicht. Kafka bezieht in die ontonoetische Ebene die jüdisch-christliche Erfahrung ein, aber in jener Gestalt, wie sie vom schlafwandlerischen Spätzustand der europäischen Kultur aufbewahrt wird: in Form von „beginnender Erkenntnis", gesteigertem Haß zum Gefängnis der Welt, Willen zum Tode und Nichts bei absurdem „Rest von Glauben" an eine nicht weniger absurde Befreiung. Ähnlich wie Piaton weicht Kafka vor dem Problem der Befreiung zurück, diesmal nicht auf das Feld einer allgemeinen „Politik", sondern in die paradoxe Sphäre der notwendigen Möglichkeit.

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Während Platon die verschüttete, undeutliche Zäsur durch das tragisch vergebliche Opfer des Helden festhält, entwirklicht Kafka Bahn und Lage einer schmerzlich klaffenden Zäsur zwischen der freien und befreienden Welt des „Herrn" und der labyrinthisch in sich verschlossenen Welt des Gefangenen durch die Kategorien des Möglichen und Zufälligen. Bei Piaton scheint der Augenblick der Befreiung noch nicht eingetroffen zu sein, bei Kafka scheint er schon vergangen zu sein. Heideggers Vorwurf gegen Piaton, er sei in der Seinsvergessenheit verhaftet geblieben, gilt, glaube ich, nur bedingt; er gilt auf der ontonoetischen, nicht aber auf der existentiellen Ebene, dort nämlich, wo Piaton seinen geopferten somatischen Befreier schildert, dessen Tod ein Licht wirft auf den ontologischen Unterschied der beiden Welten, der idealen Wahrheit und der verlogenen Polis. Es läßt sich sogar sagen, daß das geheimnisvolle Paradoxon der Befreiung durch den Tod des Befreiers die existentielle Ebene in eine eschatologische aufhebt. — Bei Kafka finden wir einen dem entgegengesetzten Vorgang: Das ursprünglich wache jüdisch-christliche Bewußtsein der ontologischen Differenz der beiden Welten versinkt allmählich in den Zustand der Vergessenheit; der einst beglückende Glaube an eine stattgefundene Befreiung durch den Tod des Befreiers reduziert sich in „Rest von Glauben" an eine nur mehr mögliche Befreiung durch die Kaprice des „Herrn". Das allmähliche Vergessen der Differenz, das Stadium des „nicht mehr" (das sich jedoch mit dem platonischen „noch nicht" zu überdecken scheint) — mit der bloßen Möglichkeit einer zufalligen Beobachtung, auf die man nur mehr warten kann wie auf Godot, bei der die Möglichkeit einer Nachfolge vollkommen ausgeschlossen ist — offenbart sich in Kafkas Aphorismus auch in der Struktur der Bilder. Der Gefangene vertritt darin den monadisch vereinsamten, aus allen Bezügen zur Welt und zum Nächsten herausgerissenen Menschen. Dabei hätte ihn ja gerade ein zwischenmenschlicher Ich-Du-Bezug des Gefühls der Zufälligkeit seiner Einkerkerung wie auch seiner Befreiung entheben können. Man darf da nicht vergessen: Das Zufällige der Befreiung korrespondiert mit der Zufälligkeit der Einkerkerung. Das Zufällige nivelliert alle Differenz. — Daneben stellt das Eingekerkertsein auch eine Art von umgestülptem (oder „auf die Beine gestelltem") Bewußtsein einer im Schöße des allumfassenden Seins lebenden Existenz der — oder besser den Zustand der Vergessenheit jenes pantheistischen Allumfaßtseins, das allem Seienden und aller Existenz das Siegel des fraglos und gleichgültig Selbstverständlichen aufprägt. Hier verhält es sich also umgekehrt: Das Nichtselbstverständliche des Seienden und der Existenz kann in der spiritualistischen Dialektik nicht besser ausgedrückt werden als gerade durch das Bild der Selbsteinkerkerung im Labyrinth des Zufalligen.

Die zwei Welten bei Franz Kafka

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Das Bild des Gefängnisses greift jedoch folgerichtig noch weiter vor. Die Einsamkeit des Gefangenen in der unendlichen Flucht von Zellen versinnbildlicht die Totalität, in der jegliche Differenz verschwindet — die Zellen werden zuletzt immer gleich — und die in ihrer Unteilbarkeit selbst das Sein in seinem Reichtum und seiner Vielfalt zu ersetzen strebt. Die totale Vereinsamung erinnert an den Titanismus der Romantiker, nur daß sie bei Kafka erbarmungslos versachlicht wurde und dadurch befreit von dem unendlichen Ornament des sich narzistisch selbst bespiegelnden Subjekts samt seinem geckenhaften Nihilismus. Dies, weil das Totale bei Kafka nur als unvermuteter Ausgangspunkt zum ganz anderen dient. Sein Häftling versucht immer wieder jenes aufwühlende va banque-Spiel von „beginnender Erkenntnis" und „Rest von Glauben". Die Totalität als Kerker — darin ist gleichzeitig auch der Hinweis auf etwas die versklavende Totalität Übersteigendes und von ihr vollkommen Unabhängiges enthalten. Kafka deutet jene Unabhängigkeit an durch die Zufälligkeit von des „Herrn" Ankunft. Der Zufall im Aphorismus kann daher nicht nur als eine die Differenz (durch Verundeutlichung ihres Verlaufs und ihrer Lage) entwirklichende Kategorie gedeutet werden, sondern auch als Kategorie, die paradoxerweise imstande ist, durch sich selbst in sich selbst zu differenzieren. Es erscheint, als hätte Kafka die Notwendigkeit einer verborgenen Urdifferenz in der ontologischen Differenz selbst erahnt im abgründigen Unterschied zwischen der kosmischen Totalität eines von den Wesenheiten des Seienden abhängigen Seins und einem von diesem Sein des Seienden absolut subsistenten Sein. Das Eingekerkertsein läßt sich also als Zeugnis von Existenz erklären, die in ihrer Essenzialität nicht nur durch das allumfassende Sein des Seienden bestimmt wird, sondern darüber hinaus durch eine diese Bestimmung überragende Macht, und dies gerade dann, als die Existenz des Häftlings auswegslos in sich selbst gefangen zu sein scheint. Jenes allübersteigende und vorgreifende Sein gibt sich durch die Möglichkeit der Befreiung kund (als Erfüllung des „Rests von Glauben"), durch eine Möglichkeit jedoch, deren Verwirklichung in den Händen des „Herrn" liegt, im Entschluß seiner absolut unabhängigen, alles überragenden Macht. Die unerwartet befreiende, ganz andere Freiheit jenes Befreiers kann allerdings furchtbar — und im Rückblick auf die zur Sucht gewordene Selbsteinkerkerung des Gefangenen — zu Beginn sinnlos und gerade in ihrer großartig befreienden Ankunft als zufallig erscheinen. Im Schatten der Zufälligkeit jeglicher Befreiung wird der Kerker zum Ort der absoluten Abwesenheit der Freiheit, zum Reich der absoluten Finsternis, zur Welt also, die in ihrer Welthaftigkeit „an sich" ein unendliches Eingekerkertsein,

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eine pervers ungerechte Ordnung von geradezu kosmischem Ausmaß darstellt, und dies gerade wegen ihrer auswegslos unerbittlichen Gesetzmäßigkeit. Erst von den unauslotbaren Tiefen und unerforschlichen Höhen der Differenz aller Differenzen aus, also unter Berücksichtigung des esse subsistens kann man den Versuch um nähere Bestimmung des „Herrn" wagen. In Kafkas Aphorismus selbst offenbart sich diese entscheidende Differenz (ähnlich wie schon bei Piaton) durch die Blendung des Häftlings, durch sein hilfloses Herumtappen zwischen Woher und Wohin, trotz dem er wie zur wahren Befreiung geführt wird ... Soll man nun den „Herrn" in Kafkas Aphorismus mit Gott gleichsetzen? Eines ist unbestreitbar: Schon durch die bloße Idee des befreienden „Herrn" wird die namenslos abstrakte ontologische Differenz der beiden Welten als Vorwegnahme von Höherem bestimmt, und zwar als eine geheimnisvolle, unerforschlich lebendige Beziehung zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch, als eine Beziehung, die durch den Akt einer absoluten Freiheit bedingt ist, die nicht nur die Verwurzelung des Gefangenen in seiner wesenseigenen Unfreiheit, sondern auch in seinen scheinbaren Freiheiten überwindet: durch einen Akt der befreienden Freiheit, die gleichzeitig ein unergründliches Geschenk der Liebe darstellt. Erst auf dieser Ebene identifiziert sich das Geschenk der befreienden Liebe des „Herrn" (der sagt: „Er kommt zu mir!") mit Piatons Opferung des Sokratischen Helden. Die Differenz hört auf, ein Zeichen der Inkommensurabilität des ganz Anderen zu sein, und wird zum Ausdruck der Freiheit eines „Herrn", der imstande ist, den Häftling zu erlösen, der durch die abgründige Unmöglichkeit der Befreiung aus der Gefangenschaft seiner Selbstgeworfenheit in ein monadisch verschlossenes Sein gemartert wird. Diese Befreiung kann nicht mit einer dialektischen „Aufhebung" gleichgesetzt werden — Kafka lag jeglicher Hegelianismus fern —, durch die der befreite Gefangene zuletzt mit dem „Herrn" einsgeworden, in dem er untergegangen wäre. Bereits im Zustand der möglichen Freiheit, umsomehr dann im metaphysischen Maßstab der wirklichen Freiheit, im „zu mir" des „Herrn", wahrt der einstige Gefangene die personale Würde seiner Gefangenschaft. Das unauslöschliche Siegel seines trostlosen Leidensganges wird durch des Herrn Befehl „zu mir" verwandelt und hinübergerettet „zu ihm", der nichts Personales zerstört, sondern es vielmehr in Form jener wie „zufalligen", aber auf ewig unumstößlichen Begegnung aufbewahrt. — In Kafkas Aphorismus herrscht allerdings noch die Selbstgefangenschaft im Kerker der eigenen Existenz, noch nicht etwa die Selbsteinkerkerung der Menschheit im Gulag oder Ausschwitz — den sozialutopischen Projekten der betrügerischen Befreier in der phantasmatischen Höhlen- und Lügenwelt.

Hans Dieter

Zimmermann

Die aufbauende Zerstörung der Welt Zu Franz Kafkas „Der Hungerkünstler"

Ein Text aus dem Nachlaß Franz Kafkas handelt „von den Gleichnissen", wie Max Brod ihn überschrieb. In der Tat nennt hier Kafka die literarische Gattung beim Namen, die er in anderen Texten benutzt, ohne sie zu nennen, und er nennt sie nicht Parabel, sondern mit dem biblischen Ausdruck „Gleichnis". Vom religiösem Gebrauch der Gattung ist auch die Rede: Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: „Gehe hinüber", so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagt einer: „Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei." Ein anderer sagt: „Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist." Der erste sagte: „Du hast gewonnen." Der zweite sagte: „Aber leider nur im Gleichnis." Der erste sagte: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren." Der Aufbau des Textes erinnert an die Vorgehensweise im Talmud: zunächst wird eine Problemlage dargestellt, dann wird sie unter gegensätzlichen Gesichtspunkten erörtert. Die Feststellung am Ende des 1. Absatzes ist schlicht: Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, „und das haben wir gewußt". Das ist eine Zusammenfassung all der vielen Bemühungen, das Unfaßbare zu erfassen, die nur darauf hinauslaufen, es eben als unfaßbar darzustellen. Sodann die zweite wichtige Aussage: „Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge." Also: die spitzfindigen Argumentationen der Theo-

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logen, der Philosophen haben mit unseren täglichen Problemen wenig zu tun, sie sind uns wenig hilfreich. Der erste Redner formuliert sodann eine andere Haltung zu den gelehrten Gleichnissen: es kommt nicht darauf an, sie zu erörtern, sondern darauf, ihnen zu folgen. Er führt also von der Ebene des Argumentierens, des Sprechens, auf die Ebene des Verhaltens, des Tuns. D a s kann der zweite Redner ebenfalls nur als Gleichnis begreifen, also als gleichnishafte Redeweise. Darin stimmt der erste ihm zu: er habe gewonnen. Der zweite sieht auch dieses Gewinnen im Bereich des Gleichnisses angesiedelt. Doch der erste: „Nein in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren." In Wirklichkeit hat der erste also recht, im Bereich des alltäglichen Lebens: auch dem Gleichnis zu folgen, kann dort nur als Gleichnis verstanden werden. Im Gebiet des Gleichnisses dagegen hat er verloren; dort gilt: nicht reden, sondern handeln. Kafka zitiert hier sehr scharfsinnig zwei verschiedene Verhaltensweisen, die man gegenüber dem, wovon die Religion spricht, einnehmen kann. Man kann darüber diskutieren, die Vernünftigkeit der Aussagen in Frage stellen, und wird dann zu dem genannten Ergebnis kommen; es ist die aufklärerische Haltung, die das Überlieferte analysiert und damit zersetzt, zerstört. Die andere Haltung ist die traditionelle, die das Überlieferte nicht erörtert, sondern ihm folgt; also: nicht diskutieren, sondern meditieren, ließe sich sagen. Kafka hat beide Positionen gleichzeitig nebeneinander gestellt, wie auch sein Werk Ausdruck beider Positionen zugleich ist: einerseits die Zerstörung des Überlieferten bis auf den Grund, andererseits der Versuch, den Gleichnissen zu folgen. Er versuchte ihnen zu folgen, aber nicht als Frommer, sondern als Künstler, ist meine These. Und darin hat er Ähnlichkeit zu einigen anderen Schriftstellern der Literatur dieses Jahrhunderts. Zunächst zur „aufbauenden Zerstörung der Welt", wie Kafka es in einem Aphorismus nennt. Hier meint er offensichtlich auf seine Weise den Vorgang, den Hans-Georg Gadamer bei Martin Heidegger als Destruktion bezeichnet: nämlich als Destruktion der philosophischen Überlieferung seit Aristoteles, nicht um die Philosophie beiseitezufegen, sondern um sie zu den Wurzeln zurückzuführen, zu den Anfangen, an denen die Grundfragen sich unverstellt stellen. 1 Also nicht nur Zerstörung, sondern auch Aufbau; um ein neues Haus bauen zu können, muß das alte, in Trümmern liegende Haus abgerissen werden, ließe sich das in einem Bilde sagen. 1

H. G. Gadamer: Heidegger und die Sprache. In: H. G. Gadamer: Idee und Sprache. Platon, Husserl, Heidegger. Kleine Schriften III, Tübingen, 1972.

Zu Franz Kafkas „Der Hungerkünstler"

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Gerade an Kafkas Nacherzählungen überlieferter Stoffe, sei es solcher der Bibel, sei es solcher der Antike, ist dieser Vorgang der aufbauenden Zerstörung offensichtlich. Kafka zerstört die tradierte Fassung, nicht um sich über den Mythos zu erheben, sondern um ihn, der das Unerklärliche erklärt, wieder ins Unerklärliche zurückzuführen, wie er ausdrücklich in seiner Prometheus-Version sagt; deshalb ist ihm die Negation so wichtig. 2 Kafkas Haltung ließe sich in dem Paradoxon festhalten: Erneuerung der Tradition durch Negation, allerdings durch eine radikale, die weit über das hinausgeht, was vorher geleistet wurde. Etwa über Sören Kierkegaard, den Kafka kannte und schätzte. Der Unterschied zwischen Kierkegaards „dialektischer Theologie" und Kafkas „religiöser Dialektik" läßt sich am besten in einem Bild Kierkegaards aufzeigen. Heutzutage, meint Kierkegaard, werde der Mensch so sehr mit positivem Wissen angefüllt, daß es notwendig sei, ihm etwas davon wegzunehmen, daher seine Dialektik, „die verwirrende Form des Gegensatzes". Dann das Bild: „Wenn ein Mann den Mund so voll Essen hat, daß er aus dem Grunde nicht zum Essen kommen kann und es damit enden muß, daß er Hungers stirbt, besteht dann das Ihm-Speise-Mitteilen darin, daß man ihm den Mund noch voller stopft, oder nicht vielmehr darin, daß man dafür sorgt, etwas davon zu entfernen, damit er dazu kommen kann zu essen?" „Damit er dazu kommen kann zu essen": Kierkegaards Dialektik ist eine Art Diät, die das Alte erhalten will, und zwar bei besserer Gesundheit: weniger, aber richtig essen. Kafkas Dialektik ist die des „Hungerkünstlers", der nichts ißt, bis er stirbt: „der Glaube wie ein Fallbeil", wie es in den Aphorismen heißt. Die reine Negation also, die unbedingte Verneinung. Bei Kafka bleibt nichts übrig, woran eine Schule der „dialektischen Theologie" sich halten könnte wie bei Kierkegaard. Kafka hat nicht Schule gemacht. Wer könnte ihm auch folgen? Er müßte ein „Hungerkünstler" sein, der auf jedes Essen verzichtet. Der Hungerkünstler hat keinen Feierabend. Kafkas Erzählung „Der Hungerkünstler", 1924 im gleichnamigen Erzählungsband erschienen, dessen Korrekturen Kafka auf dem Sterbebett noch las, handelt von einem Künstler und nicht von einem Frommen (Zaddik). Früher gab es in Varietés tatsächlich solche Hungerkünstler, die längere Zeit nichts aßen und immer neue Rekorde aufstellten. Bei Kafka 2

Siehe dazu meine Untersuchung: Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka und Robert Walser. Frankfurt am Main, 1985 (Edition Suhrkamp 1316), bes. S. 61 ff. — Siehe auch Jörn K. Bramann: Religious Language in Wittgenstein and Kafka. Offprint Diogenes. 1974. S. 33-37.

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ist das Hungern des Künstlers auf genau vierzig Tage begrenzt, danach bricht der Impresario das Hungern ab — aus wohlerwogenen Gründen: das Publikumsinteresse läßt nach vierzig Tagen nach. Die vierzig Tage erinnern natürlich an biblische Zeitmaße des Fastens. Genau an der Stelle, an der der Impresario nach vierzig Tagen den Hungerkünstler aus dem Käfig führt, werden dann auch religiöse Zusammenhänge genannt: „Der Impresario kam, hob stumm — die Musik machte das Reden unmöglich — die Arme über den Hungerkünstler, so als lade er den Himmel ein, sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehen, diesen bedauernswerten Märtyrer, welcher der Hungerkünstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn." Nur in ganz anderem Sinn! Die Verbindung zwischen dem Hungernden und dem Himmel wird zwar hergestellt, der Hungernde ist „sein (also des Himmels) Werk", ein Märtyrer ist er auch, aber nicht im alten Sinne. Hier fastet nicht ein Eremit, hier hungert ein Künstler. Hungern ist nicht dasselbe wie Fasten; Fasten ist eine vorgeschriebene Handlung, die innerhalb eines religiösen Kultus ihre Funktion hat: die der Reinigung, die der Abwendung vom Irdischen, der Hinwendung zum Himmlischen. Bei Kafka wird gehungert, d. h. es wird lediglich nicht gegessen, und der Zusammenhang, in dem es geschieht, ist ein künstlerischer: der Künstler braucht ein Publikum. Seine Tat ist sinnlos, wenn das Publikum sie ignoriert. Er braucht die Zuschauer. Der Fastende hat Gott zum Zuschauer und braucht sonst niemanden. Insofern ist das Wort „Hungerkünstler" hier auch in dem Sinne gemeint, den man nicht selten zur Bezeichnung des Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft benutzt: der Künstler muß sich durchhungern, weil er von seiner Kunst nicht leben kann. Der „freie Künstler" ist zwar frei von staatlicher und kirchlicher Bevormundung, er ist oft aber auch einsam und arm. Will er von seiner Kunst leben, braucht er Erfolg beim Publikum; er ist also abhängig vom Publikum. Unterwirft er sich jedoch den Wünschen des Publikums allzu sehr, verliert er seine künstlerische Reputation. Hält er sich konsequent an seinen künstlerischen Auftrag, droht ihm das Publikum verloren zu gehen. „Der Hungerkünstler" ist eine scharfsichtige Parabel des Künstlers in der Moderne, wie sie sich seit etwa 200 Jahren herausgebildet hat. Dieser Künstler übernahm aus der religiösen Tradition eine gewisse Aura, die ihm Bewunderung einbrachte, von ihm aber auch Unbedingtheit und Reinheit verlangte. Dabei hatte dieser Künstler den Halt in der Religion verloren, die Einbindung in die Gemeinschaft aber selten dagegen eingetauscht. „Josefine und das Volk der Mäuse" heißt die Erzählung, die Kafka nach „Der Hungerkünstler" schrieb. Dort wird das Verhältnis von Künst-

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1er und Gesellschaft noch schärfer formuliert: Josefine hält sich für eine große Sängerin, das Volk der Mäuse aber findet, daß sie nicht anders piepse als alle anderen Mäuse auch. Der Erzähler der Geschichte läßt uns Leser im Zweifel, wer von beiden Recht hat: die Sängerin oder das Volk. Kafkas „Hungerkünstler" fehlt also nicht nur die Verbindung zum Himmel, ihm fehlt auch die Verbindung zum Publikum. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist freilich im Judentum die Grundlage der Religion: Das jüdische Volk als Ganzes, nicht der isolierte Einzelne ist Subjekt im Heilsgeschehen. Kafkas Hungerkünstler steht allein einer Zeit, in der auch das Hungern, sozusagen als Nachfolgehandeln des Fastens, lächerlich geworden ist. In Europa, heißt es in der Geschichte, ist inzwischen „ein Umschwung" geschehen: Denn inzwischen war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das geschehen; es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen strömte. Noch einmal jagte der Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch hie und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das in Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rauch der Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. Zwar war es sicher, daß einmal auch für das Hungern wieder die Zeit kommen werde, aber für die Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerkünstler tun? Der, welchen Tausende umjubelt hatten, konnte sich nicht in Schaubuden auf kleinen Jahrmärkten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerkünstler nicht nur zu alt, sondern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. Der Hungerkünstler verhungert schließlich unbeachtet in seinem Käfig; kurz vor seinem Tode gibt er noch eine Begründung seines Hungerns: Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hunger bewundert", sagte der Hungerkünstler: „Wir bewundern es auch", sagte der Aufseher entgegenkommend. „Ihr sollt es aber nicht bewundern", sagte der Hungerkünstler. „Nun, dann bewundern wir es also nicht," sagte der Aufseher, „warum sollen wir es denn nicht bewundern?" „Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders", sagte der Hungerkünstler. „Da sieh mal einer," sagte der Aufseher, „warum kannst du denn nicht anders?" „Weil ich," sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ging, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden,

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glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle."

Er fand also nicht die richtige Speise. Hätte er sie gefunden, hätte er nicht hungern müssen, vielleicht hätte er dann fasten können? Kierkegaard empfiehlt eine Diät, sagte ich, Heidegger legt den Grund frei, sagte ich; Kafka nennt nur einen Abgrund. Der Hungerkünstler hat keinen Feierabend. Kafka hat in seinem Werk und in seinem Leben eine Antwort auf die Frage nach dem rechten Leben gesucht. Sehen wir uns Kafkas Texte an, finden wir keine Texte der Art, wie wir sie bei Kierkegaard oder Heidegger finden: also Briefe etwa, in denen die Autoren ihre Philosophie verständlich zu machen versuchen, außerhalb der Redeweise ihrer Philosophie. Kafkas Briefe sind von derselben Art wie seine übrigen Texte, ironisch im Sinne Kierkegaards: radikal, bodenlos. Auch Kafkas Leben — und das ist der wichtige Punkt, auf den ich hier hinweise — auch Kafkas Leben kannte keine Ruhepausen, wie Milena Jesenska, die ihn wohl am besten verstand, in einem Brief an Max Brod es ausdrückte: Er hatte keinen Ausweg, nicht im Schlaf, nicht im Rausch. 3 Kierkegaard hatte gemütliche Stunden im Kaffeehaus, Heidegger bei der Familie. Die Philosophie war ihre Profession, nicht ihr Leben. Kafka versucht beiden Rednern in seinem Gleichnis von den Gleichnissen zu folgen. Einerseits stellt er die Überlieferung in Frage als aufgeklärter Rationalist, andererseits versucht er ihr zu folgen. Als frommer Jude kann er das nicht tun, sondern nur als Künstler, und zwar als ein Künstler, der außerhalb der Gemeinschaft, der jüdischen nicht nur, also auch ohne nennenswerten Erfolg lebte. Er hat gewissermaßen die alte Rolle des fastenden Frommen, der die Gesetze hält, übertragen auf die 3

Der Brief v o n Milena Jesenska an Max Brod lautet: „Gewiß steht die Sache so, daß wir alle dem Augenschein nach fáhig zu leben, weil wir irgendeinmal zur Lüge geflohen sind, zur Blindheit, zur Begeisterung, zum Optimismus, zu einer Überzeugung, zum Pessimismus oder zu sonst etwas. Aber er ist nie in ein schützendes Asyl geflohen, in keines. Er ist absolut unfähig zu lügen, so wie er unfähig ist, sich zu betrinken. Er ist ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem ausgesetzt, w o v o r wir geschützt sind. Er ist wie ein Nackter unter Angekleideten. Es ist das alles nicht einmal Wahrheit, was er sagt, was er ist und lebt. Es ist solch ein determiniertes Sein an und für sich, von allen Zutaten entledigt, die ihm helfen könnten, das Leben zu verzeichnen — in Schönheit oder in Elend, einerlei. Und seine Askese ist durchaus unheroisch — hierdurch allerdings um so größer und höher. Jeder ,Heroismus' ist Lüge und Feigheit. Das ist kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zu einem Ziel konstruiert, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsichtigkeit, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiß zur Askese gezwungen ist." (Nach Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt am Main, 1974, S. 200).

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moderne Rolle des Künstlers, der nicht nur durch Reden, also in seinem Werk, sondern auch durch Handeln, also in seinem Leben radikal sein will: der religiöse Vorgang wird zum ästhetischen, die religiöse Haltung zur Künstlerischen, gerade dadurch aber wird sie hoffnungslos. Auch der Erfolg befriedigte diesen Künstler nicht. Gerade die, die ihn bewundern, machen den Hungerkünstler wütend. Ich sehe die Haltung Kafkas, die nicht mit der Rede im Werk sich begnügen kann, um dann zum gemütlichen Feierabend überzugehen, — wir reden alle gern vom „Unsagbaren" und lassen uns es danach bei gutem Essen und Wein wohl ergehen wie Kafkas Affe Rotpeter nach Feierabend in „Bericht für die Akademie" —, auch bei einigen anderen Autoren, also die Radikalität, die sich mit dem ganzen Leben der Aufgabe unterwirft. Ich sehe diese Haltung bei dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, dessen Leben solche Phasen der Askese enthält: Er verschenkte sein Vermögen, er ging in die norwegische Einsamkeit, er lehnte eine Professur ab, er wurde Volksschullehrer im hintersten Winkel Österreichs. Ich sehe diese Haltung bei Rainer Maria Rilke: in seinem Eremitendasein, in seinem Aufenthalt in leeren Schlössern wie dem von Duino, in der Abgeschlossenheit von Muzot. In jenem Winter in Duino ist ihm der Geist eines Verstorbenen erschienen, der ihm Gedichte diktierte, sagte Rilke. Die Rilke-Forscher wissen das natürlich besser und weisen Rilke zurecht. Rilke führte auf seine Weise die genannte „Destruktion" durch: die des christlichen und die des antiken Mythos in den „Duineser Elegien" und in den „Sonetten an Orpheus", bis er in den letzten Jahren fast frei wurde von der Uberlieferung und unverstellt sprechen konnte. Ich denke auch an Robert Walser, der als verlachter Trottel in Bern umherirrte, nachts Stimmen hörte und schließlich im Irrenhaus landete, dem letzten Kloster unserer Zeit, wie Elias Canetti sagt. Und ich denke an den Dadaisten Hugo Ball, der sich ins Tessin zurückzog, fromm wurde mit einer Intensität, die jedem beamteten Pfarrer unangenehm sein muß, weil sie auf eine Weise mit dem Glauben ernst macht, der die Hierarchie der Kirche ins Wanken bringt. Ball starb dort, mager wie ein Hungerkünstler sieht er auf dem letzten Foto aus. Im Tessin schrieb er mit den byzantinischen Legenden die Geschichte dreier Kirchenväter, also auch hier ein Zurück zu den Quellen, nachdem er als Dadaist die Destruktion der europäischen Kultur clownesk vorführte — in einer Zeit, in der diese Destruktion ernsthaft und blutig auf den Schlachtfeldern von Verdun durchexerziert wurde. Und ich denke an Fritz Mauthner, den Prager Juden der Generation von Franz Kafka, der Ende des letzten Jahrhunderts ein berühmter Kritiker

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in Berlin war, sich dann nach Freiburg und schließlich an den Bodensee zurückzog, wo er nach seiner dreibändigen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache" eine Buddha-Legende nacherzählte, die mit dem glücklichen Eingehen Buddhas ins Nichts endet. Mauthners Sprachkritik hatte erhebliche Wirkung in Literatur und Philosophie. Joachim Kühn schreibt, daß James Joyce sich von seinem Sekretär Samuel Becket daraus vorlesen ließ, als er an „Finnegans Wake" arbeitete. 4 Mauthner galt als Buddha vom Bodensee, bis er dann doch noch einmal an den weltlichen Dingen Anteil nahm: er war ein deutsch-nationaler Bismarck-Anhänger und rief zu Beginn des 1. Weltkrieges zum Kampf gegen die verderbten Franzosen auf. Er wurde zum Prediger einer allzu weltlichen Heilslehre, des Nationalismus, so wie ein anderer Österreicher, dessen „Ein Brief des Lord Chandos" von 1902 als wichtiges Dokument der Sprachkrise in der neueren Literatur gilt. Hier ist der Unterschied zu den genannten „Eremiten": Hofmannsthal schrieb einen eleganten Essay und er schrieb weiter, lebte weiter wie bisher, nur sein fiktiver Lord Chandos zog sich aus dem literarischen Betrieb zurück; es war ein Sujet unter anderen für Hofmannsthal. Hofmannsthal wurde schließlich in seiner blumig-verquasten Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" von 1927 ebenfalls zum Prediger: zum Prediger einer „konservativen Revolution", die im gebildeten Bürgertum eine Erwartungshaltung weckte, die Hitler den Boden bereitete. Der „Prediger" einer Weltanschauung oder Ideologie, sei es nun einer rechten oder linken, heiße er nun Ernst Jünger oder Johannes R. Becher, Gottfried Benn oder Bert Brecht, der „Prediger" ist der Antipode des „Eremiten"; die Mehrzahl der Schriftsteller freilich siedelt zwischen diesen beiden Polen. Der „Eremit" ist der, der nicht nur spricht, sondern handelt, der Hungerkünstler, der keinen Feierabend kennt; er setzt sein eigenes Leben ein. Er bewahrt seine Reinheit und Unbedingtheit und bezahlt dafür mit Einsamkeit und Erfolglosigkeit, wenn es sein muß. Der „Prediger" setzt das Leben der anderen ein; er sitzt in der Etappe oder in der Redaktion oder im Kaffeehaus, während er die anderen „ins Feuer schickt". Er hat wenigstens zeitweise seine Einsamkeit und seine Armut überwunden, er gehört zu einer Partei oder Bewegung und bezieht ein festes Einkommen. Freilich gab er seine Unbedingtheit und Reinheit dafür hin. Der „predigende" Schriftsteller zehrt immer noch vom Nimbus des „Asketen", auch dies eine „Unreinheit". Er erwartet die Bewunderung, die jenem gebührt, ist aber nicht bereit, dafür den vollen Preis zu bezahlen. 4

Joachim Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk. Berlin, 1975.

Klaus Hermsdorf Zwischen Wlaschim und Prag Stadt-Land-Antinomien bei Franz Kafka und Max Brod

I. In Kafkas „Prozeß" treten beiläufig ein Dutzend Figuren auf, in der Legende „Vor dem Gesetz" zwei. Obgleich der Reduktion der vielfaltigen Personage des Romans auf die einfache Bipolarität des legendarischen Textes ganze Gruppen zum Opfer fallen (ζ. B. „die Frauen"), ist die strukturelle Konvergenz zwischen den Figuren des Romans und der Legende offenkundig. Als für sich selbständige, aber aufeinander bezogene und in wichtigen Teilen übereinstimmende Texte kommentieren sie sich gegenseitig — ein in Kafkas Werk kaum vergleichbarer Fall: ein abgeschlossener und vom Autor durch den Druck legitimierter Text ergänzt und deutet den fragmentarisch liegengelassenen, in dem sich — in Gestalt der „Exegese" der Legende — ein Kommentar zu beiden findet: Dichtung als hermeneutisches Fugato. Der poetische Rückbau des romanhaft Vielfältigen ins legendarisch Vereinfachte geschieht gattungsgerecht und in Anlehnung an Muster volkstümlicher Lehrdichtung 1 — was heißt: Aus den individuellen Figuren des Romans werden typologische, aus ihrem Handeln in einer bestimmbaren Zeit zeitloses Geschehen. Trotzdem sagt die Legende über sie mehr, als im Roman sagbar wäre: Daß da ein Glanz ist, „der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht" 2 , ist Gewisseres, als Josef K. je erfahren hat. Schon dadurch verflüchtigen sich die Figuren der Legende nicht gänzlich in der oft berufenen Vieldeutigkeit Kafkas. Ihre Stellung in der Welt oder sogar in einer sozialen Topographie der Welt sind ebenso erkennbar wie die Grundmuster ihres Verhaltens. 1

2

Vgl. Hartmut Binder: Parabel als Problem: Eine Formbetrachtung zu Kafkas „Vor dem Gesetz", S. 21 f. Franz Kafka: Der Prozeß, zit. nach der TB-Ausgabe Frankfurt am Main, 1989, S. 183.

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Klaus Hermsdorf

Wie Josef Κ. — seine Mutter lebt in einer ländlichen Kleinstadt, er hat einen „kleinen Grundbesitzer vom Lande" zum Onkel, der spöttisch das „Gespenst vom Lande" 3 genannt wird — ist auch der Held der Legende „vom Lande", was in geläufigem Gebrauch ein „durch die Landwirtschaft geprägtes Gebiet im Gegensatz zur Stadt" 4 meint. Aber er lebt eben nicht mehr in der dörflichen Gemeinde; der Mann vom Lande ist eine Figur topographisch fixierbarer Bewegung, nämlich sozusagen gewesener „Landmann", der dort zu Hause war, aber — einem unerklärten Drang folgend — aufgebrochen ist zum Gesetz und vor ihm endet, zwischen seiner verlorenen Vergangenheit und einer nicht erreichten Zukunft. In sein Verhalten vor dem Tor geht indes seine Herkunft vom Lande ein — als die Unwissenheit des Fremden, als Ratlosigkeit in unbekannter Örtlichkeit der großen Paläste, als Unfähigkeit zu situationsgerechtem Handeln in Hinblick auf sein Ziel. In alledem ist er das Gegenteil des Türhüters. Sein Platz ist in einer „städtischen Welt", um mit dem Titel eines frühen RomanProjekts Kafkas ein Generalthema seines Werks zu benennen. Hier verfügt der Türhüter über Wissen, wenngleich nur begrenztes: Auch im Gebäude des Gesetzes reicht seine Kenntnis nicht weiter als bis zum Saal des nächsten Türhüters. Doch dieses teilweise oder nur vermeintliche Wissen gibt seinem Verhalten Sicherheit, die Selbstgewißheit einer „Amtsperson" 5 , die ihr Amt mit dem Pflichtbewußtsein eines „pedantischen Charakters" 6 ausfüllt. Er weiß nichts vom Gesetz, aber er gehört zum Gesetz; er hat kein Ziel, aber in der Gemeinschaft der Türhüter eine Funktion in einem offenbar hochhierarchisierten („Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere." 7 ) Instanzenzug, der Macht hat und sie ausübt. Treffen diese Aussagen zu, so mögen sie die sinnhaltige Konvergenz zwischen den Antagonisten der Legende und den personalen Strukturen des Romans bestätigen: Daß der Mann vom Lande in einer gleichnis- und vergleichweisen und dadurch interpretierenden Beziehung zu Josef K. steht, der Türhüter vor dem Gesetz in einer ebensolchen zu den Romanfiguren, die im Dienst des Gerichts stehen, gehört sicher zu den heuristischen Festpunkten des „Prozeß". Die Legende enthält somit die weiter nicht mehr rückführbare Grundstruktur dieses Romans, aber auch thematisch verwandter Arbeiten Kafkas, insbesondere bereits vorwegnehmend die des „Schloß". 3 4 5 6 7

Ebenda, S. 80. Wörterbuch der Gegenwartssprache. Ebenda, S. 185. Ebenda, S. 184. Ebenda, S. 182.

