Kafka und Prag: Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte 9783412214814, 9783412207779


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Kafka und Prag: Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte
 9783412214814, 9783412207779

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KAFKA UND PRAG Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte

HERAUSGEGEBEN VON PETER BECHER, STEFFEN HÖHNE, MAREK NEKULA

:: Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar), Alice Stašková (Prag/Berlin) und Václav Petrbok (Prag)

Band 3

Kafka und Prag Literatur-, kultur-, sozialund sprachhistorische Kontexte

Herausgegeben von Peter Becher, Steffen Höhne und Marek Nekula

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Peter Becher ist Geschäftsführer des Adalbert Stifter Vereins e.V. Steffen Höhne ist Professor am Institut für Musikwissenschaft, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar-Jena. Marek Nekula ist Professor an der Universität Regensburg und Leiter des Bohemicum Regensburg-Passau.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Franz Kafka auf einem Paßphoto von 1920.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com This work is licensed under the Creative Commons NamensnennungNicht kommerziell 4.0 International License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ Redaktion: Peter Becher, Steffen Höhne und Marek Nekula unter Mitarbeit von Andreas Lange, Carsten Wernicke und Wolf-Georg Zaddach Lektorat: Sibylle Höhne Druckvorlage: Carsten Wernicke und Wolf-Georg Zaddach ISBN (Print) 978-3-412-20777-9 ISBN (OA) 978-3-412-21481-4 https://doi.org/10.7788/boehlau.9783412214814

Inhaltsverzeichnis Vorwort...................................................................................................................9

Franz Kafkas böhmische Kontexte Josef Wenzig und die (Selbst-)Wahrnehmung seiner politischen und literarischen Tätigkeit in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts Václav Petrbok..........................................................................................................13 Nachdenken über kulturelle Zugehörigkeit. Neobohemistische Traditionen und nationale Desintegration in der Kafka-Zeit Steffen Höhne.............................................................................................................35 ‚Tschechische Weiblichkeit‘ als Erlösung des ‚deutschen Mannes‘. Pavel Eisners Milenky Ludger Udolph...........................................................................................................59 Der Prager deutsche Philosoph Max Steiner und die Kantforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts Jörg Krappmann.........................................................................................................69

Franz Kafkas Lebenswelten „Ich akzeptiere den Komplex, der ich bin.“ Zionisten um Franz Kafka Kateřina Čapková......................................................................................................81

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Inhaltsverzeichnis

Zwei Freunde des Kafka-Kleeblatts: Die Ur-Prager Felix Weltsch und Max Brod Carsten Schmidt..........................................................................................................97 „Liebster Vater“ oder: Franz Kafkas Befreiung aus dem Ehezwang Karl Braun...............................................................................................................111 Nachrichten vom Krankenbett. Franz Kafkas letzte Jahre Josef Čermák................................................................................................................135 Die Arbeiterunfallversicherungsanstalt – ein Schloß? Christoph Boyer........................................................................................................143 Das Bild des Juristen im Werk von Kafka – Historische Selbsterfahrung oder zeitlose Charakterisierung? Anmerkungen zu Interdependenzen zwischen Zeitgeist, Juristenausbildung und Wahrnehmung der Jurisprudenz Kaspar Krolop..........................................................................................................153 Die Rolle der sprachlichen Qualifikation bei der Karriere eines (k.k.) Beamten: Franz Kafka und seine Kollegen bei der AUVA Simona Švingrová.....................................................................................................185 Franz Kafkas deutsch-tschechische Zweisprachigkeit im Prager schulischen Kontext Ingrid Stöhr..............................................................................................................207

Verortungen Franz Kafkas Der Schreiber als Seismograph einer Zeitenwende. Reflexe einer mitteleuropäischen Endzeitstimmung in Franz Kafkas Romanfragment Der Verschollene Boris Blahak............................................................................................................231

Inhaltsverzeichnis

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„[...] aber kleine Unterschiede waren doch gleich zu merken“ – Zur imaginären Fremdwahrnehmung bei Franz Kafka Klaus Schenk............................................................................................................253 Franz Kafka und die Veränderung der Wahrnehmung von Raum, Zeit und Bewegung Hans-Gerd Koch......................................................................................................265 Zeit der Geschichte und Zeit des Gerichts. Zur Spannung von geschichtlicher und schöpferischer Erfahrung im Werk Kafkas Volker Rühle...........................................................................................................275 Franz Kafkas Das Stadtwappen mit Libuše Moníková gelesen Manfred Weinberg........................................................................................................299 Affenwahrheit und Menschenfreiheit. Sprachreflexion in Kafkas Ein Bericht für eine Akademie Hans Kruschwitz.........................................................................................................323 Richard Weiner: ein tschechischer Kafka? Eine biographische Skizze Hans Dieter Zimmermann...........................................................................................335 Brief von Felix Weltsch an Kurt Krolop, 24.05.1963.....................................347 Kurt Krolop: Bibliographie 2000-2011............................................................349 Personen- und Ortsregister..................................................................................353 Adressen der Autoren..........................................................................................361

Vorwort

Man muss nicht das Stereotyp vom dreifachen Ghetto Prag bemühen, das auf Pavel Eisner zurückgeht, um auf die vielfältigen kulturellen und intellektuellen Interdependenzen zwischen Deutschen, Tschechen, Juden u. a. in Prag und den Böhmischen Ländern zu verweisen. Tatsächlich bildet Prag seit dem späten 19. Jahrhundert einen kulturellen und intellektuellen Mikrokosmos, in dem sich nicht nur kultur- und wissenschaftspolitische Entwicklungen und Konflikte der gesamten Habsburger Monarchie fokussieren, sondern in gewisser Weise verkörpert Prag auch die Phänomenologie eines Typus der ostmitteleuropä­ischen Kulturstadt, die zwischen 1938/39 und 1945 untergegangen ist. Aufgrund der ‚multikulturellen‘ Determinanten finden sich in Prag besondere Voraussetzungen für intellektuell-künstlerische Diskurse und Kontexte, die ihre prägende Bedeutung nicht nur auf die Stadt, sondern auf die Böhmischen Länder bzw. die Tschechoslowakei, aber auch über Habsburg hinausgehend auf Zentraleuropa insgesamt entfalten konnten. Hier setzt der Band an, der von Franz Kafka ausgehend in drei Sektionen die interdependenten eigen- und fremdkulturellen Diskurse, Konstrukte und Kontexte in den Blick nimmt. In der ersten Sektion werden die intellektuellen und kulturpolitischen Kontexte beleuchtet, die einen Rahmen auch für Kafkas Schaffen bildeten. Ausgehend von Leitfragen nach den Identitätsbehauptungen über (nationale) Konstruktionen von Literatur, Kunst und Wissenschaft und Akzentuierungen nationalkultureller Eigenständigkeit, Gleichberechtigung und Dominanz werden vor allem neobohemistische, utraquistische Traditionen, auch im Sinne kultureller Wettbewerbe, näher erörtert. In der Sektion, die Franz Kafkas Lebenswelten gewidmet ist, werden die biographischen und beruflichen Kontexte zwischen Familie und Freundeskreis, Schule, Studium und Beruf untersucht, wobei neben den kontextuellen Determinanten auf Kafka und sein Werk auch die jeweiligen Selbst- und Fremdkategorisierungen, im Spannungsfeld von Deutschen, Tschechen und Juden in Prag, im Fokus der Beiträge stehen. In der dritten Sektion werden ausgewählte Werke Franz Kafkas einer Neuverortung unter kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Aspek-

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Vorwort

ten unterzogen, mit deren Hilfe eine weitere Verortung im Prager Kontext erfolgt. Der Band Kafka und Prag basiert auf einer Tagung zu Ehren von Kurt Krolops 80. Geburtstag, die vom 27.-29. Mai 2010 im Goethe-Institut Prag durchgeführt wurde. Die Herausgeber möchten sich insbesondere für die Gastfreundschaft bei den Mitarbeitern des Goethe-Instituts, namentlich bei dem Direktor Dr. Heinrich Blömeke, sowie bei der Fritz Thyssen Stiftung bedanken, die die Realisierung der Tagung und des Bandes unterstützte. Die Herausgeber

Der Jubilar beim Empfang zum 80. Geburtstag im GoetheInstitut Prag am 27. Mai 2010 (Foto: Věra Koubová, Prag).

Václav Petrbok

Josef Wenzig und die (Selbst-)Wahrnehmung seiner politischen und literarischen Tätigkeit in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts* Aber nicht alle Deutsche sind wie Dr. Menzel, und Teut und Slawa, ein so stattliches Paar, werden sich doch noch hoffentlich verstehen lernen, und die deutsche Eiche wird grünen, während die slawische Linde duftend neben ihr blüht. (Wenzig 1848: 72; geschrieben im Oktober 1847)1

1. Josef Wenzig als Übersetzer von František Ladislav Čelakovský und der Vorzugsschüler Max Brod

Die Einbeziehung von Josef Wenzig2 in einen Sammelband zu Kafka und Prag mag auf den ersten Blick verwundern, doch beeinflusste sein Wirken die Generation von Max Brod und Franz Kafka, die sich auch dank Wenzig mit der tschechischen Literatur und Kultur auseinandersetzten bzw. auseinandersetzen konnten.3 *

Für die kompetente Hilfe bei der Erstellung der deutschen Version dieser Studie möchte ich mich bei Tilman Berger und Martin Mutschler bedanken. – Dieser Text konnte dank der Förderung durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung entstehen. 1  Wenzig nahm den Ausfall Wolfgang Menzels gegen den tschechischen romantisch-nationalen Dichter und Priester Václav Štulc als Anlass für eine Polemik. Menzel hatte zuvor Štulc des Panslawismus und des Deutschenhasses beschuldigt. Anlass waren angebliche panslawische und antideutsche Tendenzen in Menzels didaktisch-patriotischer Gedichtsammlung Pomněnky na cestách žiwota, in der Übersetzung von Josef Wenzig 1846 unter dem Titel Erinnerungs-Blumen auf den Wegen des Lebens erschienen. 2  Zu Wenzig siehe den Eintrag von Petrbok (2008), ferner Maidl (2005: 32-40). 3 Josef Wenzig wird bei Pfitzner (1926) polemisch als „nationaler Zwitter“ bezeichnet: „Der Ausgrenzungsbegriff, unter dem alle Autoren subsumiert werden, denen kein deutschnationales Zuverlässigkeits- oder zumindest Unbedenklichkeitsattest ausgestellt werden

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Václav Petrbok

Ohne Wenzig hätte sich Max Brod in seinem autobiographischen Studentenroman Beinahe ein Vorzugsschüler (1. Aufl. 1952) kaum an seinen Tschechischlehrer Richard Kotyka4 erinnern können: Kotyka gehörte zu den Heldengestalten, die ich aus der Fülle meiner jungen Liebesfähigkeit heiß verehrte. [...] Bei uns hatte er [...] den Gegenstand ‚Böhmische Sprache‘ inne, der damals noch Freigegenstand war. [...] Aber zum Kurs Kotykas ließen sich sehr viele [...] einschreiben. [...] Ich verdanke ihm, von etlichen grammatischen Kenntnissen abgesehen, den ersten Einblick in den Gesamtaufbau einer großen Literatur. [...] Mit Begeisterung verweilte er nament­lich bei den Schönheiten der im Volkstümlichen wurzelnden Lyrik eines Karel Jaromír Erben, eines Čelakovský, eines Mácha und Svatopluk Čech. [...] Tief prägte sich uns die Schönheit von Versen ein wie diesen aus der Ballade von ‚Toman und der Waldfee‘ [...] Leicht und leise sprach Kotyka die kadenzierenden Rhythmen wie eine Zauberformel. Und obwohl ich fühlte, daß sie unübersetzbar seien, Večer před svatým Janem mluví sestra s Tomanem: „Kam pojedeš, bratře milý, v této pozdní na noc chvíli na koníčku sedlaném, čistě vyšperkovaném? Abends vor Sankt Johann Spricht die Schwester zu Toman: Brüderchen, wohin geritten In so später Stunden mitten, Auf dem Pferd, das, frisch gezäumt, Unter neuem Sattel bäumt? [...] Kotyka bemerkte das Papierchen und nahm es mir pflichtgemäß ab. Aber was er mir zu sagen hatte, [...] wurde vielmehr meine erste literarische Aufmunterung, streng abgewogen, doch ernsthaft [...]. (Brod 1973: 321-323)5 konnte, lautet, eindeutig und drastisch genug: ,nationale Zwitter‘“ (Krolop 1992: 23). In den in die Vergangenheit projizierten Vorstellungen über die Übereinstimmung von Literatursprache und Ethnizität – was auch der Fall der tschechischen Literaturwissenschaft war und teilweise noch ist – konstruierte Pfitzner seine These über die Rolle der ‚Sudetendeutschen‘ beim Erwachen des tschechischen literarischen Nationalbewusstseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neben Uffo Horn und Siegfried Kapper wird auch Wenzig der Gruppe der ‚Zwitter‘ zugewiesen: „In das Reich der Zwitter schließlich weist für diese Zeit der Name Josef Wenzig den Weg. [...] Das schließende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert [war] in der Hauptsache von Zwittern bevölkert.“ (Pfitzner 1926: 174) 4 Richard Kotyka (1860 Železný Brod/Eisenbrod – 1905 Rijeka/Fiume, Selbstmord) war Griechisch- und Tschechischlehrer am k.k. Gymnasium in Eger/Cheb und Prag-Stephansgasse. Als exzellentem Griechischlehrer widmet ihm auch der tschechische Jurist, Politiker und Rechtsphilosoph František Weyr (1999: 136) eine dankbare Erinnerung. 5  Die erste tschechischsprachige Ballade Toman a lesní panna [Toman und die Waldfee] wurde 1839 von František Ladislav Čelakovský, inspiriert von Adam Mickiewicz, in der tschechi-