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II. Uber die Genesis der Figuren und Interieurs, der Metaphern und Motive Kafkascher Texte hat die Forschung eine inzwischen fast unermeßliche Menge von teils sinnerhellendem, teils sinnverwirrendem Material gesammelt. Überzeugend ist es am meisten, wenn es die stets deutlichen Spuren belegt, die von der Biographie des Autors zu den Geschöpfen seiner Phantasie weisen. Von besonderem Aufschluß scheint, wenn der Text Kafkas als Schreiben über sich selbst, aber zugleich und außerdem als Absicht des Autors verstanden werden kann, sich mit seinem Schreiben in ein gegenwärtiges intellektuelles oder literarisches Problemfeld, einen „Diskurs" einzubringen — und zwar nicht derart, daß er Anregungen, Vorbilder, Quellen aufnimmt und transformiert, sondern dies mit dem nachweisbaren Bewußtsein tut, mit den Mitteln des Dichters von der Grundrichtung des Diskurses abweichende Meinungen vorzubringen. Selbst an der baren Realität so erhobener Figuren wie die der Legende „Vor dem Gesetz" können diskursive Intentionen solcher Art erkannt werden. So ist neuerdings mehrfach auf den jüdischen Hintergrund des „Mannes vom Lande" hingewiesen worden. 8 Dem nicht widersprechend wäre daran zu erinnern, daß der „Mann vom Lande" in Kafkas Prag ein Topos von nicht weniger naheliegendem Realitätsgehalt war: Die Stadt erlebte seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts einen mitteleuropäischen Modernisierungs-, Urbanisations- und Migrationsschub in einer keineswegs einmaligen, aber doch besonderen Form: die explosionsartige Vermehrung eines großstädtischen Ballungszentrums durch die Einwanderung freigesetzter Bevölkerung aus näheren oder ferneren agrarischen Regionen — in Prag durch den massenhaften Zuzug von Menschen überwiegend tschechischer Nationalität. In dieser Doppeleigenschaft war der „Mann vom Lande" die reale Alltagsfigur einer Stadt im Wandel, deren „Lebensstil noch Bestandteile agrarischer Sozialformen untermischt" waren. 9 Hier hatte er aber längst auch den Rang eines literarischen Stereotyps erreicht, vor allem in Gestalt einer viel attraktiveren und poesiefreundlicheren Varietät des ja nicht geschlechtsspezifischen Typus — als das Mädchen vom Lande. Im 8

9

U. a.: Kafka, Judentum Gesellschaft, Literatur. Hg. v. Hans Dieter Zimmermann, Stuttgart, 1988; Manfred Voigts: Von Türhütern und Männern vom Lande. In: Neue Deutsche Hefte, Jg. 36, 4, S. 590 ff. Seit J. Urzidil und H. Politzer (Voigts, Grözinger). Kafka-Handbuch. Hg. v. Hartmut Binder. Stuttgart, 1979, Bd. 1, S. 61.

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„Prager Kreis" ist es spätestens seit Rilkes „Tschechenmädchen", das ihr wehmütiges „Kde domov muje" singt, eine melancholische Grundfigur, die von der jüngeren Generation — von Werfel, von E. E. Kisch — vielfach modifiziert, vor allem kräftig erotisiert worden ist. 10 So auch in Max Brods kleinem Roman „Ein tschechisches Dienstmädchen" von 1909. Das Mädchen bringt für den Helden der Geschichte — wie für den Autor selbst — die große Bekehrung vom frühen „Indifferentismus" zu einer „positiven" Weltanschauung zuwege — aber nicht allein, weil sie (was doch bei Brod für gewöhnlich schon ausreichte) ein attraktives Mädchen ist, auch nicht allein, weil sie Tschechin ist, sondern eben auch vom Lande, ein Wesen, das in der „abstrakten" städtischen Welt, in der der Ich-Erzähler alle Lebendigkeit verliert, ländliche Ursprünglichkeit und Sinnlichkeit, den Duft von Natur verbreitet. Dies buchstäblich: Was ihr anhaftet und die „Umwandlung" 11 des Helden in Gang setzt, ist „sanfterregender Fichtennadelduft". 12 Auf den letzten Seiten seiner Erzählung wird Max Brod regelrecht zum Soziologen des böhmischen Nationalitätenkonflikts; er begreift mit seinem Helden endlich das „tschechische Volk", freilich romantisierend wie Rilke: „Ich verstehe es nun, ich verstehe seine ängstliche kindische Seele in meiner Geliebten, ich sehe, wie es bedrängt von einer agrarischen Krisis in die Städte flüchtet, und ringsum die deutschen Lande stürmt [...]. Und ich sehe die heißen Städte Böhmens vor mir, die Bauernschaft kommt durch die Tore, ein gehetztes melancholisches Volk von Arbeitern, Dienstboten, Huren. Sie bringen ihre ländlichen Lieder mit, wie einen Luftzug vom Dorfteich her, und ganz Prag erklingt einmal von dem Lockrufe eines Bauernjungen an eine Andulka, Schafferstochter." 13 Kafka kannte Brods Erzählung gut — beide waren zusammen, als sie geschrieben wurde. Es geschah 1908 während eines gemeinsamen Wochenendausflugs nach Dobrichowice, bei dem Kafka den hochgestimmten Freund von der Tatsache seines eigenen „immer rascheren Untergangs" überzeugen wollte, weil er sich „nach und nach aus der menschlichen Gemeinschaft" löse. 14 Stimmungen dieser Art waren auch Max Brod nicht fremd. Sie gehören zur Motivik seiner Erzählung „Notwehr", der Geschichte eines anderen „Mannes vom Lande" aus dem „Prager Kreis", die 10

11

12 13 14

Vgl. hierzu Rietchie Robertson: National Stereotypes in Prague German Fiction. In: Colloquia Germanica, Bd. 22, 1989, 2, S. 1 1 6 ff. Max Brod: Ein tschechisches Dienstmädchen. Berlin/Stuttgart/Leipzig, 1909, S. 39. Ebenda, S. 29. Franz Kafka: Ebenda, S. 115. Franz Kafka: Briefe an Feiice, Frankfurt am Main, 1967, S. 275 f.

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in noch näherem zeitlichem Zusammenhang mit der Legende „Vor dem Gesetz" steht. Sie erschien 1913 in Max Brods Jahrbuch für Dichtkunst „Arkadia", in dem auch Franz Kafkas „Das Urteil" veröffentlicht war. Die — jedenfalls in Prag — der Stadt-Land-Antinomie stets verschwisterte Nationalitätenfrage bestimmt die im Lokalkolorit nachgerade dokumentarisch genau berichtete Handlung: Viktor Kanturek, ein frischer Junge aus dem Örtchen Wlaschin bei Beneschau, hat es gewagt, dem „hartnäckig fortgeerbten Gerücht, der Schloßherr habe streng verboten, den in der Mitte des Parkes stehenden chinesischen Pavillon jemals zu betreten" 15 , zu trotzen und wird deshalb vom Obergärtner des Schlosses „vor seinen Vater als den obersten Richter" 16 gestellt. Der Vater möchte ihn indes „der harten Landarbeit überhoben und etwas Besseres werden" 17 sehen und verschafft ihm eine Anstellung bei der „Tschechischen Gewerbebank" in Prag. Auch er muß erfahren, daß ihn das Leben in der Stadt, in der Bank, im Büro niederdrückt und ihn seiner besten Eigenschaften beraubt. In seiner Verzweiflung wird er zum Mörder — und flieht zurück in sein Dorf: „nach Hause, nach Wlaschim. Ja, dorthin gehörte er, und plötzlich war es ihm, als dürfte er nun auch dorthin zurückkehren, als habe man ihn gegen seinen Willen, wenn auch mit einer gewissen Berechtigung, in der Fremde zurückgehalten, nun aber habe er gewisse Hindernisse besiegt, die Erlaubnis zur Rückkehr mutig erkämpft, alle würden sein Kommen billigen, alle ihn gut aufnehmen"; ein für allemal beginne nun „die gute Arbeit, das gute Leben". 18 Im Prozeß jedoch wird sein Mord als Notwehr beurteilt, der Junge vom Lande kehrt in die Bank zurück und wird zu einem mustergültigen Beamten: „Seine restlichen Jahre — es waren noch viele, fünfzig und darüber — verbrachte Viktor Kanturek fleißig im Alltag, ameisenhaft, kläglich zufrieden, allmählich eintrocknend, ohne Freund und ohne Frau, mit einer etwas sonderlich anmutenden Scheu vor Zugluft und frischem Wind, die besonders zur Zeit des Vorfrühlings den kümmerlichen Pinsel regelmäßig heimsuchte." 19 Hier interessieren weniger die überall hörbaren Anklänge der Brodschen Erzählung an die Motivik des „Prozeß"- und des „Schloß"-Romans. Wichtig ist in unserem Zusammenhang die handlungsbeherrschende Mutation des Landmanns über den Mann vom Lande zu seinem vollkom15 16 17 18 19

Arkadia, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

Ein Jahrbuch für Dichtkunst, Leipzig, 1913, S. 150. S. 154. S. 151. S. 169. S. 174.

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menen Gegenbild — für Brod: der Beamte. Seine Verkümmerungen haben ihre Wurzel in der Arbeitswelt, in den abstrakten Arbeitstätigkeiten des Büros und der Verwaltung, die als stehendes Merkmal der städtischen Lebensweise erscheinen. „Zu Hause auf dem Lande", heißt es in der Erzählung, „war er gewohnt gewesen, daß jede Tätigkeit, mit der er sich befaßte, in sich rund und abgeschlossen, mit dem deutlichen Siegel ihres Nutzens versehen war. Hier reichten ihm unsichtbare Hände aus unsichtbaren Etagen des großen Gebäudes herauf Schriftstücke, deren Bedeutung er nicht faßte, und die er, nachdem er einen gleichgültigen und, wie ihn dünkte, unwesentlichen Handgriff mit ihnen vorgenommen hatte, wieder weitergab, an andere, die sie in wiederum unsichtbare Zimmer entgleiten ließen. Konnte es einen Menschen unterhalten, durch ein Hantieren, das man nicht verstand, Geld zu verdienen, noch dazu für fremde Leute, die man nicht kannte?" 20 Dasselbe könnte Kafka über die Beamten des „Prozeß" und des „Schloß" sagen — und gilt wohl auch vom Türhüter der Legende, den Hartmut Binder beiläufig, aber mit Recht einen „teilnahmslosen Beamten" genannt hat, „der, obzwar durch die Bitten des Ankömmlings ermüdet, gleichwohl in seinem Pflichteifer nicht nachläßt". 21

III. Auch mit dem Typus des Beamten treten Max Brod und Franz Kafka in einen Diskurs ihrer Zeit ein, allerdings keinen pragerischen und keinen primär literarischen. Er ist in der Kafka-Forschung hinreichend dokumentiert 22 , so daß hier nur die zeitliche Nähe der öffentlich-wissenschaftlichen Debatte zu den Dichtungen Brods und Kafkas zu verdeutlichen ist. Es ist ein sehr dichter Zusammenhang. Joseph Olszewskis Buch über „Bureaukratie" aus dem Jahr 1904 ist vielleicht das erste deutsche Zeugnis für die Entdeckung des Beamten als Phänotyp der Zeit; eine „Geschichte des deutschen Beamtentums" (von Lötz) erschien in mehreren Bänden zwischen 1906 und 1909. Die Arbeiten über den „Idealtypus" des Beamten 20 21

22

Ebenda, S. 156. Hartmut Binder: Parabel als Problem: Eine Formbetrachtung zu Kafkas „Vor dem Gesetz", S. 9. Vgl. Astrid Lange-Kirchheim: Franz Kafka: „In der Strafkolonie" und Alfred Weber: „Der Beamte". In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. XXVII 1977, S. 202 ff.; Axel Dornemann: Im Labyrinth der Bürokratie. Tolstojs „Auferstehung" und Kafkas „Schloß". Heidelberg, 1984.

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von Max Weber, von denen gesagt worden ist, daß „alle bedeutenden wissenschaftlichen Bürokratiestudien des letzten halben Jahrhunderts [...] entweder von ihm ausgehen oder [...] schließlich zu ihm hin" führen 23 , gehören nur scheinbar einer späteren Zeit an. Sie kamen erst nach dem 1. Weltkrieg, zwischen 1921 und 1926, an die Öffentlichkeit, doch ist der wichtige Abschnitt über „Wesen, Voraussetzungen und Entfaltungen der bürokratischen Herrschaft" im 2. Teil von Max Webers Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft" viel früher entstanden, nämlich zwischen 1911 und 1913, und er hatte eine noch weiter zurückreichende Vorgeschichte. 1909 begann Max Weber die Planung des Gemeinschaftswerks „Grundriß der Sozialökonomik", für den „Wirtschaft und Gesellschaft" gedacht war. Im gleichen Jahr entspann sich auf der in Wien veranstalteten Jahrestagung des angesehenen „Vereins für Sozialpolitik" eine lebhafte Debatte zur Frage, ob der allseits für notwendig gehaltene soziale Ausgleich in der modernen Gesellschaft besser durch „Verstärkung der Staatsgewalt" oder durch „Demokratisierung aller Institutionen" erreicht werden könne. Max Weber und sein ihm in wissenschaftlichen und politischen Fragen eng verbundener Bruder Alfred wandten sich gegen die stark vertretene „Richtung eines Staatssozialismus", weil sie darin nur „eine neue Art der Verknechtung des Einzelnen an , Apparate' " sahen. Marianne Weber erzählt in der Biographie ihres Mannes, Alfred Weber habe „in geistvoller Art" den Gedanken herausgearbeitet, „daß zunehmende wirtschaftliche Betätigung des Staats Wachstum der bürokratischen Apparate bewirkt und eine zunehmende Menschenzahl zu Beamten und Dienern macht, die zugunsten ihres Pöstchens auf selbständiges politisches Urteil verzichten müssen." Der bürokratische Apparat sei notwendig zur technischen Bewältigung bestimmter Aufgaben, „aber seine staatsmetaphysische Verherrlichung schafft Knechtsseelen." 24 Was Max und Alfred Weber damals in Wien sagten, war wenig später in Prag zu lesen — in Alfred Webers Aufsatz „Der Beamte", den die von Kafka oft gelesene „Neue Rundschau" im Oktober 1910 (21. Heft) publizierte. Am Ende ihrer mit demokratischem Eifer verfochtenen kritischen Theorie der bürokratischen Herrschaft stand das politische Plädoyer für „eine neu geschaffene Wertung der lebendigen Kraft im Menschen" 25 , für einen „Kampf mit dem bureaukratischen Zeitalter" 26 und dem „Götzen23 24 25

26

Dornemann, a. a. O., S. 21. Marianne Weber, Max Weber: Ein Lebensbild. Tübingen, 1926, S. 420. Zitiert nach: Alfred Weber: Der Beamte. In: Ideen zur Staats- und Kultursoziologie. Karlsruhe, 1927, S. 98. Ebenda, S. 90.

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bild" einer bürokratischen Theokratie, „das sonst nur eine demokratische Revolution beseitigen könnte" 27 . Kafka und Brod, die Beamten im „Prager Kreis", müssen diesen Text mit persönlicher Betroffenheit gelesen haben. Alfred Weber, von 1904 bis 1907 Professor der juristischen Fakultät der deutschen Universität, war im intellektuellen Prag in guter, Kafka allerdings wahrscheinlich nicht in bester Erinnerung: er war sein Promotor zum Doktor und ein ungnädiger Prüfer beim juristischen Rigorosum. Astrid Lange-Kirchheim hat in der Erzählung „In der Strafkolonie" „Übereinstimmungen auf der Wort- und Bildebene" und „Entsprechungen in Problemstellung und Gedankenführung" nachgewiesen. 28 Die Problemstellung ist natürlich bereits im „Prozeß" voll entfaltet.

IV. Wenn man die Figur sowohl des Mannes vom Lande wie des Türhüters im Rahmen öffentlicher und literarischer Diskurse der Zeit sehen darf, so hat das neben dem sachlichen zugleich methodisches Interesse — es wird Kafkas Eigenart erkennbar oder besser: sein Eigensinn und seine nicht nur künstlerische Souveränität im „Prager Kreis". Der intertextuelle Vergleich gibt vielleicht nicht unbedingt Neues, erhärtet aber wenigstens die folgenden Feststellungen: Die in der Prager Literatur verbreitete Verquickung sozialer mit ethnisch-nationaler Problematik, die Thematisierung des Verhältnisses von Stadt und Land in Verbindung mit den Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen wird von Kafka literarisch nicht mitvollzogen. Aus StadtLand-Thematik werden die in Prag so empfindlich gespürten ethnischen, nationalen oder auch rassischen Implikationen in einer Form aus der Gestaltung extrahiert, die man als bewußte Verweigerung gegenüber der Verstofflichung von Themen verstehen kann, die Max Brod mit Recht zum konstituierenden Merkmal des „Prager Kreises" erklärte, als er Rilkes Verdienst unterstrich, „zum erstenmal Angelegenheiten, die dem tschechischen Volk Herzenssache waren, mit tiefstem Anteil, sozusagen ganz aus der Nähe, durchgefühlt zu haben ...". Brod fügt, übrigens nicht ganz 27 28

Ebenda, S. 98. Astrid Lange-Kirchheim: Franz Kafka: „In der Strafkolonie" und Alfred Weber: „Der Beamte", a. a. O., S. 209.

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zutreffend, an: „Nur noch die Kenntnis der tschechischen Sprache fehlte. Sie wurde erst in meiner Generation erworben." 29 Wenn der Gegensatz zwischen Stadt und Land zu den großen durchgehenden Themen der künstlerischen Moderne wie der Antimoderne gehört, hat daran Kafka bedeutenden Anteil — aber mit einem im „Prager Kreis" ungewöhnlich strengen Verzicht auf wertsetzende Ideologisierung und ästhetische Emotionalisierung. Er entzieht sich den literarischen Stereotypen seiner nächsten und befreundeten Nachbarschaft: Sein „Mann vom Lande" wie auch Josef K. haben keine Vorerinnerungen an das Land und das Dorf — Arkadien, die bukolische Idylle sind abwesend. Kafkas Sicht auf das Land ist antiidyllisch und unsentimental, obwohl er vom Lande und der Landarbeit noch kindlicher als seine Freunde Rettung erhoffte und auf dem Dorf ungefährdete Menschen wahrnahm. In Zürau notierte er 1917 im „Tagebuch" über den „allgemeinen Eindruck der Bauern": „Edelmänner, die sich in die Landwirtschaft gerettet haben, wo sie ihre Arbeit so weise und demütig eingerichtet haben, daß sie sich lückenlos ins Ganze fügt und sie vor jeder Schwankung und Seekrankheit bewahrt werden, bis zu ihrem seligen Sterben. Wirkliche Erdenbürger." 30 Dennoch stellen im „Schloß" das Dorf und seine Menschen einen illusionslos gezeichneten Lebensbereich dar, dem alle Züge eines Gegenbilds zur „städtischen Welt" fehlen. Es gerät Kafka vielmehr gerade zum Modell der „bürokratischen Herrschaft", der verwalteten Welt als dem Weltzustand. Wenigstens hierin liegt für ihn die Zukunft nicht in der Vergangenheit. Dieselbe Vernüchterung hat eine umgekehrte Entsprechung in Kafkas Blick auf den Beamten. Daß er irgendeine Figur aus dieser Reihe wie Max Brod seinen Viktor Kanturek einen „Pinsel" nennen könnte, scheint undenkbar — und zwar nicht nur aus Gründen des ästhetischen Geschmacks. Seine Beamten tragen dieselben Merkzeichen der Verkümmerung, die Brods Erzählung „Notwehr" grell herausstreicht; sie befinden sich in demselben von Alfred Weber denunzierten „Apparat", der das .„Funktionieren', die Berufshingabe, das Aufgehen in der wesensfremden objektiven Arbeit, das Verschwinden der Persönlichkeit als solcher" 31 erzeugt. Sie repräsentieren jedoch bei Kafka keinen verächtlichen, sondern einen eher tragischen Seinszustand. Auf die Ernsthaftigkeit ihrer Rolle im undurchschaubaren Getriebe wird Josef K. in der Exegese der Legende ausdrück29 30 31

Max Brod: Der Prager Kreis. Frankfurt am Main, 1979, S. 95. Franz Kafka: Tagebücher 1910—1923. Frankfurt am Main, 1954, S. 535. Alfred Weber: Der Beamte, a. a. O., S. 94.

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lieh hingewiesen, und eben diese Ernsthaftigkeit bedeutet im zeitgenössischen Bürokratismus-Diskurs einen starken Vorbehalt des Autors gegenüber der Suggestion, als wäre dem Schicksal der beamtenhaften Existenz zu entgehen durch einen Akt des freien Willensentschlusses oder die Wucherung der Bürokratien aufhebbar (wie in Webers Vorstellung) im erkämpften geschichtlichen Fortschritt. Die gesellschaftspolitischen Ambitionen und Kontexte, aus denen heraus Max und Alfred Weber die Kritik der bürokratischen Herrschaft als Forderung nach der demokratischen Persönlichkeit entwickelten, sind für Kafka wie für Brod ganz offensichtlich überhaupt irrelevant und schwer nachvollziehbar. Ein sozial-psychologischer Status mit durchaus regionalen Aspekten: Der „Prager Kreis" wurde zu derselben Zeit programmatisch unpolitisch, als in den Anfängen der expressionistischen Bewegung die junge Literatur in Berlin sich programmatisch politisierte — etwa die intellektuellen Kreise um Kurt Hiller, der unter Berufung auf Karl Kraus, Alfred Kerr, Heinrich Mann vom Schriftsteller „Literaturpolitik" forderte — nämlich „in den Kontroversen des gesteigertsten geistigen Lebens Partei ergreifen, Gruppierungen visieren, Parteien bilden" 32 und Politik betreiben „im Sinne einer bestimmten Funktionsart oder Form des Geistes, gegensätzlich zum bloßen Begreifen und bloßen Genießen der Welt, gegensätzlich zu jener Passivität, kraft deren der Mensch sich zum Objekt der Erscheinungen, zum Opfer der Ordnungen, zu einem nur noch der Impression offenen und dem Reagieren sich hingebenden Wesen macht." 33 An solchen Ambitionen zerbrach die von Hiller inaugurierte literarische „Achse" Berlin —Prag bald. Brods „Arkadia" wollte sich „von dieser gehässigen Stellung gegen die Welt abgrenzen" und mit seinem Jahrbuch — anderes als die „jetzt erscheinenden großen Revuen", in denen „politische und sozialökonomische Erörterungen den ersten Rang einnehmen" — eine „unsichtbare Kirche der beteiligten Autoren" schaffen, die „ausschließlich und in Reinheit die dichterisch-gestalteten Kräfte der Zeit" vereinigen solle. 34 Prager und Berliner „Expressionismus" schieden sich. Kafkas eigensinniger Standort in den Diskursen seiner Zeit ist freilich nicht vordergründig durch diese bestimmt. Was er aufnehmend, zustimmend oder widersprechend zu sagen hat, ist die Wahrheit seines Befindens

32

33 34

Kurt Hiller: Literaturpolitik, zit. nach: Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts „Aktion". Hg. v. P. Raabe. München, 1964, S. 24. Ebenda S. 23. Arkadia. Vorbemerkung, a. a. O., S. 3 f.

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in den wirklichen, in seinen, den Prager Verhältnissen. Er ist eben nicht gelehrter Soziologe und Universitätsprofessor, der das Treiben der modernen Gesellschaft und ihre Verkrustungen von außen kritisch anschaut und liberale Rezepte weiß. Kafka verfügt auch nicht über die Behendigkeit Max Brods, der seinerzeit und jederzeit in neuen Gemeinschaften Halt fand. Hingegen sind Kafkas Gestalten das Produkt eines Identitätsverlusts, zu dessen Krankheitsbild jene radikale Ich-Spaltung gehört, die zugleich die Quelle seines künstlerischen Genies darstellt. Ich-Spaltung: Er, Kafka, ist ja der Mann vom Lande, welcher zwischen den Gemeinschaften verloren ist und den Einlaß nicht zu erzwingen vermag. Kafka ist auch Joseph K., der sich staunend im Mann vom Lande selbst anschaut und gespiegelt findet. Kafka ist aber im gleichen Maße auch im Türhüter, dem Mann des „Apparats", dem Beamten, dem Büromenschen, der er im Tagleben des Berufs nicht weniger selbst war. Er, Kafka, ist im „Schloß" K. und der Sekretär Bürgel, die sich gegenseitig mißverstehen oder verstehen. Vielleicht sind in diesen Ich-Spaltungen und Spiegelungen auch die Ambivalenzen Kafkascher Texte begründet, denen immer auch ein Bestehen auf Objektivität zugrunde liegt: das Beharren auf poetischer Gerechtigkeit, darauf, daß jedes sein eigenes Recht und Gesetz hat, obgleich die Gesetze sich so gegenüberstehen und unauflöslich widersprechen wie der Türhüter und der Mann vom Lande. Diese Ästhetik der gespiegelten IchSpaltung hat möglicherweise ihren Ursprung auch in einem Zeitalter, das mit der fortschreitenden Verflechtung aller mit allem den Fall des Dichters und Versicherungsbeamten Franz Kafka zum alltäglichen macht: Das gespaltene Ich findet seine verborgene Identität in der Identität von Opfer und Täter.

Karel Kosík

Das Jahrhundert der Grete Samsa Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit

Das 20. Jahrhundert, das mit Schüssen in Sarajevo 1914 begann und das in unseren Tagen mit dem Zerfall des Sowjetimperiums und Schießereien in eben jenem Sarajevo zu Ende geht, wird auch das Jahrhundert Franz Kafkas („le siècle de Franz Kafka") genannt — zu Recht. Kafka beschrieb das Wesen dieser Zeit mit unglaublich scharfem Durchblick. Während einigen seiner Zeitgenossen schien, seine Texte seien Traumvisionen, dichterische Übertreibungen und phantasmagorische Halluzinationen, konstatieren wir heute mit Erstaunen die Genauigkeit und Nüchternheit dieser Beschreibungen. Kafka gelangte zu dem Schluß, und das ist meiner Ansicht nach seine tiefgreifendste Entdeckung, daß die moderne Zeit dem Tragischen feindselig gegenübersteht, das Tragische ausschließt und an seiner Statt das Groteske einsetzt. Deshalb ist das Jahrhundert Franz Kafkas gleichzeitig ein Jahrhundert, dessen Quintessenz eine seiner Gestalten verkörpert — Grete Samsa. Grete Samsa ist die Anti-Antigone des 20. Jahrhunderts.

I. Um das Umwälzende von Kafkas Entdeckung darlegen zu können, verweile ich zunächst bei zwei Denkern des 19. Jahrhunderts, die sich mit dem Tragischen beschäftigt und den Unterschied zwischen der antiken und der modernen Tragödie untersucht haben. Ich denke an Hegel und Kierkegaard. Kierkegaard charakterisiert die moderne Zeit als eine Zeit der Isolation und Atomisierung, in der die Menschen in ihren gegenseitigen Beziehungen als bloße Zahlen und isolierte Einzelwesen auftreten. Es ist nur ein

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Ausdruck dieser Isoliertheit, keineswegs deren Überwindung und Leugnung, daß sich Individuen zusammentun und Assoziationen und Organisationen bilden, deren Stärke an der Menge gemessen wird. Mögen diese Assoziationen nur ein paar Mitglieder haben oder sich auf hunderttausende erweitern, sie sind immer nur ein Komplex von Zahlen, keinesfalls aber Verbände lebendiger, konkreter Menschen. Die isolierten Einzelwesen scharen sich in dieser Masse zusammen, und deshalb sind Menschen, die auf Nummern reduziert sind, und eine Masse oder Menge bilden, für Kierkegaard zwei Seiten einer Sache. Kann man in so einer Zeit das Tragische entdecken, oder anders gesagt: gibt es in der modernen Zeit eine Antigone, und wenn ja, wie unterscheidet sie sich von der antiken Antigone? Der dänische Philosoph skizziert das Porträt einer modernen Antigone, von der er sagt: „sie ist mein Eigentum", und diese tragische Heldin schicke ich in die Welt und gebe ihr, die die „Tochter des Leids" ist, als Mitgift den Schmerz. Die antike Antigone, sagt Kierkegaard, ging aus der Ehe hervor, die Ödipus mit seiner eigenen Mutter eingegangen war, nachdem er seinen Vater erschlagen hatte. Bis hierher stimmt die moderne Antigone mit ihrer antiken Namensvetterin überein, doch im weiteren tritt eine tiefgreifende Änderung ein, und der Philosoph vermerkt: „Ich lasse alles, wie es ist, und verändere doch alles." 1 Diese grundlegende Änderung faßt Kierkegaard in einigen Sätzen zusammen: „Ödipus hat die Sphinx getötet, hat Theben befreit und er lebt geehrt und bewundert in glücklicher Ehe mit Jokaste. Was sich Entsetzliches dahinter verbirgt, ahnt niemand. Nur Antigone weiß es." Die moderne Antigone kennt das schreckliche Geheimnis ihres Vaters, und ihr ganzes Leben ist eine Kollision zweier konträrer und einander ausschließender Seelenzustände: auf der einen Seite die grenzenlose Bewunderung gegenüber dem Vater, andererseits das Wissen um seine Schuld. Die Last dieses inneren Konflikts kann Antigone nicht ertragen, und Frieden und Aussöhnung findet sie nur im Tod: „Nur im Tod kann sie Frieden finden." Kierkegaards Antigone unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von der Antigone des Sophokles. Diese Antigone handelt nicht, sie leidet nur. Ihr Seelenleben ist eine unsägliche Qual, die dadurch vermehrt wird, daß sie sie verheimlicht und mit niemandem teilen will. Sie leidet und grämt sich und quält mit ihrem Leiden ihre Umgebung und ihre Nächsten, denn sie weigert sich, sich irgendjemandem anzuvertrauen und Rat oder Trost bei den ihr am nächsten Stehenden zu suchen. Diese Kollision spielt sich nur in ihrem Inneren ab, und Kierkegaard bemerkt: 1

S. Kierkegaard: Entweder, oder. Werke, Bd. 1, Jena, 1922, S. 139.

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„Ihr Leben entfaltet sich nicht wie das der griechischen Antigone; die Bewegung der Entwicklung ist nach innen, nicht nach außen gerichtet, die Szene ist innen, nicht außen." Da sich der Konflikt nur innerlich abspielt und nicht etwa öffentlich im Zusammenprall zweier objektiver Mächte zum Ausbruch kommt, entfallt auch die Gestalt des Kreon, der in Kierkegaards Inszenierung überflüssig ist. Und so wird aus dem politischen Drama, d. h. aus dem Geschehen, das die Gemeinde (Polis) betrifft, ein Drama in sich geschlossener Subjektivität. Der Konflikt ist nicht öffentlich, aber er spielt sich im Inneren und in der verborgensten Privatsphäre ab: „Ihr eigentliches Leben spielt sich im Verborgenen ab." Die moderne Antigone geht nicht etwa auf Geheiß des Herrschers aus der Welt, sondern ihr eigenes Leben treibt sie in den Tod. Sie grämt sich zu Tode, sie welkt wie eine vertrocknende Blume. Betrachten wir Kierkegaards Antigone insgesamt, werden wir feststellen, daß sie keine tragische, sondern eine unglückliche Gestalt ist. Die Kollision, von der sie hin und her gerissen wird, hat, ebenso wie der Tod, nicht den Charakter des Tragischen und überwindet nicht die Misere der modernen Verhältnisse, die der Philosoph so meisterhaft als Fall der Menschen in die Isoliertheit und als Vorherrschaft einer anonymen Massenhaftigkeit beschrieben hatte. Diese Antigone ist nur Produkt und Opfer dieser verkehrten Verhältnisse, und nichts in ihrem Leben und ihrem Tod deutet auf deren Überwindung hin. Die moderne Antigone ist kein tragisches, sondern ein unglückliches Geschöpf, das sich in einer romantisch subjektiven Versunkenheit im eigenen Schmerz zu Tode grämt, aber keine Macht hat, weder im Leben, noch im Tod, die Isoliertheit der Menschen zu überbrücken und Keim der menschlichen Gemeinschaft (der modernen Polis) zu werden.

II. Hegel bekanntlich erachtete Sophokles' „Antigone" als das vollkommenste dichterische Werk aller Zeiten. Aber auch er stellt sich, wie nach ihm ähnlich und polemisch Kierkegaard, die Frage, ob das Tragische in der modernen Zeit möglich ist, und sinnt über dessen Wesen nach. In einem 1802 entstandenen Text („Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts") beschreibt Hegel die moderne Zeit als Streit zweier

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Gestalten, Figuren oder Personen, die beide zum Menschen gehören, und Ausdruck seiner Doppelnatur sind (die gedoppelte Natur des Menschen). 2 Eine dieser Figuren charakterisiert Hegel als „unorganische, unterirdische Macht", die zweite Person stellt das Licht des Verstandes und des Geistes dar. In diesem Streit leugnen beide Mächte einander, schließen einander aus, sind aber gleichzeitig aneinander gefesselt, eine braucht und fordert die andere. Andere, verständlichere Namen dieser kämpfenden Seiten, sind der Mensch als Produzent und Konsument, als Bourgeois, und der Mensch als politisches Wesen, als Citoyen. Diese Doppelnatur des Menschen, daß er sowohl Bourgeois, als auch Citoyen ist, ist Quelle der modernen Zeit, die Hegel als „Tragödie im Sittlichen" bezeichnet. Doch spielt sich dieser Streit wirklich als Tragödie ab? Hegel selbst räumt an einigen Stellen dieses Textes und an anderer Stelle die Möglichkeit ein, daß jene „unorganische, unterirdische Macht", ein Gewirr ökonomischer Beziehungen, die „das System der Bedürfnisse" schaffen, sich vom Ganzen der gesellschaftlichen Zusammenhänge absondern, sich selbständig machen und als stärkere Macht gegen Geist und Licht auftreten; so wird also die wechselseitige Beziehung dieser Doppelnatur des Menschen sich nicht als Kampf und Streit zweier gleichwertiger Mächte abspielen, weil eine Macht, die dem Geist fremde, die andere, die geistige, verschlingt und sich unterwirft; der Mensch als Produzent und Konsument, der Mensch als Bourgeois erlangt absolute Überlegenheit über den Menschen als politisches Wesen. Im Streit Bourgeois — Citoyen, der der mögliche Ursprung der modernen Tragödie ist, tritt jedoch eine Wende ein, und die angenommene Tragödie verwirklicht sich als geschichtliche Ironie, in der die dem Geist fremden Kräfte die Kräfte des Geistes verschlingen und sie zu ihren Dienern erniedrigen. An Hegels und Kierkegaards Überlegungen über das Tragische in der modernen Zeit ist eines, das die beiden so unterschiedlichen Denker verbindet, besonders bemerkenswert. Bei beiden verschiebt sich die Bedeutung des Tragischen, verliert die Bestimmtheit und identifiziert sich mit etwas, was nicht tragisch ist. Kierkegaards Antigone ist eine unglückliche Person, der Philosoph aber nennt sie ein tragisches Wesen und identifiziert das Tragische mit Unglück und ausweglosem Leiden. Hegel beschreibt die moderne Zeit als Streit unterirdischer, unberechenbarer Mächte mit den Mächten des Geistes und nennt dies „Tragödie im Sittlichen", obwohl dieses Geschehen in Wirklichkeit nicht als tragischer Konflikt, sondern als ironische Verkehrung und Vertauschung verläuft. Beide 2

Hegel: Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1970, S. 495.

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Denker leiten so den unseligen Prozeß der Verwandlung des Sinns des Tragischen ein, einen Prozeß, der im 20. Jahrhundert kulminiert, als die gedankenlose öffentliche Meinung jeden beliebigen Unfall und jede Zufälligkeit als tragisch bezeichnet. Nach der öffentlichen Meinung unserer Zeit ist jeder Verkehrsunfall eine Tragödie, jede Naturkatastrophe eine Tragödie, und die Tragödie ist um so größer und herzzerreißender, je mehr Menschenleben sie fordert, also scheint es, als ob ihr Wesen Zahl, Anzahl, Menge wäre. Diese Sinnverschiebung des Tragischen in der öffentlichen Meinung ist keine unbedeutende periphere Angelegenheit, sondern ein beredtes Phänomen, das etwas über die Zeit aussagt und verrät. Denn das 20. Jahrhundert, das ich eingangs das Jahrhundert der Grete Samsa genannt hatte, ist dem Tragischen nicht wohl, ja sogar auch feindlich gesonnen, schließt das Tragische aus und ersetzt es durch etwas anderes, was in Wirklichkeit ein bloßer Ersatz ist, d. h. durch eine unwahrhaftige Imitation, eine Nachahmung. Da unterschiedlichste Unfälle und zufällige Unglücke mit dem Attribut „tragisch" versehen werden, kann es den Menschen in einer nicht tragischen Zeit scheinen, sie seien von Tragischem umgeben und müßten auf Schritt und Tritt darauf stoßen, während es in Wirklichkeit Unfälle sind, die auf technische, reparable Schäden reduziert sind. Dem Menschenleben wird seine Schicksalhaftigkeit genommen: es wird auf die Zufälligkeit erniedrigt.

III. Ich würde gern bei zwei Umständen verweilen, die meiner Ansicht nach, die Möglichkeit des Tragischen in unserer Zeit erschweren oder sogar ausschließen. Wir leben in einer postheroischen Zeit. Eine solche Behauptung heißt nicht, im 20. Jahrhundert wurden keine Heldentaten vollbracht. Ein solcher Satz sagt nur, daß alles Erhabene, Große, Mutige, Heroische, was vollbracht, oder das Poetische und Schöne, was geschaffen wird, augenblicklich der Gefahr ausgesetzt ist, zu verflachen, belanglos, banal zu werden, und in dem Strom der Gleichgültigkeit und Gleichmacherei verliert er seine Eigenart. Die mächtige Kraft des 20. Jahrhunderts, die die öffentliche Meinung beeinflußt und sich mit deren Hilfe überall ausbreitet und alles erniedrigt, ist das Lakaientum. Der Lakai kennt keinen Helden, und vor allem — er erkennt ihn nicht an. Die Besonderheit dieser Weltsicht besteht darin, daß sie alles auf ihr Maß, die Plattheit, transfor-

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miert, und alles aus ihrer Perspektive und von ihrem Standpunkt aus, der von verstecktem, verheimlichtem oder offenem Neid, Argwohn und Hinterhältigkeit geprägt wird, betrachtet. Im Unterschied zu Goethes und Hegels Zeiten, als die Lakaien ihre Herren in- und auswendig kannten, also in ihnen auf keinen Fall einen Helden sehen konnten, ist in der heutigen Zeit der Blickwinkel des Lakaien Herrscher und Gebieter geworden, der der Öffentlichkeit diktiert und ihre Moral und ihren Geschmack bestimmt. Der lauernde, schnüffelnde Blick, der in der Boulevardpresse konzentriert ist, weiß über jeden alles und kann daher jeden mit echtem oder fingiertem Zeugnis und kompromittierendem Material erpressen. Ein zweites, noch bedeutenderes Hindernis, das sich der Möglichkeit des Tragischen in der modernen Zeit in den Weg stellt, ist die Banalisierung und Domestikation des Todes. Der Tod verliert die erschütternde Wirkung und wird ein nivellierter Bestandteil des alltäglichen Lebens. Der Tod des Anderen, der Tod des Nächsten ist keine Erschütterung mehr, die den Menschen aus der Bahn wirft, der Tod ist alltäglich, platt und bedeutungslos geworden und auf eine Stufe von Artefakten, Informationen, Sensationen, die am laufenden Band produziert werden und spurlos wieder verschwinden, gesunken. Gilgamesch wird zu Recht als erster tragischer Held der Geschichte bezeichnet. Gilgamesch ist vom Tod des Freundes erschüttert, er kann diese Erschütterung nicht verwinden, sie führt ihn auf einen anderen Weg und ist Anfang einer neuen, anderen Bewegung — der Suche nach der Unsterblichkeit. Gilgamesch als tragische Gestalt vereint in seinem Handeln die Vergänglichkeit des irdischen Daseins mit der Suche nach der Unsterblichkeit. Das Wesen des Tragischen, wie es Gilgamesch verkörpert, ist der widerspruchsvolle Charakter der Zeit, der Streit des Vergänglichen mit dem Dauernden. 3

IV. Die zentrale Gestalt in Kafkas 1911 entstandener Erzählung „Die Verwandlung" ist nicht Gregor Samsa, der sich im Verlauf einer Nacht in ein „ungeheures Ungeziefer" verwandelt, sondern seine Schwester Grete. Sie greift aktiv in das Geschehen ein, ihr Handeln ist ein echter Wendepunkt der Verwandlung. Die groteske Verwandlung tritt in dem Augenblick ein, 3

F. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Ges. Schriften, II, Nijhoff, 1976, S. 83.

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als Grete Samsa aufhört, in ihrem Bruder einen Menschen zu sehen, sich von Zweifeln und Unschlüssigkeit, ob er Mensch oder Tier ist, freimacht, als seine Gegenwart für sie unerträglich wird. In diesem Moment gibt Grete ihren Bruder auf und leugnet ihn als Menschen: im Nebenzimmer liegt nicht mehr ihr Bruder, sondern „ein Untier". Es ist nur logisch, daß Grete Samsa, die moderne Anti-Antigone, ihren Bruder nicht begräbt, sondern ihn dem Dienstmädchen überläßt, damit die Überreste „weggeschafft" werden. Hier ist nicht ein Mensch gestorben, sondern irgendein Tier verendet, krepiert, verreckt. Das Dienstmädchen sagt über den toten Gregor Samsa: „[...] es ist krepiert, da liegt es, ganz und gar krepiert!" 4 Wenn die Beziehungen zwischen den Menschen soweit entmenschlicht sind, daß sie sich gegenseitig für lästiges Ungeziefer halten, wäre es grotesk, wenn die Überreste dieser Menschen-Nichtmenschen, die menschlichen Ungeziefer begraben würden, denn ihrem Zustand, d. h. ihrer grotesken Verwandlung „entspricht" es, daß kein Trauerzeremoniell ausgerichtet werden kann, sie werden mit banalen Gerätschaften, mit Besen, Kehrschaufel und Wischlappen ohne großes Aufheben beseitigt werden. „Es" und „krepieren" — das sind die entsprechenden Ausdrücke für diese groteske Verwandlung. Da aber die Menschen auch in nichtmenschlicher Gestalt mit Bewußtsein und Sprache ausgestattet sind, müssen sie ihr Handeln irgendwie rechtfertigen — vor sich und anderen. Grete Samsa, die Anti-Antigone der modernen Zeit denkt laut nach: Gregor Samsa ist nicht mehr Bruder noch Mensch. Wenn er Bruder und Mensch wäre, würde er auf die Familie Rücksicht nehmen, nicht deren Ruhe stören und von selbst aus dem Haus verschwinden. Denn die Familie, einschließlich Grete Samsa, will „ihre Ruhe haben", und alles, was diese Ruhe stört, ist widerlich, abstoßend, muß aus dem Weg geräumt, beseitigt werden. Diese Ruhe kann einfach nichts erschüttern, nicht einmal der Tod: der Tod hat seine erschütternde Macht verloren, er ist machtlos gegen die festgefahrene gewohnte Ruhe, der die Menschen unterliegen. Grete Samsa verkörpert diese unerschütterliche „Ruhe" der modernen Zeit, die sich nicht aus der Fassung bringen läßt, und ihrem Ziel entgegengeht — über Leichen. Dieses „Über Leichen gehen" ist wichtig. Der junge Organismus der Grete Samsa, ihre draufgängerische und blühende Jugend schüttelt alles ab, was ihr unaufhaltsames Wachstum bedrohen könnte; so schüttelt sie auch den Tod des Bruders ab. Es gibt nichts, was dieses Wachstum erschüttern könnte. Durch nichts erschüttert, durch keinen Tod erschüt4

F. Kafka: Die Verwandlung, Leipzig, 1915, S. 68.

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terbar, gehen die Hinterbliebenen über den toten Gregor Samsa hinweg, sie sind auch nach dem Tod des Bruders und Sohnes ganz eingenommen von den „Aussichten für die Zukunft", die, wie sich nun zeigt, „überaus günstig und besonders für später vielversprechend" sind. Grete Samsa, durch nichts, nicht einmal vom Tod des Bruders erschüttert, geht ihrer Zukunft entgegen, die eine Reproduktion der Vergangenheit ist, und wird deshalb in ihrem weiteren Leben nur die Sterilität und Plattheit der Vergangenheit wiederholen und in diese Wiederholung alle Energie ihrer Jugend investieren. Deshalb ist Kafkas „Verwandlung" ironisch und vieldeutig. Die Menschen sind bereits so weit verwandelt — in Banalität, Plattheit, Kleinlichkeit, die sie für „Normalität" halten, befangen —, daß sie keine Bereitschaft und keinen Willen mehr haben, sich aus diesen degradierenden Umständen zu befreien; sie haben sich in der Tat verwandelt. Nicht einmal der Tod hat mehr die Macht, die Menschen aus dieser Banalität und Plattheit herauszureißen. Aber ist die Macht der über Leichen gehenden Banalität, die in der Gestalt der Greta Samsa, der Anti-Antigone der modernen Zeit, personifiziert ist, tatsächlich so allmächtig, daß sie jede Möglichkeit des Tragischen ausschließt und auf ihrem Siegeszug durch die Welt jede mögliche Antigone aus dem Weg räumt? Ich mußte die Situation derart zuspitzen, um meine Frage zur Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit präzisieren und in eine andere Frage umformulieren zu können: wer überhaupt kann sich der tatsächlichen oder vermeintlichen Allmacht der Grete Samsa widersetzen, wer stellt sich ihr als moderne Antigone entgegen?

V. Es ist nicht schwer zu erraten, worauf ich hinaus will. Ich nehme an, es ist an der Zeit, Milena Jesenská zu befreien, damit sie nicht im Schatten Kafkas bleibt als vorübergehende Episode seiner Biographie. Das literarische Schaffen der Jesenská ist dem dichterischen Werk Kafkas nicht gleichzustellen. Aber dem Werk Kafkas entspricht — in Größe und Bedeutung — das Schicksal der Jesenská. Schicksal und Werk entsprechen einander, d. h. sie polemisieren miteinander, und aus ihrem Streit wird die Stimme der modernen Zeit geboren, die sich nicht einverstanden erklärt mit Grete Samsa und deren Allmacht in Frage stellt. Diese Entsprechung

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von Schicksal und Werk, des Werks eines deutsch schreibenden Prager Juden und des Schicksals einer tschechischen Frau, sind auch das letzte, abschließende und endgültige Wort zu jener Gemeinschaft von Tschechen, Deutschen und Juden, die sich in Prag als der „Mitte Europas" konzentrierte und heute unwiederbringlich ist. Unsere Zeit, sagt Franz Kafka mit seinem Werk, schließt das Tragische aus, es ist eine dem Tragischen nicht wohl gesonnene Zeit. Diese Zeit kann gerettet werden, d. h. sie kann sich durch ein tragisches Opfer aus der Banalität des Bösen emporheben, antwortet auf Kafkas Skepsis mit ihrer Haltung und ihrem Schicksal Milena Jesenská. Worin besteht das Schicksal Milena Jesenskás, das mit dem Werk Kafkas meßbar und gleichzeitig eine Polemik zu ihm ist? Das Schicksal Milena Jesenskás ist, daß sie in einem deutschen Konzentrationslager stirbt. Eine solche Feststellung ist richtig, erfaßt aber nicht die ganze Wahrheit. Das Schicksal Milena Jesenskás ist, daß sie den Tod in einem deutschen Konzentrationslager findet, aber ebenso wäre sie in jedem anderen Konzentrationslager jener Zeit geendet. Daß sie in einem deutschen KZ endete, war eine reine Zufälligkeit, daß sie in einem anderen, d. h. in einem nichtdeutschen KZ enden konnte, daß sie in einem, in irgendeinem KZ enden mußte, das war das tragische Schicksal von Milena Jesenská. Das Schicksal von Milena Jesenská ist, daß sie sich in jener ausweglosen geschichtlichen Situation, die sich in der kurzen Zeit zwischen Herbst 1938 und Herbst 1939 manifestiert, gegen alle drei Inkarnationen des Bösen gestellt hat: gegen den deutschen Nazismus, gegen den russischen Bolschewismus, aber auch gegen das Übel der Münchener Kapitulation der westlichen Demokratien, gegen den in ganz Europa verbreiteten Geist, richtiger: Ungeist des „Münchener Abkommens." Sophokles' Antigone und möglicherweise auch die moderne Antigone stimmen darin überein, daß sie sich von der schweigenden, verschreckten Menge abheben. Sie heben sich ab, um zu sprechen und zu handeln gegen das, was sie für das Übel halten. Die moderne Antigone hat „ein Auge zuviel", weil die anderen die Augen vor dem Bösen verschließen und es nicht sehen wollen in seiner Vielgestalt. Sie sehen es nur in einer Gestalt, vor den anderen verschließen sie die Augen. Wer ein Auge zuviel hat, sieht nicht nur, was um ihn herum geschieht und entdeckt und ermittelt das Böse nicht nur in alles seinen Gestalten, sondern sieht auch, und darin besteht der tragische Weitblick, was er selbst tun muß, wie er selbst handeln muß: er muß sich allen Formen des Bösen entgegenstellen. Natürlich muß er dieser Übermacht unterliegen.

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Ich möchte hier Mißverständnisse vermeiden. Ich behaupte nicht, Milena Jesenská sei die Antigone der modernen Zeit. Ich sage etwas anderes: wer die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit untersucht, kann das Schicksal der Milena Jesenská nicht übersehen. An ihm ist etwas besonderes. Deshalb möchte ich meine Frage zur Möglichkeit des Tragischen in unserer Zeit präzisieren und sie noch einmal so formulieren: auf welche Hindernisse stößt die moderne Antigone, die es ihr unmöglich machen, eine wirkliche Antigone zu werden? Sophokles' Tragödie wird als Konflikt zweier gleichberechtigter Notwendigkeiten interpretiert, als Kollision der Staatsmacht, die den Verräter bestrafen muß, mit der Pietät der Familie, die ihre Toten begraben muß und nicht den Raubtieren überlassen darf. Der tiefer liegende Grund dieses Konflikts aber ist die Kollision der vom Menschen geschriebenen vergänglichen Gesetze mit den ungeschriebenen ewigen Gesetzen der Götter, also eine Kollision der Vergänglichkeit mit der Ewigkeit. Dieser Konflikt äußert sich als unausweichlicher Streit zweier Individualitäten — Kreons und Antigones. Die Schwierigkeit dessen, daß die mögliche moderne Antigone nicht die wirkliche Antigone werden kann, besteht darin, daß ihr Gegenspieler keine Individualität ist, ihr Gegenspieler ist „individualitätslos". Der moderne Kreon ist keine individuelle Persönlichkeit, sondern eine Person ohne Individualität, der moderne Kreon ist zwar eine allgegenwärtige kommandierende, gleichzeitig aber auch eine anonyme Macht. Deshalb können sich die moderne Antigone und Kreon niemals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, kann ihre Auseinandersetzung nicht Auge in Auge ausgetragen werden. Dieses rein Menschliche, das das Göttliche verkennt und unterdrückt, diese Vergänglichkeit menschlicher Anordnungen und Weisungen ist anonym. Der moderne Kreon ist das allmächtige anonyme System.

VI. Eingangs stellte ich die Frage, ob in unserer Zeit das Tragische möglich ist, habe aber das Wesentlichste übersprungen und verschwiegen: was verstehe ich eigentlich unter dem Tragischen, was ist das Tragische? Deshalb präzisiere ich meine Frage und formuliere sie noch einmal — zum letzten Mal — um: was ist das Tragische und was bedeutet Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen für die moderne Zeit?

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Als erster hat Aristoteles das Wesen der Tragödie in seiner „Poetik" untersucht. Damit der Philosoph eine Abhandlung über das Wesen der Tragödie schreiben konnte, mußte es bereits Werke geben, die als Theaterstücke aufgeführt wurden. Ursprünglicher als die wissenschaftliche Abhandlung über die Tragödie ist die Tragödie als dichterisches Werk. Solch eine Unterscheidung zwischen Philosophie und Dichtung sagt aber noch nicht die ganze Wahrheit aus über das Wesen der Tragödie. Ursprünglicher als die wissenschaftliche Abhandlung, aber auch ursprünglicher als das dichterische, Tragödie genannte, Werk, ist das Werk der Bürger von Athen, und dieses gemeinsame Werk heiß Polis. Wir, die Athener Bürger, sagt Piaton, sind selbst die Schöpfer der schönsten und besten Tragödie („TRAGÓDIÁS AUTOI POIÉTA1"). Piaton argumentiert, die Zweideutigkeit der Wörter MIMESIS und POIESIS ausnutzend, folgendermaßen: während die Tragödiendichter die Wirklichkeit nachahmen, sind diese Wirklichkeit als POLIS wir: die Bürger. Wir sind nicht ausschließlich Dichter, wir sind die wahren Schöpfer, wir sind die Schöpfer der wahrhaftigsten Tragödie („TRAGÓDIA ALÉTHESTATÉ"). 5 Diese Tragödie spielt sich als Streit ab (PÓLEMOS), als Streit zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, dem Vergänglichen und dem Beständigen, dem Banalen und dem Erhabenen, und die POLIS gründet sich, dauert und erneuert sich in diesem Streit. Wenn in diesem Streit, der die wahrhaftigste Tragödie ist, nur das Menschliche das Göttliche verdrängen, das Banale das Erhabene verschlingen und das Vergängliche über das Fortdauernde siegen würde, würde die Gemeinde, die POLIS, zerfallen und untergehen und mir ihr die wahrhaftigste Tragödie. Die TRAGÖDIE, die die Athener Bürger schaffen, ist ihre Art, eine Gemeinde (POLIS) zu gründen, zu erneuern, zu erhalten. Der wahre Ort und die Geburtstätte der Tragödie ist nicht die „Poetik", sondern die Politik, die POLIS. Als Hegel und Kierkegaard im 19. Jahrhundert und Georg Lukács („Die Seele und die Formen", Berlin, 1911) und Paul Ernst („Der Weg zur Form", Berlin, 1906) auf Anfang unseres Jahrhunderts den Unterschied zwischen der antiken und der modernen Tragödie untersuchten, und sich die Frage stellten, ob eine moderne Antigone möglich ist, bewegte sie nicht die Sorge, ob ein neuer Sophokles und ein neuer Shakespeare erscheinen würden. Ihre Frage war Bestandteil eines kritischen Denkens, das die moderne Zeit begrüßte, gleichzeitig aber in ihr Widersprüche und Einseitigkeiten entdeckte und in ihren Grundlagen eine unaufhaltsame Tendenz zur Überschreitung jeglichen Maßes feststellte und deshalb die 5

Plato, Nomoi, 817 b.

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Befürchtung aussprach, ob in der modernen Zeit nicht statt des Tragischen das Groteske und die Karikatur der adäquate Ausdruck wären, in dem die Tendenz der Maßlosigkeit zu Tage tritt, zu Überschreitung des Maßes und dessen Nichtbeachtung. Deshalb ist die Frage, ob in der modernen Zeit die Tragödie, bzw. das Tragische möglich sind, identisch mit der Frage, ob die moderne Zeit die bildende Kraft besitzt, um unter ihren Voraussetzungen und Bedingungen jene Gemeinschaft schaffen zu können, die die Griechen POLIS und auch KOINONIA nannten, also eine Gemeinschaft der Menschen und Götter, der Erde und des Himmels (s. Piaton „Gorgias", 508 a), eine moderne Gestalt, keinesfalls eine Nachahmung, der antiken POLIS.

Marta

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Die Publizistin Milena Jesenská

In ihrem Essay „Dekorativni predmët" (Ein dekoratives Objekt) schrieb Milena Jesenská: „In Wien sagt man von einem stark geschminkten Mädchen: Gut gemalt, halb gewonnnen." Dieses Zitat ließe sich auch auf Milena Jesenská selbst beziehen. In dem Bestreben, sie zu enttabuisieren, kommt es zu einer Glorifizierung ihrer Person. Milena wurde in das Klischee der Kafka-Freundin gepreßt und ihr Leben mit Rücksicht auf Kafka romantisiert. Sie selbst wurde nie als selbständige Persönlichkeit betrachtet, für die Franz Kafka nur eine Episode aus ihrer Jugendzeit war. Wer war Milena Jesenská, die als Korrespondentin am Anfang der zwanziger Jahre aus Wien Feuilletons nach Prag lieferte? Sie war die dreiundzwanzigjährige Ehefrau von Ernst Pollak, dem besten Freund Werfeis und Brochs, der tagsüber sein Geld als Bankbeamter bei der österreichischen Länderbank verdiente. Abends fand man den damals Dreiunddreißigjährigen an seinem Stammtisch im Cafe Herrenhof. Dort saß, wie einst in Prag, die geistige Elite: Franz Werfel, Hermann Broch, Robert Musil, Franz Blei, Otto und Gina Kaus, Alfred Adler, Friedrich Eckstein, Otto Groß, Heimito von Doderer, der, wie Karl Kraus, Pollak literarisch verewigt hat. Alle waren schon etwas älter und auch berühmter als die der deutschen Sprache noch nicht mächtige Neuwienerin Milena Pollak, geborene Jesenská. Das Ehepaar Pollak war im Frühling 1918, noch vor dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem endgültigen Zerfall der k. u. k. Monarchie nach Wien gekommen. Ernst Pollak hatte angeblich genug von der „stinkenden Verwesung" Prags. In Wien dagegen war seiner Meinung nach nicht das Verhältnis zum Geld, sondern die Einstellung zum Leben maßgebend. Anders verhielt es sich bei Ehefrau Milena. Sie wollte zwar die Freiheit, wollte weg von der Familie, sie hatte aber all das in Prag zurückgelassen, was zu ihrem Selbstbewußtsein und zu ihrem Namen gehört hatte. Sie entstammte einer alten tschechischen Familie. Der Vater war ein bekannter Kieferchirurg und Professor an der Prager Tschechischen Uni-

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versität, gehörte zur Generation derjenigen, die die Tschechoslowakei als selbständigen Staat aufbauten und mit ihren politischen und moralischen Vorstellungen die Erste Republik prägten. Zu dieser Einstellung gehörte auch, daß er seine Tochter Milena auf dem renommierten Prager Mädchengymnasium „Minerva" ausbilden ließ, einer der Schulen, die maßgeblich das Selbstverständnis der Frauen in der Tschechoslowakei beeinflußten. Milena selbst gab dem Leben den Vorrang vor dem Studium. Es blieb bei Versuchen, Musik oder Medizin zu studieren. Der Arzt Prof. Josef Svejcar, ein Schulfreund Milenas, bezeichnet sie in seinen Erinnerungen an diese Zeit als intellektuell bedeutungslos. Ihr Name fallt lediglich im Zusammenhang mit einigen Liebesaffären. Sie folgte darin dem Beispiel ihres Vaters, bei dem sich allerdings die Abweichungen vom Bild des idealen Bürgers noch in konventionellen Grenzen hielten. Nach einigen Skandalen hieß Milenas Opfer Ernst Pollak, dem sie nach Wien folgte. Aber dort war sie ein Niemand. Milena, die immer gegen den eigenen Vater revoltiert hatte, war doch an dessen finanzielle Unterstützung gewöhnt, und so holte sie sich das Nötigste aus ihrem Freundeskreis. Die unbezahlten Rechnungen häuften sich, und es kam sogar zu verschiedenen Diebstählen. Vor dem Richter sagte Milena zu ihrer Entschuldigung: „Ich war in einer erotischen Krise." Dies alles wurde später, um das unsterbliche Bild von Kafka und seiner Umgebung fleckenfrei zu halten, absichtlich verschwiegen oder stark verzerrt wiedergegeben. Um Milenas Figur entwickelte sich dagegen ein Kranz von Legenden und Ondits — von der Kofferträgerin auf Wiener Bahnhöfen und der Darstellung des Wiener Pollaks Wohnung als „einer Art Pension mit Mittagstisch, Haushälterin und dem Untermieter F. X. Schaffgotsch" bis zum (nie erteilten) Tschechischunterricht. Es gab zwar ein Inserat in der Wiener „Neuen Freien Presse" vom 1. September 1920, in dem „Frau Milena Pollak" aus der „Lerchenfelderstraße Nummer 113, Tür 5," anbot, als „akademisch gebildete Lehrerin Tschechisch zu unterrichten" — ein Tschechischschüler Milena Jesenskás ist aber meines Wissens bis heute nicht aufgetaucht. Milena stand vor der zwingenden Notwendigkeit, sich eine eigene Existenz aufbauen zu müssen. Dabei half ihr eine Prager Schulfreundin, die ihr Kontakte zur „Tribuna" vermittelte, einer der damals besten tschechischen Tageszeitungen. Dort war auch der Ehemann einer anderen Mitschülerin Redakteur, und schließlich zählte Chefredakteur Arne Laurin zu den alten Bekannten der Familie Pollak. So durfte Milena aus Wien für die Frauenseite der „Tribuna" über Mode und anderes berichten. Ihr erster

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Artikel, ein Brief aus Wien über Weihnachten in der gebeutelten Stadt, erscheint in der Prager „Tribuna" am 30. Dezember 1919. Milena, die ursprünglich nur ihre tschechische Muttersprache beherrschte und erst später Deutsch gelernt hat, verdiente sich ein Leben lang Geld mit Übersetzungen aus dem Deutschen, Russischen, Französischen, Englischen und Ungarischen. Welche Sprache gerade aktuell war, hing vom jeweiligen Partner ab. Diese meist polyglotten Männer lieferten Rohübersetzungen, die Milena in gutes Tschechisch brachte. Als Übersetzerin wagte sie sich an Rosa Luxemburg, Charles Philipp, Octave Mirbeau, Leonhard Frank, Heinrich Mann, Franz Werfel, M. Gorkij, A. Avercenko, G. Apollinaire, H. Barbusse, Romain Rolland, Paul Claudel, Jules Lafargue, Sven Eovested, Clément Vantel, André Gide, G. K. Cherstetona, R. L. Stevenson, Jonathan Swift, Hannes Mayer, Béla Balász, Josef Kalmer und Jolan Földes. Ihr erstes Übersetzungsopfer hieß aber Franz Kafka. Die Anregung dazu stammte vom Ehemann Ernst Pollak, der Kafka seit Jahren kannte und für den größten und besten deutschsprachigen Autor hielt. In Heimito von Doderers Erinnerungen liest sich das so: „Lazar, Storfer, Grüner, E. Pollak, heute tot oder in der Welt zerstreut, trieben dort ihren KafkaKult." Mitte der zwanziger Jahre kehrte Milena nach Prag zurück. Sie war von Ernst Pollak frisch geschieden, ihr Begleiter war längst der noch verheiratete Franz Xaver Schaffgotsch, der bald von dem avantgardistischen Architekten Jaromir Krejcar abgelöst werden sollte. Als Fieberphase in Milenas Schaffen könnte man diesen Zeitraum bezeichnen. Sie suchte sich ihr legendäres Team von emanzipierten Persönlichkeiten, mit dem sie die tschechischen Leser erobern wollte. Gleichzeitig erschien im Prager Verlag „Akciová tiskárna" („Aktien-Druckerei") auf der Basis einer Leserinnenumfrage in den „Národní listy" (Nationalzeitung) das Kochbuch „Mileniny recepty" („Milenas Rezepte", Praha 1925). Außerdem arbeitete Milena an der Herausgabe von Sammelbänden ausgewählter Feuilletons und Essays aus ihrer Wiener Zeit: „Cesta k jednoduchosti" (Der Weg zur Einfachheit, Praha 1926) und „Clovëk déla saty" (Der Mensch macht Kleider, Praha 1927). Milenas Gesamtwerk erschien beim Verlag „Topic" in der Buchreihe „Zena" („Frau"), die sie selbst leitete. Sie gründerte und redigierte die Buchreihe „Détská cetba" (Kinderlektüre, Praha 1926), wo z. B. 1926 ihre Übersetzung von J. M. Barries: „Peter Pan und Wendy" erscheint sowie 1928 von O. Rühle „Jak zacházeti s dëtmi" (Über den Umgang mit Kindern).

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Als im Prager Verlag „Topic" 1927 ein Sammelband von Feuilletons und Reiseberichten „Siastnou cestu" (Glückliche Reise) erscheint, ist auch Milena als Autorin dabei. Im Jahre 1930 gab Milena Jesenská zusammen mit J. Vanëk in Brünn die Broschüre „Civilizovaná zena" („Die zivilisierte Frau") heraus, in der sie einen Artikel „Maji svobodnou vüli, aie satû nemají" („Sie haben einen freien Willen, aber keine Kleider") veröffentlichte. In der Folge arbeitete sie als Journalistin und technische Redakteurin bei der Zeitschrift „Stavitel" (Baumeister), schrieb eine Vielzahl von mehr oder weniger guten Artikeln für eine ganze Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, etwa „Pestry tyden" (Bunte Woche), „Lidové noviny" (Volkszeitung), „Zijeme" (Wir leben), „Svét práce (Welt der Arbeit), „Tvorba" (Das Schaffen), „Svëtozor" (Weltbeobachter), „Rozpravy Aventina" (Gespräche aus dem Aventinum), Právo lidu (Volksrecht) oder Pritomnost (Gegenwart), deren Autorenschaft noch heute wegen der verwendeten unterschiedlichsten Sigel und Chiffren nur sehr schwer zu belegen ist. Ernst Pollak hatte Milena Wien geöffnet und sie mit der deutschen Literatur, besonders der aus Prag, bekannt gemacht. Franz Xaver Schaffgotsch öffnete ihr die Sowjetunion und machte sie mit kommunistischen Ideen und Persönlichkeiten aus Leningrad, Moskau, Wien, Leipzig, Dresden und Berlin vertraut. Sie verschaffte wiederum dem bis dahin nur gelegentlich publizierenden Schaffgotsch („Sowjet" und „Rote Fahne") durch ihren Freund Emil Alfons Rheinhardt beim Paul-List-Verlag eine feste Mitarbeit. So kam ein Lektor und Übersetzer aus dem Russischen (Dostojevskij, Gogol, Tolstoj, Soscenko, Achmatovová) zur Welt. Milenas zweiter Ehemann, der tschechische Architekt Jaromir Krejcar, führte sie in die Welt der damaligen Kunstströmungen unter Linksintellektuellen ein. Der berühmt-berüchtigte Julius Fucik machte sie zur Mitarbeiterin seiner „Tvorba". Trotz aller Milena-Forschung blieben die Liebesbriefe, die Milena und Fucik wechselten, bis heute der Öffentlichkeit verborgen. Milena Jesenskás journalistische Stärke lag in ihrer Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Informationen, auch unterschiedlichen Charakters, das Wesentliche herauszufiltern und das Ergebnis ihrer Analyse in einfacher, deutlicher Sprache zu vermitteln. Am Anfang ihrer journalistischen Tätigkeit standen Feuilletons. Es war ein Versuch, einen Dialog aus dem tristen Wiener Leben, eine Brücke, zu finden, sich äußern zu können. Sie beginnt mit dem Alltäglichen: mit Erzählungen aus ihrem Umfeld, der Suche nach einem neuen Lebenstil und zivilisationskritischen Feuilletons à la S. Κ.

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Neumann, wo Natur und Freiheit siegten, und endete bei einer Analyse der jeweiligen Situation. Milena beherrschte bravourös die nur scheinbare Leichtigkeit und Einfachheit dieses Genres. Ihre repräsentative Sammlung „Weg zur Einfachheit" bewies es. In „Pricina nebo úcinek?" („Ursache oder Wirkung") schreibt sie: „Es ist sicher kein Zufall, daß es so wenig aktive und unfähige Menschen gibt. Nach all dem Kriegs- und Nachkriegsglauben, in einer scheinbaren Ruhe und in einer trügerischen Stabilität, stehen wir plötzlich alle, deren mentale Entwicklung in die vergangenen Jahrzehnte fallt, mit der ratlosen Frage da: Wie soll man leben? Unsere Generation bekam anstelle des Geschenkes von Energie den Fluch intellektueller Querelen in die Wiege gelegt. Wir sahen die einstürzende alte Welt. Das, was um uns ist, ist keine neue Welt; es wäre unsere Aufgabe, sie zu schaffen. Aber gerade wir sind tief verstrickt in die geistige Katastrophe. Wir können uns nicht zur Tat verändern. Wir sind die Kügelchen auf einer schiefen Ebene, die wie das Ergebnis der allgemeinen Vernichtung nur noch stürzen, und stürzen deshalb, weil wir gedanklich noch zu einer Welt gehören, die schon der Vergangenheit angehört." Natürlich findet man auch unter den mehr als 400 Artikeln aus ihrer 20jährigen journalistischen Tätigkeit frivole Modeberichterstattung, die zum schnellen Brotverdienst gedacht war, besonders Ende der zwanziger Jahre, bevor sie in die Pritomnost (Gegenwart) eintrat. Diese Zeit (1937 — 1939) bedeutet die absolute Spitze ihrer journalistischen Karriere. Die politische Aufgeklärtheit, ihre präzise Äußerung in wunderbarem Tschechisch, wie sie die Ereignisse vor und nach dem Münchener Abkommen schildert, gehören zur klassischen tschechischen Journalistik. Und gerade in dieser fanatisierten Zeit schreibt sie mutig, daß nicht „jeder Deutsche dem anderen gleicht". Aus Prag war eine vorübergehend wichtige Umsteigestation auf der Flucht in die Freiheit geworden. Mit tschechoslowakischen Reisepässen gingen viele Emigranten, wie Thomas Mann und Leonhard Frank, den Jesenská in den zwanziger Jahren dem tschechischen Publikum bekannt gemacht hatte, weiter durch Frankreich nach Amerika oder nach England. Milena traf sich mit alten Bekannten, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte — etwa der Journalist Willy Schlamm, der in Hochzeiten des kalten Krieges als William S. Schlamm für Furore, sorgte; der ehemalige Spartakist und KPD-Mitbegründer Otto Rühle und seine Frau Alice Gerstl, bei denen Milena einst mit Franz Xaver Schaffgotsch in Buchholz-Friedenwald bei Dresden gewohnt hatte. Auf deren Bitte nahm Milena Rühles Mitarbeiter Henry Jacoby und seine Frau bei sich auf, genauso wie die

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befreundete Familie des Journalisten Budín, die vor ihrer Abreise nach Amerika bei Milena wohnte. Milena fuhr ins Sudetenland und schrieb von dort ihre besten Reportagen. Sie organisierte die Flucht jüdischer Mitbürger und tschechischer Flieger und half so nicht nur ihrem ersten Ehemann Ernst Pollak, sondern auch ihrem letzten Lebensgefährten, dem kommunistischen Publizisten Eugen Klinger. In dem Artikel „Lidé na vyspë", mit dem Untertitel „Z osudü nëmeckych emigrantû" (Gestrandete Menschen. Vom Schicksal deutscher Emigranten) in der „Pritomnost" vom 27. 10. 1937 schreibt sie: „Die Aufgabe eines Reporters ähnelt häufig der einer Hyäne. Mit dem Notizbuch in der Hand zieht er umher und notiert sich menschliches Elend, um in den Zeitungen davon zu berichten. Wenn er dies ohne ein Fünkchen Hoffnung tut, daß seine gedruckten Worte helfen können, ist er nicht einmal einen Händedruck wert." Einige Titel aus dieser Zeit von 1938, die für sich sprechen: „Co zbyvá ζ KSC?" (Was bleibt von der KPC); „Anslus nebude" (Es wird keinen Anschluß geben; „Kalendár zárijovych událostí" (Kalender der Septemberereignisse); „V zemi nikoho" (Im Niemandsland); „Povëz, kam utíkás — povím Ti kdo jsi" (Sage mir, wohin du fliehst, und ich sage dir, wer du bist); 1939 — „Praha, rano 15. brezna 1939" (Prag, am Morgen des 15. März 1939; „Ceska maminka" (Tschechische Mutter); Tyká se nás vsech" (Es geht uns alle an); „Jak se stykati s Cechy (Vom Umgang mit Tschechen); „Jak se stykati s Nëmci" (Vom Umgang mit Deutschen). Und Übersetzungen wie Willi Schlamms Artikel „Warum starb Karel Capek?", wo Schlamm schreibt: „[...] Ein echter Tscheche kann sich einen Gedanken nicht vorstellen, der größer wäre als das Leben selbst ist, / der berechtigen würde, / ihm eine ganze Generation zu opfern, / der den lebendigen Menschen als Mittel zum Zweck, / als Baumaterial betrachten würde. / Auf den zornigen und wahrhaft deutschen Ausruf Friedrichs des Großen / gegenüber einem unschlüssigen Soldaten: „Kerls, wollt ihr ewig leben?', / würde ein echter Tscheche mit dem direkten Bekenntnis antworten: ,Ja, bitte wenn's geht.'" Milenas vorletzter Artikel in der „Pritomnost" heißt „Soldaten wohnen auf den Kanonen", 21. 6. 1939; der allerletzte „S ubohym a holym" („Mit Armen und Nackten", 5. 7. 1939). Angeblich sind Milenas Briefe an Franz Kafka verloren, obwohl unlängst auch die Legende auftauchte, sie würden doch in irgendeinem Londoner Safe aufbewahrt. Milenas letzter Veröffentlichung geht ihr Brief an E. Klinger vom 19. 6. 1939 ins Londoner Exil voraus, in dem sie ihm

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den Text des gleichen Liedes zitiert, mit dem sie später ihren Artikel „Mit Armen und Nackten" aufmacht. „[...] Wir haben mit Honza ein Liedchen gelernt. Lojza singt es Zuzanka vor, und mir gefallt es schrecklich. — Hej dum da, mein Mütterlein, wieviel Kinder habt ihr? Erst den Mates, dann den Matys. Und als dritten einen Armen, einen Nackten. — Hej dum da, mein Mütterlein, was gebt ihr ihnen zu essen? Herrn Mates Braten, Matys Brot. Und dem Armen und Nackten [...] — Hey dum da, mein Mütterlein, wo legt ihr sie zum Schlafen? Herrn Mates aufs Bett, Matys aufs Bett — und den Armen und Nackten unters Bett. Du, mein armes und nacktes vcounku — es reicht, jetzt würde ich sehr weinen. Bis morgen."