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Die Wirkung von Wenzig erscheint hier in der Lebenswelt eines Prager deutschsprachigen Gymnasiasten am Ende des 19. Jahrhunderts auf zweierlei Weise: erstens als Initiator zweier wichtiger Schulgesetze, nämlich als Verfasser des Gesetzes zur Unterrichtssprache an öffentlichen Schulen je nach gewählter Sprache, in der Regel eine der beiden Landessprachen, aus dem Jahre 1861. Dieses Gesetz wurde im Prager Magistrat unter Bürgermeister František Václav Pštross nach dem Wahlsieg der Tschechen – ab da hatten sie immer die Mehrheit im Magistrat – sanktioniert. Die Parole ‚Das tschechische Kind in die tschechische Schule‘ wurde besonders zu der Zeit vertreten, als die Prager Bürger ihre Loyalitäten und nationalen Identitäten herauszufinden suchten und die unteren Schichten in den ersten Reichsrats- und Gemein­ deratswahlen beim Wahlzensus schwer diskriminiert wurden. Die Prager deutschsprachige Gesellschaft sah in dem Gesetz – nicht ohne Grund – den Versuch, ihre Kinder zu entnationalisieren. Hier taucht erstmals das böse Wort ‚Tschechisierung‘ auf.6 Des Weiteren ist der Entwurf zur Gleichstellung beider Landessprachen in den öffentlichen Schulen aus dem Jahre 1864 zu erwähnen. Auf Landesebene stieß er bei zahlreichen Deutschböhmen auf erbitterten Widerstand und wurde schließlich – nach 3 Jahren, 8 Monaten und 19 Tagen – annulliert. Die zweite Landessprache wurde an den Gymnasien in den Böhmischen Ländern zu einem relativen Pflichtgegenstand, das heißt in einer etwas halsbrecherischen Formulierung: Sie war verpflichtend, wenn sie von den Eltern oder Erziehungsberechtigten gewählt wurde. Und das war gerade auch bei dem Vorzugsschüler Brod der Fall. Aber auch die erwähnte Ballade Toman a lesní panna vulgo ‚Toman und die Waldfee‘ von Čelakovský hat etwas mit Wenzig zu tun. Diesen Text, um dessen Übersetzung sich der junge Brod bemühte, hat nämlich auch Wenzig ins Deutsche übertragen. Wenzig prägte als Übersetzer und Vermittler schen Museumszeitschrift veröffentlicht. Sie ähnelt in ihrem Thema und Strophenbau der Lorelei von Joseph von Eichendorff (Čelakovský 1950: 109-112, 518-519). Neben den lyrischen Gedichten der Rukopis královédvorský [Königinhofer Handschrift] und dem Gedicht Ostrava von Petr Bezruč ist sie die tschechische Ballade, die am häufigsten ins Deutsche übersetzt wurde. Es gibt sieben Buchveröffentlichungen (von Josef Wenzig, Eduard Albert, Friedrich Karl Pick, Rudolf Fuchs, Paul/Pavel Eisner, Jaroslav Goll, Eduard Neumann), in den Zeitschriften sind noch weitere Übersetzungen zu entdecken (z. B. relativ frühe von Anton/Antonín Beck, dem Vater des späteren österreichischen Ministerpräsidenten Max Wladimir Beck, oder Alfred Waldau). Zur translatologischen Analyse der Übersetzungen siehe Jähnichen (1967: 68, 122) und Nezdařil (1985: 75-78). 6 Cyril Merhout (1907: 737) erwähnt die Österreichische Zeitung und ihren Artikel Ein Denkmal Wenzigs. Vgl. aber auch Winter (1868: 125).

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Václav Petrbok

der tschechischen Dichtung – und gerade der älteren, traditionellen, volkstümlichen Dichtung – die Kenntnisse im deutschsprachigen Kulturkreis über die tschechische Literatur und Kultur. Brod, hervorragender Kenner auch der tschechischen Musik aus den böhmischen Ländern, wusste sicher gut, dass der Text von Toman a lesní panna zwei bedeutenden Werken der tschechischen Musikliteratur als Libretto gedient hatte, und zwar dem Neuromantiker Zdeněk Fibich (1874) und dem etwas jüngeren Vítězslav Novák (1907). Und gerade die etwas stolpernde Übertragung von Wenzig, aus seinem Buch Kränze aus dem böhmischen Dichtergarten (1856), hat diesen Kompositionen geholfen, den Weg in die nicht-tschechische Welt zu finden.

2. Die Brisanz der übersetzerischen und pädagogischen Tätigkeit in Böhmen: Wenzig und seine Tätigkeit in den 40er und 50er Jahren

Das Thema Wenzig als Vermittler der tschechischen Dichtung hat Manfred Jähnichen aus literaturgeschichtlicher Sicht dargestellt, unter Betonung seiner Inspiration durch Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe. Hier wäre noch der Einfluss der beiden Prager Anton Müller, Ästhetiker und Literaturkritiker, sowie Alois Klar, klassischer Philologe und Förderer mehrerer deutsch- und tschechischsprachiger Autoren, zu erwähnen.7 Mit Wenzigs Interesse am tschechischen Schrifttum stehen wohl auch seine freundschaftlichen Beziehungen zu dem deutsch-tschechischen Literaten Antonín/Anton Hansgirg und dem tschechischen Dichter und Priester František Václav Kamenický (Pichl 1936: 82) im Zusammenhang. Ladislav Nezdařil dagegen beschäftigte sich mit Wenzig als Übersetzer.8 7  Die pädagogische Tätigkeit dieser beiden Nordböhmen, ausgeprägte Persönlichkeiten des Prager Kultur- und Literaturlebens der 1820er und 1830er Jahre, ist immer noch ein Desiderat der Literaturgeschichte. Der Autor dieser Studie widmete sich der Wirkung von Müller auf das dichterische Schaffen von Čelakovský (Petrbok 2004), nach Otokar Fischers fundamentaler Abhandlung zu Karel Hynek Mácha und dem Kreis um Klar formulierte Přibil (2010) die Hypothese, dass Mácha möglicherweise von Klar finanziell unterstützt wurde. 8 Zu seinen Übersetzungen und Adaptationen der tschechischen mittelalterlichen Poesie sowie aller epischen Gedichte aus der Rukopis královédvorský [Königinhofer Handschrift] (mit

Josef Wenzig und die (Selbst-)Wahrnehmung seiner politischen und literarischen Tätigkeit 17

Die pädagogischen Abhandlungen Wenzigs haben in der letzten Zeit besonders Václav Maidl (2005) interessiert. Er zeigte, welche Rolle sie bei der Wahrnehmung des Schriftstellers durch die Gesellschaft und bei seiner Sprachenwahl gespielt haben. Wenzigs Überlegungen über die Rolle der entsprechenden Unterrichtssprache im Schulwesen haben ihre Anfänge schon in der Vormärzzeit. In seiner Schrift Ein Wort über das Streben der böhmischen Literaten, geschrieben 1847, erschienen im Mai 1848, wurden entsprechende übersetzerische Vermittlungsstrategien formuliert, frühere Vorschläge seines langjährigen Protektors Graf Leo Thun (1842)9 zur Verbesserung der Situation der tschechischsprachigen Bevölkerung im Schulwesen analysiert und gegen den damals erhobenen Vorwurf des Panslawismus verteidigt. Die Symbiose des aktiven Philologen und potentiellen Politikers wird hier nicht nur in der Argumentation, sondern auch darin deutlich, wie der Verfasser von der Gesellschaft wahrgenommen wurde. Wie Christoph Führ (1985) gezeigt hat, ist diese Rollenkumulation für das Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und für die österreichisch-böhmisch-mährischen Zustände immer noch bis in die 1890er Jahre typisch. Auch in den 1850er Jahren hat Wenzig – nun auch als Direktor der ersten Realschule mit „böhmische(r) Unterrichtssprache“ (Blaschka 1933: 59-61), Aufseher über die Gemeinden- und Realschulen in Böhmen und Organisator der höheren Real­schulen sowie des Landesschulrats – in mehreren Broschüren seine Betrachtungen im strengen konservativ-katholischen und patriotisch-österreichischen Ton mit deutlichen Sympathien für die tschechische Seite weiterentwickelt. Von der Rolle des Pädagogen als Beschützer von Religion, Familie, Nation und Staat – in genannter Reihenfolge – hatte er folglich auch eine entsprechend hohe Meinung, Ausnahme der antideutschen Komposition Beneš Hermanóv) und Libušin soud, erschienen in Wenzig (1855) sowie zu Čelakovskýs Gedichten s. Nezdařil (1985: 16-20, 36-37, 66-69), der im Gegensatz zu Jähnichen (1967: 208-218) Wenzigs Übertragungen kritisch bewertet. Nezdařil (1985: 49) meint: „Zatímco však Kollár i Čelakovský jsou u nás i dnes ještě čteni a vysvětlováni, padá na Wenzigovy překlady jejich veršů neúprosný prach literární historie. Jako v Rukopisech a jako v Čelakovském přešel Wenzig – tísněný bojem o jazykovou rovnoprávnost – i v Kollárovi všechny prvky protiněmecké.“ [Während Kollár und Čelakovský bei uns immer noch gelesen und interpretiert werden, fällt der unerbittliche Staub der Literaturgeschichte auf Wenzigs Übersetzungen ihrer Verse. Wie bei den Handschriften und bei Čelakovský ignorierte Wenzig – gedrängt vom Kampf um die sprachli­che Gleichstellung – auch bei Kollár alle antideutschen Elemente.] – Das Buch basiert auf seiner Dissertation Dějiny české poesie v německých překladech (Praha 1952, 425 Bl., Nationalbibliothek Sign. Dipl 000003). 9  Zu dem Freundeskreis um den konservativen Graf Leo Thun im Vormärz s. Thienen-Adlerflycht (1967: 153f.), Štaif (1996: 59); über Thun im böhmischen Kontext Kárník (1998).

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Václav Petrbok

wie die Aussagen über die Rolle der Lehrer als Erzieher in seinem Artikel O prostředcích ku vzdělání mládeže na školách [Über die Mittel, die Jugend an den Schulen zu bilden] (Wenzig 1852-53) zeigen. Diese Selbststilisierung, bewusst oder unbewusst, machte seine Ansichten imperativ und dringend. Ihre religiöse Begründung, wenn auch in der Konkordatszeit,10 klang am Anfang der konstitutionellen Ära wie eine Stimme aus der Zeit vor der Revolution und führte umso mehr zur radikalen Ablehnung seiner Vorschläge durch die führenden politischen Kreise der Deutschböhmen – der Liberalen. Die moralischen und historischen Argumente wirkten auf sie nicht überzeugend. Auf der anderen Seite hat die tschechische Öffentlichkeit – obwohl keinesfalls mehr religiös gesinnt – „im Interesse für die Sache“ opportunistisch und laut gejubelt. Und dies umso mehr, weil Wenzig sich dabei über seine nationale Stellung wie folgt äußerte: Ich gehöre nicht zu den Österreichern, die mit Hinweisung darauf, daß das Kaiserhaus deutscher Abstammung sei und daß alle irgendwo im Kaiserstaat Einheimischen nach dem deutschen Kronlande Österreich Österreicher heißen, das Österreichertum in das exklusive Deutschtum setzen [...]. Von einer deutschfeindlichen Gesinnung mag ich nichts wissen um so weniger, als ich durch meine Eltern und meine Erziehung selbst ein Deutscher bin, doch ein Deutscher, der jeder anderen Nationalität ihre Berechtigung und ihren Wert von Herzen gerne zugesteht und die Größe der deutschen Nation nicht auf den Ruin anderer Nation gebaut haben will. (Wenzig 1860a: 4f.)

Seine erste Broschüre Die Betrachtungen eines Österreichers über das kaiserliche Handschreiben vom 9. November 1857 gab Wenzig in der Zeit, als er – als k. k. Beamter – parlamentarisches Gebiet zu betreten begann,11 auf eigene Kosten­ 10 Das österreichische Konkordat von 1855 entzog Eherecht, Schulwesen und den Klerus dem staatlichen Machtbereich und übergab den Religionsfonds der katholischen Kirche. Es wurde 1868 modifiziert, 1870 nach der Dogmatisierung des Primats und der Unfehlbarkeit des Papstes (Beschlussfassung ohne die österreichischen Bischöfe) von Österreich für unwirksam erklärt, durch staatliche Regelungen ersetzt und 1874 formell aufgehoben ( [10.01.2011]). Der Klerus beaufsichtigte u. a. die Besetzung der pädagogischen Stellen im Volks- und Mittelschulwesen, auch die Zensur der Lehr- und Lesebücher war ihm vorbehalten. Wenzig war zweifellos – im Einklang mit Thun – mit den Ergebnissen des Konkordates für das Schulwesen einverstanden. 11 Diese Abhandlung ist eine engagierte Reaktion auf das Handschreiben von Franz Joseph I. an den ungarischen Gouverneur Erzherzog Albrecht, in dem er wünscht, dass „die verschiedenen Volksstämme fortan in ihrer nationalen Eigenthümlichkeit erhalten und ihnen bei der Pflege ihrer Sprache die gebührende Rücksicht gewährt werde“ (Wenzig 1860a: 3). Ein Jahr vorher erschien sie auf Tschechisch (Wenzig 1859), es gibt auch eine kroatische Version, veröffentlicht von dem kroatischen Slavisten, Publizisten und späteren Politiker Ljudevit Gaj (Wenzig 1860b).