Und in dem folgenden Brief schrieb Milena über alles, was in Prag Neues passiert war: über die kranke Helenka Malírová, über Julia Raablová, die ihrem Ehemann nach London folgte und an der holländischen Grenze zurückgewiesen wurde, über ihre Arbeit ...: „Wir hier wiederum leben und wissen nicht wie. Wir warten wieder dauernd auf etwas und wissen nicht worauf. Irgend etwas liegt in der Luft, und wir wissen nicht, was. Heute war meine Arbeit nur verteilt auf 95 Stellen. Es scheint eine unmenschliche Aufgabe, die wir hier haben. Es würde mich freuen, wenn Du Dich allmählich um unser Permit kümmern würdest — aber so, daß ich es verwenden könnte, wenn ich es bräuchte. Das bedeutet, bis ich es brauche. Chana wird Dir mündlich mehr erzählen. Das läßt sich besser erzählen als schreiben. Wir haben uns oft gesehen, und so kann es Dir viel über mich erzählen." Milena selbst blieb erschöpft mit ihrer Tochter aus zweiter Ehe in Prag zurück. Sie unterstützte journalistisch, spontan wie sie war, die Anfänge des tschechischen Widerstandes gegen die deutsche Okkupation. So schreibt sie für die illegale Zeitung „V boj" (Auf zum Kampf), eine Zeitschrift, deren erste Nummern sogar einige Monate früher erscheinen, als einst die Kommunisten wissen wollten. Denn nur das „Rudé právo" wurde von denen als illegaler publizistischer Vorreiter genannt. Am 11. November 1939 wurde sie von der Gestapo verhaftet. Nach einer Odyssee durch die verschiedensten Gefangnisse — Jesenská machte die Erfahrung, „von den Gefangenen sind zwei Drittel hier auf Grund der Denunziation von Tschechen" — landete sie schließlich im KZ Ravensbrück. Zum äußeren Druck, verursacht durch das brutale Regime der SS, kamen hier riesige Probleme im zwischenmenschlichen Zusammenleben der weiblichen Häftlinge. Der tägliche Kampf ums Überleben färbte auf die ethische Einstellung nicht immer positiv ab. Gegenseitige Hilfe

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Marta Kotyk-Marková

und Abgrenzung gegenüber Mitgefangenen lagen eng beieinander. Milenas Position im Lager wurde im Laufe der Zeit schwieriger, besonders nach der Einlieferung von Margarete Buber-Neumann im Oktober 1940, die wegen der um sie entstehenden Spekulationen — war sie Trotzkistin, Gestapokonfidentin oder arme Irre? — zu Milenas Isolierung beitrug. Ein übriges taten Milenas einstige Aussprüche wie „das Stalin-Regime bedeutet keine Befreiung: ein Übergang aus der faschistischen Botmäßigkeit in die Stalinsche würde nur einem Aus-dem-Regen-in-die-Traufe-Kommen gleichen." Ihre wenigen näheren Kontaktpersonen waren: die Österreicherinnen Rosa Jochmann und Käthe Leichter, die Polin Marta Baranowská und die schon erwähnte Margarete Buber-Neumann. Rosa Jochmann hatte viele „Schützlinge", zu denen auch die einundsiebzigjährige Klára Cervenková, Milenas Professorin aus der Minerva, die die Jochman vor den SS-Männern bis 1945 versteckte, gehörte. Käthe Leichter war Schriftstellerin und Sozialkritikerin. Zusammen mit Jochmann gehörte sie vor 1934 zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Sozialistischen Partei Österreichs. Die beiden waren in Ravensbrück für unzählige Häftlinge ein Vorbild an Hilfsbereitschaft und Mut. Die Veröffentlichungen von Margarethe Buber-Neumann trugen nach Kriegsende wesentlich dazu bei, daß Milenas Bild auf ihre Mithäftlinge und deren Selbstverständnis zurückwirkte. Als Blockgenossin der nun plötzlich so berühmten Kafka-Freundin stand man auch selbst in ganz anderem Licht da, und der Legendenbildung waren Tür und Tor geöffnet. Beispiel dafür ist die Geschichte des folgenden Märchens, das angeblich von Milena stammt und längst nach deren Tod — als man nach dem Krieg die Kranken nach Hause transportierte — in ihrer Schreibtischschublade im Ravensbrücker Krankenrevier gefunden worden sein soll. Die Geschichte der Uberlieferung dieses kurzen Textes liest sich selbst wie ein Märchen. Das Original übergab die Finderin an Margarete Buber-Neumann erst vierzig Jahre danach, weil diese ihr die einzig mögliche Adressatin erschien. Obwohl sie, die Finderin, nach Milenas Tod die Freundin von Margarete Buber-Neumanns wurde, wußte sie natürlich nicht, daß diese den Text von Milenas Märchen seit Sommer 1941 kannte und das sie sogar in ihrem Buch ,Kafkas Freundin Milena' schrieb: „... ein Märchen, das sie für mich schrieb: ,Die Prinzessin und der Tintenklecks'. Ich lerne tschechisch, um die Schönheit ihrer Muttersprache nachempfinden zu können." Allerdings war dieses Vermächtnis Milenas längst bei tschechischen Kindern angekommen. Die Schwester der Entdeckerin, eine Grundschullehrerin, verwendete es im Unterricht und las es ihren Schülern vor —

Die Publizistin Milena Jesenská

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jedoch ohne den Namen der Autorin preiszugeben. In deutscher Übersetzung lautet der Text: „Ein König hatte eine Tochter. Das Mädchen schrieb den ganzen Tag Gedichte. Der König aber war mit seiner Tochter nicht zufrieden, er wollte, daß sie wie alle anderen Kinder sei. Der König suchte ein Mittel, um sie zu heilen. Er rief fremde Weise. Sie wußten jedoch keinen Rat. Da kam ein Zauberer und sagte: Wenn die Prinzessin einen Tintenklecks auf ein Gedicht macht, endet der Zauber. Der König ließ viele Leute kommen und sagte: „Wer mein Kind gesund macht, dem gebe ich die Prinzessin und mein Königreich." Die Leute schimpften auf die Prinzessin, aber es half nichts. Die Prinzessin schrieb weiter Gedichte. Da kam der dumme Hans, sah die schöne Prinzessin und sagte: ,Weil Du so viel schreibst, ist deine Nase häßlich und lang geworden.' Das Mädchen schrie auf vor Zorn, die Feder fiel herunter und auf dem Gedicht war ein Tintenklecks. ,Du hast nicht recht, dummer Hans', schrie das Mädchen, nahm einen Spiegel — und die Nase war klein und hübsch. Der Zauber war gebrochen, und Hans bekam die Prinzessin und das Königreich."

Eduard Goldstücker Dreißig Jahre später

I. Die Politik begleitet mich, ob ich es will oder nicht, durchs ganze Leben. In bezug auf die Kafka-Konferenz von Liblice mußte ich seit 1963 wiederholt zu Äußerungen über sie kommentierend und polemisierend Stellung nehmen. Bisher galt es, auf moskowitisch kommunistische Angriffe und Entstellungen zu reagieren. Diesmal soll es sich um postkommunistische Stimmen handeln, nämlich um Urteile, die von zwei bekannten tschechischen Schriftstellern in den letzten Jahren abgegeben wurden, von Josef Skvorecky und Milan Uhde. Skvorecky ist ein mit Recht hochgeschätzter Schriftsteller, der seit 1968 als Emigrant und Universitätslehrer in Toronto lebt, wo er einen besonders für die exilierte tschechische Literatur sehr wichtigen Verlag gegründet und geleitet hat. Vor zehn Jahren veröffentlichte er in der amerikanischen, mitteleuropäischen Fragen gewidmeten Zeitschrift „Cross Currents" einen Aufsatz unter dem Titel „Franz Kafka, Jazz, the Antisemitic Reader and other Marginal Matters", den er offenbar für wichtig genug hielt, um ihn — soweit ich weiß — seither noch zweimal tschechisch und einmal deutsch erscheinen zu lassen. Er kommt da auf Gustav Janouch zu sprechen und — selbst ein enthusiastischer Jazzman — hebt dessen verdienstvolle Beiträge zur Entwicklung der tschechischen Jazzmusik hervor. Ich habe Janouch 1951 kennengelernt und kam mit ihm vor meiner Verhaftung sowie nach meiner Befreiung bis 1960 des öfteren zusammen. In jener Zeit, seit Jahren bereits, war er Klavierspieler in Nachtlokalen. Skvorecky sagt, Janouch hätte nach dem Krieg zwei Jahre im Gefängnis verbracht. In Wirklichkeit erhielt Janouch unmittelbar nach dem Krieg einen Posten im tschechoslowakischen Sicherheitsdienst mit Amtsitz Karlsbad. Was sein Arbeitsbereich war, weiß ich nicht, habe aber viel später gehört, seine Aufgabe hätte darin bestanden, deutsche Wissenschaftler aus ihrer hungernden Heimat nach Karlsbad einzuladen und an die Russen weiterzuleiten. Dann — etwa im März 1946 — wurde er wegen, wie er selbst sagt, Mißbrauchs amtlicher Befugnisse verhaftet und nach elf Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Wenige Monate darauf schickte er an Max

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Eduard Goldstücker

Brod nach Tel Aviv das Manuskript seiner „Gespräche mit Kafka", die, von Brod vorbehaltlos empfohlen, 1951 bei S. Fischer erschienen sind. Nicht aus Pedanterie glaube ich zu Skvoreckys faktischen Angaben bemerken zu müssen, daß er ζ. B. die Kafka-Konferenz in das Jahr 1962 setzt und das Erscheinungsjahr der tschechischen Übersetzung des SchloßRomans mit 1938 anstatt 1935 angibt. Er hätte, sagt er, ein Exemplar dieses Buches 1944 im Prager Verlag Mânes gekauft, was mir unglaublich vorkommt und ein Gedächtnisirrtum seinerseits sein muß. Skvorecky erwähnt einen Roman von Janouch unter dem für einen Jazzliebhaber vielversprechenden Titel „Der Todesblues". Damit hat es eine eigene Bewandtnis. Seit etwa Ende 1959 sprach Janouch mit mir wiederholt über den Verlauf seiner Arbeit an einem Kriminalroman, der Karlsbad zum Schauplatz haben und Jazz mit Spionage verknüpfen sollte. Was sich weiter im Zusammenhang damit abspielte, erfuhr ich auf eine etwas seltsame Weise. Während eines Goethe-Symposions in Weimar, gegen Ende 1960, bat mich eine hohe Beamtin des DDR-Kulturministeriums, Johanna Rudolph, um ein vertrauliches Gespräch, das sie mit der Frage begann, was für ein Mensch dieser Janouch sei, und berichtete, daß der Genannte, obzwar ihr kaum bekannt, sie vor einigen Tagen aufgesucht hatte, um darauf aufmerksam zu machen, daß im Leipziger List-Verlag lauter Nazisten säßen. So reagierte er auf die Entscheidung des Verlags (der ein Jahr zuvor seine „Prager Begegnungen" herausgebracht hatte), seinen Roman nicht zu übernehmen. Frau Rudolph, Schwägerin des Prager deutschen Dichters Oskar Kosta (der Janouchs Deutschlehrer am StefanGymnasium gewesen war und die „Prager Begegnungen" sprachlich betreut hatte), ließ eine Sekretärin kommen und forderte Janouch auf, seine Anzeige schriftlich aufnehmen zu lassen. Kaum erblickte er aber die Eintretende, fing er zu schreien an: „Die? Der sage ich kein Wort, die habe ich in Prag als Sekretärin eines hohen SS-Beamten gesehen" und lief höchst aufgeregt davon. „Jetzt weiß ich wirklich nicht", bemerkte abschließend Frau Rudolph, „ob er nach Prag oder in den Westen gefahren ist." Es war Prag, und sein Abreagieren des Leipziger Mißerfolgs, von dem ich erst in Weimar erfuhr, sollte auch ich zu spüren bekommen. Kurz vor meiner Weimarer Reise (und knapp vor seiner Leipziger) gab er mir ein Dramenmanuskript zu lesen. Ehe ich aber mehr als den ersten Akt lesen konnte, verlangte er telefonisch das Manuskript sofort zurück. Ich bringe es ihm und er sagt: „Stell dir vor, ich schickte es an S. Fischer, und die Behörden sandten mir es zurück, weil es angeblich ins westliche Ausland nicht befördert werden darf. Ich war mir nicht sicher, ob du [...]" Ich

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fragte ihn, ob er meinte, ich hätte es der Polizei angezeigt, und das war das Ende unserer Beziehungen. Als dann einige Jahre später unter sehr merkwürdigen Umständen ein Kafka zugeschriebenes dramatisches Werk „entdeckt" wurde, jener „Flug um die Lampe herum", erinnerte mich dessen Text lebhaft an den gelesenen ersten Akt von Janouch, und ich war überzeugt, daß der Verfertiger dieses Sückes Gustav Janouch war. In meinen Äußerungen zu diesem Thema habe ich es klar angedeutet. Bei dem Westberliner Kafka-Kolloquium von 1966 habe ich Janouchs „Gespräche mit Kafka" als Fälschung gekennzeichnet und nach dem Erscheinen von deren erweiterter Ausgabe habe ich in dem Aufsatz „Kafkas Eckermann?" meine Gründe dafür zur Diskussion gestellt. Gegen die angebliche Ungerechtigkeit dieses Aufsatzes Janouch gegenüber nimmt ihn Skvorecky in Schutz: „Armer Janouch", schreibt er, „als eine authentische Quelle ist sein Magnum Opus heute diskreditiert. Es schaut so aus, als ob der alte Swingman seine Erinnerungen etwas bearbeitet hätte, ein wenig aufgeblasen. Verdient er aber den fast spöttischen Ton, den Eduard Goldstücker in seiner vernichtenden Analyse der Gespräche benützt hat? Und haben wir wirklich das moralische Recht, ihn dafür zu verdammen, daß er an seiner Bekanntschaft mit dem Meister etwas verdienen wollte?" Weiter: „Der arme Scheißer tat sicher, was er konnte, um seine Kafka-Ware zu verkaufen, denn in seinem Alter war Kafka potentiell [...] seine einzige Einnahmequelle". Was Janouchs Alter betrifft, nur soviel: Als er sein „Gespräche"-Manuskript der Post übergab, war er 44 Jahre alt, als das Buch erschien, 48. Dann kommt Skvorecky auf die Kafka-Konferenz zu sprechen: „1962, im Jahr der Kafka-Konferenz, war Janouch, meines Wissens, der einzige lebende Mensch in Prag, der Kafka persönlich gekannt hatte. Hat man ihn zur Konferenz eingeladen? Dafür habe ich keinen Beleg gefunden. [...] [das] war eine Konferenz von Marxisten [...] Es scheint, daß es in dieser Gesellschaft keinen Platz gab für einen alten Jazzman, der als ein Grünschnabel das zweifelhafte Glück gehabt hatte, eine kurze Zeit mit einem der großen Intellektuellen unseres Jahrhunderts verkehrt zu haben". Alles ist also in bester Ordnung. Wenn jemand ein Jazzmann ist, darf er falschen, Gespräche mit Kafka erfinden und der Welt an die Nase hängen als einen authentischen Beitrag zu Kafkas Werk und Biographie. Ein tschechisches Sprichwort sagt beruhigend: „Nichts, nichts, es ist ein Musikant". Vielleicht schwebte es Skvorecky als Motto vor, als er dieses Plädoyer verfaßte. Er beschließt es wie folgt: „Also gut, sein Buch ist gewissermaßen — vielleicht vorwiegend — eine Frucht keineswegs von Tagebucheintragungen und einem Dickens'schen Gedächtnis, sondern der

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Eduard Goldstücker

Einbildungskraft. Aber ein schlechtes Buch ist es nicht. Es ist eine liebende Ehrenbezeugung dem Meister, der viele Leser, gelehrte wie ungelehrte, inspiriert hat. Was aber die Vielen, die das Buch irrtümlicherweise für eine genaue Aufzeichnung hielten und ihre Hypothesen auf den Aussagen begründeten, die Janouch anscheinend Kafka in den Mund gelegt hatte. Nun, betrachten wir es als eine Kafkárna und genießen es, wenn wir Kafka ehren." Nicht die literarische oder sonstige Qualität des Büchleins steht zur Debatte, sondern seine Echtheit, daß heißt die Frage, ob es authentische oder wissentlich vorgetäuschte Berichte und Aussprüche enthält. Man wird eine Fälschung wohl nicht nur bei ihrem schlechten Namen nennen dürfen, sondern müssen, auch wenn sie sich ein Jazzman zuschulden kommen ließ. Derartige Dispense wie der von Josef Skvorecky verlangte entwerten das Kriterion der Wahrheit. Er als Anglist wird es wohl verstehen, wenn ich, die Manen von Gertrud Stein um Verzeihung bittend, sage: „Eine Fälschung ist eine Fälschung, ist eine Fälschung". Der Kafka-Konferenz von Liblice wird besonders in der letzten Zeit wiederholt vorgeworfen, aus lauter Marxisten bestanden zu haben. E s muß einmal klar gesagt werden, daß die Konferenz von Anfang an absichtlich als eine aus marxistischen Teilnehmern bestehende geplant und einberufen wurde. Es ging darum, die offizielle Einstellung Kafka und der ganzen avantgardistischen Kunst gegenüber der Kritik derjenigen Marxisten auszusetzen, die über Kafka geschrieben hatten oder zu schreiben beabsichtigten. Nur so ging es; anders hätte es keinen Sinn gehabt und hätte auch nichts erreicht. Die wohlfeilste Weisheit ist die des Rückblicks, welche, die betreffenden Zeitumstände einfach außer acht lassend, zu wissen glaubt, wie man anno dazumal das und jenes anders und besser hat tun sollen. Übrigens fast ein jeder tschechische Schriftsteller, der etwas auf sich hält, hat sich zu Kafka geäußert, allerdings erst später, nach der Kafka-Konferenz. Und wenn Josef Skvorecky und, wie wir bald sehen werden, Milan Uhde, so gut wissen, was der Konferenz fehlte und wie anders sie gewesen sein sollte, warum haben sie sie nicht einberufen? Sie waren ja da.

II. Damit komme ich — nur sehr ungern — auf etwas zu sprechen, das ich bereits bei der Werfel-Konferenz in Liblice im September 1990 habe berühren müssen. Die Sachlage ist wie folgt: Im Mai 1990 tagte auf Schloß

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Dobris die Gruppe 47, die ich im Jahre 1968 als Vorsitzender des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands zu dieser Tagung eingeladen hatte. Unter den Teilnehmern befand sich auch Dr. Milan Uhde, der in den sechziger Jahren besonders als Dramatiker viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Wir begrüßen einander nach all den Jahren nur flüchtig, aber beim Abschiednehmen kam er zu mir, drückte sein Bedauern darüber aus, daß sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch ergeben hatte, teilte mir mit, daß er in Brünn einen eigenen Verlag hat und gab mir seine Visitenkarte mit der Bitte, mein nächstes Manuskript seinem Verlag anzuvertrauen. Acht Tage später fanden Parlamentswahlen statt, die ersten nach der Befreiung. Uhde wurde ins Parlament gewählt und kurz darauf zum tschechischen Kulturminister ernannt. Er fuhr zu seiner ersten offiziellen Reise nach damals noch Westdeutschland und gab dort ein Interview, das am 2. August in der „Welt am Sonntag" veröffentlicht wurde. Ich habe, wie gesagt, eine Erklärung in dieser Sache im September 1990 abgegeben, aber ich wollte dem guten Namen des tschechischen Kulturministers und der Tschechoslowakei keinen Schaden zufügen und veröffentlichte diese Erklärung nur tschechisch in einer Tageszeitung. Heuer im April tagte in Prag die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und bei der Gelegenheit hat sich eine gute journalistische Seele in Deutschland gefunden, die einen Verriß dieser Tagung veröffentlicht hat, hauptsächlich [...] einen schrecklichen Angriff auf mich mit der Begründung, daß schon der Kulturminister das und das gesagt hätte. Was sagt der Herr Kulturminister? Ein Absatz in dem erwähnten Interview lautet wie folgt: „Milan Uhde, der von 1971 bis zur Wende im vergangenen Jahr ein verbotener Dichter war, will auch nicht an eine Tradition anknüpfen, die mit dem Germanisten Professor Eduard Goldstücker und dessen Emigration nach England zu Ende ging. Trotz aller Verdienste, die Uhde den im kommunistischen Machtbereich bahnbrechenden KafkaKonferenzen von 1963 und 1965 auf Schloß Liblice beimißt, sagt er in herzerfrischender Offenheit: ,Was damals auf diesen Konferenzen geredet worden ist, war der Versuch, Kafka in die kommunistische Ideologie einzubinden. Vom wissenschaftlichen Standpunkt war das Unsinn und wenn man heute darauf zurückblickt, war es auch eine Schande. Liblice hat den Weg für Kafka bei uns zwar geöffnet, aber den falschen Weg.' So weit dieses Zitat. Ich habe den Minister sofort schriftlich gefragt, ob das wirklich seine Meinungen und Worte sind. Er antwortete, das Gespräch für die „Welt" sei zwar nicht autorisiert worden, enthalte aber nur seine Gedanken. Darauf machte ich die folgende Erklärung: „1. Von den zwei erwähnten Konferenzen in Liblice war nur die erste dem Leben und Werk

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Eduard Goldstücker

Franz Kafkas gewidmet, was der Minister wissen sollte. 2. Die Ansicht, daß es sich dabei um einen Versuch gehandelt hätte, Kafka in die kommunistische Ideologie einzubinden, steht im krassen Gegensatz zu den evidenten Tatsachen und kann einer unvoreingenommenen Nachprüfung nicht standhalten. Die kommunistischen Machthaber haben die KafkaKonferenz über 20 Jahre hindurch als ein ideologisches Verbrechen verschrien und als den Anfang der sogenannten tschechischen Kontrarevolution verfolgt. Sie nun plötzlich für ein denselben Machthabern dargebotenes Geschenk auszugeben, ist absurd. Es wäre sehr bedenklich, wenn im Zuge der Beseitigung alter Geschichtsfalschungen neue entstehen sollten. 3. Ein Satz des erwähnten „Welt"-Artikels besagt: „Uhde möchte erreichen, daß der deutschsprachige Beitrag zur Literatur der Tschechoslowakei wieder in die Geschichte des Landes integriert wird." Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die zweite Konferenz von Liblice, 1965, der Prager deutschen Literatur gewidmet war und dieses Ziel vor Augen hatte. Sie stand daher im Zeichen jener Tradition, die Herr Minister auf meinen Namen getauft hat und die er, wie es im Laufe der letzten 30 Jahre wiederholt versucht worden war, ins Grab legen möchte. Bereits entdeckte Gebiete brauchen nicht neu entdeckt, sondern entwickelt und zur Blüte gebracht zu werden. Zeit und Energie an Neuentdeckungsversuche zu vergeuden ist immer schädlich." Um zu illustrieren, was da vorgeht, möchte ich zwei Meinungen von der anderen Seite anführen. Erstens ist da ein Artikel des bekannten Germanisten, einstigen Professors in Greifswald, Hans Jürgen Geerds, den ich für einen Stasi-Professor halte, ein Artikel in der „Ostsee-Zeitung". Ende 1968. „Es ist", heißt es da u. a., „ein anderer Standpunkt allerdings als jener, den Eduard Goldstücker vertritt, Prager Literaturprofessor und Vorsitzender des Schriftstellerverbandes in der CSSR. Auf Goldstückers Initiative geht die Kafka-Konferenz in Liblice zurück, auf der weniger eigentlich über den Dichter Franz Kafka, mehr dagegen über die angebliche ewige Entfremdung des Menschen debattiert wurde. In seiner Zusammenfassung der Diskussion sagte Goldstücker damals, auf den Sozialismus bezogen: ,In dieser Übergangszeit kann es sogar vorkommen (und haben dies schließlich nicht die Erfahrungen unseres Lebens deutlich genug bewiesen), daß sich in manchen Etappen die Menschen noch viel stärker entfremdet fühlen, als im Kapitalismus.' Die Diffamierung des realen sozialistischen Humanismus, das war also 63 des Pudels Kern der KafkaKonferenz." Eine andere Meinung, von derselben Seite, stammt aus dem Mai 1972, als der linien- und Moskautreue Verband tschechischer Schriftsteller ge-

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gründet wurde. Der alte Verband wurde unterdrückt und es dauerte fast vier Jahre, bis man so weit war, einen neuen gründen zu können. Bei dem Gründungskongreß trug der zum Vorsitzenden bestimmte Schriftsteller Jan Kozák, allgemein bekannt als ein Mitarbeiter der Geheimpolizei, einen riesigen Situationsbericht vor, in dem er unter anderem (ich habe es aus dem Tschechischen Wort für Wort übersetzt, um auch den Stil und den Ungeist dessen, was da steht, zu zeigen) sagt: „Mit dem Gefühl geistige Elite, mit dem Gefühl Organisatoren und Schöpfer der Integrierung der geistigen Kräfte der Welt zu sein, griffen kleinbürgerliche Schrifttsteller, hauptsächlich Kritiker und um die Literatur Stehende, das Angebot des modischen, vom Westen vorgelegten literarischen Kults auf, des Kults des Werkes von Franz Kafka. Auf der Konferenz über Franz Kafkas Werk zielbewußt mit breiter internationaler Beteiligung 1963 in Liblice veranstaltet, an der außer einheimischen Kafkologen, an der Spitze mit Eduard Goldstücker, auch eine Anzahl westlicher Philosophen, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler teilnahmen, ging es nicht um eine sachliche Bewertung von Kafkas Werk und Persönlichkeit, sondern um einen politischen Akt, dem Akt der Propagierung der philosophischen Kategorie der Entfremdung als eines ständigen Ergebnisses des Gegensatzes zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, eines Gegensatzes, der in der sozialistischen Gesellschaft angeblich immer größer wurde. Um jeden Zweifel über die Integrierung des tief deprimierenden Werkes von Franz Kafka in das Gewissen der Zeit auszuschließen, sagt Goldstücker auf der Konferenz: ,Kafka ist auch bei uns aktuell, er b e t r i f f t nicht nur die kapitalistische Welt? Weiter, der Kafkaismus als Programm der sozialistischen Literatur! Der Kafkaismus ist die Freiheit, den Blutkreislauf der sozialistischen Literatur zu infizieren, der Kafkaismus, der zur Bildung antisozialistischer Ansichten bei unserer Intelligenz, besonders bei der jungen Generation, dienen sollte, der Kafkaismus, der als ein Messer die Pulsadern der fortschrittlichen Traditionen sozialistischer Avantgarden von den Früchten des revolutionären sozialistischen Denkens abschneiden soll [...]". Ich entschuldige mich für diese langen Zitate, aber ich hielt es für angebracht, sie damit bekannt zu machen, denn ich wollte zeigen, daß von beiden Seiten, sowohl von der dogmatisch kommunistischen als auch von der dogmatisch antikommunistischen, die Kafka-Konferenz gleichermaßen als Feind angesehen wird und daß da so etwas wie eine Konvergenz der zwei entgegengesetzten Dogmatismen existiert. Und das ist die Lage der Kafka-Konferenz. Auf beiden Seiten braucht man offensichtlich Geschichtsfälschungen, aüf beiden Seiten ist man nicht gewillt, das Ge-

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schichtsbild, die evidenten Tatsachen des Geschichtsablaufs, so zu sehen und so wiederzugeben, wie sie wirklich waren. Man glaubt sie ideologisieren, verfalschen zu müssen. Wo immer man aber zur Verfälschung des Geschichtsbildes greift, dort ist etwas grundsätzlich nicht in Ordnung. Das wollte ich sagen. Danke.

Josef Cermák

Die Kafka-Rezeption in Böhmen (1913-1949)

Noch unlängst nahm man an, daß der erste Vermittler zwischen dem Werk Kafkas und der tschechischen Kultur Milena Jesenská gewesen sei. Heute wissen wir, daß die Kontaktaufnahme mit Kafkas Werk schon sieben Jahre früher Beachtung fand. Der Mann, der den ersten Kontakt aufnahm, war der tschechische Schriftsteller Frantisek Langer. Die erste Berührung fand im Jahre 1913 statt, die zweite ein Jahr später, beide in der Zeitschrift „Umélecky mësicnik" (Monatschrift für Kunst), die in den Jahren 1911 — 1914 erschien. Sie wurde von der im Jahre 1911 gegründeten „Skupina vytvarnych umëlcû" (Gruppe der bildenden Künstler) herausgegeben, die das Programm der älteren „Osma" (die Achter-Gruppe) fortsetzte. Die Achter-Gruppe, unter deren acht Mitgliedern drei Deutsche waren, begann in Theorie und Praxis die Mauern der Isolierung zu durchbrechen, die im damaligen Prag der tschechische und der deutsche Nationalismus, bald kampfeslustig, bald desinteressiert, jahrzehntelang gebaut hatte. Der literarische Teil der Zeitschrift, bescheidener als der künstlerische, wurde von einer Handvoll junger Literaten geleitet, unter denen zuerst die Brüder Josef und Karel Capek und nach deren Abgang Frantisek Langer den Ton angaben. Vor allem war es Langer, der den Weg zur Prager deutschen Literatur fand, mit deren Autoren er — als einer der wenigen tschechischen Autoren — ab und zu verkehrte. Und so erwähnte Langer in der „Umélecky mësicnik" auch zweimal den jungen deutschen Schriftsteller Franz Kafka, jedesmal im Zusammenhang mit dem Kurt-Wolff-Verlag und dessen Programm. Das erste Mal, im Juni 1913, war es nur eine Erwähnung des Namens: „Das Verlagshaus Kurt Wolff in Leipzig, das sich durch die Herausgabe der Werke junger Autoren auszeichnet (es gibt Werke von Eulenberg, Refel u. a. heraus), rief jetzt die Edition „Der jüngste Tag" ins Leben, die Werke von Autoren wie Werfel, Hasenclever, Kafka, Ehrenstein und anderer Vertreter der deutschen Moderne bringt." 1 Und weiter zitiert

1

Umélecky mèsicnik, Jhg. 2 (1912/13), S. 223 f.

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Josef Cermák

Langer vier Absätze aus dem Vorwort Werfeis, das diese neue Reihe einleitet. Das zweite Mal stellt er Kafka in der Niederschrift „Aus der neuen deutschen Lyrik" etwas näher vor, die über die Neuerscheinungen zweier deutscher Verlage, Kurt Wolff und Hermann Meister in Heidelberg, informiert. „Die Bibliothek ,Der jüngste T a g ' , " schreibt er, „haben wir hier bereits erwähnt. Es ist doch zu bemerken, daß in jener Kafkas Prosa ,Der Heizer' erschien, eine der interessantesten modernen Arbeiten aufgrund ihrer Kürze, ihrer dramatischen Entwicklung, d. h. durch ihren schnellen Ablauf in einem proportionierten und geschlossenen Aufbau, durch ihre schicksalhafte Tiefe, die den einfachen und objektivierenden Ton ihrer Erzählkunst in sich birgt." 2 Zum ersten Kontakt mit dem Werk Kafkas im tschechischen Kulturumfeld kam es also ziemlich früh, eigentlich nicht viel später als in der deutschen Literaturkritik. Die erste Publikation Kafkas in Buchform, „Die Betrachtung", wurde zwar nicht beachtet, aber die zweite, „Der Heizer", fand schon ein, wenn auch schwaches Echo. Die Zeitschrift „Umélecky mësicnik" bemühte sich nämlich in ihrem sowohl künstlerischen als auch literarischen Teil um eine Korrektur des seit Jahren etwas einseitigen Einflusses der französischen Literatur und Kunst auf Böhmen durch eine Orientierung auf die Kunst und Literatur Deutschlands. In diesem Zusammenhang fand sie auch den Weg zur Literatur des deutschen Prags. Frantisek Langer publizierte hier z. B. eine ausführliche Rezension des zweiten Gedichtbandes von Werfeis „Wir sind", er kommentierte Picks deutsche Übersetzungen Brezinas oder die Sammlung von Rudolf Fuchs „Der Meteor". Nach einer langen Pause von sieben Jahren, an der gewiß der Weltkrieg und die zugespitzten Verhältnisse unter den Nationalitäten in Böhmen Schuld trugen, wurde zwischen Kafka und dem tschechischen Milieu Milena Jesenská, die erste Kafka-Übersetzerin in der Weltliteratur, vermittelnd tätig. Dieser Kontakt mit Kafka fand in einer äußerst links ausgerichteten Umgebung statt. Die Übersetzung des „Heizer" füllte im Jahre 1920 ein ganzes Heft der Zeitschrift „ K m e n " , die von dem ursprünglichen Anarchisten und späteren Kommunisten Stanislav Kostka Neumann herausgegeben wurde. Er fügte der Übersetzung Milenas eine Anmerkung hinzu, in der er den „Heizer" als eine der besten modernen deutschen Erzählungen beurteilte. 3 Außer dem „Heizer" übersetzte Milena für ver2 3

Ebenda, Jhg. 3 (1913/14), S. 30 f. Topic (Der Heizer). In: Kmen, Jhg. 4, Nr. 6, 22. 4. 1920, S. 6 1 - 7 2 .

Die Kafka-Rezeption in Böhmen

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schiedene tschechische Prager Zeitschriften noch sieben Stücke aus „Die Betrachtung" 4 , „Ein Bericht für eine Akademie" 5 und „Das Urteil" 6 . Auch die im Dezember 1922 in „Vanocni besidka", der Beilage der Tageszeitung „Tribuna", erschienene Übersetzung des Prosastückes „Zum Nachdenken für Herrenreiter" 7 aus „Die Betrachtung", die Jaroslav Dohnal als Übersetzer zeichnet, ist aller Wahrscheinlichkeit nach Milena Jesenská zuzuschreiben. Kafka las Milenas Übersetzungen und in den Briefen, die er an sie schrieb, nahm er Stellung zu ihnen. Die Art und Weise ihres Übersetzens fand seine Zustimmung: Ihm gefiel die wortgetreue Wiedergabe, aber gleichzeitig fragte er, ob sich Tschechisch und Deutsch so nahe ständen und ob die Tschechen Milena diese Wortwörtlichkeit nicht übelnehmen werden. 8 Er billigte ein wortgetreues Übersetzen, aber nur in den Grenzen einer natürlichen Ausdrucksweise. Heute kann man an der Übersetzung Milenas Unsicherheiten in der Wiedergabe, semantische und syntaktische Verschiebungen kritisieren. Einig ist man sich jedoch, daß ihre Übersetzung die charakteristischen Züge von Kafkas Stil erfaßt, daß sie transparent ist, wie die Theoretiker der Übersetzungskunst zu sagen pflegen. Die Stärke des Deutschen liegt, wie bekannt, in Nominalkonstruktionen, während die des Tschechischen in den Möglichkeiten des Verbums liegt. Bei Kafka-Übersetzungen stört jedoch die sonst gewohnte Verbalisierung des Textes die adäquate Stilwiedergabe. Bei Milena bleibt Kafkas Text wortkarg und rigoros konkret, er wird weder amplifiziert, noch zum „schönen Stil" geglättet. So hat Milena Jesenská den künftigen Übersetzern Kafkas in Böhmen den Weg gewiesen. In Neumanns Edition „Cerven" sollte im Winter 1921/22 ein ganzes Kafka-Buch von Milenas Übersetzung 9 erscheinen, das die Prosastücke „Das Urteil", „Der Heizer", „Die Verwandlung" und „Die Betrachtung" 4

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6 7

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Nesfastny (Unglücklich sein) mit dem Untertitel Aus dem vorbereiteten Übersetzungsband v o n Kafkas Prosa. In: Tribuna, Jhg. 2, Nr. 166, 16. 7. 1920. Náhlá procházka (Der plötzliche Spaziergang). Vylet do hör (Der Ausflug ins Gebirge), Nestéstí mládence (Das Unglück des Junggesellen), Kupec (Der Kaufmann), Cesta domu (Der Nachhauseweg) und Ti, kteïi bèzi mimo (Die Vorüberlaufenden), alles in: Kmen, Jhg. 4, Nr. 26, S. 3 0 8 - 3 1 0 , 9. 9. 1920. Zpráva pro akademii (Ein Bericht für eine Akademie). In: Tribuna, Jhg. 2, Nr. 227, 26. 9. 1920. Soud (Das Urteil). In: Cesta, Jhg. 5 (1923), H. 26/27, S. 3 6 9 - 3 7 2 . Závodníkúm na uvázenou (Zum Nachdenken für Herrenreiter). In: Vánocní besidka (Beilage der Tageszeitung Tribuna), Jhg. 4, 24. 12. 1922, S. 8. Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt am Main, 1983, S. 16 f. Zum Beweis siehe auch den Untertitel des Stückes „NeSfastny" in Anm. 4.

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beinhaltete. Das Manuskript wurde abgegeben, doch kam es in jener Nachkriegszeit, die an Geld- und Papiermangel litt, nicht zur Herausgabe. Neumann forderte von Milena „ein paar Einführungsworte". Sie lehnte es jedoch ab und bat Max Brod um ein Geleitwort, welches dieser offensichtlich auch schrieb — es ist heute verschollen. Der Band sollte eine Art Zusammenfassung von Milenas Aktivitäten beim Übersetzen des Werkes von Franz Kafka sein 10 . Jesenská war jedoch zu Kafkas Lebzeiten nicht seine einzige Übersetzerin ins Tschechische. Im Jahre 1920 erschien in einer Tageszeitung die Übersetzung des Prosastückes „Vor dem Gesetz" von Milena Illová 11 , der Frau von Rudolf Illovy, der ein Mitschüler Kafkas vom Gymnasium war. Anfang 1924 wurde noch in einer Olmützer-Zeitschrift 12 die winzige, sechszeilige Prosa „Das nächste D o r f aus „Der Landarzt" veröffentlicht, in der Übersetzung des unermüdlichen Dolmetschers ausländischer Autoren ins Tschechische, Otto F. Babler. In puncto Kafka nehmen die tschechischen Übersetzer verständlicherweise eine Vorrangstellung ein. Kafka wurde Zeit seines Lebens in keine andere Sprache übersetzt, mit Ausnahme des Ungarischen. Im Jahre 1922 veröffentlichte nämlich Sandor Márai in zwei Kaschauer Zeitungen, „Szabadság" und „Kassai Napló", seine Übersetzung der „Verwandlung". 13 Ansonsten ist es erstaunlich, daß „Die Strafkolonie" in jener Zeit kein Interesse bei Milena Jesenská weckte, da die deutsche Buchausgabe doch längst auf dem Markt war. Als Kafka starb, war sein Name der tschechischen Kulturwelt so gut wie unbekannt. Im ersten der sechs Nekrologe in den tschechischen Zeitschriften' 4 schrieb man sogar seinen Namen falsch (Kavka), erwähnte aber, daß „der verstorbene Dichter zwei vollendete Romane hinterließ". Die schönsten, einfühlsamsten und inhaltsreichsten Worte im Nachruf auf Franz Kafka fand Milena Jesenská im bekanntesten Nekrolog in „Národní listy" 15 . Im dritten, verspätet publizierten Nekrolog in der „Kommunisti10

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Darüber im Brief Milenas an Max Brod im Nachtragskapitel seiner Biographie: Franz Kafka. Frankfurt am Main, 1963, Fischer-Bücherei, S. 249 —251. Píed zákonem (Vor dem Gesetz). In: Právo lidu, Jhg. 29, Nr. 253 (24. 10. 1920), Sonntagsbeilage Nr. 43. Nejblizsi vesnice (Das nächste Dorf). In: Eva, Jhg. 21 (1924), Nr. 8/9, S. 237 f. Diese Angaben teilt Kafka selbst seinem Verleger Kurt Wolff in einem Brief vom 21. 10. 1922 mit: siehe Briefe, S. 421; genauer dann Binder: Handbuch I, S. 598, 7 6 2 - 3 . Ceské slovo, 5. 6. 1924, S. 4. Národní listy, 6. 6. 1924, S. 5.

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sehen Revue" war zu lesen: „Sein zartbesaiteter Geist blickte tief in den Organismus der heutigen ungerechten Gesellschaft, er liebte die Ausgebeuteten und stellte unbarmherzig die Reichen an den Pranger, in sehr komplizierter, jedoch eindrucksvoller Form. Unsere Genossen, Leser des ehemaligen ,Cerven' (ein Irrtum, „Der Heizer" erschien in „Kmen", J. C) werden sich bestimmt nur mit Hochachtung an seine Erzählung erinnern.". 16 In einem weiteren Nekrolog, der auch in der kommunistischen Presse, in der Beilage von „Rudé právo", erst im August 17 , also mit einer Verspätung von zweieinhalb Monaten, erschien, war zu lesen: „Mit ihm (Kafka) ist einer der wenigen deutschen Dichter dahingegangen, eine zarte und reine Seele, der es vor dieser verfaulten Welt ekelte und die sie mit dem scharfen Messer des Verstandes sezierte. Kafka sieht in die Struktur der Gesellschaft und sieht Elend der einen und Macht und Reichtum der anderen, und da greift er in seinen Arbeiten in bildlicher und parodierender Form die Mächtigen dieser Erde heftig an. Seine schöne Prosa ,Der Heizer' war in Neumanns ,Cerven' (!, J. C) abgedruckt [...] Er hat ,Die Strafkolonie', ,Den Landarzt' u. a. herausgegeben." Derselbe Irrtum wie im früheren Nekrolog (anstatt „Kmen" „Cerven") und der recht nahestehende Gedankenbau deuten daraufhin, daß auch hier S. K. Neumann der Verfasser ist. Diese banalisierende Charakterisierung von Kafkas Werk aufgrund einer Mißdeutung des „Heizers", deren Autor Neumann war, erwies sich als langlebig und man findet sie noch nach Jahren bei den vulgär marxistischen Interpreten. Als Kafka — nach Jahren des Totschweigens — in den fünfziger Jahren teilweise „begnadigt" werden sollte und die Herausgabe eines seiner Werke überlegt wurde, da war es der Amerika-Roman, der als Sündenbock auf dem Altar der damaligen Kulturpolitik geopfert wurde. Der Heizer, als Verkörperung der Arbeiterklasse interpretiert, wurde zu dieser Zeremonie als meist geeignet auserwählt. In der Zeit unmittelbar nach dem Tode von Franz Kafka hat sich Jan Grmela um die Vermittlung einiger kurzer Prosastücke Kafkas für das tschechische Publikum verdient gemacht, ein Übersetzer aus dem Deutschen und Englischen, ein heute bereits vergessener Dichter, Prosaist und Dramatiker. In der kurzlebigen Literatur- und Kunst-Revue „Apollon" publizierte er bereits im Juli 1924 in tschechischer Übersetzung „Ein altes Blatt" und „Eine kaiserliche Botschaft" 18 , im August desselben Jahres 16 17 18

Komunistická revue, Jhg. 1924, S. 479. Délnická besídka (Beilage von Rudé právo), 24. 8. 1924. Stary list (Ein altes Blatt) und Cisaïské poselství (Eine kaiserliche Botschaft). In: Apollon, Jhg. 1 (Juli 1924, Nr. 19/20, S. 300 f. und 313.

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folgte „Ein Bericht für eine Akademie" in der „Dëlnickà besídka" 19 , im Oktober veröffentlichte er in der Pilsener Monatsschrift „Pramen" „Schakale und Araber" 20 und im Dezember 1924 in „Cesta" die Prosastücke „Ein Brudermord" und „Auf der Galerie" 21 . Später, im Jahre 1927, erschien in der Revue „Tvar" die Übersetzung des Prosastückes „Ein Landarzt" 22 von Jitka Skaláková, Germanistikstudentin, Schülerin Otokar Fischers, verehelichte Fucíková, später Übersetzerin vieler prominenter deutscher Autoren. Jitka Skaláková publizierte dann zwei Jahre später (1929) in „Hodina", der literarischen Beilage der Tageszeitung „Národní osvobození", „Schakale und Araber" 23 . In derselben Zeitschrift veröffentlichte im selben Jahre Jan Grmela „Eine kaiserliche Botschaft" 24 . Die weitere Phase der Kafka-Rezeption fand Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre statt, im katholischen Milieu einer kleinen mährischen Ortschaft Starà Rise, wo Josef Florian seinen Verlag gründete. Er hatte einen Kreis von geistesverwandten Menschen um sich gesammelt, die seine Pläne zu verwirklichen halfen. Bei Kafka waren es drei Übersetzer, Gustav Janouch, Ludvik Vrána, ein katholischer Priester, und Frantisek Pastor, ein Bankbeamter, und zwei deutsche Illustratoren, Otto Coester und Albert Schamoni, die damals vagierend nach Osten wanderten und für gewisse Zeit in Florians mährischem Tusculum landeten, ohne Verpflichtung, eigentlich gegen Kost und Unterkunft. Gustav Janouch, der spätere Verfasser der „Gespräche mit Kafka", die er übrigens, seiner Aussage nach, bereits bei Florian zu schreiben begann, machte wahrscheinlich Florian auf Kafka, mit dem er in Prag verkehrt hatte, aufmerksam. Er übersetzte für ihn die Prosa „Ein Traum" 25 , die 1929 zusammen mit sechs — zur Verwandlung gehörenden — Radierungen von Otto 19

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Zpráva pro Akademii (Ein Bericht für eine Akademie). In: Délnická besídka (Beilage von Rudé právo), 17. 8. und 24. 8. 1924, Nr. 194, S. 1 - 2 und Nr. 200, S. 1. Sakalové a Arabi (Schakale und Araber). In: Pramen, Plzeñ, Jhg. 5, Nr. 2, 15. 10. 1924, S. 5 8 - 6 0 . Bratrovrazda (Ein Brudermord) und Na galerii (Auf der Galerie). In: Cesta, Jhg. 6 (1924), H. 51/52, S. 733 f. Venkovsky lékar (Ein Landarzt). In: Tvar, Jhg. 1, 28. 12. 1927, Nr. 9/10, S. 1 9 5 - 1 9 9 . Sakalové a Arabi (Schakale und Araber). In: Hodina (literarische Beilage von Národní osvobození), Jhg. 6, Nr. 4, 20. 1. 1929. Císafské poselství (Eine kaiserliche Botschaft). Ebenda, Jhg. 6, Nr. 43, 20. 10. 1929. Sen (Ein Traum). In: Reihe Dobré dílo, Bd. 97, Starà Rise, 1929.

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Coester herauskam. Florians zweite Kafka-Publikation in Buchform war 1929 „Die Verwandlung" 2 6 in der Übersetzung von Vrána und Pastor, mit sieben Zeichnungen von Coester. Insgesamt 18 weitere Texte Kafkas aus „Der Landarzt" und „Die Betrachtung" erschienen im gleichen Jahr, 1929, in den Heften von Florians Sammelband „ A r c h y " (Bögen) 2 7 , alle in der Übersetzung von Vrána. Gleichzeitig mit Josef Florian interessierte sich für Kafka der Leitomischler Drucker und Bibliophile Josef Portman, welcher als drei wunderschöne bibliophile Kostbarkeiten „Ein altes Blatt" (schon im Jahre 1928) 28 , „Ein Bericht für eine Akademie" (1929 - bereits die dritte Übersetzung innerhalb von neun Jahren) 2 9 und schließlich den kompletten „Landarzt" (1931) 3 0 in der Übersetzung von Vrána und mit den Illustrationen von Schamoni herausbrachte. Von den handgedruckten Kleinodien sind höchstens 25 Exemplare erschienen. Es ist auffallend, daß sowohl Milena Jesenská als auch der katholische Kreis um Florian und Portman fast die gleichen Kafka-Texte veröffentlichten, daß sie weder „Die Strafkolonie" noch (der Floriankreis) den Zyklus des „Hungerkünstlers", geschweige denn einen der drei Romane „entdeckten". Die Bedeutung der Tätigkeit von Florian und Portman beruht vor allem darauf, daß sie als erste den im Falle Kafka so schwierigen Versuch einer bildnerischen Textparallele unternahmen. Otto Coester und Albert Schamoni sind, abgesehen von der Umschlagillustration Ottomar Starkes für „Die Verwandlung", höchstwahrscheinlich die ersten KafkaIllustratoren überhaupt. Daß all das in einem mährischen Ort, weit entfernt von jeglicher Literaturwissenschaft und professionellem Verlegertum, ge-

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Promëna (Die Verwandlung). In: Dobré dílo, Bd. 99, Starà Rise, 1929. Novy advokát (Der neue Advokat), Venkovsky lékaí (Ein Landarzt), Pred zákonem (Vor dem Gesetz), Nejblizsí ves (Das nächste Dorf) /alles Archy, Sammelband 13, 1929/; Na galerii (Auf der Galerie), Sakalové a Arabi (Schakale und Araber), Bratrovrazda (Ein Brudermord), Stary list (Ein altes Blatt) /Archy, Sammelband 14, 1929/; Zpráva pro Akademii (Ein Bericht für eine Akademie), Vylet do hör (Der Ausflug ins Gebirge), Stromy (Die Bäume), Návstéva na dule (Ein Besuch im Bergwerk), Císarské poselství (Eine kaiserliche Botschaft), Mimobézící (Die Vorüberlaufenden), Starost hospodárova (Die Sorge des Hausvaters), Náhlá procházka (Der plötzliche Spaziergang), Saty (Kleider), Pfání stat se Indianern (Wunsch, Indianer zu werden) / Archy, Sammelband 15, 1929/. Stary list (Ein altes Blatt). Litomysl, 1928. Zpráva pro Akademii (Ein Bericht für eine Akademie). Litomysl, 1929. Venkovsky lékaí (Ein Landarzt). Litomysl, 1931.

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schah, daß der „unverständlichste" Autor des 20. Jahrhunderts von einem Provinzverleger entdeckt wurde, ist äußerst kurios. Das Interesse für Kafkas Werk im katholischen Kulturmilieu der ersten Hälfte der dreißiger Jahre dauerte an. Nach dem weniger bekannten Übersetzer Frantisek Mastik, der in den Jahren 1931 und 1932 „Erstes Leid" 31 und „Ein Hungerkünstler" 32 , die ersten Stücke vom gleichnamigen Zyklus, zum ersten Mal ins Tschechische übersetzte (das zweite unter dem Pseudonym Jetrich Lipansky), waren es zwei namhafte katholische Literaturkritiker und Gelegenheitsübersetzer, die ihre Aufmerksamkeit Kafka widmeten: Timotheus Vodicka übersetzte im Jahre 1933 „Beim Bau der Chinesischen Mauer" 33 und „Das Ehepaar" 34 , Jan Franz ein Jahr später „Vor dem Gesetz" 35 . Ende der zwanziger Jahre bekundete man jedoch in Böhmen schon ein fachliches Interesse am Werk Kafkas, und zwar war es Pavel Eisner. Pavel Eisner, damals noch Paul Eisner, war in dieser Zeit ein sehr produktiver, meist deutsch schreibender Publizist, der für deutsche Prager Zeitungen schrieb und tschechische Autoren ins Deutsche übersetzte. Er gehörte zu der Generation von Rudolf Fuchs und Otto Pick, mit denen er schon in der Zeit des ersten Weltkriegs — gegen den Strom der Zeit und der Ereignisse — eine Annäherung zwischen der tschechischen und deutschen Kultur im humanistischen Geist zu verwirklichen versuchte und ferner Werke ausgewählter böhmischer Dichter und Prosaisten ins Deutsche zu übertragen begann. Um 1930 — zweifelsohne auch unter dem Einfluß der politischen Entwicklung der Zeit — nahm dann sein Interesse eine entgegengesetzte Richtung. Eisner wurde sowohl zu einem produktiven, tschechisch schreibenden Publizisten als auch zum Übersetzer wahlverwandter deutscher und auch anderssprachiger Autoren ins Tschechische. Der tschechischen Kafka-Rezeption in den dreißiger Jahren fehlte das Interesse der akademischen Germanistik, die erstaunlicherweise nicht einmal auf die erste sechsbändige Gesamtausgabe der Werke Kafkas reagierte, deren zwei letzte Bände noch dazu in Prag erschienen waren. Schon im Jahre 1927 machte Eisner den führenden tschechischen Germanisten Oto31 32

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Prvni zal (Erstes Leid). In: Svétozor, 31. 12. 1931, c. 13, S. 110 f. Umëlec ν hladovèni (Ein Hungerkünstler). In: Svëtozor, 17. 3. 1932, Nr. 24, S. 1 9 3 - 1 9 6 und Nr. 25, S. 200 - 202. PH stavbë cínské zdi (Beim Bau der Chinesischen Mauer). In: Rád, Jhg. 1 (1933), Nr. 2, S. 5 2 - 6 0 . Manzelé (Das Ehepaar). In: Listy pro uméní a kritiku, Jhg. 1 (1933), Nr. 4, S. 1 0 8 - 1 1 1 . Pfed zakonem (Vor dem Gesetz). In: Rád, Jhg. 2 (1934), Nr. 1, S. 18 f.

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kar Fischer auf Kafka aufmerksam: „Das ist ein RIESE, zehn Nobelpreise sind wenig für diesen Kopf, und keiner von den Tschechen öffnete bis jetzt den Mund." 36 Es ist ersichtlich, daß nicht einmal Eisner die bisherigen tschechischen Übersetzungen kannte. Ein Jahr später (1929) mahnte Eisner Fischer noch nachdrücklicher: „Jeder von uns braucht von Zeit zu Zeit eine Hebamme. Ich bitte Sie dringend, lesen sie doch den Franz Kafka, seinen ,Prozeß', sein .Schloß', seine .Verwandlung' und das übrige. Es ist notwendig." 37 Und ein weiteres Jahr später teilte er Fischer noch mit: „Ich werde wahrscheinlich Franz Kafka, seinen ,Prozeß', ins Tschechische übersetzen." 38 Es bestand nämlich die Hoffnung, daß der Roman vom Prager Sfinx-Janda-Verlag veröffentlicht werden könnte. Aber nach drei Jahren des Zögerns entschied sich der Verleger dagegen, und Eisner schreibt wieder an Fischer: „Kafka wird bei Janda zurückgestellt, anstatt seiner wird wahrscheinlich Kolbenheyer, Amor Dei (Held Spinoza) verlegt. Mein Vorschlag, wenn Kafka warten muß." 39 Ein vielsagender Tausch, ohne Zweifel. Auf die tschechische Übersetzung des „Prozeß" mußten die tschechischen Leser bis zum Jahre 1958 warten. Eisner reagierte 1931 unverzüglich auf Brods und Schoeps Herausgabe des Bandes „Beim Bau der Chinesischen Mauer" mit einem deutsch verfaßten Aufsatz, in dem er von dem „einmaligen Wunder Franz Kafka" spricht und dessen Werk über „fast alle berühmte Belletristik von heute stellt", seine Schreibweise als „Scholastik ohne Offenbarung", seine Sprache als „metaphysisches Geschäftsdeutsch" und ihn selbst als „Dostojevski des Westens" bezeichnet. Bereits in dieser Niederschrift kann man die Keime seiner Prager Interpretation des Werkes finden, in der er es „aus der Konfluenz von dreierlei Blut" 40 deutet. Von den vorhandenen tschechischen Übersetzungen nennt er lediglich Florians Ausgabe der „Verwandlung". Eine zusammenfassende Charakteristik von Kafkas Werk bringt Eisner 1933 in der umfangreichen tschechisch geschriebenen Studie „Deutsche Literatur auf dem Boden der Tschechoslowakei seit 1848 bis in unsere Tage". 36

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Aus der Korrespondenz Eisner—Fischer im Nachlaß von Otokar Fischer, Literární archív (Literaturarchiv), Strahov. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Alle Zitate aus Paul Eisner: Notiz über Franz Kafka. In: Prager Presse, 16. 7. 1931.

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„Kafkas Diktion ist mathematisch präzis, frei von aller Lyrisierung und Empfindsamkeit. Sie ist auf undeutsche Weise klar, kristallinisch, bis zu schwindelerregender Vollkommenheit beherrscht und überzeitlich. In völlig neuer Gestalt ist in ihr das Erbe Stifters, Kleists, Nietzsches eingeschlossen und zu neuen Aufgaben umgewertet, ihre durchgeistigte Dialektik erinnert an die Wortkunst der Scholastiker und des Talmuds. Diese Prosa hat die einmalige Fähigkeit der völlig organischen und mühelosen Transzendenz und Realisierung der vierten Dimension. Ihr einziger Inhalt — die Suche nach dem Absoluten und die Erforschung des göttlichen Wesenskernes — wird immer wieder aufs neue aus der alltäglichsten Wirklichkeit herausgeholt. Das Handlungssubstrat selbst ist völlig frei von Sinnes- oder Handlungssensationen, Kafka ist äußerste Abkehr von Meyrink; das Jenseits verschmilzt mit diesem Leben, es gibt keinen Abgrund zwischen diesem und jenem Ufer, der letzte Akt des Mysteriums spielt zu jeder Stunde auf der zivilsten Bühne ohne malerische Szenen, ohne Engelsoder Teufelschöre, im vollen Grau des Alltags. Kafka ist eine Art Flucht aus dem Ghetto. Schon der bloße Begriff Ghetto bedeutet Isoliertheit und egozentrisches Verharren des menschlichen Wesens auf seinem Ich, ein ewiges Kreisen um die eigene Mitte. Kafka erlebt und durchdenkt bis zu den letzten jenseitigen Konsequenzen den dreifachen Egozentrismus des Prager Intellektuellen: den Egozentrismus des Stammghettos, des sozialen Ghettos (in der Seele des Prager deutschen Bourgeois) und des Ghettos der Künstlerseele; er beschreibt den Kreuzweg eines, als nicht gutzumachendes Verschulden und Todsünde erlebten Solipsismus. Mit seiner Mathematik der Ich-Golgatha vollendet er die Kulturepoche des gesteigerten Individualismus, und bedeckt sie mit dem Marmorgrabstein seiner Kunst." 41 Als Vorgeschmack seiner späteren Kafka-Ubersetzungen bekam der tschechische Leser von Eisner bereits im Jahre 1931 die Übersetzung der Türhüterlegende (unter dem allzu eindeutigen Titel „Im Sankt VeitsDom") aus dem IX. Kapitel des Prozeß-Romanes, veröffentlicht in einer Anthologie der deutschen Literatur in den böhmischen Ländern. 42 Zu einem Markstein in der tschechischen Kafka-Rezeption wurde Eisners Übersetzung des Schlosses. 43 Sie erschien 1935 im Verlag des Künst-

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43

Ceskoslovenská vlastivëda, Bd. VII, Písemnictví. Praha, 1933, S. 365. V chrámu svatovítském (Vor dem Gesetz). In: V y b o r ζ krásné prózy ceskoslovenské. Némci ν ceskych zemích. Praha, 1931. Reihe Nové eile, Bd. 4 1 1 , S. 2 1 1 - 2 3 0 . Zámek (Das Schloß), Praha, 1935. Reihe Knihy Mánesa, Bd. 22.

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lervereins Mânes mit einem Nachwort von Max Brod und mit einer Fotomontage der surrealistischen Malerin Toyen auf dem Umschlag. Seine Arbeit an dieser Übersetzung kommentierte Eisner im Juli 1935 in einem Brief an Otokar Fischer: „Ich übersetze Kafka für Mânes, sie brauchen das innerhalb eines Monats. Im Trancezustand haue ich es in die Maschine, es ist eine gefahrliche Arbeit für mich, ein Opiat." 4 4 Das Buch wurde jahrelang zum Verkauf angeboten, schließlich zum ermäßigten Preis. Es fand jedoch weder Verständnis noch Interesse beim Leserpublikum. Je geringer sein Erfolg beim Durchschnittsleser war, desto tiefere Wurzeln schlug es unter Künstlern und Intellektuellen. Anhand dieser Übersetzung formte sich allmählich das Kafka-Erlebnis einer Generation von Künstlern und Schriftstellern. Verwoben war diese Aufnahme mit dem hoch im Kurs stehenden Surrealismus, Bretons Index und seine „Anthologie de l'humour noir" wiesen den Weg zu diesem Dichter. Die ganze Welt reagierte in den dreißiger Jahren mehr oder weniger auf die erste sechsbändige Gesamtausgabe Kafkas. Nur die tschechische Germanistik schwieg, obgleich die zwei letzten Bände in Prag erschienen und obgleich sie gerade in diesen Jahren der anfanglichen Bedrohung der Republik das Studium der deutsch-böhmischen Beziehungen und der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern als ihre Hauptaufgabe betrachtete. Man kann kein paradoxeres Beispiel der damaligen Einschätzung Kafkas zitieren als eine Äußerung des führenden tschechischen Literaturkritikers F. X. Saida, der doch in jungen Jahren Kafka auf den Prager Straßen begegnet sein müßte, der damals Kafka als einen heute in Frankreich sehr geschätzten Prager Deutschen charakterisierte. Die Erwähnung ist auch dadurch charakteristisch, da sie den Weg zeigt, auf dem dieser Prager damals nach Prag kam. Der 21jährige Heinz Politzer, der in jener Zeit drei Semester Anglistik und Germanistik an der Prager Deutschen Universität studierte und Brod bei der Gesamtausgabe Kafkas half, hielt damals im tschechischen Rundfunk anläßlich des 50. Todestages von Franz Kafka einen halbstündigen Vortrag, dessen Text unlängst wiederauftauchte. 45 Otokar Fischer, der Germanist an der tschechischen Universität, erwähnt Kafka in seinem gesamten Werk mit keinem Wort. Sein begabtester Schüler Vojtëch Jirát zollte ihm lediglich einen Pflichttribut 44

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Aus einem Brief von Eisner an Fischer im Nachlaß v o n Otokar Fischer, Literární archív (Literaturarchiv). In tschechischer Übersetzung publiziert bei Josef Cermák: Franz Kafka na ceské université a ν ceském rozhlase (Franz Kafka auf der tschechischen Universität und im Prager Rundfunk. In: Svëtovà literatura, Jhg. X X X V I I (1992), H. 4, S. 1 8 1 - 1 8 3 .

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in Ottos Enzyklopädie der Neuzeit. Er nennt Kafka „einen der größten deutschen Prosaisten der expressionistischen Periode", zugleich unterstreicht er aber die Unverständlichkeit seiner „bei aller Schlichtheit seltsamen" Geschichten, die in „scheinbar realistisch genauer und gründlicher Weise Begebenheiten aus dem wirklichen Leben" wiedergeben. Dann zählt er Züge auf, die Kafka „auffallend von den anderen expressionistischen Romanschriftstellern unterscheiden". 46 Doch begann sich am germanistischen Seminar von Professor Fischer in den Jahren 1937—1938 etwas zu ändern in bezug auf Kafka, also kurz vor seinem Tode. Sogar Max Brod berichtete darüber. In der tschechisch verfaßten Niederschrift „Der Dichter und der Weltruhm (Franz Kafka)", die im April 1938 in „Literární noviny" vom Sfinx-Jand Verlag erschien 47 , sagt er: „In Prag spricht man noch nicht davon, daß einer unserer Landsleute, Franz Kafka, in England und Frankreich zu den meist genannten Autoren gehört. Sogar literarisch allgemein gebildete Leute bei uns kennen kaum eine Zeile von ihm [...] Prag schweigt. Obwohl in einem Prager deutschen Verlag die Gesamtausgabe der Werke Kafkas (6 Bde) erschien und der Verlag Mânes Kafkas Hauptwerk „Das Schloß" in tschechischer (ausgezeichneter) Übersetzung von Pavel Eisner herausgab. Ein lobenswerter Durchbruch in die Prager Stille wird aber doch in der letzten Zeit vermerkt. Es ist die Doktorarbeit von Zdenëk Valta „Zum Problem der Symbolik im Werk Franz Kafkas" (tschechische Philosophische Fakultät, am Seminar von Prof. Otokar Fischer)." Die Niederschrift erschien erst nach dem Tode Fischers. Er las und klassifizierte Valtas Arbeit noch, es war jedoch keine Dissertation, sondern eine Abschlußarbeit 48 , mit der die künftigen Mittelschullehrer ihr Hochschulstudium beendeten. Auch Valta schlug diese Laufbahn ein. Er lehrte Tschechisch und Deutsch an Gymnasien, kurze Zeit auch an einer Hochschule. Auf Kafka kam er nie wieder zurück. Bis zu seinem Tode im Jahre 1991 schrieb er popularisierende Artikel über das Tschechische für Prager Zeitungen. Aber am Seminar von Fischer entstand doch eine Doktorarbeit über Kafka, die, obwohl lange vermißt, überliefert worden ist. Sie heißt „Das 46

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Dodatky k Ottovu slovníku naucnému (Ergänzungsbände zur Otto's Enzyklopedie), III, 1, 1934, S. 311. Max Brod: Básník a svètovà slava (Franz Kafka). In: Literární noviny, roc. 10 (1938), c. 13, S. 3. Die Abschlußarbeit von Zdenëk Valta, „Zum Problem der Symbolik im Werke Franz Kafkas" wurde am 3 1 . 1 . 1938 der Prüfungskommission vorgelegt, wie es aus den Dokumenten im Archiv der Karls-Universität zu ersehen ist.

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Gefühl der Einsamkeit und Gemeinschaft bei Fran2 Kafka" 49 . Die Autorin ist Matylda (Mathilde) Sladká (1914 — 1989), eine Verwandte Kafkas. Matylda Sladká war die Nichte von Kafkas Schwager Karl Hermann, der mit der ältesten Schwester Kafkas Elly verheiratet war. Matylda Sladká studierte in den Jahren 1934—1939 Germanistik und Romanistik an der Prager Tschechischen Universität (zu ihren Kommilitonen gehörte z. B. auch Eduard Goldstücker). Zuerst in den Jahren 1937 — 1938 bearbeitete Matylda Sladká das Thema „Franz Kafka und die Romantik" in Form einer Seminararbeit, das sie wegen der „Schwierigkeit des Stoffes und des Umfangs des Vorbereitungsstudiums" nicht rechtzeitig beenden konnte und um eine halbjährige Verschiebung des Abgabetermins ersuchen mußte. Sie hatte ein nicht gerade beneidenswertes Leben. Die Verfolgung der Juden während des Krieges, die sie glücklicherweise überlebte, verursachte bei ihr ständige Angstgefühle, die bis zu ihrem Tode andauerten. Ihre Kafka-Dissertation hielt sie bis zu ihrem Tode geheim. In dieser Arbeit, die sich mehr auf die Selbständigkeit ihres Urteils als auf Sekundärliteratur stützt, analysiert sie 22 Prosastücke Kafkas. Ihre Gedanken zum Thema sind die eines feinfühligen, intelligenten Lesers. Otokar Fischer hat die Vollendung der Arbeit nicht mehr erlebt. Der Germanist Josef Janko und der Anglist Vilém Mathesius fanden sie vorzüglich (die Protokolle vom 14. 2. und 25. 2. 1939 sind überliefert 50 ). Das sogenannte große Rigorosum legte Matylda Sladká in der germanischen und romanischen Philologie am 16. März 1939 ab — einen Tag nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag — offenbar im Zustand eines Nervenschocks, wie aus dem Ergebnis des Examens ersichtlich ist. Es scheint, daß in den Jahren 1937 — 1938 am Seminar von Otokar Fischer Kafkas Werk zum ersten Mal auf akademischen Boden zur Kenntnis genommen wurde. Es ist naheliegend, daß Matylda Sladká, die ihr Dissertationsthema aus ihrer familiären Bindung schöpfte, dazu beitrug. Die entscheidende Rezeption von Kafkas Werk steht Ende der dreißiger und in den vierziger Jahren im Zeichen des Surrealismus, der Kafka als einen seiner Wegbereiter betrachtete. Auch für die tschechischen Surrealisten wurde Kafka zur Chiffre einer exklusiven Kunstauffassung, zum Entdecker verborgener Beziehungen zwischen Realität und Rätsel, des verhüllten Hintergrunds der realen Welt. Diese Künstler und Literaten, die später zur Gruppe 42 und anderen kleineren Gruppen gehörten, lasen 49

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Die Doktorarbeit Matylda Sladká, „Das Problem der Einsamkeit und Gemeinschaft bei Franz Kafka", 134 S., wird im Prager Universitätsarchiv aufbewahrt. Alles im Archiv der Karls-Universität in Prag.

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Kafka in den letzten Jahren des Friedens und besonders während des Krieges. Sie haben Kafka vollkommen enthistorisiert. Im Unterschied zu den Prager deutschen Schriftstellern sahen sie in ihm nicht mehr den mit Geist und Örtlichkeit der Prager Altstadt eng verbundenen Autor, den Dichter einer bedrückenden Welt von schmalen, schmutzigen, geheimnisvollen Gassen, Torgängen und Pawlatschenhöfen. Ihr Kafka war ein Dichter des Großstadtlabyrinths, der Großstadtlandschaft und des Zivilisationschaos. Er war für sie K., ein Mensch ohne Namen, ohne geographische und historische Determination, ein mehr geahntes als erkanntes Idol, eine Legende. Außer dem „Schloß" und ein paar eigener — meistens mangelhafter — handschriftlicher Übersetzungen hatten diese Kafka-Enthusiasten keinen direkten Kontakt zu seinem Werk. Die älteren Ubersetzungen lagen vergessen und unzugänglich in seltenen Zeitschriften und Büchern. Im Umkreis des Malers Kamil Lhoták, des Dichters Jiri Koláí, des Musikers Jan Rychlik und des Kunstkritikers Jiri Kotalik entstand damals das schwer zu interpretierende tschechische Wort „kafkárna". Kafka wurde für sie zum Offenbarer der verborgenen Prozesse, an denen unser Auffassungsvermögen scheitert, zum Erfinder eines unberechenbaren grausam-grotesken Systems von Koordinaten, die an denen der praktischen Vernunft vorbeilaufen. Er wurde als Dichter einer undurchsichtigen, aber dabei präzise funktionierenden Welt verstanden, die dazu dient, die unsrige in einer Art unbegreiflichem Spiel unablässig zu kompromittieren. Denn durch das Aufeinanderprallen dieser zwei Welten entsteht ein dauerndes Mißverständnis, ein Mißverständnis als System. Kafkárna, der Neologismus, den z. B. Bohumil Hrabal später häufig benutzt, sollte die Vorstellung des chaotisch Absurden suggerieren, hinter welchem jedoch ein tiefererer, drohend geheimnisvoller Sinn verborgen ist. In der Kriegsatmosphäre erhielt diese Vorstellung plötzlich eine brutal-absurde Aktualität. Es ist interessant, daß auch Kritiker, die nicht das Geringste mit dem Surrealismus gemein hatten, Kafka damals surrealistisch auslegten. Der tschechische Dichter Josef Hora betont in seiner Rezension des „Schlosses" 51 das Traummoment: „Es ist ein einziger, ununterbrochener Traum — ein scheinbar sinnloser Traum, der jedoch vollkommen logisch verknüpft ist, eher der Traum eines Irren als die Handlung eines Schläfers." Selbst Pavel Eisner, aufgewachsen in der Atmosphäre des Prager deutschen Expressionismus, sieht in Kafka noch 194852 „den großen Surrealisten vor 51

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Josef Hora: Zámek Franze Kafky (Das Schloß von Franz Kafka). In: Almanach Kmene 1935/36, S. 1 3 4 - 1 3 7 . Pavel Eisner: Franz Kafka a Praha. In: Kriticky mèsicnik 9 (1948), S. 82.

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dem Surrealismus" und ζ. B. in der „Beschreibung eines Kampfes" „ein Geschöpf des magischen Surrealismus zwanzig Jahre vor dem Surrealismus". Der Germanist Hugo Siebenschein schreibt 194753: „Kafka ist ein surrealistischer Landschaftsmaler wie Picasso, Filia, Zrzavy, Styrsky oder Muzika ... Prozeß und Verwandlung sind surrealistische dichterische Umschreibungen der Prager topographischen Realität." Er vergleicht Kafka mit dem tschechischen surrealistischen Maler Muzika und bemüht sich sogar um eine Auslegung von Kafkas Dichtung mit der Technik der bildnerischen Ausdrucksweise. Das Interieur des Zimmers Fräulein Bürstners im „Prozeß" schildert er als ein surrealistisches Bild: „Über Fräulein Biirstners Zimmer lesen wir im ,Prozeß' auf Seite 17, 32, 37 einige bruchstückhafte Bemerkungen. Sie sagen nichts aus über zweckmäßige oder ästhetische Raumgestaltung, sondern beschränken sich auf vielfach vergrößerte, aus dem Zusammenhang gerissene intime Details, rücken sie durch Nichtbeachtung der natürlichen Proportionen in den Vordergrund und erteilen ihnen im Bild gespenstischen Vorrang und Übergewicht. Die an der Fensterklinke hängende weiße Bluse und der Wandvorhang mit den Photographien tyrannisieren den Raum mit solcher Vehemenz, als handelte es sich nicht um ein Prager Zimmer in Untermiete, sondern um eine Kote auf unendlichem Meeresgrund, 5000 Meter unter dem Wasserspiegel. So symbolisiert Kafka durch die gestörte Ordnung in einem Wohnzimmer den Zerfall der Welt." Max Brod war der einzige, der damals seinen in das feindliche Lager des Surrealismus gebannten Freund im Nachwort zur tschechischen Übersetzung des „Schlosses" 54 — nicht sehr überzeugend — verteidigte. „In der letzten Zeit," schreibt er, „wurde viel über Kafkas Verwandtschaft mit dem Surrealismus geredet, dem er jedoch, zumindest bewußt, nicht nahe stand. Tatsächlich zieht auch die Verspieltheit vieler surrealistischer Äußerungen eine Grenzlinie zu Kafkas tiefem religiösen Ernst, den auch sein wunderlicher Humor niemals stört." Mit Pavel Eisner beginnt auch die Aufnahme des Werkes von Franz Kafka im tschechisch-jüdischen Kulturmilieu. Der später im KZ umgebrachte Dichter Hanus Bonn übersetzte im Jahre 1937 „Die Abweisung" 55 aus „Die Betrachtung" und eine Probe aus den Tagebüchern 56 , die in 53

54 55

56

Hugo Siebenschein: Franz Kafka a clovëk (Franz Kafka und der Mensch). In: Slovesná vèda I ( 1 9 4 7 - 4 8 ) , S. 203. Franz Kafka: Zâmek. Praha, 1935. Odmítnutí (Die Abweisung). In: Listy pro umëni a kritiku, Jhg. 5, 1937, S. 2 5 0 - 2 5 2 . Ζ Deníku (Aus dem Tagebuch). In: Lidové noviny, roc. 45, c. 320, S. 1 f., 27. 6. 1937.

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demselben Jahr zum ersten Mal deutsch erschienen sind. Viktor Fischi publizierte, auch im Jahre 1937, unter dem Titel „Prag" zum ersten Mal im Tschechischen Kafkas Poesie: neun Verse, die man in einem Brief an Oskar Pollak aus dem Jahre 1903 findet. 57 Einige junge Künstler und Literaten (Jan Hanc, Jan Rychlik) übersetzten während des Krieges Kafka, ohne die Herausgabe ihrer Übersetzungen zu erzielen. Nur Jan Rezác veröffentlichte seine Übersetzung von acht Stücken 58 aus „Die Betrachtung" im Jahre 1946. Sein „Beispielloses Vermächtnis" benanntes Nachwort läßt ebenfalls seine orthodox surrealistische Kafka-Deutung erkennen: „Alle menschlichen Möglichkeiten, um die Kafka mit dem Beamten-à-jour rang, verwandelte er zu literarischen Traumkonstruktionen. " Die surrealistische Auffassung Kafkas aus den dreißiger und vierziger Jahren dauert im tschechischen Kulturbewußtsein bis heute an. Die Einengung der damaligen Rezeption auf einen kleinen Kreis von Intellektuellen und die Unzugänglichkeit des größten Teils von Kafkas Werk in tschechischer Übersetzung verhinderten dessen größere Verbreitung beim Leserpublikum. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre beginnt man Kafka im Sinne der Existenzphilosophie zu deuten. Dem Sartreschen Muster nach wird Kafka zwischen den Zeilen als philosophischer Text interpretiert. Ein Beispiel existentialistischer Deutung Kafkas bietet Václav Cerny in seinem „Ersten Heft über den Existentialismus" vom Jahre 1948. Er sieht, nicht als erster in Europa, in Kafka einen der Vorgänger des Existentialismus: „Praeexistentialist ist dieser Leser Dostojevskis und leidenschaftlicher Nachempfinder Kierkegaards vor allem durch seine extreme, sozusagen unerschöpfliche Fähigkeit der Selbstanalyse und durch seine absolute Gefesseltheit an das Subjektive [...] Sein Drama, das ist eine Tragödie der Leere, einer hohlen, lautlosen Lücke, die zwischen auseinandergetretenen Teilen der ursprünglichen Einheiten gähnt und aus welcher das Nichts hervorgeht, das als die wahre Wirklichkeit des Lebens empfunden wird: jenes .Nichts', das Krach des menschlichen Projektes vor Gott bedeutet." 59 57 58

59

Praha (Prag). In: Lidové noviny, roc. 45, c. 401, S. 1, 12. 8. 1937. Franz Kafka: Pozorování. Praha, 1946. Reihe Obluda, Nr. 2; die Ausgabe enthält (ohne tschechische Titel) die Prosastücke: Der Kaufmann, Zerstreutes Hinausschaun, Der Nachhauseweg, Die Vorüberlaufenden, Kleider, Der Fahrgast, Die Abweisung, Die Bäume und das Nachwort des Übersetzers Bezpiíkladná závét' (Ein beispielloses Vermächtnis). Vaclav Cerny: První sesit o existencialismu. Praha, 1948, S. 24 f.