Josef Wenzig und die (Selbst-)Wahrnehmung seiner politischen und literarischen Tätigkeit 19

heraus. 1861 ließ er sich im Königgrätzer und Nechanitzer Kreis in den böhmischen Landtag wählen; in den böhmischen Landtag wurde er fünfmal gewählt. Diese Ämter hatte er bis 1871, also bis zum Fall der sog. Fundamentalartikel, inne. Schon zu Beginn der 1860er Jahre kam es zu Unstimmigkeiten zwischen der manifestierten loyalen österreichischen Einstellung eines ‚Kindes‘ aus dem „der Völker weiten Kinderkreise“, wie er im loyalen Österreichischen Frühlingsalbum aus Anlass der Hochzeit Elisabeths und Franz Josephs I. stilisiert wurde,12 und dem tschechischnationalen Politiker. Der Streit spitzte sich da­ raufhin so zu, dass Leo von Thun, sein Vorgesetzter, sich gezwungen sah, ihm aufzutragen, er möge selbst um seine Amtsenthebung bitten und sich beim Kaiser entschuldigen. Der tschechische katholische Priester, Dichter und Kinderbuchautor Karel Alois Vinařický setzte sich aber energisch bei Thun für Wenzig ein. Wenzig habe bei Vinařický über die Ablehnung der deutschen Sprache in tschechischen Schulen nach Rat gefragt, nur um „die Realbedürfnisse des böhmischen Volkes mit dem Einheitspostulat der österreichischen Staatssprache in Einklang zu bringen“ (Winter 1969: 120, 170).13 Über die Motivation Wenzigs äußerte sich sein Bekannter V. V. Tomek am 09. April 1860:

12 „Es ist des Böhmen süße, sel’ge ‚Hoffnung‘, / Daß in der Völker weitem Kinderkreise / Du auch sein Volk mit treuem Auge hütest / Nach eines Vaters, einer Mutter Weise, // Es ist des Böhmen warmempfund’ne ‚Liebe‘, / Die, um das reichste Heil Dir zu erwerben, / Heut dreifachinnig betet, frohentschlossen, / Für Dich zu leben und für Dich zu sterben!“ (Wenzig 1854: 369) 13 Auch über die Meinung der nationalgesinnten tschechischen Kreise haben wir ein Zeitzeugnis. Die Schriftstellerin Božena Němcová schrieb am 21.11.1859 an ihren Sohn Karel: „Pan Wenzig také napsal článek do Muzejníka Rozjímání Rakušana – tak svobodomyslný, že podobného nebylo u nás od panování Národních novin. On v tom ale vždy se odvolává na císařské slovo a zákon a pod tou zástěrou takové ostré výčitky dělá nejen vládě, ale i úřednictvu, šlechtě, kněžstvu, zkrátka vyčítá všecky ty křivdy Čechům učiněné, za zúmyslné germanizování a špatnost vládního zřízení.“ ������������������������������������������ [Herr Wenzig schrieb auch für die Museumszeitschrift einen Artikel ‚Die Betrachtungen eines Österreichers‘ – so freimütig, wie es einen ähnlichen bei uns seit der Herrschaft der Národní noviny nicht mehr gegeben hat. Er beruft sich darin aber immer auf das Wort des Kaisers und das Gesetz und unter diesem Mantel macht er nicht nur der Regierung, sondern auch der Beamtenschaft, dem Adel, der Priesterschaft schwere Vorwürfe, kurzum er wirft ihnen alles Unrecht vor, das den Tschechen angetan worden ist wegen der absichtlichen Germanisierung und der Falschheit der Regierungsverordnung.] (Němcová 2007: 125; zur Stellung Němcovás s. Kořalka 2002). Wenzig hat sich 1860 auch für die wegen der Teilnahme an den beginnenden nationalen Demons­ trationen angeklagen tschechischen Studenten eingesetzt, vgl. dazu Žáček (1983: 62-66).

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Václav Petrbok Hlawní pohnutkou jeho k sepsání oněch pojednání bylo patření na stále přeskupowání a podwracowání zákonů o wyučowací řeči od těch, kterým wykonáwání jich pohříchu jest swěřeno, a přeswědčení, že půjde-li to tak dále, wšecko, co se ku prospěchu češtiny stalo, nazmar přijde. Powzbuzením mu byly srpnowé zákony o wyučowací řeči, kterými posawadní způsob od wlády samé byl na okamžení odsauzen. (Pokorná 2008: 182f.; Kučera 2006) [Sein wichtigster Beweggrund, jene Abhandlungen zu schreiben, war der Blick auf die immerwährende Umgruppierung und die Untergrabung der Gesetze über die Unterrichtssprache durch diejenigen, denen die Ausführung schließlich leider anvertraut wurde; und auch die Überzeugung, dass wenn es so weiter geht, alles, was zu Gunsten des Tschechischen passiert ist, zunichte wird. Die Augustgesetze über die Amtssprache [gemeint ist das Ministerialprogramm von Agenor Gołuchowski, dem Älteren, vom 23. August 1859 und alle damit zusammenhängenden Maßnahmen, Anm. V. P.], durch die das bisherige Vorgehen auch von der Regierung für einen Moment verurteilt wurde, waren für ihn eine Ermunterung.]

Die distanzierte Haltung Jirečeks vom 01. April 1860 zur Veröffentlichung von Wenzigs Artikel kann dagegen als Stellungnahme der offiziellen Wiener Regierungskreise interpretiert werden: Wenzig pronesl některé myšlénky, které nepokládám za hrubě praktické, ale na tom by málo záleželo, kdyby jednaje o otázce čistě didakticko-pedagogické nemíchal do toho politiky [...] Přijmutí prací těch do Musejníku pokládám za velikou neopatrnost, poněvadž se tím časopis vědecký obracuje v politický orgán, čehož v interesu věci věru jen škoda a užitek žádný. [...] Pokud znám, vím velmi dobře, že nejen věren jest svému úřadu, ale jistě jeden z nejupřímněji oddaných Rakousku. Proto nepochybuji, že mu nebude nesnadné, aby z bryndy, do které se neobezřetností svou uvedl, vyvázl. (Pokorná 2008: 177f.)14 [Wenzig äußerte einige Gedanken, die ich nicht für sehr praktikabel halte, aber darauf wäre es wenig angekommen, wenn er – eine rein didaktisch-pädagogische Frage behandelnd – hierin nicht die Politik einbezogen hätte. [...] Die Veröffentlichung der Arbeit in der Museumszeitschrift betrachte ich als eine große Unvorsichtigkeit, weil die Zeitschrift sich damit in ein politisches Organ verwandelt, was für die Sache nur einen Schaden bedeutet und keinen Nutzen. Soweit ich ihn kenne, weiß ich sehr gut, dass er nicht nur seinem Amt treu, sondern auch einer der Österreich treuesten und ergebensten Menschen ist. Deshalb zweifle ich nicht daran, dass es ihm relativ leicht fallen wird, aus dem Schlamassel, in den er sich durch seine Unvorsichtigkeit gebracht hat, herauszukommen.]

14 Auch Bílý (1908: 16) erwähnt das Missfallen der Hof- und Regierungskreise (z. B. Schulrat P. Johann Maresch, der Wenzig als Aufseher über die tschechischen Gemeinde- und Realschulen folgte) über seine Doppelrolle als Staats- bzw. Landesangestellter und Politiker. Wenzig war jedoch keinesfalls eine Ausnahme: Mehrere tschechische Pädagogen waren in den sechziger Jahren auch zugleich Mitglieder des Landtages.

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3. Der Glanz der Misere des böhmischen Staatsrechts: Wenzig und die tschechische Politik der 60er Jahre

Nach dem Skandal durch die Veröffentlichung des Artikels konnte Wenzig jedoch auf Fürsprache von Thun weiterhin Direktor der tschechischen Oberrealschule bleiben. Zum 20. Oktober 1860 wurden aber die gesamten Amtsgeschäfte des Ministeriums für Kultus und Unterricht in die Kompetenz des Staatsministers übergeben. Die nächsten Änderungen kamen schnell: Entsprechend dem Entwurf der neuen Landesverfassung vom 28. Februar 1861, verfasst von der Regierung unter Anton von Schmerling, wurden laut Artikel 18 alle schulischen Angelegenheiten den Ländern übergeben. Die Landes-, die Stadt- und die kommunale Selbstverwaltung in Böhmen und nach 1864 auch die neu konstituierten Bezirksvertretungen wussten diese Möglichkeit schnell auszunutzen. Als erste reagierte die Prager Stadtverwaltung nach dem Wahlerfolg der tschechischen Partei – auf Vorschlag des neugewählten Mitglieds des Ausschusses der Prager Gemeindeältesten und des Stadtrates Wenzig – und thematisierte am 11. September 1861 die schulischen Angelegenheiten (Cohen 1981: 39f.). Auch wenn die tschechischen Abgeordneten 1863 für 16 Jahre den Reichsrat verließen, so entschied doch der böhmische Landtag, so schnell wie möglich Gemeinde- und Bezirksvertretungen einzurichten. Dass die so entstandene Selbstverwaltung manche böhmischen Städte und Dörfer tschechisch machte, ist offenkundig. Aber dass diese Selbstverwaltung dank der verhassten Februarverfassung zustande kam, dazu hat sich die tschechische Gesellschaft nicht bekannt (Podiven 1991: 132-134). Wenzig nutzte seine Position im Landtag wie auch im Prager Magistrat gut. Bei allen wichtigen gesellschaftlichen Unternehmungen der Tschechen der 1860er Jahre in Prag traf man auf Josef Wenzig. So war er schon ab 1859 Kurator des Verlagsgremiums Matice česká (Prokeš 1930; Tieftrunk 1881), ab 1863 erster Obmann des rein tschechischen Künstlervereins Umělecká beseda [Künstlerressource] (Pešat 2008) sowie 1857-58 und 1866-67 Sekretär der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften (Kalousek 1885) und schließlich ab 1870 Vorsitzender der populärwissenschaftlichen und nationalliberal gesinnten belletristischen Bücherreihe Matice lidu, die unter dem Motto Osvětou ku svobodě [Durch Aufklärung zur Freiheit] erschien (Homola 2000). Des Weiteren war er im tschechischen Schulwesen tätig – bei der Organisation der ersten tschechischen höheren Mädchenschule (1863) und der ers-

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ten tschechischen Handelsschule (1866), des Realgymnasiums auf der Prager Kleinseite (1867) sowie auch bei der Aufsicht über die Prager Gemeindeschulen (Hlavačka 2006: 90-106). Er gründete ferner den Unterstützungsfonds für arme Studenten an den Prager Mittelschulen. Nachdem er aber unter den veränderten Zuständen in der Ära Schmerling Ende 1864 den Antrag gestellt hatte, dass der obligatorische Unterricht in der zweiten Landessprache in allen Mittelschulen – natürlich unter Beibehaltung der entsprechenden Unterrichtssprache – stattfinden müsse,15 wurde er ein paar Tage später mit dem Titel eines Schulrates und unter Beibehaltung des Einkommens vom Kaiser in den vorgezogenen Ruhestand versetzt oder – wie man in der tschechischen Presse formulierte – „zwangspensioniert“. Obwohl das Gesetz sanktioniert wurde, lehnten die deutschböhmischen politischen Repräsentaten es scharf ab. Wie bekannt, stand dieses zweite Gesetz, auch Sprachenzwangsgesetz genannt, später in Widerspruch zum Reichsgesetz über das Verbot der sprachlichen Majorisierung, das dann in der liberalen Verfassung von 1867 verankert wurde, und es wurde infolgedessen schließlich annulliert. Hier kommt auch deutlich die Geringschätzung des Tschechischen durch die nationalliberalen Deutschböhmen zum Ausdruck (Burger 1995: 38; Newerkla 1999: 56ff., 66ff.). Auf der anderen Seite gründete allem Anschein nach auch der pathetisch proklamierte tschechische Föderalismus nur auf seinem Widerwillen gegen den Wienerischen Zentralismus, seine eigenen zentralistisch-pragozentristischen Ambitionen konnte er nicht ganz verschweigen. Das ist auch an den Auswirkungen auf den durch die vorgezogene Pensionierung beleidigten Joseph Wenzig zu sehen, wie es sein – wohl gut gemeinter – Dienst im Prager Magistrat zeigt. Seine „Zwangspensionierung“ (1864) markierte 15 Vgl. zur ausführlichen Behandlung der entsprechenden Entwürfe der Schulgesetze im böhmischen Landtag und deren Verzögerung das Kompendium von Šafránek (1918: 129ff., 180f., 190ff.). Die Gleichberechtigung der beiden Sprachen, wenngleich den älteren sprachlichen Utraquismus fördernd, wurde von den bürgerlichen tschechischen Abgeordneten und ihrem damaligen Verbündeten – dem böhmischen Adel – wiederholt (u. a. 12. April 1861, 14. April 1863) unterstützt, womit auch der Vorschlag von Wenzig (1861, 1862) zusammenhing. In der entsprechenden Fachkommission waren Josef Wenzig, der aber auch als Landtagsberichterstatter tätig war, Verleger Friedrich Tempsky/Bedřich Tempský und der Direktor des Taubstummeninstituts P. Wenzel Frost. Das Gesetz wurde am 25. Mai 1864 mit 100 Stimmen gegen 94 angenommen. Gleich danach folgten Proteste aus Eger, Falkenau/Sokolov und Reichenberg/Liberec. Erst am 18.01.1866 wurde das Gesetz vom Kaiser sanktioniert. Wie Krofta (1912) gezeigt hat, nahmen auch die konservativen böhmischen ‚Österreicher‘, wie z. B. der Historiker Anton Gindely, zur fraglichen Einführung des obligatorischen Unterrichts des Tschechischen positiv Stellung.

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einen offenen Bruch mit der bis dahin gezeigten Loyalität zu Kaiserhaus und Monarchie. Damit könnte der Sprachwechsel in seinem literarischen Schaffen von Deutsch zu Tschechisch auch als Folge der politischen Radikalisierung interpretiert werden. Er zählte zu den 81 tschechischen Abgeordneten, den sogenannten Deklaranten, die sich am Eröffnungstag des böhmischen Landtags, am 22. August 1868, mit einer Protestadresse für das böhmische Staatsrecht und für die böhmische Eigenständigkeit nach dem Österreichisch-Ungarischem Ausgleich an den Kaiser Franz Joseph I. wandten und damit auch ihre Abwesenheit im böhmischen Landtag begründeten. Das Präsidium des Landtags akzeptierte ihre Protestadresse nicht und forderte die Abgeordneten zur Teilnahme an der Sitzung auf. Diese lehnten trotzig ab.16

4. Das nationale Theater ­– die Politik als Theater: Wenzigs Opernlibretti als verhüllte (Selbst-)Inszenierung

Den Gipfel seines literarischen, pädagogischen und politischen Schaffens bildete zweifellos sein Bemühen um das tschechische Nationaltheater. Nach Otto Urban hat sich die Aufmerksamkeit der tschechischen Öffentlichkeit in erhöhtem Maße auf ein wirklich eigenes Theater konzentriert, „das die Nation – im Unterschied zum eigenen Parlament – ‚sich selbst‘17 geben konnte“ (Urban 1985: 57). Das Bemühen um ein monumentales und prachtvolles Theater wurde bedeutender Teil „des [tschechischen] emanzipatorischen Bestrebens“, aber es stellte auch einen symbolischen Ausdruck der realen Möglichkeiten 16 An dieser Stelle sei noch bemerkt, dass die tschechischen Abgeordneten mit Unterbrechungen 1863-79 dem österreichischen Reichsrat und 1872-74 respektive 1878 dem böhmischen Landtag fernblieben. Nach den damaligen Regeln wurde ihnen daraufhin ihr Mandat entzogen. Im Dezember 1886 wiederholte sich die Situation – damals waren es die deutschböhmischen Abgeordneten, die dem böhmischen Landtag „fernbleiben wollten“, nachdem ihre Vorschläge zu einem „deutschen geschlossenen Sprachgebiet“ von der tschechischen Seite zum dritten Mal abgelehnt worden waren (Křen 1996: 186; Urban 1994: 325). 17 Eine Anspielung auf die berühmte Devise „Die Nation für sich selbst“, die über dem Vorhang der Hauptbühne des Nationaltheaters angebracht war (Bartoš 1933).

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und Grenzen der zeitgenössischen tschechischen Politik dar. Deshalb fehlte Wenzig auch nicht bei der Grundsteinlegung 1868, bei der er zum rituellen Anklopfen des Grundsteins gesagt haben soll: „Divadlo národa českého ať se vyvinuje vřele a trvá skvěle!“ [Möge das Theater der tschechischen Nation sich mit Innigkeit entwickeln und möge es auf Dauer prunkvoll sein!] (Heller 1869: 58). Wichtiger sind jedoch seine zwei Opernlibretti zur Musik von Bedřich Smetana, von denen Libuše ursprünglich als Krönungsoper gedacht war. Bei Dalibor (1868), am 16. Mai 1868 im Neustädter Theater zur erwähnten Grundsteinlegung des Nationaltheaters uraufgeführt, verarbeitete Wenzig Motive böhmischer Sagen aus der Zeit des Jagiellonen Vladislav II., die er in seinem Gedicht Die Daliborka im Almanach Libussa auf das Jahr 1848 thematisierte. Ähnlich wie auch in Beethovens Fidelio wird in Wenzigs Libretto gezeigt, wie der unschuldige Held (Dalibor von Kozojedy) gegen die tyrannische Herrschaft (Adam von Ploschkowitz) die Prinzipien der politischen Freiheit und der Gerechtigkeit in höchster Not verteidigt, verbunden mit der Akzentuierung des Motivs der Treue und Liebe (gezeigt am treuen Diener Janko, evtl. Zdeněk, und der tragisch verliebten Milada) (Fischer 1915; Ottlová 2001). Auch hier mag verhüllt die Selbstreflexion seiner eigenen aktuellen Stellung – am Bild des gerechten Ritters im Kampf mit dem König – dargestellt worden sein. Der bekannte Text von Libuše, der – ausgehend von der immer stärker angezweifelten Grünberger Handschrift (Rukopis zelenohorský) – die ideale Vergangenheit und glänzende Zukunft der tschechischen Nation darstellt, ist mit Recht als ein außerordentlicher Versuch der Rekapitulation und Manifestation des tschechischen politischen Programms zu verstehen (Fischer 1915; Ottlová/Pospíšil 1982). Das Motiv der Prophezeiung einer besseren Zukunft, damals noch die der böhmischen Nation, ist schon in seinem früheren Gedicht Dom auf dem Hradschin, veröffentlicht im Almanach Libussa auf das Jahr 1848, vertreten. Ähnlich bearbeitete Wenzig auch seine anderen deutschen Gedichte18 und einige Vorworte zu seinen Übersetzungsbänden aus dem Tschechischen. Im zweiten 18 Seine originellen Dichtungen im historisierenden Stil der deutschböhmischen Romantik der 1820er und 1830er Jahre, Nachahmung der Liebeslyrik eines Karl Egon Ebert oder Jan Kollár sowie der klassischen Ode (Verehrung der tschechischen Erwecker im Gedicht) und des Volksliedes oder kleine romantisierende Naturlyrik (Sonette Frühling und Liebe), waren „in ihrer Wirkung sehr zeitbeschränkt“ (Jähnichen 1967: 168); eine zeitgenössische scharfzüngige Beurteilung findet man auch bei Ignaz Jeitteles (1837/2: 43), der unter dem Pseudonym Julius Seidlitz eines der bekanntesten österreichischen literarischen Pamphlete schrieb.

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Band seiner tschechischen Sebrané spisy [Gesammelte Werke] übersetzte er – oder dichtete er nach – eine Auswahl aus seinem dichterischen Schaffen und beendte somit in poetischer Weise im Gedicht Ke svým z pěvům [An meine Gesänge] sowie im Vorwort demonstrativ die Phase seiner deutschsprachigen Dichtung:19 Odřeknuv se spisovatelství německého a odhodlav se vydat úplnou sbírku svých původních básní v jazyku českém, neopominul jsem, prohlédnout je co nejpečlivěji. Předně učinil jsem z nich výběr, zavrhnuv z nich mnohé, jež mě již neuspokojily. To jsem měl za první svou povinnosť, i prosím, aby původních mých básní, nepřijatých do této sbírky, nebylo dále všímáno. (Wenzig 1874: Vf.)20 [Auf die deutsche Dichtung zu verzichten und nach dem Entschluss, eine vollständige Sammlung meiner Originalgedichte in tschechischer Sprache herauszugeben, habe ich nicht versäumt, sie möglichst sorgsam durchzusehen. Vor allem traf ich eine Auswahl und verwarf dabei diejenigen, mit denen ich nicht mehr zufrieden war. Das war meine vorrangige Pflicht und daher bitte ich, meine ursprünglichen, nicht in diese Sammlung aufgenommenen Gedichte nicht weiter zu beachten.]

Auch einige in das Tschechische übersetzte Vorworte zeigen sehr plastisch die Verwandlung eines österreichischen Landespatrioten in einen national gesinnten Tschechen.

5. Über den Idealismus ‚eines Landeskindes‘: Wenzig als ‚Freund‘ oder Wenzig als ‚Agitator‘?

Wenzig wurde von der tschechischen national gesinnten Gesellschaft als Paradebeispiel eines zweisprachigen Intellektuellen wahrgenommen, der in der Nachfolge Bernard Bolzanos vorbildlich für die Gleichberechtigung beider Nationalitäten eintrat. Interessanterweise wurde dabei sein ethnischer Ur19 Dazu ironisch Wurzbach (1887: 29): „Ein Unternehmen, das er sich gestatten mochte, denn möglich, daß seine Poesien in čechischer Sprache Wirkung machten, in der deutschen sind sie aber spurlos verhallt.“ 20 Man vergleiche die kleinen, aber bedeutenden Umwandlungen des Gedichtes An die Landsleute (Wenzig 1857: 4) mit dem landespatriotischen Ton in dem nationaltschechischen Appell Ke krajanům (Wenzig 1874: 10f.), so z. B. die angeführte Anrede „bratří!“ [Brüder!] oder die Ersetzung der Wortbindung „unser theuer Heimatsthal“ durch „země česká“ usw.

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sprung nicht geleugnet – im Gegensatz zu den Politikerbrüdern Grégr/Gröger oder dem Sokolgründer Jindřich/Heinrich Fügner. Wenzig bediente sich des Bildes von „dem gerechten Deutschen“, um die tschechischen Ansprüche desto mehr zu rechtfertigen. Wie auch Jan Neruda in einer Lebensbeschreibung zu erklären wusste: Z onoho cípku severozápadních Čech, v němž vzdor malosti jeho velké se ode­hrály děje, kde druhdy Římané prý své tábory měli a o tisíc let později Valdštýn život svůj skončil, – kde již náš Jiří z Poděbrad meškal, aby mařil úklady knížat německých, a kde dnes ozývají se hlasy zas „autonomistické“ – recte Čechám nepřátelské, – z krajiny či zemičky chebské vyšla po sedmileté válce rodina, jejíž jeden člen Josef Wenzig stal se zaníceným a zajisté nejupřímnějším přítelem českého národa. Byl původu německého? Či – jak znění jména jeho svědčí a tradice tvrdí – polského? Nemůžeme to zcela určitě říci: kdokoliv s ním jsme osobně měli co činit, dle jazyka jsme pozorovali vždy, i v nejposlednějších letech, ještě trochu cizoty – ale duší, srdcem, celým srdcem byl Wenzig náš. (Neruda 1883: 132) [Aus jenem Zipfel Nordwestböhmens, in dem sich trotz seiner Kleinheit großes Geschehen abgespielt hat, wo wohl einst die Römer ihre Lager hatten und wo tausend Jahre später Wallenstein sein Leben beendete, – wo schon unser Georg von Podiebrad weilte, um die Anschläge der deutschen Fürsten zunichte zu machen, und wo auch heute noch ‚autonomistische‘ – recte tschechenfeindliche – Stimmen erklingen, aus der Gegend um Eger bzw. dem Egerland kam nach dem Siebenjährigen Krieg eine Familie, deren Mitglied Josef Wenzig zum begeisterten und gewiss aufrichtigsten Freund der tschechischen Nation wurde. War er der Abstammung nach ein Deutscher? Oder – wie der Wortlaut seines Namens zeugt und die Tradition behauptet – polnisch? Wir können es nicht mit Bestimmtheit sagen: Wer von uns auch mit ihm persönlich zu tun hatte, hat immer anhand der Sprache, auch in den letzten Jahren noch, etwas Fremdartiges erkannt, aber mit seiner Seele, mit seinem Herzen, mit seinem ganzen Herzen war Wenzig unser.]

Und weiter fügte der national gesinnte Neruda mit deutlicher Anspielung auf die aktuellen Konflikte zwischen Alttschechen und Jungtschechen zu Anfang der 1880er Jahre, nämlich der Betonung der Unabdingbarkeit deutscher Sprachkenntnisse für jeden gebildeten Tschechen durch den Alttschechen František Ladislav Rieger (Urban 1994: 563f.), hinzu: Wenzig Němec! Dnešního dne byl by tento Němec některým našincům snad už příliš českým! (Neruda 1883: 132) [Wenzig, ein Deutscher! Heute wäre dieser Deutsche für einige von uns vielleicht allzu tschechisch!]

Auch die ‚andere Seite‘ war von Wenzigs Verdiensten überzeugt. Constant von Wurzbach, Autor des berühmten Biographischen Lexikons des Königreichs Österreich, teilte bei der Bewertung des pädagogischen Wirkens seines ehemaligen Mitarbeiters folgendes mit:

Josef Wenzig und die (Selbst-)Wahrnehmung seiner politischen und literarischen Tätigkeit 27 Die Saat, welche daraus aufkeimt, sehen wir mit eigenen Augen, aber die Frucht ist eine andere; und der wahre Österreicher wird Wenzigs Namen nie mit einem Segensworte verbinden. Die pädagogische Wirksamkeit [...] hat er in der Folge mit der agitatorischen vertauscht; in die Schule aber [...], in diese Hallen des Friedens die Brandfackel der Agitation zu schleudern, ist ein Verbrechen gegen die Jugend [...], ist ein Verbrechen gegen den Staat, dem man nicht edle Bürger, sondern Rebellen erzieht. (Wurzbach 1887: 28)21

Meinen Beitrag habe ich mit einem Zitat begonnen, ich möchte ihn auch mit einem Zitat beenden. In seinem – nie inszenierten – Drama Timoleon lässt Wenzig den griechischen Philosophen Platon – wieder ist eine Selbststilisierung zu vermuten – sein Vermächtnis folgendermaßen formulieren: Skutků svých výsledkem my nevládneme, Z úmyslů svých jsme bohům odpovědni. (Wenzig 1871: 36) [Wir beherrschen nicht die Auswirkung unserer Taten, für unsere Absichten sind wir den Göttern verantwortlich.]