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Schon früher, 1945, findet man die erste Spur der für die tschechischen Nachkriegsjahre charakteristischen Polemik der surrealistischen Werkanalyse mit der existentialistischen Deutung in dem Nachwort von Jan Rezác zu seiner Übersetzung der „Betrachtung": „Die Kriegsjahre haben den Gegensatz des Revolutionärs, den kafkaesken Typ (a priori gegebene Entschlußunfähigkeit) wieder erstehen lassen: das Schreckgespenst des Existentialisten." Eine ähnliche Einstellung vertritt in den Jahren 1947 — 48 Hugo Siebenschein in zwei Niederschriften, von denen eine den charakteristischen Untertitel trägt: „eine antiexistentialistische Anmerkung zum Werk Franz Kafkas". 60 In den ersten Nachkriegsjahren, noch bevor der Kafka-Boom in Deutschland und anderswo ausbrach (im Zusammenhang mit der neuen Ausgabe der Schriften bei Fischer), steigt das Interesse an Kafka in Böhmen. In den ersten drei Jahren, da Franz Kafka noch salonfähig war, befassen sich jüngere Übersetzer mit kürzeren Prosastücken. Viermal veröffentlicht in den Jahren 1947 und 1948 der Dichter und bedeutende Übersetzer Ludvik Kundera seine Kafka-Übersetzungen: „Erstes Leid" (mit einem Medaillon über das Leben und Werk des Dichters) 61 , „Das Urteil" 62 , zwei Proben aus den Tagebüchern 63 (der ersten geht ein Essay von Pavel Trost „Eine Randbemerkung zum Urteil von Kafka" voraus). Karel Projsa, der sich in den Nachkriegsjahren um die erste Gesamtausgabe von Kafkas Werk vergeblich bemühte, publizierte in der Vierteljahresschrift „Listy" (Blätter) seine Übersetzung von acht Prosastücken aus „Die Betrachtung" und „Ein Landarzt" 64 mit einer kurzen Lebensbeschreibung des Dichters. 1947 erscheint das Buch der „Erinnerungen, 60

61

62 61

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Hugo Siebenschein: Tragicky pohádkáf. Protíexistencialistická poznámka k dílu Franze Kafky (Ein tragischer Märchenerzähler. Eine antiexistentialistische Anmerkung zum Werk Franz Kafkas). In: Casopis pro moderni filologii 32 (1949), S. 75 — 79 und derselbe, siehe Anm. 49. Prvy zal (Erstes Leid). In: Mladé archy, Mladá Boleslav, Jhg. 3, Nr. 5, S. 3 5 9 - 3 6 1 . Ortel (Das Urteil). In: Kvart, Jhg. 5, Nr. 3, S. 1 7 2 - 1 8 0 , 1. 9. 1947. Ζ deníku Franze Kafky (Aus dem Tagebuch von Franz Kafka). In: List sdruzeni moravskych spisovatelu, Brno, Jhg. 2 (1947/48, Nr. 5, S. 193 f.; eine andere Probe mit demselben Titel in Mladé archy, Jhg. 4 (1948), Nr. 1, S. 28. Listy, Jhg. 1, 15. 2. 1947, S. 4 0 2 - 4 1 2 ; die Reihenfolge der Prosastücke: Zpráva pro Akademii (Ein Bericht für eine Akademie), Novy advokát (Der neue Advokat), Na galerii (Auf der Galerie), Stary list (Ein altes Blatt), Sakali a Arabové (Schakale und Araber), Saty (Kleider), Na rozmyslenou pánskému jezdci (Zum Nachdenken für Herrenreiter), Císafské poselství (Eine kaiserliche Botschaft).

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Erwägungen und D o k u m e n t e " „Franz Kafka und P r a g " 6 5 , mit Beiträgen von H u g o Siebenschein, Emil Utitz (u. a. Mitschüler Kafkas am Gymnasium), Edwin Muir (erster Übersetzer Kafkas ins Englische, damals in Prag tätig) und Peter Demetz (damals Germanistikstudent an der KarlsUniversität). Dieser, sofern mir bekannt ist, erste Kafka gewidmete Sammelband in Europa, enthält auch die grundlegende Kafka-Ikonographie. In den Jahren 1947 — 48 wurden auf dem Boden der tschechischen Germanistik und Komparatistik mehrere Versuche unternommen, Kafkas Werk zu interpretieren, sogar mit polemischer Absicht:

Siebenscheins

surrealistische Deutung und Eisners Polemik mit dieser, die existentialistische Interpretation von Cerny und Demetz, die antiexistentialistische von Siebenschein und Rezác, die Prager Deutung Eisners, der gegen die westliche Kafkologie polemisiert. „Franz Kafka ist nur von Prag auszul e g e n , " schreibt Eisner, gleich aber präzisiert und begrenzt er diese Behauptung. „Auslegen ... der Genius ist nicht auszulegen, er bleibt stets eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Unterliegt man dennoch dem lästerlich-frommen Erforschungstrieb, wird man gut daran tun, sich des uralten Satzes zu erinnern, daß das Werk eines jeden außerordentlichen Künstlers drei Interpretationsebenen, ja Systeme verlangt; es will realiter, spiritualiter et mystice gelesen und gedeutet sein. Und eben dieses realiter wird bei Kafka aus blanker Unkenntnis der Realien außer Acht gelassen. E s sind Prager Realien im umfassendsten Sinne — sachliche, atmosphärische, psychobiologische, psychosoziologische F a k t e n . " 6 6 Auch die Nachkriegsgermanistik reihte Kafka in die Tagesordnung ein. H u g o Siebenschein hielt im Wintersemester 1947/48 an der Philosophischen Fakultät ein Seminar zum T h e m a Kafka und Werfel. 6 7 Sein D o k torand Peter Demetz legte 1948 seine Dissertation „ D e r Einfluß Franz Kafkas auf die englische Literatur (1930 — 1 9 4 7 ) " vor. E i n Kapitel davon, die typologische Studie „Franz K a f k a und Hermann Melville" publizierte er tschechisch in der „Zeitschrift für moderne Philologie" 6 8 .

Demetz

verteidigt in seiner Doktorarbeit die existentialistische Deutung Kafkas gegen systematische Deutungen. „Jede ein fertiges System bietende Weltanschauung", schreibt er, „ob sie sich nun betreffs ihrer Gültigkeit auf die 65 66 67

68

Franz Kafka a Praha, Praha, 1947. Pavel Eisner: Franz Kafka a Praha. In: Kriticky mésícník 9 (1948), S. 66. Siehe: Seznam prednásek na filosofické fakultè Karlovy Univerzity ν zimním béhu 1947—48 (Verzeichnis der Vorlesungen auf der philosophischen Fakultät der Karls-Universität im Wintersemester 1947—48), Praha, 1947, S. 30. Peter Demetz: Franz Kafka a Hermann Melville. In: Casopis pro moderni filologii, Jhg. '32 (1948), S. 1 8 3 - 1 8 5 , 2 6 7 - 2 7 1 .

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transzendente Autorität der Offenbarung oder auf die immanente des Programms berufe, muß sich gegen Kafka stellen ... Sein Werk verneint die grundlegende Sicherheit katechisierter Lehren, ja nicht nur die Lehre selbst, sondern selbst die Lehrer. Es stellt unentwegt die ursprüngliche aller Fragen — eine Frage, die mit einer besonderen Denkweise verknüpft ist, die man gewöhnlich existentiell nennt. Vor der Frage nach dem Sein überhaupt stellt es die Frage nach der Existenz des Fragestellers, welcher selbst ein Teil des gesamten Seins ist. Es handelt sich nicht mehr um Antworten, sondern um die Fragesteller." 69 In derselben Zeit publiziert Demetz in der letzten Nummer der Monatsschrift „Listy" (sechs Tage vor dem Februarumsturz), die danach zu erscheinen aufhörte, seinen Aufsatz „Die Aktualität von Franz Kafka". 70 Ein anderer Doktorand Professor Siebenscheins, Rio Preisner, befaßte sich damals mit Kafka-Übersetzungen; er übersetzte „Das Urteil" (das nicht mehr in Druck erschien) und eine Auswahl kurzer Texte aus „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg", die er jedoch erst 1968 publizieren konnte. 71 Ähnlich wie in Frankreich stießen damals in Böhmen bei der KafkaRezeption zwei Deutungen aufeinander, die ältere surrealistische und die neuere existentialistische. Inzwischen trat jedoch ein Ereignis ein, das den Höhepunkt der bisherigen Bemühungen um die Einführung von Kafkas Werk in die tschechische Kultur bedeuten sollte: die Herausgabe eines achtbändigen Gesamtwerkes vom Verleger Václav Petr. Das Projekt wurde von Karel Projsa (1912 — 1972), der damals mit Véra Davidová, Tochter der jüngsten Schwester Kafkas, Ottla, verheiratet war, dem Verleger Václav Petr vorgelegt. Projsa gehörte damals zum Kreis der Prager avantgardistischen Literaten, die mit der surrealistischen Bewegung und mit dem Strukturalismus Mukarovskys verbunden waren. Er studierte, sehr oberflächlich, Tschechisch und Geschichte an der Philosophischen Fakultät. Er reichte nach neun Semestern im Juli 1939 eine vage Dissertation mit dem Titel „Die Idee der Freiheit und ihre Funktion in der Struktur der romantischen Poesie" 72 ein, die nicht angenommen wurde. 69

70

71 72

Peter Demetz: Der Einfluß Franz Kafkas auf die englische Literatur (1930 — 1947). Dissertation, S. 1. Peter Demetz: Aktuálnost Franze K a f k y (Die Aktualität von Franz Kafka). In: Listy, Jhg. 2, Nr. 2, 19. 2. 1948. Franz Kafka: Aforismy. Auswahl Rio Preisner. Praha, 1968. Karel Projsa: Idea svobody a její funkce ν struktufe romantické poesie (Die Idee der Freiheit und ihre Funktion in der Struktur der romantischen Poesie). Dissertation (nicht angenommen), 1 1 6 Manuskriptseiten und 4 Extraseiten Zusammenfassung. Archiv Josef Cermák.

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Josef Cermák

In seinem Nachlaß wurde im Manuskript die Studie „Stil und Sinn von Kafkas Erzählung Kübelreiter" 73 gefunden. Projsas Projekt hielt sich an die Brodsche Ausgabe aus den dreißiger Jahren, wurde jedoch im Einverständnis mit Brod, mit dem Proj sa gleich nach Kriegsende Kontakt aufnahm, um zwei Bände erweitert. Projsa behielt sich am Projekt die Übersetzung von vier Bänden und die Einleitungsstudie vor, das übrige überließ er Pavel Eisner. Das entsprach keineswegs dem Kräfteverhältnis dieser beiden Männer, und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Als Projsas Übersetzung des ersten Bandes, des Amerika-Romans, schon im Stadium der Fahnenkorrektur war, übergab sie der Verleger zur Beurteilung seinem Konkurrenten Pavel Eisner (auf dessen Wunsch). Eisner hat die Übersetzung, wie der überlieferte Teil der Korrektur bezeugt, hyperkritisch und ungerecht beurteilt und zur Herausgabe nicht empfohlen. Das hatte ein Abbrechen des Satzes zur Folge. Projsa wurde von der Mitarbeit an dem Projekt ausgeschlossen, die Übersetzung aller Bände wurde Pavel Eisner anvertraut. Die neue Übersetzung des Amerika-Romans, der ursprünglich 1947 als erster Band der Werke Franz Kafkas in der Reihe Atom in der Auflage von 5500 Exemplaren erscheinen sollte, hatte eine Verspätung zur Folge, die sich fatal auswirkte. Nach dem kommunistischen Umsturz im Februar 1948 war die Hoffnung, Kafka publizieren zu können, minimal. Václav Petr, Pavel Eisner und Max Brod bemühten sich noch einige Zeit lang um die Herausgabe, aber Kafka war für die ideologisierte Kulturpolitik und ihre dogmatische Ästhetik als pessimistischer Einzelgänger, als Dekadent und Jude nicht akzeptabel. Im Zusammenhang mit der vorbereiteten Herausgabe des Werkes wollte Václav Petr noch als Neujahrsdruck 1948 „Das Urteil" in der Übersetzung von Rudolf Vápeník und mit einer Kaltnadel von Frantisek Tichy veröffentlichen. Die politischen Ereignisse haben die Herausgabe des Druckes verhindert, nur die Zeichnung von Tichy ist erhalten und wird in vielen Monographien des Meisters reproduziert. Alle drei zum Druck vorbereiteten Romanübersetzungen von Eisner blieben im Tresor des Verlegers (heute im Archiv des Nationalmuseums) liegen, dessen Verlag bald danach der Verstaatlichungswelle weichen mußte und einging. 74 So erlosch auch 73

74

Karel Projsa: Sloh a smysl K a f k o v y povidky Der Kübelreiter (Stil und Sinn von Kafkas Erzählung Kübelreiter), 10 Manuskriptseiten. Archiv Josef Cermák. Die ganze Geschichte der beabsichtigten Herausgabe des Gesamtwerkes von Franz Kafka in tschechischer Sprache bei Josef Cermák: Zmarená prílezitost (Κ neuskutecnènému ceskému vydání sebranych spisû Franze Kafky). (Eine vereitelte Gelegenheit. Zur unverwirklichten tschechischen Ausgabe des Gesamtwerkes v o n Franz Kafka). In: Literámí noviny, Jhg. 2 (1991), Nr. 45, S. 12, Nr. 46, S. 12, Nr. 47, S. 12 und Nr. 48, S. 12.

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die Hoffnung, daß Böhmen in den Besitz der ersten übersetzten Gesamtausgabe von Kafkas Werk kommen könnte. Im Archiv des Verlegers Petr findet man auch ein kurzes, an die neuen Machtherren gerichtetes Schreiben, durch das Pavel Eisner, angeregt vom Verleger, die Herausgabe des Amerika-Romans retten wollte. Er wußte damals nicht, daß er damit ein neues perverses Genre der verlegerischen Administration gründete und daß man auf diese schriftliche Art vierzig Jahre lang um jedes sogenannte umstrittene Buch werde ringen müssen. Die fatale Apologie lautet: Amerika „Der blutjunge Karl Rossman wurde vom Dienstmädchen seiner Eltern verführt. Diese schicken ihn, den Sechzehnjährigen, nach Amerika. Im Meere der Fremdheit bemüht sich der brave und tapfere Junge, festen Fuß zu fassen, aber durch seine reine Naivität verlor er nur seinen Onkel, der ihn unterstützte, er erlebt böse Enttäuschungen, die ihm seine Kameraden bereiten, und fortwährend lernt er Amerika kennen, das das Gegenteil aller positiven Vorstellungen ist. Erst zum Schluß wird der Anschein erweckt, daß die reine Mühe und Unverdrossenheit des Jungen jegliche bösartige Schlechtigkeit der amerikanischen Welt überwinden wird. Es ist eine Art moderne Robinsonade, das Wandern eines reinen Jungen quer durch die moralische Doppelsinnigkeit, Geistlosigkeit, Verdorbenheit der Gesellschaft in den USA. Das Buch ist völlig geeignet, die Vorstellung zu verwerfen, daß Amerika ein Paradies sei, es zeigt offensichtlich, daß es eine Welt voller Hinterhältigkeit, Täuschung und Enttäuschung ist."

Ludvik Václavek Zur Rezeption Franz Kafkas in der Tschechoslowakei

Es ist allgemein bekannt, daß der marxistischen Diktatur sehr daran lag, die Kafka-freundliche und Kafka-verstehende Welt in der Tschechoslowakei nicht nur mit Gewalt zu unterdrücken, sondern sie auch möglichst tiefgreifend zu zersetzen, die Sprecher der modernen Literatur und Literaturwissenschaft gegeneinander auszuspielen und sie vor der Öffentlichkeit möglichst „glaubwürdig" zu diskreditieren. Lange Jahre wagte dann niemand, den Namen Kafka auszusprechen, um nicht sofort als Revisionist und Konterrevolutionär „entlarvt" zu werden — mit allen entsprechenden „Folgen". In den Augen jener, die Kafka weder aus Kultur und Bewußtsein eliminieren noch ihn für den Marxismus in Besitz nehmen wollten, wurden er und sein Werk zu Repräsentanten, ja zum Inbegriff des „Andersgestaltetseins" nicht nur in der Literatur, sondern überhaupt im Denken und im Leben, zum Inbegriff des nichtideologisierten, außerhalb der politischen Propaganda stehenden Seins, zum Vorreiter der nicht manipulierten und nichtmanipulierbaren Kunst, die nicht dazu bestimmt ist, gehorsame Bürger des Realsozialismus, d. h. willige Untertanen, zu erziehen. Ungeachtet dessen, wie jeder Leser die „Botschaft des Dichters" empfand, welche Art von Interpretation seines Werkes er sich zu eigen machte — eine religiöse, existenzielle, philosophische — wurde Kafka, obwohl er und eben weil er ein unpolitisches Phänomen darstellte, doch zu einem Politikum, zum Patron und Werkzeug des intellektuellen und haltungsmäßigen Widerstandes. Von ihm ging die Disposition zur Nonkonformität aus. Der Umstand, daß es der offiziellen Ideologie nicht gelungen war, ihn in das allumfassende Netz der Indoktrination einzufangen, half die geistige Eigenständigkeit, das Selbstbewußtsein der Lesenden, Denkenden und Kunstliebenden zu heben, etwa in dem Sinne: „Wir fühlen etwas, was die Diktatur nie wird begreifen können." Das lesende Publikum begriff die literarisch gestaltete Kafkasche Welt als Ausdruck einer spezifischen menschlichen Lage, als kafkaeske Darstellung dessen, was in der modernen Zeit den Menschen

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und die Welt bedrückt und bedroht. Man las aus Kafkas Büchern dasselbe heraus, was auch in anderen Ländern von anderen Lesern herausgelesen wurde, wie immer es auch nuanciert gewesen sein dürfte. Darüber hinaus aber erblickte man in Kafkas Werk eine vorwegnehmende Darstellung einer totalitären Gesellschaft in ihrer Atmosphäre, im Erlebnis des vereinsamten, ungeschützten Menschen, sowie der ganzen Absurdität dieser Gesellschaft, dieser Welt, der Prozesse in ihr. Diese Auffassung war uns lange Jahrzehnte eigen und wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, abgesehen davon, wie das Werk von diesem oder jenem Leser in einer anderen Ebene aufgefaßt wurde. Es geht um die Vorwegnahme dessen, was Millionen dann erlebt haben — um die unpersönliche, anonyme, überall präsente Macht, der man sich nirgends entgegenstellen kann, da sie keinen möglichen Angriffspunkt bietet. Man wird beherrscht, man kann nicht dagegen ankämpfen. Ein aufbegehrender Heros würde keinen Gegner finden, nichts, was er fassen könnte. Ein eventueller Attentäter würde durch seine Tat nichts erreichen, denn die anonyme Macht ist eine nicht zu überwältigende Hydra. Die Gewalt ist überall anwesend und „körperlos". Was will man anfangen mit unpersönlichen und überall gegenwärtigen Polizeidienern, die farblos wirken, deren Perniziosität in der Zersetzung von Moral, Selbstbewußtsein, humaner Haltung und nicht unmittelbar in bluttriefenden Taten besteht. Nicht Kafkas authentisches Werk, sondern dessen aktualisierte gesellschaftliche Funktion wurde als ein politisches Phänomen empfunden. Kafkas Werk hat wohl die meisten Saiten eben im tschechischen Publikum erklingen lassen, ihm hat es die stärksten Impulse für das Denken über Erlebtes gegeben. In der Tschechoslowakei reagierte man mehr und stärker auf die Anregungen und Hinweise des Dichters als in anderen Ländern des vom Bolschewismus beherrschten Imperiums und als in den nicht unterjochten Staaten. Man nahm ihn hier mehr in sich auf. Die tschechische Leserschaft hat ein besonders positives Verhältnis zu Kafka vielleicht auch — in einem Winkelchen des Bewußtseins — deshalb, weil ihr der tschechische Name des Dichters vertraut ist. Er kommt aus der Heimat, man empfindet Kafkas Werk gar nicht als aus einer fremden Sprache übersetzt, sondern als einheimisch. Der Einfluß von Kafkas Büchern blieb im allgemeinen in der Welt auf gebildete oder wenigstens einigermaßen gebildete Leserschichten beschränkt. In der Tschechoslowakei aber gab es, und gibt es noch, eine starke Lesergemeinde, die nach guter Lektüre geradezu lechzte. Für sie war und ist Kafka, sein Werk, das Produkt seiner Imagination, ein lebender und lebendiger, ein einwirkender Begriff, und zwar nicht in

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einem einheitlichen Sinn, sondern natürlich differenziert. Die einen erblickten in diesem Werk ein geistiges Mittel zur inneren Befreiung von dem Druck der Gewalt und Indoktrination, ein Mittel zur inneren Emanzipation. Bei vielen steigerte sich die Rezeption Kafkas zu Vorstellungen, die stärker aktuell politisch orientiert waren, die in die Nähe der Orwellschen Vorstellung von der totalitären Apokalypse rückten. Das war der Fall besonders später, nach dem Zusammenbruch von gewissen Perspektiven oder genauer Illusionen, nach 1968. Es sei hier vor allem auf den Roman M A S O (Fleisch) von Martin Hamicek hingewiesen, der im Untergrund geschrieben und im Ausland, in Toronto, im Jahre 1981 herausgegeben wurde. Die darin dargestellte Welt führt evident „das höchste Stadium des Kommunismus" in der Zukunft vor Augen. Manche Leser erblickten den Sinn von Kafkas Werk in der Dominanz der Absurdität und Unheimlichkeit an sich, in einer höheren, allgemein gültigen Ebene. Andere erkannten in Kafkas Büchern jene Welt, in der sie selbst lebten. Sie fühlten, daß gegen sie ein ununterbrochener Prozeß geführt wird, daß anonyme und unheimliche Helfer von undurchsichtigen Machtmechanismen sie beobachten und kontaktieren, daß sie nirgends Berufung einlegen, nirgends jemanden finden konnten, den man hätte zur Rede stellen können. Gar mancher, der außerstande gewesen war, die Versuchungen und Winke der herrschenden politischen Partei und ihrer diversen Faktoren abzulehnen, wurde ins Schloß gelockt, in das Labyrinth der Mitgliedschaft und des Funktionärtums, wand sich zwischen den Rädern und Räderchen einer abstrusen Maschinerie, der tatsächlich oder nur scheinbar allmächtigen Parteibürokratie, und wußte selber nicht, ob er privilegiert oder schikaniert wird. Die Anständigeren unter denen, die in diesem Labyrinth hin- und hergezerrt wurden und selbst zerrten, fühlten oft, daß sich mit ihnen eine Verwandlung ereignet hatte, daß der Mensch zur Wanze geworden war. Bei Berserkern war dies natürlich nicht der Fall. Und so entstand im Tschechischen das Wort Kafkárna. Nach der brillanten Erläuterung des Phänomens „Kafkárna" von Jirí Stromsík „Kafkárny" — kafkaeske Situationen im totalitären Alltag (in „Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas Der Prozeß", Würzburg 1992) erübrigt es sich fast, zu diesem Thema noch etwas zu sagen. Ich gestatte mir trotzdem ein paar Worte und Beispiele. Die Übersetzung ist möglich mit dem neutraleren Wort Kafkaismus, besser aber mit der expressiveren und pejorativen Kafkarei. Als Kafkárna wurden und werden Symptome einer ins absurde verwandelten Gesellschaft bezeichnet, der Logik und Zweckmäßigkeit im Denken (soweit dies überhaupt vorhanden) und Handeln abhanden gekommen ist. Kafkárna ist also

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soviel wie Absurdität im Bereich des Sozialen, Wirtschaftlichen, Politischen, des Rechtssystems usw. Der im kanadischen Exil lebende tschechische Schriftsteller Josef Skvorecky hat im Jahre 1983 in einer amerikanischen Zeitschrift eine Erinnerung an ein Erlebnis aus seiner Jugend veröffentlicht, das absurd wirkt innerhalb der Absurdität des gipfelnden Weltkrieges. Ich entnehme seinem Text folgenden Abschnitt: „An einem Sommerabend des Jahres 1944 habe ich mich in Prag vor der Arbeit in den Messerschmidtwerken [...] in Náchod gedrückt, dank einer Bescheinigung über meine angegriffene Gesundheit, die mir der brave Herr Doktor Vltavsky ausgestellt hatte. Ich kam nach Prag zu einem Liebhaber-Jazz-Festival im großen Lucerna-Saal, denn die Band aus meiner Geburtsstadt, das Orchester von Miloslav Zachoval, nahm an dem Festival teil. Diese ganze Veranstaltung war schon von sich aus eine Kafkarei. Man saß in diesem schön vergoldeten Saal in einer Menge von Begeisterten, die hier und da vom Feldgrau der Wehrmachtuniformen gesprenkelt war, man hörte der Komposition „Sing! Sing! Sing!" von dem Juden Benny G o o d m a n in einer guten, obwohl amateurhaften Aufführung zu, die als das Werk des berühmten, wenn auch nicht existenten Swingmeisters Jiri Patocka präsentiert wurde — was war das anderes als Kafkarei." Der Ausdruck sprang aber auch auf die niederen Schichten des Alltags über, er fand seine Funktion im lebenskritischen Wortschatz der Zeit. Kafkarei bedeutet auch Unsinnigkeit und Widersinnigkeit im täglichen Sein — chaotische Erscheinungen, Momente, Ereignisse, das Gefühl, daß unbestimmbare Kräfte nicht nur uns, sondern auch verschiedene Kleinigkeiten beherrschen. Langes Warten, falsche Erledigungen von verschiedenen Anliegen, verschiedener Unsinn — das alles kann Kafkarei sein. Viele „unliterarische" Menschen, die offensichtlich Kafka nie oder kaum gelesen hatten, empfanden so, als wären sie Opfer oder Zeugen des „Prozesses" im Großen und Kleinen. Z. B. ein offensichtlich nichtintellektueller Mann irrt im Gebäude einer Behörde herum auf der Suche nach einem bestimmten Ziel, findet sich nicht zurecht und sagt etwas, was man von ihm eigentlich nicht erwarten würde, nämlich „da geht es ja zu wie in Kafkas Schloß". Bürokratische Erscheinungen, mangelhaft durchgeführte Maßnahmen, Unbegreifliches im Wirtschaftsleben — z. B. es gibt auf dem Markt eben diejenigen Produkte nicht, die man saisongemäß erwarten würde — das alles wird als „Kafkärna" bezeichnet. Da bringt eine Zeitung 1991 die Mitteilung, daß ein Buch, „Führer durch Kafkas Prag", verspätet erscheinen wird, erst nach Beginn der Touristensaison, und fügt hinzu: „Wieder eine Kafkarei der magischen Stadt". Der Begriff

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„kafkaesk" als „unsinnig" in allen, also auch in niederen Bereichen, wurde vom Bewußtsein ziemlich breiter Schichten aufgenommen, wurde zu einem allzubreiten und demzufolge auch falschverstandenen Begriff. Die „Kafkarei" in diesem Sinn ist nicht nur in die Umgangssprache gedrungen, sondern sie ist quasi Bestandteil der Folklore, der Stadtfolklore geworden. In dieser Schicht verknüpft sich die Vorstellung von kafkaesker Absurdität mit der Vorstellung von Unsinn in schwejkscher Manier. Es treffen sich hier Kafka und Hasek, eigentlich unverschuldet, auf gesunkener Ebene. Ich schätze keineswegs den tschechischen volkstümlichen Schwejk-Kult und auch die profane Rezeption Kafkascher Momente sagt mir nicht zu. W i r haben hier aber einen Beweis dafür, daß das tschechische Volk nicht nur Hasek in seinen Alltag aufgenommen hat, sondern auch Kafka. Diese Aufnahme geschieht zum Teil auf einer nichtadäquaten Ebene, aber eben nicht nur auf dieser. Es gibt auch Versuche, bisher unbekannte Seiten von Kafkas Leben und Wesen aufzudecken. Versuche, deren Legitimität angezweifelt werden dürfte. Für einen solchen Versuch halte ich den Artikel „Franz Kafka und der Heilige Wenzel" von Karel Vrána. Dieser Aufsatz erschien im Jahre 1987 in Rom, in der tschechischen katholischen Monatsschrift „Novy Zivot". Vrána beruft sich auf die Arbeit von Dr. Miroslav Sumpf, der einige Jahre zuvor als Professor der deutschen Literatur an der Universität in Siena gewirkt hat. Aus diesem Artikel erfahren wir: Franz Kafka hat sich bereits als 22-jähriger (also 1905) für die Gestalt des Heiligen Wenzel zu interessieren begonnen. Damals hatte er sich entschlossen, eine kurze Tragödie mit dem Titel „Feindliche Brüder" zu schreiben (über die Fürsten Wenzel und Boleslaus). Den Text des Schauspiels hätte er in einem engeren Kreis selbst vorgelesen, nachher wurde die Tragödie als Puppenspiel aufgeführt. Oskar Baum bezeugt, daß die Übertragung der sterblichen Überreste des Heiligen Wenzel in die St.-Veit-Kathedrale im April 1911 Kafka nicht nur interessiert, sondern ihn in einen Zustand von Erregung und Begeisterung versetzt hat. Zu dieser Zeit —also 1911— begann Franz Kafka den Roman „Feindliche Brüder Wenzel und Boleslav" zu schreiben, den er allerdings nicht zu Ende gebracht hat. Im Sommer 1913 erzählte Kafka seinem Freund Oskar Baum von der Enthüllung des St.-Wenzel-Denkmals in Prag. Baum nahm dabei wahr, daß Kafka einen tiefgreifenden Umwandlungsprozeß in bezug auf seine Anschauungen durchgemacht und seine bisherige religiöse Skepsis überwunden hatte. Baum war erfreut über Kafkas Interesse an der

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Geschichte des böhmischen und europäischen Christentums in der St.Wenzel-Epoche. Im Juni 1922 verbrannte Kafka in Baums Anwesenheit alles, was er bisher über Wenzel und Boleslaus geschrieben hatte. Der Grund dieser Tat war die unzulängliche historiographische Basis, auf die er sich stützen konnte. Im September 1923 schickte Kafka Baum das Manuskript seiner ersten für den Druck bestimmten Tragödie mit dem Titel „Das Bildhauerdrama. Heiliger Wenzel". — Die Handschrift blieb bei Baum. Weiter wird dieses Werk kurz analysiert. Der Verfasser betont, Kafka habe jahrelang historische Quellen zur St.-Wenzel-Problematik studiert und sei bemüht gewesen, der tatsächlichen Geschichte gerecht zu werden. Zum Schluß werden Kafkas an Robert Klopstock gerichtete Worte (vom 20. Mai 1924) angeführt: „Ich suchte die Wahrheit und fand m e i n e Wahrheit. Ich, der ungläubige Prager Jude, bin zum Gläubigen geworden und habe meine Weltanschauung geändert. Mein Heiliger Wenzel, eine Frucht des Geistes der Zeit und Ausdruck meines Glaubens als eines gläubigen Juden, der sich dem Christentum des Franz von Assisi und des Heiligen Wenzel zuwendet, denen beiden ich den Glauben an das Leben nach dem Tode verdanke." Ganz am Ende des Artikels führt Vrána ein Gebet in Versen an, das Kafka dem Heiligen Wenzel im ersten Akt des Bildhauerdramas in den Mund gelegt hat. Kafka als Bewunderer des böhmischen Landespatrons St. Wenzel, Kafka als fast-Christ, Kafka als Verfasser eines St.-Wenzel-Dramas und eines St.Wenzel-Romans — das alles war mir bisher unbekannt. Ich habe mich an meine Freunde unter den tschechischen Germanisten gewandt, doch niemand wußte etwas über diese Tatsachen oder Behauptungen. Peter Demetz hat einige Nachforschungen in Italien — wo der Autor des Kafka-Aufsatzes gewirkt haben soll — angestellt, doch konnte er, soviel ich weiß, kaum etwas eruieren. Daher wende ich mich an die Kafka-Biographen mit der Frage: Sind die von Vrána angeführten Ereignisse und Werke möglich, bzw. wahrscheinlich, oder handelt es sich um eine Mystifikation? Stehen wir vor einer völlig neuen Entdeckung, die bisher merkwürdigerweise keine Beachtung gefunden hat? Die Kafka-Forschung wird sich diesen Fragen stellen müssen.

J i f í Mutilar

Franz Kafka auf dem tschechischen Theater

I. Meine Damen und Herren, mein kurzer Beitrag zum Thema „Franz Kafka auf dem tschechischen Theater" ist eigentlich eine informative Bestandsaufnahme. Nach einer kulturpolitischen Einführung in die Problematik werde ich mich mit der Rezeption der Werke Kafkas auf tschechischen Bühnen beschäftigen. Natürlich wird es sich nur um eine Übersicht handeln, eher um eine Periodisierung. Ausführlicher werde ich mich einem zeitgenössischen Dramatiker von Rang widmen, bei dem die Spuren Franz Kafkas am deutlichsten sind.

II. Das Theater spielte in der tschechischen Geschichte, vor allem seit der nationalen Wiedergeburt, d. h. seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, immer eine bedeutende Rolle. Es war stets eine moralische Anstalt. Manchmal war das Theater „eine Art Anderssein der politischen Tätigkeit", wie es ein moderner Dramatiker formulierte. In den Zeiten, in denen der politische Druck zu stark war, ersetzte es größtenteils die Politik. Im Vormärz, zum Beispiel. Kein Wunder also, daß ein Dramatiker zum ersten Präsidenten nach der Wende gewählt wurde, daß sich ein anderer Dramatiker als Vorsitzender des Tschechischen Nationalrates betätigt, daß sich mehrere Schauspieler an der Arbeit der ersten Nationalversammlung als Abgeordnete beteiligten. 1 Es war auch nur logisch, daß das Theater im Kampf um die Humanisierung und schließlich um Beseitigung des inhumanen Gesellschaftssy1

Vgl. Olga F. Chtiguel: Without Theatre, the Czechoslovak Revolution Could Not Have Been Won. In: The Drama Review, Volume 34, Number 3, Fall 1990, S. 8 8 - 9 6 .

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Jiíí Munzar

stems seit Ende der 50er Jahre eine außerordentlich große Rolle spielte. Ich denke insbesondere an einige kleinere Bühnen, an die sogenannten Kellertheater in Prag (Theater am Geländer, Der Schauspielklub u. a. m.). Diese Bühnen standen in den 60er Jahren im Zeichen des absurden Dramas. Man spielte nicht nur Becket und Ionesco, sondern auch Hildesheimer, Jarry, Mrozek, Albee, Pinter, Arrabal, Gombrowicz und andere. Ebenfalls Kafka, dazu kommen wir. Für die meisten war der Begriff Absurdität damals mit dem Namen Kafka verbunden, insbesondere nach der Konferenz in Liblice. Dazu ein Beispiel. Das weltberühmte Stück von Albee (und auch die Verfilmung) wurde bei uns unter einem veränderten Titel aufgeführt. Statt „Wer hat Angst vor Virginia WoolP' hieß es bei uns, weil Virginia Woolf relativ wenig bekannt war, „Wer hätte Angst vor Franz Kafka". Ein anderes Beispiel, das die Popularität Kafkas in den 60er Jahren anschaulich illustriert: Damals hat eine Gruppe von Prager Intellektuellen einen bisher unbekannten tschechischen allseitigen Genius erfunden, Jara da Zimmermann, einen Mann, der zwar nie existiert hat, der aber in Wien geboren wurde. Sie haben allmählich eine Reihe von Stücken in seinem Nachlaß entdeckt und aufgeführt (auf der Bühne des von ihnen gegründeten Jara-da-Zimmermann-Theaters), haben Seminare zu seinem Werk veranstaltet usw. Ich erwähne diesen Genius nur deshalb, weil er auch mit Franz Kafka befreundet war. Die Idee der Entfremdung tauchte nämlich bei Kafka zum ersten Mal auf, laut der Zimmermann-Forscher, nach einer Begegnung zwischen Jara-da-Zimmermann und Franz Kafka, kurz nach 1900, bei der jemand Zimmermanns Geigenkasten stahl, in dem er statt einer Geige seinen großartigen Plan auf die Errichtung einer Pony-Metro, einer Pferde-U-Bahn in Prag, hatte. Diese Pony-Metro ist dann folglich nie realisiert worden. (Das war nur ein Beispiel, das die damalige Atmosphäre näherbringen sollte.) Franz Kafka und das absurde Drama hinterließen bei den meisten damaligen tschechischen Dramatikern irgendwelche Spuren. Vaclav Havel z. B. erwähnte Kafka mehrmals als den Autor, der seine Weltanschauung am meisten beeinflußte. Explizit bekannte er sich zu ihm in seiner Rede an der Hebräischen Universität in Jerusalem, anläßlich der Verleihung eines Ehrendoktorats (1990). Havels Erfahrung der Welt deckt sich, wie er selber sagt, größtenteils mit der Welterfahrung Kafkas. Havel sagte sogar: „Ich bin im Innersten meiner Seele davon überzeugt, daß ich — falls Kafka nie existiert hätte und falls ich besser schreiben könnte, sein ganzes Werk selber schreiben würde." 2 2

Vaclav Havel: Projevy. Praha, 1990. S. 101.