Diese Worte kamen mir mehrmals in Erinnerung, als ich über den „Hader zwischen den Čechen und Deutschen“ (Wurzbach 1887: 28) gerade im Schulwesen nachgedacht habe, der schon wenige Jahre nach Wenzigs Tod (1876) begann. Es war nämlich gerade jener Idealist Josef Wenzig, der bei der Abschaffung des bilingualen Unterrichts an den böhmischen Schulen und der Anordnung eines Unterrichts in der zweiten Landessprache als Pflichtfach nicht mit dem nationalen Egoismus gerechnet hatte. Mit einem nationalen Egoismus zweier im Lande sich immer mehr voneinander entfernenden und entfremdenden nationalen Gemeinschaften.22

21 Auch im Eintrag von Adolf Hauffen in der repräsentativen Allgemeinen deutschen Biographie wird Wenzigs Tätigkeit negativ beurteilt: Wenzig habe „als Pädagoge und Politiker [...] dem Deutschthum in Böhmen die tiefste Wunde geschlagen“ (Hauffen 1896). Diese Ansicht ist auch in der zeitgenössischen Rezeption der bisherigen böhmischen Sprachgesetze in der führenden deutschböhmischen Zeitschrift Mittheilungen des Vereines für die Geschichte der Deutschen in Böhmen – dem Pendant zur tschechischen Museumszeitschrift – sichtbar (Winter 1868). – Eine wohl symbolische Bedeutung hatte der alternative Vorschlag zur Erlernung weiterer Sprachen an den österreichischen Schulen, den Jan Evangelista Purkyně 1867 unter dem Titel Austria polyglotta in einer tschechischen und einer deutschen Fassung vorlegte. 22 Den deutschösterreichischen Liberalismus in den Nationalitätenfragen – etwa dem Konzept der kulturellen Superiorität folgend – kritisierte überzeugend Judson (1996: 90, 103f., 135; 2001: 67). – Kritik an der „tschechischen Verabsolutierung“ der Sprache übte dagegen Podiven (1991: 371f.).

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Abb. 1: Jan Vilímek: Jose Wenzig (Humoristické listy 24/17 [23.04.1883], 132).

Abb. 2: Josef Wenzig im Pantheon der tschechischen Pädagogen und Lehrer, in der Mitte Jan Amos Komenský (J. Sokol, Stručný slovník paedagogický, Teil 2, 1893).

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Abb. 3: Eisernes Relief von Josef Wenzig am Neorenaissance-Gebäude der Prager Knaben- und MädchenGemeindeschule mit böhmischer Unterrichtssprache (zwischen 1882 und 1899; Architekten und Baumeister Josef Srdínko, Alois Elhenický, Ludvík Čížek); heute Základní škola Uhelný trh, fakultní škola Pedagogické fakulty UK s rozšířenou výukou matematiky) (Foto: Václav Petrbok).

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Nachdenken über kulturelle Zugehörigkeit. Neobohemistische Traditionen und nationale Desintegration in der Kafka-Zeit

1. Vorbemerkung

Franz Kafka, so konstatierten unlängst die Herausgeber eines neuen Handbuches (Engel/Auerochs 2010), sei längst ein Markenartikel der deutschsprachigen Kultur und Literatur geworden, der es zudem als Namensgeber des in vielen Sprachen gebräuchlichen Adjektivs ‚kafkaesk‘ zu eponymischen Ehren gebracht habe. Tatsächlich belegt die umfangreiche, nicht nur akademische Beschäftigung mit Kafka, der u. a. als scharfsinniger Zeitkritiker oder völlig weltferner Dichter, als asketischer Gottsucher oder als Repräsentant der Moderne gedeutet wurde und wird, nicht nur eine höchst polyphone Interpretationskultur, sondern symbolisiert gewissermaßen eine immer wieder erneut sich konstituierende Aktualität des Kafkaschen Werkes. Dass eine Erfahrung, in der Kafkas Werk als „Metonymie für eine grundsätzliche Problematik der Interpretation, ja, für Uninterpretierbarkeit von Literatur im Allgemeinen“ (Jahraus 2008: 304) fungiert, gleichfalls Skepsis ob dieser Unerschöpflichkeit, Vieldeutigkeit, Undeutbarkeit hervorruft (Andringa 2008), muss hier nicht weiter thematisiert werden. Tatsache scheint zu sein, dass Kafkas Werk stärker unter literaturtheoretischen als literaturhistorischen Aspekten, eher aus nationalphilologischen als bohemistischen Perspektiven rezipiert wurde, was auch Ausdruck einer gewissen, wenn auch nicht generellen Tendenz zur Entkontextualisierung des Werkes sein dürfte. Dies ist insofern verwunderlich, als Kafka den größten Teil seines Lebens als Bürger der multinationalen und -lingualen Habsburgermonarchie verbrachte, die restlichen Jahre überwiegend als Staatsbürger der gleichfalls multinationalen und -lingualen Tschechoslowakei und er Zeitzeuge von zahlreichen innen- und außenpolitischen Krisen war, man denke nur an die Badeni-Unruhen 1897, den Hilsner-Prozess

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1899, die bosnische Annexionskrise 1908, die Balkankriege 1912/13, den 1. Weltkrieg, die nationalistischen und antisemitischen Ausschreitungen in Prag nach 1918, der 4. März 1919 oder auch die Steinherz-Kampagne 1922. Kafka nahm somit zwangsläufig Prozesse zunehmender Verfestigung nationalpartikularer Einstellungen zu Kenntnis, verbunden mit z. T. destruktiven Vorgängen natio­naler Selbstvergewisserung und desintegrativen Tendenzen, immer begleitet auch von antisemitischen Atavismen. So facettenreich das Bild von Kafka ist, fällt insgesamt auf, dass abgesehen von der Thematisierung der jüdisch-zionistischen Problematik bzw. von biographisch orientierten Beiträgen1 eine weitergehende Kontextualisierung von Kafka und seinem Werk häufig ausgeblendet bleiben, sozial- und kulturgeschichtliche Rückbindungen erscheinen immer noch unterrepräsentiert.2 Ausgeblendet bleiben damit aber auch die literarhistorischen respektive -politischen Traditionen, in deren Kontext Kafkas Werk einzubetten wäre und damit beispielsweise kultur- bzw. ideologiedeterminierte oder -orientierte Rezeptionen Kafkas (Höhne 2007). Aus diesem Grund möchte der vorliegende Sammelband das Kontinuum aus Person, Werk und eben Welt im Hinblick auf Franz Kafka stärker in den Blick nehmen.

2. Prager Kontexte

Mit dem Titel des Bandes Kafka und Prag wird eine Territorialisierung konstituiert, mit der sich der vorliegende Sammelband in die Tradition der Liblicer 1  Zu ersterem s. den Beitrag von Čapková in diesem Band, ferner die einschlägigen Beiträge in Nekula/Kochmal (2006). Von einer regelrechten Renaissance der biographischen Kafka-Forschung lässt sich seit einigen Jahren sprechen, s. Alt (2005), Begley (2008), Haring (2010), Klein (2008), Neumann (2008), Stach (2002, 2008), ferner die Neuauflage von Wagenbach (2006). Kritisch zu dieser Einhegung Kafkas in den mikroskopisch-biographischen Kontext s. Kundera (1991: 16). 2  Dies gilt allerdings nicht für Beiträge, in denen die multinationalen, kulturellen und sprachlichen Prager Kontexte explizit Berücksichtung finden, so schon das erste Kafka-Handbuch mit einer Reihe einschlägiger Artikel (Binder 1979), ferner Schmitz/Udolph (2001), Nekula (2003), Nekula/Fleischmann/Greule (2007), Höhne/Udolph (2010), Becher/ Knechtel (2010), Džambo (2010).

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Kafka-Konferenz von 1963 (Goldstücker/Kautmann/Reimann 1965) sowie der Prager Kafka-Konferenz von 1992 (Krolop/Zimmermann 1994) stellt, die als Beispiel bisher unterrepräsentierter literaturwissenschaftlicher Kontextualisierungen dienen können, wenngleich Versuche zur Lokalisierung und – dies gilt für einige der Beiträge von 1963 – damit ‚Verharmlosung‘ Kafkas scheiterten. Die von Willy Haas übernommene These Eduard Goldstückers, nach der kein Nicht-Prager Kafka verstehen könne, eine raum-zeitliche Verortung Kafkas auf den Prager Kontext, blieb aber wirkungslos, wie die Kontroversen auf der Liblicer Konferenz um Entfremdungsphänomene in sozialistischen Gesellschaften sowie um eine erweiterte Realismuskonzeption zeigten (Höhne 2003).3 Gegen das wirkungsmächtige Stereotyp vom dreifachen Ghetto Prag (Pavel Eisner)4 muss man nur auf die vielfältigen kulturellen und intellektuellen Interdependenzen zwischen Deutschen, Tschechen, Slowaken, Juden u. a. in Prag und den Böhmischen Ländern verweisen. Prag lässt sich seit dem späten 19. Jahrhundert als ein kultureller und intellektueller Mikrokosmos erkennen, in dem sich kultur-, sprach- und wissenschaftspolitische Entwicklungen und Konflikte der gesamten Habsburgermonarchie durchdringen. Aufgrund der ‚multikulturellen‘ Determinanten fanden sich in Prag besondere Voraussetzungen für intellektuell-künstlerische Diskurse und Kontexte, die ihre prägende Bedeutung nicht nur auf die Stadt, sondern auf die Böhmischen Länder bzw. die Tschechoslowakei, aber auch über Habsburg hinausgehend auf Zentraleuropa insgesamt entfalten konnten. Im Folgenden sollen daher, ohne auf das kontroverse Geflecht der nationalen Auseinandersetzungen im Rahmen einer ‚Konfliktgemeinschaft‘ eingehen zu können, einige der Einstellungen, intellektuellen Deutungsmuster und leitenden Weltbilder vorgestellt werden, die sich der wachsenden nationalen Polarisierung und damit ethnischen Desintegration um 1900 partiell verweigerten.5 Denn die nationale Polarisierung, die in der Prager Moderne sowohl ein Bewusstsein von Gefährdung und drohendem Zusammenbruch, aber auch – und dies nicht nur auf tschechischer Seite – Hoffnung auf einen Neuanfang beförderte (Chvatík 1991: 352), verlangte von Künstlern und Intellektuellen Positionierungen auf einem Feld 3  Zur Konstruktion einer syntagmatischen Beziehung von Kafka und Prag s. neben den einschlägigen Arbeiten von Max Brod beispielsweise Urzidil (1968: 155). 4 Dieses darf seit den wegweisenden Arbeiten von Binder (1996), Escher (2010) und selbstverständlich denen des Jubilars (Krolop 2005) als widerlegt gelten. 5  Zum Prozess der Desintegration aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Křen (1996), aus kulturpolitischer Storck (1999); zu den Alternativen in Form integrativ-utraquistischer Identifikation s. Luft (1996a, b).

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konkurrierender Kommunikationsräume, die gleichwohl mit Verengungen bzw. Verdichtungen des Raumes für die deutsche Sprache und Literatur in Prag verbunden waren (Demetz 1979: 242). Dessen ungeachtet wiesen um die Jahrhundertwende vielfältige kulturelle und kulturpolitische Aktivitäten sowie Kontakte über die nationalen Grenzen hinweg auf einen neobohemistischen Neubeginn, der auf politischer Ebene nach 1918 mit dem sich herausbildenden Aktivismus korrespondierte – eine gewissermaßen pragmatische Wende im Bewusstsein der Machtverschiebung innerhalb der Böhmischen Länder.6 Wie reagierten Prager deutsche Intellektuelle, die sich explizit jenseits der na­tionalchauvinistischen Narrative verorteten, auf Finis Austriae, den Unter­gang der habsburgischen Lebenswelt, und mit welchen Konzepten des intellektuellen wie politischen Ausgleichs suchten sie die dominanten nationalen Narrative zu neutralisieren? Und lassen sich von diesen sowohl politisch-sozialen als auch lebensweltlichen Umbrüchen gar Rückschlüsse auf das Werk Franz Kafkas ziehen, dessen Historiographeme in das Interesse der Forschung gelangen? Ohne an dieser Stelle derartige Historiographeme weiter verfolgen zu wollen, seien zumindest ein paar Spuren im Werk angeführt. Ob man im Proceß, der fast zeitgleich mit dem Ausbruch der Balkankriege niedergeschrieben wurde, einen Weltkriegsroman erkennen mag, der eben auch unter dem Eindruck einer offenkundigen Unfähigkeit der Habsburgermonarchie entsteht, selbst gegen Serbien militärisch erfolgreich agieren zu können,7 sowie durch die katastrophale Niederlage der k.u.k. Armee gegen Russland bei Lemberg und der damit verbundenen Bedrohung der jüdischen Bevölkerung durch den russisch-zaristischen Despotismus,8 oder ob in einzelnen Erzählungen 6  Zu den intellektuellen und literarisch-künstlerischen Konzepten und Traditionen der Prager deutschen Literatur s. die Arbeiten des Jubilars, an die dieser Beitrag anknüpft (Krolop 2005). 7  S. hierzu die einschlägigen Tagebuchaufzeichnungen vom 13.09.1914 und vom 18.10.1914 (KKAT 677, 710). 8  Zu den Parallelen zwischen dem Hilsner-Prozess und Kafkas Proceß, aber auch zum ŠvehlaProzess s. Neumann (2007a, b, 2008), der die biographische Deutung des Proceß’ allein aus der Beziehung zu Felice Bauer relativiert. Neumann setzt den Roman einerseits in Beziehung zu den nationalistisch-rassistisch aufgeladenen Diskursen am Vorabend des 1. Weltkriegs, andererseits zu der Sorge um den Bestand der Habsburgermonarchie, die als einzig verlässlicher Garant der jüdischen Emanzipation und Bollwerk liberal-bürgerlicher Rechtsnormen erscheint. Zu Analogien zwischen den desintegrativen Tendenzen, die am Vorabend des 1. Weltkriegs auf dem österreichischen ‚Staatsschiff‘ herrschten und dem Erwählten s. den Beitrag von Boris Blahak in diesem Band. Zur Bedrohung der jüdischen Bevölkerung s. Stölzl (1989), zu Hilsner s. Wagner (2006). Nekula (2006: 139) vermerkt, dass

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offenkundig auf den Niedergang der Monarchie Bezug genommen wird – es fließen immer auch Historiographeme in das Werk Kafkas ein. Eine kaiserliche Botschaft, erschienen in der Selbstwehr am 24.09.1919, vermittelt ein Bild der Unbeweglichkeit und Überlebtheit;9 Ein altes Blatt, erschienen in Marsyas im September 1917, antizipiert wie in Joseph Roths Radezkymarsch mit dem isoliert lebenden Kaiser ein Bild des Untergangs der Monarchie auch aufgrund von Versäumnissen im Inneren: „Es ist viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres Vaterlandes.“ (Kafka 1994: 263)10 Ob über solche Indizien hinaus eine weiterreichende neobohemistische oder austriazistische Verankerung von Kafkas Werk nachzuweisen wäre – also eine Einbettung in mitteleuropäische Traditionskontexte –, soll hier nicht weiter erörtert werden.

2.1. August Sauer und die pragmatische Modifizierung des Antagonismusmodells Eine für die Böhmischen Länder nicht untypische Textgattung dürfte der kulturreflektierende Essay darstellen,11 in dem es zur Erörterung sozialer und vor allem nationaler Verhältnisse sowie der daraus abzuleitenden kulturpolitischen Maximen kommt. Eingebettet in Formen der bereits im Vormärz zu findenden Ausgleichspresse von Ost und West (1837-1848) über Periodika wie die Herder-Blätter bis hin zum Witiko (1928-1931) findet man in diesen Schriften auch Erörterungen, die auf Alternativen zu den nationalen und zunehmend nationalistischen Narrativen weisen. Ein scheinbar typischer Vertreter derartiger Einstellungen auf Prager deutscher Seite scheint August Sauer zu sein, der noch in einer aktuellen Kafka-Biographie als „rabiater Kafka nationalistische Periodika mit antisemitischen Tendenzen wie Česká stráž [Tschechische Wacht] und Česká svoboda [Tschechische Freiheit] sehr wohl zur Kenntnis nahm. 9  Möglicherweise steht Kafka hier in einer Tradition der Österreichkritik des Vormärz (s. Charles Sealsfield, Viktor von Andrian-Werburg u. a.), in der Ludwig Börne der Habsburgermonarchie aufgrund ihrer restaurativen Immobilität die Bezeichnung ‚europäisches China‘ zuwies. 10  Die Erzählung Der neue Advokat, erschienen in Marsyas im September 1917, besitzt möglicherweise einen direkten Bezug auf die Kriegsführung „Heute – das kann niemand leugnen – gibt es keinen großen Alexander. Zu morden verstehen zwar manche; auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Feind zu treffen, fehlt es nicht; [...].“ (KKAD 251). Auf weitere Bezüge zum 1. Weltkrieg weist Kittler (1990). 11  Zur Gattung des Essays s. vor allem die Arbeiten von Klaus Weissenberger (1985).

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Verfechter deutscher Dominanz, ein rechter Haudegen in seiner Eigenschaft als deutschnationaler Kulturkrieger“ (Neumann 2008: 245) geschildert wird. Nun darf man gerade bei August Sauer über seine Aktivitäten in der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen sowie in der Deutschen Arbeit entsprechende Wirkungen vermuten (Höhne 2011). In einer als Bedrohung wahrgenommenen Situation, einer zunehmenden Tschechisierung Prags unter demographischen, ökonomischen, symbolischstädtebaulichen und sprachlichen Kriterien ging es ihm neben seiner wissenschaftlichen Arbeit um nationalkulturelle Integration, um Zentrierung und um Separation. Mit der kulturellen Integration war eine Überwindung der Entfremdung zwischen den Grenzlanddeutschen und den Prager Deutschen, also eine deutschböhmische Identifikation intendiert. Mit Zentrierung sollte die Aufwertung bzw. Behauptung Prags als deutschböhmisches, nicht nur als tschechisches Zentrum erreicht werden, weshalb Sauer sich vehement für den Verbleib der deutschen Universität in Prag und gegen deren Verlagerung in das Grenzgebiet, z. B. nach Reichenberg, aussprach. Mit Separation sollten die Gefahren durch Utraquisierung und Tschechisierung neutralisiert werden. Ziel war, per nationaler Kodierung und Kategorisierung von Literatur, Geschichte und Kultur, ein deutschböhmisches Wir-Gefühl zu konstituieren, basierend auf ethnischen Charakteristika und einer emotionalen Bindung an die eigene Kultur und unter strikter Abgrenzung von tschechischen Einflüssen. Hierzu dienten Ausstellungen, die Gründung von Institutionen wie der Gesellschaft, Periodika wie die Deutsche Arbeit, aber auch Stipendien oder Aufträge an deutschböhmische Künstler sowie Mittel zur Errichtung von Denkmälern u. a. für Goethe (Franzensbad) und Mozart (Prag) sowie für Franz Joseph I. (Gablonz) und Franz Joseph II. (Teplitz).12 Die als eigennational dekretierte kulturelle Produktion wurde in den Dienst einer nationalen Erweckung gestellt, gleichsam das erfolgreiche Vorbild der tschechischen Gesellschaft kopierend. Andererseits dürften nicht nur August Sauers tschechische Verwandtschaft sowie die seiner Frau Hedda den unzweifelhaften Nationalpatriotismus (nicht Chauvinismus) Sauers mit einer „in seinen Kreisen nicht immer faßbaren Verständnisbereitschaft gegenüber dem Nachbarvolke“ (Hofmann 1995: 84) relativiert haben. Schon vor dem 1. Weltkrieg finden sich explizite öffentliche

12  Ab 1907 wurde in der Deutschen Arbeit die Rubrik Prag im Spiegel der deutschen Literatur eingefügt, mit der eine Aufwertung eigenkultureller Traditionen intendiert war, dass Prag „nicht mehr als eine rein tschechische Stadt betrachtet wird, sondern als die doppelsprachige Hauptstadt eines von zwei gleichwertigen und gleichberechtigten Volksstämmen bewohnten Landes.“ (Sauer 1907: 544)

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Formulierungen, so in der Rede zur Enthüllung des Stifterdenkmals in Oberplan [Horní Plana] 1906, die auf einen nationalen Ausgleich zielen.13 Nach 1918 trat Sauer für eine prinzipiell unpolitische Orientierung von Wissenschaft und Kultur ein. Er reflektierte als Aufgabe für die Wissenschaft „die weitere ungestörte Herüberleitung deutschen Geisteslebens in das neue Staatswesen“, womit eine Verbindung von „Ost und West“ erreicht würde (Sauer 1920: 23). Dieser Transfer einer ursprünglich deutschböhmischen Separation auf die neue Republik, womit er sich explizit gegen den ‚Eisernen Rektor‘ August Naegele stellte, der eine Loyalitätserklärung zu der neuen Republik verweigerte (Pešek 2006)14, wurde mit Verweisen auf die Entfremdung zwischen den beiden Prager Universitäten verbunden, für die er – auch bei sich selbst – mangelnde Sprachkompetenz verantwortlich machte, allerdings mit dem Hinweis, dass er „für die Erlernung der tschechischen Sprache durch unsere Studenten eingetreten“ sei (Sauer 1920: 24).15 In gewisser Weise – man mag das als Inkonsequenz oder als Pragmatismus betrachten – stand Sauer schon vor 1918 in einer Tradition kulturell-sprachlicher Wechselseitigkeit, was seine Verdienste um die Prager Universitätsbohemistik ebenso zeigen wie seine biobibliographischen Leistungen zur Erforschung bilingualer böhmischer Autoren und zu den deutsch-tschechischen Beziehungen inklusive seiner Editionen. Eindeutige nationale Zuordnungen, also „die Frage der sicheren Zugehörigkeit zu unserer Nationalität“ problematisierte Sauer (1905: 115), auch wenn er diese als Konstrukte nicht grundsätzlich in Frage stellte. Goethe hatte das Hybride der böhmischen Kultur sehr wohl erkannt, als er im „Gegensatz von Deutschem und Slawischem [...] zugleich die stärkste Verbindung“ erkannte (Goethe/Varnhagen 1830: 199).

13  Ob somit Kafkas Replik (Brief an Oskar Pollak vom 24.8.1902) auf die Prager Germanistik, die ‚in der Hölle braten solle‘ (Kafka 1999: 13), durch August Sauer evoziert wurde – so die Hypothese von Binder (1995) und Neumann (2008: 245), der in Sauers Position eine „Negation ihres [Kafkas und Pollaks] eigenen Existenzentwurfs“ zu erkennen meint –, muss mangels Belegen Spekulation bleiben. Binder, der geflissentlich die verwandtschaftlichen Beziehungen Sauers übergeht, charakterisiert diesen lediglich als „väterlichseits von Sudetendeutschen“ (Binder 1995: 180) abstammend, eine unhistorische, da retrospektive Kategorisierung, die den so komplexen wie heterogenen ethnisch-nationalen Zuschreibungen und Loyalitäten in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg überhaupt nicht und auch danach höchstens bedingt gerecht wird. 14  Die Gruppe um Sauer führte mit ihrer Loyalitätserklärung die Prager deutsche Universität zu einer realistischen Haltung (Pešek/Míšková 2010). 15  1906 wurde an der Prager deutschen Universität ein Tschechisch-Lektorat eingerichtet, das Sauers Schüler Franz Spina übernahm.

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Gravierender erschien nach 1918 Sauers Problematisierung nationaler Zuweisungen: „Wie weit gibt es überhaupt eine nationale Kultur, insbesondere eine nationale Wissenschaft?“ (Sauer 1920: 17) Mit Verweis auf Goethe, der bekanntlich Patriotismus in Kunst und Wissenschaft bezweifelte, wurden national eindeutige Zuweisungen als Fiktion entlarvt. Anders als seine Schüler Josef Nadler und Joseph Pfitzner bezweifelte Sauer den Sinn von Katego­ risierungen wie Deutsche und Tschechische Kultur, da „eine scharfe Abgrenzung, reinliche Scheidung und sichere Einzelbewertung unmöglich“ sei (Sauer 1920: 19), ein zumindest partieller Widerruf der Rektoratsrede (Sauer 1907b). Man mag diese Äußerungen als taktische Replik auf mögliche Nationalisierungstendenzen in den Wissenschaften nach 1918 interpretieren, doch ein pragmatischer Umgang mit den neuen politischen Rahmenbedingungen lässt sich nicht verkennen. Ausgehend von der grundsätzlichen Überlegung, ob ein „günstiges Klima für die deutsche Wissenschaft in Prag überhaupt noch einmal geschaffen werden“ könne (Sauer 1920: 27), thematisierte Sauer eher praktische Bedingungen für die weitere Arbeit der Universität; er vermerkte z. B. positiv die Gehaltserhöhung der Professoren durch die neue Regierung. Letztlich dokumentieren Sauers Äußerungen Vertrauen in die neue Republik, denn „für die ungehinderte Ergänzung des Lehrkörpers sorgt die demokratische Grundlage des Staates.“ (Sauer 1920: 25) Sauer akzentuierte somit die schon vor 1918 geforderte wissenschaftliche und kulturelle Autonomie gegen kulturhegemoniale tschechische Positionen, verbunden mit Forderungen nach kultureller Eigenständigkeit der Deutschböhmen und -mährer unter Berücksichtigung des Wechselseitigkeitskontextes, ohne allerdings eine übernationale, über den territorialen Bohemismus hinausgehende transkulturelle Perspektive in den Blick zu nehmen. Dennoch geriet Sauer mit derartigen Positionen in die Isolation, eine radikaler gestimmte Jugend nach 1918 war mit Autonomiepostulaten nicht mehr zufrieden zu stellen. Von Sauer, dem Judenfreund – so Gottfried Rothacker –, der „duldsam in allen religiösen und Rassefragen“ gewesen sei, zudem „ein geschworener Feind jeder Gewaltanwendung bei der Auseinandersetzung in nationalen und weltanschaulichen Dingen, [...]“ (Pfitzner 1928: XXXV), meinte man sich distanzieren zu müssen.

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2.2. Politische Symbiosemodelle Ausgehend von Erfahrungen des Kulturkontaktes entwickelte der Bohemist Franz Spina sein deutsch-tschechisches Symbiosemodell (Höhne/Udolph 2011). Durch deutsche und westeuropäische kulturelle Einflüsse komme es zur Verwestlichung der tschechischen Literatur und Kultur. Aus dem wechselseitigen Kontakt insbesondere mit der deutschen Kultur resultiere ein „Abschleifen der ursprünglichen Stammesmerkmale“ (Spina 1921: 57), dadurch wurden die Tschechen zu einem „merkwürdigen Typus eines Slawentums mit völlig westeuropäischen, vor allem deutschen Äußern.“ (Spina 1921: 57f.) Spinas Attribute zur Stützung dieser These sind: die geographische Lage dieses „westlichsten slawischen Vorpostens“, die frühzeitige und freiwillige Annahme des römischen Katholizismus, die „Umklammerung vom starken deutschen Einfluß“ (Spina 1910: 437). Im Ergebnis „existiert eine Kulturgemeinschaft, eine ‚geistige Gütergemeinschaft‘ der Tschechen vorzugsweise mit den Deutschen, [...]. Die tschechische Literatur ist eine Kontrafaktur der deutschen. Jede wichtigere deutsche Strömung“ von der höfischen Epik bis zu Klassik, Romantik und jungem Deutschland „wurde in ihr lebendig.“ (Spina 1910: 437) Der Kulturkontakt, argumentativ gestützt durch den Brückentopos, wird zum Spezifikum wie wissenschaftlichen Problem der tschechischen Literatur und Kultur. Die wechselseitige Verschränkung der Kulturen erlaube keine national eindeutige Zuordnung: „Was ist deutsch, was tschechisch an der damaligen böhmischen Kultur?“ (Spina 1910: 438) Hier wurden nicht nur essentialistische Vorstellungen von Nationalkultur dekonstruiert, sondern Spina erwies sich als Vertreter einer bohemistischen Tradition, die mit Goethe im „böhmischen Dichter [...] durch Sinnesart, Ausdrucksweise und Gedichtformen“ eine deutsche, im „deutschen Dichter in Böhmen durch entschiedene Neigung und stetes Zurückgehen zum Altnationalen ihrerseits [eine] recht eigentlich böhmische“ Mentalität erkannte (Goethe/Varnhagen 1830: 199). Unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges modifizierte Spina seine Betrachtung des deutsch-tschechischen Verhältnisses durch ein Assimilations- bzw. Symbiosemodell, mit dem das Deutungsmuster eines kulturell-sprachlichen Wettbewerbs neutralisiert werden sollte: Die Verbindung mit dem deutschen Wesen ist das ‚Organische‘, das Nächste, worauf die Tschechen bei allen Lebensfragen vom Völkerschicksal immer wieder gedrängt werden. Alle Rückschläge des Nationalismus und alle Beschönigungen können daran nichts ändern.