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Havel hat zwar in mancher Hinsicht Kafka absorbiert, er identifiziert sich mit ihm, aber es würde zu keinem Ergebnis führen, wenn man in seinem Werk konkrete Spuren oder Hinflüsse Kafkas zu suchen beabsichtigte. Und ähnlich ist es bei einer Reihe von Dramatikern, die in den sechziger Jahren (oder Ende der 50er Jahre) ihre schriftstellerische Laufbahn begannen: bei Ivan Vyskocil, Ladislav Smocek, Josef Topol, Alena Vostra, Milan Uhde, Pavel Kohout, Ivan Klima. Für die meisten von ihnen gilt dasselbe, was über Havel gesagt wurde. Der einzige von ihnen, bei dem man auch konkret die Beschäftigung mit Kafka einigermaßen verfolgen kann, ist Ivan Klima, der sowohl bei uns als auch im Ausland eher als ein Prosaist bekannt ist.

III. Ivan Klima wurde 1931 in Prag geboren, während des Krieges verbrachte er mehrere Jahre in Theresienstadt, in den 50er Jahren studierte er Literaturwissenschaft an der Karlsuniversität, und außer vielen Romanen, Erzählungen und Dramen verfaßte er auch, in den sechziger Jahren, ein Buch über Karel Capek. Zu Franz Kafka bekannte sich Ivan Klima mehrmals, u. a. in einem längeren Gespräch mit seinem Freund Philip Roth, im Winter 1990. Er spricht darin von der Traumwelt und der realen Welt bei Kafka, vom Schicksal des Werkes Kafkas unter dem Kommunismus, davon, daß Kafka ein unpolitischer Schriftsteller war. Das Bedeutendste, was Klima von Franz Kafka gelernt hat, war die Tatsache, „[...] daß die Literatur sich nicht mit politischen Realien befassen muß, daß sie sich nicht um vergängliche Systeme kümmern muß, und daß sie doch auf die Fragen antworten kann, die sich die Leute stellen, was das Verhältnis zum System anbelangt". 3 Von den Dramen Klimas werde ich nun diejenigen kurz charakterisieren und kommentieren, die mit Franz Kafka auf irgendeine Weise, manchmal nur lose, zusammenhängen könnten. Sein erstes bedeutendes Stück (aus dem Jahre 1964, also kurz nach der Liblice-Konferenz entstanden) heißt „Ein Schloß" („Zámek"). Es schildert das Leben auf einem Schloß, wo sich eine geschlossene Gesellschaft aufhält — privilegierte Literaten, Kulturfunktionäre, Philosophen. Sie leben im Wohlstand, sind aber vollkommen steril. Das deuten schon ihre Charak3

Ivan K l i m a - P h i l i p Roth: Rozhovor ν Praze. Praha, 1990. S. 21.

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teristiken im Anfang an, als der Autor die Helden beschreibt: Ales, ein nichtschreibender Schriftsteller; Bernard, ein Philosoph, der die meiste Zeit am Fenster verbringt; Cyril, ein Turnlehrer, z. Z. Bevollmächtigter für die Delimitation der Statue. (Das ist eine Anspielung auf die Überlebensgroße Statue Stalins in Prag, die erst 1955, also zwei Jahre nach Stalins Tod enthüllt, und kurz danach, nach dem 20. Parteitag der KPdSU, wieder abgerissen wurde. Es war wirklich kafkaesk.) Auf diesem Schloß taucht eines Tages ein gewisser Josef Kán auf, von dem wir später erfahren, daß sein Vater Landvermesser war. Bei seiner Ankunft wird eben ein Mord untersucht, zu dem es auf dem Schloß kam. Weil er am sinnlosen Schmarotzerleben dieser Gesellschaft nicht teilhaben will und für sich eine wirkliche Aufgabe sucht, wird er zum Schluß getötet. Das Stück beginnt also mit einem Mord und endet mit dem zweiten — es ist eigentlich eine Routine. Es handelt sich nicht nur um Parasiten, sondern um eine wirkliche Räuberbande. Im Stück gibt es viele ironisch-kritische Anspielungen auf die Situation der sechziger Jahre. Vor allem auf das Schloß Dobris, das dem Schriftstellerverband gehörte. Es war als ein Hotel oder eine luxuriöse Pension für Schriftsteller eingerichtet. Einige Autoren, wie der damalige langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Jan Drda, wohnten dort fast ununterbrochen. Die Kafka-Anspielungen im Stück scheinen, auf den ersten Blick, vorwiegend oberflächlich zu sein. Ich glaube aber, daß das nicht der Fall ist. Im Grunde genommen ist das die Antwort auf die Frage, die sehr oft gestellt wird: ich denke an das Problem der Feindschaft zwischen Kafka und dem Kommunismus. Josef Kán wird getötet, weil er in Wahrheit leben wollte. Damit kann kein totalitäres Regime, das auf Lügen begründet ist, einverstanden sein. Drei Jahre später, im Jahr 1967, wurde das Stück „Der Meister" („Mistr") herausgegeben, das mit einer kafkaesken Situation beginnt. In einer Villa am Stadtrand erscheint unerwartet ein Mann, ein Tischlermeister, mit einem Sarg. Angeblich wurde er angerufen, und man teilte ihm mit, daß in jenem Haus jemand sterben soll. Die Bewohner der Villa, die zuerst in Verlegenheit geraten, stellen aber bald fest, zu ihrer Überraschung, daß der Senior der Familie tatsächlich gestorben ist — offensichtlich wurde er vergiftet. Ein Krimi? Alle sind verdächtig. Es kommt zu weiteren Todesfällen. Der Meister, der vielleicht im Auftrag einer höheren Macht handelt, findet in jedem einzelnen eine Schuld (ein bißchen erinnert er an die zwei Herren, die Josef K. besuchen). Es geht hier um Tod und Angst und Schuld und Wahrheit — vielleicht sterben die Leute, weil sie nicht wahrhaftig leben.

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Nur eine Gestalt, eine junge Dame, bleibt am Leben. Offensichtlich hat sie den Tod (Drohungen, Angst, Erpressungen) überwunden. Im Stück „Ein Schwurgericht" („Porota") aus dem Jahre 1968, daß sich auf den Erlebnissen desselben Jahres gründet, geht es wieder um Schuld: Einem Unschuldigen, der sich nicht wehren kann, wird ein Prozeß gemacht. Der Angeklagte Eduard Ferdinand hat seine Verlobte ermordet und die Leiche auf einem Feld begraben. Das ist die Version des Staatsanwaltes. Es scheint aber, daß der Angeklagte aus politischen Gründen beseitigt werden sollte, daß es sich um eine Aktion der Stasi handelt. Der Prozeß war nicht regulär, die Verteidigung durfte sich nicht frei entfalten, der Angeklagte wird noch vor dem Schuldspruch ermordet (angeblich war das ein Unfall). Statt sechs Geschworenen gibt es nur fünf, der sechste ist verschwunden. Jetzt sollen sie sich, unter Druck, für die Schuld des Angeklagten aussprechen, und dadurch das schon Geschehene nachträglich legitimieren. Vier von ihnen lassen sich einschüchtern, der fünfte zwar nicht, aber seine Gegenstimme trägt nur dazu bei, daß alles legal und in Ordnung zu sein scheint. Behandelt werden vor allem die Probleme Schuld und Freiheit. Häufig sind konkrete Anspielungen auf die politischen Prozesse der 50er Jahre — Massenversammlungen finden statt, wo Resolutionen angenommen werden, in denen das Volk die gerechte Strafe, den Tod des Angeklagten, verlangt. Zahlreich sind auch die Anspielungen auf den Einmarsch und die sowjetische Besatzung. Wie schon gesagt: Das Geschehene soll, unter Druck, legitimiert werden. Im selben Jahr 1968 entstanden zwei Einakter, „Konditorei Myriam" („Cukrárna Myriam") und „Ein Bräutigam für Marcella" („Zenich pro Marcelu"), in denen die Absurditäten des täglichen Lebens im Kommunismus geschildert werden. Dasselbe gilt, im großen und ganzen, für den Einakter „Ein Zimmer für zwei" („Pokoj pro dva", 1971) und für das Stück „Spiele" („Hry", 1975), das demonstrieren will, daß Verhöre, Schauprozesse und Hinrichtungen im realen Sozialismus zum Alltag gehören. Im Jahre 1984 beendete Klima ein Stück über Franz Kafka, das „Franz und Feiice" („Franz a Felice") heißt. Es ist ein biographisches Stück, das sich vor allem auf der Korrespondenz zwischen Franz Kafka und seiner Verlobten Feiice Bauer gründet. Während sich viele durch Kafkas Leben inspirierte Stücke nicht an die Wirklichkeit halten, ist es hier eher umgekehrt. Fast peinlich genau versucht Ivan Klima diese äußerst wichtige Epoche im Leben Kafkas zu rekonstruieren. Das Werk besteht aus 9 Bildern. Das erste Bild schildert das erste Treffen von Franz und Felice bei Max Brod. Das zweite Bild spielt in

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Jirí Munzar

Kafkas Zimmer: Max Brod ist zu Besuch bei ihm, es kommt ein Brief von Feiice, sie erscheint als eine Traumgestalt und führt ein Gespräch mit Frana. Das dritte Bild: Ein Treffen von Franz und Feiice in Tiergarten, Franz gibt die ersten Warnungen, zum erstenmal problematisiert er ihr Verhältnis. Das vierte Bild: Grete Bloch bei Kafka. Das fünfte Bild: Die feierliche Verlobung bei den Eltern von Feiice in Berlin. Das sechste Bild: Ein Monolog Kafkas vor der Reise nach Berlin. Das siebente Bild: Das „Gericht" im Askanischen Hof in Berlin. Das achte Bild: Kafkas Zimmer, in einem Monolog setzt sich Franz mit der Lage nach dem Treffen im Askanischen Hof auseinander. Er braucht unbedingt Einsamkeit, zugleich aber braucht er jemanden. Das neunte Bild: In der neuen Wohnung Kafkas in Prag (Palais Schönborn), nach der Erneuerung der Verlobung. Franz und Max erwarten einen Besuch von Felice, Max geht auf den Bahnhof, Franz bleibt zu Hause. Er freut sich auf Feiice, auf ihre gemeinsame Zukunft nach Kriegsende. Das Stück endet mit dem bekannten Blutsturz, mit den Worten: „Aber doch allein. Wie ein Hund!" Klima ist es gelungen, das Thema (Kafkas Verhältnis zu Feiice) meisterhaft zu bewältigen. Technisch sehr gut ist vor allem der Schluß, wo der Blutsturz eigentlich die Rolle eines deus ex machina spielt. Ein Jahr vor der Veröffentlichung des Stückes beendete Klima einen längeren Essay (fast 50 Seiten), der „Die Schwerter sind schon nah" („Uz se blízí mece") heißt, mit dem Untertitel „Zu den Wurzeln der Inspiration von Franz Kafka" („K prameni inspirace Franze Kafky"). In ihm beschäftigt er sich mit dem Problem, das man als Bürger-Künstler-Verhältnis bei Kafka bezeichnen könnte, vor allem anhand der Briefe an Feiice und teilweise auch an Milena. „Das ganze Leben Kafkas oszillierte, sozusagen, zwischen zwei Ängsten: zwischen der Angst vor Einsamkeit und der Angst vor Intimität, die seine Welt zerstören könnte, die ihm das Schreiben unmöglich machen könnte." 4 Das ist eigentlich der Kerngedanke der Abhandlung und auch des obengenannten Stückes. 5 In den Stücken Klimas kann man eine allgemeine Tendenz beobachten: Das Interesse für die Tagesprobleme geht allmählich zurück, demgegenüber wächst das Interesse für den Einzelnen und sein Inneres. Das ist aber 4

3

Ivan Klima: Uz se blízí mece. In: Ivan Klima: Uz se blízí mece. Eseje, fejetony, rozhovory. Praha, 1990. S. 99. Ausführlich untersucht Klima die Widerspiegelung der Verlobung mit Feiice in Kafkas Schriften und analysiert, von diesem Standpunkt aus, vor allem die Novellen „In der Strafkolonie" und „Die Verwandlung" und den Roman „Der Prozeß". „Das Schloß" wird dann vor allem im Zusammenhang mit Milena erörtert.

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fast paradigmatisch und spiegelt die Entwicklung im Lande. (Am Rande nur sei erwähnt, daß Ivan Klima zusammen mit Pavel Kohout eine von mehreren tschechischen Bühnenadaptionen des Romans „Amerika" geschrieben hat.) Kafka ist Klimas Lieblingsschriftsteller, und mit seiner Wirkung ist man auch in seinem umfangreichen Prosawerk konfrontiert. Das kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden, doch möchte ich in diesem Zusammenhang an die in mancher Hinsicht autobiographische Erzählung „Die Geschichte des Landvermessers" („Zemèmëricskà povidka") aus dem Sammelband „Meine goldenen Handwerke" („Moje zlatá femesla") aus dem Jahre 1988 aufmerksam machen. Man findet in ihr auch viele andere Topoi, die für Kafka von Bedeutung sind, nicht nur einen Landvermesser. In der Sache Franz Kafka engagierte sich Klima noch mehrmals. Insbesondere denke ich an seine Teilnahme an einem Kafka-Festival 1989, von dem ich noch sprechen werde. Hier sei, wenn ich das Thema Landvermesser angeschnitten habe, ein kleiner Exkurs erlaubt. Es wird erzählt, daß Vaclav Havel mit seinem Freund, dem jetzt berühmten Filmregisseur Milos Forman, einmal, um 1960, Zürau (Sirem) besuchte, auf den Spuren Kafkas. Sie hatten dort eine Idee zu einem Film von einem Landvermesser, der nach Zürau kommt, um den Aufbau eines Kafkalandes (analog zu Disneyland) vorzubereiten. Seine Bemühungen scheitern allerdings am Widerstand der Lokalbehörden. Die Handlung des Romans „Das Schloß" sollte sich beim Aufbau einer touristischen Attraktion wiederholen. Später gaben sie die Idee auf. 6

IV. In den sechziger Jahren wurde Kafka in Prag zweimal gespielt. Im Jahre 1965 „Das Schloß", in der Dramatisierung Max Brods im damaligen S. K. Neumann-Theater, und ein Jahr später „Der Prozeß" im Theater am Geländer, in der Dramatisierung Jan Grossmans, die zu den Höhepunkten des damaligen Theaterlebens gehörte. Auf seine Aufgabe bereitete sich Grossman lange vor. Im Jahre 1964 veröffentlichte er in einer Kafka gewidmeten Nummer der Monatsschrift „Theater" einen umfangreichen Essay zum Thema „Kafka und die Bühnen" („Kafkova divadelnost"), in dem er sich u. a. mit André Gide, Barrault und Orson Welles auseinan6

Eda Kriseová: Vaclav Havel — zivotopis. Brno, 1991. S. 15 f.

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dersetzte. Die Schwäche der Dramatisierung Gide—Barrault sah er darin, daß sie ein heroisches Drama nach Kafka sein wollte. Grossman demgegenüber behauptete, daß die Dramatisierung des Romans „Der Prozeß" die Absurdität hervorheben sollte. „Aber Der Prozeß kann nur ein absurdes Drama sein" 7 . K. wird als ein Opfer der Absurdität betrachtet, zugleich aber als jemand, der diese Absurdität mitgestaltet. Weiter betonte Grossman die Vielschichtigkeit der Texte Kafkas auf der einen Seite und ihre fast pedantische Sachlichkeit auf der anderen Seite. Nach dem Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes im August 1968 hat sich vieles geändert. Die siebziger Jahre kann man global als die Jahre der Grabesstille auf dem Gebiet der Kultur bezeichnen, und das gilt natürlich sowohl für Franz Kafka, für ihn insbesondere, als auch für das Theater. In den achtziger Jahren kommt es allerdings allmählich zu einer gewissen Bewegung, einer gewissen Lockerung. Und eine große Rolle spielen dabei wieder, wie in der Zeit um 1960, die kleineren und kleinsten Bühnen. Die Geschichte wiederholt sich, zugleich aber wiederholt sie sich nicht. Der Schwerpunkt verlagert sich, zumindest teilweise, in die Provinz, wo der Druck der Behörden nicht immer so stark war wie in der Hauptstadt. Das war aber manchmal nur relativ. Und es handelte sich nicht nur um professionelle und halbprofessionelle Ensembles, sondern auch um zahlreiche hervorragende Laienensembles — hier war der Druck am schwächsten. Bei den kleinen Theatern tolerierte man manchmal das, was anderswo verboten war. Die Zensur war differenziert. (Es gab z. B. Schauspieler oder Ensembles, die zwar auf der Bühne auftreten durften, nicht aber im Fernsehen, usw.). Und in dieser Atmosphäre spielte Franz Kafka wieder seine Rolle. Seit Mitte der achtziger Jahre mehren sich die Aufführungen der Bühnenadaptionen seiner Werke und im Frühling 1989 war es so weit, sechs Monate vor der „sanften" Revolution, noch unter dem alten Regime, daß man in Prag ein Kafka-Festival veranstaltete, in einem Jugendklub, an dem sich mit 8 Aufführungen insgesamt 7 Ensembles beteiligten: 4 Ensembles aus Böhmen und Mähren, eines aus der Slowakei, und als Gäste ein polnisches und ein japanisches Ensemble. Dieses Festival fand vom 18. bis zum 27. 5. 1989 im Junior-Klub „Na Chmelnici" in Prag statt. Es wurden folgende Stücke aufgeführt: 1) „Die Veränderung" (sie!, statt „Die Verwandlung", tschechisch „Preména" statt „Promëna"), Regie: Petr Lébl, Ensemble Jelo. 7

Jan Grossman: Kafkova divadelnost. Divadlo, 1964, 11. S. 17.

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2) „Sängerin Josefine und ihre Brüder" (sie!, tschechisch „Zpévacka Josefina a její bratrx"), Text: Petr Lébl und Jana Novotná, Regie: Petr Lébl, Ensemble Jelo. 3) „Amerika", Text und Regie: J. A. Pitinsky und Petr Osolsobë, Laienensemble aus Brünn. 4) „Die Verwandlung", Text und Regie: Arnost Goldflam, Theater 77 (Teatr 77) aus Lodz in Polen. 5) „Amerika", Text: Zdenék Horínek, Regie: Jan Schmid, Studio Ypsilon (ursprünglich Reichenberg, später Prag). 6) „Der Prozeß", Text und Regie: Arnost Goldflam, Hadivadlo (Hanakisches Theater) aus Brünn. 7) „Darüber, wie der Herr Gregor Samsa einmal in seinem Bett erwachte und sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt fand", Text und Regie: Jozef Bednárik, Theater Zelenec aus der Slowakei. 8) „Eine Montage aus den Briefen", Text und Regie: Shigeyuki Toshima, Molecular Theater aus Japan. Auf das Festival folgte dann ein Podiumsgespräch, an dem sich u. a. der Dramatiker Ivan Klima, der Regisseur und Dramatiker Arnost Goldflam, der Kritiker und Dramaturg Zdenëk Horínek und der Kafka-Forscher Frantisek Kautman beteiligten. Jetzt noch einige Anmerkungen zu den einzelnen Aufführungen. „Der Prozeß" (Laienensemble Brünn) wurde mit dem „Prozeß" im Theater am Geländer verglichen, der schon erwähnt wurde. Die Brünner Inszenierung bemühte sich um mehr Objektivität (bei Grossman wurde alles eher vom Standpunkt des Josef K. gesehen) — es ging um keinen Kampf gegen ein totalitäres System oder gegen eine metaphysische Instanz. Die Schuld von Josef K. wurde gesucht im Zusammenhang mit seiner Verantwortung gegenüber sich selbst. Die zwei Amerika-Aufführungen waren sehr kontrastiv. Die Brünner Aufführung (Hadivadlo) betonte die Entfremdung, die Tragik der Welt, in der man kaum miteinander kommunizieren kann, auch das Oklahoma Theater scheint ein großer Schwindel zu sein. Für die Prager (Theater Ypsilon) ist das alles eine Groteske und Komödie. Alle drei Inszenierungen der „Verwandlung" hatten etwas Gemeinsames, und zwar: Gregor Samsa war, in ihrer Auffassung, der einzige normale Mensch in einer absurden Welt. Die meisten Autoren der Texte und die Regisseure sind sehr jung, es ist eine Generation, die die sechziger Jahre nicht erlebte. Es geht ihnen nicht um Ideologisierung, für die meisten ist Kafka ein realistischer Autor.

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Einer von ihnen, Jan Borna, drückte es in dem erwähnten Podiumsgespräch folgendermaßen aus: „Es wurde hier gesagt, daß die jüngere Generation Kafka nicht kennt. Ich gehöre zu dieser Generation und ich glaube, daß das nicht stimmt. In der Zeit, in der einige Sachen tabuisiert werden, wächst die Sehnsucht nach ihnen — verbotene Früchte schmecken am besten. Kafka lebte mit unserer Generation sehr intensiv, seine Bücher hatten für uns einen besonderen Reiz — wir mußten sie schnell, die Nacht über, lesen. Unsere Perspektive ist aber anders als die Perspektive der älteren Generation. Als ich Kafka zum ersten Mal las, hatte ich überhaupt nicht den Eindruck, daß er eine absurde Welt schildert. Für mich schrieb er von einem System, in dem ich lebte. Deshalb ist er für mich ein realistischer Autor." 8

V. Am 11. Februar 1991, fast anderthalb Jahre nach der Wende, hatte in Brünn ein Stück Premiere, das mir sehr bezeichnend zu sein scheint für die sich allmählich ändernde Stimmung. Der Titel lautet „Wunsch, Indianer zu werden". Der Verfasser heißt J. A. Pitinsky, der auch Regie führte; als Dramaturg war ein Germanist, Vaclav Cejpek, tätig. Es handelt sich um keinen einheitlichen Text, eigentlich eher um eine Collage, allerdings mit einer Handlungslinie: Es beginnt mit einem Gespräch zwischen Franzi und Maxi über die Verbrennung der Manuskripte (nach dem Tode Kafkas) und endet im Sanatorium in Kierling. Der Untertitel lautet: „Brüche, Züge und Abweichungen aus Texten von Franz Kafka, Milena Jesenská, Dora Diamant, Max Brod, R. M. Rilke, Martin Buber, Paul Celan, Alan Bennet, Ivan Klima, Franz Werfel und aus der Bibel." Es spielten die Studenten der Kunstakademie in Brünn, also die künftigen Schauspieler und Regisseure. Ursprünglich hatten sie vor, das Stück „Franz und Feiice" von Ivan Klima aufzuführen, dann aber beauftragten sie J. A. Pitinsky, einen neuen Text für sie zu schreiben. Alles beginnt zwar mit der berühmten Todesfuge von Celan, dann aber dominiert die Groteske und schwarzer Humor, einige Szenen könnte man mit Recht als Clowniaden bezeichnen. Franz Kafka ist in zwei Gestalten geteilt, die von zwei Schauspielern dargestellt werden: Franz Kafka, der, schwarz gekleidet, alles nur beobachtet, und Franzi, der sich an dem 8

Kafka 89. In: Svêt a divadlo (Zeitschrift „Welt und Theater"), 1, 1990. S. 62.

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Karussell beteiligt. Maxi (Max Brod), halbnackt und oben ohne, springt herum und klettert auf den Kulissen wie ein Clown. Die vorletzte Szene spielt in Kierling, Franzi und Dora jonglieren u. a. mit einer Apfelsine und streiten darüber, wer sie mehr braucht. Die letzte Szene: Aus einem Lautsprecher hört man den Text, der im Titel steht („Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde [.·•]")> dabei tanzen und schreien einige kostümierte Indianer; dann erscheinen, langsam aus dem Orchesterraum auftauchend, zwei indianische Häuptlinge, die beide Friedenspfeifen rauchen, und dabei ertönt die populäre Melodie aus dem Karl-May-Film ,Der Schatz im Silbersee', eigentlich das Motiv von Winnetou. Eine der Inspirationsquellen des Verfassers war vielleicht die Groteske über Kafka und Brod von Alan Bennet („Kafkas Rute"), die auf tschechisch im Herbst 1990 erschien 9 , in der ersten Nummer der tschechischen Mutation der Zeitschrift „Lettre Internationale" — diese Nummer war zum Teil Franz Kafka gewidmet. Das, was ich eben beschrieben habe, scheint mir jedoch symptomatisch. So etwas wäre vor der Wende kaum denkbar gewesen. Franz Kafka war damals ein Mitstreiter, ein Märtyrer — jetzt kommt es zu Entheroisierung, im Stile des Postmodernismus.

VI. Während Franz Kafka in den sechziger Jahren eher ein Objekt ideologischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen war, ändert sich die Lage nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahre 1968. In den siebziger und achtziger Jahren ist er ein Mitstreiter der Dissidenten, in der Samisdat-Literatur spielt er eine bedeutende Rolle. Der Schriftsteller Karel Pecka formulierte es in dem „Brief an Josef K.": „Weil wir, sehr geehrter Herr Josef K., den Prozeß gewinnen müssen. Vielleicht endet einer von uns, ähnlich wie Sie, in einem Steinbruch in Strahov. Aber kein anderer kann ihn gewinnen, und wir müssen ihn gewinnen [,..]" 10 . 9

10

Diese Komödie Bennets wurde im Januar 1993 im Theater am Geländer in der Regie von Jan Grossman aufgeführt. Es war seine letzte Auseinandersetzung mit Kafka, kurz danach ist er gestorben. Karel Pecka: Dopis Josefu K. (1981). In: Kriticky sbornik 1984 (Selbstverlag), S. 91.

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In den achtziger Jahren wächst das Interesse für Kafka bei den jungen Theaterschaffenden, und das Kafka-Festival im Frühling 1989, sechs Monate vor der Wende, als das Regime schon geschwächt war, hatte für jene Zeit, in mancher Hinsicht, eine ähnliche Bedeutung wie die LibliceKonferenz für die sechziger Jahre. Eine Frage aber drängt sich heute auf: Wie wird es weitergehen? Die meisten Theater bei uns sind jetzt leer und Kafka gehört nicht mehr zu den verbotenen Früchten. Er wird auch heute gespielt, fast zu viel, die Gründe sind jedoch andere. Zur Zeit werden in Prag auf mehreren Bühnen, meistens kleineren, Kafka-Adaptionen aufgeführt: „In der Strafkolonie", „Das Schloß", „Amerika", „Der Bau". Das letztgenannte Stück wird im neugegründeten „Franz-Kafka-Theater" gespielt, das auch ein Stück über Franz Kafka mit dem Titel „Franz Kafka stammt aus Prag" im Repertoire hat (man spielt auch auf deutsch und englisch). Das Theater „Imaginace" („Imagination") bietet den Zuschauern unter dem Titel „Causa Franz Kafka" eine Komposition zum Thema Franz Kafka (mit Tanz und Musik). Ende September und Anfang November 1992 fanden in Prag, im Rahmen des Festivals Prager Herbst, Kafka-Festtage statt, an denen sich einige kleinere Bühnen aus Prag und Brünn und auch einige Gäste aus dem Ausland beteiligten. In Brünn führt derzeit das Hanakische Theater (Hadivadlo) zwei Dramatisierungen der Werke Kafkas auf: „Den Prozeß" und „Das Urteil". Eines ist klar. Die Gefahr der Kommerzialisierung ist da. Franz Kafka wird, zusammen mit Mozart, erfolgreich vermarktet, aus dem Zentrum von Prag wird langsam ein Kafkaland. Das, was Václav Havel und Milos Forman in Zürau lediglich planten, ist unter den Bedingungen der Marktwirtschaft Wirklichkeit geworden. Wir müssen nur hoffen, daß diese Kommerzialisierung nur vorübergehend ist und daß sie, und das ist die Hauptsache, nicht die einzige Weise der Kafka-Rezeption bei uns (einschließlich der Bühnen) bleibt.

Frantisek

Kaufmann

Franz Kafka in den Werken der modernen tschechischen Prosa

Die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts brachten in der Tschechoslowakei die Belebung des Interesses für das Werk von Franz Kafka. Nach dem August 1968, wo auch die im Jahr 1963 in Liblice stattgefundene Konferenz über Kafka als eine der Ideenquellen der Konterrevolution im Lande bezeichnet wurde, erschien Kafka schon zum dritten Mal in der Geschichte der Tschechoslowakei auf dem Index; seine Werke durften nicht herausgegeben werden, es wurde verboten über ihn zu schreiben, und sein Werk wurde aus öffentlichen Bibliotheken weggeschafft. All das hatte zur Folge, daß im Gegensatz dazu die jungen Leute anfingen, sich für Kafka zu interessieren, sie suchten nach seinem Werk und lasen es bei Nacht als „verbotene Früchte" mit großer Begierde. Die sogenannte „Normalisierungsperiode", welche nach der Invasion im August 1968 folgte (1970—1989), hatte mit der Atmosphäre der Werke von Kafka manches gemeinsam — die gesellschaftliche Wirklichkeit verwandelte sich in Kafkas Welt der Phantome, welche durch eine unzugängliche, undurchsichtige, geheimnisvolle Macht beherrscht war, der sich der gewöhnliche Bürger kaum annähern, geschweige denn daß er mit ihr in Dialog treten oder sich gegen sie erheben konnte. Die „Normalisierung" hatte ihre Etappen, in welchen das geistige Klima der unterdrückten Gesellschaft nicht gleich war. Ohne Zweifel die schwierigste, schwülste und auswegloseste Etappe war der Anfang der siebziger Jahre, welcher von der Verbrennung Jan Palachs als Symbol einer lange andauernden und undurchdringlichen Dunkelheit, die sich über dem ganzen Land niedergestreckt hatte, gekennzeichnet wurde. Nach dem geistigen Genozid der Intelligenz in den Anfangen der Normalisierung, von dem auch der vorwiegende Teil der besten tschechischen Schriftsteller betroffen wurde, kam es praktisch zum Ausschluß derjenigen Werke aus der tschechischen Literatur, welche die gesellschaftlichen Probleme schöpferisch oder kritisch behandelten oder neue Arten der künstlerischen Form suchten. Ein Teil der Schriftsteller verstummte,

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einige von ihnen völlig und endgültig, ein anderer Teil ging ins Exil, manche zogen sich in den Untergrund zurück. Erst später fanden sie das Ventil für den Überdruck ihrer schwierigen Lage in der sogenannten Samisdatproduktion. Die unbezwinglichen Schöpfer schrieben auch unter diesen Bedingungen. Sie wurden jedoch von denselben Bedingungen unauslöschbar gekennzeichnet, und das Gefühl der Ausweglosigkeit aus der Absurdität der menschlichen Existenz, welches dem Gefühl Kafkas sehr ähnlich war, erfuhren sie auch in dem Fall, wo ihr eigenes Naturell und ihre Schöpfungsprinzipien bisher von denen Kafkas beträchtlich entfernt waren. Ich habe fünf verschiedene Werke verschiedener Autorentypen, verschiedener Generationen und verschiedener Lebensschicksale sowie auch verschiedener weltanschaulichen Orientierungen gewählt, um an ihen zu demonstrieren, wie die Autoren in einer bestimmten Situation den Einfluß Kafkas absorbiert und transformiert haben, dem sie in der gegebenen Lage wahrscheinlich nicht widerstehen konnten, auch wenn sie sich darum absichtlich bemüht hätten. Ludvík, Vaculik (geb. 1926) lebt im Bewußtsein unserer sowie auch der Weltöffentlichkeit vor allem als Meister des Feuilletons, brillanter Publizist der nonkonformen, scharf formulierten Anschauungen einzigartigen Stils und spezifischen Humors. Als Prosaiker wurde er durch seinen Roman „Sekera" (Die Hacke, 1966) erfolgreich und später im Samisdat durch seine originelle Chronik der geistigen Atmosphäre des tschechischen Dissents „Cesky snár" (Das tschechische Traumbuch, 1980). Seine Schöpfungsprinzipien sowie auch seine Weltanschauung sind von Kafka sehr weit entfernt. Trotzdem zeigt sein Roman „ M o r c ä t a " (Meerschweine), welcher am Anfang der 20 Jahre dauernden Normalisierung im Jahr 1973 herausgegeben wurde, offensichtliche Spuren des Einflusses Kafkas auf. Die Familie eines Prager Bankbeamten besorgt sich Meerschweine und beobachtet ausführlich ihr Benehmen. Meerschweine bleiben Meerschweine, Menschen bleiben Menschen, hier erinnert uns nichts an Kafka. Das Benehmen der Meerschweine hat jedoch eine „menschliche Dimension" (die beobachtenden Menschen tragen diese in das Benehmen der Meerschweine hinein). Welche sind die Grenzen der Freiheit? Ob menschliche oder tierische, das ist hier nicht die Frage — und das ist schon der Blick Kafkas: Auch der in einen Käfer verwandelte Gregor Samsa („Die Verwandlung") der Affe Rotpeter („Bericht für eine Akademie"), der forschende Hund („Forschungen eines Hundes"), das rätselhafte Nagetier, welches seinen Bau baut und behütet („Der Bau") oder die Maussängerin

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Josephine („Josephine, die Sängerin") zeigen die Bedrohung des Individuums und seines Kommunikationsvermögens. Das Meerschwein ist passiv, fühlt sich sicher nur in einem beschränkten Raum, schon das Aufmachen des Käfigs empfindet es als Bedrohung. Die beobachtende Familie bemüht sich, in ihm Aktivität zu erwecken, jedoch mit geringem Erfolg: Das Meerschwein empfindet die Passivität als Sicherheit. Dies ist auch das Problem des Benehmens von Joseph K . im „Prozeß". Alle Fürsprecher von Joseph K. mahnen ihn, daß er sich ruhig und bescheiden benehmen und das Aufsehen und Mißbehagen des Gerichts nicht unnötig erregen soll. Das Gericht ist eine irrationale, unzugängliche Quelle der „Bedrohung". Und da es unzugänglich ist, kann es auch nicht abgeschafft werden. Der Landmesser K . im „Schloß" verfährt umgekehrt: Seine sämtlichen Handlungen im Dorf sind eine Provokation der irrationalen Schloßmacht. Und diese Provokation muß mit dem Scheitern enden, so wie mit ihr auch die Erhebung von Amalia Barnabas geendet hat. Die „Meerschweine" kann man als Aufruf an Gott, als Suche nach dem nicht Geoffenbarten lesen — und das ist auch das Problem von Kafkas „Schloß". Gleichzeitig sind die „Meerschweine" auch Symbol der abtötenden Passivität der „Normalisierung". Vielleicht noch nie vorher in seiner Geschichte hat das tschechische Volk so leicht, fast ohne Widerstand, den Rücken gebeugt und sich der Macht unterworfen, die ihm den Ausgangspunkt in der Verneinung der realen Wirklichkeit angeboten hat. Seit August 1968 verfiel die vorher belebte und aktive Gesellschaft in Passivität und Saumseligkeit. Sie hat sich an sie gewöhnt und sie zur N o r m erhoben. Als Vaculik seine „Meerschweine" schrieb, konnte er noch nicht wissen, welches E,nde die „Normalisierung" haben wird. Aber die „Passivität", das Aufräumen der Positionen, das Sich-Zurückziehen in Schneckenhäuser und Käfige sah er in seiner Umgebung sehr genau. Das ist jene irreale Komponente der Geschichte Vaculiks — die Betrachtungen des Hauptprotagonisten über die drohende Krise und seine Berechnungen des rätselhaften Geldumlaufs. Das ist der Konflikt des Protagonisten mit einem unbekannten Mann in einem verlassenen Häuschen unter dem Viadukt. Der Eingriff des Irrealen in die Realität (der Leser kann ihn in der Regel kaum bemerken) ist für Kafka typisch. Dies ist nicht nur ein formaler Z u g , das Leben ist vom Irrealen durchdrungen, und die Realität hat unzählbare irreale Komponenten. Auch die Geschichte Vaculiks, ähnlich wie die Geschichte Kafkas, spielt sich in einer konkreten Szenerie ab, die darin sich abspielenden Handlungen wachsen jedoch über diese hinaus.