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Steffen Höhne Deswegen kann sich auch in der ganzen tschechischen Geschichte kein organisches Hinstreben zur orientalisch-slawischen Kultur äußern. (Spina 1917: 63; Herv. i. O.)

Das Modell der kulturellen und mentalen deutsch-tschechischen Symbiose, eine, so Spina (1917: 63), „doppelte Germanisierung: die nationale eines Teiles und die kulturelle des ganzen Volkes,“ determiniere auch den Prozess der nationalen Emanzipation: Auf ganz veränderten Kulturgrundlagen steigt ein ganz neues, jetzt erst völlig europäisiertes Volk herauf: der ‚Böhme‘ ist zum Tschechen geworden. Im heutigen fortgeschrittenen Tschechentum spüren wir nichts von jenem fremdartigen Rassegeruch, der uns aus den Äußerungen ost- und südslawischen Lebens [...] entgegenatmet, und der in der Verneinung und Verachtung unsrer europäischen Kultur in den Alterswerken Tolstois den extremsten Ausdruck gefunden hat. Der ‚sudetenländische Slawentypus zeigt völlig die Gesichtszüge der deutschen Kultur‘. (Spina 1917: 63: Herv. i. O.)

Mit Hilfe der Hypothese einer größeren Nähe von Deutschen und Westslaven als von Westslaven und Ostslaven lasse sich der erfolgreiche Prozess tschechischnationaler Integration als Appell an die deutsche Seite, sich ebenfalls als ethnische Gruppe zu konstituieren, verstehen: Es gibt keine ‚Böhmen‘, Mährer, Schlesier mehr, nur Tschechen – auf deutscher Seite klafft nicht nur die Lücke zwischen Sudeten- und Alpendeutschen, sondern innerhalb der größeren Gruppen wieder länder- und stammesmäßige Zersplitterung. (Spina 1917: 105)

Auch Spina wusste sich wie Sauer in pragmatischer Weise auf die neue Situation 1918 einzustellen. Ungeachtet von nationalistischen Ausschreitungen vor allem in Prag offerierte Spina in einem Leitartikel mit dem programmatischen Titel Aktivismus in der Deutschen Zeitung Bohemia vom 15.06.1921 ein neues Identifikationsangebot. Spina verstand aktivistische Politik als „Erreichung des augenblicklich Möglichen“, als Etappenpolitik, die auf Leistung und Gegenleistung basiere und die als Alternative zu einem „Vernichtungskampf“ ein „freiwilliges Zusammenleben in sprachlicher Gleichberechtigung, in nationaler und kultureller Selbstverwaltung“ intendiere. Mit diesem Artikel, eine Bestandsaufnahme der politischen Situation, wurde die politische Richtung des Aktivismus programmatisch für die kommenden Jahre in Abgrenzung zum Negativismus skizziert. Spina übte aber auch Kritik am „anscheinend unheilbaren Chauvinismus“ auf tschechischer Seite und dem politischen „Mangel an gutem Willen und Mut gegenüber dem Terror der Massen.“ In ähnlich programmatischer Weise forderte Spina am 16. November 1921 im Parlament die grundsätzliche Zustimmung der Deutschböhmen und -mährer zum Staat, nicht zu dessen Politik im einzelnen, und sprach von einer „tausendjährigen Symbiose“, die ein „komplexes Konglomerat von wirtschaftli-

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chen, kulturellen und sozialen Beziehungen herausgebildet“ habe. Im Tschechoslowakischen Staat müssen die Deutschen nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben, aus dem Nationalstaat muss ein Nationalitätenstaat werden. In den Auseinandersetzungen mit den rechtsradikalen Kräften innerhalb der Sudentendeutschen gelangte Spina zu einer grundsätzlichen Revision nationaler Grenzziehung und relativierte damit zumindest Vorstellungen strikt separierbarer ethnisch-homogener Gesellschaften und Kulturen, wie sie der nationale Diskurs forderte. Ausgehend von einem gleichwohl anachronistischen austriazistischen Modell des Zusammenlebens, das erstmals in einer Parlamentsrede am 19. Oktober 1921 Erwähnung fand, übertrug Spina die Formel der deutsch-tschechischen Symbiose am 26. November 1926 in einem Beitrag für den Pariser Le Matin auf das Bild eines einheitlich gewebten Teppichs: Wir haben 1000 Jahre mit den Tschechen gelebt, und wir sind mit den Tschechen durch wirtschaftliche, soziale, kulturelle, sogar rassische Beziehungen so eng verbunden, daß wir mit ihnen eine Einheit darstellen. Wir stellen, um ein Beispiel zu gebrauchen, die verschiedenen Muster eines einheitlichen Teppichs dar. Natürlich kann man einen Teppich zerschneiden, aber man kann die eingewebten Blumen nicht voneinander trennen. Wir leben mit den Tschechen in einem Zustand der Symbiose, wir sind mit ihnen eine Vernunftehe eingegangen, und nichts vermag uns zu separieren. (zit. n. Brügel 1967: 184)16

Staatsbürgerliche Integration und Engagement, so lautete Spinas Antwort auf die Orientierungslosigkeit der Deutschböhmen nach 1918.

2.3. Literarisch-kulturelle Symbiosemodelle Aktivismus darf nicht nur als eine parteipolitische Orientierung verstanden werden, sondern dieser war eingebettet in eine neobohemistische Positionierung, die zunächst in literarisch-künstlerischen Kreisen einsetzte, zu erinnern wäre an Franz Werfels Glosse zu einer Wedekind-Feier im Prager Tagblatt (18.04.1914) oder an Max Brods Vermittlungsbemühungen (Krolop 2005), wobei es schon zuvor im Kontext der sich herausbildenden Moderne in den Böhmischen Ländern zu einer zumindest kulturellen Annäherung kam. Publizistisch durch eine Reihe von deutschsprachigen Periodika oder Zeitschriftenprojekten wie Josef Mühlbergers Witiko (1928-1931) flankiert war ein 16  Zur Metapher der Symbiose s. ferner Havlin (2011).

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Ausgleich zwischen Tschechen, Deutschen und Juden intendiert. Insbesondere unter den jüdischen Autoren entwickelten sich Debatten um kulturelle Identität in der Dreivölkerstadt Prag (Tramer 1964), die zwischen assimilatorischen deutschjüdischen, tschechischjüdischen sowie zionistischen Optionen verliefen, begleitet von alternativen Orientierungen im Sinne einer postnatio‑ nalen und transkulturellen Moderne, dem Modell der jüdischen Diaspora (Kilcher 2006: 103). Auch bei Franz Kafka findet man kritische Einstellungen gegenüber Assimilationismus und deutsch-tschechischen Sprachkonflikten, also die Babylonisierung des öffentlichen Lebens (Nekula 2006: 136). Max Brod, dem es weniger um Integration als um kulturelle Vermittlung ging und der ein Konzept der Distanzliebe (der Begriff stammt aus dem Roman Die Frau, die nicht enttäuscht) als Kontextmodell entwickelte, erwies sich über die bekannten Beispiele Leoš Janáček und Jaroslav Hašek hinaus als wichtiger Förderer und Vermittler der tschechischen Kultur (Šrámková 2010),17 der „das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Nationen“ in der Tschechoslowakei herzustellen suchte (Vassogne 2009: 226). Entsprechend findet man bei Brod wie im Prager Kreis, der nach Johannes Urzidil (1922) von vier Einflussfaktoren – deutsch, tschechisch, jüdisch, österreichisch – geprägt war, verstärkte Bemühungen um eine Überwindung der nationalen Polarisierung, womit es für die Gruppe der meist jüdischen Prager deutschen Autoren auch um eine Positionierung zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Assimiliation oder Affirmation des Judentums ging (Vassogne 2009: 10).18 1918 propagierte Max Brod das Konzept der Kulturverwandtschaft durch „Sprache, Erziehung, Lektüre, Kultur“, welches eben keine „Blutsverwandtschaft“ sei (Brod 1918: 1581f.)19 und das neben einer antihabsburgischen auch eine auf die Politik bezogene antideutsche Diktion verrät: 17  Damit waren gleichwohl Monopolisierungsambitionen wie im Falle Franz Kafkas, aber auch Jaroslav Hašeks verbunden, die kulturelle Vermittlungstätigkeit verlief nicht ohne Instrumentalisierung im Hinblick auf das eigene Werk oder, wie im Falle Gustav Mahler, im Hinblick auf eine zionistische Integration von Kunst und Musik (Vassogne 2010). 18  Die Identitätssuche Brods verlief zunächst über die Schopenhauer-Rezeption, an die sich Brods Indifferentismus anschloss, bis er kurz vor dem 1. Weltkrieg das Judentum für sich entdeckte und in Auseinandersetzung mit Martin Buber und Hugo Bergmann seine „Philosophie der Mitte. Nicht der Mittelmäßigkeit“ entwickelte (Vassogne 2009: 85). 19  Brod destruiert unter Hinweis auf Argumente Richard Weiners eine ethnische Kategorie wie ‚Rasse‘, denn dass „Abkömmlinge aus deutschen Häusern wie Rieger, Fügner usw. prominente Tschechen geworden sind, spricht natürlich nur für die rassenhafte Verwandtschaft oder vielleicht beiderseitige Rassenunbestimmtheit der Deutschen und Tschechen, [...].“ (Brod 1918: 1589)

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Ich bejahe mein sprachliches Bedürfnis als deutschsprechender Jude. [...] Allerdings habe ich nur an der deutschen Sprachlichkeit dieser Institutionen Interesse, nicht an ihrer deutschen Politik. (Brod 1918: 1584)

Brods Konzept eines Nationalhumanismus, das den Nationalismus substituieren soll20 und das in Form eines kulturellen Zionismus verstanden wurde, erwies sich – ähnlich dem politischen Aktivismus – perspektivisch allerdings als chancenlos, auch wenn Brod rückblickend die sprachnationalen Konflikte ein wenig folklorisierend relativierte: Doch es ist unmöglich, einem Nicht-Prager oder einem, der nicht jahrelang in Prag gelebt hat, die feinen und auch die unfeinen Varianten der Stellungnahme in der heißumstrittenen und historisch verwickelten Nationalitätenfrage klarzumachen, in der die Beschriftung jedes Ladenschildes und jeder Straßentafel ein Sprachproblem, ein Politikum wurde. (Brod 1979: 83)

Brods ‚Verteidigung der Mitte‘, mit der auch die neutrale Mittelstellung der Juden zwischen Tschechen und Deutschen postuliert wurde, konnte unter demokratisch-rechtsstaatlichen Bedingungen funktionieren, nicht unter totalitären. Aus der Rückschau entwickelte Max Brod, in Erinnerung an die vielfältigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in Prag sowie die verbreitete Sprachkompetenz,21 seinerseits ein Symbiosemodell, nach dem „in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation“ die Rede war, „sondern nur noch von Pragern [...]. Eine Verschmelzung ist eingetreten, das Blut hat sich vermischt, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen locken über die Grenzen.“ (Brod 1979: 61). Brod lässt allerdings offen, ob es sich dabei um ein Nebeneinander in territorialer oder ein Miteinander in alltagspraktischer Hinsicht handelte. Lässt sich auch auf der alltagskulturellen und -sprachlichen Ebene durchaus von einer multilingualen Sprachsituation mit unterschiedlichsten Interferenzerscheinungen und Mehrfachidentitäten sprechen, zumal die deutschsprachige Bevölkerung Prags in keinem einzigen Stadtteil über eine Mehrheit ver20  „Allerdings ist mein Nationalbegriff ein gründlich anderer als der heute selbst bei sogenannten gemäßigten Nationalisten herrschende National-Imperialismus. Mein Nationalismus faßt die Möglichkeit, ja die Pflicht freiwilligen Opfers nationaler Interessen zugunsten der Menschheit in sich, [...]. Mit aller Schärfe muß diesem heutigen Nationalismus, der den Kultur- und Geisteswert des Volkstums zu kapitalistischer Pleonerie vergewaltigt, ein neuer Nationalismus entgegengesetzt werden.“ (Brod 1918: 1591f., Herv. i.O.) 21  „Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir; da gab es überhaupt nichts, was wie Grenze oder Absonderung abgesperrt hätte. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte.“ (Brod 1979: 207)

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fügte (Bauer 2008), so muss vor Idealisierungen gewarnt werden, denn die Präferenz von essentialistischen Identitäten in Krisensituationen angesichts wachsender Dominanz und Akzeptanz des nationalen Narrativs steht außer Frage, ungeachtet vielfältiger Interaktionsorte und Netzwerke von Cafés über Periodika bis hin zu Privathäusern (Salons), die als Kommunikationsräume des kulturellen Transfers fungierten. Denn ungeachtet intensiver wechselseitiger Rezeptions- und Wirkungsprozesse entstand eben keine supranationale Prager Literatur und Kultur. Prozesse der Entfremdung scheinen gerade im Prager Kreis nach 1918 eher zu wachsen. Franz Kafka dokumentierte diese Erfahrung der Isolation und die damit verbundene Angst in einem Brief an Robert Klopstock Ende März 1923, in dem er von seiner existentiellen Angst berichtet, die eben auch auf seine soziale Position bezogen wird: „Ein Jude und überdies deutsch und überdies krank und überdies unter verschärften persönlichen Umständen [...].“ (Kafka 1975: 430).22 Diese Erfahrung lässt sich durch eine Umfrage Warum haben Sie Prag verlassen? stützen, die in der Deutschen Zeitung Bohemia und dem Prager Tagblatt Ende Mai sowie Anfang Juni 1922 veröffentlicht wurde und in der ein „Differenzierungs- und Abwanderungsprozess, der um die Jahrhundertwende begonnen hatte“ (Krolop 2005: 89), dokumentiert wird. Damit wird ein Wechselspiel aus Faszination und Aversion gegenüber Prag beschrieben, auf das zuvor schon ein berühmter Brief Franz Kafkas an Oskar Pollak vom 20.12.1902 referierte,23 verstärkt durch die politisch-chauvinistische Radikalisierung nach 1918, vor allem in Gestalt der ‚Prager Ereignisse‘ vom 16.-19. November 1920, denen man wiederum einen der seltenen unmittelbar politischen Reflexe Kafkas verdankt.24 22  Zur fehlgeschlagenen Assimilation schrieb Kafka im Juni 1921 an Max Brod: „Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben [...] also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß.“ (Kafka 1975: 337f.) 23  „Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder -. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.“ (Kafka 1999: 17) Zu einem möglichen sprachnationalen Reflex auf den als tschechisch attribuierten Vyšehrad und dem österreichischdynastisch attribuierten Hradschin s. Nekula (2007), ferner Neumann (2008: 140-149). 24  Die berühmte Passage des ‚Hilsner redivivus‘ aus dem Brief an Milena Jesenská, Mitte November 1920, lautet: „Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. ‚Prašivé plemeno‘ [Räudige Rasse] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören.

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2.4. Johannes Urzidils staatsloyaler Kritizismus In Urzidils Tagespublizistik kehren zentrale Themen dieses Diskurses um kulturelle Identifikation leitmotivisch wieder. Hierzu gehören die Akzeptanz des tschechoslowakischen Staates, nicht aber eines zentralistisch organisierten Nationalstaates, dem ein Konzept eines föderalistischen Nationalitätenstaates entgegen gestellt wird; ferner die Kritik an der Dominanz der tschechischen Mehrheit und der damit verbundenen (kulturpolitischen) Benachteiligung der Minderheiten; die Unterstützung des Aktivismus und der Bejahung einer republikanisch-parlamentarischen Regierungsform; die Kritik an der Desintegration innerhalb der Sudetendeutschen und an dem Kulturgefälle zwischen Prag und der Provinz (Sudetendeutsche Zersplitterung, 30.10.1925, BBC) und schließlich die Kritik an einer antideutschen tschechoslowakischen Außenpolitik, durch die der Staat zu einem Vehikel französischer Interessen gerate. Gegen diese antideutsche Politik, die durch konstatierte panslavische Tendenzen noch radikalisiert werde, setzte Urzidil auf den mitteleuropäischen Traditionskontext. Ausgangspunkt von Urzidils Überlegungen in der Studie von 1922 war die Proklamation grundlegender Loyalität zum neuen Staat,25 auf die aber, so der Versäumnistopos, man nicht angemessen reagiert habe. Leider hätten die Tschechen den Deutschen nicht „wie Gleiche den Gleichen die Hand geboten“, wodurch „die Wurzel des deutsch-tschechischen Gegensatzes ausgetilgt worden“ sei (Urzidil 1922: 157), was mit dem Wechsel von einem positivistischen böhmischen Staatsrecht („der Föderalismus des österreichtreuen Palacky“) zu einem negativistischen anti-habsburgischen erklärt wird: Der neue Staat entstand aus einer doppelten Negation. Aus der inneren Negation des zentralistischen Österreich durch die Tschechen und aus der äußeren Negation Deutschlands durch die Westmächte. (Urzidil 1922: 158f.)

Da aber Staaten „nicht auf Negationen, sondern nur auf Positionen begründet werden“, sei es notwendig, „ein neues und wirkliches Staatsbewußtsein Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind. Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben.“ (Kafka 1997: 288) 25 „Damals in den ersten Stunden gab es wenig vernünftige Deutsche in Böhmen, die im Grunde die staatliche Selbständigkeit der Tschechen nicht begrüßt hätten.“ (Urzidil 1922: 157)

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dem tschechischen Volke zu schaffen“ (Urzidil 1922: 159), womit Urzidil an Masaryks Theorem der Sendung anknüpfte, die für das tschechische Volk in der Humanität liege, eine Vision, die allerdings politisch nur instrumental bzw. optional rezipiert werde: als Gegensatz zu Rom, als vermittelnde Stellung des Staates zwischen Ost und West, als politisch-militärischer Wall im neuen Europa (Urzidil 1922: 159), als eine Art höhere Schweiz (Urzidil 1922: 160), als „Erfüllung des rein tschechischen Nationalstaats.“ (Urzidil 1922: 160) Urzidil akzentuiert hier den in Masaryks Humanitätsideal angelegten Gegensatz zur Realpolitik, wobei er von einer ethisch-idealen Perspektive, die demokratische Kritik an der Republik eines Emanuel Rádl antizipierend (Demetz 1999: 31), kritisch das Konzept eines tschechischen Nationalstaat reflektiert, der „für die Tschechen vor allem als Heimat geschaffen, für die übrigen Nationen aber bloß von der Bedeutung einer Gaststätte“ sei (Urzidil 1922: 160). Der natio­ nale Gegensatz gerate so zum „ersten Gift [für] den Staatskörper“ (Urzidil 1922: 161). Dem Masarykschen Idealbild wird das realpolitische einer widersprüchlichen Staatsbildung entgegengestellt, bei dem sich die Antinomien zwischen historischem und ethnographischem Prinzip auch mit Hilfe ökonomischer Sachzwänge nicht begründen ließen: Bei der Gründung des tschechoslowakischen Staates kamen zwei Prinzipien in sehr widerspruchsvoller Weise zur Anwendung: das historische Prinzip in Böhmen, Mähren und Schlesien und das ethnographische Prinzip in der Slowakei. Wirtschaftliche Regulative mußten herhalten, um die Unzulänglichkeiten der beiden Prinzipien auszugleichen. Denn das historische Prinzip konnte nicht auf die Slowakei, das ethnographische nicht auf die deutschen Gebiete der böhmischen Krone ausgeweitet werden, wenn man den tschechischen Staat in seiner heutigen Form anstrebte. (Urzidil 1922: 162)

Urzidil wendet sich gegen die Inkonsequenz tschechischer Politik, die von Havlíček bis Kramář immer für Autonomie und gegen Zentralismus eingetreten sei, nun aber ein zentralistischer Staat errichtet werde. Der darin angelegte Manichäismus, den Urzidil auch auf Seiten der Sudetendeutschen beobachtete, denen als Optionen entweder ein Modell des Ausgleichs wie in Stifters Witiko oder der „alldeutsche Radau-Nationalismus“ Georg von Schönerers (Urzidil 1960: 195) offen standen, ist immer Ausdruck historischer Kontextualisierung. Teil von Urzidils Argumentation ist ferner die Dekonstruktion teleologischer Deutungsmuster. Nicht nur das Tschechoslowakismus-Konzept, ein Konstrukt, das rein semantisch Minderheiten exkludiert, sondern auch historische Konstrukte wie das Trauma des ‚Weißen Berges‘ und dessen retrospektive Nationalisierung werden auf einer erinnerungskulturellen Ebene entideologisiert. Urzidil weist zurecht auf den ständischen und konfessio-

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nellen Charakter des Konfliktes: „Aus falschen Identifikationen gehen die politischen Hauptsünden hervor“ (Urzidil 1922: 167), wobei falsche Identifikationen auf beiden Seiten vorlägen, da auch die sudetendeutsche Gleichsetzung von Staat und tschechischem Volk indirekt die tschechische Position bestätige. Ausgehend von der auch 1922 sicher problematischen, weil Wunschdenken verratenden Assertion, dass die Deutschen nicht den Staat, sondern nur das System bekämpften, weist Urzidil auf die Desiderate angemessener Identitäts- und damit Integrationsangebote: Der Staat müsse mehr sein als das System und die Existenz des Staates mehr als die Erhaltung einer bloßen Gewaltherrschaft, die jegliche Loyalität verhindere: Das Fundament der Politik der Deutschen in der Tschechoslowakei muß in der Beantwortung der Frage liegen: Gehören wir unserer inneren und äußeren Aufgabe gemäß natürlicherweise dem neuen Staatsgebilde an der Moldau an oder nicht? (Urzdil 1922: 170)

Urzidil nennt eine Reihe von Gründen, die für eine Integration in den Staat sprächen, wie historische Kontinuität, ökonomische Verflechtungen, kulturelle Beziehungen, mentale Distinktion („der geistige Typus des Deutschböhmen“, der sich von den übrigen Deutschen fundamental unterscheide) und eben die politische Sendung. So wie ein reindeutsches Österreich nach dem Ende Habsburgs im Deutschen Reich aufgehen müsse, so liege die alte Last des multinationalen Habsburg nun auf den Deutschen in der Tschechoslowakei, gewissermaßen ein Sendungstransfer, der offenkundig mit Hofmannsthal kongruiert, nur das Basis und Träger der Österreichischen Idee auf die Tschechoslowakei übertragen werden. Unter weitgehender Ausblendung realer sozialer Konflikte entwickelt Urzidil das Konzept eines deutschböhmischen Vorpostens, aber in Abgrenzung zum gängigen Sprachgebrauch eines Vorpostens der Friedenspolitik: Bei diesem Vorposten geht es um eine Vermittlerrolle in kultureller Hinsicht mit dem Ziel ökonomisch-politischer Kohäsion. Diese höhere Sendung (Aufgabe) der Sudetendeutschen müsse auch im Interesse der Tschechen liegen (Urzidil 1922: 168): „Ein Nationalitätenstaat ist auf die Dauer nur denkbar, wenn er die Bedingungen des schweizerischen Zusammenlebens von Nationen für sich modifiziert.“ (Urzidil 1922: 169) Urzidils Vision oder Utopie eines „wirklich freien tschechisch-deutschslowakisch-magyarischen Staates“ (1922: 170) avancierte zu einem anti-irredentistischen Gegenmodell realpolitischer Fremd- und Selbstmarginalisierung der Minderheiten auf die Rolle von Kolonisten oder Gästen. Urzidil weist damit auf die implizit europäischen Potenzen der Tschechoslowakei und geht damit über die rein kulturell-literarischen Kontaktphänomene des Prager Kreises hinaus.

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3. Vorläufiges Fazit

Für die hier vorgestellten Positionen der intellektuellen Prager deutschen Kultur ist der austriazistische Hintergrund charakteristisch, wobei ein gewisser Anachronismus offenkundig wird. Wie August Sauer verkannten die austriazistisch eingestellten Intellektuellen den neuen Geist der Zeit, getragen von einer Jugend, die – so Sauer (1920: 22) euphemistisch – von ethischen Prämissen ausgehe und die von einem „rousseauschen Haß gegen die städtische Kultur“ befangen sei. Denn längst begannen die ‚Jungen‘ die ‚Alten‘ zu verdrängen – das heißt auch und gerade, die alten deutschnationalen und alldeutschen Positionen hinter sich zu lassen, um noch radikaler zu werden. Eine fundamentalistische Revolte, eine Art ‚konservativer Revolution‘ brachte das überkommene Gefüge deutschböhmischer Assoziations- und Denkstrukturen durcheinander, sämtliche Positionen eines deutsch-tschechischen Ausgleichs wurden zunehmend marginalisiert. Angesichts der wirkungsmächtigeren ideologischen Narrative – Hofmannsthal (1926: 15) sprach von „neuartigen mörderischen Geisteskriegen“, die das Zeitalter der Extreme einleiteten – gerieten auf nationalen Ausgleich bedachte Positionen weitgehend in Vergessenheit, ließen sie sich doch weder in die sudetendeutschen Selbstviktimisierungs- noch in die kommunistischen Opferdiskurse der Nachkriegszeit einpassen. So wurden auch die aktivistischen Neobohemisten Opfer eines ethnisch-totalisierenden, genozidalen Denkens, welches zwar nicht in der Tschechoslowakei entstand, von dieser aber unter dem Eindruck der Vernichtungsphantasien des Dritten Reiches in Form kollektiver Schuldzuweisung gegen alle tatsächlichen und vermeintlichen Urheber gekehrt wurde. Liest man nun Kafkas Werk vor dem Hintergrund derartiger Machtdispositionen – Hannah Arendt zufolge verhandeln Kafkas Texte „die Aporien der jüdischen Assimilation“ (Neumann 2007: 30) – so lässt sich ein kryptischer Text wie Vor dem Gesetz als eine Assimilationspforte verstehen, welche zurück in die altösterreichische Welt des Sicherheit gewährenden Vielvölkerstaats führt. Die Auflösung dieser meritologischen Klassengesellschaft im Krieg und seinen Folgen setzte dann jene Potenzen eines sozialrevolutio-när eingefärbten Nationalismus frei, von dessen Wirkungen man auch aus Kafkas Werk einiges erfahren kann.

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Nachdenken über kulturelle Zugehörigkeit

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