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Bohumil Hrabal (geb. 1914), der originellste lebende tschechische Schriftsteller, meldete sich zu seinem Landsmann Franz Kafka sogar einmal programmatisch. Kafkas Einfluß läßt sich jedoch in seinem Werk nicht leicht auffinden, und zwar vor allem deshalb, weil dieser nicht der ein2ige und vorwiegende ist, sondern er koexistiert parallel mit gleich starkem Einfluß von J. Hasek, den Surrealisten, L. Klima, R. Weiner, Dostojewski, T. S. Eliot, L. Céline, W. Faulkner. Die Aufzählung der Autoren, welche Hrabal ihr Zeichen fatal aufgeprägt haben, könnte noch länger fortgesetzt werden. Außerdem handelt es sich in allen Fällen um einen durch eigene schöpferische Invention Hrabals vollkommen umgeschmolzenen und amalgamierten Einfluß. „Pfilis hlucná samota" („Allzulärmende Einsamkeit"), ein Text aus dem Jahre 1976, welchem drei Varianten (davon eine in Versen) vorangingen, ist dem Einfluß Kafkas nicht stärker als andere Texte Hrabals ausgesetzt, besonders diejenigen aus den siebziger Jahren („Obsluhoval jsem anglického krále" — Ich bediente den englischen König, „Mëstecko, kde se zastavil cas" — Ein Städtchen, wo die Zeit stehengeblieben ist, „Nëzny barbar" — Ein zartfühlender Barbar) u. a. Wenn in dieser Schöpfungsperiode Hrabal mit gestärkter Intensität wirkte, könnte das, ähnlich wie im Falle der „Meerschweine" von Vaculik und der „Passage" von Pecka, durch die Atmosphäre der „Normalisierungsperiode" verursacht worden sein, in welcher die an Kafka erinnernde Absurdität mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschmolzen war. Es scheint, daß gerade in dieser Zeit Hrabal über Kafka intensiv nachdenkt. Das Gedicht „Adagio lamentoso", die Variante aus dem Jahr 1976, wurde einen Monat vor „Allzulärmende Einsamkeit" niedergeschrieben und dem „Andenken von Franz Kafka" gewidmet. In seinem Text, welcher mit Hilfe der Montage verschiedener geschriebenen und gesprochenen Ansprachen, wie diese die Dadaisten und Kurt Schwitters angewandt hatten, zusammengestellt ist, läßt sich der direkte Einfluß von Kafka nicht bestimmen. In „Allzulärmende Einsamkeit" tritt dieser schon deutlicher hervor. Bereits die allgemein existentielle Frage des einsamen Angestellten einer Einkaufstelle der Abfallstoffe Hanta, der sein ganzes Leben hindurch in einem Untergrundraum das Altpapier preßt, deutet manches an. Hañías Kommunikation mit der Gesellschaft ist minimal — umso stärker ist jedoch die unaufhörliche Gedankenströmung zwischen der inneren Welt Hañías und den Büchern der weltberühmten Philosophen und Schriftsteller, die er liest, bevor er sie in den Paketen des Altpapiers zusammenpreßt. In der „Zu lärmvollen Einschichte" beschreibt Hrabal die Zeit, in welcher die Bücher der weltberühmten Denker in die Stampfmühle geworfen wurden,

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während die wertlose Makulatur des Regimes in immer neuen Ausgaben erschien und die Professoren der Philosophie und Soziologie als Nachtwächter, Heizer und Deratisatoren arbeiteten. Hañía ist „in das Grenzgebiet zwischen der Zeitlichkeit und Ewigkeit" situiert, wohin er immer transzendiert. Er wird vom dauerhaften Schuldgefühl verfolgt („Ich fühlte mich schuldig, was immer irgendwo passierte, wovon ich je in Zeitungen las, all dessen fühlte ich mich schuldig [·-•]"), Die allzulärmende Einsamkeit, 1989, S. 36), welches nicht nur für die Figuren der Werke Kafkas, sondern auch für Kafka selbst typisch ist. Wenn Hañía seine Haltung zum ewig zornigen Chef, der sich mit seiner „transzendenten", „metaphysischen" Haltung zur Arbeit nicht abzufinden weiß (der Chef sucht darin weder Poesie noch Philosophie, er hält diese einfach für Lässigkeit und Unergiebigkeit) formuliert, betont er wieder seine eigene Schuld und die Nachsicht des Chefs, ganz und gar im Geiste der Entschuldigungsbriefe von Kafka oder der selbstbeschuldigenden Monologe der Figuren der Werke Kafkas. Die Selbstbeschuldigung Hañías, welche auf den ersten Blick arglos zu sein scheint, ist jedoch von der an Schwejk erinnernden Ironie durchdrungen. Und gerade hier ist die Bedeutungsverschiebung der Texte Hrabals im Vergleich mit denen Kafkas ersichtlich. Die Existenz der Protagonisten Kafkas ist hoffnungslos geschlossen, auswegslos. Die Komponente der Absurdität ihrer Gespräche, Gedankenbetrachtungen, Handlungen, der Kommunikation mit der Umwelt ist das Komische. Hrabals Hañía sowie auch der Autor selbst sind nach der Weise des Dichters Halas „unglücklich glücklich": für beide ist die Welt absurd sinnleer, doch aber in ihrer Absurdität auch schön. Sie stellt den ewigen Kreislauf der Schönheit und des Elends, der Wertverwechslung und der Existenzhierarchie dar, in dem viel Tragisches, aber auch viel Vergnügliches beruht. Wie auch immer absurd, die Welt Hrabals ist nicht grau oder schwarz-weiß, sondern sehr bunt. Dieser Unterschied ist gut in der Szene illustriert, in der Hañía wahrscheinlich im Traum seine eigene Selbstvernichtung in dem Augenblick erlebt, in dem er feststellt, daß die Zeit seiner poetischen Beschäftigung von einer technisch modernisierten, kühlen, unmenschlichen Zeit abgelöst worden ist. Ähnlich wie in der Geschichte „Die Strafkolonie" von Kafka sich der alte Offizier, nachdem er die negative Haltung des neuen Kommandanten zur bisherigen Weise der Liquidation der Häftlinge festgestellt hat, entscheidet, die Exekution mit Hilfe des Mordinstruments an sich selbst durchzuführen, so stellt sich auch Hañía vor, wie er sich einwickelt

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und sich selbst in der hydraulischen Presse wie ein Paket Altpapier pressen läßt. Beim alten Offizier geht es um die Äußerung des Protestes, um eine Art der, wenn auch passiven, Revolte gegen die neue Ordnung. Bei Hañía handelt es sich vielmehr um melancholisches Erkennen, daß die alten Zeiten vorbei sind und ein Mensch aus alter Zeit sich der neuen Zeit nicht mit Gewalt anpassen kann. Das ist jedoch keine unverbesserliche Tragödie — die „ewige Wiederkunft" gleicht die Gegensätze aus, auch die neue Zeit wird einst alt, und eine andere neue Zeit stößt sie um. Denn die Philosophie Hañías ist der Ausgleich der Passivität des Taoismus und der Revolte der Botschaft Jesu, den das allbegreifende Lächeln des mit sich selbst versöhnten Menschen überwölbt. Karel Pecka (geb. 1928) trug in die moderne tschechische Literatur als einer der ersten die Erfahrung der kommunistischen Arbeitslager hinein, wo er 11 Jahre verbrachte. Die Lektüre Kafkas (zu der er schon als Häftling kam) hatte für ihn eine ein wenig andere Bedeutung als für die „freien" Menschen: Alle Figuren der Werke Kafkas leben unter der Bedrohung, unter dem Druck der unbekannten Macht, kommen sogar ums Leben. Sie werden jedoch nicht zu Zahlen oder Rädern eines monströsen Mechanismus, welcher aus ihnen die letzten Reste der verwertbaren Arbeitskraft herausschinden will, um sie dann wie ein unbrauchbares Ding auf den Kehrichthaufen zu werfen, wie dies in nazistischen und stalinistischen Straflagern die Regel war. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheinen die Untersuchung Joseph K.s von selten eines unbegreiflichen Gerichts oder die vergebliche Bemühung des Landmessers K., mit der Schloßmacht Kontakt anzuknüpfen, als ein Idyll. Das Gefängnis verhalf Pecka wahrscheinlich zu einem tieferen Verständnis für Kafka als bei seinen Altersgenossen. In den ersten Jahren der Normalisierung führte es ihn zur Enthüllung der Bedeutung all dessen, was sich in seinem Lande an der Wende sechziger und siebziger Jahre abspielte. Der Roman Ρ asᣠ(„Die Passage", geschrieben 1974, herausgegeben in Toronto 1976) beschreibt ein für Kafka typisches Labyrinth der modernen Gesellschaft, in der der Mensch sich selbst verliert und vergebens versucht, seine Persönlichkeit im Kreislauf der Machtwechsel zu identifizieren. Der Soziologe Antonin Tvrz ist von einem Menschengedränge in eine kompliziert gegliederte Passage im Stadtzentrum „eingesickert" (ohne Zweifel diente hier als Prototyp die Prager „Lucerna" — Laterne), um hier zuerst nach der Weise Kafkas zu irren und sich danach in ihr einzuwohnen. Hier lebt wieder das Irren Karl Rossmanns im Hotel „Occidental"

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auf („Der Verschollene"), sowie auch das leidensvolle Wandern Joseph K.s in geheimnisvollen Gebäuden des „Gerichts" („Prozeß"), aber wir spüren hier auch das Gewebe der Gänge des Baus des rätselhaften Nagetiers in der Geschichte Kafkas. Die Passage ist mit genauer Ausführlichkeit und Tüchtigkeit beschrieben, welche uns an Kafka, ja sogar an den „Nouveau roman" mahnt. Zugleich ist sie aber phantomartig, unwirklich und drohend wie die Traumszenerien der Werke Kafkas. Die bedeutungsvolle Rolle kommt hier verschiedenen Türhütern mit dem obersten Türhüter an deren Spitze zu, welcher allwissend und überall anwesend, zugleich aber unerreichbarer Geist dieses „Weltlabyrinths" und wahrscheinlich irgendein Gott ist. Auch die Redeweise der Türhüter mahnt uns an Kafka. Einer von ihnen, welcher Tvrz mit Türhütervielrederei ganz im Geiste Kafkas Informationen über den Haupttürhüter gibt, sagt: „Sie haben einfach geglaubt, als sich Ihnen der Mensch als Haupttürhüter vorgestellt hat. Sie haben jedoch keine Garantie, daß er wirklich das ist, wofür er sich ausgibt. Andererseits ist es aber nicht ausgeschlossen, daß in der Passage ein Haupttürhüter wirkt; es konnte mir eine kleine Reorganisation leicht entgehen, ich bin doch nicht allwissend. Sowieso, ich empfehle Ihnen noch eine Möglichkeit: Schauen Sie gleich da gegenüber nach dem Türhüter von Großem Saal. Das ist ein tüchtiger Arbeiter, auch viel jünger als ich, er konnte vielleicht etwas merken, was ich nicht zur Kenntnis genommen habe. Er hat einen viel breiteren Wirkungsbereich und verkehrt, mit Rücksicht auf seinen Einsatz, mit größerer Menschenmenge." (K. Pecka; Die Passage, tschech., Toronto, 1976. S. 73). Erkennen wir hier nicht, nebst anderen Texten Kafkas, die Redeweise der Erklärung des Türhüters aus der „Türhüterlegende", welche eine eingeschobene Sequenz in der Tempelszene im „Prozeß" bildet? Handelt es sich also um eine weitere Variante der Romane Kafkas? Nein. Kafka hat nur ein passendes Modell geschaffen, welches von Pecka für sein Bild der vom Totalitarismus angenagten Welt (nicht nur der kommunistischen) und für die ausgangslose Lage des in ihr verlorenen Menschen ausgezeichnet adaptiert wurde. Zum Abschluß ist Tvrz von den Revolutionären, die ihn für einen Konterrevolutionär halten, totgeschlagen, obwohl er niemals zu ihnen gehörte und in diesem Augenblick über den Parteien stand: „Und Tvrz ist gestorben ohne zu erkennen, zu welcher Partei seine Henker gehören." (Ebenda, S. 145.) Allerdings wußte auch Joseph K. nicht genau, warum er „wie ein Hund" untergeht und wen die Henker, die ihm im Steinbruch am Strahov die Gurgel abgeschnitten, vertreten. Die uns an Kafka erinnernde „Auswegslosigkeit" ist die Resonanz der Zeit und ist

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den „Meerschweinen" Vaculíks sowie auch der „Passage" von Pecka gemeinsam. Zehn Jahre nach der Verfassung der „Passage" von Pecka schreibt Jan Kamenicek (geb. 1955) seinen Roman „Dum" (Das Haus), welcher im Jahr 1990 erscheint. Kamenicek ist ein Angehöriger der Generation, die schon im „entwickelten" Totalitarismus geboren wurde. Sie kannte nie etwas anderes — die „brüderliche Hilfe" der sowjetischen Panzer registrierte sie in den Prager Straßen im Kindesalter. Die an Kafka mahnende „Normalisierung" erlebte sie dann ein ganzes Leben hindurch bis zum November 1989. Für die Angehörigen dieser Generation wurde Kafka verboten, und deshalb zog er sie besonders stark an. Sie stöberten nach seinen Büchern, lasen gegrabbelte Bände bei Nacht, als es ihnen gelungen war, diese für ein paar Tage auszuleihen. Am Anfang der siebziger Jahre zog eines Tages eine kleine Gruppe solcher Kafka-Leser über den Altstädter Ring zu Kafkas Geburtshaus unter einem Transparent mit der Anschrift „Wir wollen Kafka!". Die Gruppe wurde von der Polizei zerstreut, und diese nahm das Transparent in Beschlag. Kamenicek suchte seine eigene Sendung in der Literatur. Er schrieb Drehbücher für Hörspiele und Features über die Lebensschicksale der Musiker — es wurden jedoch nur wenige realisiert. Als Ausweg bot sich Samisdat an. Dies war aber nicht der Samisdat der renommierten Autoren der sechziger Jahre, welche in ihm „überwinterten". Für die Angehörigen der Generation Kameniceks konnte der Samisdat Anfang ebensogut wie Ende ihrer literarischen Laufbahn bedeuten. Die Geselligeren wählten den „Underground". Die Einsamen fanden Hilfe bei Kafka. Kamenicek verfaßte eine Reihe von Romanen, von denen nebst dem „Haus" auch „Die Entstehung des Romans in Form einer Sonate" erschien (1992). Die Problematik beider Romane ist dieselbe: Die gesellschaftliche Schizophrenie hat ihre Parallele in der schizophrenen Spaltung der Persönlichkeit. Kafka reagierte mit dem Schreiben auf seine eigene Neurose, und so nahm er die Atmosphäre der „normalen" Existenz des Menschen des 20. Jahrhunderts voraus. Auch Kamenicek reagiert offensichtlich auf seine Neurose. Er tut das jedoch in einer Gesellschaft, welche sich im fortgeschrittenen Stadium der Schizophrenie befindet. „Das Haus" ist eine Vertretungsgeschichte, die sich vor den abstrakten Traumkulissen abspielt. Sie ist die Weltminiatur, das verdichtete „Labyrinth" der modernen Menschheit. Die Menschen selbst haben sich in einer Falle eingeschlossen, in welche man eingehen, nicht aber aus ihr herausgehen kann. Sie werden von einer unbekannten Macht in Abhängigkeit gehalten (vgl. das rätselhafte Gericht im „Prozeß", der unerreichbare Graf West im „Schloß").

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Niemand hat die Macht noch einige ihrer kompetenten Vertreter je gesehen; der gewöhnliche Bürger kennt nur die niedrigsten Türhüter, Gerichtsdienstmänner oder Boten. Alle „Hausbewohner" bemühen sich das normale, gewöhnliche Leben zu leben. Gleichzeitig aber ordnen sie sich den sinnlosen Ritualen unter, zu denen sie das Machtorgan, der „Hausmeister" zwingt, vor welchem alle panische Angst haben. (In den Lebensschicksalen der gewöhnlichen Bürger der totalitären Länder spielten die Hausobhutsleute wirklich eine wichtige, manchmal auch fatale Rolle.) Das unversöhnte Individuum versucht vergebens mit der Außenwelt Verbindung anzuknüpfen. Diese ist aber unterbrochen, sie existiert nicht. Vielleicht gibt es auch keine Außenwelt mehr. Und wer ist jener allmächtige „Hausmeister"? Ein verstoßener Gott, Teufel oder eine Fiktion, ein Fetisch, den sich die Leute selbst gebildet haben, um sich dann vor ihm zu fürchten? Die Problematik erinnert evident an Kafka, sie wurde von Kafka mehrmals demonstriert und von selten der Kafkaforscher unzählige Male äußerst gegensätzlich interpretiert. Auch die Figuren des „Hauses" bewegen sich im Grenzgebiet zwischen ihrer biologischen Gebundenheit und dem Aufschwung zum Transzendenten (welches für Kamenicek durch Musik und Malerei symbolisiert ist — es wird hier an Kafkas Kunstinterpretation im „Prozeß" — der Maler Titorelli — oder in „Josephine, die Sängerin" erinnert); daraus folgt die fatale dichotomische Spaltung des zivilisierten und kulturellen Menschen. Der Einfluß Kafkas kommt im „Haus" von Kamenicek auch in der protokollarischen Beschreibungsweise der Szenerie und in der Wahrnehmung der Handlungen zum Vorschein sowie auch im Aufbau der Dialoge und im Durchdringen der Handlungsebenen des Traumes und der Realität, welche fließend ineinander verschwimmen. Es handelt sich jedoch nicht um eine Kopie von Kafka, sondern hier wird Kafka gelebt und erlebt. Einer der jungen Theaterregisseure hat das in der Diskussion zum Abschluß des Kafka-Theaterfestivals im Mai 1989 so ausgedrückt: Die Welt der Werke Kafkas war für uns keine Entdeckung, das ist doch die Realität unseres alltäglichen Lebens, die Welt, die uns umgibt. Abschließend wende ich mich Libuse Moníková (geb. 1945) und ihrem Roman „Die Fassade" zu, welcher von der Autorin, die schon seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt, auf deutsch verfaßt wurde. Sie steckt jedoch mit ihren Wurzeln tief in tschechischem Boden, und deshalb kann sie als eine tschechische, deutsch schreibende Autorin gelten.

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Ihr Roman entstand in anderem Milieu und in anderer Zeit als die bisher analysierten Werke, und deshalb ist der Einfluß Kafkas in ihm wesentlich anders spürbar als in jenen. Der erste Teil des Romans spielt sich in einem Landschloß in Böhmen ab, dessen Fassade eine Gruppe von Künstler-Restauratoren repariert. In der Erzählung von Moníková (die narrativen Ebenen werden hier mehrmals gewechselt) erscheint nichts Traumhaftes, Phantastisches oder Bedrängendes, und wenn hier doch so ein Motiv zum Vorschein kommt, handelt es sich in der Regel um Travestie, Mystifikation oder in Groteske mündende Ironie. Kafka ist hier als ein Bestandteil der tschechischen Kulturtradition anwesend, welcher in Gesprächen und im Plauschen der Maler untereinander und bei der Kommunikation mit der Außenwelt zusammen mit Leos Janácek, Κ. H. Mâcha, Bedrich Smetana, Alois Jirásek, J. E. Purkyné und M. D. Rettigová erwähnt wird. An diese Tradition wird auch durch eine Kollektion von Ansichtskarten erinnert, auf welchen die von den Touristen bewunderten architektonischen Sehenswürdigkeiten Prags dargestellt sind, wie das Stift von Strahov, Palais Lobkowicz, Barockpaläste der Prager Kleinseite und Architektur des Altstädter Rings einschließlich der Teinkirche, aus der in die Nebengasse das Fenster führt, „durch das Kafka als Kind vom Hausflur hineinlugte und das sich nicht ausmachen läßt" (Die Fassade, Büchergilde Gutenberg, 1989, S. 195). Das Leben der Maler im Schloß bringt nicht viel Bedrängendes mit sich. Im Gegenteil, alle unterhalten sich gut, sie verbringen die Zeit in unendlichen Debatten, welche zeitweise mit ironischen Anekdoten nach dem traditionellen Vorbild von Jaroslav HaSek gewürzt werden, und es geht ihnen offensichtlich in erster Linie darum, wie sie diese Lebensweise am längsten genießen könnten. Sie sollen auch die alten, auf der Fassade befindlichen Sgraffiti restaurieren. Sie zerbrechen sich jedoch nicht zuviel ihre Köpfe über die richtige Chronologie. Im Gegenteil, zeitweise treiben sie auch regelrechten Schabernack: So entscheidet sich der Maler Podol, auf der Fassade die Skizzen zu Kafkas „Prozeß" zu plazieren: „Ich hätte nie gedacht, daß Kafka für eine Comic-Strip etwas hergeben könnte. ,Der Prozeß' ist die beste Vorlage, die man sich dafür denken kann" (ebenda, S. 205). Auf ähnliche Weise dringt in den Roman von Moníková auch Dostojewski ein. Jedoch wieder nicht als Kafkas Vorgänger im Sondieren der existentiellen Fragen des Menschen, sondern als lebendige Materie und lebende Figur, welche in die Alltäglichkeit der Protagonisten der „Fassade" eintritt. Häufige Hinweise auf „Das Totenhaus" haben ihre logische Er-

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klärung: Der zweite Teil des Romans spielt sich in Sibirien in SowjetRußland ab. Der Roman von Moníková ist ein „Kamevalsroman" (M. Bachtin) aus der Gattung der Satiren von Mennipos und des gattungsbegründenden Werkes „Gargantua und Pantagruel" von Rabelais. Er ist von der Lust am Fabulieren nicht weniger durchdrungen als „Der brave Soldat Schwejk" von Hasek oder die fiktiven Geschichten von Bohumil Hrabal. Auch Kafka ist hier, ähnlich wie in einigen zeitgenössischen Theateraufführungen seiner Werke, vielmehr in eine humoristisch-komische Lage verschoben. Zeitweise ist es ein „schwarzer" Humor, aber immer mit Akzent auf dem Wort Humor. Dadurch unterscheidet sich der Einfluß Kafkas bei Moníková wesentlich von der Art und Weise, wie er bei Vaculik, Pecka und Kamenicek erschien. Kein Wunder! Moníková schreibt ihren, unter dem Totalitarismus in der Tschechoslowakei und in Sowjet-Rußland sich abspielenden Roman in einer Zeit, in der das alles für sie schon eine entfernte Erinnerung war. In der Erinnerung bekommt nämlich auch die bedrängende Wirklichkeit weichere Züge. Das Angenehme tritt hervor, das Abscheuliche und Drohende rückt in den Hintergrund, ja es gerät sogar in Vergessenheit. Allerdings konnte man am Ende der achtziger Jahre auch schon im alten Heimatland von Libuse Moníková bessere Zeiten spüren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es in Böhmen kaum einen Schriftsteller, der sich dem Einfluß Kafkas entziehen konnte. (Die „offiziellen" Autoren, die für das Regime schrieben mit dem Ziel von ihm lukrative Honorare, Ehren und Titel zu bekommen, lassen wir selbstverständlich beiseite.) Die Intensität und Art des Erlebens und der Umbildung dieses Einflusses war freilich verschieden und hing von den Intentionen und Herangehensweisen eines jeden Schriftstellers ab, der diesem Einfluß ausgesetzt wurde.

Ernst Pawel Franz Kafka in Havels Prag

Franz Kafka starb 1924, ein unbekannter Schriftsteller, auch in seiner Geburtsstadt Prag. Sein posthumer Aufstieg zum Ruhm ist ein ironisches Postskriptum zu einem vom Paradox bestimmten Leben. Er ist inzwischen als eine der authentischen Stimmen dieses Jahrhunderts anerkannt und zum Symbol der Entfremdung geworden, ein weltlicher Heiliger, der auf der Leinwand von Jeremy Irons verkörpert wurde, was als endgültige Apotheose angesehen werden kann. Während der Rest der Welt ihn entdeckte, verlieh ihm seine Vaterstadt Prag einen Ritterschlag eigener Art: sie ignorierte ihn. Während der Jahre der kommunistischen Herrschaft — mit Ausnahme des kurzen Experiments eines Sozialismus mit menschlichem Angesicht Ende der sechziger Jahre — war Kafka eine Unperson; seine Bücher waren verbannt. Nichts von alledem hätte den Autor überrascht, der wollte, daß Bücher „die Axt für das gefrorene Meer in uns" seien. Die Idole auf tönernen Füßen fürchteten diese Axt — und mit Recht. Während ihr sozialistischer Realismus mit utopischen Phantasien liebäugelte, waren Kafkas Phantasien Realismus in seiner härtesten und subversivsten Art. Die technokratische Folter in der „Strafkolonie" hatte Tausende von Abkömmlingen in der Wirklichkeit, und nichts konnte die alltägliche Realität des kommunistischen Terrors besser treffen als der berühmte Eingangssatz des Romans „Der Prozeß": „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Aber der Sohn Prags ist nun doch dabei, seine Schuldigkeit zu tun. Tschechische Übersetzungen seiner Werke erscheinen nun rasch, und eine gerade gegründete Kafka-Gesellschaft beabsichtigt anscheinend, ihren Schutzpatron zu einer der größten Touristen-Attraktionen zu machen. Das Ergebnis ist zunächst eine Schwemme von Kafka-Kitsch; der schlechte Geschmack ist jetzt nicht mehr Monopol des Staates. T-Shirts, Becher und Hüte mit seinem Porträt sind nicht gerade der Traum eines Schriftstellers von Unsterblichkeit. Doch dieser Autor hatte ausgesprochenen Sinn für Humor; man kann sicher sein, daß er gelächelt hätte, wenn er die fliegenden

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Händler auf der Karlsbrücke gesehen hätte. Sein Lächeln wäre nicht unähnlich dem des Stückeschreiber-Präsidenten auf der Prager Burg, wenn er seine offiziellen Funktionen erfüllt: zurückhaltend, schüchtern, wissend. Tatsache ist, daß durch die 50 Jahre hindurch — von 1939, als die Deutschen in die Stadt marschierten und zuerst seine Bücher verbrannten und dann seine drei Schwestern, bis 1989, als das kommunistische Regime zusammenbrach — Kafka ein surrealer und doch lebendiger Teil dieser Stadt geblieben ist. Einerseits kündigten etliche seiner Werke die Finsternis an, die über der Stadt hereinbrach. Andererseits blieben die Orte seiner alltäglichen Existenz in der Stadt erhalten. In dieser wie in so manch anderer Hinsicht ist Prag einzigartig. Trotz einiger Granaten und der Straßenkämpfe in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges war diese malerische Stadt eine der wenigen Städte Europas, die relativ unbeschädigt blieben. Danach ersparte der traurige Zustand der kommunistischen Ökonomie der Stadt das Schicksal, zum Opfer ehrgeiziger großspuriger Projekte zu werden, die in so mancher Stadt dieser Welt die Spuren der Vergangenheit vernichteten. Bis auf wenige moderne Gebäude und die saubere, billige und nützliche U-Bahn blieb das Herz von Prag auf beiden Seiten des Flusses bis heute so, wie Kafka es erlebte. Selbst das Auto, dieses fünfte Pferd der Apokalypse, ist noch verhältnismäßig unaufdringlich. All das wird sich ohne Zweifel ändern, wenn die Voodoo-Ökonomie des Kapitalismus den marxistischen Schlendrian ersetzt haben wird. Den Wenzelsplatz zu überqueren wird dann genauso gefährlich sein wie heute die Place de la Concorde. Doch im Guten wie im Schlechten: das 20. Jahrhundert einzuholen, wird nicht leicht sein, und in der Zwischenzeit wird Kafkas Mütterchen Prag mit seinen Krallen noch die erstaunliche Ansicht einer anderen Welt und einer anderen Zeit bieten. Es war seine Welt und eine, die er liebte und haßte zugleich und von der er sich doch nicht trennen konnte. Ein Freund erinnert sich, daß Kafka einmal, als sie an einem Fenster standen und auf den Altstädter Ring sahen, auf die Gebäude ringsum wies: „Das war mein Gymnasium, die Universität war in den Gebäuden dort hinten, mein Büro ein Stück weiter auf der Linken." Und so war es. Die Wohnung, in der er seine letzten Tage in Prag verbrachte — er starb in einem Sanatorium bei Wien einige Zeit später —, war nur ein Häuserblock weit entfernt von dem fünfhundert Jahre alten Haus, in dem er 41 Jahre zuvor geboren worden war. Dieses Haus existiert nicht mehr; es war Teil des mittelalterlichen Ghettos, das, zu einem elenden Slum verkommen, als Gesundheitsrisiko abgerissen wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Nach zuverlässigen

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Prager Quellen sollen sich einige der Kabbalisten, die auf dem alten jüdischen Friedhof begraben sind, für einen ihrer viel versprechenden Nachfolger verwendet haben. Deshalb kam es wohl, daß ein prächtiges Portal des alten Geburtshauses wunderbarerweise erhalten blieb — in der schäbigen Fassade der Maisel-Straße, die jetzt endlich renoviert wird. Nicht weniger wunderbar ist die bronzene Tafel an der Hauswand mit Kafkas Porträt und Geburtsdatum; 1965 angebracht, blieb sie dort als Zugeständnis an die Devisen bringenden Touristen. Nur ein paar Schritte weiter liegt der Altstädter Ring, einer der zauberhaftesten Plätze Europas, eingefaßt von glänzenden Beispielen der gotischen und barocken Architektur. Die meisten Gebäude, das Alte Rathaus mit seiner berühmten astronomischen Uhr, die Tein-Kirche, das Paulskloster, sind schon im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden; Ausnahme ist das Kinsky-Palais aus dem 18. Jahrhundert, jetzt ein Museum, in dem einst Kafkas Gymnasium ebenso untergebracht war wie das Galanteriewaren-Geschäft seines Vaters. Die Geschichte wirft einen langen Schatten auf diesen Platz, der beherrscht wird von der trotzigen Statue des Jan Hus, der unversöhnliche Märtyrer der tschechischen Sache, der 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. In der Zeit danach sah der Platz die Massen-Hinrichtungen von Hussiten und Rebellen gegen die Habsburger, aber auch die Proklamation der Unabhängigkeit 1918 und schwere Kämpfe im Mai 1945. Drei Jahre später im Februar 1948 kündigte Klement Gottwald vom Balkon des Kinsky-Palais das Ende der Demokratie und den Beginn der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei an. Kafka, der acht elende Jahre eine Art Gehirnwäsche in den Räumen rechts vom Balkon erhielt, hätte diesen Balkon sicher für die geeignete Kanzel des ErsatzStalins Gottwald gehalten. Die Kafkas lebten einige Zeit auf der anderen Seite des Platzes im Minuta-Haus, einem Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, das den Altstädter Ring vom Kleinen Ring trennt. Sein bekanntes Kennzeichnen, eine Serie von Florentiner Wandfresken, den heutigen Touristen vertraut, war zu Kafkas Zeiten noch nicht restauriert. Von dort sind es nicht mehr als 10 Minuten zu Kafkas Volksschule an dem Platz, der damals der Fleischmarkt hieß; für mehr als ein Jahr mußte der widerspenstige Schüler jeden Morgen von der Köchin in diese Schule geschleppt werden. „Nun war ja die Schule schon an und für sich ein Schrecken und jetzt wollte es mir die Köchin noch so erschweren." Seine Angst überlebte, weiter genährt in der elenden Erziehung der Schule in der Masna-Straße, die sich in nichts geändert zu haben scheint

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außer im Namen. 1896, kurz vor Franz Kafkas Bar Mitzvah, zog die Familie über den Platz in die Nr. 5 der Zeltnergasse (Celetná), wo er zum ersten Mal ein eigenes Zimmer hatte und zur rechten Zeit seine Jungfräulichkeit verlor. Neun Jahre später zogen die Kafkas in ein modernes Wohnhaus in der Pariser-Straße (Parizská), direkt am Moldau-Ufer, das einen der ersten Aufzüge in der Stadt hatte. Dort im obersten Stock mit einem herrlichen Blick auf die Burg schrieb Kafka „Die Verwandlung", „Das Urteil" und den ersten Teil von „Der Verschollene" (,Amerika"). In der Zeit wurde die jetzige Svatopluk-Ceck-Brücke gerade gebaut und die Straße endete noch abrupt auf einer Rampe zum Fluß. „Ich passte wirklich in diese Gasse, in der ich wohne und die ich nenne ,Anlaufstraße für Selbstmörder', denn diese Straße führt breit zum Fluß, da wird eine Brücke gebaut, und das Belvedere auf dem andern Ufer, das sind Hügel und Gärten, wird untertunneliert werden, damit man durch die Straße über die Brücke, unter dem Belvedere spazieren kann." Das Haus hat seitdem eine eigene Verwandlung durchgemacht; von den sich zurückziehenden deutschen Truppen dem Erdboden gleichgemacht, wurde es durch ein glitzerndes Intercontinental-Hotel ersetzt. 1914 kam der letzte Umzug: die Familie kehrte in die alte Nachbarschaft zurück und wohnte nun in dem prächtigen Oppelt-Haus, Nr. 6 des Altstädter Rings, das erhalten ist, wenn auch nicht mehr so prächtig. Franz Kafka lebte bis dahin immer bei den Eltern, ein Zustand, den er für widerwärtig hielt, aber nicht änderte. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwang die Eltern, einer der verheirateten Schwestern und ihren zwei Kindern Obdach zu gewähren, so daß Franz Kafka im Alter von 31 Jahren sich endlich auf eine mehr oder weniger unabhängige Existenz einlassen mußte — in der Übernahme der gemieteten Räume der Schwester und deren eingezogenen Mannes. Wenn ihm auch dort nicht ruhig genug war, so brachte er schließlich eine kurze Zeit des Glücks und der Arbeit in einem der winzigen Häuschen der Goldmachergasse auf der Prager Burg zu, die König Rudolph II. für seine Alchemisten einst gebaut hatte; welche von diesen von Anfang an Zwerge waren und welche erst schrumpften, als sie der Natur trotzten, ist nicht überliefert. Kafkas kurzlebige Unabhängigkeit kam zu einem dramatischen Ende in einem Raum des Schönborn-Palais, heute Sitz der U. S.-Botschaft, als im August 1917 ein Blutsturz den Ausbruch der Lungenkrankheit anzeigte, die ihn schließlich tötete. Die sieben Jahre, die ihm blieben, gehören zu den produktivsten seines schriftstellerischen Lebens; er verbrachte sie in Sanatorien oder zu Hause bei seinen Eltern am Altstädter Ring.

Kafka in Havels Prag

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Oft wird — verständlicherweise — die Tatsache vergessen, daß dieser sonderbare Schriftsteller ein gewissenhafter Büro-Arbeiter war mit einer eminent erfolgreichen Karriere in der Versicherungsbranche. Vielleicht ist dies das am meisten „kafkaeske" Monument seiner Präsenz in Prag: das bizarre Gebäude in Poric Nr. 7, eine Mischung aus Rokoko und Habsburger Hellenismus, das die in seine Fassade gemeißelte Inschrift immer noch als Arbeiterunfallversicherungsanstalt ausgibt. Seine gegenwärtigen Insassen beschäftigen sich mit der Herstellung elektrischer Installationen für die Schwerindustrie, sie stehen außerhalb der Aura ihrer Umgebung; die Atmosphäre im Gebäude erhielt sich jedoch über hundert Jahre; gesättigt vom stechenden Geruch der Tinte und des Habsburger Reiches ist sie eine perfekte Umgebung für gesichtslose Federfuchser oder für einen Prozeß, inszeniert von Herrn Dr. Kafka, Rechtsberater des Instituts. Die Zeit steht still; man braucht nur einen Moment in der Eingangshalle zu warten und meint, den Geist Kafkas die Wendeltreppe herabsteigen zu sehen, um in der Pförtnerloge nach einem Brief aus Berlin zu fragen. Einiges hat sich doch geändert. Früher wurde jeder Fremde, der in das Gebäude eintreten wollte, wie ein Spion festgehalten. Jetzt versucht jedermann behilflich zu sein. Kafkas Büro war in der vierten Etage; die schmutzigen Wände, die eintönigen Flure, die schweren Eichentüren mit ihren Querbalken scheinen unberührt überdauert zu haben. „Was ich zu tun habe. In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen — von meinen übrigen Arbeiten abgesehen — wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst." Kafka? Die Ingenieure und Planer, eine durchweg junge Gruppe von Leuten, die lange nach dem Kriege geboren wurden, sind begriffsstutzig und pfiffig zugleich, manchen klingt der Name Kafka vertraut. Doch wie ihre Umgebung sind sie festgehalten in einer Zeit, die 50 Jahre abgschnitten war von der Welt und ihrer eigenen Vergangenheit. Sie tun, was sie können, um wieder damit in Kontakt zu kommen, und sie zahlen einen enormen Preis dafür, aber nach einem Jahr der Freiheit ist noch viel für sie nachzuholen. Kafka zum Beispiel. Eine lebhafte Debatte darüber, wo genau er seinen Schreibtischplatz hatte, wird von einer jungen Frau energisch abgeschnitten; sie führt uns in ein Büro und zeigt uns, was sie für seinen Schreibtisch hält. Es könnte sein, nach allem, was wir wissen; Reliquien werden vom Glauben bestimmt, nicht von den Tatsachen.

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Ernst Pawel

Schwieriger und nachdenkenswerter ist die Frage, was, wenn überhaupt, Kafka dieser verlorenen Generation noch zu sagen hat, die endlich zu sich selber findet. Und das, vermute ich, wird davon abhängen, wohin sie aufbricht. Die Möglichkeiten sind eher entmutigend und gefahrlich; Freiheit ist keineswegs die einzige Alternative des Kommunismus. Wenn Kafka sie etwas lehren kann, dann ist es dies: niemals fertigen Antworten zu trauen und die Wahrheit auch dann zu suchen, wenn diese Suche ohne Ende ist. Aus dem Englischen von Hans Dieter Zimmermann.

Mitarbeiterverzeichnis

Born, Jürgen Leiter der Forschungsstelle Prager deutsche Literatur und emeritierter Professor für neuere deutsche Literatur an der Bergischen Universität GH Wuppertal Cermák,

Josef

Lektor, Literaturkritiker und Ubersetzer in Prag Demet^, Peter emeritierter Professor für deutsche Literatur an der Yale University, New Haven, Connecticut, USA Egebak, Jorgen Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Kopenhagen, Dänemark Goldstücker, Eduard emeritierter Professor für deutsche Literatur der Universität Brighton, England, lebt in Prag. Hermsdorf, Klaus Professor für neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin Herzog, Andreas Assistent am Germanistischen Institut der Universität Leipzig Kaufmann, Frantiiek Lektor und Literaturkritiker in Prag Kosik,

Karel

Professor für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften in Prag Kotalík, firt Kunsthistoriker, langjähriger Direktor der Nationalgalerie Prag

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Mitarbeiterverzeichnis

Kotjk-Markova,

Martha

Publizistin, lebt in Wien und Prag

Krolop, Kurt Professor für deutsche Literatur und Direktor des Germanistischen Instituts der Karls-Universität in Prag

Kroutvor, Josef Kunstkritiker in Prag

Moses, Stéphane Professor für deutsche Literatur und Direktor des Franz-RosenzweigZentrums für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, Israel

Mutilar, Jirt Professor für deutsche Literatur an der Universität Brno, Tschechische Republik

Northej,

Alfred

Dozent für deutsche Literatur an der Acadia University in Wolfville, Kanada

Pawel, Ernst freier Schriftsteller, lebt in Great Neck bei New York, USA

Preisner, Rio emeritierter Professor für deutsche Literatur an der Pennsylvania State University, lebt in Cheswick, Pennsylvania, USA

Rokyta, Hugo emeritierter Professor für Kunstgeschichte in Prag, langjähriger Denkmalpfleger in Böhmen

Václavek, Ludvík Professor für deutsche Literatur an der Universität Olomouc, Tschechische Republik

Zimmermann, Hans Dieter Professor am Institut für deutsche Philologie, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin