Pommern in der Frühen Neuzeit: Literatur und Kultur in Stadt und Region 9783110938678, 9783484365193


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German Pages 726 [728] Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
I. Zur Einführung
Literatur in Pommern während der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen, Erscheinungsbilder, Wirkungsfelder
Sprache und Literatur der deutschen Regionen in Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682/1700)
Literarische Wechselbeziehungen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder in der Frühen Neuzeit
II. Humanismus und Reformation
Poeta vapulans – Ulrich von Hutten und die Lötze
Johannes Bugenhagens Pomerania - Humanistische Einflüsse auf die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern
Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535–1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund –Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der »laus urbis«
Johannes Seckerwitz als neulateinischer Dichter
Zu nachreformatorischen Entwicklungen im Kirchenwesen der Hansestadt Stralsund – Die Veränderungen in den theologischen Ansichten des Superintendenten Jakob Kruse
Johannes Cogelerus, Verbi Divini Minister Stettini (1525–1605) –Zu Leben und Werk eines pommerschen Theologen
Thomas Kantzows Hochdeutsch. Zum Sprachstand der ersten hochdeutschen Fassung seiner Pommerschen Chronik
Bartholomäus Sastrows Selbstdarstellung. Zu Strukturen autobiographischen Schreibens im 16. Jahrhundert
Andreas Hiltebrand – Ein pommerscher Dichterarzt zwischen Späthumanismus und Frühbarock
Leben, Werk und Wirkung des Stralsunder Fachschriftstellers Johann Grasse (nach 1560–1618)
Epicedien in pommerschen Leichenpredigten aus der Sammlung Stolberg
Die Emblematik am Hof der pommerschen Herzöge: Martin Marstaller und Daniel Cramer
III. Die Epoche des Barock
Pommersche Cantoren im 16. und 17. Jahrhundert
Die pommersche Herrschaft in Finstingen (Fénétrange) in Lothringen
Städtische Kultur des 17. Jahrhunderts in Pommern – das Beispiel der Hansestadt Stralsund
Frauen im Greifswalder Druckgewerbe der Frühen Neuzeit
Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum
Spuren der Häresie des 17. Jahrhunderts in Pommern
Gelegenheitsdichtung und Glaubenskampf. Theologen und Geistliche als Adressaten von Casualcarmina des Stettiner Pastors Friedrich Fabricius
Sibylla Schwarz – die »Pommersche Sappho«
Der Wolgaster Totentanz
IV. Aufklärung und Empfindsamkeit
Greifswalds Gelehrte Zeitschriften der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts als musikgeschichtliche Quelle
Johann David von Reichenbach und Johann Carl Dähnert. Zwei Aufklärer in Pommern
Dietrich Hermann Biederstedt (1762–1824). Theologe, Regionalhistoriker und Lexikograph
Regionalität, Poetizität, Theologie der Natur. Uferpredigten auf Rügen im Werk Ludwig Gotthard Kosegartens
Melancholie und Harmonie in Ludwig Gotthard Kosegartens Lyrik
Idylle – Krise – Reife. Ludwig Gotthard Kosegarten im Spiegel unveröffentlichter Briefe
Kosegarten-Rezeption im heutigen Deutschunterricht: Stand, Probleme, Möglichkeiten
Die Bedeutung Ludwig Gotthard Kosegartens für die Herausbildung des frühromantischen Weltbildes bei Caspar David Friedrich
Tod und Auferstehung im dichterischen Werk Ludwig Gotthard Kosegartens und die Grabmalkunst zwischen 1770 und 1840 in Vorpommern–ein Vergleich
Auf soziokultureller Identitätssuche – Romanfiguren Ludwig Gotthard (Theobul) Kosegartens im Kontext der populären Romanliteratur um 1800
Frauen und Literatur in der Region Pommern
Ewald Christian von Kleist, der Dichter des Frühlings, ein klassischer Nationalautor?
Zur massenwirksamen Dramatik im Stralsunder Komödienhaus am Ausgang des 18. Jahrhunderts
Johann Christian Brandes–»aus Stettin gebürtig«
Jakob Philipp Hackert - Von Prenzlau über Berlin und Stralsund nach Europa
Personenregister
Verzeichnis der Mitarbeiter
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Pommern in der Frühen Neuzeit: Literatur und Kultur in Stadt und Region
 9783110938678, 9783484365193

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FRÜHE N E U Z E I T Band 19 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Pommern in der Frühen Neuzeit Literatur und Kultur in Stadt und Region Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann und Horst Langer

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Vorträge und Referate des interdisziplinären Symposions in Greifswald vom 29.9. bis 2.10.1992 Das Symposion und der Druck der Beiträge wurden ermöglicht durch Zuwendungen der Fritz-Thyssen-Stiftung (Köln).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pommern in der frühen Neuzeit: Literatur und Kultur in Stadt und Region ; [Vorträge und Referate des interdisziplinären Symposions in Greifswald vom 29.9. bis 2.10.1992] / hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Horst Langer. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Frühe Neuzeit; Bd. 19) NE: Kühlmann, Wilhelm [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-36519-6

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

IX

I. Zur Einführung Horst Langer Literatur in Pommern während der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen, Erscheinungsbilder, Wirkungsfelder 3 Dieter Breuer Sprache und Literatur der deutschen Regionen in Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682/ 1700) 35 Knut Kiesant Literarische Wechselbeziehungen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder in der Frühen Neuzeit

45

II. Humanismus und Reformation Hans-Gert Roloff Poeta vapulans - Ulrich von Hutten und die Lötze

61

Hans-Günter Leder Johannes Bugenhagens Pomerania - Humanistische Einflüsse auf die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern

77

Wilhelm Kühlmann Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535-1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der »laus urbis« 101 Hermann Wiegand JohannesSeckerwitz als neulateinischer Dichter

125

VI

Inhalt

Thomas Höth Zu nachreformatorischen Entwicklungen im Kirchenwesen der Hansestadt Stralsund - Die Veränderungen in den theologischen Ansichten des Superintendenten Jakob Kruse 145 Stefan Rhein Johannes Cogelerus, Verbi Divini Minister Stettini (1525-1605) Zu Leben und Werk eines pommerschen Theologen

153

Herbert Blume Thomas Kantzows Hochdeutsch. Zum Sprachstand der ersten hochdeutschen Fassung seiner Pommerschen Chronik 171 Horst Langer Bartholomäus Sastrows Selbstdarstellung. Zu Strukturen autobiographischen Schreibens im 16. Jahrhundert 187 Achim Aurnhammer Andreas Hiltebrand - Ein pommerscher Dichterarzt zwischen Späthumanismus und Frühbarock 199 Thomas Lederer Leben, Werk und Wirkung des Stralsunder Fachschriftstellers Johann Grasse (nach 1560-1618)

227

Robert Seidel Epicedien in pommerschen Leichenpredigten aus der Sammlung Stolberg 239 Sabine Mödersheim Die Emblematik am Hof der pommerschen Herzöge: Martin Marstallerund Daniel Cramer

267

III. Die Epoche des Barock Burkhard Köhler Pommersche Cantoren im 16. und 17. Jahrhundert

283

Walter Ernst Schäfer Die pommersche Herrschaft in Finstingen (F6n6trange) in Lothringen 293 Hans-Joachim Hacker Städtische Kultur des 17. Jahrhunderts in Pommern - das Beispiel der Hansestadt Stralsund 305

Inhalt

VII

Christine Petrick Frauen im Greifswalder Druckgewerbe der Frühen Neuzeit

313

Dietrich Blaufuß Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650-1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum

319

Siegfried Wollgast Spuren der Häresie des 17. Jahrhunderts in Pommern

349

Dorothea Seeber Gelegenheitsdichtung und Glaubenskampf. Theologen und Geistliche als Adressaten von Casualcarmina des Stettiner Pastors Friedrich Fabricius 373 Susanne Tuttas Sibylla Schwarz - die »Pommersche Sappho«

389

Peter Walther Der Wolgaster Totentanz

399

IV. Aufklärung und Empfindsamkeit Ekkehard Ochs Greifswalds Gelehrte Zeitschriften der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts als musikgeschichtliche Quelle 411 Thomas Numrich Johann David von Reichenbach und Johann Carl Dähnert. Zwei Aufklärer in Pommern 419 Rudolf Biederstedt Dietrich Hermann Biederstedt (1762-1824). Theologe, Regionalhistoriker und Lexikograph 435 Eberhard Rohse Regionalität, Poetizität, Theologie der Natur. Uferpredigten auf Rügen im Werk Ludwig Gotthard Kosegartens 449 Klaus Manger Melancholie und Harmonie in Ludwig Gotthard Kosegartens Lyrik 501 Katharina Coblenz Idylle - Krise - Reife. Ludwig Gotthard Kosegarten im Spiegel unveröffentlichter Briefe 521

VIII

Inhalt

Karl-Ewald Tietz Kosegarten-Rezeption im heutigen Deutschunterricht: Stand, Probleme, Möglichkeiten 533 Gerd-Helge Vogel Die Bedeutung Ludwig Gotthard Kosegartens für die Herausbildung des frühromantischen Weltbildes bei Caspar David Friedrich

549

Michael Lissok Tod und Auferstehung im dichterischen Werk Ludwig Gotthard Kosegartens und die Grabmalkunst zwischen 1770 und 1840 in Vorpommern- ein Vergleich 563 Regina Hartmann Auf soziokultureller Identitätssuche - Romanfiguren Ludwig Gotthard (Theobul) Kosegartens im Kontext der populären Romanliteratur um 1800 589 Monika Schneikart Frauen und Literatur in der Region Pommern

601

Barbara Bauer Ewald Christian von Kleist, der Dichter des Frühlings, ein klassischer Nationalautor? 621 Horst Hartmann Zur massenwirksamen Dramatik im Stralsunder Komödienhaus am Ausgang des 18. Jahrhunderts 649 Karl-Heinz Borchardt Johann Christian Brandes-»aus Stettin gebürtig«

659

Klaus Haese Jakob Philipp Hackert - Von Prenzlau über Berlin und Stralsund nach Europa 671 Personenregister

687

Verzeichnis der Mitarbeiter

711

Vorwort

Auf der Grundlage einer seit Mitte der 80er Jahre in Polen angebahnten und nach dem Umbruch in der DDR intensivierten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern der Universitäten Greifswald und Heidelberg haben die Herausgeber des Bandes vom 29. September bis zum 2. Oktober 1992 in Greifswald eine Tagung zum Thema Literatur und Literaturverhältnisse in Stadt und Region. Pommern in der Frühen Neuzeit veranstaltet. Unter Berücksichtigung regionalspezifischer Gesichtspunkte wurde die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungsraums großzügig, mit der gemeinhin üblichen Periodisierung nicht völlig übereinstimmend auf die Spanne von ca. 1500 bis 1800 festgelegt. Der hier vorgelegte Konferenzband versammelt die von den Herausgebern zur Publikation ausgewählten Beiträge. In einem Fall gelangt ein ursprünglich angekündigter, terminlicher Überschneidung wegen auf der Tagung aber nicht gehaltener Vortrag zum Abdruck. Bemühungen um die Erforschung der pommerschen Geschichte, auch der Literaturgeschichte, haben eine lange Tradition, auf die einzelne Beiträge anhand der von ihnen erörterten Gegenstände wiederholt eingehen. Institutionalisiert fanden und finden sich diesbezügliche Bestrebungen vor allem in der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde, die 1824 in Stettin gegründet wurde und sich nach längerer kriegs- und nachkriegsbedingter Pause 1954 in Hamburg neu konstituierte, nunmehr erweitert um den Themenbereich Kunst, sowie in der 1910 wiederum in Stettin ins Leben getretenen Historischen Kommission für Pommern. Um die Jahrhundertwende spaltete sich von der erstgenannten Gesellschaft der Rügisch-Pommersche Geschichtsverein mit Sitz in Greifswald ab. Alle drei Einrichtungen sowie die in ihrem Umkreis entstandenen Gesellschaften für Heimatgeschichte haben sich nachhaltige Verdienste um die Sichtung und Sicherung, die Auswertung und Publikation des einschlägigen Quellenmaterials erworben. In Reihen wie dem Pommerschen Urkundenbuch, der Bibliographie zur Geschichte Pommerns und den Forschungen zur pommerschen Geschichte, in Periodika wie den Baltischen Studien, den Monatsblättern oder den Pommerschen Jahrbüchern haben Ergebnisse systematischer Forschungsarbeit, auch zu literaturgeschichtlichen Persönlichkeiten und Prozessen, ihren Niederschlag und nicht selten ein Echo weit über den Kreis der Gelehrten hinaus gefunden. In welchem Maße diese Arbeit in der Regel

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Vorwort

frei war vom Blick verklärender Selbstgerechtigkeit, stattdessen auf der nüchternen Arbeit gewissenhafter Recherche beruhte, verdeutlicht die programmatische Passage aus dem Vorwort der seit 1832 herausgegebenen, nach einer Zwangspause 1955 erstmals wieder erschienenen Baltischen Studien: Die Haltung der Baltischen Studien soll bestimmt sein durch den unbestechlichen Willen zur wissenschaftlichen Wahrheit, durch ein Bekenntnis zur Heimat, das sich von jeglicher Sentimentalität freihält, aber auch durch das Wissen darum, daß Pommern nicht allein die Welt ist.

1961, also im Jahr des Berliner Mauerbaus, war von den Archiven und Museen der beiden titelstiftenden Städte das Greifswald-Stralsunder Jahrbuch begründet worden, das jedoch 1982 der fortschreitenden Restriktion des Verlagswesens in der DDR zum Opfer fiel. »Andererseits entdeckte just zu dieser Zeit die Partei- und Staatsführung [ . . . ] die Landes- und Regionalgeschichte als Mittel einer verstärkten politischen Einflußnahme auf die Bevölkerung. Schwerpunkte dabei bildeten [ . . . ] wichtige historische Jahrestage. Diese Jahrestagskampagnen verschafften auch der Pommernforschung gewisse Möglichkeiten, die jedoch in unterschiedlicher Weise genutzt wurden.« (Konrad Fritze) Fanden sich entsprechende Bemühungen in der DDR durch die in ihr herrschenden politisch bestimmten Berührungsängste mit dem Begriff »Pommern« erschwert oder gar verhindert, so beeinträchtigten in der Bundesrepublik die Schwierigkeiten des Quellen- und Materialzugangs die systematische Erschließungsarbeit, wie sie bis in die 30er Jahre hinein geleistet werden konnte. Eine gewisse Zufälligkeit der Forschung und eine ihr entsprechende Dokumentation war unter diesen Prämissen nicht auszuschließen. So stellt sich die Situation nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch im hier diskutierten Zusammenhang gleichermaßen als Möglichkeit und Notwendigkeit eines Neubeginns dar, der sich seiner Wurzeln zu vergewissern, unter den veränderten nationalen wie kontinentalen Bedingungen zugleich aber auch neue Akzente zu setzen hat. »Die Aufgabe, die es nach Kräften zu verwirklichen gilt«, schrieb der Marburger Historiker Roderich Schmidt 1991, »ist die Förderung der Geschichte Pommerns als Teil einer vergleichenden deutschen Landesgeschichte in ihren europäischen Bezügen.« Vor dem Hintergrund der skizzierten Ausgangslage sowie angesichts der in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten entwickelten theoretischen Konzepte regionalgeschichtlicher Forschung gingen die Veranstalter der Tagung an die Vorbereitung des Symposions. Dabei kristallisierten sich drei Hauptziele heraus, die auch unserer Dokumentation zugrundeliegen. Zum einen geht es darum, an die vorliegenden Leistungen der Pommernforschung anzuknüpfen und eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Zugleich leitet uns auch der Anspruch, Lücken des Kenntnisstandes zu schließen.

Vorwort

XI

Nicht zuletzt kommt es uns darauf an, offene Fragen zu erkunden und zu benennen, mögliche und notwendige Forschungsperspektiven zu eröffnen sowie nachfolgende Unternehmungen vorbereiten zu helfen. Der vorliegende Band mag zeigen, in welchem Maße es gelungen ist, diese Intentionen praktisch umzusetzen. In theoretisch-methodischer und sachlicher Hinsicht liegt der Dokumentation die Absicht zugrunde, literarische Erscheinungsbilder, Zusammenhänge und Prozesse innerhalb des umgrenzten Zeit- und regionalen Raums sowie wichtige Kommunikationsbedingungen, unter denen Literatur entstanden ist, vermittelt und aufgenommen wurde, erschließen zu können. Unter dieser Voraussetzung erscheinen uns Antworten unter anderem auf folgende Fragen von Belang: In welcher Gestalt, ideellen Einbindung und in welchen Gattungsstrukturen präsentierte sich die zeitgenössische Literatur in der Region? Wie »funktionierte« sie konkret, wer (und was) waren die Autoren, wer (und was) die Adressaten und Leser ihrer Werke, welcher Distributionsformen bedienten sich die Verfasser literarischer Texte, welcher Gestaltungsmittel, um beabsichtigte Wirkungen (welche?) erreichen zu können? Welche Rolle spielten Zensur, Drukkereiwesen, die örtlichen Schulen, welche spielten der Hof, im Falle Greifswalds auch die Universität, die kommunalen Bibliotheken, Lesegesellschaften, wissenschaftlichen Vereinigungen etc.: Wie also gestaltete sich »literarisches Leben«, wie der direkte oder vermittelte Einfluß der städtischen/regionalen Öffentlichkeit auf die vielfältigen literarischen Phänomene und Entwicklungen? Gewicht haben wir auf die Beantwortung der Frage nach den möglichen Inhalten des Begriffs >Region< gelegt. Entsprechende Diskussionsangebote finden sich im einleitenden Beitrag und wiederholt auch an anderer Stelle expressis verbis oder in Gestalt immanenter Reflexion. Wir sind von der Absicht ausgegangen, die regionalspezifischen beziehungsweise die vermeintlichen oder tatsächlichen Defizite des Untersuchungsraumes in Relation zu vergleichbaren oder parallel verlaufenden Entwicklungen außerhalb Pommerns und von Fall zu Fall außerhalb des Reichsverbandes in Beziehung zu setzen, um so von vornherein einen einengenden, womöglich heimattümelnd-provinziellen Zugriff zu vermeiden. Dessen ungeachtet war und ist es uns darum zu tun, Besonderheiten der regionalen »Herkommens·, Traditions- und Erinnerungs-«, ja der »Erzählgemeinschaft« (Klaus Graf) zu erkunden und dort, wo sie konkret zu benennen sind, vor Augen zu führen. Denn in der Tat scheint es so zu sein, wie Klaus Schreiner in anderem Zusammenhang feststellte: »Erinnerung verbindet mit dem Strom der Generationen, begründet Zusammengehörigkeit und Heimat. Erst durch Erinnerung nimmt herrschaftlich geordnetes Land menschliche Züge an.« Auf eine ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit den in der Literatur häufig synonym gebrauchten Termini Territorium, Gebiet,

XII

Vorwort

Land, Heimat etc. haben wir auf der Grundlage unseres im Einleitungsbeitrag sowie an anderer Stelle umrissenen Verständnisses von Region verzichtet. Um die hier angesprochenen Zusammenhänge erhellen zu können, ist es erforderlich, sozialgeschichtliche Voraussetzungen und Begleiterscheinungen der uns interessierenden literarischen Entwicklungen in die Untersuchungen einzubeziehen. Daß ein im weiteren Wortsinne kulturgeschichtlich, mit den tatsächlichen Vorgängen aufs engste verbundener Ansatz nur in konsequenter interdisziplinärer Zusammenarbeit erreichbar war, liegt auf der Hand. Deshalb erfüllt es uns mit besonderer Freude, daß unserer Einladung zur Mitarbeit nicht allein Literaturwissenschaftler gefolgt sind, sondern auch Vertreter anderer Disziplinen, neben Sprach-, Kunst- und Musikwissenschaftlern Theologen, Philosophen, Historiker, Buch- und Volkskundler sowie nicht zuletzt Lehrer, Archivare, Bibliothekare, Verleger und Heimatforscher. Gerade letztere waren es, zumindest in der DDR, die den Fluß wissenschaftlicher Erkundung regionaler Geschichte nicht haben versiegen lassen. Ohne die Anregungen und Ergebnisse der außerakademischen Forschung wird auch künftighin nur wenig zu bewirken sein. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis macht die Schwerpunkte unseres Wiedereinstiegs in das weitgefächerte Themenfeld deutlich. In periodisierender Gliederung versammelt der Band Beiträge, die an ausgewählten Beispielen literaturgeschichtliche Prozesse im Rahmen regionaler Entfaltung reflektieren, darunter Arbeiten zu herausragenden Gestalten pommerscher Geschichte wie Johannes Bugenhagen, Thomas Kantzow, Bartholomäus Sastrow, Sibylla Schwarz, Daniel Cramer, Ludwig Gotthard Kosegarten, Johann Christian Brandes, Johann Carl Dähnert und anderer. Daß außer der »pommerschen Sappho« Sibylla Schwarz in der Region gar nicht so wenige Frauen von sich reden machten, vornehmlich seit dem 18. Jahrhundert, stellt eine Erkenntnis dar, die von der bisherigen Forschung allenfalls beiläufig registriert worden ist. Vergleichbares kann man von den teilweise engen Beziehungen bedeutender Dramatiker aus der Region zu den Zentren literarisch-kultureller Aktivitäten im Reichsverband sagen. Der Blick über die »Grenzen« der Region hinaus läßt sich erst recht am Wirken humanistischer sowie auch nachfolgender neulateinischer Autoren konstatieren. Spezifische Aufschlüsse vermitteln Beiträge über massenwirksame Dramatik in der Region sowie über einzelne Formen populärer Literatur im allgemeinen und nicht zuletzt Aussagen zu den Nachbarkünsten sowie zur Rolle des Druckgewerbes, nicht zuletzt der Zeitungen und Zeitschriften. Dokumentieren Arbeiten zu solchen und vergleichbaren anderen Themen, daß - entgegen anderslautenden Vorurteilen - auch in Pommern ein bisweilen durchaus reges »geistiges Leben« anzutreffen war, so zeigen die entsprechenden Darstellungen zugleich, daß dieses - wie anderswo im Reich oft ebenfalls - in der Regel nur einen kleinen Publikums-

Vorwort

XIII

kreis einschloß. Mehrere Beiträge gehen auf Fragen dieser Art ausführlicher ein. Schmerzlich vermissen wird der interessierte Leser Arbeiten zu den so wichtigen Beziehungen der Region zu Nordeuropa sowie Untersuchungen zu populären Gattungen wie Märchen und Sage; auch die Bedeutung des niederdeutschen Schrifttums findet sich, gemessen an den tatsächlichen Verhältnissen, unterrepräsentiert. Zum einen hängen diese Defizite mit den notwendigen quantitativen Begrenzungen unseres einigermaßen wagemutigen Unternehmens zusammen, zum anderen mit ausgebliebenen Wortmeldungen zu den benannten Themenkreisen. Immerhin fiel die Tagung in einen Zeitraum gravierender Umbrüche der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft. Umso erfreulicher war die große Resonanz auf unsere Einladung zur Mitarbeit. Mit Genugtuung erfüllt uns die Tatsache, daß unser Bemühen um einen konzentrierten Wiedereinstieg in die literaturwissenschaftliche Pommernforschung gleichermaßen von älteren wie von zahlreichen jüngeren Forschern getragen wurde, stellt dies doch ein ermutigendes Zeichen sich anbahnender wissenschaftlicher Kontinuität dar. Diese Feststellung gilt nicht zuletzt auch hinsichtlich der engen Zusammenarbeit von Kollegen aus Ost und West, zwischen den Veranstaltern und Bandherausgebern ohnehin, aber auch zwischen anderen, zumal jüngeren Teilnehmern. Aus diesen Arbeitskontakten sind bisweilen Freundschaften erwachsen, die in die Zukunft weisen, in ihr wirksam werden, nicht allein zum Wohle der Wissenschaft. Es erscheint uns notwendig, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, was sich keinesfalls im »Selbstlauf« vollziehen wird. Pommern in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ein gewichtiges Thema, das über den mit ihm verbundenen wissenschaftlichen Anspruch hinaus praktische Folgen haben kann und haben wird im Sinne eines notwendigen und nun auch wieder möglichen Aufeinanderzugehens der Menschen in der Region: Gerade der letztgenannte Aspekt hat uns zu einem bestimmten Zeitpunkt die Zusammenarbeit mit der Ostsee-Akademie in Lübeck-Travemünde suchen lassen. Denn wir dürfen und wollen nicht allein für die Regale gelehrter Bibliotheken forschen, schreiben und reden. Wie alle Wissenschaft, die wirksam zu werden wünscht, muß Regionalforschung - und sie erst recht! zu möglichst vielen Menschen kommen, will sie ihre Ziele und Absichten nicht verfehlen. Regionale Kulturraumforschung kann in besonderem Maße zur Heraubildung einer grenzüberschreitenden Identität beitragen, die sich ihres historischen Ursprungs ebenso zu versichern weiß wie ihrer zukunftsweisenden Perpektiven in einem geeinten Europa. Dieter Mertens hat diesen Zusammenhang in anderem regionalen Bezug auf den trefflichen Nenner gebracht: »Ein Land zu schaffen, eine patria wiederherzustellen, bedarf es offenbar nicht nur eines politischen Prozesses [...], sondern auch eines intellektuellen, indem Selbstverständnis und Selbstvergewisserung, ideelle und ideologische Momente der Bewußtseinsbildung als komplemen-

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Vorwort

täre Kräfte der politischen Entwicklung begriffen und gefördert werden.« Es versteht sich nahezu von selbst, soll an dieser Stelle aber trotzdem hervorgehoben werden, daß entsprechende Zielvorstellungen nach der jetzt erfolgten Bestandsaufnahme perspektivisch nur in einer möglichst engen Kooperation mit ausländischen Forschern verwirklicht werden können, zumal mit Kollegen aus Polen und Schweden. In dieser Aufgabe wissen wir uns einig mit Forschungsplänen und Arbeitsentwürfen, wie sie im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Städteforschung vorgelegt wurden. Dazu gehört namentlich das von Klaus Garber (Osnabrück) skizzierte Projekt »Städtisches literarischen Leben der Frühen Neuzeit im alten deutschen Sprachraum des Ostens«. Dem Personalschrifttum gebührt dabei besondere Aufmerksamkeit, prägte es doch in herausragender Weise die urbane Kultur. Die in Greifswald und Stettin erhaltenen Bestände, die in diesem Band nur exemplarisch berücksichtigt werden konnten, bedürfen dringend einer umfassenden Erschließung und literaturwissenschaftlichen Auswertung. Da ohne die entsprechenden Mittel bekanntlich nichts geht in der Welt, schon gar nicht in derjenigen der Wissenschaft, ist es uns ein besonderes Bedürfnis, der Fritz Thyssen Stiftung unseren herzlichen Dank zu sagen für die großzügige Unterstützung sowohl bei der Ausrichtung der Tagung als auch bei der Herstellung des vorliegenden Bandes. Diese Hilfe hat unser Unternehmen erst möglich gemacht. Dank gilt ebenfalls der Sparkasse Vorpommern in Greifswald, die - während der Tagung selbst noch in ihrer Aufbauphase begriffen - nicht zögerte, uns nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten zu unterstützen. Nicht zuletzt danken wir all jenen Freunden und Kollegen in Greifswald, Heidelberg und anderen Orten, die auf unterschiedliche Art und Weise zum Gelingen der Tagung sowie zur Fertigstellung des Bandes beigetragen haben. Großen Anteil an der Organisation der Tagung hatte Dr. Karl-Heinz Borchardt. Indem unsere Tagung Wissenschaftler ganz verschiedener Provenienz und sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Handschrift zusammenführte, stellte sie ein Wagnis dar. Dies zeigte sich auch in der Faktur der schließlich zum Druck eingereichten und von uns ausgewählten Beiträge. Wir wollen nicht verhehlen, daß außerordentliche redaktionelle Mühe notwendig war, den homogenen Standard der Darlegungen zu sichern. Eine Reihe von Aufsätzen wurde erheblich überarbeitet und neu geschrieben. Dabei half mit besonderem Arbeitseinsatz Frau cand. phil. Angela Reinthal. Ihr sei ausdrücklich gedankt! Heidelberg und Greifswald April 1993 Wilhelm Kühlmann und Horst Langer

I.

Zur Einführung

Horst Langer

Literatur in Pommern während der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen, Erscheinungsbilder, Wirkungsfelder

Warum eigentlich keine bayerische Literaturgeschichte? fragte Dieter Breuer 1985 in seinem Beitrag auf dem VII. Internationalen Germanistenkongreß in Göttingen, und er erläuterte seine Überschrift mit der bestimmt vorgetragenen Feststellung Defizite in der Literaturgeschichtsschreibung aus regionaler Sicht.1 Zwei Jahre später lag ein voluminöser Band, ein Handbuch der Literatur in Bayern. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart2 vor - zwar vielleicht keine Literaturgeschichte (was immer das sein mag), aber doch ein Buch, das in vier Hauptkapiteln auf annähernd 750 Seiten Auskunft gibt über Literatur, die »im Raum Bayern« (S. 9) entstanden ist. Nun hatten Bayern und Pommern (respektive umgekehrt) nur sehr partiell und temporär miteinander zu tun im Auf und Ab der Geschichte, 3 aber immerhin eröffnete auch Hans Werner Richter seine liebevoll-ironisch vorgetragenen Reminiszenzen an das gute alte Pommernland mit dem Satz: »Die Farbe der Bayern ist weiß-blau, die Farbe der Pommern blau-weiß.«4 Und er fuhr (man schrieb das Jahr 1970) fort: »Die Bayern gibt es noch, und sie tragen ihre weiß-blauen Fahnen stolz vor sich her, die Pommern aber gibt es nicht mehr, und ihre blau-weißen Fahnen sind so gut wie vergessen [...], Pommernland ist abgebrannt [...]. Gibt es sie wirklich nicht mehr? Das ist die Frage.« (S.6f.) Zweiundzwanzig Jahre später wissen wir mit Sicherheit, daß es sie >noch immer< gibt und - wenn nicht alle Erfahrung täuschen sollte - auch künftighin geben wird: >die Pommerndie PommernGelegenheitsgedicht< mit den flankierenden soziokulturellen Gegebenheiten der Zeit zu tun hatte und auf diese ein erhellendes Licht zu werfen vermag. Hinsichtlich der in Augenschein genommenen literaturgeschichtlichen Erscheinungsbilder und Abläufe waren die Grenzen zum 18. Jahrhundert, wie von Fall zu Fall gezeigt, oft fließend, was ja wiederum keine Besonderheit Pommerns ausmacht. Einen spürbaren qualitativen wie quantitativen Zugewinn verzeichnete das Geistesleben im allgemeinen und die Literatur im besonderen seit den 30er Jahren. Dies gilt für das Spektrum der Hervorbringungen wie auch für die Diskussion theoretischer Fragen im Umkreis ästhetisch-literarischer Konzepte und ihnen entsprechender Rezeptionsprozesse. Begleitet wurden einschlägige, wenigstens exemplarisch noch zu würdigende Entwicklungen von solchen des zeitgenössischen philosophischen Denkens und Streitens, aber auch des Zeitungs- bzw. Zeitschriften- und des Schulwesens. In stärkerem Maße als in vorangegangenen Jahrhunderten erlangte bei alledem die Landesuniversität Gewicht. Nicht zuletzt im Umkreis der 1739 in Greifswald ins Leben gerufenen »KöniglichDeutschen Gesellschaft« 52 und der von ihr ausgegangenen Impulse ist ein (Manuskriptabschluß: Dezember 1994) eine Charakteristik der Vitae Pomeranorum erarbeitet worden, in der es heißt: »Die Sammlung umfaßt 8843 gedruckte Titel. Davon sind 171 Titel aus dem 16. Jh., 5531 aus dem 17. Jh., 2986 aus dem 18. Jh., 90 Titel aus dem 19. Jh. und 65 Titel tragen kein Erscheinungsdatum. In deutscher Sprache sind 4456 Titel, in lateinischer Sprache 4145, in französischer Sprache 9 Titel, in schwedischer Sprache 228 Titel und 5 Titel sind in anderen Sprachen erschienen. Aus pommerschen Druckorten stammen 6788 Titel. 220 Handschriften vervollständigen den Bestand. Die Auszählung erfolgte durch Autopsie. Die Sammlung ist geschlossen mit Sondersignatur aufgestellt und durch das von Edmund Lange [vgl. Anm.50, La.] erarbeitete gedruckte Verzeichnis (1898) in Bandform erschlossen. Dieses Verzeichnis weist die meisten Adressaten mit den für sie verfaßten Drucken nach.« - Der Verf. dankt Frau Dr. Petrick für die Bereitstellung des Manuskripts sowie für ihre Einwilligung zum Abdruck vorstehenden Zitats. 52

Vgl. Anm. 12 1989 und 1990 sowie: Gesetze der Königlich-Deutschen Gesellschaft in Greifswald. Greifswald und Leipzig 1740. - Augustin Balthasar: Rituale Academicum, speciatim Gryphicum. Greifswald 1742 (Abdruck der Eröffnungsrede Augustin Balthasars, die 1740 auch als Einzeldruck in Greifswald erschienen war), S. 457-506. Theophilus Coelestinus Piper: Gedächtnisrede auf Johann Carl Dähnert. Greifswald 1786. - Richard Schultz: Die Königlich-Deutsche Gesellschaft zu Greifswald. Greifswald 1914 (mit ausführlichem Literaturverzeichnis). - Vgl. auch Martin Wehrmann: Wissenschaftliche Vereinigungen älterer Zeit in Pommern. Festschrift der Königlich

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Horst Langer

deutlicher und zumindest mittelfristig beachtenswerter Aufschwung des literarischen Lebens insbesondere im vorpommerschen Raum zu konstatieren. Er vollzog sich vor dem Hintergrund einer weiteren Öffnung gegenüber ähnlichen Bestrebungen im Reich, aber etwa auch in England und Frankreich. 53 Während in Hinterpommern der Pietismus kräftig Fuß faßte, war der Wolffianismus »die bevorzugte Philosophie der protestantischen Universitäten«, 54 in Greifswald vor allem durch den älteren Muhrbeck vertreten. Aber auch in Stettin gründete sich 1742 eine den Wölfischen Maximen verpflichtete Zweiggesellschaft der Berliner Wahrheitsfreunde, der sogenannten »Aletophilen«. Ihr Wollen, »die Wahrheit, die Ausbreitung derselben und der Schutz aller derer, welche die Wahrheit suchen und vertheidigen«, 55 stimmte mit den Zielen der »Deutschen Gesellschaft« in Greifswald nahezu nahtlos überein. Wenige Jahre später fanden aus England stammende philosophisch-literarische Konzepte Resonanz in Pommern, wenn auch mitunter zögerlich; bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Umbenennung einer 1749 in Stralsund ins Leben getretenen »Arkadische(n)« in »Englische Gesellschaft« (1751) - übrigens hatte sie (zu deren Mitgliedern, ebenso wie im Falle der »Deutschen Gesellschaft«, auch Frauen gehörten) unter dem letztgenannten Namen rund 30 Jahre Bestand, wesentlich länger als die gleichwohl bedeutendere, hinsichtlich ihres Profils auch anders strukturierte Greifswalder Sozietät.56 Intensiv setzte man sich mit den Lehrsystemen Kants und Fichtes auseinander, im ersteren Falle zunächst aufgeschlossen, sodann aber zunehmend reserviert gegenüber den vermeintlichen »Dunkelheiten« im Denkgebäude des Königsbergers, dessen Favorisierung des Gewissens gegenüber dem Verstand darauf hinausliefe, »statt daß der Verstand das Herz lenken soll, das Herz dem Verstände vorschreibt« - so in einer Rezension aus den »Neuesten Critischen Nachrichten« von 1781 nach-

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Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [ . . . ] sowie Alexander Reifferscheid: Über den Anteil Pommerns an dem geistigen Leben Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert. Greifswald 1881. Vgl. zu entsprechenden Wechselbeziehungen v. a. die Arbeit von Beug, wie Anm. 13, S. 96 ff., sowie Sabine und Thomas Numrich: Aufklärung und Französische Revolution im Spiegel der Gelehrtenzeitschrift »Neueste Critische Nachrichten«. Dipl.arbeit (masch.) Greifswald 1989. Beug, wie Anm. 13, S. 51. - Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt »der Wolffianismus einen scharfen Nebenbuhler an der Philosophie englischer Herkunft.« (S. 51). Reifferscheid, wie Anm. 52, S. 11. - Das Interesse der Wahrheitsfreunde galt v.a. den Naturwissenschaften. 1766 übergaben sie ihre Instrumente und Bücher der 1762 gegründeten »Loge zu den drei Zirkeln« und gingen allmählich in ihr auf. Vgl. Schultz, wie Anm. 52, S. 23. Vgl. zur »Englischen« bzw. »Arkadischen Gesellschaft« A. Brandenburg: Nachricht von der Entstehung und Einrichtung der Rathsbibliothek in Stralsund. Stralsund 1829. - Derselbe: Johann Albert Dinnies. Greifswald 1934 (Pommersche Jahrbücher Bd. 28). - Beug, wie Anm. 13, S. 85ff. - Wolfgang Klötzer: Ausgewählte Probleme zu den Literaturverhältnissen in Stralsund zur Zeit der Epochenwende um 1800. Diss, (masch.). Neubrandenburg 1990, S. 144ff.

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zulesen. 5 7 Erst seit Mitte der neunziger Jahre machte sich ein Umschwung bemerkbar, gefördert vor allem von dem Greifswalder Philosophen Johann Ernst Parow. 5 8 Fichtes Philosophie fand sich lange Zeit gar des Atheismus verdächtigt. 5 9 D i e solchen Positionen zugrundeliegenden, bisweilen durchaus konservativen Anschauungen beeinflußten auch die literaturkritischen bzw. -theoretischen Bemühungen in Pommern. Deutlich zeigt sich dies im Falle der regionalspezifischen Shakespeare-Rezeption sowie in der Sturm-undDrang-Debatte der 70er Jahre, festgemacht insbesondere an dem hierorts als aufreizend empfundenen Geniebegriff (letzteres allerdings durchaus vor dem Hintergrund einer inzwischen vollzogenen weitgehenden Abkehr v o n dem in Greifswald lange Zeit hochgeschätzten Leipziger Literaturpapst Gottsched). Immerhin läßt sich feststellen, daß die überregionalen Entwicklungen umfassend zur Kenntnis g e n o m m e n und mit theoretischem Anspruch reflektiert worden sind, auch noch n a c h der Blütezeit entsprechender Bemühungen um die Jahrhundertmitte. Freilich war der Kreis der an diesen Debatten Beteiligten klein und exklusiv, wie bereits ein Blick auf die Mitgliederliste der »Deutschen Gesellschaft« sowie auf die Subskriptionsliste einer der Zeitschriften in ihrem Umkreis zeigt. 6 0 A b e r w o wäre dies wohl anders gewesen?

" Bd. VII. Greifswald 1786, S. 58. 58 Über Parow s. Johann Gottfried Ludwig Kosegarten: Geschichte der Universität Greifswald. Mit urkundlichen Belegen. Bd. I. Greifswald 1875, S.311. - Parows philosophische Bemühungen und Schriften («Untersuchungen über den Begriff der Philosophie und den verschiedenen Wert der philosophischen Systeme«, Greifswald 1795 sowie »Grundriß der Vernunftreligion zum Gebrauch von Vorlesungen«, 1799) vermitteln nicht zuletzt »die Bekanntschaft der gelehrten Kreise Pommerns mit den Schriften Kants, Fichtes, Schellings und Schleiermachers.« Beug, wie Anm. 13, S. 56. 59 Parow verteidigte in den »Neuesten Critischen Nachrichten«. 1799. Bd. XXV Fichte gegenüber diesem Vorwurf und führte anmahnend aus: »Es ist indessen die Pflicht eines jeden, erst in den inneren Geist einer Philosophie einzudringen, bevor man eine Widerlegung derselben vornimmt.« (S. 218). 60 Aus einer Subskriptionsliste, die dem 1. Bd. der »Critischen Nachrichten« von 1750 einem Organ der Gesellschaft - vorangestellt ist, läßt sich entnehmen, daß die Anteile in beruflich-sozialer Hinsicht zu etwa einem Drittel auf staatliche Angestellte (Beamte) sowie auf kirchliche Amts- und Würdenträger entfielen und daß Universitätsangehörige sowie Angehörige höherer Lehranstalten zu rund einem Fünftel vertreten waren. Etwa 15% der Subskribenten waren Adlige, darunter mehrere Offiziere. Weitere Interessenten waren Kaufleute, Buchhändler, Apotheker und Studenten. Vgl. Numrich, wie Anm. 53, S.25ff. - Vgl. zur sozialen Situation in der Region Johannes Schildhauer, Konrad Fritze, Walter Stark: Die Hanse. Berlin 1986, v.a. S. 150ff. - Johannes Schildhauer: Tägliches Leben und private Sphäre des spätmittelalterlichen Stadtbürgertums. Untersuchungen auf der Grundlage Stralsunder Bürgertestamente. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 36 (7/1988), S. 608-614. Renate Schilling: Schwedisch-Pommern um 1700 Studien zur Agrarstruktur eines Territoriums extremer Gutsherrschaft. Weimar 1989 (Abhandlungen zur Handels-

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Verstärkt seit dem Beginn der 40er Jahre wuchs das Interesse der Schweden an »ihrer« Universität in Greifswald. Man hoffte, die Hohe Schule für angehende Verwaltungsbeamte in Pommern anziehend machen zu können. Dieses Ziel befördern zu helfen, kam dem in Schweden geborenen späteren Professor Nettelbladt zu, der - als Sohn einer in Stockholm ansässig gewordenen deutschen Kaufmannsfamilie - 1740 an die Historische Fakultät in Greifswald gekommen war, um hier die »schwedische Wissenschaft zu vertreten«, aber auch, um »als Orthodoxer« der den Schweden »verdächtigen pietistischen Richtung (repräsentiert etwa durch Augustin Balthasar) entgegenzuarbeiten«. 61 Zu nennen sind im Zusammenhang der zur Debatte stehenden Beziehungen u. a. die Übersetzung der Geschichte des Reiches Schweden von Olaf Dalin durch Dähnert sowie des Letztgenannten Schwedisch· Deutsches Wörterbuch,62 aber auch das Wirken von Johann Peter Möller, Thomas Heinrich Gadebusch und Karl Schildener. 63 An der Wende zum 19. Jahrhundert spielte der schwedische Dichter und Philosoph Thomas Thorild eine wichtige Rolle in der Region, der »Lessing des Nordens«, wie er genannt wurde (sein Grab befindet sich in Neuenkirchen bei Greifswald). In Thorilds Person war ein Mann hier tätig, »der nicht bloß eine Kenntnis der schwedischen Literatur vermittelte, sondern diese Literatur selbst verkörperte.« 64 Was die Literaturproduktion seit der Jahrhundertmitte betrifft, so konstatierte Helmut Beug in seiner ausgezeichneten Arbeit über Heinrich Ehrenfried Warnekros und die pommersche Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mißbilligend, daß wir in derselben Zeit, in der »Klopstocks große Odensammlung erschien«, in der pommerschen Dichtung noch immer »reichlich viel >Kasualpoesie< (finden)«. 65 Ungeachtet dieses zweifellos richtigen Befundes, ungeachtet auch der Tatsache, daß

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und Sozialgeschichte Bd. 27). - Rudolf Biederstedt: The material situation of the working population in the towns of West Pomerania in the era of the »Price revolution«: 1500-1627. o . O . , o . J . Leopold Magon: Die Geschichte der Nordischen Studien und die Begründung des Nordischen Instituts. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-nordischen kulturellen Verbindungen. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald 17.10. 1956. Bd. II. Greifswald 1956, S. 143. Der Beitrag fußt auf einer umfassenden Auseinandersetzung mit der im einzelnen herangezogenen und ausgewiesenen Forschungsliteratur sowie auf umfangreicher Quellenkenntnis. Kosegarten, wie Anm. 58, S. 287. Vgl. zum Wirken der Genannten Magon, wie Anm. 61, S. 246ff. sowie Norbert Böttger: Karl Schildener und die Übersetzung der schwedischen Gesetze im Jahre 1806 ein Beitrag zu den deutsch-schwedischen Kulturbeziehungen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Nordeuropa-Studien. Greifswald 1990 (Sonderreihe der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Nr. 27) S. 67ff. Magon, wie Anm. 61, S.246. - Vgl. auch Wilhelm Braun: Aus Thomas Thorilds Greifswalder Zeit. Greifswald 1963 sowie Ernst Zunker: Thomas Thorild als Bibliothekar in Greifswald. Leipzig 1953. Wie Anm. 13, S. 143.

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zeitweilig theoretische Wortmeldungen diejenigen literarischer Art überwogen, regten sich auch in der zweiten Jahrhunderthälfte und zumal gegen deren Ende zahlreiche durchaus gewichtige (von bisherigen Literaturgeschichten freilich oft übersehene) Autoren in der Region. Zu ihnen zählten drei Persönlichkeiten, die bei allen Besonderheiten ihres Herkommens und ihrer Entwicklungswege eine nicht nur äußerliche Gemeinsamkeit miteinander verband: Sie nahmen ihren literarischen Ausgang - wenngleich zu unterschiedlichen Zeiten - von der Greifswalder Studentenbühne. Unter der Leitung von Philipp Ernst Raufseysen (1743-1775) erreichte diese einen vielbeachteten Höhepunkt ihrer Wirksamkeit. Das Interesse der Greifswalder an den Darbietungen der Raufseysen-Bühne läßt eine Notiz aus den Neuen Critischen Nachrichten von 1767 erkennen, in der es heißt: »Den 13. Juni führte eine Gesellschaft einiger auf hiesiger Akademie studierender Herren das fürtreffliche Trauerspiel [ . . . ] Miß Sara Sampson mit allgemeinem Beyfall und bei vieler Rührung einer Menge Zuschauer hierselbst öffentlich auf.« 66 Ideelles Wollen und künstlerischer Anspruch der Bühne lassen sich nicht zuletzt daraus ableiten, daß ihre Mitglieder neben Stücken von Lessing auch Dramen von »Goethe, sogar von Shakespear«67 spielten. Raufseysen agierte bis zu seinem Weggang aus Greifswald 1769 zugleich als Leiter, Mime und Autor der Gesellschaft. Die von ihm verfaßtenTexte sind vermutlich verlorengegangen, jedenfalls wurden sie - mit einer Ausnahme bislang nicht aufgefunden. 68 Der apostrophierten Ignoranz einschlägiger Darstellungen zum Trotz ist der gebürtige Danziger insbesondere durch die postum erfolgte Ausgabe seiner Gedichte 69 in die Literaturgeschichte eingegangen. Angesiedelt im produktiven Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, formgeschichtlich sowohl auf tradierten - zumal barocken - als auch auf zeitgenössischen >Mustern< fußend, schritt der frühverstorbene Dichter ein weitgefächertes Themen- und Gattungsfeld aus. Es reichte vom moralphilosophischen Aufruf zu Tugend und Toleranz über die humoristisch-spielerische, auch ironische, schließlich zupackend-satirische Reflexion mehr oder minder pragmatischer Fragen des bürgerlichen Alltags bis hin zum feierlichen, gleichsam hymnisch gestimmten Lobpreis von Natur, Freundschaft und Liebe. Das kunstvoll strukturierte, in der Schlußpointe gezielt aufgipfelnde Epigramm steht neben dem Scherz- oder dem Gelegenheitsgedicht, « Hg. von Johann Carl Dähnert. Greifswald 1765-1774, hier Bd. III (1767), S. 231. 67 Friedrich Rühs: Nekrolog auf Johann Gottfried Hagemeister. In: Euronyme und Nemesis. Stettin/Leipzig, Bd. II (1808), S. 12. 68 Es handelt sich bei der genannten Ausnahme um den Schlußteil des in Greifswald aufgeführten dramatischen Gedichts »Die besiegte Barbarey«. In: Neue critische Nachrichten, wie Anm. 1, Bd. II (1766), S. 160. - Den Hinweis auf das Gedicht verdanke ich SusanneT\ittas (s.a. Anm. 70). 69 Raufseysens Gedichte nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von G. Danowius. Berlin 1782.

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»Versuche in Romanzen« neben geistlichen Oden und Liedern, Rhapsodien und dialogisierten Gesängen. Zahlreiche bemerkenswerte Äußerungen zu den Begleitumständen und intendierten Wirkungen seiner literarischen Arbeit finden sich in handschriftlichen Aufzeichnungen Raufseysens, die jetzt erstmals einer systematischen Sichtung unterzogen werden. 70 Seit 1772, also noch zu Lebzeiten des Autors, sind einzelne seiner Gedichte in verschiedenen Musenalmanachen sowie vor allem im Leipziger Taschenbuch veröffentlicht worden. 71 Raufseysen bedingt vergleichbar ist der eingangs aus seinem Pommerbuch bereits zitierte Zeitgenosse Karl Lappe (1773-1843), geboren im elterlichen Pfarrhaus zu Wusterhusen bei Greifswald, seit 1786 Schüler Ludwig Gotthard Kosegartens in Wolgast, wo Philipp Otto Runge und Karl Nernst zu seinen Jugendfreunden rechneten und wo sich in Lappe »zum ersten Male der Dichter (regte).« 72 Nachdrücklich gefördert wurden entsprechende Regungen von seinem Lehrer Kosegarten, der zwei Jahre nach Lappes Eintreffen in der ehemaligen Residenzstadt die erste Ausgabe seiner Gedichte vorlegte 73 und wenig später Übersetzungen von Samuel Richardsons Clarissa74 und Adam Smith's Theory ofmoral sentiments75 veröffentlichte, Arbeiten, die Lappe später zu eigener Übersetzertätigkeit aus dem Englischen und Schwedischen inspirierten. 76 An der Greifswalder Universität (1789-1793) erweiterte und vertiefte Lappe seine in Ansätzen bereits in Wolgast ausgebildeten Kenntnisse aufklärerischen Gedankenguts. Insbesondere die Vorlesungen von Peter Ahlwardt (auch Alethinus Libertus, 1710-1771), Vertreter der >Natürlichen< Theologie, hinterließen einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Lappe, zu dessen Bekanntenkreis an der Greifswalder Universität auch Ernst Moritz Arndt gehörte. Letzterem folgte Lappe nach mehreren Zwischenstationen im Mecklenburgischen als Hauslehrer bei Kosegarten, der in Altenkirchen das Pfarramt übernommen hatte. In der wild-romantischen nördlichen 70

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Im Zusammenhang mit ihrer im Entstehen begriffenen Dissertation über Raufseysen besorgte Susanne Tuttas eine Übertragung der Handschriften; eine Veröffentlichung der Texte durch Tuttas befindet sich in Vorbereitung. Wie Anm. 69, S. 263-306. Otto Steher: Karl Lappes Leben und Dichten. Greifswald 1926, S. 21. - Vgl. zu Lappe auch Klötzer, wie Anm. 56. LudwigTheobul (d. i. Gotthard) Kosegarten: Gedichte. Zwey Bände. Leipzig 1788. Samuel Richardson: Clarissa. Neuübersetzt von Ludwig Gotthard Kosegarten. VIII Bände. Leipzig 1790/93. Adam Smith: Theorie der sittlichen Gefühle. Aus dem Englischen neu übersetzt, vorgeredet und comm. 2 Bände. Leipzig 1791/95. Vgl. zum Beispiel: Johann Heinrich Kellgren's prosaische Schriften aus dem Schwedischen übersetzt von Karl Lappe. Neu-Strelitz und Leipzig 1801; Linnes eigenhändige Anzeigungen über sich selbst mit Anmerkungen und Zusätzen von A(dam) Afzelius aus dem Schwedischen. Mit Vorrede von Dr. K(arl) A(smund) Rudolphi. Nebst Linnös Bildnis und Handschrift. Berlin 1832.

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Küstenlandschaft, stark geprägt vom täglichen Umgang mit dem inzwischen berühmt gewordenen >Dichter Rügensaus sich selbst heraus< dichtete und in dessen vergleichsweise umfangreichem CEuvre77 sich moraltheologische, philosophische, pädagogische sowie >praktische< Fragen jenseits höfischer wie städtischer Konventionen auf den Prüfstand kritisch-sensibler Vernunft gehoben fanden. Lappe fußte sowohl in der antiken Tradition (Horaz) als auch in zeitgenössischen literarischen Entwicklungen und Bewegungen, die mit Namen wie Albrecht von Haller, Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Friedrich von Hagedorn, Friedrich Gottlieb Klopstock und Friedrich Schiller verbunden waren bzw. sind. 78 In welchem Maße er sich auch über Pommern hinaus einen (mitunter allerdings belächelten) Namen machte, geht daraus hervor, daß er regelmäßiger Mitarbeiter am Göttinger Musenalmanach war und auch zu Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1796 beitrug, zudem in weiteren überregionalen Zeitschriften veröffentlichte. Heute ist Lappe ein nahezu vergessener Autor. 79 Nachhaltigere Bedeutung als im Falle Lappes hatte die Tätigkeit in der Greifswalder Studentenbühne für Johann Gottfried Lucas Hagemeister (1762-1806). Der Sohn eines Universitätssekretärs besuchte zunächst das Gymnasium in seiner Heimatstadt; durch den Leiter der Bildungseinrichtung, den nachmaligen Universitätsprofessor Theophilus Coelestinus Piper (1745-1814) - der auch auf Lappe nicht ohne Wirkung geblieben war - , wurde Hagemeister zu ersten literarischen Versuchen angeregt. Nach dem Beginn philosophischer und philologischer Studien in Greifswald im Jahr 1778 fand der jugendliche >Dichter< schnell den Weg auf die Studentenbüh77

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Vgl. Karl Lappe: Sämmtliche poetische Werke. Ausgabe letzter Hand. Mit dem Bildniß des Verfassers. FünfTheile. Rostock 1836. Vgl. dazu Stelter, wie Anm. 72, v. a. S. 43ff. und 56ff. Zur Rezeption des Werkes von Karl Lappe vgl. Klötzer, wie Anm. 56, S. 91-106, sowie Herbert Ewe: Berühmte Stralsunder. Heute: Karl Lappe. In: Ostsee-Zeitung v. 22.10.1990, S. 6, sowie Wolfgang Klötzer: Aus der Geschichte des Stralsunder Gymnasiums. In: Ostsee-Zeitung v. 27.5.1991, S. 5 und v. 29.5.1991, S. 5.

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ne. Ähnlich wie in den 60er Jahren Raufseysen, betätigte sich Hagemeister als Schauspieler und Verfasser von Stücken, die nicht überliefert sind. Sein weiterer Lebensweg führte ihn 1782 zum Studium der Geschichte, Ästhetik sowie der hebräischen Sprache nach Halle, später (1784) nach Berlin, wo er am Schindlerschen Waisenhaus eine Lehrerstelle erhielt. Seit 1790 versuchte sich Hagemeister - zeitweise erfolgreichals einer der ersten >freien< Schriftsteller. 1792 kehrte er - offenbar mittellos - zu seinen pommerschen Ursprüngen zurück, lebte zunächst in Wiek auf Rügen, ab 1798 als Schulmann in Anklam. Seine literarisch produktivste Zeit lag zwischen 1785 und 1793, fiel also insbesondere in die Jahre des Berliner Aufenthalts. Hagemeisters Werk umfaßt mehr als ein Dutzend Dramen, zahlreiche Gedichte, nicht zuletzt Kasuallyrik, sowie Zeitschriftenartikel verschiedener Art. Für den Selbstverständigungsprozeß des Dramatikers wie für die Rezeption seiner Stücke von besonderem Gewicht wurde die bereits von Christian Grawe hervorgehobene Fiesco-Rezension Hagemeisters (1792).80 In ihr bekannte sich der Dramatiker zu einer ausgeprägt politisch akzentuierten Theaterarbeit. 81 Schillers republikanisches Trauerspiel Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783; 3., >Leipziger< Fassung 1785) bot Hagemeister für entsprechende theoretische Reflexionen den willkommenen Anlaß und Bezugspunkt. In seinem kurz vor der Rezension entstandenen Stück Johann von Procida oder die Sicilische Vesper (Buchausgabe 1791, Bühnenbearbeitung und Uraufführung am Berliner Königlichen Schauspielhaus 1792) hatte er ein Drama geschaffen, das dem Fiesco ideell wie figurentechnisch-dramaturgisch in mancher Hinsicht ähnelt, einen Text, »mit dem sich wohl wenige vaterländische messen dürfen«, 82 wie es in einer zeitgenössischen Stellungnahme heißt. Im Zentrum des Dramas steht der Titelheld - das »Haupt der Volkspartei« - in seinem gerechten Kampf gegen die tyrannisch herrschenden französischen Statthalter von Sizilien ( hier vor allem in Gestalt des Grafen Herbert), an seiner Seite der treue, aufopfernd kämpfende Freund 80

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Zu Schillers »Fiesco«. Eine übersehene Rezension. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1983), S. 9-30. Hagemeister schrieb: »So kann z.B. ein Königsmord immer den Stoff zu einer Tragödie hergeben, aber zum Gegenstand einer politischen Tragödie wird er nur dann, wenn er mit gewaltsamen Erschütterungen verknüpft ist, wodurch die ehemalige Form des Staates entweder gänzlich umgeworfen oder wenigstens zum Umguß vorbereitet wird: denn eben darin besteht das Wesen des politischen Schauspiels, daß es sich nicht sowohl das Schicksal einzelner Menschen, als vielmehr das Schicksal ganzer Nationen zum Vorwurf nimmt.« Die Verschwörung des Fiesco zu Genua von Schiller. In: Dramaturgisches Wochenblatt für Berlin und Deutschland. 3 (1772), S. 45. Christian August Bertram in: Annalen des Theaters. Heft 13 (1794), S. 125. - Die Zitate zu den Anmerkungen 81 und 82 habe ich einem Manuskript von Tobias Wangermann entnommen.

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Marino. Den historischen Hintergrund des Geschehens bildet die Erhebung von 1281/82 gegen Karl von Anjou, die allerdings hier zugunsten der Empörer verläuft. In bemerkenswerter Weise verknüpft Hagemeisters Drama die nationale Insurrektion mit der ihr zwar nicht ursächlich, aber durchaus eng verbundenen sozialen Frage. Dem begeisterten Ausruf des idealisch-vaterländisch gestimmten Marino: »Das Gefühl der wiedererkämpften, der selbsterrungenen Freiheit - Bruder! Ich verzweifle am Menschen, wenn sie das nicht in ihre alte Würde einsetzt«, hält der nüchtern wägende Procida skeptisch entgegen: 83 Den sicilischen Adel vielleicht - das gebe ich zu. Aber ist mir damit geholfen? Was ich thun will, thu ich fürs Volk - nicht für herrschsüchtige Baronen. Ehe diese nicht gedemüthigt sind, ist an keine Verbesserung zu denken. Die Ungenügsamen! Ich kenne sie, weiß lange, daß sie Herbert, aber nur den Tirannen haßen, nicht die Tirannei. Ο wie gerne wären sie an seiner Stelle! Und nur weil sie es nicht sind, weil die Französische Regierung ihnen den Zügel aus den Händen nahm, woran sie Bürger und Bauern, wie das Landvieh, vor sich hertrieben, nur darum murren sie. Für sie wäre Herbert ein Vater des Vaterlandes, wenn er mit ihnen theilen wollte.

Die Übernahme der Herrschaft durch den aufgeklärten, gerechten Fürsten Don Pedro, von dem auch das Signal zur Erhebung ausgegangen war und der die verpflichtende Hirtenfunktion seines Standes und Amtes uneingeschränkt anerkennt, stellt die Antwort Hagemeisters auf die von seinem Drama erhobenen Fragen dar. Ohne Zögern unterwirft sich das »Haupt der Volkspartei« Don Pedro: 84 Procida: Zu meines Königs Füßen - leg ich nun dieses Schwerdt vom Blute des Tyrannen triefend hin, und mit ihm meine Huldigung. Don Pedro: Ich dank Euch meine Lieben! Dank Euch mit Freudenthränen. (Herbert erblickend) Gott ist gerecht. Sicilier! Richtet mich, wie ihr diesen gerichtet, wenn ich Euch nicht als ein Vater beherrsche.

Vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse in Frankreich - vor allem vor demjenigen des jakobinischen Terrors - fand Hagemeister im Procida zu einer nichtrepublikanischen Lösungsvariante, welche gleichwohl die ethisch-sozialen Implikationen des Stoffes als einen der Haupt->Zwecke< des Geschehens definierte. In den chronologisch nachfolgenden Römischen Dichtungen (erschienen 1794) - den Stücken Romulus und die Patrizier, Die Volkswahl sowie Brutus und seine Söhne - setzte der Autor die entsprechenden Akzente partiell anders. Desillusioniert von den machtpolitisch bestimmten Praktiken der Herrscher, diskutieren exponierte Figuren der durchweg als Lesedramen ausgeführten Texte wiederholt die Frage nach den Möglichkeiten einer republikanischen Staatsform; am weitesten getrieben werden diesbezügliche Diskurse im Brutus. Dennoch findet sich die im Procida vertretene spätaufklärerisch-frühklassische Überzeugung von der 83 84

Johann Gottfried Hagemeister: Johann von Procida. Berlin 1791, S. 14f. Ebd., S. 287.

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Bedeutung aufgeklärter Herrscher für das Gedeihen humaner Gemeinwesen in den Stücken der 90er Jahre nicht grundsätzlich aufgegeben, sondern wirkungsbezogen problematisiert. Aussagekräftige Quellen, die über die Resonanz des Dramatikers in der Region, vor allem auch über die eventuelle Aufführung einzelner Stücke Auskunft geben würden, sind bislang nicht erschlossen worden. Auch die letzten Jahre auf Rügen und schließlich in Anklam liegen noch weitgehend im Dunkeln. Unzweifelhaft ist hingegen, daß die gelegentlich floskelhaft herangezogene Wendung von dem zu Unrecht vergessenen Dichter im Falle Hagemeisters uneingeschränkt ihre Berechtigung hat. Das in den vorangegangenen Zeitläufen so überaus lebhaft vertretene Schultheater fand sich mehr und mehr von nunmehr deutschen Wandertruppen abgelöst. 85 In deren Repertoire standen nicht zuletzt Stücke von Iffland und Kotzebue sowie vornehmlich auch »Charakterlustspiel, Rührkomödie und Schäferspiel«. 86 In welchem Maße solche Aufführungen in der Regel vorrangig ein Unterhaltungsbedürfnis bedienen sollten, mag eine Kritik aus dem Pommerschen Krämerdütchen von 1775 veranschaulichen, in der es heißt, es handele sich bei dergleichen Werken zumeist um einen »Zusammenfluß von Handlungen«, in deren Verlauf »ein alter Argus« ein »junges, muthwilliges Mädchen zu bewachen hat«, von dem er »mit Hülffe eines Liebhabers hintergangen wird [ . . . ] . Der Alte geräth dem Mädchen hinter die Schliche; die Schöne wird ertappt. Man zankt, man ereifert, man vergleicht sich. Zum Zeichen der Aussöhnung tanzt man ein(en) Pas de deux [.. .].« 87 Im letzten Drittel des Jahrhunderts betrat mit Ludwig Gotthard Kosegarten ein Autor die Bühne des literarischen Lebens, dessen Werk einen Höhepunkt pommerscher Literaturgeschichte markiert. Da Kosegarten im Verlauf unseres Kongresses eine Hauptrolle spielen wird, will ich mich an dieser Stelle auf wenige Anmerkungen beschränken. In einer seiner so berühmt gewordenen Uferpredigten, 88 die der Geistliche in der Nähe von 85

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Vgl. neben Beug, wie Anm. 13, S. 119ff. und Bethke, wie Anm. 17, S. l l l f f . auch Otto Altenburg: Aus der Geschichte des Theaters in Pommern während der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Baltische Studien N. F. 33). 1931, S. 199-215. Beug, wie Anm. 13, S. 121. - Vgl. auch H. Devrient: Johann Friedrich Schönemann und seine Schauspielgesellschaft. Hamburg und Leipzig 1895 (Theatergeschichtliche Forschungen XI), S. 179. Pommersches Krämerdütchen. Stralsund 1775, S. 538. In: Reden und kleine prosaische Schriften. Hg. von Gottlieb Christian Mohnike. 3 Bde. Stralsund 1831-1832 (1. Bd.). - Vgl. auch: Hier ist gut sein. Aus den Uferpredigten Ludwig Gotthard Kosegartens. Kommentiert und eingeleitet von Katharina Coblenz. Berlin 1991. Mit einer umfänglichen Einleitung in Leben und Werk Kosegartens, einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einer Auswahlbibliographie zum Werk des Dichters. - Familien- und werkgeschichtlich nach wie vor beachtenswert Rudolf Ziel: Die Kosegarten. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. Dritte Folge VIII. LVII. Bd. Stuttgart 1938, S. 459-517. - Bruno Markwardt: Greifswalder Dozenten als

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Vitt - jenem puppenstubenähnlichen dörflichen Einlaß in der zum Kapp hin ansteigenden Uferwand - für »seine« Fischer und Bauern unter freiem Himmel hielt, rief er den Versammelten zu: »Meine Freunde, ihr seid gottlob nicht eingemauert in der Städte glänzenden Käfig noch eingeklemmt in euren Geschäften zwischen vier enge und dumpfige Wände [.. .].«89 Und weiter: »Der erste Vorzug unserer Heimat ist nach meinem Gefühle deren Abgeschiedenheit und Stille [ . . . ] Uns fesselt kein steifer Sittenzwang!«90 Ähnliches können wir seit Witzlaw immer wieder einmal lesen in Werken pommerscher Autoren, bei Lappe zumal, aber nicht zuletzt auch bei Eva von Platen, »Rügens einziger jetzt lebender Dichterin«, wie Karl Nernst in seinem Wanderbuch von 1800 notierte, 91 Vergleichbares ist zu finden in den einschlägigen Büchern von Zöllner 92 und Grümbke 93 und immer wieder eben auch bei Kosegarten, in der Predigt, im Gedicht, im Roman. Keine bloße Naturschwärmerei übrigens - stets verband Kosegarten seine hymnischen Gesänge auf die umgebende Schöpfung mit dem Postulat, ihr gemäß zu leben, damit in der Alltagspraxis der Menschen Wirklichkeit würde, was sich im Bilde der Natur so eindrucksvoll beschworen fand - Frieden, Harmonie, Glück. - Kehren wir aus den gleichsam lyrischen Höhen noch einmal kurz zurück in die Niederungen eher prosaischer Feldarbeit. Die zuletzt umrissenen Verhältnisse scheinen für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts einen zumindest nicht verringerten Vor- und Mittelpommernzentrismus zu signalisieren. Nahm Greifswald diesbezüglich um die Jahrhundertmitte eine Schrittmacherfunktion ein, so verlagerten sich die Schwerpunkte Jahrzehnte später mehr und mehr nach Stettin und Stralsund. Auch Stargard mit seinem berühmt gewordenen Gymnasium Groeningianum machte zunehmend auf sich aufmerksam, ebenso - im Zusammenhang mit der Erprobung moderner pädagogischer Konzepte (Basedow; Philantropismus) - städtische Schulen in Bergen, Loitz, Lassan und Barth: beide letztgenannten Kommunen waren Wirkungsstätten Spaldings, der keinen Geringeren als Lavater zu einem langwährenden Besuch in der Region veranlaßte - auch dies ein Zeichen der Erhebung aufgeklärter Köpfe Pommerns über einen allzu enggefaßten Horizont hinaus, wie er nicht selten anzutreffen, ja (wenn wir etwa Reichenbach glauben wollen,

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Dichter. Zur Würdigung Ernst Moritz Arndts und Gotthard Ludwig Kosegartens. In: Festschrift zur 500-Jahr-Feier der Universität Bd. I. Greifswald 1956, S. 227-260. Mohnike, wie Anm. 88,1.Bd., S. 172. Wie Anm. 88, S. 133f. Wanderungen durch Rügen. Hg. von Ludwig Gotthard Kosegarten. Düsseldorf 1800, S. 72. Johann Friedrich Zöllner: Reise durch Pommern nach der Insel Rügen und einem Theile Mecklenburgs im Jahre 1795. Berlin 1797. Streifzüge durch das Rügenland. In Briefen von Indigena ( = der Einheimische). D . i . Johann Jakob Grümbke. Altona 1805. - Vgl. auch die Neuausgabe von Albert Burkhardt. Leipzig 1988.

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dem rigorosen und bissigen Kritiker) die Regel war im weiten Pommernland. Trotz des eben apostrophierten allmählichen Aufschwungs im Bereich des Schulwesens muß nach wie vor von einem sehr hohen Verbreitungsgrad der Illiterati, gar von zahlreichen Analphabeten ausgegangen werden, in deren Kreisen freilich mündlich weitergetragene Literatur (wie schon im Falle des Kirchenlieds im 16. Jahrhundert) keine geringe Rolle gespielt haben wird, etwa die Sagendichtung, als deren Eldorado Pommern bezeichnet worden ist und die auf unserem Kongreß leider viel zu kurz kommt, oder das Lied. Die wohlfeile Formel »Pomeranus non cantat« ist in ihrer Verallgemeinerung schlichtweg unzutreffend. Vor allem im Bereich des Niederdeutschen sind einschlägige Verkehrsformen in Anschlag zu bringen, die oft auf gedruckten Texten basieren, sich dann aber von diesen lösten - wie ja übrigens auch umgekehrt. Zwar hatte es nach Forchems Fastnachtspiel von 1551 kein plattdeutsches Stück mehr gegeben, aber die Mundart wurde gebunden an einzelne Figuren - mit großem Erfolg in Arbeiten von Bütow, Holle und Herlitz verwendet - keinesfalls nur, um komische Effekte zu erzielen, wie zeitweilig in der Forschungsliteratur behauptet. Krüger hat in seiner Geschichte der niederdeutschen oder plattdeutschen Literatur eine faktenreiche Skizze mundartlicher Bemühungen auch in unserer Region geliefert und in deren Verlauf einen »Tiefstand der plattdeutschen Literatur (1650-1750)«94 diagnostiziert. Eine erneute verstärkte Hinwendung zum heimatlichen Idiom läßt sich ab etwa 1770 feststellen, zunächst vornehmlich im sprachkundlich-lexikalischen Bereich. Auch Johann Christian Brandes bediente sich partiell überaus wirkungsvoll der Mundart. Im ganzen jedoch trat »das plattdeutsche Kunstdrama [...]« innerhalb wie außerhalb Pommerns »erst sehr spät in Erscheinung«. 95 Den Gipfelpunkt mundartlicher literarischer Produktion markieren zweifellos Philipp Otto Runges Märchen Von dem Fischer un sine Fru sowie Van den Machandel-Boom, die bekanntlich nationalliterarische Bedeutung erlangten. »Bezeichnend ist [...], daß die Brüder Grimm, die sonst die ihnen im Dialekt zur Verfügung gestellten Märchen ihres ersten Bandes ausnahmslos hochdeutsch wiedergaben, [ . . . ] Runges Märchen in der niederdeutschen Sprache beließen.« Runge kam also, wie Gassen konstatierte, das Verdienst zu, »das vorpommersche Platt [ . . . ] weit über die heimatlichen Grenzen hinaus [ . . . ] bekannt gemacht zu haben.« 96 Mit diesen Anmerkungen wollen wir unseren thematischen Umblick beschließen. Vielleicht konnte er selbst in der notwendigerweise fragmentarischen Form zeigen, daß Literaturproduktion und -rezeption auch in Pommern sowohl vom soziokulturellen Umfeld mitbestimmt wie von innerlitera94 95

Μ

Stettin 1913, S. 57 ff. Gassen 1945, wie Anm. 19, S. 5. Ebd.

Literatur in Pommern

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rischen Entwicklungen geprägt wurden. Strenge und grundsätzliche Trennungslinien zwischen den literarischen Orten Hof, Stadt, Schule, Universität waren - wenn überhaupt - nur von Fall zu Fall auszumachen, eher schon solche zu bestimmten Gebrauchsformen populärer Literatur, die ihrerseits allerdings nicht voraussetzungslos, sozusagen aus der »pommerschen Volksseele« entstanden sind, sondern bei aller eingestandenen und oft unübersehbaren Spezifik in vielgestaltiger Vermittlung mit dem Gesamtstrom des literarischen Schrifttums der Region wie auch des Reichs verbunden waren. Dieser Gesamtstrom mag sich, bezogen auf Pommern, trotz immer nur paradigmatischer Präsentation in einem Angebotspaket dargestellt haben, das uns ermutigen und auffordern sollte, auf die Frage: Warum eigentlich keine pommersche Literaturgeschichte? die Antwort zu geben: Ja, warum eigentlich nicht! Was den Bayern immerhin recht war, sollte den Pommern durchaus billig sein. Zumal Hans Werner Richter sich in seinem eingangs zitierten Buch zu der liebevoll-ironischen Feststellung veranlaßt sah: »In Pommern [ . . . ] war jeder zweite oder dritte ein Original, und wären sie alle berühmt geworden, so hätten sie neben der deutschen auch die schwedische Geistesgeschichte bevölkert.« 97

97

Richter, wie Anm. 4, S. 102.

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Sprache und Literatur der deutschen Regionen in Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682/1700)

Morhof, 1639 in Wismar als Sohn eines Magistratssekretärs geboren und von diesem zu Höherem, dem Jurastudium, bestimmt, zog es - nach Besuch der Wismarer Gelehrtenschule und des Pädagogiums zu Stettin - schon während des Studiums in Rostock mehr zur Poesie und Redekunst als zur Juristerei. Andreas Tscherning, der Professor Poeseos, wurde sein verehrter Mentor. Sein nach dem damaligen Wissenschaftsverständnis universal angelegtes Studium, seine besondere Begabung für die Kunst der gebundenen wie der freien Rede, sein ungewöhnliches Interesse für die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur disponierten ihn denn auch zum Nachfolger Tschernings als Professor Poeseos an der Rostocker Universität (1661).1 Ausschlaggebend für seine Berufung war übrigens, kurios genug, ein witziges lateinisches Epicedium auf das traurige Ende des zahmen Storches Adrian des Rostocker Rhetorik-Professors Bodockius bei einer akademischen Gasterei. 2 Sein in den folgenden Jahrzehnten angehäuftes Wissen in allen damaligen Wissenschaften, seine Belesenheit in den antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Literaturen, aber auch seine von keinen Skrupeln gebremste Urteilsfreudigkeit und sein patriotischer Eifer befähigten ihn auch zur Abfassung einer für damalige Verhältnisse kritischen deutschen Literaturgeschichte, der ersten dieses Typs in Deutschland. Als einer der Gründerväter der deutschen Literaturgeschichtsschreibung ist er in die Geschichte der Germanistik eingegangen. 3 Sein Unterricht 1

2 3

Zum Werdegang des Gelehrten Morhof vgl. Marie Kern: Daniel Georg Morhof. Phil. Diss. Freiburg i.Br. Landau 1928. - Gerhard Fricke: Daniel Georg Morhof. Ein universaler Gelehrter und ein Lehrer Deutschlands aus der Frühzeit der Kieler Universität. In: Festschrift zum 275-jährigen Bestehen der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Leipzig 1940, S. 274-279. - Henning Boetius: Nachwort zu: Daniel Georg Morhofens Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. Nach der Ausgabe Lübeck 1700 hg. von Henning Boetius. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969, S. 401-446. Vgl. Kern, wie Anm. 1, S. 8f.; Boetius, wie Anm. 1, S.417. Vgl. Conrad Wiedemann: Polyhistors Glück und Ende. Von Daniel Morhof zum jungen Lessing. In: Festschrift für Gottfried Weber. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1967, S. 215-235, hier S.228f. - Sigmund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 2. verm. Aufl. Göttingen 1968, S. 150-171. - Fricke, wie Anm. 1, S. 277f. - Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1. Berlin 1956 u. ö., S. 227-229.

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von der Teutschen Sprache und Poesie vereinigt, methodisch nicht uninteressant, historische Grammatik, vergleichende Literaturgeschichte, Metrik, Vers- und Gattungsgeschichte und hat alle Vorzüge einer germanistischen Einführungsvorlesung. 4 Das Werk ist aus seiner Lehrtätigkeit an der Rostocker und an der Kieler Universität hervorgegangen, der er seit ihrer Gründung 1665 als Professor für Poesie und Rhetorik bis zu seinem Tode 1691 angehörte. 5 Von Morhof schon Auskünfte über Sprache und Literatur der deutschen Regionen zu erwarten, erscheint auf den ersten Blick unangemessen; richtet sich doch das Augenmerk unseres Mecklenburger Ahnherrn zu allererst auf das Verhältnis der deutschen Sprache und Literatur zu den übrigen europäischen Nationalliteraturen. In humanistisch-patriotischer Tradition 6 versucht er mit allem Nachdruck das höhere Alter und damit auch die größere Dignität der deutschen Sprache und Literatur vor den übrigen Literaturen einschließlich der antiken zu erweisen. Argumente dazu glaubt er in grammatikalischen Eigentümlichkeiten des Deutschen und in der Literatur des Mittelalters zu finden. 7 Daher seine wiederholte Klage, daß es an Archivund Bibliotheksforschungen zur Entdeckung älterer Literaturdenkmäler fehle; es sei unverantwortlich, »daß man dergleichen Alterthüme so gar im finstern stecken läst / und sie nicht zu Ehre der Teutschen Nation hervor gegeben werden / dahero es denn kommet / daß die Außländer unsere Nachläßigkeit zu ihrem Vortheil gebrauchen«. 8 Damit nicht genug. »Ich hoffe« - so sein Urteil über einen englischen Kritiker, der die eigene Sprache und Literatur für die überragende hält - »ob GOtt will / noch einmahl die Gelegenheit zu haben / nicht allein ihnen [den Engländern] / sondern auch andern Nationen, die dergleichen Schnarchereyen über die Teutschen ma4

Für die gelehrte Leserschaft hatte Morhof in seinem Polyhistor, sive de notitia autorum et rerum commentarii, quibus praeterea varia ad omnes discipünas consilia et subsidia proponuntur (vollständig posthum Lübeck 1708) die Literaturwissenschaft und Geschichte der Poesie in lateinischer Sprache dargestellt, (im 4. Buch des 1. Teils). Vgl. Siegfried Seifert: »Historia Literaria« an der Wende zur Aufklärung. Barocktradition und Neuansatz in Morhofs »Polyhistor«. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. von Klaus Garber. Wiesbaden 1991, Teil 1, S. 215-238. - Sein »Unterricht« ist für ein breiteres Publikum gedacht; Literaturwissenschaftliche Systematik und Literaturgeschichte sind dem Abdruck seiner Gedichte vorangestellt, die dadurch exemplarischen Charakter erhalten und als Übungsbeispiele zur Nachahmung anreizen sollen.

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Schon in Rostock hat Morhof, nachdem er seine Lehrtätigkeit mit der Rede »De genio et spiritu poetico« (1660) eröffnet hatte, Vorlesungen über rhetorische und poetische Themen gehalten. Vgl. Kern, wie Anm. 1, S. 9. Zu seinen Kieler Einführungen in das Studium vgl. Kern, wie Anm. 1, S. 14. Vgl. Lempicki, wie Anm. 3, S. 65-124. - Boetius, wie Anm. 1, S. 421. Vgl. dazu Knut Kiesant: Zur Rezeption spätmittelalterlicher Literatur im 17. Jahrhundert. Daniel Georg Morhof. In: Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Spiewok. Greifswald 1986, S. 376-384. - Boetius, wie Anm. 1, S. 423-427 u. S. 434-438. Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, wie Anm. 1, S. 146.

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chen / in einem absonderlichen Wercke zu zeigen / daß die Verdienste derselben in allen Wissenschaften grösser sind / als daß sie von ihnen können erkannt und vergolten werden / ja / daß wir in vielen Künsten ihre Lehrmeister gewesen.« 9 Seine vergleichende Übersicht über die europäischen Literaturen von den Anfängen bis zur Gegenwart dient keinem anderen Ziel, als diese Überlegenheit zu erweisen, und er schließt sie ab mit dem ironisch gemeinten Hieb auf alle auswärtige Kritik am Zustand der deutschen Literatur: Es gehet hierinne nach dem gemeinen Sprichwort / daß man seinen eignen Rauch höher halte / als ein frembdes Feuer. Und muß man sich verwundern / wie offtmals nicht nur verschiedener / sondern derselben Leute Urtheil wieder einander lauffen. 1 0

Blind vor Eifer für seine teutsche Sache bemerkt er nicht, daß dieser Einwand auch die eigene Argumentation trifft. Auch dieses Ressentiment hat Morhof zur Geschichte der Germanistik beigesteuert; als Frühaufklärer wird man ihn schon deshalb nicht bezeichnen können. 11 Obwohl Morhof also keine Mühe scheut, den Vorrang der teutschen Sprache und Dichtkunst gegen die europäische Konkurrenz zu verteidigen, kommt er doch nicht umhin, sich mit den regionalen Realitäten der deutschen Sprache und literarischen Kultur auseinanderzusetzen. Es ist der wunde Punkt seiner hochgemuten Argumentation. Denn zu den Voraussetzungen des behaupteten Vorranges der deutschen Sprache und Dichtkunst gehört die Auffassung von einer einheitlichen und für alle Poeten verbindlich regulierten Sprache: einer Sprache, »die durch die Natur und Kunst zugleich zur Vollkommenheit gebracht / wie unsere Teutsche ist«,12 wo doch ohnedies keine Sprache geeigneter sei, »nach der Vernunfft und den Conceptibus rerum gerichtet zu werden [d.h. Bezeichnung und Bezeichnetes zur Deckung zu bringen] / als die Teutsche«.13 Dieser - übrigens zeittypischen - Vorstellung von der idealen Sprache bzw. Universalsprache, 14 die Morhof für die Teutschen reklamiert, steht unter anderem die Realität der deutschen Dialekte entgegen, die zu Morhofs Zeit auch noch regionale, z.T. überregionale Schriftsprachen sind. 15 9 10 11

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15

Ebd. S. 128. Ebd. S. 140. Das Epitheton »frühaufklärerisch«, das Boetius, wie Anm. 1, S. 445, dem Literaturhistoriker (nicht dem Poetiker) Morhof zuerkennt, verdient er m. E. noch nicht. Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 230. Ebd. S. 227. Zum vieldiskutierten Ideal der Natursprache bzw. lingua Adamica vgl. jetzt Günther Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992, S. 242-269. Vgl. dazu Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979, S. 44-90. - Joachim Böger: Die niederdeutsche Literatur in Ostfriesland von 1600-1870. Frankfurt a. Μ., Bern usw. 1991.

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Morhof unterscheidet, seinem Gewährsmann Caspar Scioppius folgend, 16 sechs Dialekte, von denen allerdings »einige gar zu rauhe« seien und »durchaus nicht zum Muster gesetzt« werden dürften. 17 Diese sechs Dialekte, bei deren Charakterisierung und Bewertung Morhof ebenfalls Scioppius folgt, sind der meißnische, der rheinische, der schwäbische, der schweizerische, der sächsische und der bayerische. Von Interesse für den Fortgang meiner Überlegungen sind vor allem Morhofs Ausführungen zum meißnischen, sächsischen und bayerischen Dialekt. Das Problem der einheitlichen Sprache löst Morhof dadurch, daß er die Spitzenstellung hinsichtlich puritas und aptum dem Meißnischen einräumt: »Der Meißner Außrede ist die zierlichste«; wer ein »reinliches Teutsches Carmen schreiben will / der muß den lieblichsten Dialectum, wie der Meißnische ist / ihm vorsetzen.« 18 Morhof muß aber zugeben, daß »die andern Oberländer« (d.h. hochdeutsch Sprechenden und Schreibenden) »schwerlich« unter diese Regel zu bringen seien, da deren »idiotismi« allezeit mit unterliefen. 19 Eigentlich widerstreitet die Bevorzugung des Meißnischen der zu erweisenden vetustas und dignitas des »Teutschen«; denn sowohl das Schweizerische als auch das Sächsische (gemeint ist das Niedersächsische bzw. Niederdeutsche) sind nach Scioppius und Morhof die ältesten und am wenigsten verderbten Dialekte. Zudem könne »der Sächsische Dialectus, welchen die alten Sachsen / Westphälinger / Holsteiner / Mecklenburger / Pommern / Brandenburger gebraucht [...] mit allen andern / auch der Zierligkeit halber / wohl streiten«. 20 Andererseits weiß Morhof, daß das Niederdeutsche als Verkehrs- und Schriftsprache durch die konfessionell bedingte Vormacht des Meißnischen mehr und mehr verdrängt wird. Er zitiert in diesem Zusammenhang seinen Stettiner Lehrer Johannes Micraelius,21 der bereits in der Vorrede zum dritten Buch seiner Pommerischen Chronica beklagt habe, daß die Sachsenleute an ihrer Muttersprache einen solchen Ekel hätten, daß sogar die Kinder »nicht ein Vater unser / wo nicht in Hochteutscher Sprache / beten« und in ganz Pommern keine pommerische Predigt mehr zu hören sei.22 Die Entwicklung geht in der Tat vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen, zu einer überregionalen Verkehrs- und Schriftsprache auf meißnischer Grundlage. Morhof sucht diese Entwicklung zu fördern: Ein Niedersachse solle sich »in den Hochteutschen Idiotismen 16

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Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 237. Morhof bezieht sich auf Gaspar Scioppius: Consultationes De Scholarum et Studiorum ratione, deque Prudentiae et Eloquentiae parandae modis. Amsterdam 1660. Die hier interessierende Consultio secunda ist auf den 12.6. 1616 datiert. Vgl. Breuer, wie Anm. 15, S. 5f. Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 237. Ebd. S. 238. Ebd. Ebd. S. 237. Ebd. Ebd. S. 238.

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üben«, lautet seine Anweisung. 23 Und wenn er die Dichtungen der »Sibylla Schwartzin / Herrn Christian Schwartzens / Fürstlichen Pommerischen geheimen Landraths / und Bürgermeisters der Stadt Greiffswalde / Tochter«, als unvergleichlich lobt, so auch deswegen, weil sich dieses »Wunder ihrer Zeit« radikal von der heimischen Sprachtradition abgewandt hat und in lieblichstem Meißnisch schreibt, obzwar angefochten und verleumdet von der »ungeschliffensten Grobheit.« 24 Die Wertungen und Anweisungen Morhofs sind zunächst insofern überraschend, als Morhof in seinem literaturgeschichtlichen Teil die Tradition der niederdeutschen Literatur bis zum Ende des 16. Jahrhunderts sorgsam nachzeichnet. »Reinke Voß« z.B. erhält höchstes Lob: 25 In Niedersächsischen Versen hat man den so genannten / und jedermann wohl bekannten / Reincken Voß / ein überaus sinnreiches Buch / worinnen unter einer Fabel / der Lauff der Welt / und alle Höfische Sitten und Streiche / so artig abgebildet werden / daß von keinem alten [ = antiken] Poeten solches besser hätte vorgestellet werden können. Es mögen billich alle Niedersachsen dieses Buch / als eine Frucht eines wohlgeschlieffenen Verstandes / werth und in Ehren halten. [ . . . ] Janus Guilielmus Laurembergius, der die sinnreichen Schertzgedichte in Niedersächsischer Sprache geschrieben / hält davor / es sey kein besser Buch / nechst der Bibel / als dieses.

Lobend äußert er sich nochmals über Laurembergs Scherzgedichte in seinem Satirekapitel: 26 [ . . . ] in Niedersächsischer Sprache geschrieben / deren Artlichkeit nicht zu beschreiben ist. Ich schätze sie / was den Charakterem und die Erfindung anlanget / den alten gleich / und wird der jenige / der die Eigenschafft dieser Sprache verstehet / sie mit grosser Lust und Ergötzlichkeit lesen.

Die Widersprüchlichkeit der Argumentation ist nicht zu übersehen. Denn gemäß Morhofs Einteilung der deutschen Literaturgeschichte in die »uralte / deren Tacitus gedencket / die Mittelste / die von Carolo dem Grossen her zu führen / und die neueste / die in diesem seculo [d. h. im 17. Jh.] erstlich angegangen«, 27 -gemäß dieser Einteilung beginnt um 1600, mit Opitz, eine völlig neue Epoche, gegen die alles Frühere, alles sprachlich und poetologisch Abweichende bedeutungslos ist: eine merkwürdige unhistorische Art zu argumentieren, die allerdings Schule gemacht hat und bis heute die Literaturgeschichtsschreibung zum 17. Jahrhundert belastet. 28 Überhaupt nicht in das von Morhof gezeichnete Bild von der deutschen Sprache und Dichtung paßt der bayerische Dialekt, »welchen die Leute in Bayern / Tyrol / Steyermarckt / Kärnten / Oesterreich reden / eine von den 23 24 25 26 27 28

Ebd. Ebd. S. 219f. Ebd. S. 181f. Ebd. S. 355. Ebd. S. 141. Vgl. dazu Klaus Garber: Martin Opitz - »der Vater der deutschen Dichtung«. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Stuttgart 1976. - Dieter

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rauhesten Redarten / mit welcher Scioppius [ . . . ] viel Spottes treibet«. 29 Zu beachten ist, daß für Morhof »Redarten« zugleich »Schreibarten« sind und daß es auch nach Morhof »vor alters« unterschiedliche Red- und Schreibarten im Deutschen gegeben hat. 30 Konsequenzen für eine abgewogene historische Beurteilung der Sprach- und Literaturverhältnisse des 17. Jahrhunderts hat diese Einsicht aber nicht. Gegen den Befund regionaler Vielfalt in Geschichte und Gegenwart behauptet Morhof die Sprach- und Literatureinheit auf der Basis des Meißnischen; was dem entgegensteht, wird als »rauh« und »hart« negativ bewertet und eliminiert. 31 Wenn von ausländischen Kritikern verallgemeinernd die ganze deutsche Sprache als barbarisch und rauh verunglimpft werde, so Morhofs Argument, dann gelte dies nur für die Sprache und Poesie der Bayern und Österreicher; es dürfe »auch einer oder andern Nation harte und rauhe Außrede / der gantzen Sprache nicht beygemessen werden«. 32 Athanasius Kirchers Gegenbehauptung, »daß die Teutsche Sprache desto mehr verdorben sey / je weiter sie gen Norden sich erstrecket«, 33 sei irrig, das Gegenteil sei wahr. Für Morhof steht fest: 34 Die Bayern / Tyroler und Oesterreicher habe keine sonderliche Art im Poetisiren / und weiß ich deren keine zu nennen. Denn ihre Sprache und Mundart ist unfreundlich / deßhalben die Tichterey frembde und unlieblich. Scioppius hat in seinen Consultationibus p. 29 die Grobheit ihrer Sprache weitläuffig beschrieben / und insonderheit den Wienischen Bischoff Melchiorem Cleselium, der doch insonderheit der Teutschen Sprache Zierligkeit sich angelegen seyn lassen / heßlich durch gezogen / und seine Idiotismos Bavaricos ihm vorgehalten.

Wieder ist Kaspar Schoppe (1576-1649), der streitbare Philologe, Diplomat und Publizist, der Gewährsmann; Morhof bezieht sich auf den Abschnitt De Germanica lingua recte discenda in der 1616 entstandenen Consultatio secunda der Consultationes de Scholarum et Studiorum ratione, deque Prudentiae et Eloquentiae parandae modis (Amsterdam 1660).35 Im Unterschied zu Morhof unterscheidet Schoppe jedoch zwischen gesprochener und Schriftsprache und urteilt lediglich über die Aussprache beim Erlernen des Deutschen, während er als schriftsprachliche Muster gerade nicht meißnische, sondern oberdeutsche Beispiele anführt (Reichstagsabschiede, die Schriften der Jesuiten Scherer und Vetter). 36 Aus eigener

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Breuer: Das Ärgernis der katholischen Literatur. Zur Geschichte einer Ausgrenzung. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. von Klaus Garber. Wiesbaden 1991, Teil 1, S. 455-463. Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 238. Ebd. Ebd. und S. 217. Ebd. S. 225. Ebd. S. 43. Ebd. S. 217. - Vgl. dazu Breuer: Oberdeutsche Literatur, wie Anm. 15, S. 4-6. Siehe Anm. 16. Gaspar Scioppius: Consultationes, wie Anm. 16, S. 32.

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Lektüre kennt Morhof lediglich Jacob Baldes Poema de Vanitate Mundi (1649), das er mit seiner meißnischen Elle mißt; er schreibt: 37 Aus dieser Ursache [= wegen der Grobheit der Sprache] / halte ich / sind des Jacobi Balde, eines Bayern / Carmina, die er seinen Lateinischen / de Vanitate Mundi, mit eingemischt / so unförmlich und harte / ob gleich die Sachen gut sind.

Die Qualität der poetischen Erfindung rettet nach Morhofs einheitssprachlichem Maßstab nicht Baldes Sprachspiel im Idiom der »Oberländer«. Balde ist, nebenbei bemerkt, kein Bayer, sondern Elsässer, der im bayerischen Exil lebte und in der auf dem gemeinen Teutsch basierenden oberdeutschen Schriftsprache der katholischen Länder des Alten Reiches schrieb. 38 Erstaunlicherweise macht Morhof bei seiner Kritik keine konfessionellen Vorbehalte geltend, wie er auch den Vorrang des Meißnischen nicht mit der Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung begründet. Gleichwohl kennt er die Literatur der katholischen »Oberländer« so gut wie gar nicht, im Unterschied etwa zu Christian Thomasius, der sich in seinem ersten Monatsgespräch (1688) einen Zugang zur Concetto-Kunst Abraham a Sancta Claras verschaffte. 39 Doch auch die protestantischen »Oberländer« können vor Morhofs Richterstuhl nicht bestehen: 40 Harsdörffer / Sig. von Bircken / Klai / haben viel Dinge / so wohl in gebundener / als loßer Rede geschrieben / denen es nicht an Geist / Erfindung / sinnreicher Ausbildung fehlet. Aber es ist doch etwas frembdes darbey / daß in den Ohren der Schlesier und Meißner nicht wohl klinget. Sie gebrauchen gewisse Freyheiten in den Versetzungen und Beschneidungen der Wörter / Fügung der Rede / und in dem numero, welches denn etwas unlieblich lautet.

Insbesondere mißfallen ihm die freie Behandlung der unbetonten e, die Verwendung des Hilfsverbs thun 41 und die Inversion des Prädikats - lauter Freiheiten, die »bey den Oberländern sehr gemein« sind. 42 Schon ein Vers von Harsdörffer wie der folgende: »Die Geigen nicht schweigen / versüssen den Laut«

stört durch die Inversion Morhofs Schönheitssinn.43 Die Frage drängt sich auf, nach welchen Kriterien Morhof seine literarhistorischen Urteile fällt. Es sind, kurz gesagt, ästhetische Kriterien, näherhin die Maßstäbe der europäischen Argutia-Bewegung. Morhof entwickelt sie im Durchgang durch die romanischen Literaturen, am deutlichsten bei der Darstellung Tassos und Marinos: naturgegebene Fruchtbarkeit des Inge37

Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 217. Vgl. dazu Breuer: Oberdeutsche Literatur, wie Anm. 15, S. 263-273. 39 Christian Thomasius: Deutsche Schriften. Ausgewählt und hg. von Peter von Düffel. Stuttgart 1970, S. 71-89. 40 Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 217, vgl. auch S. 251. Ebd. S. 234 und S. 249. « Ebd., S.251. 43 Ebd. 38

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niums, Lieblichkeit des Stils, Kostbarkeit des Ausdrucks, Scharfsinn des Gedankengangs, staunenerregende Abwechslung der Komposition sind die Kriterien, 44 die Morhof an den Werken der Barockdichter der Romania abliest und an denen er auch die deutschsprachigen Poeten mißt. »Scharfsinnig« bzw. »sinnreich« und »zierlich« sind seine ständig wiederkehrenden Formeln, die alle diese Qualitäten umgreifen. In der deutschen Dichtung seiner Zeit sieht er dieses Ideal annähernd nur bei Paul Fleming, nicht etwa bei Opitz, verwirklicht. Von Fleming urteilt er: 45 [ . . . ] es stecket ein ein unvergleichlicher Geist in ihm / der mehr auf sich selbst / als auf frembder Nachahmung beruhet. Wir haben an ihm / den wir den Jtaliänern und Frantzosen entgegen setzen können [ . . . ] .

Daß Morhof mit den Forderungen der Argutia-Poetik und deren Hochschätzung des Ingeniums vertraut ist, hat er bereits in seiner Rostocker Zeit, in der Dissertatio de Enthusiasmo seu Furore Poetico (1661) unter Beweis gestellt; Masen undTesauro sind ihm geläufig. 46 Bedenkt man nun, daß diese Maßstäbe auch für die Poesie in den von Morhof ausgegrenzten bzw. abgewerteten anderen deutschen Regionalsprachen galten, daß die damals moderne Argutia-Poetik gerade von den oberdeutschen Jesuitendichtern und von den Nürnbergern aus der Romania nach Deutschland vermittelt worden ist, dann wird deutlich, daß Morhofs literaturkritische Urteile letztlich vom sprachlichen Kriterium abhängen: ob jemand im meißnischen Idiom schreibt oder nicht. Er folgt der Opitzschen Regel, daß die Sprache derjenigen Orte zu meiden sei, wo »falsch geredet« werde, und legt wie jener die Puritas im Deutschen auf das Meißnische bzw. Schlesische fest. 47 Die Bedeutung dieses Kriteriums wird vom Herausgeber der 2. Ausgabe von 1700 noch einmal bekräftigt. »Wir in Niedersachsen«, so steht in der Vorrede zu lesen, 48 »[müssen] die Hochteutsche Sprache mit Mühe / und meistentheils auß den Büchern erlernen / welche wir hernachmals mit unserer Mutter-Sprache verfälschen und also nichts accurates, so wohl was die orthographia, als auch die Reinligkeit derselben ins gemein anlanget/ in der Teutschen Ticht-Kunst zu wege bringen können«; an einem Autor wie Christian Scriver sei die vorbildliche Einhaltung dieser Puritas-Vorschrift deshalb zu bewundern, weil er »ein Holsteiner von Geburt« sei, »doch würde er es nicht so weit gebracht haben« - heißt es einschränkend weiter - »wann er nicht eine geraume Zeit sich in Meissen auffgehalten hätte«. 44 45

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Vgl. ebd. S. 108 (zuTasso) undS. HOf. (zuMarino). Ebd. S. 214. Vgl. Henry F. Fullenwider: Die Rezeption der jesuitischen argutia-Bewegung bei Weise und Morhof. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. von Klaus Garber. Wiesbaden 1991, Teil 1 , S . 229-238. Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterei. Abdruck der ersten Ausgabe (1624). 6. Aufl. Hg. von Henrik Becker. Halle 1955, S. 24 (VI. Capitel). Morhof: Unterricht, wie Anm. 1, S. 18. - Verfasser der Vorrede ist nach Kern, wie Anm. 1, S. 50, Morhofs Sohn Caspar Daniel Morhof.

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Dieses beschämende Dokument sprachlicher Selbstverleugnung zeigt uns zugleich, daß die Festlegung der Puritas auf das Meißnische mit den Realitäten des sprachlichen und literarischen Lebens im Alten Reich nur schwer in Einklang zu bringen war. Sowohl im niederdeutschen 49 als auch im oberdeutschen Sprach- und Kulturbereich gibt es eigene Puritas-Vorstellungen, besonders ausgeprägt und bis 1750 unangefochten geltend im konfessionell-politisch abgegrenzten katholischen Kulturkreis. 50 Auch wenn der einheitlichen Literatursprache auf meißnischer Basis die Zukunft gehört - sie wird nach 1750 gewaltsam durchgesetzt - im 17. Jahrhundert, auch zur Zeit Morhofs, ist sie noch eine Wunsch Vorstellung. Diesem Wunsch nach einer sprachlich einheitlichen deutschen Literatur, die der Literatur der fortgeschritteneren europäischen Nationalstaaten Paroli bieten soll, stehen im Alten Reich die regionalen Schriftkulturen entgegen. Ob die Geschichte tatsächlich gegen dieses regional gegliederte literarische Leben entschieden hat, erscheint uns heute nicht mehr so sicher; ob die regionale Kultur in einer nationalen aufzugehen habe, gar um den Preis der Selbstverleugnung, erscheint uns als Ziel der Geschichte nicht mehr so erstrebenswert wie dem Literaturgeschichtsschreiber Morhof in der Gründungsphase der europäischen Nationalstaaten. Je mehr die europäischen Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, um so wichtiger wird für das Selbstverständnis und das Selbstwertgefühl der Betroffenen dieses Strukturwandels die Hinwendung zur Region und zur eigenen regionalen Kulturgeschichte. Die Tagung »Pommern in der Frühen Neuzeit« ist Ausdruck dieser Situation. Wer heute Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit schreiben will, sollte jedenfalls nicht mehr an Morhofs immer noch praktizierter Konzeption anknüpfen. 1898 begründet August Sauer die von ihm durchgesetzte Erweiterung der bibliographischen Rubriken nach Regionen bzw. Territorien in der 2. Auflage des »Goedeke« mit dem Satz: »Der Föderalismus mag politisch ein Unding sein, litterarhistorisch ist er eine Notwendigkeit«. 51 Mit der Einschränkung, daß heute eher der Zentralismus und alle mit ihm verbundenen puristischen Einheitsvorstellungen als politisches »Unding« erscheinen, wäre dem, wie ich meine, beizupflichten.

49 50

51

Vgl. Böger: Die niederdeutsche Literatur, wie Anm. 15. Vgl. Günter Hess: Deutsche Nationalliteratur und oberdeutsche Provinz. Zu Geschichte und Grenzen eines Vorurteils. In: Jahrbuch für Volkskunde NF. 8 (1985), S. 7-30. - Dieter Breuer: Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 701-715. In: Euphorion 5 (1898), S. 375f.

Knut Kiesant

Literarische Wechselbeziehungen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder in der Frühen Neuzeit

Die Frage nach dem Inhalt, der Struktur und der Entwicklung von literarischen Wechselbeziehungen zwischen den Universitätsstädten Greifswald und Frankfurt/Oder in der Frühen Neuzeit führt auf ein weitestgehend unerschlossenes Feld. Das betrifft die Erforschung der Literaturverhältnisse in beiden Städten ebenso wie die Erforschung von Leben und Werk einzelner Autoren und einzelner Textgruppen, etwa des Kirchenlieds und des Gelegenheitsschrifttums. Gerade letzteres ist aber unverzichtbar, um den literarischen Alltag, die Normalität des literarischen Lebens zu beschreiben. Auf die Bedeutung der Casualdichtungen hat Klaus Garber im Eröffnungsreferat des Wolfenbütteler Barockkongresses 1988 erneut nachdrücklich fordernd hingewiesen: »Keine Stadt zwischen Reval und Straßburg, Thorn und Bern, Danzig und Ulm, die einen Drucker und eine gelehrte Institution in ihren Mauern hatte, die nicht auch mit Gelegenheitsdichtung aufzuwarten vermöchte. Sie hat den poetischen Alltag zumal im protestantischen deutschen Sprachraum beherrscht, und zwar das ganze Jahrhundert über, zunächst seit 1570 im Lateinischen, dann seit 1610 mit ersten deutschen Einsprengseln, seit den vierziger Jahren im etwa erreichten Gleichgewicht zwischen beiden Idiomen, in der zweiten Jahrhunderthälfte überwiegend auf deutsch mit den bekannten Übergängen in die Kantate, die Serenade, das Rezitativ seit den achtziger Jahren. Sie ist der poetische Beitrag des protestantischen Gelehrtenstandes zwischen Schede Melissus und Gottsched im alten deutschen Reich geblieben, zugleich das klassische Medium gelehrter Mentalität und Identitätsbildung zwischen Renaissance und Aufklärung.« 1 Trotz der Forschungsdesiderata, auch auf Grund jahrzehntelanger Vernachlässigung regionaler Literaturgeschichtsschreibung und trotz mancher ungeklärter methodologischer Probleme vergleichender Literaturforschung soll mit diesem Beitrag eine Annäherung an die Frage nach literarischen Wechselbeziehungen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder versucht werden. Denn daß Literaturgeschichtsforschung, die sich mit einer Stadt 1

Klaus Garber: Europäisches Barock und deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Europäische Barockrezeption. Hg. von K. Garber u. a. Bd. 1. Wiesbaden 1991, S. 33.

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oder einer Region beschäftigt und sich dabei nicht von lokalpatriotischem, um nicht zu sagen lokalborniertem Provinzialismus beschränken lassen will, den Einflüssen nachgehen muß, die von der jeweiligen Stadt oder Region ausgehen bzw. auf diese prägend einwirken, das ist so selbstverständlich wie kompliziert. Steht doch deutsche Literatur im 16. und 17. Jahrhundert in der Kontinuität der lateinischen und christlichen Tradition. Selbst in ihrer nationalen und regionalen Orientierung verstehen sich Autoren und Leser, die oft genug beides in Personalunion sind, als Teilhaber einer internationalen Gelehrtenrepublik, deren Ethos, im Renaissancehumanismus begründet, Erich Trunz bereits 1931 in seiner Studie zum deutschen »Späthumanismus um 1600 als Standeskultur« charakterisiert hat. 2 Entwicklung und Veränderung der »nobilitas literaria«, deren Selbstverständnis der Greifswalder Rechtsgelehrte Matthias Stephani in seinem 1608 in Greifswald veröffentlichten Tractatus de nobilitate postuliert hatte, in zwei Universitätsstädten zu untersuchen, und zwar auch in ihrem spannungsvollen Verhältnis zur stadtbürgerlichen und der Handwerkskultur, könnte dazu beitragen, den Übergang von der Literatur des Renaissancehumanismus zur letztlich ausschließlich deutschsprachigen Literatur des Barockzeitalters und die damit verbundenen qualitativen Veränderungen der Literaturverhältnisse präziser zu bestimmen. Im Renaissancehumanismus sind es vorrangig enge persönliche Kontakte, die das Netzwerk literarischer Wechselbeziehungen zwischen Regionen und Städten in ganz Europa knüpfen. Für die Verbindungen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder bzw. zwischen Pommern und der Mark Brandenburg trifft dies ebenfalls zu. Der Aufenthalt Ulrich von Huttens an beiden Universitäten ist dafür ein sinnfälliges Beispiel. Die in Erfurt und Mainz bzw. in Köln zwischen 1502 und 1506 geknüpften Verbindungen zu Crotus Rubeanus, Eobanus Hessus und Johannes Rhagius Aesticampianus bzw. zu Dietrich von Bülow, dem ersten Kanzler der Frankfurter Universität, sind die Grundlage für die Entscheidung Huttens für die neugegründete Alma mater Viadrina. Die brandenburgische Hochschule wurde am 26. April 1506 in Gegenwart des Kurfürsten Joachim I. und seines Bruders Albrecht, des späteren Kardinals und Kurfürsten von Mainz, sowie des Lehrkörpers und der Studenten feierlich eröffnet. Mit rund 950 Immatrikulierten aus deutschen Territorien sowie aus Dänemark, Norwegen, Schweden und Polen hatte die Viadrina im Gründungsjahr die bis dahin höchste Immatrikulationsziffer einer deutschen Universität. 3

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Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: Deutsche Barockforschung. Hg. von Richard Alewyn. Köln und Berlin 1968, S. 147ff. Vgl. Hans-Jürgen Rehfeld/Ralf Rüdiger Targiel: Ausstellungsführer der Huttenausstellung in Frankfurt/Oder, Frankfurt/Oder 1988, S. 51.

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Hutten folgte seinem Mainzer Lehrer Aesticampianus nach Frankfurt und reihte sich mit seinem Lobgedicht auf die Mark Brandenburg (In Laudem Marchiae, 1507) in den »Frankfurter Dichterkreis« ein, der durch die Wirksamkeit von Aesticampianus sowie durch die Frankfurter Aufenthalte von Publius Axiunga, Arnold Glauberg, Wolfgang Angst, Matthias von Ilow, Johann und Alexander von der Osten, Richard Sbrulius, Hermann Trebelius und Eobanus Hessus gekennzeichnet ist. 4 Mit dem Wechsel von Aesticampianus an die Leipziger Universität im Wintersemester 1507/08 beginnt der für Hutten in mehrfacher Hinsicht nachwirkende Leipziger Aufenthalt. Die schon in Frankfurt begonnenen Tacitus-Studien sind wohl der Anstoß gewesen, nach der durch die SyphilisInfektion ausgelösten Flucht aus Leipzig über Frankfurt/Oder sich in jenes rätselhafte Entdeckungs-Abenteuer zu stürzen, dessen katastrophaler Ausgang ihn dann nach Greifswald verschlug. Das durch sein Pamphlet In Wedegum Loetz etfilium eius Henningum querelarum libri duo in die Literaturgeschichte eingegangene Ende seines Greifswalder Aufenthalts ist für unser Thema äußerst aufschlußreich.5 Zwei Aspekte möchte ich besonders hervorheben: Erstens umschließt die von Hutten alarmierte humanistische Öffentlichkeit die Studenten- und Professorenschaft in beiden Universitäten und die staatlichen und kirchlichen Instanzen in beiden Territorien. Und zweitens ließ Hutten, nachdem der 1510 Rostock verlassen hatte, die Querelae in Frankfurt/Oder bei Johann Hanau (nachgewiesen in Frankfurt/Oder zwischen 1509 und 1544) drucken.® Kann man an Huttens Querelae sozusagen das ideelle Netzwerk rekonstruieren, das der streitbare Humanist durch parteifordernde Inanspruchnahme seiner Adressaten in gleicher Weise voraussetzt wie produziert, so wird mit dem Blick auf das Druckergewerbe der materielle Hintergrund der literarischen Wechselbeziehungen erkennbar und damit auch die Verflechtung von »Materiellem« und »Ideellem«. Denn der Druck der Querelae war, wie Walter Maushake (1936) in seiner Untersuchung zu Frankfurt/Oder als Druckerstadt urteilt, für Hanau ein Wagnis, »zu dem nicht nur verlegerischer, sondern auch rein persönlicher Mut gehörte, zumal Pommern in Frankfurt an der Oder drucken ließ. Diese sogenannten >Querelen< Huttens gegen die Lötzer, [ . . . ] einflußreiche Verwaltungsbeamte und Bürgermeister Pommerns, zugunsten eines zwar offenbar sehr befähigten und vielversprechenden, aber doch unvermögenden Scholaren hat dem untemehmen4

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Ebd., S.52; vgl. ferner: Marchia Resurge. Ausstellungskatalog. Bearb. v. Bernhard Kytzler. Wiesbaden 1992, S. 17 u.ö.; immer noch wertvoll auch Marga Heyme (Bearb.): Das dichterische Schrifttum der Mark Brandenburg bis 1700. o. O. 1939 (Brandenburgische Jahrbücher 13). Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Gert Roloff in diesem Band. Vgl. dazu auch: Günter Vogler: Ulrich von Hutten - Ritter, Reformer, Rebell? In: Ausstellungsführer, wie Anm. 3, S. lOf.

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den Frankfurter Drucker Zorn und Vergeltung der immerhin sehr rauhen pommerschen Familie und ihres Anhangs zugezogen. Klugerweise half diese sich aber ohne viel Aufsehens dadurch, daß sie alle Exemplare dieses Buches aufzukaufen suchte.«7 Bis zur Ausbildung eines eigenständigen Druckgewerbes in Pommern wurden viele pommersche Drucke in Frankfurt/Oder hergestellt. Pommersche Drucke bei Johann Hanau sind bis 1529 nachweisbar, so u.a. Texte des Greifswalder Domherren Liborius Schwichtenberg, von Johann Mensing und dem Juristen Johann Oldendorp, der sowohl in Greifswald als auch in Frankfurt/Oder gelehrt hat. 8 Auch das Wirken der Druckerfamilie Eichhorn, die als Verleger und Buchhändler ab 1547 in Frankfurt/ Oder nachgewiesen ist, belegt die intensiven Beziehungen zwischen dem pommerschen Greifswald und dem brandenburgischen Frankfurt. Bibliographische Angaben dazu finden sich in der Habilitationsschrift von Hans-Erich Teitge (1987) über den Frankfurter Buchdruck im 16. Jahrhundert. Johannes Eichhorn d. Ä. hatte neben dem brandenburgischen Privileg, das sichern sollte, daß »von allem, was er drucken würde, gleichgültig in welcher Wissenschaft es sei, [ . . . ] kein Buchhändler von auswärts ein Exemplar nach der Mark bringen, verkaufen oder verhandeln« dürfe, 9 ein weiteres für ihn und sein Gewerbe wichtiges Privileg. Dies war ihm am 19. April 1569 von Herzog Barnim von Pommern und seinen »Gefettern« ausgestellt worden. Aber schon ab 1549 sind Drucke von Johann Eichhorn für Pommern und die Herzöge nachweisbar. Auf Grund der geographischen Nähe, der wirtschaftlichen, der religiösen und der dynastisch-politischen Entwicklungen sind eine Vielzahl von Verbindungen nach Pommern im Druckerei- und Verlagswesen zu registrieren. Johannes Eichhorn der Ä. errichtete 1569 die Officiana Eichhorniana in Stettin, wo dieser Betrieb bis 1730 in Familienbesitz blieb. 10 Johannes Eichhorn d. J., geboren um 1585, wurde 1605 Universitätsdrucker in Frankfurt und war von 1615 bis 1620 Buchhändler an der Universität in Greifswald. Und in der Gegenrichtung kann vermerkt werden, daß der 1668 in Pommern geborene Johann Christoph Schwarz ab 1710 Buchdrucker in Frankfurt/Oder war. Was den Inhalt des wissenschaftlichen und speziell des literarischen Austausche zwischen Brandenburg und Pommern betrifft, so sind es vorrangig die Auseinandersetzungen um die Reformation sowie die dynasti7

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Walter Maushake: Frankfurt an der Oder als Druckerstadt, Frankfurt/Oder und Berlin 1936, S. 17f. Ebd., S.25. Vgl. dazu auch: Hans Erich Teitge: Der Buchdruck des 16. Jahrhunderts in Frankfurt/Oder. Berlin 1987 (Manuskript). Vgl. Maushake, wie Anm.7, S. 28f.; der Text des Kurbrandenburgischen Privilegs bei Teitge, ebd., S.242f. Vgl. Maushake, wie Anm. 7, S. 29.

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sehen Vorgänge, aber auch ökonomische Probleme, die in den Traktaten und in den Chroniken ihren Niederschlag finden. So etwa der langandauernde Handelsstreit zwischen Stettin und Frankfurt/Oder um die »beiderseitige Niederlagsgerechtigkeit« ab 1572, der im Prinzip erst durch den Übergang Vorpommerns aus schwedischer in preußische Hand nach 1720 beendet wurde. 11 Die Reformation spiegelt sich in der Entwicklung des Kirchenlieds und der Gesangbücher wider. Zum Ende des 16. Jahrhunderts werden die ersten pommerschen Gesangbücher herausgebracht. Das bei Kellner 1584 in Stettin gedruckte Gesangbuch mit 240 Liedern (darunter 35 LutherLieder) ist wahrscheinlich nach einem Frankfurter Gesangbuch zusammengestellt worden. 12 Das von Teitge vorgelegte Verzeichnis Frankfurter Drucke des 16. Jahrhunderts mit 1862 Positionen enthält eine Vielzahl von Verweisen auf Casualschriften (z.T. mit Standortnachweisen). Die Sichtung und Auswertung dieser Texte und des universitären Schrifttums und der Gelegenheitsdichtungen des 17. Jahrhunderts in beiden Städten würde aber erst die Voraussetzung schaffen, daß nicht nur das literarische Einzelereignis (z.B. Hutten-Loetze-Streit) oder eine traditionsgebundene, kanonverengte Perspektive (Literatur in Greifswald = Sibylla Schwarz) das literaturhistorische Bild prägen, sondern daß der literarische Alltag in seiner Widersprüchlichkeit und Vielgestaltigkeit erfaßt werden kann. Von besonderer Bedeutung für die Beziehungen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder sind natürlich Einsichten in die personellen Wechselbeziehungen, dokumentiert z.B. in Einschreibungen von Studenten, Berufungen von Professoren, aber auch Kontakte über Briefwechsel, Widmungen, Schriften- und Büchertausch usw. Nach den Untersuchungen von Peter Michael Hahn (1979) über den brandenburgischen Adel im 16. Jahrhundert gehörte Greifswald für die Märker nicht zu den bevorzugten Studienorten. Hahn hat 185 Junker aus 28 verschiedenen Adelsgeschlechtern erfaßt, davon studierten allein 78 in Wittenberg und 64 in Frankfurt/Oder. Leipzig folgt mit 30 Einschreibungen an dritter Stelle, und Greifswald rangiert mit zwei Einschreibungen auf Platz vierzehn. 13 Das sind selbstverständlich keine repräsentativen Zahlen, sie deuten aber auf Tendenzen, die sich aus der pommerschen Perspektive ergänzen lassen. Hellmuth Heyden stellt in der »Kirchengeschichte Pommerns« fest, daß die Pommern gegenüber ihrer Heimatuniversität starke Zurückhaltung geübt hätten und auswärtige Hochschulen wie Helmstedt, Königsberg und Frankfurt/Oder bevorzugten. Natürlich waren auch die Beziehungen zu Wittenberg außerordentlich lebhaft. Etwa 25 Professoren 11 12 13

Vgl.: Pomerania, Stettin 1846, S. 75f. Vgl. Hellmuth Heyden: Kirchengeschichte Pommerns. Bd. II. Köln 1957, S. 67. Vgl. Peter Michael Hahn: Struktur und Funktion des brandenburgischen Adels im 16. Jahrhundert. Berlin 1979, S. llOff.

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sind im 16. Jahrhundert von Wittenberg nach Greifswald oder umgekehrt berufen worden. 14 In der Chronik der Familie von Dewitz hat Gerd Heinrich (1990) neun Immatrikulationen aus dieser pommerschen Adelsfamilie in Frankfurt/ Oder zwischen 1648 und 1720 registriert. 15 Frankfurt/Oder war aber oft nur Zwischenstation für die eigentlich angestrebte militärische Karriere der Dewitze in brandenburgischen oder dann in preußischen Diensten, so etwa bei Stephan von Dewitz, der es bis zum Generalleutnant im preußischen Heer brachte. 16 Paul Gantzer wiederum berichtet in seiner Darstellung der Familiengeschichte, daß Christoph von Dewitz 1602 in Greifswald immatrikuliert wurde. »Doch vertauschte er bald die Wissenschaft mit dem Waffenhandwerk.« 17 Frankfurt oder Greifswald - man sieht, die Entscheidung für die militärische Laufbahn war nicht immer von den Studienorten abhängig! Über das geistige und literarische Klima in den Familien berichten die Chroniken nur bruchstückhaft. Die Urkunden und Quellen werden nur auszugsweise zitiert und bei Texten literarischer Provenienz reduziert auf die historischen Fakten. Dadurch ist die literarische Qualität der genutzten Briefe, Sterbeberichte, Hausbücher, Leichencarmina, Hochzeitsgedichte und anderer Texte nur bedingt zu rekonstruieren. Man muß zu diesem Zweck die literarischen Quellen der Chroniken erst wieder erfassen und falls noch vorhanden - dokumentieren. Das Quellenmaterial der Familienchroniken kann so zur Präzisierung der Beschreibung der Literaturverhältnisse entscheidend beitragen. So findet sich z.B. bei Gantzer im Band III der Dewitz-Chronik (1918) ein Hinweis auf den Buchnachlaß von Jobst Ludwig von Dewitz vom 7. Februar 1697. Die dort beschriebene adlige Familienbibliothek enthielt immerhin 176 Bände unterschiedlichen Formats und zahlreiche Leichenpredigtsammlungen. Gantzer kennzeichnet den Bestand leider nur auszugsweise: Predigtsammlungen, Postillen, Andachtsbücher und Werke theologischen Inhalts wie die Augsburger Konfession, Cramerspommersche Kirchenchronik, die Schriften Augustins, juristische, philosophische, historische, naturgeschichtliche und schöngeistige Bücher (u.a. Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewald und Paul Flemings Geist- und Weltliche Poemata). Nicht unerwähnt bleiben soll, daß auf diesem hinterpommerschen Adelssitz auch »brandenburgische Chroniken« vorhanden waren. Doch aus dem Buchbesitz allein sind bekanntlich noch keine Rückschlüsse auf das geistig-kulturelle Klima einer Region oder das Verhalten von Menschen zu ziehen. Der offensichtlich literarisch interessierte Grundherr Jobst Ludwig ist nämlich zusammen mit Joachim Balthasar von Dewitz 14 15 16 17

Heyden, wie Anm. 12, S. 72f. Gerd Heinrich: Staatsdienst und Rittergut. Bonn 1990, S. 99. Paul Gantzer: Geschichte der Familie von Dewitz. Halle/S., 1913, Bd. II, S. 143. Ebd.

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Richter in einem Hexenprozeß gegen eine Dörflerin aus Maldewin, die 1682 nach Zustimmung des Stargarder Schöffenstuhls hingerichtet wurde. 18 Letztlich wiederholt sich damit aber auch nur auf dem Lande, was in dem spektakulären Hexenprozeß gegen das 80jährige Klosterfräulein Sidonia von Bork vom pommerschen Hof vorexerziert worden war. Ihr war das Geständnis abgefoltert worden, aus Rache die Kinderlosigkeit der Pommernherzöge erwirkt zu haben. Sie wurde am 19. August 1620 auf dem Rabenstein vor Stettin enthauptet und ihr Leichnam anschließend verbrannt. 19 Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht um eine pommersche Besonderheit. Der Ordinarius der Frankfurter Juristenfakultät (ab 1653) Johannes Brunnemann bemühte sich noch in der Jahrhundertmitte in ausführlichen juristischen Gutachten um die Rechtfertigung von Hexenprozessen und offenbart damit die Grenzen religiösen und humanistischen Denkens im 17. Jahrhundert. Friedrich von Spees Cautio criminalis war schon zwei Jahrzehnte zuvor erschienen, eine mutige Reformschrift, aber zunächst weitgehend folgenlos, wie man sieht. Die widersprüchliche historische Entwicklung Pommerns, insbesondere nach der Landesteilung von 1569, und dann die Folgen des Dreißigjährigen Krieges sind der Entwicklung von Wissenschaft und Künsten nicht gerade förderlich gewesen. Kosegarten registriert jedoch in der Greifswalder Universitätsgeschichte für den Zeitraum von 1642 bis 1658 noch die beträchtliche Zahl von 82 bis 116 Neuimmatrikulationen jährlich. 20 In diese Jahrzehnte fällt auch die Entstehungszeit der Texte der Sibylla Schwarz (1621-38), die auch durch den Druck von 1650 beweisen, daß ausländische Einflüsse (Holland) und die Opitzsche Dichtungsreform in Pommern wirksam werden konnten. Wie aber sieht das Wechselverhältnis Pommern/Brandenburg in dieser Zeit aus? Aus preußischer Perspektive sieht Gerd Heinrich (1990) im Ende des Dreißigjährigen Krieges keine entscheidende Zäsur für die historische Entwicklung beider Territorien: »Viel eher noch ist es der Regierungsantritt eines tatkräftigen und überdurchschnittlich klugen, eines außenpolitisch hochbegabten Fürsten, des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm gewesen, der gleichsam den Weg in ein neues geschichtliches Zeitalter freigab. Mit dem nun von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher erkennbaren Aufstieg Brandenburg-Preußens ist die Geschichte Pommerns auf das engste verbunden. Das pommersche Herzoghaus war 1637 ausgestorben, und Schweden machte sich als europäische Großmacht alle Hoffnungen, hier am Südrande der mittleren Ostsee ein für allemal Fuß fassen zu können. Es ist das Verdienst des Kurfürsten, aber auch der pommerschen Stände, daß sich die schwedi18 19 20

Vgl. Heinrich, wie Anm. 15, S. 99. Vgl. Pomerania, wie Anm. 11, Bd. VI, S. 90f. Johann Gottfried Ludwig Kosegarten: Geschichte der Universität Greifswald. Greifcwald 1856-57, S. 255.

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sehen Ansprüche auf die Dauer nur für einen kleinen Teil erfüllen lassen konnten.« 21 1648 erlangte der Kurfürst im Frieden von Münster und Osnabrück bekanntlich »den größten Teil von Hinterpommern, ein riesiges Areal von Stargard bis Stolp«. »Freilich« - so Gerd Heinrichs Einschätzung - »fehlte bei dieser Erwerbung, die durch die Erbvertragspolitik der Hohenzollern und ihrer Vorgänger seit 200 Jahren vorbereitet worden war, die untere Oder mit Stettin und Swinemünde. Die Politik des Großen Kurfürsten und seiner Nachfolger bis 1815 war mithin ohne Unterbrechung darauf gerichtet, die Restteile Pommerns so oder so (sie! - Κ. K.) zu erwerben und vor allem die Landeshauptstadt Stettin, den eigentlichen Hafen der Residenzstadt Berlin, in die Hand zu bekommen. Es sind die besten Köpfe des hinter- und vorpommerschen Adels gewesen, die den Kurfürsten Friedrich Wilhelm und seine Nachfolger bei dieser letztlich erfolgreichen Politik mit Leib und Leben unterstützt haben: die Schwerin und Grumbkow, die Dewitz und Borcke.« 22 Ob diese einseitig auf die politisch-staatliche Entwicklung orientierte Sicht zur Wertung der Kultur- und Literaturgeschichte nicht nur des Adels - produktiv ist, möchte ich in Frage stellen, weil es bedeutete, die »Verpreußung« Pommerns zum einzigen Kriterium historischen Wandels zu erklären. Mit dem Blick auf die Universitäten Greifswald und Frankfurt und deren wissenschaftliche und literarische wechselseitige Beeinflussung, muß m.E. der jeweilige Beitrag beider Seiten (die schwedische eingeschlossen! - man denke nur an die Auswirkungen der Regierungszeit Christinas von Schweden - ) Berücksichtigung finden. So kann man z.B. nachvollziehen, daß in Aufschwungzeiten der Greifswalder Universität auch die Intensität der Kontakte zur Mark und zu Frankfurt/Oder zunimmt. Das begann schon im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts und setzte sich bis etwa 1625 fort. 1625, im Todesjahr Herzog Philipp Julius' von Pommern (genannt »der Schöne«), der in kinderloser Ehe mit Agnes von Brandenburg (1584-1629) verheiratet war, wurden in Greifswald 160 Studenten neu immatrikuliert, darunter auch Märker. 23 Der Jurist Matthias Stephani ζ. B. wurde 1604 nach Studium und Lehrtätigkeit in Königsberg, Frankfurt/O. und Rostock außerordentlicher und 1624 ord. Professor in Greifswald. Es gab also Austausch im akademischen Bereich. Von langandauernder und tiefgreifender Folge war aber dann der Konfessionswechsel Kurfürst Sigismunds im Dezember 1613, der innerhalb Brandenburg-Preußens ebenso zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führte, wie er die wissenschaftlichen und letztlich auch literarischen Kontakte zu anderen Territorien beeinflußte. Das trifft in besonders auffälliger Weise auf die Beziehungen zwischen Greifswald und Frankfurt/O. zu. 21 22 23

Heinrich, wie Anm. 15, S. 95. Ebd., S. 95f. Kosegarten, wie Anm. 20, S. 229.

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Denn sowohl die anfängliche calvinistische Offensive innerhalb Brandenburgs als auch die insbesondere nach dem Berliner Religionstumult vom April 1615 erkennbare Kompromißbereitschaft der calvinistischen Partei, die dann in der Regierungszeit des Großen Kurfürsten erzwungenermaßen in die Durchsetzung religiöser Toleranz einmündete, wurden von Pommern aus, dem »Sitz des strengen Luthertums«, 24 und speziell von den Theologen der Greifswalder Universität mit Kritik bedacht. Schon 1613 war der Catalogus haereticorum von Schlüsselburg aus Stralsund erschienen, dem 1614 die anticalvinistische Schrift des Generalsuperintendenten in Stettin Daniel Cramer De regno Christi. Item von den fürnemsten Streitigkeiten zwischen den Lutherischen und Calvinisten folgte. Im Juli 1614 kam es in Frankfurt/O. zwischen Cramer und Christoph Pelargus, der Pfarrer an der Marienkirche, Generalsuperintendent der Mark und mehrmaliger Rektor der Universität war, zu einer Diskussion über die Konsequenzen des Konfessionswechsels des Kurfürsten. Auch in Cramers großer Kirchengeschichte Pommerns (1628) wird dieses Ereignis ausführlich gewürdigt. 25 Der Kontrahent Cramers, Christoph Pelargus, ist für die Universitätsgeschichte Frankfurts insofern auch von Bedeutung, weil er mit seiner umfangreichen Bibliothek, die zu seiner Zeit als Frankfurter Sehenswürdigkeit galt, den Grundstock für die Frankfurter Universitätsbibliothek gelegt hat. Besonders nachdrücklich nahm Barthold von Krakewitz für die Lutheraner Partei. Er hatte ab 1607 Kirchen- und Lehrämter in Greifswald und heiratete Ende 1631 die ältere Schwester von Sibylla Schwarz, Regina. Die Greifswalder Theologen versuchten insbesondere auf Herzog Philipp Julius Einfluß zu nehmen, dem Sympathien für die Calvinisten nachgesagt wurden. 26 Der konfessionelle Hader spiegelte sich in vielen Einzelschicksalen wider und prägte damit natürlich insbesondere auch die Casualschriften. Kosegarten berichtet auf deren Grundlage über Johann Colberg, der ab 1654 Pastor zu Kolberg war und gegen die »Häretiker« predigte. Die offizielle Gebetsformel hieß: »Steure den Türken, Papisten und Calvinisten.« 1675 mußte Colberg auf Befehl des Brandenburgischen Kurfürsten sein Amt verlassen. Er erhielt 1677 in Greifswald »die Professur der Theologie und das Pastorat bei Marien, verfiel« - wie Kosegarten schreibt - »in einen dogmatischen Streit mit seinem Kollegen Jakob Henning«, und mußte, als der Kurfürst im November 1678 Greifswald einnahm, auch von hier wieder weichen. Erst 1686 wurde Colberg in seine Greifswalder Stelle wieder eingesetzt und starb im August des folgenden Jahres. 27

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Vgl. Pomerania, wie Anm. 11, S. 127. Vgl. Heyden, wie Anm. 12, Bd. II, S. 45ff. Vgl. H. Witte: Mecklenburgische Geschichte, Bd. II, Wismar 1913, S. 134ff. Kosegarten, wie Anm. 20, S. 265.

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Pommern und Greifswald wurden so zum Zufluchtsort gemaßregelter Lutheraner, während andererseits Frankfurter Theologen nach dem Urteil des Stettiner Pastors Tiburtius Rango (1683) »die lutherische Religion in mancherlei Veröffentlichungen ungehindert geschmäht« hätten. 28 Es hat aber in Frankfurt/O. auch um Ausgleich und Toleranz bemühte Kräfte gegeben. Christoph Pelargus' Haltung war wohl moderater als die mancher karrierebewußter Eiferer, immerhin unterhielt er auch einen Briefwechsel mit Jakob Böhme, der aber leider nicht überliefert ist. Ob Pelargus allerdings als der »märkische Irenäus« bezeichnet werden kann, wie es Günter Mühlpfort in seiner Skizze der Universitätsgeschichte Frankfurt/O. (1983) formulierte, 29 muß wohl hinterfragt werden. Zu den Lutheranern, die in Frankfurt zwischen die konfessionellen Mühlsteine gerieten, gehört Simon Ursinus (1599-1644), der nach dem Studium in Greifswald und Rostock ab 1630 Pfarrer an der Frankfurter Marienkirche war und 1639 Mitglied der theologischen Fakultät wurde, aus der er 1644 nach dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten wieder entfernt wurde. Der 1641 in Frankfurt erreichte Kompromiß, daß die theologische Fakultät paritätisch mit Lutheranern und Reformierten besetzt werden sollte, konnte gegen den Willen des Kurfürsten nicht durchgehalten werden. Und nach Ursinus' Tod (1644) befahl der Kurfürst, alle Vermerke über den Religionsvergleich von 1641 aus dem Statutenbuch der theologischen Fakultät sowie aus dem Protokoll- und Ediktenbuch zu streichen. Die dann zusätzlich durch den schwedisch-brandenburgischen Interessenkonflikt überlagerten und z.T. verschärften konfessionellen Gegensätze blieben natürlich nicht ohne Folgen für die literarischen Wechselbeziehungen zwischen Frankfurt/O. und Greifswald. Der für das 16. und noch für den Beginn des 17. Jahrhunderts nachweisbare Wechsel von Studenten und Professoren zwischen den Hochschulen ging rapide zurück. Die Dominanz der Theologie für den Universitätsbetrieb war ja noch nicht aufgehoben. Die Universitätsstatuten schrieben nicht nur den Theologen den regelmäßigen Gottesdienstbesuch vor. Auch die Studenten der Artistenfakultät hatten in Greifswald, »bevor sie in eine der drei höheren Fakultäten übergingen, den Nachweis zu erbringen, theologische Vorlesungen besucht zu haben«. 30 Auch gegen den im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts sich ausbreitenden Pietismus regte sich - von schwedischer Seite gefördert - lutherischer Widerstand in Greifswald. 31 Und die Universität Frankfurt/O. feierte die Eroberung »Schwedisch-Pommerns« 1678 mit einem Festakt, der mehr als drei Stunden dauerte, mit

28 29 30 31

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Heyden, wie Anm. 12, S. lOlff. Günter Mühlpfort: Die Oder-Universität 1506-1811. Weimar 1983, S. 48ff. Heyden, wie Anm. 12, S.lOlff. ebd., S. 111.

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Aufzug des Lehrkörpers und der Studenten, Musik und deutschen und lateinischen Texten (z.B. v. Johann Friedrich Kaetzler). 32 Man muß wohl feststellen, daß nach den Katastrophen der Feldzüge im 30jährigen Krieg, nach dem Schwedisch-Polnischen Krieg (1655-1660) und dem Schwedisch-Brandenburgischen Krieg (1675-1679) nicht nur die existentiellen Grundlagen des akademischen und literarischen Lebens immer wieder beeinträchtigt wurden, sondern auch der fördernde Einfluß der einen auf die andere Universität. In Frankfurt/O. beginnt der Aufschwung nach den Kriegen auch erst in den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts, wobei mit der Universitätsgründung in Halle 1694 die später übermächtige Konkurrenz sich schon ankündigt. In diese Jahre fällt das Wirken des Polyhistors und Pioniers der brandenburgischen Regionalgeschichtsschreibung Johann Christoph Beckmann (1641-1717), dem wohl auch die Literaturentwicklung im letzten Drittel des Jahrhunderts wichtige Impulse verdankt. Franz Heiduk (1971) schreibt ihm nicht weniger als die »Zusammenführung der beiden tonangebenden Richtungen vorgalanter Lyrik, der schlesischen und jener Weises, und damit die Eröffnung der sogenannten galanten Zeit« zu. 33 Er beruft sich dabei auf die Berichte über Beckmanns Vorlesungen über deutsche Redekunst, denen sowohl schlesische Casualdichtungen (Andreas Gryphius) als auch Dichtungen Hoffmannswaldaus und Lohensteins sowie die Poetik Weises zugrundegelegt wurden. Heiduk sieht darin einen Vorgriff auf die Position Daniel Georg Morhofs, der 1682 in seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie Hoffmannswaldau und Weise gebührlich feierte. Unter den Hörern Beckmanns befanden sich in den 80er Jahren eine Reihe von Autoren, die in den beiden ersten Bänden der Neukirchschen Sammlung als die ersten Galanten sich hervortun sollten: Benjamin Neukirch selbst, O . C . Eltester, C. S. Leschke u.a.« 3 4 Pommern sind unter den Autoren der Sammlung nicht zu entdecken, überwiegend Schlesier und Märker. Ist dies die Folge der konfessionellen Blockierung, immerhin hat Beckmann auch sehr polemisch gegen lutherische Eiferer Stellung bezogen? Oder sind dies die Nachwirkungen der Kriegs- und Pestzeiten? »Tempora calamitosa« für die Greifswalder Universität nennt Kosegarten jene »Brandenburgischen Kriegszeiten«. 35 Dennoch ist es sinnvoll und notwendig, den vielfältigen Zeugnissen literarischen Lebens in beiden Universitätsstädten - auch im Vergleich - nachzuspüren, um z.B. den Weg der Opitzschen Dichtungsreform in Pommern und der Mark nachvollziehen zu können. Allerdings wird man ohne langwierige bibliographische und edito32

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Otto Bardong: Die Breslauer an der Universität Frankfurt/ Oder (1648-1811). Würzburg 1970, S. 61. Frank Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern und München 1971, S. 197. Ebd. Kosegarten, wie Anm. 20, S. 263.

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rische Kärrnerarbeit nicht vorankommen, und man muß sich in die mancherorts immer noch mißliebigen Niederungen des literarischen Alltags begeben. Wenn Volker Meid feststellt, daß sich auch »im Nordosten [...] die neue Kunstdichtung« durchsetzte und als Beweis ausführt: »Schon in den dreißiger Jahren entstanden die stark an der Sprache und den Formen von Opitz orientierten Gedichte der >pommerschen Sappho< Sibylle Schwarz (1621-38)«, so bleibt noch immer die Frage nach den Vermittlungswegen und -gründen. 36 Wie kam es ζ. B. zu dem Wandel ästhetischer Maßstäbe nicht nur bei den Autoren, sondern bei den Adressaten, deren Erwartungshaltung in nicht unwesentlichem Maße für die Produktion von Texten normbildend ist? Die Lebens- und Studienorte der Adressaten von Gelegenheitstexten und mithin die dort aufgenommenen literarischen Eindrücke sind deshalb ebenso wichtig wie die der Autoren selbst. Ein Beispiel: Der Greifswalder Mediziner und Mathematiker Johann Schöner, in Schottland geboren, Student in Wittenberg und Frankfurt/Oder ist Adressat von Dichtungen der Sibylla Schwarz, von denen man annehmen darf, daß es der Autorin auch um literarische Akzeptanz ging. Auch die Berührungspunkte zwischen Greifswald und Frankfurt in der Theaterkultur sind noch unerforscht. So berichtet Heinrich Grimm (1942) in seiner Studie über das Theater in Frankfurt/O. über eine Spielerlaubnis aus dem Jahre 1673 für eine Theatertruppe aus Wismar, deren Prinzipal Christian Bockheiser (oder Bockhäuser) war. Diese Truppe kam bis in die 90er Jahre nach Frankfurt und ist unter dem Namen »hochteutsche Companie« von »Lüneburg bis Riga und von Wismar bis Leipzig und Frankfurt/ Main bekannt« gewesen. 37 Hat diese Truppe auch in Greifswald gespielt? Und wenn ja, welches Repertoire hatte sie in Greifswald und welches in Frankfurt/O.? Oder - und damit möchte ich mit einem Blick auf die nach wie vor unter- und fehleingeschätzte sogenannte »Hofdichtung« schließen. Wie scharf sind eigentlich im 17. Jahrhundert die Grenzen zu ziehen zwischen stadtbürgerlicher, akademisch-universitärer und höfischer Literatur? Johann von Bessere Hochzeitsgedicht für die Vermählung der »Markgräfin Maria Amalia« - von Brandenburg - mit dem »Mecklenburg=Güstrowischen Erb=Printzen, Carl« am 10. August 1687 in Potsdam bemüht natürlich strophenweise das Arsenal gängiger Panegyrik in der Inanspruchnahme von Historie und Mythologie einschließlich dynastischer Programmatik. In der 18. Strophe (von insgesamt 28) ändern sich Ton, Inhalt und Stil; Heiratspolitik als einziger Ehegrund wird abgewiesen, die eheliche Verbindung wird als freie Entscheidung von Liebenden dargestellt, das Kennenlernen in petrarkistischer Tradition geschildert, der Nachkommenwunsch in ein- und zweideutiger Weise vorgetragen. In diesen Passagen liest sich der Text wie 36 37

Volker Meid: Barocklyrik. Stuttgart 1986 (Sammlung Metzler 227), S. 79. Vgl. Heinrich Grimm: Der Anteil einer Stadt am deutschen Theater. Frankfurt/Oder, Berlin und Posen 1942, S. 30.

Literarische Wechselbeziehungen

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ein Hochzeitscarmen aus Simon Dachs Feder bis hin zur Verwendung sprichwortartiger Formulierungen »Was langsam Feuer fängt, pflegt lange Glut zu halten.« (Str. 22).38 Ein Vergleich der Casualdichtungen in den unterschiedlichen, sozial differenzierten Kommunikationsräumen zwischen Greifswald und Frankfurt/Oder wäre zur Bestimmung der literarischen Qualität der Dichtungen und ihres Funktionswandels eine lohnende und wohl unverzichtbare Aufgabe. Es bleibt der Wunsch, daß von dieser Konferenz Anregungen ausgehen für die Entwicklung regionaler Literaturgeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit. Vielleicht kommt es dann auch im 20. Jahrhundert zu »Wechselbeziehungen« zwischen den Universitäten in (Vor-) Pommern und in der Mark Brandenburg in der Erforschung einer gemeinsamen Tradition in Wissenschaft und Kunst.

38

»Brandenburgs Wohl=ausgestattete Tochter [...]«. In: Johann Ulrich König (Hg.): Des Herrn von Besser Schrifften [ . . . ] . Leipzig 1732. Bd. II. S. 671ff.

II.

Humanismus und Reformation

Hans-Gert Roloff

Poeta vapulans - Ulrich von Hutten und die Lötze

I Greifswald und Rostock - Mecklenburg-Vorpommerns östliche Kulturmetropolen - können für sich verbuchen, einem der bedeutendsten deutschen Dichter der mittleren Literaturperiode, dem jungen Ritter Ulrich von Hutten, Hebammendienste zu seiner sozialen und poetischen Selbstfindung geleistet zu haben. Das ist kein geringes, sondern ein buchenswertes Ereignis, denn es erscheint fraglich, was ohne den Greifswalder und ohne den Rostocker Einsatz aus dem jungen Genie wohl geworden wäre. Jedenfalls ist der sich in beiden Städten abspielende Vorgang aus dem frühen 16. Jahrhundert nicht nur von der lokalen, kulturellen und akademischen Historiographie kontinuierlich behandelt worden, sondern auch von der Literarhistorie und der Huttenbiographik, und zwar weniger freundlich, soweit es Greifswald betrifft, viel liebenswürdiger hingegen, soweit sich die Dinge in Rostock zugetragen haben. Wer wird sich schon im literarhistorischen Kolleg oder im Seminar diese >Geschichte< entgehen lassen? Sie scheint durchaus dem Rang anderer literarhistorischer Bildlichkeiten zu entsprechen, denen implicit epochal-emblematische Bedeutsamkeiten innewohnen wie dem ominösen Thesenanschlag an die Wittenberger Schloßkirche, oder der vom jungen Goethe beobachteten Maulschelle, die Gottsched seinem Diener verabreichte (DuWII,7), oder dem nächtlichen Spaziergang Schillers und Goethes in Jena (1794), oder der Ohrfeige Georges für Gundolf usw. Was war in Greifswald geschehen? Zu Ende des frostigen Dezembers im Jahre 1509 haben konservative Pfeffersäcke und scholastisch-klerikale Akademiker der Stadt Greifswald einen jungen revolutionären Intellektuellen und poeta doctus von ihren Schergen überfallen, verprügeln und ausrauben lassen. Der Casus >Poeta vapulans - Hutten und die Lötze< ist von epochaler ideologischer Signifikanz und wäre ohne den Genius loci nicht passiert.

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Hans-Gert Roloff

1. Huttens Weg nach Greifswald. Ulrich von Hutten war auf der Steckelburg bei Fulda am 21. April 1488 geboren worden. Der Vater steckte ihn mit elf Jahren 1499 in die Klosterschule des Benediktinerklosters Fulda; die schmächtige Konstitution des Knaben machte es nach Ansicht der Eltern ratsam, ihn zum Kleriker ausbilden zu lassen - mit der Aussicht, trotz schwächlichen Leibes, später eine angemessene Lebensversorgung zu haben. Die Schulausbildung, vor allem im Lateinischen und wohl auch in der römischen Literatur, scheint vorzüglich gewesen zu sein, denn sehr früh läßt sich bei Hutten eine souveräne und von den Zeitgenossen hoch geschätzte Wendigkeit im sermo purus erkennen, deren Grundlagen er dieser Benediktinerschule verdankt. Allerdings dürfte er auch ein sehr begabter und recht fleißiger Schüler und später Studiosus gewesen sein. Nach sechs Jahren Klosterschule wurde er zur weiteren Ausbildung nach Erfurt geschickt, und zwar im Jahre 1505. Hier kam er in Verbindung zu Crotus Rubeanus, Mutianus Rufus und Eobanus Hessus, mit dem ihn eine lange und tiefe Freundschaft verband. Zum Ärger seines Vaters kehrte er nicht mehr ins Kloster zurück, sondern wandte sich den weltlichen Studien zu. Der Vater sperrte zwar den Wechsel, aber wie bei vielen jungen Leuten dieser Zeit fanden sich für die Begabten Mittel und Wege, sich als Studenten durchzuschlagen. So treffen wir Hutten 1505/06 in Köln, ab Sommer 1506 in Frankfurt an der Oder, wo er im September 1506 das Baccalaureatsexamen ablegt und, angeregt durch seine akademischen Lehrer, insbesondere Rhagius Aesticampianus, Hermann Trebellius und Publius Vigilandius, mit eigenen Dichtungen elegischer Art beginnt, die im Kreise der Lehrer und Freunde Achtung finden. 1508 folgt Hutten Rhagius Aesticampianus nach Leipzig zum weiteren Studium. Hier trifft ihn ein schwerer, ihm lebenslang anhaftender Schicksalsschlag: Er infiziert sich mit dem damals nicht heilbaren morbus gallicus. Der Ausbruch der Lues scheint heftig gewesen zu sein; fortan klagt er über grausame Beschwerden und unterzieht sich immer wieder irgendwelchen erfolglosen Kuren. Im Frühjahr 1509 verläßt er Leipzig und taucht erst wieder in Greifswald auf. Welcher äußere Anlaß Hutten nach Norden führte, ist bisher nicht bekannt. Ob er nach Uppsala reisen wollte, unterwegs Schiffbruch erlitt und an der pommerschen Ostseeküste strandete, ob er sich in irgendeine Einsamkeit zurückzog, um mit der Lues fertig zu werden, wie Heinrich Grimm vermutet, steht dahin. 1 An seinen Freund Eobanus Hessus berichtet er nur sehr allgemein, daß er auf der Wanderschaft war, in Ar1

Über die Jugendzeit Huttens informiert immer noch am besten: Heinrich Grimm: Ulrich von Hutten. Lehrjahre an der Universität Frankfurt (Oder) und seine Jugenddichtungen. Ein quellenkritischer Beitrag zur Jugendgeschichte des Verfechters deutscher Freiheit. Frankfurt/Oder und Berlin 1938.

Ulrich von Hutten

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mut lebte, sich Essen vor ärmlichen Hütten erbettelte und mit üblen Quartieren vorlieb nehmen mußte. N e b e n großen Entbehrungen sei er immer wieder von heftigen Fieberstößen und aufbrechenden Wunden heimgesucht worden. D i e Krankheit habe verhindert, mit Gelehrten Kontakt aufzunehmen.2 Wie und warum Hutten ausgerechnet nach Greifswald kam, ist ungeklärt. In der Matrikel 3 des Sommersemesters 1509 ist er als Vierter v o n unten vom amtierenden Rektor Heinrich Bukow, einem Juristen, inscribiert worden, und zwar in der bemerkenswerten Formulierung: Vlricus Huttenus poeta clericus Herbipolensis gratis intitulatus quia spoliatus omnibus bonis. D a s »clericus Herbipolensis« bezieht sich auf seine Herkunft aus der Klosterschule in der D i ö z e s e Würzburg. A b e r die Formulierung »spoliatus omnibus bonis« ist rätselhaft; sie hat denVerdacht auf eine gescheiterte Schiffsreise gelenkt, zumal im Jahre 1512 Vadian von Huttens Erzählungen als einer Odyssee zu berichten w e i ß . 4 Spoliatus kann aber auch im einfachen 2

3

4

Ulrichs von Hutten Schriften. Hrsg. von Eduard Böcking. Band 3. Leipzig 1859; Reprint: Aalen 1963, S. 19-83. - Ulrich Hutten's Klagen gegen Wedeg Loetz und dessen Sohn Henning. Zwei Bücher [...]. Hrsg, übers, u. erl. v. Gottlieb Christian Friedrich Mohnike. Greifswald 1816. Der lateinische Text wird nach Böckings Ausgabe zitiert, die deutsche Übersetzung folgt Mohnikes verdienstvoller Edition: Ore cibum petii peregrinas pauper ad aedes, Nec puduit luteas sollicitare casas; Ante fores somnum gelida sub nocte petivi, Vix raro surdas jussus inire domos; Rebus egens, pressusque gravi miser omnia febri, Paene eadem vitae cura necisque fuit, More viros nostro potuissem quaerere doctos; Impediit coeptam pestis amara viam, Et quoties volui, toties magis illa furebat, Nec foret hac una spe mihi certa salus. [Querelae II, 8,21-30] (Speis' erbettelt' ich mir vor fremder Behausung, ich Armer, Und nicht verschmähte mein Flehn Hütten von schmutzigem Lehm; Vor den Türen erbat ich den Schlaf bei nächtlicher Kälte, Ach, und das taube Haus öffnete selten sich mir. Alles entbehrend und kläglich gedrängt vom heftigen Fieber, Fast für Leben und Tod war mir die Sorge sich gleich. Auf wohl hätt' ich gesucht, nach unserer Art, die Gelehrten, Doch den betretenen Weg störte die bittere Pest; Und, so oft ich es wollte, so oft ward grimmer die Krankheit, Was mir Errettung verhieß einzig, auch dieses verschwand. Aeltere Universitäts-Matrikeln. II. Universität Greifswald. Hrsg. von Ernst Friedländer. Erster Band (1456-1645). Leipzig 1893, S. 166. Joachim Vadian an Georg Tannstetter Collimitius (12. Jan. 1512): Cum enim vel prima nocte qua lares nostras ingressus est, petentibus nobis ordine narrasset, quam peregrinatio sua experiendi gratia instituta aerumnis referta fuerit, quamque in Germanico etiam oceano quod attigit. Scyllaeam rabiem expertus ad proxima littora in Cyclopum manus inciderit, quos primum (mirum) amicos habuisse aiebat, dein vero urgente fato cum iter alio instituisset, furore correptos praeter vitam

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Sinne als >bar aller Mittel· >arm< verstanden sein. Das träfe ohne weiteres zu. Hervorzuheben aber ist der stolze Eintrag als poeta. Das scheint zu diesem Zeitpunkt noch ein Scheck auf die Zukunft und das angestrebte Berufsziel gewesen zu sein, denn was bis dahin an dichterischem >Output< vorlag, ist nicht viel: es sind acht Elegien bekannt, die alle als Beigaben zu allerdings renommierten Publikationen von Eobanus Hessus, Publius Vigilantius, Rhagius Aesticampianus, Hermann Trebellius, Johannes Murmellius erschienen waren, insgesamt aber nur 131 Distichen ausmachten. In Arbeit waren zu dieser Zeit noch die erste Fassung des Nemo, der Vir bonus und eventuell die Ars versificatoria - diese Texte erschienen zwischen 1510 und 1513. Die Ars versificatoria wurde in der Tat ein großer Erfolg: Bis 1560 sind 28 verschiedene Drucke nachgewiesen worden. 5 Immerhin verrät der Anspruch, sich als poeta inscribieren zu lassen, ein gewisses Programm. Ob er es gerade in Greifswald zu realisieren versuchen wollte, ist vorstellbar, allerdings war diese Universität zu dieser Zeit dazu nicht besonders prädestiniert, denn »alle Versuche Bogislaws X. und seiner Anhänger, dem Humanismus [ . . . ] auch in Greifswald zum Durchbruch gegen die Scholastik und den alten Feudalismus zu verhelfen, scheiterten.« 6

2. Die Greifswalder

Lötze

Der poeta pauper, 21 Jahre jung und noch ohne Magisterexamen, fand - wie das in der Zeit in akademischen Kreisen üblich war - mäzenatische Förderung durch vermögende Bürger der Stadt. So war es vielen seinesgleichen gegangen, ob sie nun Celtis oder Eobanus Hessus oder sonstwie hießen, die später respektable Leistungen als Gelehrte und Dichter vorlegten. So boten ihm in Greifswald die Lötze die Hand, die er gern ergriff: Der Vater Wedeg Lötz und sein Sohn Henning. Wer waren sie? 7 Die Lötze gehörten zu einem alteingesessenen Patriziergeschlecht, das über Greifswald hinaus verzweigt war, Handel trieb und akademische Ämter bekleidete. Wedeg Lötz ist nach 1440 geboren, war an der Universität

5

6

7

omnia sibi eripuisse, quam et ipsam petitam esse cicatrices quas nobis, dum iretur cubitum, ostendit, satis attestantur. (Vgl. Hutten, wie Anm. 2, S. 23). Josef Benzing: Ulrich von Hutten und seine Drucker. Wiesbaden 1956; darin: Heinrich Grimm: Entstehungszeiten und Entstehungsorte der Schritten Huttens. Chronologisches Verzeichnis, S.1-9. Friedrich Schubel: Universität Greifswald. Frankfurt/Main 1960, S. 21 f. - Hans Schröder: Zur politischen Geschichte der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17.10.1956. Band I, S. 53-155; zu Hutten: Loetze S. 58. - Johann Gottfried Ludwig Kosegarten: Geschichte der Universität Greifswald. Greifswald 1857; Reprint: Aalen 1986; zur Familie Loetze S. 137f., S. 164f. Pyl: Artikel »Lotze«. In: ADB 19, S.290; Kosegarten, Gesch. d. Universität Greifswald, wie Anm. 7, S. 137f., S. 164 f.

Ulrich von Hutten

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immatrikuliert (seit 1459) und Baccalaureus geworden; 1476 begegnet er als Ratsherr und war von 1485 bis 1525 Bürgermeister dieser Stadt. Er war ein angesehener Kaufherr gewesen. Sohn Henning Lötz war 1492 immatrikuliert, machte 1496 das Magisterexamen und war danach in Italien (seit 1498 in Bologna); an der Universität Siena erwarb er 1503 den Grad eines Doctor iuris utriusque; 8 1504 wurde er an der Juristischen Fakultät Ordinarius in antiquis iuribus und hat mehrfach, so 1506, 1508, 1511, 1515, das Rektorat versehen. Außerdem war er Domherr bei St. Nicolai, wurde 1508 bischöflicher Official und 1511 Praepositus des Greifswalder Domkapitels. Nach Einführung der Reformation, der er nicht beitrat, zog sich Henning Lötz als Archidiacon nach Parchim zurück. Alles in allem repräsentieren die Lötze gestandene konservative Kaufmannschaft und Akademikertum scholastischer Prägung. Gerade wegen dieser realen Respektierbarkeit der Lötze erfährt der Konflikt mit dem jungen adligen Poeten seine epochale Prägnanz, die über private Rankünen weit hinausgeht.

3. Der Konflikt Für die Entstehung des Konflikts verfügen wir bisher nur über die - natürlich parteiischen - Zeugnisse Huttens. Seitens der Lötze hat sich bisher keine Entgegnung finden lassen. Hutten hat aber so detailliert in seinen Querelae von den Vorgängen berichtet, daß man m . E . den Konfliktstoff und die Vorgänge erahnen kann. Allerdings muß man beachten, daß Huttens Darstellungen nicht nur um seine eigene Person kreisen, sondern daß er mit seiner Person und der ihr zugefügten Drangsal zugleich den Typ des verfolgten Intellektuellen neuer Prägung repräsentieren wollte. Seine Klagen schlüpfen aus der individuellen Erfahrung in die Rolle einer entsprechenden zeitgenössischen Figur von allgemeinerer Bedeutung. In Greifswald sammelte sich bei Hutten innerlich vieles an, was vermutlich zu seiner nervös gesteigerten Verhaltensweise führte, die bei den biederen Partnern Irritationen hervorrief. Huttens Krankheit brach immer wieder von neuem hervor, mit Fieber, Schüttelfrösten und aufbrechenden Beulen. Seine Armut, verursacht durch den Krach mit dem Vater, der kein Geld für das Studium zahlte, nötigte zur Kreditaufnahme, ohne daß eine Aussicht bestand, kurzfristig zurückzuzahlen. Dazu kamen nun das starke Bewußtsein, zum Poeta berufen zu sein, und sein sozialer Anspruch, von den Bürgerlichen als Adliger und Intellektueller entsprechend distinguiert behandelt zu werden. Zudem fühlte er sich als Glied der jungen Avantgarde mit einem hohen intellektuellen Anspruch, den man hier sicherlich nicht akzeptieren wollte. Seine Erwartungen auf mäzenatische Förderung eines zukünftigen großen Dichters, und möglicherweise auch bereits sein Agieren 8

Gustav Knod: Deutsche Studenten in Bologna [1289-1562], Berlin 1899.

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als solcher, ließen ihn jede Art von Unterstützung als selbstverständlich entgegennehmen. Daß Henning Lötz sich seiner annahm, mag möglicherweise damit zusammenhängen, daß er die weite Welt in Italien gesehen und von den modernen geistigen Vorgängen eine Ahnung hatte, so daß er Hutten als einen solchen Botschafter der Moderne in Greifswald akzeptierte und ihm sein Haus und sein Säckel öffnete, vielleicht sogar aus Gründen der eigenen Repräsentanz vor Patriziern und Universität. Henning Lötz zeigte, wenn man Huttens Ausführungen neutralisiert, zunächst Güte, bewies gastfreie Aufnahme des Fremdlings, war freigebig, behilflich und entgegenkommend. Nach einiger Zeit wurde sein Verhalten allerdings kritisch: Er stellte die Hilfe ein, wurde zugeknöpft im Umgang, kritisierte Huttens Tätigkeiten, das Dichten, wollte das geliehene Geld zurückhaben, was Hutten nicht leisten konnte, da keine Einnahmen von zu Hause kamen und eine bezahlte Tätigkeit in Greifswald nicht zu erreichen war. Hutten hat nun auf dieser Basis in seinem Bericht an Eobanus Hessus fast ein neurotisches Psychogramm des Henning Lötz gegeben, das den Gegner in schlechtem Licht erscheinen läßt: Primum erat ille mihi simulate fronte benignus, Ut caperet tacitis credula corda dolis, Hospicioque suas peregrinum accepit in aedes, Et quae sperarem, multa daturus erat. Promissa capiebar ope, instigabar amore Quem gravis in vultu praetulit ille suo. Nondum certus eram famae exemploque peritus, Nec qui me fida mente moneret, erat. Assuetas igitur paulatim intendere fraudes Coepit, et has primum dissimulabat acus; Deinde nihil simulans spem frustrabatur inanem, Jam nihil occultos ausus inire dolos: Siquid erat, quo me posset, velut ante, juvare, Abstinuit palam commoditate mea; Difficilem accessum, responsaque dura ferebam: Sustinui tumidi jussa superba viri, Sustinui archanos in nostra negocia risus, Et coepi infectos dissimulare jocos. Saepe etiam nocuit, verasque exercuit iras: Quaelibet huic odii non mala causa fuit; Prodidit invidiam facies vultumque sinistrum, Et ferus in torvo ferbuit ore furor. Una salus abiisse fuit, sed et ille vetabat, Jure suo, ut sumpto debitor aere fui; Saepe tarnen monitus tandem discedere jussit, Et notum est abitus sponte tulisse meos. [Querelae II, 8,41-66] (Zuerst war er mir mit heuchelnder Miene wohlwollend, damit er mit stiller List das vertrauende Herz gewann; den Fremdling nahm er gastfrei in sein Haus auf und gewährte vielerlei, was ich erwarten mochte. Die gebotene Hilfe rührte mich, die

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Liebenswürdigkeit bestach mich, die er gewichtig in seiner Miene zur Schau trug. Noch kannte ich nicht seinen Ruf und wußte nichts von dem Beispiel; niemand war da, der mich vertraulich gewarnt hätte. So begann er nach und nach die gewohnten Ränke zu schmieden, hielt aber zunächst die Stachel zurück. Schließlich ließ er die Maske fallen und bewies, daß alle meine Hoffnung eitel war; alsbald schon wagte er offene List. Wenn es etwas gab, worin er mir hätte helfen können wie vorher, enthielt er sich offen jeden Vorteils für mich. Ich ertrug den schwierigen Umgang, die rauhen Antworten, ich duldete die stolzen Befehle des aufgeblasenen Kerls, ich duldete sein verstecktes Gelächter über meine Tätigkeit, und ich begann seine giftigen Späße zu ignorieren. Oft fügte er Schaden hinzu und übte wirklichen Ingrimm. Was immer an Haß ihm möglich war, galt ihm als gute Sache. Sein Gesicht zeigte Neid und finstere Miene und wilde Wut glühte im dunklen Rachen. Einzige Rettung war fortzugehen, aber er verbot es, zu recht, denn ich war, da ich Geld geborgt, sein Schuldner. Nach öfterem Bitten schließlich ließ er mich gehen. Bekannt ist, daß meinen Abgang er selber duldete.)

Die Ursachen des Konflikts zwischen Henning Lötz und Hutten lagen sicherlich in einer sozialen und habituellen Spannung im Verhältnis beider zueinander. Ohne Zweifel entwickelte Hutten im Hause Lötz ein gesteigertes Selbstbewußtsein als poeta doctus. Das ist aber nicht eitle Blendung, sondern beruht auf seinen, wenn auch im kleinen Kreis, anerkannten Fähigkeiten und auf seiner Herkunft, die er gegenüber den Lötze wohl manchmal allzu sehr betonte. In den Querelae ließ er Eobanus Hessus wissen: Ille ego, cui pater est vel eques vel divite censu, Cui fama est claros nobilis inter avos, Quique aliquid didici Musis et Apolline dignum. [Querelae II, 8,17-19] (Ich bin einer, der einen adligen und vermögenden Vater hat, der den Ruf genießt berühmter adliger Vorfahren und der etwas gelernt hat, was würdig der Musen und Apolls ist.)

Allerdings muß man biographisch berücksichtigen, daß Hutten zu dieser Zeit 21 Jahre alt war, mit Bravour in lateinischer Sprache zu dichten wußte und die Elemente des antiken Bildungsguts ganz sicher beherrschte und handhabte. Das war - bei aller Begabung - ohne eine vorausgegangene enorme Lernleistung nicht möglich; und dazu stand er seit 1508 noch unter den scheußlichen Auswirkungen der luetischen Infektion. Als Klosterschüler und vagierender Studiosus hatte Hutten in den dazwischenliegenden knapp zehn Jahren schwer gearbeitet. Henning Lötz hingegen war etwa 13 bis 14 Jahre älter als Hutten und beruflich bereits arriviert. Er fungierte als bestallter Ordinarius, war von Haus aus vermögend und gesinnungsmäßig konservativ-klerikal eingebunden. Seine Ämter zeigen, daß sowohl er als auch sein Vater in ihrer Art ehrenwerte Leute waren, bieder, nicht ohne Stolz auf das Erreichte, sei es im beruflichen Umfeld, sei es im Handelswesen. Von ihrer Warte aus mußte ihnen Hutten zunächst als förderungswürdig erscheinen, dann aber in seinen Ansprüchen und Ambitionen als stolzer - aber armer - Adeliger und neumodischer Poet nach und nach nicht besonders seriös vorkommen. Man

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beherbergte ihn, stattete ihn mit Garderobe aus und lieh ihm Geld, aber es kam von Hutten nichts zurück: Während Hutten sich möglicherweise in Henning Lötz das - erlernte - Abbild seines Maecenas ersah, waren der aber und sein Vater darauf bedacht, ihr geliehenes Geld und die sonstigen Auslagen zurückzuerhalten. Huttens Erwartung, daß der Geist durch die Wirtschaft gefördert werde, stieß auf erbitterte Ablehnung. Bezeichnenderweise hatten - nach Huttens Darstellung - die Schergen beim Überfall ihn nach der Ausplünderung verhöhnt und gesagt: I nunc et magni nomina Vatis habe! Forte novas aliquis, modo decantaveris illi, Donabit vestes, nudaque membra teget.

[Querelae 1,2,44-47] (Geh hin nun und nenn Dich einen großen Dichter! Vielleicht wird Dir einer, wenn Du ihn nur besingst, Neue Kleider schenken und die nackten Glieder bedecken.)

Der Rekurs auf die apostrophierten »magni nomina Vatis« könnte der Nerv des Konflikts gewesen sein. So trifft die biederen Lötze der Vorwurf, Huttens Begabung, seine sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten, nicht richtig erkannt zu haben, was kurz darauf aber merkwürdigerweise den Rostockern gelingt. Den jungen Dichter lassen sie erst ziehen, als er zusichert, seine Schulden zu begleichen. Am Gelde schieden sich in Greifswald die Geister. Was aber nun geschieht, wirft auf die Lötze, Vater wie Sohn, kein gutes Licht - sei es, sie wollten ihrerseits aus gekränkter Eitelkeit dem jungen Heißsporn Hutten einen Denkzettel verpassen, sei es, sie wollten aus verstockter Redlichkeit eine penible Restitution ihrer Investitionen haben: Sie lassen durch Amtsdiener Hutten überfallen, verprügeln und ausrauben. 4. Der Überfall Hutten machte sich in den letzten Tagen des Dezember im Einverständnis der Lötze von Greifswald nach Rostock auf, um dort eine Tätigkeit zu finden. Zwischen Greifswald und Heiligengeisthof wurde der Dichter von Amtsdienern des Bürgermeisters Wedeg Lötz überfallen. Hutten gibt davon folgenden, im Laufe der Jahrhunderte berühmt gewordenen Bericht: Cum molirer iter susceptum atque arva tenerem, Emisit comites perfidus ille suos: Forte fuit juxta salices ex ordine natas Alta palus duro pervia facta gelu; Hac ibam, timidusque nihil, tutusque favore, Ut peterem docti moenia Rostochii: Erumpunt, subitoque viri crudele minantur, Ni faciam parvas omnia dando moras. Oravi, fudique preces crudelibus istis,

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Nec puduit tristes complicuisse manus. Restabamque nihil, neque enim restare valebam, Effetusque febri, vulneraque illa gerens. Oranti, qui primus erat, morbumque querenti: Non dubita, tecum jam bene, dixit, erit. Detraxitque humero vestes; ego plurima flebam, Et duxi oratos in pia vota deos; Tendit in adversum longa ille hostilia pectus Atque ait: Hie, taceas ni modo, vulnus erit. Deposui raptos, humerum nudatus, amictus, Caetera crudeles eripuere viri. Parva fuit, modicis ita tunc compacta libellis, Sarcina de nostro fertilis ingenio; Hanc tenui saltern: nam qua ditescere possent, Non, quamquam cupidis, ilia rapina fuit; Testatusque deos, cum nil fera corda moverem, Rapta est ex manibus sarcina tenta meis. Nudato illusere viri, pariterque ferebant: I, nunc et magni nomina Vatis habe! Forte novas aliquis, modo decantaveris illi, Donabit vestes, nudaque membra teget. Atque ita ridebant; ego, quam per frigora possem, Aggredior coeptam continuare viam. [Querelae 1,2,17^8] (Kaum ist begonnen der Weg, und kaum nur bin ich im Freien, Siehe, so schicket der Mensch seine Gesellen mir nach. Grade war bei den Weiden, die reihenweise dort stehen, Gangbar geworden der Sumpf durch den gewaltigen Frost; Ueber ihn ging ich getrost, und nicht das Geringste befürchtend, Das nach Rostock ich käm' zu der Gelehrsamkeit Sitz; Siehe, so brechen hervor mit wilder Drohung die Männer: Steh' so rufen sie zu, gieb, was du hast, uns heraus! Ach ich bat und beschwur mit Flehn die grausamen Menschen, Ja die Hände sogar hielt' ich gefaltet vor Angst. Wehren wollt' ich mich nicht, auch gebrach's an Kraft mich zu wehren. Da vom Fieber erschöpft, so wie von Wunden ich war. Wie ich Armer nun fleh' und jammere, sagte der Erste: Sey du nur unbesorgt, bald wird es gut mit dir seyn. Und der Schulter entriss er den Rock, ich weinte noch lauter, Und mein frommes Gebet stieg zu den Göttern hinauf. Da nun hielt auf die Brust er mir die spitzige Lanze, Und, wenn nicht plötzlich du schweigst, sprach er, durchstech' ich dich gleich. Nieder legt' ich, die Schulter entblösst, die geraubten Gewände, Alles Uebrige auch raubten die Grausamen mir. Auch ein Bündelchen hatt' ich, gepackt mit kleinen Schriften, Viel vom eigenen Geist war in demselben verwahrt; Dies hielt fest ich bis jetzt, denn, so gierig die Menschen auch waren, Hatte doch diesen Schatz keiner bisher mir geraubt; Und ich flehte zum Himmel; da nichts die Wilden bewegte, Rafften das BUndelchen auch mir aus der Hand sie hinweg. Und sie verlachten den Nackten und alle riefen mit einmahl: Geh' nun und sage der Welt, was für ein Dichter du bist! O, es zeigt sich wohl einer, der, wenn du ihn wacker besingest, Neue Kleider dir schenkt, und dir die Blosse bedeckt.

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Hans-Gert Roloff Also verlachten sie mich; so viel vor Frost ich nur konnte, Setz' ich Elender drauf fort den begonnenen Weg.)

Der schmachvolle Überfall rief bei Hutten ein unbändiges Rachegelüst an den Lötze hervor. Schwer krank, mit Hilfe armer Leute, schleppte er sich bis Rostock - an die hundert Kilometer Fußmarsch, im Winter mit offenen Wunden und nur dürftig gekleidet. Seine Lage war deprimierend, und er schätzte sie auch realistisch so ein: Musicus Huttenus fortunam expertus iniquam Et male sublimi trusus ad ima loco, Nudus, egens, expes, desertus, febribus ustus. [Querelae 1,4,3-5] (Hutten, der Musensohn, hat die mißgünstige Fortuna kennengelernt und ist vom erhabenen Ort übel in die Hefe geworfen: nackt, arm, ohne Hoffnung, einsam, von Fiebern gebrannt.)

Aber alsbald wurde er in Rostock ehrenvoll aufgenommen (»honorifice susceptus«) und freigebig gehalten (»liberaliter habitus«); insbesondere nahm sich seiner der Philosophieprofessor Egbert von Harlem an, der ihn buchstäblich aus dem Schmutz einer Vorstadt-Kaschemme in seine Burse holte und weitgehend gesund pflegte. Nach seiner Genesung durfte Hutten in Rostock Vorlesungen halten (»humanas litteras professus«), 9 er wurde als »vates novus« (II, 1, 26) geehrt. Die akademische Jugend und andere Wißbegierige strömten in seine Vorlesung, um die neue Lehre zu hören: Vermutlich trug er über Dichtkunst und Metrik vor. Über Rostock war Hutten in seinem Bericht an Eobanus Hessus des Lobes voll: Rostochiam spolio deveni nudus in urbem, Inveni doctos qualibet arte viros, Inveni faciles et Iibertatis amicos. [Querelae II, 8,99-101] (Ausgeraubt kam ich in die Stadt Rostock, Ich fand dort gelehrte Männer jeder Art Ich fand dort zugängliche Freunde und Freizügigkeit.)

Hutten begann nun seinen literarischen Rachefeldzug gegen die Lötze mit Elegien, die er an verschiedene Leute richtete und in denen er seine unglückliche Lage bekanntzumachen suchte. Unter den Adressaten befanden sich Wolfgang von Ebersteyn, Graf zu Naugard, Joachim Nigemann in Rostock, Herzog Bogislaw X. von Pommern, der Sekretär des Herzogs Valentin Stojentin, ein Studienfreund aus Frankfurt/Oder, Huttens Onkel Ludwig von Hutten, Niclaus Marschalk, ein großer Gelehrter in Rostock und am Hofe in Schwerin. Ihnen gegenüber führt Hutten Klage über die ihm von den Lötze angetane Schmach, sucht sie gegen die Greifswalder zu aktivieren und bittet nebenher um Unterstützung für seine Person. 5

Otto Krabbe: Die Universität Rostock im 15. und 16. Jahrhundert. Rostock 1854; Reprint: Aalen 1970, S. 269f.

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U m in aller Öffentlichkeit darzulegen, daß das Verhalten der Lötze ein skandalöses Verbrechen war (»ostendam tarnen hoc non decuisse scelus«; II, 8 , 7 8 ) , und daß der Lötz nun Huttens Genius zur gerechten B e u t e werden wird (»Ipse erit ingenio justa rapina meo«; II, 8, 82), konzipiert er unter Verwendung der einzelnen ausgegangenen Elegien eine zweibändige Invective unter dem bezeichnenden Titel: Ulrici Hutteni, equestris ordinispoetae, in Wedegum Loetz, Consulem Gripeswaldensem in Pomerania, etfilium ejus Henningum, utr. Juris Doctorem, Querelarum libri duo pro insigni quadam injuria sibi ab Ulis facta. D e r Band ist im Manuskript am 15. Juli 1510 abgeschlossen und erscheint im Herbst 1510 bei Hanau in Frankfurt/Oder.

II D i e Querelae sind Huttens erste Buchpublikation; 1 0 sie sind in zwei Bücher zu jeweils 10 Elegien eingeteilt. D i e Entstehungszeit umfaßt maximal fünf Monate, d . h . Frühjahr und Frühsommer 1510 in Rostock: die Arbeit an den 10

Die Querelae haben bisher keine eingehende Untersuchung und Interpretation erfahren. David Friedrich Strauß, Ulrich von Hutten (1871). Leipzig 1927, S. 49-57, macht nur einige allgemeine Angaben zur Loetze-Affaire und zu den Querelae. Auch Georg Ellinger, Geschichte der Neulateinischen Literatur Deutschlands I: Italien und der deutsche Humanismus in der neulateinischen Lyrik. Berlin 1929, S. 465-470, hat die Querelae nur äußerlich betrachtet, wenngleich er dem jungen Dichter einen »eigentümlichen Charakter der Sprache« und einen »stürmischen Hauch der Leidenschaft« zuerkennt. Paul Kalkhoffs moralistische Verurteilung Huttens schlägt sich auch in seiner inadäquaten Ansicht der Loetze-Affaire und der Querelae nieder (Huttens Vergangenheit und Untergang. Der geschichtliche Ulrich von Hutten und seine Umwelt. Weimar 1925). Heinrich Grimm, Ulrich von Hutten, wie Anm. 1, S. 145-162, hingegen treibt das Huttenbild vielleicht zu stark in eine nationalisierende Idealität; zu den Querelae heißt es: »Für diese mit Energie, Zorn, Bitterkeit und Kühnheit bis zum Bersten geladenen Angriffs-Elegien sind Vater und Sohn Lötz [...] nur Folie und für das ganze letzten Endes nur von episodischer Bedeutung« (S. 156). Grimms literarische Ausführungen zu den Texten basieren auf Ellingers Ansichten. - Hajo Holborn, Ulrich von Hutten, Göttingen 1968, S. 37f., sieht in den Lötze-Klagen »schon ganz das Gepräge des Huttenschen Charakters« und weist auf die »Eloquenz« als »ein Mittel zweckbestimmten Handelns« in Huttens Schreibart hin; allerdings heißt es später (S.98): »Hutten ist der Versuchung, seine schriftstellerische Arbeit zu schlechten Zwecken zu mißbrauchen, als Jüngling erlegen, wie er die >Lötze-Klagen< abfaßte. Einen derartigen Mißbrauch um eigensüchtiger Vorteile willen hat er später nicht mehr begangen [...]«. - Eckhart Schäfer, Ulrich von Hutten als lateinischer Poet. In: Pirckheimer-Jahrbuch 4 (1988), S. 57-78, der im ersten Teil seines Vortrages (S. 60-68) auf die Querelae eingeht, hat für Huttens erstes Werk auf eine mögliche Orientierung des jungen Poeten an Celtis hingewiesen, obwohl Hutten diesen in seiner Poetenschau merkwürdigerweise nicht erwähnt. Indem Hutten in beiden Büchern der Querelae seine Gedichte in Zehnergruppen anordnet, greift er durchaus, wie Schäfer überzeugend zeigt, auf Strukturen bei Vergil, Horaz, Tibull und Ovid zurück, den Schäfer als besonderes Vorbild Huttens für die Querelae ansetzt. - Allgemein informierend die knappe Monographie von Eckhard Bernstein, Ulrich von Hutten in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1988; zu Huttens auto-

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Elegien war aber nicht die einzige Tätigkeit Huttens in dieser Zeit; sie müssen ihm flink von der Hand gegangen sein. Die Struktur des Bandes läßt Huttens vorzügliche Vertrautheit mit den rhetorischen Techniken der Argumentation und der Lösung der Affekte beim Leser erkennen. Der Band enthält viele Signale und ist bis ins Einzelne durchkomponiert. Das beginnt schon beim Buchtitel, in dem Hutten sich stolz als »equestris ordinis poeta« dem »Consul« und »Doctor« gegenüberstellt und auf das ihm zuteilgewordene brandmarkende Unrecht hinweist. Hermann Trebels Widmungsgedicht, das witzig-satirisch Henning Lötz in den Mund gelegt wird, visiert gleich das eigentliche Thema der Querelae an: die über alles zu setzende Erhabenheit der dichterischen Existenz, die sich im Besitz von »numen« (der göttliche Geist), »libertas« (Freiheit), »animus celebritasque« (froher Sinn und Ansehen), »majestas regia et potestas« (königliche Erhabenheit und Macht) und die »cura deum« (Schutz der Götter) manifestiert. »Res est maxima maximus poeta«: Die höchste Sache der Welt ist es, ein sehr großer Dichter zu sein! Dagegen haben sich die Greifswalder Lötze vergangen; ihnen gebührt Schmach und Schande: Die sechzehn Rostocker Professoren hingegen haben Anspruch und Würde des poeta erkannt und durch ihre Taten respektiert; ihnen widmet Hutten die Querelae und bedenkt jeden dankbar mit einem epigrammatischen Vierzeiler. Da Widmungen nur mit Genehmigung der Adressierten ausgehen durften, kann Hutten diese Rostocker Gelehrten gegen die Greifswalder glänzend ausspielen - zu deren Ärger und zur Bewußtmachung ihrer Schandtaten, denn seine Aufgabe als Dichter sieht er expressis verbis darin, »bonos laudare quam vituperare malos« - eine alte ethische Anspruchsmaxime der Rhetoren und Dichter! Das erste Buch ist keine bloße Addition einzelner Ideen, sondern läßt eine überlegte Rede-Struktur erkennen. Die e r s t e E l e g i e , ohne Anrede an einen Adressaten, fungiert als Proömium des ersten Buches mit Pathos erregenden, stark affektiven Textsequenzen aus dem Munde des Dichters. Hutten ruft die Götter und Christus, den leiderfahrenen, an. Seine emphatische Klage ist dreifach variiert: Krankheit, Einsamkeit und Gewalt der Lötze. Mitleidheischend beschreibt Hutten zunächst seine luetische Infektion mit detaillierter Benennung der Symptome, wie viertägiges Fieber, Schüttelfrost und hohe Temperaturen, Mattigkeit des Kopfes, Abmagerung, ausgetrocknete Haut, große Schwäche der Gliedmaßen, Appetitlosigkeit und tiefe offene Wunden und Beulen. Seit zwei Wintern (exakte Zeitangabe: seit Leipzig 1508) laboriere er daran und habe keine Aussicht auf biographischen Reflexionen vgl. nunmehr auch Wilhelm Kühlmann: Edelmann Höfling - Humanist. Zur Behandlung epochaler Rollenprobleme in Ulrich von Huttens Dialog »Aula« und in seinem Brief an Willibald Pirckheimer. In: Höfischer Humanismus. Hg. von August Buck. Weinheim 1989 (Mitteilung XVI der Kommission für Humanismusforschung), S. 161-182.

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Heilung. Er beklagt die Einsamkeit. Fern der Heimat am Main lebe er in Krankheit und Not. Schließlich beklagt er den Überfall durch die Lötze, die ihm die warme Kleidung geraubt haben, so daß sich die Krankheit bei der Kälte verschlechterte. Sein jämmerlicher Zustand, in dem er erbarmungswürdig am Wegesrand gelegen habe, habe die Gegner nicht gerührt: »nulla viro pietas (inest)!« Alle wilden Tiere und Übeltäter der Welt hätte sein Anblick erschüttert - Henning Lötz hat ein steinernes Herz. Harte Schicksalsschläge und die Krankheit des Dichters werden ihm angewünscht. Der Autor entbindet sehr geschickt die Affekte seiner Leser und gewinnt so ihre parteiliche Sympathie. Die z w e i t e E l e g i e ist als epischer Bericht konzipiert, der Lötzes verruchte Tat erzählt. Hutten legt die Vorgänge des Überfalls als Narratio dar; er lebe nur noch unter schrecklichen Schmerzen und Tränen. Mit einem emphatischen Kontrastbild schließt er die Narratio: Der reiche Lötz schläft schnarchend bis neun Uhr morgens, freut sich auf den Tag, lebt in Üppigkeit und verlacht die Bedürftigen und die Musen; der arme Poet hingegen vegetiert in Schlaflosigkeit und Schmerzen. Dem wird sehr entschieden die eigene Position entgegengesetzt: »Nos Celebres arteis pulchro jungemus honesto«. Wir vereinen die Künste des Ruhms mit dem Schönen und Guten - oder anders: was bleibt, stiften die Dichter. Die folgenden sieben Elegien sind Anrufe an verschiedene Personen, um diese zur Stellungnahme zu den unerhörten Lötze-Taten zu bewegen. Sie haben die Funktion der Argumentatio unter verschiedenen Gesichtspunkten - der Nützlichkeit des Dichters für den nachlebenden Ruhm; der ehrenvollen Beurteilung seiner Mittellosigkeit: durch den Überfall, nicht durch Spiel, Gelage, Liebschaften verursacht; der juristischen Aktivität des Landesherrn gegen den Frevel der Lötze; der Gefahr der amtlichen Rechtsfindung durch Bestechung und falsche Räte; der Bedeutung seines adligen Herkommens; der Gutgläubigkeit Huttens trotz der Warnungen eines Freundes vor den Lötze; soll Hutten die Lötze verbal attackieren oder nicht? In die einzelnen Elegien sind außerdem sehr starke affektive Themen eingemischt, die den Leser beeinflussen sollen: so die Fortuna-Vorstellung vom ständigen Wechsel im Leben, so der Erbarmens-Appell um Gotteswillen, der den Einsatz der Barmherzigkeit lohnen wird, so die Warnung vor dem jüngsten Gericht, wenn der Angerufene seine Hilfe versagt, so die variierende Wiederholung des Krankheitsmotivs, des Raubes, der Ausplünderung. Diese Argumentations-Elegien stellen ein dichtes Geflecht von variierten Motiven, Themen, Fakten dar, um gerade durch die Wiederholung auf den Leser einzuwirken. Die z e h n t e E l e g i e ist »ad lectorem« gerichtet. Hutten bietet die Peroratio des ersten Buches. Das Facit, das er aus dem vorher dargelegten zieht, ist im Fortuna-Thema gegeben: trotz stolzen Herkommens, vermögender Familie, Wohlstand und Glanz daheim, lebe er jetzt in Armut und

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Elend. Aber genau an dieser Stelle bricht sein Bewußtsein durch, was Wesen und Ziel seines Lebens ist. Non volui patrios liber vacuusque penates, Non volui noti rura tenere soli: Plus placuit, loca posse mihi peregrina subire, Dura vigeat studiis laeta juventa suis, Dum vigeant anni, vegetique simillima veris, Exhibeant vires tempora prima bonas. Nusquam habitare magis quam me delectat ubique Undique sunt patriae rura domusque meae. Cumque alius dulces dubitet liquisse parentes Nec velit a patrio longius esse solo, Me juvat esse aliquid, famamque extendere factis, Et tepidum obscura tollere nomen humo. [Querelae 1,10,27-38] (Frei zu leben geneigt verschmäht' ich daheim die Penaten Und die heimische Flur wollt' ich nicht kennen allein; Mehr gefiel es dem Sinn des Auslands Orte zu schauen, Da der Bestrebungen froh blühende Jugend mir war, Da mir blühten die Jahr, und, gleich den Tagen des Lenzes, Mir des Lebens Beginn keimte zu herrlicher Kraft. Nirgend so sehr gefällts, als überall mir zu wohnen, Wo ich weile, da ist Haus mir und heimische Flur; Und wenn mancher sich sträubt, zu gehn von den lieben Verwandten, Und die Stunde verwünscht, die von der Heimat ihn trennt, Freu ich mich etwas zu seyn, und Ruhm zu gewinnen durch Thaten, Und zu heben das Haupt hoch aus dem Dunkel empor.)

In diesen Versen hat Hutten sich selbst gefunden. Die erste größere Veröffentlichung enthält bereits das Grundkonzept seines selbstgeplanten Lebensganges als unsteter Wanderer - aber, wie es noch Vers 49 heißt: Diese Armut ist Reichtum. Von dieser Position aus formuliert er den Gegensatz zur Lebensform des Henning Lötz, die er darin sieht: ruhig zu Hause sitzen, seine Begierden stillen, sich an Liebesaffairen ergötzen, Gelehrte vexieren und eitlen Stolz herauskehren. So wird Lötz zum Antipoden Huttenschen Lebensgefühls, die Greifswalder Erfahrungen, so negativ sie waren, haben den Prozeß der eigenen Bewußtwerdung in Gang gesetzt. Insofern sind die Querelae ein wichtiges Zeugnis für Hutten und auch für seine Zeit. Das z w e i t e Buch hat zwar die gleiche Struktur wie Buch I, variiert aber nun thematisch die Elegien. Sie ziehen in gewisser Weise die Konsequenz aus dem verbalisierten Lebenskonzept zu Ende des ersten Buches. Zwar sind die Lötze-Probleme die gleichen, aber der Kreis der Adressaten ist ein anderer: es sind Freunde und Dichterkollegen, Mitstreiter und Weggefährten. Die Anerkennung seiner Person und seiner literarischen Leistung durch die Rostocker bewirkt einen Klimawechsel im Dichtwerk. Die LötzeAktivitäten nach dem Überfall werden zwar notiert, aber mit freundlicher Distanz; Henning Lötz kann gegen einen Dichter und dessen Genius nichts bewirken. Hutten baut im zweiten Buch eine Exempla-Kette von acht

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Elegien auf, deren scheinbare Zufälligkeit doch auf die Resonanz bei den Dichterfreunden und Kollegen abhebt und insofern trotz scheinbar lockerer Fügung streng komponiert ist. In diesem Buch gewinnt Hutten seinen >roten Faden< dadurch, daß er an die Freunde appelliert: Sie sollen die Lötze dazu bewegen, ihre Aktivitäten gegen Hutten einzustellen. So ruft er dazu den Bischof Dietrich von Bülow auf, einen Bekannten aus Frankfurt an der Oder, so seine Zuhörer in Rostock, so in seiner noblen Dankeselegie auch Egbert von Harlem, seinen Freund und Wirt in Rostock; so warnt er einen Schwätzer, so ruft er Crotus Rubeanus und Eobanus Hessus zu Unternehmungen gegen die Lötze auf, so zeichnet er in der Elegie für den sonst nicht bekannten Magister Jacob Bauer, der jung verstorben war, ein musterhaftes Lebensbild für sich als Exempel auf: Jacob Bauer, aus Lübecker Kaufmannsfamilie stammend, hatte in geistigen Interessen seine Lebensmitte gefunden. Hutten formuliert in dieser Elegie sichtlich sein eigenes Ethos. Die Peroratio des zweiten Buches stellt den Kollegen und Freunden ein großes Tableau gleichgesinnter Poeten an die Seite. Diese Dichterschau des frühen 16. Jahrhunderts umfaßt fünfzig Poeten aus vielen deutschen Regionen. Von solchem Katalog versprach sich Hutten Beachtung seines sozialen Standeskampfes für die »vates novi« und integrierte sich mit seinem ersten Werk gleich in diesen Kreis. 11 Ob Hutten alle 49 Musensöhne persönlich oder die meisten nur aus ihren Publikationen kannte, läßt sich nicht sagen. Im Hinblick auf Huttens Jugend ist aber diese Übersicht der Ausweis einer beachtlichen Leistung und Kompetenz. Diesem ganzen lateinischen Nationalparnaß - ausgenommen ist nur der südöstliche Raum, also Österreich - legt er die Lötze-Affaire dar: zur Warnung vor solchen Leuten, die für alle neuen Dichter eine Gefahr seien. Was er sich von seinen Pegasus-Kollegen wünscht, sind Solidarität mit ihm und das Gefühl, daß sie sich in den Hutten angetanen Schmähungen der Lötze selber betroffen zeigen. Hermann Trebellius, poeta laureatus und Freund aus Erfurter und Frankfurter Zeiten, gab in seinem Begleitgedicht, das hinter dem Katalog steht, die Antwort: Die Position des Dichters allgemein erfordere es, Verhaltensweisen wie die der Lötze nicht zu dulden: Quid patimur vates, divino numine pleni, Atque supernorum maxime cura deum? Esto! sit quisquam doctor consulque superbus 11

Hutten legt Wert darauf, seine Zugehörigkeit zur literarischen Avantgarde zu demonstrieren; vgl. die Verse in II, 6, an Crotus Rubeanus: Notus amor nostri tentaque foedera votis Me sortem hanc variis insinuare jubent. (Die bekannte Liebe zu uns und die gelobten Bündnisse fordern, daß ich mein Schicksal verschiedenen Männern mitteile.)

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Et Phoebi telis ictus uterque cadat! (Was - wir Dichter, voll göttlichen Geistes und der höchsten Sorge der himmlischen Götter teilhaftig, sollen es dulden? Mag einer schon Doktor und stolzer Bürgermeister sein, darf er heilige Dichter mit Recht belangen? [ . . . ] Beide sollen unter Apolls Geschoß fallen!)

Die Querelae im ganzen sind durchsetzt von dem Bewußtsein, daß der Intellektuelle, der poeta doctus, in der Gesellschaft eine Funktion habe und daß ihm Macht durch seine Handhabung des Wortes zukomme. So heißt es in der sechsten Elegie des ersten Buches: Verba movent animos, verbaque pondus habent. (Worte bewegen den Geist, Worte haben Gewicht.)

Hutten ist sich dieser Macht des Wortes in der Greifswald-Rostocker Affaire bewußt geworden; für ihn wurde sie lebensprägend. Insofern sind die Querelae das Werk der Huttenschen Selbstfindung; aber nicht nur das. Der junge Hutten hat - aus Integrationsbedürfnissen heraus - die Vorgänge verallgemeinert und so die Position des poeta doctus in seiner Zeit konzipiert. Subjektives und rollenhaftes Bewußtsein verschmelzen, und zwar so, wie die Dichterschau es symbolisiert, daß der individuelle Fall zum epochalen Ereignis stilisiert wird. Für den jungen Hutten kann gelten, daß für ihn der Streit mit den Lötze gleichsam zur Droge der Kreativität wurde. Im weiteren geschichtlichen Verständnis aber standen sich hier in Greifswald 1509 scholastischer Systemzwang, gepaart mit merkantilem Realitätssinn, und der durch Hutten vertretene soziale Anspruch einer neuen Intellektualität gegenüber, die sich als Machtfaktor zu gerieren suchte. In den Epistolae obscurorum virorum läßt Hutten seinen Magister Schlauraff (II, 9) verängstigt nach Köln über Hermann von dem Busche berichten: »mortificavit unum cum carminibus.« (Er hat einen mit Gedichten umgebracht.)

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Johannes Bugenhagens Pomerania Humanistische Einflüsse auf die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern

Im Rahmen eines Symposions über Literatur und Literaturverhältnisse in Pommern in der frühen Neuzeit überschreitet ein Vortrag über Bugenhagens Pomerania ganz ohne Zweifel die von der Gesamtthematik her gesetzten Grenzen. Zur Literatur im elementaren Sinne, d.h. zu gedruckten Buchstaben wurde dieses Werk bekanntlich erst im Jahre 1728 mit der Edition durch Jakob Heinrich Balthasar. 1 Vor dieser ersten Drucklegung ist begreiflicherweise eine breitere Wirkungsgeschichte der Pomerania nur in bescheidenem Maße zu beobachten. Sie ist freilich nicht ohne Wirkung geblieben. So haben sie sowohl Thomas Kantzow, der Chronist des pommerschen Herzogshauses in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, 2 als auch Jakob Runge, der bedeutendste unter den vorpommerschen Generalsuperintendenten jener Zeit, 3 gekannt und auf ihr Vorhandensein in bestimmten Kreisen in Pommern hingewiesen.4 Nach Jähnkes Urteil in seiner weithin noch immer grundlegenden Dissertation aus dem Jahre 1881 hat sie ohne Frage »den Anstoss zu der regen historiographischen Thätigkeit« gegeben, »welche während des 16. und 17. Jahrhunderts so zahlreiche Werke hervorbrachte«, und sie »diente vielen derselben im Namen und Einrichtung als Vorbild, wurde selbst durch Zusätze erweitert [. ..].« 5 Nachweislich ist sie von einer ganzen Reihe pommerscher Geschichtsschreiber des 16. und 17. Jahrhunderts benutzt worden, so zum Beispiel von Kantzow, Klempzen, Eickstedt, dem Verfasser der sogenannten Schoma1

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Joh. Bugenhagii Pomerania in quatuor libros divisa [ . . . ] . Ex manuscripto edidit Jac. Henr. Balthasar [ . . . ] . Gryphiswaldiae 1728. Zu Thomas Kantzow vgl. Roderich Schmidt: Die »Pomerania« als Typ territorialer Geschichtsdarstellung und Landesbeschreibung des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. In: Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 17. Jahrhundert. Hg. von H.-B. Harder. Köln, Wien 1983 (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der slawischen Studien 5), S. 56 mit Anm. 45-53 (Literatur). Zu Runge vgl. Klaus Harms: Jakob Runge. Ein Beitrag zur pommerschen Reformationsgeschichte. Ulm 1961 (mit Literatur in den Anmerkungen). Nachweise in: Johannes Bugenhagens Pomerania. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alterthumskunde von Otto Heinemann. Stettin 1900, Nachdruck besorgt von Roderich Schmidt. Köln 1986, S. XI, Anm. 1; im folgenden zitiert: Heinemann. G. Jähnke: Die Pomerania des Johannes Bugenhagen und ihre Quellen. Diss. Göttingen 1881, S. 22f.

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kerschen Chronik, Engelbrecht, Mikraelius und Heiler. 6 Neben dem Autograph Bugenhagens, das sich im Besitz der Greifswalder Universitätsbibliothek befindet, haben noch mindestens vier weitere Handschriften existiert. 7 Die Pomeratiia hat also kein bloßes Winkeldasein im herzoglichen Archiv gefristet. Gleichwohl, eine stärkere Wirkung konnte sie bis zu ihrer späten Drucklegung naturgemäß nicht erzielen. »Sie befand sich«, und hier sei erneut Jähnkes Dissertation zitiert, »eigentlich nur in den Händen der Gelehrten, welche dem herzoglichen Hof nahestanden, während sie den übrigen unbekannt blieb.« 8 Mit der Wirkungsgeschichte der Pomerania nach der Edition durch Balthasar dürfte es nicht viel besser bestellt gewesen sein. Sie blieb ein Werk, das für Gelehrte und dann im 19. und 20. Jahrhundert mit der beeindruckenden Entwicklung der Geschichtswissenschaft für die Geschichte der Historiographie und vor allem für die pommersche Landesgeschichte Bedeutung erlangte. Sich intensiver mit ihr zu beschäftigen, blieb jedoch im Grunde nur wenigen Experten vorbehalten, zweifellos nicht nur aus sachbedingten Gründen, sondern auch deshalb, weil sie in ihrer lateinischen Sprachgestalt (eine Übersetzung ins Deutsche fehlt bis auf den heutigen Tag 9 ) keine weite Verbreitung fand. So wäre, wenn man strenge Maßstäbe anlegen wollte, die Frage zu stellen, ob sich eine Beschäftigung mit Bugenhagens Pomerania von der Thematik dieses Symposions her überhaupt rechtfertigen läßt. Trotz mancher Bedenken, die sich hier einstellen könnten, wird man darauf doch im positiven Sinne antworten können. Die Rechtfertigung liegt, so scheint mir, und da meldet sich vor allem das Urteil des Historikers, einmal darin, daß Bugenhagens Pomerania den Anfang pommerscher Landesgeschichtsschreibung markiert, also ein Fundamentaldatum innerhalb der territorialen Historiographie, und daß sie, wie bereits angedeutet, für deren Entwicklung nicht bedeutungslos geblieben ist. Als erstes Zeugnis territorialer Geschichtsdarstellung und Landesbeschreibung in Pommern im 16. Jahrhundert hat Roderich Schmidt die Pomerania vor einiger Zeit behandelt und mit Recht festgestellt: »Eine auf das Gesamtterritorium der Herzöge aus dem Greifengeschlecht blickende Historiographie im Sinne einer Darstellung der Geschichte des Landes von den Anfängen bis zur Gegenwart beginnt im Jahre 1517/18 mit der Pomerania des Johannes Bugenhagen«. 10 Zum anderen muß das Werk, und das führt zu Aspekten der Gestaltung und des Inhalts, als bemerkenswerter Beleg für Wirkungen humanistischen Gedankengutes auf Geschichtsbewußtsein und -Verständnis 6 7 8 9

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Ebd. Vgl. dazu Heinemann, wie Anm. 4, S. VI-XI. Jähnke, wie Anm. 5, S. 23. Eine teilweise Übertragung ins Deutsche erfolgte in der sog. Wendisch-Bugenhagenschen Chronik; vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. XI, Anm. 6. Schmidt, wie Anm. 2, S. 49.

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im 16. Jahrhundert in Pommern gelten. Auf diesen Gesichtspunkt wird im folgenden näher einzugehen sein. Wenden wir uns zuvor jedoch der Entstehung der Pomerania und ihrem Verfasser zu! In der ersten Hälfte des Jahres 1517 richtete der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der vor allem als Landesherr Luthers in das Licht der Geschichte rückte, 11 an den pommerschen Herzog Bogislaw X. die Bitte, den bedeutendsten unter den Greifenherzögen, in seinem Lande nach Materialien und Schriften zur sächsischen Geschichte forschen zu lassen. 12 Der eigentliche Impuls für die Abfassung der Pomerania ist also von außen gekommen. Ein derartiges Anliegen war im 16. Jahrhundert keineswegs ungewöhnlich. Dynastische Interessen der aufstrebenden und selbstbewußten Landesfürsten und eine vom Humanismus angeregte Zuwendung zu stammesgebundener Landesgeschichte berührten sich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in zunehmendem Maße und führten zu zielgerichteten Bemühungen um die Erschließung der Territorialgeschichte, die einen eigenständigen und vollwertigen Platz in und neben der Reichsgeschichte beanspruchte. Die wohl deutlichste Parallele zu dem Vorhaben Friedrichs des Weisen, der seinen Sekretär Georg Spalatin bereits 1510 mit der Abfassung einer sächsischen Geschichte beauftragt hatte, 1 3 stellt der 1517 erteilte Auftrag der Wittelsbacher an Johannes Turmair (Aventinus, 1477-1534) dar, eine bayerische Geschichte zu schreiben und in Klosterbibliotheken nach einschlägigen Materialien und Urkunden zu forschen. 14 Für die Realisierung der Bitte Friedrichs des Weisen geriet in Pommern ein Mann in das Blickfeld Bogislaws, der durch seine erfolgreiche Tätigkeit in Treptow a. d. Rega in zunehmendem Maße auf sich aufmerksam gemacht hatte: Johannes Bugenhagen, der spätere Reformator und Vertraute Luthers und Melanchthons. 15 Zum damaligen Zeitpunkt, d. h. im Frühsommer 11

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Eine umfängliche Biographie Friedrichs des Weisen ist 1984 erschienen: Ingetraut Ludolphi: Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463-1525. Göttingen 1984. Vgl. dazu Heinemann, wie Anm. 4, S. II. Das Schreiben des sächsischen Kurfüsten an Bogislaw ist nicht erhalten. Vgl. dazu Irmgard Höss: Georg Spalatin, 1484-1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. Weimar 21989, S. 46f. Vgl. dazu H. Bollnow: Die pommerschen Herzöge und die heimische Geschichtsschreibung. In: Baltische Studien, N.F. 39 (1937), S.9; vgl. auch Winfried Trillitzsch (Hg.): Der deutsche Renaissancehumanismus. Leipzig 1981, S. 75. Eine dem heutigen Forschungsstand gemäße Biographie Bugenhagens fehlt zur Zeit noch. Zwei nur wenig unterschiedliche Lebensbilder Bugenhagens erschienen 1984 und 1985 anläßlich des 500. Geburtstages Bugenhagens aus der Feder des Verfassers. Hans-Günter Leder: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Leben und Wirken. In: ders. (Hg.): Johannes Bugenhagen - Gestalt und Wirkung. Berlin 1984, S. 8ff.; ders.: Leben und Werk des Reformators Johannes Bugenhagen. In: ders./Norbert Buske: Reform und Ordnung aus dem Wort. Berlin 1985, S.9ff. (übernommen auch in: Karlheinz Stoll (Hg.): Kirchenreform als Gottesdienst. Der Reformator Johannes Bugenhagen 1485-1558. Hannover 1985, S. 12ff.). Vgl. ferner Verf.: Zum Stand und zur Kritik der Bugenhagenforschung. In: Herbergen der Christenheit 11 (1977/78), S.65ff., sowie

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1517, wirkte er noch in Pommern als Priester, kirchlicher Notar und vor allem R e k t o r der Ratsschule in Treptow. Darüber hinaus dürfte etwa zur gleichen Z e i t o d e r bald danach - im Z u g e von Reformbestrebungen an d e m vor den Toren der Stadt gelegenen Prämonstratenserkonvent Belbuck seine Berufung zum dortigen Lektor für Bibelauslegung und patristische Studien ergangen sein. 1 6 Der Entschluß Bogislaws, diesen Mann mit der A u f g a b e zu betrauen, im Lande nach geschichtlichen Quellen zu forschen und alle Schriften zu sammeln, welche die Vergangenheit betrafen ( » o m n e s libros [ . . . ] antiquitatem contentes« 1 7 ), kam nicht von ungefähr. Offenkundig spielte der herzogliche Rat Valentin von Stojentin, ein gebildeter und vor allem u m das geistig-kulturelle Wohl des Landes bemühter M a n n , 1 8 dabei eine vermittelnde Rolle. Er lenkte Bogislaws A u f m e r k s a m k e i t auf den Treptower Schulrektor. 1 9 Augenscheinlich war B u g e n h a g e n für ihn kein U n b e k a n n t e r mehr. Was einschlägige Überlieferungen für jene Zeit übereinstimmend b e z e u g e n , 2 0 war auch bei H o f e in Stettin aufmerksam

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ders.: Zum gegenwärtigen Stand der Bugenhagenforschung. In: De Kennung. Zeitschrift für plattdeutsche Gemeindearbeit. Jg. 8 (1985), H. 1/2, S. 21ff. Eine informative Kurzdarstellung von Leben und Werk Bugenhagens auf neuerem Kenntnisstand bietet Hans Hermann Holfelder: Artikel: Bugenhagen, Johannes. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. VII (1980), S. 354ff. Von älteren Bugenhagenbiographien sind hier zu nennen: Karl August Traugott Vogt: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Leben und ausgewählte Schriften. Elberfeld 1867; Hermann Hering: Doktor Pomeranus. Johannes Bugenhagen. Ein Lebensbild aus der Zeit der Reformation. Halle 1888 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 22). Vgl. dazu Hans-Günter Leder: Bugenhagens reformatorische Wende - seine Begegnung mit Luthers Schrift »De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium«. In: Territorialgeschichte. Entwicklung - Aufgaben - Beispiele. Hg. vom Rektor der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald. Greifswald 1984, S.59 mit Anm. 3. Bugenhagen selber erwähnt in seinem Widmungsbrief an den Landesherm und dessen Söhne Ende Mai 1518 seine Tätigkeit als Lektor im Klosterkonvent, ohne dafür jedoch eine besondere Erklärung zu geben: »ubi nunc lectorem ago« (Heinemann, wie Anm. 4, S. 3). Erwähnt wird das Faktum der Berufung Bugenhagens zum Lektor in Belbuck 1578 bei Jakob Runge: Brevis designatio rerum Ecclesiasticarum, sub initium Reformationis Evangelicae in Pomerania gestarum [...]. Hg. von Alfred Uckeley. In: Baltische Studien N.F. 6 (1902), S.53; - vgl. weiter dazu Leder: Reformatorische Wende, Anm. 6, (S.81f.). Widmungsschreiben an Bogislaw: Heinemann, wie Anm. 4, S. 3. Zu Stojentin vgl. Max von Stojentin: Artikel: Stojentin, Valentin. In: ADB 54 (1908), S. 546ff. Bemerkenswert erscheint, daß V. von Stojentin bereits 1525 »einen durchaus im evangelischen Geiste« abgefaßten Vorschlag zur Besetzung der Universitätsprofessuren in Greifswald vorlegte, also offenbar auch als Experte für Universitätsfragen tätig war. Das Zitat aus: Roderich Schmidt: Der Croy-Teppich der Universität Greifswald, ein Denkmal der Reformation in Pommern. In: Johann Bugenhagen. Beiträge zu seinem 400. Todestag. Hg. von Werner Rautenberg. Berlin o.J. (1958), S. 89ff., dort S. 105. Die vermittelnde Rolle Valentin von Stojentins wird aus dem Widmungsschreiben erkennbar: vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 3. Sie wird bei allen Autoren übereinstimmend erwähnt. Es handelt sich dabei um folgende Quellen: 1. den von Melanchthon unmittelbar nach Bugenhagens Tod (20. April 1558) verfaßten Nekrolog: »Declamatio de vita Bugenha-

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registriert worden. Unter Bugenhagens Leitung hatte die Treptower Ratsschule einen bemerkenswerten Aufschwung genommen und war bis weit über die Landesgrenzen hinaus als anspruchs- und niveauvolle Bildungseinrichtung bekannt geworden. 21 Das wog umso schwerer, als es um das pommersche Schul- und Bildungswesen zur fraglichen Zeit sonst anscheinend nicht gerade glänzend bestellt war, und zwar einschließlich der Landesuniversität in Greifswald, die sich damals bereits auf dem Wege in eine schwere Krise befand. 22 Umso willkommener mußte die Entwicklung in gii«, Corpus Reformatorum XII, Sp. 295ff.; 2. die in verschiedenen Ausgaben publizierte Sachsenchronik des Rostocker Theologen und Historiographen David Chyträus, und zwar zunächst ein Vorabdruck des 1. Teiles, der 1589 unter dem Titel »Vandalia« erschien: Davidis Chytraei Vandalia, Pars prima, Rostochii 1589; sodann 1590 das Chronikon Saxoniae: Davidis Chytraei Chronicon Saxoniae. Pars prima. Ab anno 1500 usque ad 1524, Rostochii 1590, das schließlich 1597 auch in deutscher Übersetzung publiziert wurde: Davidis Chytraei Newe Sachssen Chronica. Vom Jahr Christi 1500 bis aufs 1597. Aus dem vermehreten letzten Lateinischen Exemplar trewlich verdeutscht/vnd vom Autore selbst mit fleis reuidiert vnd ubersehen. Der Erste Theil, Leipzig 1597. Der ander Theil, Leipzig 1598; 3. die pommersche Kirchenchronik Daniel Cramers: Daniel Cramer: Pommerische Chronica/Das ist Beschreibung vnd außführlicher Bericht/wie anfenglich durch Bischoff Otto vom Bamberg/die Pommern auß heidnischer Blindheit zum Christenthumb bekehret/vnd folgents darbey biß auff den heutigen Tag erhalten worden sind [...], Frankfurt/M. 1602. Im Jahr darauf erschien das Werk unter dem Titel »Pommersche Kirchen Chronica [...]« in Stettin. Die entsprechenden Überlieferungen sind näher behandelt bei Leder: Reformatorische Wende, wie Anm. 16, Anm. 4 (S. 80f.). 21

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Als Beleg sei hier wenigstens ein Passus aus der deutschen Fassung der Sachsenchronik des Chyträus zitiert: »Damals stund Treptow in ziemlichen Flor/vnd war beruffen beydes wegen frommer gelarter Priester in der Kirchen/vnd wegen der beruhmbten Schulen/welche Johannes Bugenhagen vnd Andreas Cnophius von Kistrin die zeit regierten/welche wegen jhres fleisses kunst vnd geschickligkeit die Jugend zu lehren also beruffen waren/daß nicht allein aus den benachbarten vnd umbliegenden Städten: Sondern auch aus Lieffland vnd Westphalen die Schuler sich dahin begaben vnd zulieffen« (Newe Sachssen Chronica, I. Teil, Leipzig 1597, S.373). - Bei dem von Chyträus erwähnten »Cnophius« handelt es sich um Andreas Knopken; vgl. zu diesem Robert Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersloh 1984, S. 120f. (mit Lit.), allerdings nicht fehlerfrei; vgl. auch unten Anm. 49. Das aus den Universitätsquellen und anderen zeitgenössischen Zeugnissen zu ermittelnde Bild ist nicht eindeutig. Unbestreitbar erscheint, daß an der Greifswalder Universität eine dezidierte Abwehrhaltung gegenüber dem Humanismus und dann auch gegenüber der Reformation bestimmend war. Humanisten bzw. dem Humanismus aufgeschlossene Universitätslehrer konnten sich, wie die Quellen zeigen, ausnahmslos nicht lange in Greifswald halten und verließen oftmals bereits nach kurzer Zeit wieder die Universität. Die Problematik kann hier nicht detailliert erörtert werden. Zur Situation der Universität in der Zeit zwischen 1500 und ihrem dann offenbar nach 1520 erfolgenden Niedergang vgl. aus der neueren Lit.: Hellmuth Heyden: Die Erneuerung der Universität Greifswald und ihrer theologischen Fakultät im 16. Jahrhundert. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. Bd. II. Greifswald 1956, S. 19ff. - allerdings etwas unkritisch in den Urteilen über das Eindringen und die Rolle des Humanismus an der Universität. Für die Frühzeit (1500ff.): Hans-Günter Leder: Bugenhagen und die »aurora doctrinarum«. Zum Studium Bugenhagens in Greifswald. In: Johannes Bugenhagen - Gestalt und Wirkung, wie Anm. 15, S.38ff.; vgl. weiter auch ders.: Evangelische Theologie im Wandel

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Treptow für Bogislaw erscheinen, d e s s e n B e m ü h u n g e n vor allem seit der Jahrhundertwende nachweislich darauf gerichtet waren, sein Land in jeder Hinsicht zu e i n e m modernen Territorialstaat auszubauen und an das Niveau anderer deutscher Territorialstaaten wie etwa Kursachsen oder die Pfalz heranzuführen, die er gelegentlich seiner R e i s e in das Heilige Land 1497/98 k e n n e n - und schätzengelernt hatte. 2 3 Johannes B u g e n h a g e n , am 24. Juni 1485 als Sohn einer offenbar ratsfähig e n Bürgerfamilie in Wollin g e b o r e n , 2 4 hatte nach e i n e m etwa zwei- bis zweieinhalbjährigen Studium an der Artistenfakultät der Landesuniversität Greifswald, 2 5 das offenbar mehrmals durch die grassierende Pest o d e r andere Seuchen beeinträchtigt worden war, seine Studien im Spätsommer 1504 o h n e förmlichen A b s c h l u ß b e e n d e t . 2 6 Überragend wird die Bildung, die er an der ein e h e r bescheidenes D a s e i n führenden Universität erworben hatte, nicht gerade g e w e s e n sein. 2 7 Bald nach seinem A b s c h i e d aus Greifswald war er v o m A b t des Prämonstratenserkonvents Belbuck, der über das Präsentader Geschichte. Stationen der 450-jährigen Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultät in Greifswald. In: Baltische Studien, N.F. 76 (1990), S. 21ff. speziell S. 24f. Hier sei lediglich darauf verwiesen, daß in den zwanziger Jahren einer Eintragung im Dekanatsbuch der Artisten zufolge fast alle Vorlesungen an der Universität zum Erliegen gekommen waren (vgl. dazu Heyden, S. 20, Sp. 1), daß nach Thomas Kantzows Urteil die Universität damals »kume ein scheme einer universiteten« war (dazu Heyden, S.21, Sp. 1 mit Anm.30; vgl. überhaupt dort S. 20/21) und daß sich der Zustand der Bildungseinrichtung 1534/35, als Bugenhagen die pommersche Kirchenordnung formulierte, als derartig desolat erwies, daß er vorerst nur die (Wieder-) Errichtung einer geringeren Universität, eines Pädagogiums, empfehlen konnte (Die pommersche Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen, 1535. Hg. im Auftrag der Ev. Landeskirche Greifswald von Norbert Buske, 1985, S. 102/179). Daß diese offenbar schwere Krise der Universität nicht gleichsam über Nacht hereinbrach, sondern sich bereits über längere Zeit ankündigte, liegt auf der Hand und läßt sich unter anderem auch an der Situation im Lehrkörper und an den Inskriptionszahlen jener Jahre nachweisen. 23

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Vgl. dazu etwa Norbert Buske: Die Reformation im Herzogtum Pommern unter besonderer Berücksichtigung der Gebiete der späteren Generalsuperintendentur Greifswald. In: Reform und Ordnung, wie Anm. 15, S.46ff., dort S.51ff. Grundlegend ist nach wie vor: Martin Wehrmann: Geschichte von Pommern. 2 Bde. Gotha 2 1919/21, Wiederabdruck mit einem Vorwort von Roderich Schmidt, 1982, einschlägig auch ders.: Pommern zur Zeit der beginnenden Reformation. In: Baltische Studien N.F. 21 (1918), S. Iff. Vgl. dazu Leder: Leben und Werk des Reformators, wie Anm. 15, S. 9f. Vgl. dazu Leder: Bugenhagen und die »aurora [...]«, wie Anm. 22, S. 38ff. Die Angabe von Daniel Cramer: Pommerische Chronica, wie Anm. 20, S. 20, Bugenhagen sei »magister artium« gewesen, ist a) in der Überlieferung singulär, b) in den einschlägigen Universitätsquellen nicht zu belegen. Ausführlichere Bemerkungen dazu bei Leder: Bugenhagen und die »aurora [...]«, wie Anm. 22, S. 40 mit Anm. 17. Mit Recht meint Hans Hermann Holfelder: Tentatio et consolatio. Studien zu Bugenhagens »Interpretatio in librum psalmorum«. Berlin, New York 1974 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 45), S. 114, er könne in der Zeit seines Studiums »kaum mehr als geistige Anregungen empfangen haben«. Vgl. auch Wolf-Dieter Hauschild: Johannes Bugenhagens Auseinandersetzung mit dem Katholizismus 1515-1521. In: Ostdeutsche Geschichts- und Kulturlandschaften. Teil III. Pommern. Hg. von Hans Rothe. Köln,

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tionsrecht für die Treptower Ratsschule verfügte, 28 dem Rat der Stadt als für die Leitung der Schule geeigneter Mann vorgeschlagen worden, offenkundig mit Erfolg. Welche Umstände zu dieser Präsentation geführt hatten, wissen wir nicht. Möglicherweise hatten sich bereits während des Studiums Kontakte zu Angehörigen des Belbucker Konvents ergeben, die ebenfalls in Greifswald studierten. 29 Jedenfalls trat Bugenhagen noch im Frühherbst des Jahres 1504 sein Rektorenamt in Treptow an. Damit war eine entscheidende Weichenstellung für seinen ferneren Lebensweg erfolgt. Nach allem, was wir über seine Tätigkeit an der Schule wissen bzw. erschließen können, müssen die folgenden Jahre durch eine umfängliche und intensiv betriebene Weiterbildung geprägt gewesen sein, in der er autodidaktisch ein beträchtliches Maß an Kenntnissen erwarb und sich geistigen Anregungen öffnete, wie sie vor allem im Schul- und Bibelhumanismus des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden haben. Die erhaltenen Überlieferungen lassen eine Reihe von Schlüssen zu und machen gewisse Schwerpunkte in den Bildungsinteressen des Treptower Schulrektors sichtbar. Dabei darf auf keinen Fall übersehen werden, daß Bugenhagen nicht nur als Schulmeister in Treptow wirkte, sondern seit 1509 auch geweihter Priester der Kirche war. Kirche und Schule waren aufs engste miteinander verzahnt, so gewiß auch das aufstrebende Bürgertum mehr und mehr darum bemüht war, seinerseits stärkeren Einfluß auf das Schulwesen zu gewinnen. Der genannte Doppelaspekt der Existenz Bugenhagens fand dann auch seinen klaren Niederschlag in seinen geistigen Interessen. Zwei dementsprechend einander intensiv berührende Schwerpunkte werden in Bugenhagens autodidaktischen Studien besonders sichtbar. Wir finden einerseits ein starkes Interesse an kirchlich-theologischer Literatur vornehmlich im Bereich der Bibelauslegung und christlicher Lebensgestaltung bei gleichzeitig betonter kritischer Reserve gegenüber der Scholastik, offenbar stimuliert durch kirchenkritisch-reformerische Gedanken, zum anderen spätestens seit 1512 (nachweisbar in einem bemerkenswerten Brief Bugenhagens an den Münsteraner Schulhumanisten Johannes Murmellius30) ein vermehrtes Interesse an auch

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Wien 1988, S. 86: Bugenhagen habe sich »seine philologische und theologische Bildung weitgehend autodidaktisch erworben«. Zum Präsentationsrecht des Belbucker Abtes vgl. H. Hoogeweg: Die Stifter und Klöster der Provinz Pommern. Bd. I. Stettin 1924, S. 67 mit Anm. 10 (samt Quellen bzw. Lit.). Vgl. dazu auch Leder: Reformatorische Wende, wie Anm. 16, Anm. 3 (S. 79f.). Nachweisen läßt sich dies ζ. B. für den späteren Abt von Belbuck, Johannes Boldewan, der sich im Jahre 1503 an der Greifswalder Universität inskribieren ließ. Vgl. Ernst Friedlaender: Ältere Universitätsmatrikeln II. Universität Greifswald, Bd. I, Leipzig 1893, S. 154. Vgl. dazu auch Leder: Reformatorische Wende, wie Anm. 16, Anm. 6 (S. 82f.). Dr. Johannes Bugenhagens Briefwechsel. Gesammelt und herausgegeben durch Otto Vogt. Reprographischer Nachdruck der Ausgaben Stettin 1898-99 und Gotha 1910.

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theologisch relevanter humanistischer Literatur. Bugenhagen selber hat diesen Briefwechsel drei Jahre später ganz nach Humanistenart, und das ist bemerkenswert im Blick auf sein Selbstverständnis, veröffentlicht. 31 Damit steht das Problem der Berührung Bugenhagens mit dem Humanismus seiner Zeit im Blickfeld. Als relativ gesichert kann heute gelten, daß Bugenhagens Begegnung mit dem Humanismus nicht in seine Greifswalder Studienzeit gefallen ist. Anderslautende Behauptungen in Quellen des 16. Jahrhunderts, einschließlich des von Philipp Melanchthon 1558 verfaßten Bugenhagen-Nekrologs, halten, wie ich vor einigen Jahren nachgewiesen habe, kritischer Überprüfung nicht stand. 32 Die vielfach unkritisch aufgenommene, ja in der Bugenhagen-Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts teilweise noch mit nicht belegten Details angereicherte Behauptung, Bugenhagen sei an der Greifswalder Universität in humanistischem Geist ausgebildet worden, läßt sich in dieser Form auf keinen Fall halten. Damit soll nicht kategorisch ausgeschlossen werden, daß er auf den Humanismus als neue geistige Bewegung im Rahmen seines Studiums in Greifswald aufmerksam geworden sein könnte. Zu einer wirklichen Berührung mit humanistischem Gedankengut muß es jedoch erst in den Treptower Jahren, also nach dem Herbst 1504 gekommen sein. Bugenhagens Brief vom 23. April 1512 an Murmellius in Münster läßt dann bereits breiter entfaltete Beziehungen zwischen Treptow und dem Münsteraner Schul- und Bibelhumanismus erkennen und bezeugt eindeutig, daß Bugenhagen zu dieser Zeit bereits Umgang mit humanistischer Literatur gehabt, ja diese teilweise sogar in den Unterricht integriert hatte. 33 Darüber hinaus zeigt der Brief deutliche Spuren humanistischer Bildung und Denkweise bei Bugenhagen selbst. Das liegt ganz auf der Linie dessen, was dann drei Jahre später in zwei Publikationen Bugenhagens in spezifischer Weise ergänzt und bestätigt wird. Unklar bleibt allerdings, wann und wodurch veranlaßt, der Treptower Schulrektor zu intensiver Bekanntschaft mit dem Münsteraner Schul- und Bibelhumanismus gekommen war. Ob dabei im Zuge der lebhaften West-

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Hildesheim 1966 (künftig zit.: BBW), S. 1-4; der Brief datiert vom 23. April 1512; die Antwort des Murmellius S. 4-6. Murmellius muß als der bedeutendste der Münsteraner Humanisten gelten. Vgl. zu Murmellius zusammenfassend (mit Lit.): Wilhelm Kühlmann: Artikel: Murmellius, Johannes. In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 8. Gütersloh-München 1990, S. 301f. Die dazu von Bugenhagen verfaßte Vorbemerkung vom 1. Sept. 1515 im BBW, wie Anm. 30, S. 7; vgl. dazu unten Anm. 42. Vgl. Leder: Bugenhagen und die »aurora [ . . . ] « , wie Anm. 22, S. 42ff. Er erwähnt in seinem Brief an Murmellius (BBW, wie Anm. 30, S. 2), daß er die von diesem edierten und erläuterten 12 Eklogen »De Mysteriis vitae Christi« des Antonius Geraldinus von Ameria seinen Schülern diktiert und erklärt habe. Zu Antonius Geraldinus von Ameria (gest. 1488) vgl. Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Hg. von J.H. Zedier, Bd. 10, 1060. Für diesen Lit.Hinweis bin ich dem Leiter der Melanchthonforschungsstelle Heidelberg, Herrn Dr. Scheible, sehr zu Dank verpflichtet.

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Ost-Kommunikation bis in die Phase deutscher Einwanderung zurückreichende Beziehungen zwischen Westfalen und Pommern die entscheidende Rolle gespielt haben (beispielsweise sind Bugenhagens Vorfahren wahrscheinlich aus Westfalen nach Pommern gekommen), oder ob möglicherweise der geistig dem Neuen offenbar aufgeschlossene Prämonstratenserorden, der dann vielfach auch eine besondere »Anfälligkeit« für die Reformation entwickelte, 34 in dieser Hinsicht eine Brückenfunktion erfüllt hat, oder ob Gedankengut und Schrifttum humanistischer Prägung über Buchhändler, wandernde Scholaren und Mönche oder auf andere Weise nach Treptow gelangt sind, bleibt offen. Über Mutmaßungen gelangt man in dieser Frage leider nicht hinaus. Im Jahre 1512 pflegte Bugenhagen jedenfalls bereits intensive Kontakte zum Münsteraner Schul- und Bibelhumanismus und fühlte sich diesem innerlich eng verbunden. 35 Durch den Briefwechsel mit Murmellius sollten seine weiteren Studien freilich eine ganz spezifische Orientierung erhalten. Seine Bitte um Informationen über geistige Kapazitäten der damaligen Zeit, die man den Kirchenvätern der Alten Kirche an die Seite stellen könne, zeigt in der ausgedrückten Hochschätzung der Kirchenväter eine deutlich von humanistischem Denken beeinflußte Interessenlage. Bugenhagen benutzt zwar den Begriff »theologi« bei seiner Anfrage, doch wird man seine Diktion hier nicht pressen dürfen. Murmellius beantwortete die Anfrage dann auch mit einer Reihe von Namen bedeutender Vertreter des Geisteslebens im 15. und 16. Jahrhundert, die man schwerlich im engeren Sinne alle als Theologen bezeichnen kann. Er empfahl Bugenhagen Pico della Mirandola, Faber Stapulensis, Carl Bouelles (Bovillus), einen Schüler Fabers, Johannes Reuchlin, den großen Hebraisten, und schließlich Erasmus von Rotterdam, den er beträchtlich über alle anderen hinaushob. 36 Bereits in seinen Bemerkungen zu den Genannten bemühte er sich, der spezifischen Interessenlage des Priesters und Schulmeisters Bugenhagen Rechnung zu tragen, indem er immer auch, soweit möglich, auf deren theologische Leistungen verwies. Zu Erasmus jedoch spitzte er seine Antwort spezifisch zu, indem er über die von ihm benannten Vorzüge des großen Gelehrten in einer Parenthese und damit fast nur beiläufig, aber offenkundig umso wirksamer, anmerkte, was er den übrigen Genannten in 34

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Prämonstratenser traten mehrfach in der frühen Reformationsgeschichte proreformatorisch in Erscheinung. Vgl. dazu Hans Düfel: Artikel: Äpinus, Johannes. In: Theologische Realenzyklopädie I, S. 535-544, dort s. 535f.: »Zahlreiche Angehörige dieses Ordens sind schon früh für die Sache der Reformation gewonnen worden« (S. 536). Dort einige Beispiele. Vgl. seine Bemerkung im Brief an Murmellius: »[...] nihil esse abs te vel scriptum vel interpretatum, quod non summopere amplectar, nihil praeceptum persuasumve quod non sequar, aut vel sequendum alios hortando praedicem« (BBW, wie Anm. 30, S. 2). BBW, wie Anm. 30, S. 6: »Scribendi autem charactere et eloquentia graecorumque interpretatione librorum Erasmus Roterodamensis [ . . . ] cedit nemini«.

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einer derartigen Weise entweder nicht testieren konnte oder wollte, er sei übrigens »ein nicht zu verachtender Theologe«. 37 Dieser gezielte und offenbar wohlbedachte Hinweis auf Erasmus scheint für den Treptower Schulrektor außerordentliche Bedeutung erlangt zu haben. Generell kann man zwar vermuten, daß Bugenhagen sich darum bemüht hat, auch Schriften der übrigen von Murmellius genannten Autoren in die Hand zu bekommen, 38 nachweisbar ist dies aber nicht. Anders liegen die Dinge bei Erasmus von Rotterdam. Für die Jahre zwischen 1512 und 1520, als Bugenhagen sich dann der Reformation zuwandte, 39 besitzen wir leider nur fünf von ihm verfaßte bzw. publizierte Schriften. Unter dem Datum des 1. Februar 1515 publizierte er eine Ausgabe der kurzen Grammatikregeln des Murmellius nebst einer eigenen Aufstellung von Anleitungen zur Deklination und Konjugation. Besonders bemerkenswert ist der dieser Edition vorangestellte Widmungsbrief an den damaligen Prior des Klosters Belbuck, den späteren Abt Johannes Boldewan, und an den Stadtschreiber von Treptow, Lukas Krummenhuß, in dem Bugenhagen sein Programm als humanistischer Philologe und christlicher Lehrer skizziert. Es entspricht, wie Wolf-Dieter Hauschild mit Recht festgestellt hat, »dem bibelhumanistischen Programm, welches ganz auf das adäquate, an den profanen antiken Autoren zu schulende und so gegenüber der Scholastik zu verbessernde Schriftstudium zielt«.40 Diese erste Publikation Bugenhagens ist in der Literatur bisher nahezu durchweg unbeachtet geblieben. 41 Zeitlich gesehen folgt dieser Publikation sodann die vom 1. September 1515 datierte Druckausgabe des Briefwechsels mit Murmellius, mit dessen Veröffentlichung er seine im Grunde bereits 1512 vollzogene Hinwendung zur Reformbewegung nun in aller Öffentlichkeit dokumentierte. 42 37 38

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Ebd. Er könnte dafür die zwischen Treptow und Münster bestehenden lebhaften Beziehungen genutzt haben, in deren Rahmen auch sein Bruder und Schüler aus Treptow sich zur Aus- und Weiterbildung nach Münster begaben (vgl. BBW, wie Anm. 30, S. 2f.). Eine entsprechende Literatur-Beschaffung wäre aber auch über Buchhändler möglich gewesen, doch existieren dafür im Blick auf die genannten Autoren keinerlei Hinweise. Vgl. dazu Leder: Reformatorische Wende, wie Anm. 16, passim, sowie ders.: Martin Luther und die Anfänge der Reformation in Pommern. In: Wiss. Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifs wald. Gesellsch.- u. sprach wiss. Reihe XXXII (1983), Heft 1-2, S.41ff. Zu den inhaltlichen (theologischen) Fragen dieser Wende vgl. Hauschild, wie Anm. 27, S. 95ff. Hauschild, wie Anm. 27, S. 87. Es ist Hauschilds Verdienst, auf sie stärker hingewiesen zu haben. In der älteren Literatur ist sie unerwähnt geblieben. Lediglich fragen kann man, was Bugenhagen dazu veranlaßt hat, seine 1512 im Brief an Murmellius ausgesprochene Kritik an der Scholastik: »nam Albertum, Bonaventuram in sententias et similes, etsi doctissimi sint, nec legere possum, nedum intelligere« (BBW, wie Anm. 30, S. 3), nun, drei Jahre später, charakteristisch auf deren Stil einzugrenzen: »At quo tempore scripsi, eorum solummodo mihi oratio, non doctrina displicuit« (BBW, wie Anm. 30, S. 7). Denkbar wäre, daß er damit einen noch höheren

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B e i d e Publikationen machen sichtbar, wie sehr sich B u g e n h a g e n d e m Schul- und Bibelhumanismus in diesen Jahren in Treptow g e ö f f n e t hatte. Ihnen folgt drei Jahre später seine Pomerania, die er im Mai 1518 z u m A b s c h l u ß brachte. Z u den Schriften B u g e n h a g e n s aus diesen Jahren gehört weiter eine v o n ihm am 29. Juni höchstwahrscheinlich des Jahres 1519 in B e l b u c k gehaltene hochinteressante Predigt 4 3 sowie schließlich eine handschriftlich überlieferte, von ihm im Kloster Belbuck im R a h m e n seines Lektorats etwa in der Zeit zwischen 1519 und 1520/21 vorgetragene Auslegung des Matthäus-Evangeliums nebst seiner sog. Passionsharmonie, die er ebenfalls noch vor seinem Anschluß an die R e f o r m a t i o n und seiner etwa in der z w e i t e n Märzhälfte 1521 erfolgenden Übersiedlung nach Wittenberg in Treptow/Belbuck gehalten hat. 4 4 D i e drei letztgenannten Schriften machen überzeugend sichtbar, was in der Predigt des Jahres 1519 unter ausdrücklicher N a m e n s n e n n u n g und in der Matthäus-Auslegung in gleicher Weise eindeutig belegt wird: Erasmus von Rotterdam war mit seiner »philosophia christiana« inzwischen für B u g e n h a g e n z u m entscheidenden Pol seiner geistig-theologischen Orientierung g e w o r d e n . 4 5

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Grad der Übereinstimmung mit Erasmus zum Ausdruck bringen wollte. Erasmus hat sein Leben lang die »barbarische und gemeine Sprache« der Scholastiker kritisiert, sie aber sonst nicht kategorisch abgelehnt. Vgl. Comelis Augustijn: Erasmus von Rotterdam. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Hg. von Martin Greschat. Bd. 5. Die Reformationszeit I. Stuttgart usw. 1981, S. 53ff., dort S. 55. Die Predigt ist als Manuskript im Bugenhagen-Nachlaß, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. oct. 41, fol. 58r-67v erhalten. Editionen: Carl Eduard Förstemann: Eine Predigt von Johannes Bugenhagen, im Kloster Belbuck gehalten. In: Zeitschrift für die historische Theologie 5 (1835), S. 229-247. Carolus Augustus Deofidus Vogt: Johannis Bugenhagii Pomerani libelli duo [...]. In: Jubiläumsprogramm Greifswald 1856, S. 13-25. Zum theologischen Gehalt der Predigt vgl. Holfelder, wie Anm. 27, S. 119-127. Wesentliches zu ihrer Auswertung bei Hauschild, wie Anm. 27, S. 90ff. Das Manuskript der Matthäus-Auslegung und der anschließenden Passionsharmonie befindet sich in der Bibliothek der Marienkirche Stendal und ist bisher nicht ediert. Vgl. dazu Hermann Alberts: Zwei Bugenhagenfunde aus zwei alten Büchereien. In: Theologische Studien und Kritiken 106, 1934/35, S. 61ff. Erste »allgemeine Beobachtungen« über den geschichtlichen und theologisch-biographischen Ort der Texte in der Vita Bugenhagens bietet Hauschild, wie Anm. 27, S. 96ff. Vgl. jetzt dazu ders.: Johannes Bugenhagens Entwicklung zum Reformator und der Einfluß Luthers. In: Luthers Wirkung. Festschrift für Martin Brecht zum 60. Geburtstag. Hg. von Wolf-Dieter Hauschild, Wilhelm H. Neuser und Christian Peters. Stuttgart 1922, S.63ff., dort S. 64ff., unter Mitteilung der Hauptergebnisse einer von Anneliese Bieber erarbeiteten Dissertation: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation. Die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie. Ev.-theol. Diss, (masch.). Münster 1990/91. Markant ist in diesem Manuskript Bugenhagens seine vor allem am Anfang zu beobachtende Orientierung an der Heiligkeitstheologie (philosophia christiana) des Erasmus. In dieser Hinsicht besteht in der neueren Bugenhagenforschung ein breiter Konsens, bei dem allenfalls Details strittig erscheinen. Gerade in den letzten Jahren hat der Nachweis der Orientierung Bugenhagens an Erasmus durch die Arbeiten von Hans Hermann Holfelder, Wolf-Dieter Hauschild und Anneliese Bieber beträchtlich an

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Bevor der Blick auf die Pomerania gerichtet werden soll, sind einige Informationen über deren Entstehungsgeschichte nachzutragen. Der Auftrag, in den Archiven und Bibliotheken von Klöstern und Städten Pommerns alle Schriften, die die Vergangenheit betrafen, zu sammeln bzw. zu durchforschen, wurde Bugenhagen vom Herzog offenbar im Sommer des Jahres 1517 in Rügenwalde erteilt. 46 Bemerkenswert erscheint die von Bogislaw vorgenommene Erweiterung des Auftrages über die Bitte des sächsischen Kurfürsten hinaus. 47 Die Beschränkung auf die sächsische Geschichte ist aufgegeben und ersetzt worden durch den Auftrag, sämtliche für die Geschichte wichtigen Materialien zu erfassen, also auch die pommersche Geschichte zum Gegenstand seiner Forschungs- und Archivreise zu machen. Daraus wird man nun freilich nicht, wie gelegentlich in der Literatur im Anschluß an zweifellos irrige Angaben in Quellen des 16. Jahrhunderts geschehen, 48 den Schluß ziehen dürfen, Bogislaws Auftrag habe von vornherein auch auf die Abfassung einer pommerschen Geschichte gezielt. Wäre dies der Fall gewesen, hätte Bugenhagen das in seinem Manuskript sicherlich zu erkennen gegeben. Augenscheinlich hat Bugenhagen, für den der Auftrag offenbar nicht vollkommen überraschend kam, sich sofort von Rügenwalde aus auf den Weg gemacht. Er konnte dabei die im Sommer günstigeren Reisebedingungen nutzen, ein Grund mehr, unverzüglich ans Werk zu gehen. 49 Seine Archivreise führte ihn von Rügenwalde aus zunächst in den Ostteil des Landes, dann über zahlreiche Stationen durch ganz Pommern hindurch bis nach Stralsund und in das Kloster Neuencamp (Franzburg). 50 Dort weilte er nach eigener Angabe noch am 14. September. Das für die sächsische Geschichte relevante Material war ausgesprochen

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Konturen gewonnen und zweifelsfrei sichtbar gemacht: »Die Begegnung mit dem Schrifttum des Erasmus ist für Bugenhagens Denken und Selbstverständnis als Lehrer von gleicher geistiger Bedeutung in dieser Zeit gewesen, wie es später die Begegnung mit Luthers Schriften gewesen ist« - Holfelder: Tentatio, wie Anm. 27, S. 116. Vgl. dazu Heinemann, wie Anm. 4, S. II f. Vgl. dazu Heinemann, wie Anm. 4, S. III mit Anm. 1; vgl. auch Roderich Schmidt: Die »Pomerania«, wie Anm. 2, S.50: »Dieser [ . . . ] Auftrag ging also über die Bitte des sächsischen Kurfürsten hinaus«. Vgl. dazu Heinemann, wie Anm. 4, S. IV. Die in diesem Zusammenhang gelegentlich in der Literatur angestellten Überlegungen hinsichtlich der Vertretungsregelungen an der Treptower Schule während Bugenhagens Abwesenheit erweisen sich ausnahmslos als spekulativ, da die Quellen keinerlei diesbezügliche Angaben bieten. Zur Diskussion vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. III, Anm. 2 (zu Peter Suawe). Auch die Vermutung, Andreas Knopken habe während dieser Zeit die Leitung der Schule übernommen, läßt sich nicht halten. Knopken dürfte sich in der fraglichen Zeit in Riga aufgehalten haben und kehrte erst 1519 nach Treptow zurück, wo er bereits von 1514 bis 1517 nachweisbar ist. Vgl. dazu einige Hinweise und Literaturangaben bei Leder: Anfänge, wie Anm. 39, S.43, Sp.2 mit Anm. 27. Auch die Angabe bei Stupperich, wie Anm. 21, S. 120, Knopken sei (erst) 1517 nach Treptow gegangen (und dort bis 1521 geblieben), dürfte unzutreffend sein. Die Reiseroute läßt sich im wesentlichen rekonstruieren. Vgl. dazu Heinemann, wie Anm. 4, S. XXIff., der die von Bugenhagen benutzten pommerschen Quellen, Jähnke

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dürftig bzw. von so allgemeiner Natur, daß es für eine Übersendung nach Kursachsen nicht ausreichend erschien. Umso umfänglicher waren die für die pommersche Geschichte bedeutungsvollen Dokumente. Aller Wahrscheinlichkeit nach noch während seiner Archivreise muß Bugenhagen der Gedanke gekommen sein, über den vom Landesherrn erteilten Auftrag noch hinauszugehen und die Materialien zur pommerschen Geschichte nicht nur zu sammeln, sondern sie auch zu ordnen und zu einer Darstellung zu verarbeiten. So kehrte er von Neuencamp vorerst nicht nach Treptow zurück, sondern begab sich in die für eine konzentrierte Arbeit günstigere Atmosphäre des Klosters Belbuck. Hier machte er sich unverzüglich ans Werk. In etwa siebeneinhalb Monaten hatte er die Pomerania fertiggestellt, eine bemerkenswerte Leistung, wenn man Umfang und Inhalt des Werkes betrachtet 51 und sich bewußt macht, daß Bugenhagen über keine direkte Vorlage für die Darstellung verfügte, also Pionierarbeit zu leisten hatte. Bereits am 27. Mai 1518 konnte er die Widmungsschreiben an den Herzog und dessen Söhne sowie an den ihm inzwischen freundschaftlich verbundenen Valentin von Stojentin abschließen. 52 Wie wir von ihm selber erfahren, verlief die Arbeit an der Pomerania keineswegs reibungslos. Seine Absicht, das Werk in gepflegtem humanistischem Latein abzufassen, scheiterte an der Sprödigkeit vieler Materialien, doch ist sein Stil nach dem Urteil von Fachleuten rein und fehlerfrei ausgefallen, einschließlich der Quellen, die er, soweit erforderlich, sprachlich und grammatisch bearbeitet bzw. korrigiert hat. 53 Größere Schwierigkeiten bereitete ihm offenkundig die Konzeption und Gestaltung des Werkes überhaupt, so daß ihn verschiedentlich schwere Zweifel an den eigenen Fähigkeiten überfielen. Der Ermunterung Valentin von Stojentins, der den Fortgang des Werks mit Interesse und wahrscheinlich auch mit manchem guten Rat begleitete, ist es zu danken, daß er trotzdem seine Arbeit fortgesetzt und dann auch zum Abschluß gebracht hatte. 5 4

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folgend, »nach localen Gesichtspunkten« ordnet und damit den wahrscheinlichen Verlauf der Reise sichtbar werden läßt. Sie umfaßt 69 Folio-Blätter = 164 Druckseiten in der Ausgabe Heinemanns und beruht auf der Sammlung, Ordnung und Verarbeitung zahlreicher Quellen und Urkunden. Nachweise bei Heinemann, wie Anm. 4, S. XI ff. Bemerkenswerterweise hat Bugenhagen die von ihm benutzten Quellen im Regelfall in Randbemerkungen erkennbar gemacht. Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. XII mit Anm. 9. Die Widmungsschreiben bei Heinemann, wie Anm. 4, S. 3-6. Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. V. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang »die Behauptung späterer Schriftsteller, daß Bug[enhagen] seine Pomerania gemeinsam mit Valentin von Stojentin verfasst habe« (Heinemann, wie Anm. 4, S. IV sowie Anm. 6 und 7), die so zweifellos nicht zutrifft. Als wahrscheinlich zu gering veranschlagt erscheint Stojentins Mitarbeit, wenn Heinemann dort äußert, dessen Anteil bestehe lediglich darin, Bugenhagen zur Verwirklichung seiner Absicht bewogen zu haben, als dieser wegen der Schwierigkeiten aufgeben wollte.

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Nach der Gliederung des Herausgebers Otto Heinemann enthält die Pomerania, in der zahlreiche, teilweise auch verlorene Quellen und Urkunden verarbeitet sind, 55 vier Bücher. Buch 1 bietet eine geographische Beschreibung des Landes sowie Nachrichten zu dessen Vorgeschichte. Im 2. Buch wird die Bekehrung Rügens und Pommerns zum Christentum behandelt. Das 3. Buch stellt die Geschichte Pommerns für die Zeit von der Christianisierung bis zu damaligen Gegenwart dar. Das 4. Buch schließlich präsentiert sich als Sammlung verschiedener Einzelnotizen in Form eines Anhangs, der »von Bugenhagen selbst für Nachträge durch Spätere bestimmt« war. 56 Auffallend ist Bugenhagens dem ganzen Werk abzuspürendes Bemühen um die Zuverlässigkeit der verarbeiteten Nachrichten. Diese werden von ihm nach dem Vorbild der mittelalterlichen Geschichtsschreiber chronologisch fortschreitend, vielfach wörtlich getreu aneinandergereiht. Quellenkritik ist nur in bescheidenen Ansätzen zu erkennen, fehlt aber nicht gänzlich. 57 Von einer eigenen Darstellung ist nach traditioneller, aber wohl doch zu hinterfragender Auffassung aufs ganze gesehen verhältnismäßig wenig zu spüren. Nach Jähnkes nicht unbesehen zu reproduzierendem Urteil erscheint diese »allein in den wenigen Abschnitten, in denen Bugenhagen ganz selbständig ist, in den Betrachtungen moralischen oder religiösen Inhalts, die sich den geschichtlichen Referaten anschließen, und in den gelegentlichen Mittheilungen, die über die Zustände der Gegenwart gemacht werden«. 58 Betrachtet man das Werk in seiner Gesamtheit, so springt ins Auge, daß Bugenhagen mit diesen Passagen der Pomerania nach Form und Inhalt die sonst für sein Werk konstitutive Gestaltung nach dem Vorbild mittelalterlicher Chroniken verläßt. Hier wird seine Pomerania, etwas pointiert ausgedrückt, zur Reformschrift, zum zeitkritischen moralisch-religiösen Traktat, in dem er unmißverständlich Stellung bezieht. Die in Frage kommenden Abschnitte des Werks machen nun aber nicht nur Bugenhagens eigene Position, sondern zugleich auch Einflüsse sichtbar, die auf ihn gewirkt haben. Zwar lassen sich diese Einflüsse nicht in der Form von Zitaten oder exakt verifizierbaren Bezugnahmen nachweisen, die hier einschlägigen Textstellen enthalten jedoch Anhaltspunkte dafür, daß er zumindest dort 55

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Vgl. dazu Heinemann, S. LV. Die Gliederung der »Pomerania« folgt exakt Bugenhagens eigenen Angaben im Widmungsbrief an den Landesherrn; vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 4. So Heinemann, wie Anm. 4, S. V, Anm. 1. Roderich Schmidt: »Pomerania«, wie Anm. 2, S. 50, hat diese Zweckbestimmung lediglich vermutet. Aus dem Widmungsschreiben sowie aus der Vorbemerkung zum 4. Buch (Heinemann, wie Anm. 4, S. 158) geht jedoch hervor, daß Bugenhagen selbst an eine in dieser Hinsicht offene Funktion des 4. Buches gedacht hatte. Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 4. Vgl. das abschließende Urteil Heinemanns, wie Anm. 4, S. LV: » [ . . . ] finden wir auch Ansätze zu einer kritischen Prüfung der Vorlage [...].« Jähnke, wie Anm. 5, S. 12.

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Anregungen bei Erasmus von Rotterdam gefunden haben dürfte. Bereits seit dem 19. Jahrhundert gilt als unbestritten, daß Bugenhagen mit seiner Pomerania im Wirkungsfeld von Gedanken des Erasmus steht. Der Kirchenhistoriker Hans Eger ist dem 1935 in einem Aufsatz näher nachgegangen und hat eine Reihe von Stellen namhaft gemacht, an denen ein derartiger Einfluß mehr als wahrscheinlich ist.59 Man wird jedoch über Eger wesentlich hinausgehen und die Frage stellen müssen, ob erasmische oder auch im weiteren Sinne humanistische Impulse nicht auch stärker für das Gesamtverständnis der Pomerania bzw. für deren Gestaltung durch Bugenhagen in Rechnung zu stellen sind. Auszugehen ist hier zunächst von zwei Beobachtungen. Die Pomerania enthält keine Einleitung im eigentlichen Sinne oder ein Vorwort mit Auskünften über Anlaß, Zielsetzung und grundsätzliche Aspekte des Werkes. Diese Funktion versieht jedoch, einer damals weit verbreiteten Praxis entsprechend, das erste der vorangestellten Widmungsschreiben, das an den Herzog und dessen Söhne gerichtet ist. 60 In diesem begegnen wir gleich zu Beginn Bemerkungen Bugenhagens, in denen er gleichsam ein Programm für seine Darstellung und deren Grundanliegen formuliert. Außerdem bietet das Widmungsschreiben eine Reihe von Auskünften über die Entstehungsgeschichte der Pomerania. Hinsichtlich der programmatischen Bemerkungen Bugenhagens ist es in der bisherigen Literatur offenkundig kaum beachtet worden. Als außerordentlich wichtig erscheint Bugenhagen für seine Darstellung das unbedingte Streben nach Wahrhaftigkeit, das er nicht mit historiographischen Erwägungen, sondern sehr persönlich aus seiner Eigenschaft als Priester Christi begründet: Diesem ist es versagt, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Wahrhaftigkeit muß also auch, unbeschadet etwaiger anderer Interessen, seinen Umgang mit der Geschichte bestimmen. 61 Auf die mit seiner Darstellung verfolgte Gesamtintention kommt Bugenhagen gleich in den ersten Sätzen des Widmungsschreibens zu sprechen. Er möchte seine Leser zum Nacheifern lobenswerter Taten veranlassen und sie, dem korrespondierend, andererseits dazu ermuntern, das »Lächerliche« und das »Unwürdige« zu fliehen und zu meiden. 62 Seine Geschichtsdarstellung will also nicht auf das Historiographische beschränkt 59

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Hans Eger: Bugenhagens Weg zu Luther. In: Johann Bugenhagen 1485-1935. Stettin 1935, S. 23 f f . Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 3f. Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 4: »Et quamvis vestre claritatis scribendi quesiverim gloriam, Christum tarnen testamur, in narrando historia nihil egisse contra conscientiam. Alioqui quam, queso, me dignum esset facinus, si Christi sacerdos meis adulando principibus contra id, quod sentio, scripsissem?« und weiter. Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 3: »Magna inprimis, clarissimi principes, cura fuit antiquis scriptoribus insignia maiorum facta memoriae prodita tradere posteritati. Per quod non tarn scriptorum immortalitati quam legentium utilitati consultum, non pessime quis iudicaverit, ut, si quid cum laude gestum fuisset, imitandum, quod vero omnium risu simul et indignatione exibilatum, fugiendum veniret«.

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bleiben, sondern soll zugleich als ethisches Musterbuch, als pädagogischmoralischer Appell, als Anregung und Leitfaden zu ethisch-qualifizierter Lebensführung für seine Leser wirksam werden. Unter äußerster Kraftanstrengung habe er das Werk deshalb in Angriff genommen. 63 Eine zweite Beobachtung ist hier anzuschließen. Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, daß Bugenhagen in jenen Abschnitten der Pomerania, in denen er - zumeist zeitkritische - Betrachtungen entwickelt, in Form und Inhalt den Rahmen der mittelalterlichen Chronik deutlich sprengt. Diese zum Teil scheinbar willkürlich eingefügten bzw. nur lose an historische Informationen geknüpften Abschnitte unterbrechen deutlich den Gang der Darstellung. Das geschieht vor allem auch in Form markanter Stilbrüche. Von der historiographisch referierenden Darstellung erfolgt manchmal recht unvermittelt der Übergang zur Reformschrift. Das geht so weit, daß Bugenhagen sich (Buch III, cap. 1) gelegentlich kritischer Ausführungen zum Klosterwesen direkt an junge Kleriker wendet und damit zu predigtartiger oder traktatähnlicher Rede übergeht. 64 Erkennbar wird hier auch seine Erwartung einer Veröffentlichung der Pomerania, eine Erwartung, die bereits hinter seinem im Widmungsbrief angesprochenen Programm sichtbar wird. Seine Wirksamkeit konnte begreiflicherweise nur dann gewährleistet erscheinen, wenn das Werk nicht im herzoglichen Archiv zu den Akten gelegt werde. Diese Erwartung Bugenhagens hat sich, wie wir wissen, aus welchen Gründen auch immer, 65 nicht erfüllt. Damit erhebt sich die Frage nach der Motivation Bugenhagens, mit seiner Geschichtsdarstellung zugleich kritisierend, ermahnend, ermunternd, kurzum reformerisch auf seine Zeitgenossen einzuwirken. Vordergründig könnte es naheliegend erscheinen, hier auf den Schulmeister und 63

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Ebd.: »Proinde, ne et sua Pomeranis meis deesset historia, ultra vires opus aggressus sum.« Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 97. Gründe für das Ausbleiben einer baldigen Veröffentlichung sind nicht erkennbar. Denkbar wäre, daß das Fehlen einer pommerschen Druckerei dabei eine Rolle gespielt haben könnte. Bekanntlich wurde die erste pommersche Druckwerkstatt erst 1533 von Franz Schlosser in Stettin eingerichtet. Diese Druckerei war noch zwei Jahre später offenbar nicht in der Lage, einen etwas umfangreicheren Druckauftrag in Stettin auszuführen, so daß 1535 Bugenhagens Pommersche Kirchenordnung in Wittenberg gedruckt werden mußte. Vgl.: Die pommersche Kirchenordnung, wie Anm. 22, S.46f., sowie Hellmuth Heyden: Kirchengeschichte Pommerns, Bd. II, Köln-Braunsfeld 21957, S.74f. Einschlägig: Gottlieb Mohnike: Die Geschichte der Buchdruckerkunst in Pommem. Stettin 1840. - Möglich erscheint auch, daß Bugenhagen selbst, durch Alltagsverpflichtungen gebunden, seinerseits kaum Impulse in Richtung auf eine Drucklegung geben konnte, zumal eben eine auswärtige Druckerei damit hätte beauftragt werden müssen. Wenige Jahre später könnte die »Pomerania« im Zuge der beginnenden reformatorischen Wirren in Pommern und dem Weggang Bugenhagens nach Wittenberg in Vergessenheit geraten sein. Über Mutmaßungen gelangt man in dieser Frage allerdings nicht hinaus. In der Literatur ist darüber, soweit ich sehe, nicht reflektiert worden.

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Priester Bugenhagen zu verweisen, der auch in der Beschäftigung mit der Geschichte bestimmte gleichsam berufsbedingte Verhaltensweisen nicht zu verleugnen vermochte. Es ist jedoch zweifelhaft, ob eine derartige psychologisierende Ableitung wirklich ausreichend erscheint. Zumal im Blick auf den geistigen Werdegang Bugenhagens kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier doch mehr im Spiele gewesen sein dürfte als lediglich berufsspezifisch bedingte Verhaltensmuster. Hans Eger hat hinsichtlich der programmatischen Bemerkungen im Widmungsbrief an den Landesherrn zu Recht die Frage aufgeworfen, ob nicht für seine Wortwahl an dieser Stelle Erasmus von Rotterdam in Anspruch genommen werden könne. Vor allem die dort formulierte Vorstellung vom Fliehen des »Lächerlichen« und »Unwürdigen« lege diese Vermutung nahe, dies umso mehr, als an späterer Stelle der Pomerania deutlich auf das Lob der Torheit des Erasmus angespielt werde. 66 Bekanntlich wurde diese Satire im Jahre 1511 gedruckt. Sie kann Bugenhagen also wohlbekannt gewesen sein. Wenn wir Melanchthon Glauben schenken dürfen, hat Bugenhagen um die Zeit, als er an der Pomerania arbeitete, auch das Enchiridion militis christiani kennengelernt. 67 In beiden Fällen läßt sich keine direkte Abhängigkeit, aber sehr wohl Vertrautheit mit den Grundintentionen des Erasmus beobachten. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Bugenhagens erklärtes Bemühen, Geschichte als moralische Beispielsammlung zu aktualisieren, sie in ihrem Vorbildcharakter erkennbar zu machen und sie für eine Imitatio-Ethik in Anspruch zu nehmen, auf solche Anregungen zurückgeführt werden kann. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang wiederum das 1. Kapitel des III. Buches der Pomerania, in dem er seine Darstellung der pommerschen Geschichte seit der Christianisierung mit Ausführungen über die fromme Christusliebe der pommerschen Fürsten eröffnet und damit deren Glaubenspraxis als beherrschenden Gesichtspunkt der Beurteilung hervorhebt. 68 Schon Hans Eger hat darauf aufmerksam gemacht, ohne dem jedoch näher nachzugehen, daß das in der Pomerania zu beobachtende Fürstenideal dem der Institutio principis christiani des Erasmus »nah verwandt ist«.69 In der Tat weist Bugenhagens Sicht der Landesfürsten, deren Tun er theologisch qualifiziert, indem er ihre aus dem Glauben resultierenden frommen Werke akzentuiert, 70 eine prinzipielle Übereinstimmung mit der Betrachtungsweise des Erasmus auf. Für ihn stand nicht der Fürst als Herrscher, sondern der Fürst als Christ im Mittelpunkt seiner staatstheoretischen Anschauungen. Durch eigenes Vorleben 66 67 68

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Eger, wie Anm. 59, S. 27. Melanchthon, Declamatio, wie Anm. 20, S. 298. Vgl. Heinemann, wie Anm. 4, S. 94; vgl. auch Hauschild, wie Anm. 27, S.88, Anm. 10. Eger, wie Anm. 59, S. 27, Anm. 11. So mit Recht Hauschild, wie Anm. 27, S. 88.

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hat er die Regula Christi seinen Untertanen einzuprägen. Für sein Regiment bildet Christus als der Herr aller den entscheidenden Bezugspunkt. 71 Eben dies testiert Bugenhagen auch den pommerschen Herzögen, wenn er unter dem Leitmotiv ihrer frommen Christusliebe (»Principum pius in Christum affectus«) ihre genealogisch geordnete Geschichte darstellt. 72 Von wesentlicher Bedeutung für die Frage nach dem Verhältnis Bugenhagens zum erasmischen Denken ist die Feststellung, daß der Treptower Priester und Schulrektor Erasmus weder einfach kopiert hat noch zu einem Erasmianer geworden ist, der sich in Geisteshaltung und Sprache ganz auf das Niveau des scharfsinnigen christlichen Philosophen hätte begeben wollen und können. Karl August Traugott Vogt hatte 1867 in seiner Bugenhagenbiographie die Auffassung vertreten, Bugenhagen habe sich die Kritik des Erasmus an den Zustanden in Kirche und Gesellschaft in »schlichter Treuherzigkeit« zu eigen gemacht. 73 Dagegen hat bereits Eger Einspruch angemeldet und auf das seelsorgerliche Verantwortungsbewußtsein hingewiesen, das Bugenhagen bei der Aufnahme der Kirchenkritik des Erasmus bestimmt habe. 74 Bugenhagen hat das Gedankengut Erasmus', der ja sehr wohl »ein nicht zu verachtender Theologe« gewesen ist, 75 nicht einfach übernommen und reproduziert, sondern priesterlich-pädagogisch umgesetzt und verinnerlicht. Der unverkennbare Unterschied zwischen Bugenhagen und Erasmus in ihrem Selbstverständnis läßt sich unter anderem auch biographisch verdeutlichen. Erasmus entzog sich einer kirchlich gebundenen Existenz. Er wählte ein Leben in Freiheit und möglichst weitreichender Unabhängigkeit, in gebildetem Umgang mit Zeitgenossen, möglichst ungestörtem Studium der Schriften der Alten und mit dem Ziel, durch das geschriebene, wohlformulierte Wort zu wirken, an dessen Macht er unabdingbar glaubte. 76 Bugenha71

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Vgl. dazu Ernst Wilhelm Kohls: Die Theologie des Erasmus. 2 Bde. Basel 1966. Bd. 1, S. 172f. Zum Fürstenideal der Institutio principis christiani auch Ferdinand Geldner: Die Staatsauffassung und Fürstenlehre des Erasmus von Rotterdam. Berlin 1930 (Historische Studien, Heft 191), bes. S. lOOff. Über ihrem Wirken steht für Bugenhagen gewissermaßen als dessen Grundbeschreibung die Aussage: »Impietate ergo fugata et Veritas luce in hominum cordibus lucescente, non vana fuit neque sine operibus mortua Pomeranorum fides, sed, quod professione agnoverant, piis studebant operibus exercere«: Heinemann, wie Anm. 4, S. 94. Karl August Traugott Vogt, wie Anm. 15, S. 9. Eger, wie Anm. 59, S. 28. Vgl. dazu vor allem Kohls, wie Anm. 71, dessen Buch sich als bewußte Korrektur des traditionellen Erasmusbildes bei protestantischen und katholischen Forschern versteht. Aus der Fülle der in den letzten Jahrzehnten unübersehbar gewordenen ErasmusLiteratur sei hier gleichsam als Schlüssel lediglich genannt: Cornelius Augustijn. Erasmus, Desiderius. In: Theologische Realenzyklopädie 10 (1982), S. 1-18 (Lit.). Von älteren Erasmus-Biographien vgl. etwa Johann Huizinga: Europäischer Humanismus: Erasmus. Reinbek bei Hamburg 1958 (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie).

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gen dagegen hatte willentlich und bewußt seine Tätigkeit als Lehrer und Erzieher der Jugend mit der von ihm offenkundig hochgeschätzten priesterlichen Existenz verbunden, als er sich 1509 dazu entschloß, sich zum Priester weihen zu lassen. Im Vollzug seiner pädagogischen Arbeit verband er beide Existenzbereiche aufs engste. Das beweist unter anderem die Tatsache, daß er Bibelauslegungen in den Schulunterricht aufgenommen hatte, 77 geleitet wahrscheinlich zugleich von philologischen wie von religiösen Interessen im Sinne bibelhumanistischer Verbindung von Bildung und wahrer Religiosität. Darauf weist auch seine Selbstbezeichnung im Murmelliusbrief (»sacerdos Christi, Ludimagister Treptovii«) mit der unmißverständlichen Vorordnung des Priesters vor dem Schulmeister hin. 78 Unter welchem Bezugspunkt er das priesterliche Amt betrachtet wissen wollte, zeigt nicht nur die 1519 gehaltene Predigt, in der er Mißstände im Priesterstand ungeschminkt beim Namen nannte und mit seinen Berufskollegen hart ins Gericht ging, sondern auch bereits jene Passage in der Pomerania, in der er in Form eines Appells an seine künftigen Amtsbrüder auf die hohe Verantwortung priesterlicher Tätigkeit aufmerksam macht. Mit Nachdruck weist Bugenhagen darauf hin, daß alle priesterliche Tätigkeit sich im Wissen um letzte Verantwortlichkeit vor Gott zu vollziehen hat: »Wenn dir aber, wie es geschieht, Kirchen anvertraut werden und die Bedienung der Sakramente und die Sorge für das Volk, dann bist du kein Mönch mehr, 79 sondern der Seelsorger (curator) aller dir Anvertrauten, für die du einst vor dem höchsten Richter Rechenschaft zu geben hast«. 80 Die bereits in seiner Anfrage bei Murmelluis sichtbar werdende innere Haltung beständigen Strebens nach wahrer Frömmigkeit bestimmte also auch Bugenhagens Verhältnis zur »christlichen Philosophie« des Erasmus. Wie dieser lehnte Bugenhagen ein lediglich zeremonielles Christentum entschieden ab. 8 1 Seine 77

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Vgl. dazu Hauschild, wie Anm. 27, S. 87, Anm. 7. Die dort zitierten Sätze aus dem Widmungsbrief Bugenhagens zur Edition der Grammatikregeln des Murmellius (vgl. dazu oben, Anm. 40) machen sichtbar, daß er die Auslegung biblischer Texte sogar in den Mittelpunkt des Schulunterrichts stellen wollte. Dem korresponieren die Auskünfte Melanchthons: Declamatio, wie Anm. 20, Sp. 298: »Ut igitur et auditores ad veram pietatem flecteret, enarrare Matthaeum, et Epistolam ad Timotheum, et Psalmos in scholis cepit [...]«. BBW, wie Anm. 30, S. 1. Zwar wird die Anordnung der beiden »Existenzbereiche« primär als Widerspiegelung des damaligen »Sozialstatus« zu sehen sein, in dem der Priester deutlich vor dem Schulmeister rangierte; man geht aber wohl kaum fehl in der Annahme, daß Bugenhagen darin eine durchaus adäquate Wiedergabe seines Selbstverständnisses erblickte, für das der Priester zusehends an Gewicht gewonnen hatte. Bugenhagen hat hier die Verhältnisse im Prämonstratenserorden vor Augen, der kein Mönchsorden im strengen Sinne war, sondern ein Orden von regulierten Kanonikern, die für eine Tätigkeit in Predigt und Seelsorge ausgebildet wurden. Heinemann, wie Anm. 4, S. 97. Vgl. dazu Holfelder, wie Anm. 27, S. 117. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang eine Passage aus einem Brief des Erasmus an John Colet (1504): »Ich habe das Enchiridion nicht geschrieben, um meinen Geist oder meine Beredsamkeit zur

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Predigt aus dem Jahre 1519, in der der Einfluß des Erasmus teilweise bis in die konkrete Ausführung hinein mit Händen zu greifen ist, macht das in überzeugender Weise sichtbar. In der christlichen Philosophie des Erasmus, wie sie vornehmlich im Enchiridion militis christiani vertreten wird, begegnete Bugenhagen auch jenem theologischen Programm, das die Bibel als die entscheidende Grundlage für die anzustrebende Reform von Kirche und Frömmigkeit proklamierte. So ist es dann gewiß kein Zufall, daß er in der Zeitkritik seiner Pomerania eben diesen Gedanken deutlich betont. Daß Bugenhagen seine Epoche als eine Zeit bezeichnet, in der die Torheit verehrt wird - er fügt in charakteristischer Weise interpretierend hinzu: »daß ich nicht sage, die Gottlosigkeit«82 - weist in deutlicher Anspielung auf das Erasmische Lob der Torheit. Mißstände des christlichen und kirchlichen Lebens wie beispielsweise ausufernde Trinkgelage anläßlich christlicher Feste, an denen sich nicht nur sämtliche Alters- und Standesgruppen, sondern auch die Priester beteiligen, attackiert Bugenhagen gleichermaßen 83 wie Fabelglauben im Volk und die Praxis von Geistlichen, in ihrer Verkündigung mit Legenden über biblische Gestalten zu operieren und dabei den Eindruck zu erwecken, als stünde derartiges in der Bibel. 84 An den Kirchenjuristen tadelt er deren Habgier. Würden sie sich an der Heiligen Schrift orientieren und nicht an kanonistischen und scholastischen Spitzfindigkeiten, stünde es besser um die Verhältnisse im Lande. 85 Mit derartigen Angriffen bringt er über die Einzelkritik hinaus ein Grundanliegen zum Ausdruck, das ihm gleichermaßen wichtig erscheint wie Erasmus: Eine wirksame Reform in Kirche und Gesellschaft erscheint nur möglich, wenn die Autorität der Heiligen Schrift wiederhergestellt wird. Deren Unkenntnis sieht er als den entscheidenden Schaden der Kirche und als Ursache für die Mißstände in den Klöstern an. Wie Erasmus kritisiert er die Klöster nicht als solche, sondern ihre gegenwärtige Befindlichkeit, die ihrer eigentlichen Bestimmung eindeutig widerspricht.86

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Schau zu stellen, sondern allein darum, daß ich jene Leute von ihrem Irrtum heile, die meinen, die Religion bestehe nur aus Zeremonien und religiösen Gewohnheiten«. Zitiert nach W.P.Eckert: Erasmus von Rotterdam. Werk und Wirkung. 2 Bde. Köln 1967, Bd. 2, S. 97; vgl. zum Enchiridion auch Huizinga: Erasmus, wie Anm. 76, S. 48ff. Pomerania I, 7; Heinemann, wie Anm. 4, S.22: »ne dicam asebeia« (im Original griechisch). Pom. 1,7; Heinemann, S. 21f. Pom. I, 15; Heinemann, wie Anm. 4, S. 43f. Vgl. dazu wie überhaupt zu den Ausführungen Bugenhagens in 1,15 Hauschild, wie Anm. 27, S. 89. Pom. 1,15; Heinemann, wie Anm. 4, S. 44. Pom. III, 1; Heinemann, wie Anm. 4, S. 96f. Vgl. Hauschild, wie Anm. 27, S. 88: »Er kritisiert also nicht im reformatorischen Sinne prinzipiell die Zielsetzung der Klöster, sondern im erasmianischen Sinn pragmatisch-moralisch: Sie sind unwürdig ihrer eigentlichen Bestimmung.«

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Sein in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf entsprechende Bestrebungen in Belbuck skizziertes Reformprogramm für die Klöster zielte in der engen Verbindung von pia conversatio und sana Christiana doctrina auf die Förderung geistlichen wie geistigen Lebens und dürfte ebenfalls im Wirkungsfeld humanistischen Gedankengutes konzipiert worden sein. Er deutet dabei an, daß auch die Kathedral- und Kirchenschulen in einigen pommerschen Städten in diesem Sinne wirksam werden könnten, so daß nicht nur Mönche, sondern auch Weltkleriker von den Reformbestrebungen erfaßt würden. 87 Wenn Bugenhagen an anderer Stelle an seinen Wolliner Landsleuten deren Stolz auf ihre angebliche Abstammung von Julius Cäsar kritisiert und hier deutlich macht, es sei töricht, sich fremden Adels zu rühmen, und wenn er später in der Pomerania bemerkt, der Adel der Christen liege darin, mit Christus edel zu sein, 88 dann meint man, hier wiederum Erasmus zu hören, für den der Adel der Christen »nach rechten Taten, nicht nach Ahnenreihen zu bewerten« war. 89 Wiederum bezieht Bugenhagen seine Kritik auf ein seelsorgerliches Anliegen, und zwar mit der Bemerkung, wenn die Wolliner sich überhaupt rühmen wollten, dann sollten sie sich der Gnade Christi im Blick auf ihre Sünden rühmen. 90 Freilich, und darauf hat bereits Hans Eger verwiesen, »das spöttische Lachen oder Lächeln des Weisen« will Bugenhagen »nicht recht gelingen«. 91 Seine Betrachtungen und Ermahnungen in der Pomerania weisen nicht die geistvolle, geschliffene Leichtigkeit erasmischer Diktion und Gedankenführung auf. Sie kommen eher etwas behäbig und hausbacken daher, spiegeln aber gerade darin den eindringlichen Ernst des um das Heil der Seelen zutiefst besorgten, sich seiner letzten Veranwortlichkeit bewußten Priesters und christlichen Lehrers. Vieles hätte hier ausführlicher und differenzierter behandelt werden müssen. Im Rahmen eines zeitlich begrenzten Symposion-Beitrages war das schlechterdings nicht möglich. Vor allem Bugenhagens Predigt aus dem Jahre 1519 und seine ebenfalls in diese Zeit gehörende Matthäus-Auslegung, aber auch seine Passionsharmonie, zu der ihn Mißstände der zeitgenössischen Osterpredigt veranlaßt haben, 9 2 wären ergänzend einzubeziehen gewesen. In ihnen wird die tiefgreifende erasmische Grundprägung seines Denkens noch deutlicher. Daß Bugenhagen in der Pomerania im Wirkungsfeld humanistischen, speziell erasmischen Denkens steht, ist unbezweifel87 88 89 90 91 92

Ebd.; vgl. Hauschild, wie Anm. 27, S. 89. Pom. 1,7; Heinemann, wie Anm. 4, S. 20, sowie III, 1; Heinemann, wie Anm. 4, S. 96. Nachweis bei Eger, wie Anm. 59, S. 27, Anm. 14. Pom. 1,7; Heinemann, wie Anm. 4, S. 20. Eger, wie Anm. 59, S. 28. Vgl. »Das Leiden vnd Aufferstehung vnseres Herrn Jesu Christi aus den vier Evangelisten Durch D. Johann Bugenhagen Pommern vleissig zusamen gebracht [...]«. Wittenberg 1544, Bl. Aiir - Biiv. Vgl. auch Georg Geisenhof: Bibliotheca Bugenhagiana. Bibliographie der Druckschriften des D. Joh. Bugenhagen. Leipzig 1908, S. 102f.

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bar. Die Beobachtung, daß Bugenhagen seine Pomerania in ein zeitkritischreformerisches Programm integriert hat, legt es nahe, die Frage nach dem texttypologischen Charakter des Werkes neu zu stellen. Dementsprechend wären die zeitkritischen Ausführungen nicht als mehr oder minder willkürlich eingestreute Zusätze zum historiographischen Grundbestand des Werkes, sondern als deutliche Indikatoren gestalterischer Konzeption zu werten. Zweifellos wird man sehen müssen, daß es Bugenhagen nicht wirklich gelungen ist, sein Werk als ganzes in diesem Sinne zu durchdringen. Insofern repräsentiert die Pomerania in ihrer Weise den Übergang von mittelalterlicher Chronistik zu humanistisch inspirierter Geschichtsdarstellung. Im Blick auf das in dieser Hinsicht zweifellos zu negativ ausgefallene Urteil über Bugenhagens eigene Leistung bei Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dort allzu sehr mit der kritischen Elle einer hochentwickelten modernen Historiographie Maß genommen worden ist. Gleichfalls stärker als bisher wird zu beachten sein, daß die Pomerania in einer Zeit und unter Umständen entstanden ist, in der verschiedene humanistische Einflüsse auf ihren Verfasser und damit auf ihr Konzept eingewirkt haben können. Unter diesem Blickwinkel wären folgende Aspekte zu bedenken. 1. Bugenhagen hat nachweislich die partiell bereits vom Geist humanistischen Geschichtsverständnisses beeinflußte Weltchronik Hartmann Schedels benutzt. Gleiches gilt für einige einschlägige Schriften der Humanisten Konrad Wimpina und Heinrich Bebel sowie für die im humanistischen Geist abgefaßte Tragicomoedia der Jerusalemfahrt des erlauchten Pommernfürsten des herzoglichen Rates Johann von Kitzscher. 93 Inwieweit haben sich ihm bei der doch wohl vorauszusetzenden intensiven Lektüre dieser Schriften Einsichten in bestimmte Anliegen humanistischer Geschichtsbetrachtung eröffnet, und haben diese möglicherweise in der Pomerania bisher nicht als solche erkannte Spuren hinterlassen? Wie steht es zum Beispiel unter diesem Aspekt um den in der Darstellung deutlich erkennbaren Patriotismus Bugenhagens und sein Bemühen, die kirchliche und politische Unabhängigkeit und Eigenständigkeit Pommerns herauszustellen, die zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit Tendenzen in der humanistisch geprägten Historiographie aufweisen? 94 2. Die Erarbeitung der Pomerania ist nach Bugenhagens eigenem Zeugnis von Valentin von Stojentin begleitet worden. Stojentin hatte in Bologna und Frankfurt/Oder gleichzeitig mit Ulrich von Hutten studiert, war mit diesem befreundet und muß ohne Frage als einer der wirksamsten Förderer humanistischen Geistes in Pommern gelten. 93 94

Nachweise bei Heinemann, wie Anm. 4, S. XIIIff. und XLIff. Vgl. dazu Trillitzsch, wie Anm. 14, S. 71ff.

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3. Die Pomerania ist zu einer Zeit und d.h. in einem geistigen Klima entstanden, in dem Bogislaw X. selbst, unterstützt von mindestens einigen seiner Räte und pommerschen Adligen, sehr darum bemüht war, Pommern humanistischen Anregungen zu erschließen, erkennbar an seinen wiederholten Bestrebungen, die Greifswalder Universität mittels einer entsprechenden Berufungspolitik in humanistischem Geist zu reformieren oder sie wenigstens doch humanistischem Denken zu öffnen, deutlich sichtbar aber auch in anderen Bereichen des geistig-kulturellen Lebens am pommerschen Hof in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 95 4. Unter weiterdimensionierten geistes- und ideengeschichtlichen Aspekten ist zu beachten, daß die Pomerania letztlich eingebettet erscheint in die eindeutig von humanistischen Gedanken angeregte Vorstellung, Landesbeschreibung und Hofhistoriographie im Sinne einer national- oder auch territorial-patriotischen Aufarbeitung von Geschichte zu verbinden und sie gleichzeitig als Vehikel engagierter Zeitkritik zu benutzen. Diese Idee ist klar erkennbar in den zur gleichen Zeit (1519-21) entstandenen Annales Boiorum des Johannes Aventinus. In diesem Werk begegnen wir in noch deutlicherer Weise jenen Zügen, die auch an der Pomerania ins Augen fallen, und von denen hier zum Teil nur andeutend die Rede war. 96 Am Schluß muß einem möglichen Mißverständnis dieses Beitrages begegnet werden. Es war keineswegs meine Absicht, Bugenhagens Pomerania zu einem humanistischen Geschiehtswerk hochzustilisieren. Das verbietet dann doch wohl der tatsächliche Befund. Es ging vielmehr darum, eingeschliffene Urteile zu überprüfen sowie auf den geistesgeschichtlichen Ort der Pomerania im Wirkungsfeld des Humanismus mit einigem Nachdruck aufmerksam zu machen. Offene Fragen regen die Forschung an. Als eine solche zumindest teilweise offene Frage möchte dieser Beitrag verstanden werden.

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Vgl. dazu etwa Buske, wie Anm. 23, S. 51ff., speziell S. 65ff. Vgl. dazu die knapp orientierenden Bemerkungen bei Trillitzsch, wie Anm. 14, S. 75; zu Aventinus und seinen »Annalen« vgl. Hans Pörnbacher: Artikel: Aventinus, Johannes. In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 1. Gütersloh, München 1988, S.263f.

Wilhelm

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Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535-1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund - Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der »laus urbis« I

Wer heute darauf besteht, auch die lateinische Literatur deutscher Autoren als wichtigen Faktor der nationalen Kulturentwicklung zu begreifen, stößt kaum mehr auf ernstzunehmenden Widerspruch. Frühere Neigungen, die lateinische Seite der frühneuzeitlichen Schriftkultur in sprachpatriotischer Optik zu disqualifizieren oder nach Maßgabe goethezeitlicher Kategorien abzuwerten, 1 finden nur noch vereinzelt Resonanz. Denn mittlerweile läßt sich nicht mehr verkennen, daß zentrale literarische Entwicklungslinien bis hin zu den großen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts nicht in der muttersprachlichen, sondern in der lateinischen Versdichtung des 16. Jahrhunderts auszuziehen sind. 2 So standesbewußt die gelehrten Dichter ihre Bildungskompetenz auch als Moment sozialsymbolischer Abgrenzung kultivierten, so fraglos empfanden sie ihr Tun als nationalen Auftrag, als Beitrag zu einer deutschen Dichtung, die im Rekurs auf die großen Muster der Antike zugleich Vorbilder der Romania aufgreifen und mit ihnen in einen fruchtbaren Wettbewerb treten sollte. Gewiß, gerade die Versdichtung des Reformationsjahrhunderts bezog sich in deutsch-lateinischer Koexistenz oder Symbiose auf heterogene Formkonventionen, Verwendungszusammenhänge und thematische Dominanten. Doch das moralistische Literaturprogramm der studio humanitatis, das seit der italienischen Renaissance einen Kernbereich kultureller Selbstverständigung ausmachte, fand 1

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Zur Forschungsgeschichte grundlegend Günter Hess: Deutsche Literaturgeschichte und neulateinische Literatur. Aspekte einer gestörten Rezeption. In: Acta Neo-Latini Amstelodamensis, hg. von Pierre Tuynman. München 1979 (Humanistische Bibliothek, Reihe I, Bd. 26), S. 493-538; zum Thema insgesamt vgl. Wilhelm Kühlmann: Nationalliteratur und Latinität: Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1989 (Frühe Neuzeit, Bd. 1), S. 164-206; dazu auch neuerdings meine Rezension der ersten beiden Bände von Hans-Georg Kempers »Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XX, Heft 2 (1988), S. 137-144. So schon Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 4), spez. S. 267.

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auch nach der Aufbruchphase des deutschen Frühhumanismus weiterhin seinen sozialen Ort und seine soziale Anbindung: vornehmlich in den Schulen und Universitäten, von dort aus aber ausstrahlend bis ins 18. Jahrhundert auf einen ständeübergreifenden Erziehungsentwurf. Im Zeichen der studia humanitatis wurde literarische Gewandtheit zum auszeichnenden Moment des individuellen Habitus, einer moralistischen Verhaltensreflexion und einer Bewußtseinswirklichkeit, in der die komplexen Spannungen zwischen personaler Identität und sozialer Erfahrung immer von neuem bedacht und formuliert werden konnten. Die Humanisten nobilitierten den gelehrten Dichter zur Leitgestalt kultureller Kompetenz und festigten den Sinn sowohl für die pragmatische Verfügbarkeit wie auch für die affektiven und ästhetischen Dimensionen von Rede und Schrift. Auch nach den Umbrüchen der Reformation, durch die säkulare Impulse der Weltaneignung einstweilen zurückgedrängt wurden, blieben die grundlegenden Ziele und Methoden des gelehrten Bildungswesens unangetastet, ja sie verdichteten sich im Wirken des Straßburger Akademiedirektors Johannes Sturm (1507-1589) und - mehr noch - in der ausgreifenden Programmatik und Tätigkeit Melanchthons (1497-1560) zum Leitbild der litterata pietas, d.h. der Kombination von Sprachkultur und moralisch-religiöser, späterhin manchmal konfessionalistisch verengter Gesinnungsfestigkeit. 3 Die Schulung von ratio und oratio sowie die Lektüre der antiken Musterautoren als Fundament eines auf res und verba ausgerichteten Bildungswissens waren Voraussetzungen gelehrter Poesie und zugleich Lernziele der die humanistisch-neulateinische Literatur tragenden und fördernden Institutionen. Was an Gelehrtenschulen eingeübt und was in der produktiven Aneignung der Latinität von einzelnen geleistet wurde, trat dabei immer wieder in einen unverkennbaren Zusammenhang mit kulturellen Bedürfnissen, die von außerschulischen Instanzen angemahnt wurden: Die gelehrte Dichtung des 16. Jahrhunderts war

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Zusammenfassend zur frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus als Standeskultur (1932). In: Richard Alewyn (Hg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Köln-Berlin. 3. Aufl. 1968 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 7), S. 147-181; Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3); Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 75). - Zugang zur kaum überschaubaren Melanchthon-Literatur bietet nunmehr der einschlägige Artikel von Heinz Scheible. In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 8. München 1990, S. 88-92; Melanchthon als Bezugsfigur der zeitgenössischen und späteren Dichter ist bisher, von Ellinger (s.u.) abgesehen, leider nur ansatzweise ins Auge gefaßt; vgl. neuerdings Manfred P. Fleischer: Melanchthon as Praeceptor of Late-Humanist Poetry. In: The Sixteenth Century Journal XX (1989), S.559-579.

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zwar akademisch geprägt, bezog sich jedoch fast immer auch auf das soziale Umfeld von Hof, Stadt und Kirche. Dies umso mehr, als die antikisierende Dichtung keine einsame Selbstaussprache förderte, sondern in der Regel dialogisch angelegt war. Gerade die humanistisch-neulateinische Lyrik unter Einschluß ihrer epischen Grenzformen, zu denen auch das Städtelob gehört, richtete sich an bestimmte Adressaten, ist zu verstehen in einem literarischen wie auch historisch-aktuellen Anspielungshorizont, das heißt aber in Rücksicht auf sozial definierte Darstellungsinteressen und Schreibsituationen. Mit diesen charakteristischen Merkmalen der neulateinischen Literatur generell und der Versdichtung speziell ist zugleich erwünscht, was den thematischen Schwerpunkt dieser Tagung bildet: eine auch regionale Betrachtungsweise. Wohlgemerkt: >Regional< bedeutet nicht >provinziellLiterarizität< ermöglichten oder stimulierten. Dieser historische Auftrag der literaturwissenschaftlichen Analyse und auch Geschichtsschreibung verlangt für die hier interessierende Epoche unabdingbar und vorab eine >positivistische< Erfassung und Erschließung aller nötigen Informationen, aus denen sich das literarische Wirken und der literarische Anspruch einzelner Autoren ablesen läßt. Denn gerade für die Frühe Neuzeit ist in Hinsicht elementarer faktographischer, ja selbst bibliographischer 4

Die vorliegende Studie schließt sich an meine älteren Arbeiten an, die dem Versuch einer regionalgeschichtlichen Lektüre humanistischer Lyrik gewidmet sind; vgl. u.a.: Zur literarischen Lebensform im deutschen Späthumanismus. Der pfälzische Dramatiker Theodor Rhodius (ca. 1575-1625) in seiner Lyrik und in seinen Briefen. In: Daphnis 17, Heft 4 (1988), S. 671-749 ( = ganzes Heft!) - mit weiteren Hinweisen; Zum literarischen Profil des Kryptocalvinismus in Kursachsen - Der »Poet« Johannes Major (1533-1600). In: Dresdner Hefte 10. Jg., Heft 29 (1992), S. 43-50; Westfälischer Gelehrtenhumanismus und städtisches Patriziat. Die Gedichte des Osnabrücker Poeten Henricus Sibaeus (Heinrich Sibbe) in der Perspektive regionaler Kulturraumforschung. In: Daphnis22 (1993), S. 443-472.

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Basisarbeit noch lange nicht das geleistet, was in Teilsektoren späterer Perioden mittlerweile als selbstverständlich verfügbarer Wissensfundus vorhanden ist. Mit diesen Vorbemerkungen möchte ich umreißen, was von diesem Vortrag zu erwarten ist: Ich möchte Ihnen eine literarische Gestalt des protestantischen Humanismus vorstellen, die in Vorpommern geboren wurde, hier in mehreren Phasen ihres Lebens wirkte, die als Jünger und Schüler Melanchthons so wie andere Autoren in anderen Regionen das literarische Programm Melanchthons verwirklichte und in ihrem wichtigsten Werk, dem ausladenden epischen Lobgedicht auf Stralsund, zugleich die Interessenallianz zwischen dem humanistischen Dichter und dem bürgerlichen Patriziat verdeutlichen wollte. Gerade die urbane Einbindung eines Großteils der neulateinischen Literatur, ganz zu schweigen von der städtischen Verankerung des gelehrten Schulbetriebs sowie der affinen Institutionen des Druck- und Verlagswesens, gehört zu einem kulturhistorischen Phänomenkomplex, der in der Städteforschung der letzten Jahrzehnte mit gutem Grund besondere Aufmerksamkeit gefunden hat. 5 Was für andere Regionen teilweise bereits in Angriff genommen worden ist, muß - im Anschluß an frühere Forschungen 6 - zukünftig auch für die Städte Pommerns in verstärktem Maße untersucht werden. Zacharias Orth, dessen Werdegang nur nach Maßgabe spärlicher Daten rekonstruiert werden kann, wird zwar in wichtigen Nachschlagewerken berücksichtigt, zumal in Georg Ellingers heute noch grundlegender Ge-

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Aus den zahlreichen Arbeiten und wichtigen Sammelwerken sei exemplarisch angeführt: Heinz Schilling: Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts. In: Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland. Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Verbindung mit Peter Alter und Robert W. Scribner. Stuttgart 1979 ( = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 5), S. 235-308; ders.: Vergleichende Betrachtungen zur Geschichte der bürgerlichen Eliten in Nordwestdeutschland und in den Niederlanden. In: Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit. Hg. von Heinz Schilling und Hermann Diederiks. Köln-Wien 1985, S. 1-32; ferner: Humanismus und höfisch-städtische Eliten im 16. Jahrhundert. Hg. von Klaus Malettke und Jürgen Voss. Bonn 1989 ( = Pariser Historische Studien, Bd.27), hier u.a. Beiträge zu Braunschweig, Köln und Frankfurt; auf die Bedeutung der Kasualdichtung für die Erforschung der Urbanen Kultur weist mit Nachdruck Klaus Garber: Stadt-Kultur und Barock-Begriff. Zur Kritik eines Epochenbegriffs am Paradigma der bürgerlich-gelehrten humanistischen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt - Kultur - Sozialgefüge. Hg. von Kersten Krüger, KölnWien 1988.

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Die Autoren des pommerschen Späthumanismus sind literaturwissenschaftlich und im größeren Rahmen bisher, soweit ich sehe, nur von Wilhelm Bethke in einer wertvollen Untersuchung behandelt worden: Die dramatische Dichtung Pommerns im 16. und 17. Jahrhundert. Diss. phil. Berlin 1937. Gedruckt: Stettin 1938.

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schichte der neulateinischen Lyrik.7 Doch diese Aufmerksamkeit ist eigentlich nur Ernst Heinrich Zober (1799-1869), dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl bedeutendsten >Heimatforscher Stralsunds, zu verdanken. Als Stralsunder Gymnasiallehrer, Stadtbibliothekar und Mitglied der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde, gab er 1831 Orths Lobgedicht auf Stralsund (1562 in Rostock gedruckt) in einer zweisprachigen kommentierten Ausgabe heraus und versah diese Edition mit einem heute noch unentbehrlichen bio-bibliographischen Vorspann. 8 Zober gehört zu einer Formation von Gelehrten, die im 19. und 20. Jahrhundert zwar zumeist am Rande der akademischen Welt ihren Platz fanden, doch in der Traditionspflege des humanistischen Gymnasiums das Interesse an der humanistisch-lateinischen Literaturbewegung auch dann nicht verloren, als eine deutschtümelnde Germanistik die weittragenden Anregungen der europäischen Renaissance leichthin zugunsten einer deutsch-reformatorischen Emphase verdrängten. Zober ist - in seinem Rahmen - zu vergleichen mit ähnlichen Protagonisten der deutschen Humanismusforschung: mit Georg Ellinger, Gustav Bauch, mit Adalbert Horawitz oder - im pfälzischen Raum - mit Karl Hartfelder. Wir haben allen Grund, dieser Männer mit Achtung zu gedenken. Meine eigenen, in den letzten Monaten vorangetriebenen Erkundungen können nur einige Dokumente und Fakten beitragen, die das bereits von Zober gesammelte biographische Material ergänzen. Zacharias Orth wurde etwa im Jahre 1535 in Stralsund geboren. 9 Eintragungen in Büchern, die sich aus seinem Nachlaß in der Stralsunder Rats7

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Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. I—III, hier Bd. II: Die neulateinische Lyrik Deutschlands in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Berlin und Leipzig 1929. Neudruck 1969, zu Orth S. 283-286; einen Überblick bietet der ADB-Artikel von Pyl (Bd. 24, 1887, S. 443-445). Ernst Heinrich Zober: Des M. Zacharias Orthus geborenen Stralsunders und gekrönten Dichters Lobgedicht auf Stralsund. Einleitung, lateinische Urschrift, Uebersetzung, Anmerkungen und Anhang. Stralsund 1831 (im folgenden zitiert als »Zober«); hier im Vorspann S. 14-34 das bis heute maßgebende Werkverzeichnis. Der Originaltitel lautet: Inclytae urbis Stralsundae origo et res gestae, ex veris historiis conscriptae, ad Amplissimum Senatum populumque Sundensem, a Μ. Zacharia Ortho Sundensi, Poeta Laureato. Rostochii excudit Stephanus Myliander. Anno M.D.LXII. Die Orth betreffenden Titelaufnahmen im »Verzeichnis deutscher Drucke des 16. Jahrhunderts« (I. Abt., Bd. 15, München 1989, Nr. Ο 953-957) enthalten, gemessen an Zober, nur einen Bruchteil der Orthschen Publikationen, ergänzen das Zobersche Werkverzeichnis allerdings durch den Hinweis auf drei Kasualgedichte (O 953-955). Soweit nicht anders angegeben, stütze ich mich in der folgenden Lebensskizze auf die Angaben Zobers bzw. die von ihm benutzten und zitierten Quellen. - Eine späte, in manchen Passagen durchaus vergleichbare Nachfolge fand Orths Stralsund-Epos übrigens in: Fr. Furchau, Prediger zu St. Johannis: Lobspruch der Stadt Stralsund bey ihrem dritten Reformations-Jubelfeste am 4.ten May 1823. Stralsund (1823). - Exemplar in der UB Greifswald. Vgl. Ernst Friedländer (Hg.): Aeltere Universitäts-Matrikeln. II. Universität Greifswald. Erster Band (1456/1645). Leipzig 1893 ( = Publicationen aus dem K. Preußischen

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bzw. Stadtbibliothek (bis heute?) erhalten haben, machen gewiß, daß er zeitweise die Gelehrtenschule in Lübeck besuchte. Spätestens in den Jahren 1555 bis 1557 finden wir Orth an der Universität Rostock eingeschrieben, wo er alsbald (1556) aus der Hand des Jakob Heraklides, der sich als kaiserlicher Pfalzgraf bezeichnen durfte, den Dichterlorbeer erhielt. Heraklides, eine der merkwürdigsten Abenteurergestalten des 16. Jahrhunderts, Adoptivsohn eines griechischen Condottiere, zuletzt Feldherr und Despot von Moldavien, muß Orth auch mäzenatisch unterstützt haben. Als frischgebackener Magister (18.5.1557) konnte Orth in Rostock bereits Vorlesungen halten, begab sich aber schon 1557 nach Wittenberg, offenbar angezogen vom Ruf Melanchthons, dem er treu ergeben blieb und der ihm noch auf dem Sterbebett einen aufmunternden Briefgruß zukommen ließ. 10 In Gedichten huldigte Orth seinem Lehrer und hielt unter der Anleitung Melanchthons auch eine öffentliche Vorlesung über Homer. Dieser Vorlesung schickte Orth eine Rede über die Dichtkunst voraus. 11 Nicht ohne Empfehlung Melanchthons wurde er bereits im Jahre 1559 als Professor für Poesie nach Greifswald berufen, übernahm, wie damals nicht unüblich, zeitweise auch die Auslegung der klassischen Historiker. Seine rege Lehrtätigkeit (Vorlesungen über Herodot, Thukydides, Ovid, Cicero und Horns) währte bis 1561. Anschließend begab sich Orth zunächst nach Schweden, dann wohl direkt nach Wittenberg. Der Wittenberger Aufenthalt dauerte - mit Unterbrechungen - bis 1564. In dieser Zeit publizierte Orth neben seinem Lobgedicht auf Stralsund nicht nur ein Bändchen mit lateinischen Elegien

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Staatsarchiven, 52. Bd.), spez. S. 231, und zu den folgenden, Greifswald betreffenden Daten auch S. 256, 258, 266, 278. Daraus ergeben sich kleinere Korrekturen gegenüber den Angaben Zobers. Melanchthon verfaßte am Osterfest (14.4.) 1560 drei Briefe an den Pommerschen Superintendenten Jacob Runge, dessen Bruder Andreas (dieser war Orths Kollege als Prof. der Redekunst in Greifswald 1559/60: Zober S.6f.) und an Orth: vgl. den Textabdruck bei Robert Stupperich: Melanchthons Anteil an der Reformation in Pommern. In: Archiv für Reformationsgeschichte 51 (1960), S. 208-222, zu Orth spez. S. 221f.; zum neugefundenen Original des Briefes an J. Runge nunmehr Heinz Scheible: Melanchthons Abschiedsbrief an seinen Schüler Jacob Runge. Eine Neuerwerbung der Badischen Landesbibliothek. In: Bibliothek und Wissenschaft 23 (1989), S. 268-290 - mit umfassenden Literaturhinweisen zu Melanchthons Verbindungen nach Pommern. Ich danke Herrn Dr. Scheible für freundliche Hinweise bei der Vorbereitung dieses Beitrags. Oratio de arte poetica recitata Witebergae a Zacharia Ortho cum publice inchoaret enarrationem Odysseae Homeri. Cumpraefatione Philippi Melanthonis (so!). Wittenberg 1558; Melanchthons Vorrede besteht aus einem Schreiben an Johann Friedrich, den Bischof von Cammin und späteren Herzog, in dem Orth ausdrücklich »patriae usui et ornamento« empfohlen wird; ohne diese Empfehlung abgedruckt im Corpus Reformatorum (ed. Bretschneider) IX, 602-607; vgl. Dr. L. Neubauer: Ein Nachtrag zum Corpus Reformatorum. In: Altpreußische Monatsschrift 28 (1891/92), S. 246-274, spez. S. 270; zitiert auch schon von Zober, S. 15f.

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(1562),12 sondern auch vier in griechischer Sprache geschriebene Gedichtwerke mit historischen Porträts der byzantinischen, römischen, »türkischen« und deutschen Kaiser (1563). Mit diesen ehrgeizigen Leistungsbeweisen wollte Orth nicht nur seine philogische Könnerschaft unterstreichen, sondern auch seinen Sinn für historisch-politische Zusammenhänge demonstrieren. Da Melanchthon im Jahre 1560 gestorben war, schloß sich Orth an Melanchthons Weggefährten, an Joachim Camerarius (1500-1574), den Leipziger Professor und großen Graezisten, an. 13 Vier bisher unbekannte Briefe Orths - erhalten in der Münchener Collectio Camerariana (leider ohne Jahresdatum und teilweise ohne Anschrift) - werfen Schlaglichter auf die Situation und Lebensstrategie des Schreibers. Der erste (?) Brief vom 28. November 1562 (?) - s. den Abdruck im Anhang - erwähnt seine vergeblichen Hoffnungen, am Hof des Erzbischofs von Magdeburg eine Stelle zu finden. Camerarius erhält die Manuskripte der poetischen Kaiserhistorien zur Durchsicht. Ein Stoßseufzer Orths beleuchtet die offensichtlich bedrängte Lebenslage: »Aber die Poeten schreiben in diesem Jahrhundert nicht um des Ruhmes, sondern um des Hungers willen«. Zugleich läßt der Brief erkennen, daß Orth sich seinen Unterhalt offensichtlich auch als Korrektor in einer Wittenberger Druckerei verdiente. Im folgenden (?) Brief erinnert Orth ausdrücklich daran, daß er durch den Tod Melanchthons seines »Lehrers und Vaters« beraubt sei. Er habe nun nur noch Camerarius, zu dem er sich wie zu einem Anker flüchte. Melanchthon habe ihn Camerarius, seinem alten Freund, empfohlen. Er sendet den zweiten Teil der Kaisergedichte (Caesares) und beabsichtigt, sie im nächsten Sommer zu publizieren. Ausdrücklich weist Orth daraufhin, er sei nun in dem Alter, in dem er »seine Studien einem festen Ziel zuwenden müsse« («Quia iam aetatis sum, ut ad certum scopum omnia studia mea semel mihi dirigenda sint.«). Es folgt ein Bericht über Neuigkeiten. Bei einem Besuch am Stettiner Hof erfuhr Orth manches über aktuelle politische und militärische Vorgänge. Sorgen machte ihm das Vordringen einer Seuche («dysenteria«) in Pommern. Ein Tübinger Matrikeleintrag 14 vom 27. Juni 1564 scheint zu belegen, daß Orth nicht umsonst an Camerarius' Wohlwollen appelliert hatte. Orth 12

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Zach. Orthi Pomerani, poetae laureati, carminum liber primus. Rostock 1572; hier nach Zober, S. 18, der auf einen möglichen Erstdruck des Werks von 1561 hinweist und die in dem Band gesammelten 17 Elegien aufzählt. Das hier gedruckte Epicedium auf Herzog Philipp (Zober S. 16, Nr. 3) hat sich auch als Einzeldruck erhalten: s. die Angaben bei Scheible, wie Anm. 10, S. 277. Ellinger, wie Anm. 7, charakterisiert die Sammlung und zitiert aus dem an Melanchthon gerichteten Huldigungsgedicht: » [ . . . ] non ingenii tantum formator et artis, Corporis et pariter causa salutis eras.« Zu ihm umfassend Frank Baron (Hg.): Joachim Camerarius (1500-1574). Beiträge zur Geschichte des Humanismus im Zeitalter der Reformation. München 1978. Heinrich Hermelink: Die Matrikeln der Universität Tübingen. Erster Band: Die Matrikeln von 1477-1600. Stuttgart 1906, S. 447, Nr. 54-56.

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zeichnet hier nämlich als »praeceptor« zweier aus Nürnberg stammender Studenten, deren Betreuung ihm doch wohl Camerarius, vielleicht durch seinen gleichnamigen Sohn, seit 1564 Nürnberger Stadtarzt, vermittelt haben dürfte. Im letzten der Briefe deutet sich bereits die Aussicht auf eine neue Stellung an. Camerarius wird gebeten, ihn brieflich an »Herrn Stoius«, den Leibarzt Herzog Albrechts von Preußen, zu empfehlen. In der Tat erhielt Orth bald die Stelle eines Aufsehers und Praeceptors am Alumnat der Königsberger Akademie (1566-70).15 Allerdings wollte Orth sich wie so viele gelehrte Humanisten eine Reise nach Italien offenbar nicht entgehen lassen. Gelegenheit mag sich ihm wiederum als Reisebegleiter begüterter Studenten geboten lassen. Jedenfalls bezeugen Einträge in seine Bücher wie auch eine Stammbuchwidmung, 16 daß er 1572/72 Padua und Venedig besuchte. Zwei Hochzeitsgedichte, die er 1575 in Wolfenbüttel, d.h. in einer Druckerei der »Heinrichstadt« (»Henricopolis«) publizierte, 17 können einen Aufenthalt im Umkreis des Braunschweiger Hofes wahrscheinlich machen. Für das Frühjahr 1578 ist Orth wieder in Stettin bezeugt, dann muß er nach Vorpommern zurückgekehrt sein. Orth starb in der Stadt Barth am 2. August 1579. Insgesamt also ein Lebensweg, der über die Niederungen des später so vielgeschmähten Schulstaubs nicht weit hinausführte und Orth kaum jemals von Existenzsorgen befreite. Ein Jurastudium, das Orth zeitweise vielleicht ins Auge faßte, 18 hätte Karriereaussichten eröffnet. Doch selbst in Stralsund, seiner Heimatstadt, fand der Poet und Magister offensichtlich kein dauerndes Unterkommen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Orth 1562 sein episches Lobgedicht auf Stralsund dem Stadtrat überreichte und dafür ein Ehrengeschenk von dreißig Talern erhielt. Nicolaus Genzkow, einer der vier Bürgermeister, und Joachim Klinkow, namhafter Ratsherr, erhöhten Orths Belohnung offensichtlich noch aus ihrer privaten Schatulle.19

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Dazu vgl. Ernst Heinrich Zober: Drei Briefe an Herzog Albrecht von Preußen. Stralsund 1854. Stammbuch Jacob Heckelberger in Hohenberg (Königl. Bibl. Kopenhagen, Tottske Sämling, Nr. 1282): Z. Orth zeichnet hier am 26.5. 1573 in Padua mit einem griechischen Zitat aus Menander, das er ins Lateinische übersetzt: »Nec levis ingenuas animum coluisse per artes/Cura sit, et linguas edidicisse duas«; dazu tritt das Stammbuch Valentin Tenner (Sächsische LB Dresden) mit einer Eintragung aus Tübingen vom 28.4.1565: »Ut ameris amabilis esto«. Titelaufnahme im »VD 16«, wie Anm. 8, Nr. Ο 954,955. Im Büchernachlaß Orths fand sich auch ein Exemplar des »Jus civile«, das von Bartholomaeus Sastrow erworben wurde: Zober, S. 13. Vgl. die Aufzeichnungen in: Dr. Nicolaus Gentzkows Tagebuch [ . . . ] . Hg. von Ernst Zober. Greifswald 1870, S. 162f.

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II Orths Lobgedicht auf seine Heimatstadt, fast zweitausend Verse (elegische Distichen) umfassend, läßt sich nur in einer form- und vor allem funktionsgeschichtlichen Betrachtung des Gattungszusammenhangs verstehen. Aspekte der panegyrischen Strategie und topischen Struktur des Genres führen auf die Frage nach Darstellungsbedürfnissen, denen die laudes urbis ihre so ungemeine Attraktivität verdankten. Dazu möchte ich vorab folgende Thesen bzw. literaturhistorische Befunde skizzenhaft in Erinnerung rufen: 1. Das humanistisch-lateinische Städtelob, zumeist in Versen, seltener in Prosa verfaßt, instrumentiert Techniken der deklamatorischen Paraenese. Deskriptive Gegenstandsbezüge verbinden sich dabei mit epideiktisch-appellativen, normstiftenden bzw. normbestätigenden Aussageformen. Dadurch wie auch durch den besonderen ästhetischen Gattungsanspruch und Formwillen, der nicht selten durch separate Publikationen beglaubigt wurde, unterscheiden sich die humanistischen Städtegedichte - trotz aller vom Gegenstand her gegebenen Momente der Kontinuität - von Traditionen der mittelalterlichen Stadtbeschreibung, die überwiegend in Werke anders gearteten Zuschnitts eingelegt waren. 20 2. Im Anschluß an erste Beispiele des 15. Jahrhunderts erlebte die humanistische laus urbis ihre Hochblüte im 16. Jahrhundert. Nach durchaus vorläufiger Erfassung des Quellenmaterials 21 haben wir es in dieser Zeit mit 20

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Dazu grundlegend, wenn auch für die humanistische Tradition weniger ergiebig Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters. München-Zürich 1986 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 88); Paul Gerhard Schmidt: Mittelalterliches und humanistisches Städtelob. In: Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Renaissanceforschung, Bd. 1), S. 119-127. Die hier und im folgenden genannte Literatur enthält umfangreiche Hinweise auf Forschungsarbeiten, die ich nur zum kleinsten Teil im gegebenen Rahmen erwähnen kann. Neben der nach Städten geordneten Werkliste bei Kugler, wie Anm. 20, ist immer noch zurückzugreifen auf das seinerzeit bahnbrechende Werk von William Hammer: Latin and German Encomia of Cities. Diss. Chicago 1937; Einblicke in den Überlieferungsbestand gewähren ferner Joseph Neff (Hg.): Helius Eobanus Hessus. Noriberga Illustrate und andere Städtegedichte. Berlin 1896 (Lateinische Litteraturdenkmäler des XV. und XVI. Jahrhunderts, Bd. 12) - Einleitung!; vgl. neuerdings - mit einem Schwerpunkt auf niederländischen Zeugnissen - die auch für die antike Grundlegung des Genres wichtige Untersuchung von Franciscus Petrus Thomas Slits: Het Latijnse Stedegedicht. Oorsprong en Ontwikkeling tot in de zeventiende Eeuw. Diss. Nijmegen. Amsterdam 1990. An neueren Einzeluntersuchungen zum neulateinischen Typus seien exemplarisch wenigstens angeführt Hermann Bücker: Das Lobgedicht des Johannes Murmellius auf die Stadt Münster und ihren Gelehrtenkreis. In: Westfälische Zeitschrift 111 (1961), S. 51-74; Jürgen Stohlmann: Zum Lobe Kölns. Die Stadtansicht von 1531 und die »Flora« des Hermann von dem Busche. In: Jb. des Kölner Geschichtsvereins 51 (1980), S. 1-56; Hartmut Kugler: Stadt und Landschaft im huma-

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fast zweihundert Texten zu tun, die sich über das gesamte alte Reichsgebiet samt seinen G r e n z z o n e n verteilen, vornehmlich aber d e n südwestdeutschen u n d sächsisch-böhmischen Städteraum betreffen. 3. D a s humanistische Städtelob rührt sich thematisch mit benachbarten F o r m e n der literarischen Kulturtopographie: vor allem mit d e m - manchmal zyklisch komponierten - Städteepigramm und den Exkursen des humanistischen Reisegedichts ( H o d o e p o r i c u t n ) . 2 2 Zielgruppe, Sachgehalt und mentale Verankerung der Texte bewirkten selbstverständlich mancherlei Überschneidungen mit didaktischen bzw. pragmatisch informativen Form e n der Urbanen Gebrauchsliteratur. D a z u zählen ζ. B . das Chronikschriftt u m oder die vereinzelt v o r k o m m e n d e sozialkatechetische Form d e s »Stadtspiegels«. 2 3 D i e stets gefährdete Identität der Stadt nach innen (Verfassungskonflikte und Machtkämpfe) w i e auch nach außen (Druck der H a n delskonkurrenten bzw. benachbarten Territorien) rief e i n e n Bedarf an Literatur hervor, die sowohl sozialdisziplinierende w i e repräsentative Funktion e n wahrnehmen sollte. So verwundert es nicht, daß sich in d e n großen Zentren auch muttersprachliche A u t o r e n aus d e m Umkreis der Meistersinger das Genre des Städtelobs angelegen sein ließen. A m Beispiel Nürnbergs

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nistischen Denken. In: Humanismus und Ökonomie. Hg. von Heinrich Lutz. Weinheim 1983 (Mitteilung VIII der Kommission für Humanismusforschung), S. 159-182; Waither Ludwig: Multa importari, multa exportarier inde: Ein humanistisches Loblied auf Hamburg aus dem Jahre 1573. In: Humanistica Lovaniensia XXXII (1983), S. 289-308; abgedruckt auch in ders.: Litterae Neolatinae. Schriften zur neulateinischen Literatur. München 1989 (Humanistische Bibliothek, Reihe I, Bd. 35), S. 131-144; ders.: J.P. Ludwigs Lobrede auf die Reichsstadt Schwäbisch-Hall und die Schulrhetorik des siebzehnten Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 74 (1990), S. 247-294; zur Kontinuität im 17. Jahrhundert gleichfalls Herbert W. Wurster: Johann Beers »Beschreibung der Stadt Regenspurg«. Ein wiedergefundenes Lobgedicht. In: Daphnis 9 (1980), S. 163-190; für die lateinische Verherrlichung einer ausländischen Metropole durch einen deutschen Humanisten vgl. Odette Sauvage: »Lutetiae Descriptio« d' Eustathe de Knobelsdorf. In: Acta Conventus Neo-LatiniTuronensis. Hg. von Jean-Claude Margolin. Bd. I-II. Paris 1980 (De Petrarque ä Descartes XXXVIII), Bd. II, S. 1147-1154. Dazu grundlegend Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritalia, Bd. 12); zum Städteepigramm exemplarisch (zu J. C. Scaliger) s. Slits, wie Anm. 21, S. 259ff. Vgl. Heinz-Dieter Heinemann: Stadtspiegel und Stadtlob als »Gebrauchsliteratur« im 15. Jahrhundert. In: Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regionalund Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Franz Petri zum 80. Geburtstag. Hg. von Wilfried Ehbrecht und Heinz Schilling. KölnWien 1983 (Städteforschung, Reihe A, Bd. 15), S. 121-135; für den mentalen Hintergrund des Städtelobs und seine typologische Struktur mit Gewinn heranzuziehen Heinrich Schmidt: Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses. Göttingen 1958 ( = Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Schrift 3). Das »Städtelob« ist nur am Rande der ansonsten instruktiven Untersuchung von Erich Kleinschmidt behandelt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln-Wien 1982 (Literatur und Leben, Bd. 22).

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etwa läßt sich beobachten, daß die Städtedichtungen eines H a n s Rosenplüt o d e r H a n s Sachs 2 4 v o n d e m großangelegten Prosawerk des Conrad Celtis (1459-1508) 2 5 und j e n e m - epochal herausragenden - Gedichtzyklus, d e n E o b a n u s Hessus (1488-1540) der Urbs Noriberga widmete (1532), gleichsam überboten w u r d e n . 2 6 4. Ü b e r mittelalterliche Traditionen hinweg konnten die Humanisten und poetae docti direkt auf antike A n r e g u n g e n zurückgreifen, die i m Lob A t h e n s oder R o m s Archetypen der abendländischen Städtekultur gegenwärtig hielten. D a s R o m - T h e m a überschnitt sich dabei in der lateinischen Überlieferung nicht selten mit Mustern der panegyrischen Landesbeschreibung (laudes Italiae).27 H i e r war bereits vorgeprägt, was ein Charakteristikum im Schaffen nicht weniger Humanisten bildet: die Einbindung des Städtelobs in Vorhaben der regional, w e n n nicht sogar national orientierten Kulturgeographie. 2 8 5. Ebenfalls über mittelalterliche Traditionen hinweg fanden die Humanisten in rhetorischen Handbüchern der A n t i k e die praecepta gegenständlicher Panegyrik im allgemeinen und des Städtelobs im b e s o n d e r e n . N e b e n d e n Griechen Menander und D i o n y s i o s v o n Halikarnass 2 9 kam dabei e i n e m 24

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Dazu vgl. im einzelnen Kugler, wie Anm. 20, S. 210ff.; zu Sachs speziell auch: Maria E. Müller: Der Poet der Moralität. Untersuchungen zu Hans Sachs. Bern usw. 1985 (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache, Bd. 15), S. 148-53. Dazu mit dem Text Albert Werminghoff: Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg. Freiburg i.Br. 1912; zum Kontext Jean Lebeau: L' Eloge de Nuremberg dans la tradition populaire et la littdrature humaniste de 1477 ä 1522. In: Hommage ä Dürer. Strasbourg 1972, S. 15-35. Die Textausgabe Neffe, wie Anm. 21, ist nun überholt durch die von Harry Vredeveld besorgte historisch-kritische und zweisprachige Ausgabe in: Helius Eobanus Hessus. Dichtungen. Lateinisch und Deutsch. Dritter Band. Dichtungen der Jahre 1528-1537. Bern usw. 1990 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken Bd. 39), S. 183-267. Materialreich dazu Carl Joachim Classen: Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Hildesheim-New York 1980 (Beiträge zur Altertumswissenschaft, Bd. 2); von Nutzen nunmehr die sachkundige Auswahl von Bernhard Kytzler (Hg.): Laudes Italiae. Griechische und lateinische Texte. Zweisprachig. Stuttgart 1988 (Reclams UB 8510). Bekanntlich gehörte Celtis' Lobschrift zum Ruhm Nürnbergs zu dem unvollendeten Plan einer »Germania illustrata«, in der Deutschland wohl in erster Linie als »Städtelandschaft« dargestellt worden wäre: s. Kugler, wie Anm.20, S.222f.; anregend zu weiteren Überlegungen Gerhard Theuerkauf: Accipe Germanam pingentia carmina terram. Stadt und Landesbeschreibungen des Mittelalters und der Renaissance als Quellen der Sozialgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983), S. 89-116. Zu Menander (3. Jhdt. nach Chr.) eingehend: Classen, wie Anm. 27, S. 16f.; Kugler, wie Anm.20, S.26f.; Ausgabe: Menander rhetor: Peri epideiktikon. In: Conrad Bursian: Der Rhetor Menandros und seine Schriften. In: Abhandlungen der philosophisch-historischen Classe der Kgl. bayer. Akad. der Wissenschaften 16, 3. München 1882, S. 1-115, hier S. 30-68. - Dionysios von Harlikarnass (1. Jhdt. n. Chr.) legte in seiner »Ars Rhetorica«, hier zitiert nach der späteren Ausgabe der Opera Omnia (Volumen Quintum. Leipzig 1775, S. 228), ein topisches Muster der Ortsbeschreibung

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Passus in Quintilians bekanntem Rhetoriklehrbuch besondere Autorität zu. Quintilian empfahl folgende topologische Gesichtspunkte: 30 a) Gründung und Alter der Stadt; b) faktische Leistungen der Bürger; c) Lage und Befestigung der Stadt; d) öffentliche Bauten im Hinblick auf Ehre, Nutzen und Schönheit; e) Ausgriff auf die Umgebung und das landschaftliche Ambiente der Stadt. 6. An Quintilians Topik läßt sich wegweisend für das 16. Jahrhundert ablesen: Was vordergründig auf die Verherrlichung von »Gegenständen« bezogen war, wurde tatsächlich so gut wie immer als Ergebnis, Bedingung, Voraussetzung oder als Raum menschlichen Handelns erfaßt. Gewiß, Kategorien wie »Schönheit« und »Nutzen« von Einrichtungen, Bauten oder Örtlichkeiten bestimmten die Wertsystematik der laus urbis. Doch in den Realien manifestierten sich dabei vor allem Erfolge und Sinnpostulate der Bürgergemeinschaft. Indem das Gedicht die Stadt als sozialen Erfahrungsraum feierte und ihre historische Dignität mit offenkundiger Spitze gegen konkurrente Traditionen dynastisch-feudaler Panegyrik und Legitimationspflege hervorhob, bestätigte es zwei fundamentale Leitvorstellungen: die der persönlichen, d.h. in Personen oder Verwaltungsgremien verkörperten Leistung für das »Gemeinwohl« und die des in der äußeren und inneren Verfassung der Stadt zur Erscheinung kommenden Harmonie- und Ordnungswillens. So entsprach das im Städtegedicht greifbare Angebot der schreibenden Intelligenz dem Gemeinschaftsethos und dem Integrationsbzw. Behauptungsstreben der Urbanen Sozietät, vor allem aber dem Selbstverständnis der die Verwaltung tragenden städtischen Führungsschicht. Wie kein anderes Genre des 16. Jahrhunderts erweist sich die laus urbis als im Rahmen der »oratio panegyrica« fest: Deinceps vrbis laudes, vbi conuentus celebratur, vel a situ, vel ab ortu, recensere oportebit. in quo sane, quis deus, aut heros, eius conditor exstiterit, aut si aliquid habebis, quod de eo in medium possis afferre: si quid [ . . . ] ab eo vrbi praeclarum, vel bello, vel pace, gestum fuerit. Congruet etiam de magnitudine, si ampla, velparua sit, aliquid dicere: quodpulchritudine excellit: quod, licet parua, potentia tarnen cum amplissimis est adaequata: deinde quaecunque ad templorum, aut in his donariorum, publicorum priuatorumque aedificiorum ornamentum attinent: sicuti Herodotus quodam in loco, quinque et sex tabulatorum aedificia Babyloni esse dicit: dein si fluuius sit magnus, purus, et nitidus, vel regionem incolentibus vtilis: si itidem aliqua fuerit fabula de ciuitate; nam et hoc pacto multum suauitatis habebit oratio.« 30

Quintilian: De institutione oratoria III, 7, 26-28: »Laudantur autem urbes similiter atque homines, nam pro parente est conditor, et multum auctoritatis adfert vetustas, ut iis, qui terra dicuntur orti, et virtutes ac vitia circa res gestas eadem quae in singulis: ilia propria, quae ex loci positione ac munitione sunt, cives illis ut hominibus liberi sunt decori. est laus et operum: in quibus honor, utilitas, pulchritudo, auctor spectari solet. honor ut in templis, utilitas ut in muris, pulchritudo vel auctor utrubique. est et locorum, q'ualis Siciliae apud Ciceronem: in quibus similiter speciem et utilitatem intuemur, speciem maritimis, planis, amoenis, utilitatem salubribus, fertilibus.«

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Indiz einer - zumindest projektiven - Interessenverbindung zwischen akademischen Gelehrtenbürgertum und den um politisch-ökonomische Wohlfahrt der Stadt besorgten erwerbsbürgerlichen Gruppen. 7. Diese funktionsgeschichtliche Basis der Städtedichtung lenkt den Blick auf den Neueinsatz der laus urbis im kulturellen Verbund der europäischen Renaissanceliteratur. Denn in den Schemata und Exempeln der Antike lebte die historische Wirklichkeit der hellenistisch-römischen Polis und die Gloriole der freien Bürger-Republik weiter. Es war der oberitalienische Städteraum, in dem das Lob der antiken Stadtmetropolen als erinnerungsträchtige Bekräftigung urbaner Machtentfaltung gelesen wurde und ohne weiteres von den Vertretern des civic humanism (Η. Baron) 31 auf stadtpatriotische Zwecke und aktuelle historische Konstellationen zu übertragen war. Gerade in der neueren Forschung ist nachgewiesen, daß Leonardo Brunis Lobschrift auf die »Republik« Florenz (1403/04) unmittelbar wie in weiterer Sicht deutsche Werke beeinflußte. 32 Noch das humanistische Städtelob des postreformatorischen Humanismus präsentiert sich so als phasenverschobene Adaption signifikanter literarischer Modelle der italienischen Renaissance.

III Orths Stralsund-Dichtung gleicht auf weiten Strecken einem historischen Heldenepos. Heldenepen aber, deren >Materie< per se einen angemessenen rhetorischen ornatus beanspruchte, begannen traditionell mit einem poetischen exordium, das die Erwartungen des Publikums auf den Autor sowie auf Gegenstand und Thema des Werkes lenkte. Orth eröffnet den präludierenden Anfangsabschnitt seines Werkes (V. 1-146) freilich nicht mit einer Variation des topischen Musenanrufs, sondern mit einer autobiographisch 31

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Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Zwei Bände. Princeton Ν. Υ. 1955. Brunis Laudatio Fiorentinae Urbis wurde herausgegeben und erörtert von Hans Baron: From Petrarch to Leonardo Bruni. Studies in Humanistic and Political Literature. Chicago and London 1968, spez. S. 217ff. sowie S. 102ff. und 151ft.; zur Nachwirkung (Enea Silvio) s. Kugler, wie Anm. 20, S. 199ff.; Berthe Widmer: Enea Silvios Lob der Stadt Basel und seine Vorlagen. In: Baseler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 58./59. Band (1959), S. 111-138; Hermann Goldbrunner: Laudatio Urbis. Zu neueren Untersuchungen über das humanistische Städtelob. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 63 (1983), S. 313-328; zum weiteren Umkreis auch August Buck: »Laus Venetiae« und Politik im 16. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), S. 186-194, sowie ders.: Der bürgerliche Humanismus in Florenz. In: August Buck und Tlbor Klaniczay (Hgg.): Sozialgeschichtliche Fragestellungen in der Renaissanceforschung. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung; Bd. 13), S. 17-30.

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gefärbten Fiktion. Er erzählt von der Erscheinung einer »Göttin«, einer trauernden Frauengestalt mit bleichem Antlitz und tränenbenetzten Wangen. Die Erscheinung stellt sich als »Sundina Strela« vor, also als allegorische Figur der Heimatstadt, die sich von ihrem Zögling (»alumnus«) vernachlässigt fühlt. Als emblematisches Zeichen trägt sie auf ihrem Haupt den Mauerkranz, nicht unüblich in antiken Texten (etwa Ovid, Fast. IV, 224), doch hier vielleicht auch eine huldigende Anspielung auf einer der berühmtesten deutsch-lateinischen Gedichte der Zeit: auf des Petrus Lotichius Secundus Elegie über die Belagerung der - ebenfalls in Trauerpose personifizierten - Stadt Magdeburg (El. II, 4). 33 Der Text wird Orth spätestens seit der von seinem »praeceptor« Camerarius besorgten ersten posthumen Sammelausgabe (Leipzig 1561) bekannt gewesen sein. Im Zwiegespräch zwischen der Stadt-»Göttin« und dem Autor-Ich wird dem Leser die Schreibkonzeption des Gedichts vermittelt. Bisher, so bekennt der Dichter, habe er in elegischen Versen fremde Potentaten besungen, ohne auf die nötige Anteilnahme zu stoßen. Erst nun wird ein Versäumnis wieder gutgemacht, wird die Stadt zum Gegenstand, zum Adressaten und - zwischen den Zeilen - auch zum gewünschten Patron des Poeten. Denn dem Andenken 34 bürgerlicher Tüchtigkeit zu dienen liegt gerade im Fall Stralsunds nahe, fehlt es doch ausgerechnet dieser Stadt an poetischem Nachruhm. Der Dichter will gleichsam auf einen Nachholbedarf aufmerksam machen, wo doch so viele »Städtlein« bereits ihr poetisches Monument gefunden haben. In der Klage der Stadtgöttin wird ein Denkmal Stralsunder Taten und Stralsunder Helden angemahnt, die durchaus mit den berühmten Heroengestalten der antiken Städte, mit Scipio und Camillus z.B., zu vergleichen seien (V. 45-60; 85-90):

[...] Quod mea nullius sunt praelia compta poesi, Quodque nec historica commemorata fide. Cingantur reliquae pretiosis vestibus urbes, Induit aeternis quas pia Musa stolis; Non ego, cuius adhuc nullis cantata poetis Ornatu caruit gloria vera suo. 3 5 Hanc quamvis toto volitans vulgaverit orbe Fama, sed officio non tarnen usa tuo. Hunc egone tantum potui sperare dolorem, 33

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Der Text nun mit einer späteren Übersetzung leicht greifbar in Hedwig Heger (Hg.): Spätmittelalter. Humanismus. Reformation. Zweiter Teilband. Blütezeit des Humanismus und Reformation. München 1978, S. 479-485. Die Leitfunktion dieser Vorstellung hat Jan-Dirk Müller in einer maßgeblichen Untersuchung für den höfischen Bereich herausgearbeitet: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 2). Seine Ergebnisse gelten - mutatis mutandis - auch für die Rolle der schreibenden Gelehrten im städtischen Raum. Der Begriff »ornatus« hat den Doppelsinn der stiltypologischen Kleider-Metapher, verdeutlicht also den Stilwillen des Autors.

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Quum primum digitis exciperere meis? Ut caneres alios sublimi carmine Reges, Qui bene de studiis non meruere tuis: Amplius et patriae - quid dicam? - verius imo Desineres matris commeminisse tuae, Ceu Lethe tibi pota foret vel aquatica lothos, Unquam ne posses proh! memor esse mei. [···] Cur mea non potius fers inclyta facta per orbem, Bellaque seu terra, seu mihi gesta mari? Scipiadas geminos recitas fortemque Camillum, Magnum Miltiaden Archidamumque senem. Nonne ego praestantes peperi quoque Marte nepotes, Quos potes excelsis annumerare viris? (Übers., Zober, S. 82f: [ . . . ] weil meine Schlachten weder durch Jemandes Dichtkunst verherrlicht, noch treu nach der Geschichte erzählt sind. Immerhin mögen die übrigen Städte mit Prachtgewändern sich gürten, welche die fromme Muse ihnen anlegt in ewigem Schmuck; nicht so ich, deren wahrer Ruhm, noch von keinem Dichter besungen, bisher seines Schmuck entbehrt hat. Hat ihn gleich das fliegende Gerücht auf dem ganzen Erdkreis verbreitet, so hat er doch Deines Dienstes sich nicht erfreut. Konnte ich wol erwarten, solchen Schmerz zu erleben, da Du von meinen Händen zuerst aufgenommen wardst? dass Du besingen würdest in erhabenem Sange andere Herrscher, die sonder Verdienst sind um Deine Bestrebungen; und dass Du aufhören würdest fürder Deines Vaterlandes - was sag ich? - ja vielmehr Deiner Mutter zu gedenken, als hättest Du getrunken aus dem Lethe oder vom wasserliebenden Lothos, dass Du - ach! - nie meiner eingedenk sein konntest. [ . . . ] warum verbreitest Du nicht lieber meine hochberühmten Thaten auf der Erde, und die Kriege, so von mir zu Wasser oder zu Lande geführt sind? Das Scipionenpaar erhebst Du und den tapfern Camillus, den grossen Miltiades und den ergrauten Archidamus; habe ich denn nicht auch kriegerische Enkel geboren, die Du erhabenen Männern beigesellen kannst? Jene, die Du besingst, verdienten durch nichts Anderes ewigen Ruhm, als durch Eifer um ihr Vaterland.)

Die willfährige Antwort des poetischen Ichs unterrichtet den Leser vor allem über den Gattungscharakter des Textes, versteht sich also auch als ästhetisch wertender Rezeptionskommentar. Das gegenüber lyrischer Dichtung erhabenere Werk - in Vergilscher Phrase ein »maius opus« (V. 4) - gilt nicht mehr den »facta potentum«, wohl aber dem heroischen Glanz der Stadtgeschichte. Indem Orth die von Horaz und den römischen Elegikern (ζ. B. Properz III 9,43f.) bereits strapazierte Figur der »recusatio« aufgreift (der Lyriker fühlt sich eigentlich unberufen zum Heldenepos), um sich dann doch - mit Hilfe Thalias, der Muse der Geschichtsschreibung - ans Werk zu machen, wird dem Leser klar: Was Orth vorlegt, soll mit den epischhistorischen Dichtwerken des Altertums verglichen werden. Nach einem enkomiastischen Einschub (V. 147-258) rekapituliert der erste Hauptteil der Dichtung (V. 259-886) den Erfolg gemeinsamen bürgerlichen Handelns. Orth stützt sich auf historische Quellen, vor allem die »Vandalenchronik« (»Vandalia«) des Albert Krantz (1448-1517).36 Ziel36

Die von Zober im Kommentar seiner Edition angeführten Quellen wie auch die von

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punkt der episch umgesetzten Stadtgeschichte ist der Aufstieg Stralsunds; zwar über Krisen, große Gefahren und eine Niederlage, die gegen Lübeck, hinweg, doch in der >Aristie< wehrhaften Bürgersinns gleichsam als gottgewollte Belohnung erscheinend. Der Erzählbogen spannt sich so von der Gründung der Stadt durch Waldemar von Dänemark und den Slavenfürsten Jaromar bis hin zu den letzten glorreichen Siegen, in denen sich die Souveränität der Stadtrepublik behauptete: dem Sieg (1316) über den von Dänemark angeführten Fürstenbund im sog. Sundischen Krieg (aus Lösegeld und Beute ließ sich das Rathaus finanzieren) und dem Sieg über die berüchtigten, als »Vitalienbrüder« bekannten Seeräuber (ca. 1392). Es wäre verfehlt, bei allem farbigen Erzählkolorit in diesen Schilderungen nur den Reiz abenteuerlicher Vorgänge zu suchen. Orths Werk verteidigt in der Rückblende die im Innern und im Äußern stets gefährdete Autonomie der Bürgerschaft. Kaum eine Kommune in Deutschland, die es versäumte, militärische Erfolge in einer Vielzahl von symbolischen Handlungen und literatrischen Medien im Gedächtnis zu halten: angefangen von feierlichen Gedenktagen, bleibenden Stiftungen und Zeremonien (Festessen u. dgl.), sinnträchtigen Bildern und Zeichen bis hin zu Formen schriftlicher Erinnerung in der Stadtchronistik, in der Spruchliteratur und in Liedern. Geschichte, so aufbereitet und eingebunden in ein »civic ritual«, 37 stiftete normprägendes Wissen und die Handlungsmaximen der Urbanen Solidargemeinschaft - jedenfalls postulativ über alle Schichten und Interessengegensätze hinweg. Orths ästhetischer Aufwand, geeignet, das bloß Faktische im Wertbewußtsein zu überhöhen und im Feld erhabener Exempel projektionshaft zu beglaubigen, war unter diesen Auspicien durchaus willkommen. Deshalb zögert Orth nicht, sich die Stilistika und Formelemente altrömischer Epik in ostentativer Belesenheit zunutze zu machen. Lübecks Zug gegen Stralsund erscheint so im Widerschein des letzthin unglücklichen Kampfes der Griechen gegen die Trojaner; feindliche Könige werden von dämonischen Mächten getrieben; die besiegten Vitalienbrüder finden Hilfe bei Neptun, der in die Unterwelt hinabsteigt und dort mit wohlgesetzter Rede - in Erinnerung an Vergil, Aeneis VII 312ff. (Abstieg Junos in die Unterwelt) - die Furien des Styx gegen die Stadt mobil macht (V. 765ff.). Rhetorisch ausgefeilte Figurenrede, allegorischer Götterapparat, ekphrastische Einlagen und Ortsbeschreibungen als epische Ruhepunkte, feierlich periphrastische Zeitangaben mit mythologischer Referenz, wiederholte - den epischen Stilge-

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ihm vermerkten Anspielungen auf Stellen antiker Dichtung möchte und kann ich selbstverständlich hier nicht im einzelnen aufführen. Zu den hier skizzierten Zusammenhängen instruktiv und materialreich nunmehr Klaus Graf: Schlachtengedenken in der Stadt. In: Stadt und Krieg. Hg. von Bernhard Kirchgässer und Günter Scholz. Sigmaringen 1989 (Stadt in der Geschichte, Bd. 15), S. 83-104.

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stus betonende - Vergleiche, direkte, vom Erzähler pathetisch abgehobene Analogien zwischen dem kämpfenden Stralsund und den berühmten Metropolen des Altertums (Rom, Karthago), kurz: Es gibt kaum eines der bei Vergil zu studierenden, stil- und strukturprägenden Merkmale des klassischen Heldenepos, das Orth nicht seinem spezifischen Darstellungswillen unterwirft und seine Heimatstadt so in die Aura unvergänglicher Wehrhaftigkeit hüllt. Dabei sind das Telos dieser Geschichten und der Erzählstandpunkt des Autors von Anfang an vorgegeben. Denn zwischen Einleitung und epischen Bericht schiebt Orth, wie gesagt, einen Hymnus auf die Stadt (V. 147-258). Geradezu lehrbuchmäßig präsentiert diese Passage das topische Spektrum des Städtelobs und seine Kunst detailfreudiger Genre-»Malerei« (s. hier den Abdruck im Anhang, II). So erscheint im ganzen die militärische Selbstbehauptung der Stadt, die Geschichte ihrer Siege und überwundenen Niederlagen, nur als Vorbereitung jener Huldigung, die den letzten Teil des Werk ausfüllt (V. 887ff.). Stralsund wird mit dem »dreifachen« Hafen des antiken Syrakus verglichen. Die Stelle des getreidereichen Sizilien nimmt nun Rügen ein. Die durch Befestigungen und Waffenschmieden geschützte Stadt entfaltet alle ihre Reize: in den ebenso nützlichen wie angenehm-erholsamen Gärten der Vorstädte; im Treiben der Bürger, die sich im Spiel Erholung gönnen und doch moralischen Anstand wahren; in prächtigen Häusern, zumal dem Rathaus, in denen sich auch ein durch Handel erworbener Wohlstand spiegelt, den erst Gottesfurcht und Frömmigkeit verdienen. »Ehrbares Leben, unsträfliche Sitten, Rechtlichkeit und Treue« haben freilich ihre Gewähr nicht nur in der Gottesfurcht, sondern gleichermaßen in einer gerechten und fähigen Verwaltung. Orth setzt an diesem Punkt seiner Darstellung den Bürgermeistern bzw. Altbürgermeistern Franz Wessel (1487-1570), Nikolaus Genzkow (1502-1576) und Joachim Klinkow (1518-1601) ein poetisches Denkmal. In ihnen soll sich paradigmatisch verkörpern, worauf es Orth sichtlich ankommt: die Vereinigung bürgerlicher Tugenden und literarischer Bildung. Denn darauf beruht - so Orths abschließender Appell - die Pflege des Schulwesens. Stralsund erhielt nach Zober - erst 1560 eine größere Gelehrtenschule. Wir dürfen uns vorstellen, daß Orth seine verstreuten Elegien drucken ließ und sein Stadtepos vorlegte in der Hoffnung, an dieser Schule - als Rektor - Fuß zu fassen. Das Professorenamt an der Universität scheint ihn jedenfalls nicht befriedigt zu haben. (»Poeten« wurden schlecht besoldet.) Kein Wunder, daß er den Stadtvätern suggerierte, auch die künftigen Theologen, Mediziner und Juristen als Bannerträger städtischen Nachruhms anzusehen. Doch Orths Wink mit dem poetischen Zaunpfahl scheint ihm außer klingender Münze keine sichere berufliche Position verschafft zu haben. Nur so ist zu verstehen, daß er nach Wittenberg zurückkehrte, anstelle bürgerlicher Heldentaten nun die Reihe der Kaiser bedichtete und sich nach

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anderen Mäzenen umsehen mußte. Orths und anderer Humanisten umtriebiges Leben war nicht Resultat von Rastlosigkeit und »Wanderlust«, sondern spiegelte die Diskrepanz zwischen kulturellem Wirkungsanspruch und tatsächlicher sozialer Lage. Von Eoban Hesse in Nürnberg bis hin zu Nicodemus Frischlin in Tübingen haben viele Literaten des 16. Jahrhunderts erfahren müssen, was es hieß, nur »Magister« und nur »Poet« zu sein.

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Zacharias Orth und die laus urbis Anhang

/ Zacharias Orth an Joachim Camerarius d. Ä. bzw. d. J.: Vier Briefe, eigenhändig: BSB München, Collectio Camerariana. Cod. lat. 10363 1. An Joachim Camerarius d. Ä. (Anschrift auf der Rückseite), den 28. November (alten Kalenders) o. J. (wohl 1562) - Cod. fol. 75 S. P. Praeter spem et opinionem meam clariss[ime] patrone et praeceptor observande, accidit, quod diutius quam ratio studiorum meorum ferebat, hie diem ex die ducere coactus sum. Qua in re mihi non exiguum scrupulum iniecerit M. Paulus Praetorius consiliarius Archiepiscopi Magdeburgensis, qui me supra duos menses vana spe in aula sui principis laudavit [laetavit?], et tandem delusum vacuumque dimisit. Iam autem his moris posthabitis brevi me dabo in iter, quamprimum d[ominus] Cracovius ad vos redierit. Mitto autem observande d[omine] praeceptor Caesares meos, quos velim otij fallendi gratia perlegas, et quae iudicabuntur emendanda mihi ubi ad vos venero, quod hac aut proxima hebdomade fiet, indices, ut emendare possim. Fateor illis deesse ultimam manum, et debuisse in decimum annum premi. sed multi poetae hoc seculo non famae sed famis causa scribunt. Omnes fere genealogias htc spacio 12 septimanarum inserui, omnesque praefationes addidi a nemine adiutus, et maximam partem emendavi in ipsis versibus, etiamsi quotidie quatuor horas in officina typographica obversandum fuerit. Datae Vvitenbergae 28. Nouemb[ris]. Bene Vale. T[uus] Z[acharias] Orthus 2. An Joachim Camerarius d. Ä. (ohne Anschrift, Greifswald, den 22. September ο. J. 1563?)-Cod. fol. 76 3. An Joachim Camerarius d.Ä. (ohne Anschrift), Wittenberg o. J . 23. (?) - wohl 1563 oder 1564-Cod. fol. 200 4. An Joachim Camerarius d. Ä. (ohne Anschrift), Wittenberg, Januar o. J . (1565?) - Cod. fol. 201

II Orths Hymne auf Stralsund mit der Übersetzung Zobers (V. 147-258): Inter Vandalicas multo praeclarior urbes Ad mare Baltiacum Sundina Strela jacet, Dives opum, bellisque potens ac ubere glebae, Felix ingeniis, nobilis arte bona; Pontigradisque simul statio bene fida carinis, Portus oportunus veligeraeque rati;

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Wilhelm Kühlmann Tarn rigidi juris, quam servantissima recti, Quam pietatis amans, tarn studiosa boni; Ardua, praelustris, populosa, Celebris et ampla Turribus, ingeniis, civibus, arte, situ, Ordine constructis ad amussim pulchraque tectis, Aequis quae spaciis regula mensa fuit. Urbs, inter reliquas qua nulla celebrior unquam, Aonio meruit carmine clara cani; Cujus adhuc horret mediis Neptunus in undis Proelia victrici multa peracta manu; Cujus miratur curvas Galathea carinas Ire per immensas totius orbis aquas. Zeusidis egregie distinxit circinus illam, Circuitumque fere sphaera rotunda notat: Nonnihil ad Zephyri nisi quod protenditur auras Undique piscosis Sundia cincta vadis; Hinc illinc vallis altis praecinctaque muris, Quae passim violis hortus amoenus obit; In quibus aspicias Venerem viridesque Napaeas Ludere cum Charitum candidiore choro, Ad cantumque tubae Dryades fluviique puellas Alterno passu rite movere pedes. Balticus Oceanus tumidis cogentibus undis, Qua rubet Eoo lucidus orbe dies, Qua jacet Ausonicis celeberrima Rugia bellis, Qadibus et nimium nota, Lubeca, tuis, A cultis agris violentius abscidit illam, Ne tibi continuos Rugia araret agros. Africus hoc pacto quondam latrantibus undis Et simul Hippotade non renuente Deo Sicanos fines Calabris divisit ab oris, Angusto tantum non coeunte freto. Nostra freto melior geminis amplecti tur ulnis Nympharum, silvas, inclyta Strela, specus. Saepius hic peragunt genialia gaudia cives, Aestivis Nemeus cum leo fervet equis. Saepius hic pisces alto de ponte videbis Ducere, cui pisces fallere census erit. Ad Boream geniale nemus jacet, undique quercu Densum, virgineis atque celebre choris; Non secus ac olim celebratu virentia Tempe Divarum choreis atque fuere rosis. Illic, sopitum, lustrat quum lampade mundum Phoebus, ab Eois mane revectus aquis, Floribus in teneris nitidas colludere guttas Et videas viridi surgere gramen humo, Atque ipsos sensim flores assurgere Phoebo, Suaviter et croceos pandere folhculos In totaque novos Silva diffundere odores, Atque coloratis suave nitere comis; Seu Phoebi arrecta radios ut caule salutent, Seu adventanti numera odora ferant. Hic virides Dryades et Oreades atque Napaeae, Et quotquot nemoris florea tesqua colunt,

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Zacharias Orth und die laus urbis Indulgent choreis. Teneri laetantur Amores, Ipsa Cupidineas fert Erycina faces. Exercet Diana choros ita per juga Cynthi, Ad nuraerumque movet turba ministra pedes; Pars famulatur herae, pars pectine ducit eburno, Quas prius alludens Ventilat aura, comas. Urbis ubi madidus dextrum latus excipit Auster, Purpureis violis silvula amoena viret. Illic punicei certant diffundere odores Flores Narcissi purpureaeque genae; Illic saepe Venus caput impedit alma coronis, Et legit Idalias Gratia casta rosas. Retia disponitque feris innupta Diana, Membraque perpetuo fonte pudica lavat; Illic Mnemosynes nataeque subinde Camoenae Pulsant Aoniae nervea fila lyrae, Heroasque canunt, genus alto a sanguine Divum, Et celebrant summi facta stupenda Dei. Garrula munificum laudantibus assonat Echo, Est quod Musarum cura laborque, Deum. Cedite vos aliae, mundus quas continet, urbes, Aut quascunque memor carmine Musa refert; Cedite vos urbes Romanae, cedite Graiae! Nescio quid Strela pulchris orbis habet; Urbs quia nulla bonis laudatur ab omnibus istis, Seu terrae videas commoda, sive maris. Omnia dona tenet, quaecunque beata requirit Vita, petendarum rebus abundat opum. Nulla brevi spatio celsas ita structa sub auras Crevit et hostiles tot superavit opes. Namque velut contra venientia pondera surgit Alta Palestinis consita palma jugis: Non minus adversae nitens in pondera sortis Fortius, hostiles Sundia fregit opes. Omnia sic ferri fatis, sic omnia nutu Solius Christi cunctipotente regi, Qui valida cives dextra defendit et urbes, Ut sint virtutis sancta palaestra bonae, Hospitiumque sacri verbi certusque receptus, Sint diverticulum Pieriique chori. Numque trahit dubiam si cui sententia mentem, An curent horainum coelitus acta dii, Aspiciat motus hie incrementaque Strelae, Etdicet,mundumquiregat, esse Deum; Qui premat has, illas ex pulvere suscitet urbes, Ut Deus ex humili saepius alta facit. Quare claret adhuc Stralsundia nota per orbem, Tanquam coelicolis urbs adamata deis; Ut Pomeraniaci celeberrima gloria Gryphis, Tanquam Vandalici nobile sidus agri, Commoditate situs quoniam portuque quieto, Uberis et mira fertilitate loci.

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Zober, S. 84-87: Unter den Städten Vandaliens bei weitem am berühmtesten, liegt am baltischen Meere Stralsund, reich an Gütern, mächtig durch Kriege und Fülle des Bodens, glücklich durch seine Geister, berühmt durch edle Kunst, und zugleich ein sicherer Standort für meerdurchfurchende Kiele, ein günstiger Hafen dem segelführenden Fahrzeug; wie des strengen Rechts, so der Rechtlichkeit Bewahrerinn; wie der Frömmigkeit hold, so beflissen des Guten; hoch, hervorleuchtend, berühmt und geräumig durch Thürme, Geister, Bürger, Kunst und Lage, und schön durch seine regelrecht nach der Richtschnur gebaueten Häuser, welche das Richtscheit nach gleichen Räumen gemessen. Diese herrliche Stadt - keine unter den übrigen war je berühmter denn sie - verdiente besungen zu werden durch ein aonisches Lied; noch je entsetzt sich mitten in den Wogen Neptuns über ihre vielen mit siegreicher Hand erfochtenen Schlachten; Galatea wundert sich, dass Stralsunds gehöhlete Kiele die unermesslichen Wasser des ganzen Erdkreises schiffen. Trefflich hat eines Zeusius Zirkel sie abgetheilt, und ihren Umfang bezeichnet fast Kreisgestalt, ausser dass sie sich etwas nach des Zephyrus Lüften vorstreckt, Sundia ist von fischreichen Wassern rings umgeben; hier und dort von hohen Wällen und Mauern umgürtet, die hier und da ein lieblicher Blumengarten umgibt; auf diesen Wällen sieht man oft die Venus und grüne Napäen spielen mit dem schimmernden Reigen der Charitinnen, und zum Schalle der Drommete Dryaden und Wassernymphen tanzen in regelmässig wechselnden Tritten. Das baltische Meer, mit schäumenden Wogen die Stadt einschliessend, schneidet sie da, wo der helle Tag erglänzt am östlichen Erdrund - wo Rügen liegt, hochberühmt durch ausonische Kriege und allbekannt durch Deine Niederlage, ο Lübeck - von bebaueten Fluren gewaltsam ab, damit dir der Rügier nicht bepflüge ein mit dem seinigen zusammenhangendes Gebiet. Ebenso sonderte einst der Südwind mit bellenden Wogen, indem zugleich der Hippodate nicht entgegen war, Sikaniens Gebiet von den calabrischen Küsten, so dass die schmale Meerenge beinahe zusammenstiess. Unsere berühmte Strela, beherrschend die Meerenge, umschliesst mit gedoppeltem Meerarm Wälder, der Nymphen Wohnungen. Oefters gemessen hier wonnige Freuden die Bürger, wann der Nemei'sche Leu von den Rossen des Sommers erglüht. Oefters kann man hier von hoher Brücke herab den mit Fischen heimkehren sehen, dessen Beruf der Fischfang ist. Gen Norden liegt ein lustiger Hain, ringsum dicht von Eichen, und besucht von jungfräulichen Reigen; nicht anders als einst das grünende Tempe besucht wurde von rosengeschmückten Reigen der Göttinnen. Dort schauest Du, wann mit seiner Fackel Phöbus erleuchtet die schlummernde Erde, in der Frühe wieder emporfahrend aus den östlichen Gewässern, an zarten Blumen glänzende Tröpflein spielen und auf dem grünenden Boden das Gras sich aufrichtet, und allmälig die Blumen selbst dem Phöbus sich entgegenheben und lieblich sich breiten die safranfarbenen Hüllen und frische Düfte verbreiten in dem ganzen Walde und lieblich erglänzen in buntgefärbten Blättern; sei's, dass sie mit aufgerichtetem Stengel des Phöbus Strahlen begrüssen, oder dass sie reichen duftende Geschenke dem Nahenden. Hier ergeben sich dem Tanze grüne Dryaden, Oreaden und Napäen, und wer nur bewohnt des Haines blumige Auen. Zarte Liebesgötter freuen sich hier, Erycina selbst trägt Cupido's Fackeln. So übt Diana ihre Chöre auf des Cynthus Berghöhen, und nach dem Takte regt die dienende Schaar ihre Füsse; ein Theil wartet der Herrinn auf; ein Theil strehlt mit elfenbeinernem Kamme die Locken, mit denen zuvor säuselnde Lüfte spielten. Wo der feuchte Südwind die rechte Seite der Stadt berührt, grünet ein lieblicher Lustgarten voll purpurner Veilchen. Hier wetteifern rothe Blumen und des Narcissus Purpurwangen, Düfte zu verbreiten; hier umwindet oft die hehre Venus ihr Haupt mit Kränzen und die keusche Grazie sammelt idalische Rosen; dort stellt Garne dem Wild die unvermählte Diana und badet im stets sprudelnden Quell die züchtigen Glieder; dort schlagen oft der Mnemosyne und Camöne Töchter die Saiten der aonischen Leier,

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und besingen Heroen, ein Geschlecht von erhabenem Blute der Götter, und verherrlichen Jupiters staunenerregende Thaten. Die geschwätzige Echo wiederhallt von ihnen, die den gütigen Gott loben, was ja der Musen Sorge und Mühe ist. Weichet zurück ihr andern Städte, so die Welt in sich fasst, oder welche die gedenkende Muse im Liede preist; weichet zurück Italiens, zurück Griechenlands Städte! Nichts Schöneres als Stralsund besitzt der Erdkreis, denn keine Stadt kann aller jener Güter sich rühmen, man mag sehen auf die Vortheile des Landes oder der See. Alle Gaben, die ein glückliches Leben erheischt, besitzt sie; sie hat Ueberfluss an wünschenswerthen Gütern. Keine Stadt, unter des Himmels Lüften aufgebaut, nahm in kurzer Zeit so zu und überwand so viele feindliche Mächte. Denn wie gegen drükkende Lasten sich hebt die schlanke Palme, gepflanzt auf Palästina's Berghöhen: so hat Sundia, nicht minder kräftiger sich stemmend gegen des Missgeschickes Last, feindliche Mächte gebrochen. So wird Alles vom Schicksal geleitet, so Alles gelenkt allein duch Christi allmächtigen Wink, der mit kräftiger Rechte Bürger und Städte schützet, dass sie seien wackerer T\igend heilige Kampfplätze, gastlicher Aufenthalt und sichere Zuflucht des göttlichen Wortes, und Herberge dem pierischen Chor. Denn sollte Jemand noch in Zweifel ziehen wollen, ob vom Himmel her die Götter sich kümmern um der Menschen Thun, der mag anschauen Strela's Leben und Wachsthum, und er wird sagen: es gibt einen Gott, der die Welt regieret, der diese Stadt niederdrückt, jene aus dem Staube erhebt, wie Gott öfters aus Niedrigem Hohes schafft. Desshalb glänzet noch Stralsund, bekannt auf dem Erdkreise, wie eine Stadt, beliebt bei den himmelbewohnenden Göttern; wie der hochberühmte Glanz des pommerschen Greifs, wie ein edles Gestirn des vandalischen Gebiets, nämlich ob seiner bequemen Lage, des sichern Hafens und der bewundernswürdigen Fruchtbarkeit der reichen Gegend.

Hermann

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Johannes Seckerwitz als neulateinischer Dichter

I N i m m t m a n H a n s Rupprichs für die communis opinio der Forschung repräsentative Darstellung der Literatur d e s deutschen Humanismus z u m Maßstab, war Pommern nicht sehr reich an Verfassern neulateinischer lyrischer und epischer P o e s i e . 1 Anders verhält es sich freilich zumindest für die Spätzeit mit der dramatischen D i c h t u n g . 2 Rupprich, der im wesentlichen der einschlägigen Darstellung v o n G e o r g Ellinger folgt, 3 macht d e n n auch nur e i n e n sozusagen autochthonen episch-lyrischen poeta der Humanistenrepublik 4 aus, den Stralsunder Zacharias Orth (um 1535-1579), 5 der sich 1

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Hans Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. Zweiter Teil. Das Zeitalter der Reformation 1520-1570. München 1973 ( D e Boor/Newald (Hgg.): Geschichte der deutschen Literatur,Bd. IV/2), S. 303f. Vgl. auch die ältere Darstellung von Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock. 2. erweiterte Aufl. Stuttgart 1950, S. 144; ferner Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 2, Regensburg. 3. Aufl. 1931, S. 207. Zu der besonders im letzten Jahrhundertdrittel reichen schuldramatischen Produktion in Pommern vgl. noch immer die Dissertation von Wilhelm Bethke: Die dramatische Dichtung Pommerns im 16. und 17. Jahrhundert, Diss. Berlin, Stettin 1938. Bethke bestätigt (S. 13 u.ö.) das Fehlen einer nichtdramatischen humanistischen Dichtung. Georg Ellinger: Die neulateinische Lyrik Deutschlands in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts (Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert, Bd. I). Berlin 1929 (Nachdruck 1969), S. 278-286. Auf die Literatur des Humanismus in Pommern geht nicht ein: Gunnar Müller-Waldeck: Gibt es eine pommersche Literatur? In: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald: Pommern. Geschichte-Kultur-Wissenschaft. 1. Kolloquium zur pommerschen Geschichte 13.-15. November 1990. Greifswald 1991, S. 331-336. Ders. erwähnt in dem populärwissenschaftlich gehaltenen Überblick: Literarische Spuren in Greifswald (Wissenschaft!. Beitr. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), Greifswald 1990, zwar S. 13-14 den Aufenthalt Ulrich von Huttens in Greifswald, nicht aber Johannes Seckerwitz. In die schlesische Literatur des Späthumanismus ordnet nach dem Vorgang Hans Heckeis Seckerwitz ein: Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. I. München 1960, S. 83. Allerdings nennt er irrtümlich »Ehrenreden« von Seckerwitz auf dänische Staatsmänner und Gelehrte. Zur neulateinischen Dichtung des deutschen Kulturraumes vgl. jetzt den Überblick mit zahlreichen Literaturangaben in dem Artikel >Neulateinische Literatur< von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. In: Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 14. Gütersloh/München 1993, S. 151-158. Vgl. zu ihm den Beitrag von Wilhelm Kühlmann in diesem Band.

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durch ein poetisches Lob seiner Vaterstadt einen bescheidenen Platz in den Literaturgeschichten gesichert hat. Konnte es so auch nur wenige Einheimische aufweisen, die sich in der humanistischen Gelehrtendichtung einen Namen machten, hat Pommern doch in hohem Maß Landfremde aufgenommen, die als lateinische Dichter zu einer Pomerania litterata beigetragen haben und denen Pommern zur Wahlheimat geworden ist. In der Generation der Schüler und Freunde des deutschen »Erzhumanisten« Konrad Celtis (1459-1508) war es der Niedersachse Johannes Hadus-Hadelius (eigentlich Hadeke, um 1490- nach 1525), der kurze Zeit in Greifswald humanistische Poetik lehrte (1514—1515).6 Seine 1516 in Rostock publizierten Camoenae, die wie auch seine übrigen Dichtungen eingehenderer Untersuchung harren, bieten indessen besonders dortiges Lokalkolorit. In der Literaturgeschichte bekannter als dieser nicht unbegabte Lyriker wurde der aus Frankfurt an der Oder stammende, lange Jahre als Prediger und Superintendent in Stettin tätige Christoph Stummel-Stymmelius (1525-1588) mit seiner kulturhistorisch bedeutsamen Komödie Studentes. Weniger hat man registriert, daß Stymmelius auch als lateinischer Lyriker hervorgetreten ist. 7 Schließlich ragte unter den Greifswalder Humanisten der neulateinische poeta hervor, mit dem wir uns im folgenden beschäftigen wollen, der gebürtige Breslauer Johannes Seckerwitz - Seccervitius. Er sollte mit seinen Pomeraneidum libri quinque8 (Fünf Büchern von »Pommernliedern«) zum wichtigsten neulateinischen Dichter Pommerns werden. Seckerwitz' Nachruhm hielt jedoch nicht sehr lange an. Nahm Janus Gruterus in seine Sammlung der Delitiae Poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium, Frankfurt 16129 noch einige - bezeichnenderweise frühe - Gedichte des Poeten auf, ist er in dem nahezu gleichzeitigen biographischen Sammelwerk von Melchior Adam 10 ebensowenig mehr vertreten wie in der neulateinischen Literaturgeschichte von Johannes Petrus Lotichius.11 Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert

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Zu Hadus-Hadelius vgl. u. a.: Georg Ellinger: Italien und der deutsche Humanismus in der neulateinischen Lyrik. Berlin 1929. (Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert, Bd. I), S. 496-501; Gustav Bauch: Johannes Hadus-Hadelius. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus an der Ostsee. In: Vierteljahrsschrift für Kultur und Literatur der Renaissance 1 (1886), S. 206-228; Reinhard Düchting, Art. >Hadeke, Hadus, Hadelius, Johannes< In: Killy, wie Anm. 4, Bd. 4,1989, S. 450f. 7 Zu Christoph Stymmelius vgl. u. a. Bethke, wie Anm. 2, S. 54-59 und den Artikel von Wilhelm Kühlmann. In: Killy, wie Anm. 4, Bd. 11, 1991, S. 277 mit der angegebenen Literatur; ferner Ellinger, wie Anm. 3, S. 307f. 8 Die Typographie der im folgenden zitierten alten Drucke ist vereinfacht. Benutzt wurde ein Greifswalder Exemplar der: Pomeraneidum Iohannes Seccervitii libri quinque [ . . . ] , Gryphiswaldiae M.D.LXXXII. » Ebd. Bd. VI, S. 79-112. 10 Melchior Adam: Vitae Germanorum Philosophorum [ . . . ] . Heidelberg 1615 u. ö. 11 Johannes Petrus Lotichius: Bibliotheca Poetica. Pars tertia. Frankfurt/Main 1626.

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wurde Seckerwitz zumindest außerhalb Pommerns 12 außer in kurzen Notizen der Gelehrtenlexica kaum mehr erwähnt. 13 Die Autoren der Folgezeit beachteten die Dichtungen von Seckerwitz allenfalls aus regionalem Impetus. 14 Erst im Zusammenhang mit der Wiederbelebung des Interesses am deutschen Humanismus in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts legte der Breslauer Hochschullehrer Friedrich Haase als Jubiläumsschrift zum fünfzigsten Doktorjubiläum des Greifswalder klassischen Philologen Georg Friedrich Schoemann eine lateinische Abhandlung über das Leben von Schoemanns »Amtsvorgänger« Seckerwitz vor, die ein in den Grundzügen immer noch zutreffendes Bild des Lebens von Seckerwitz bietet und nur in Details überholt werden kann. 15 Auf dieser Arbeit beruht auch weitgehend der biographisch-bibliographische Teil der bislang ausführlichsten Würdigung des lateinischen Dichters Seckerwitz in der Greifswalder Dissertation von Siegfried Treichel aus dem Jahr 1928.16 Seine Untersuchung des Verhältnisses von Seckerwitz' Dichtung zu ihren antiken Vorbildern bleibt weitgehend beim Nachweis von loci similes stehen. Gleichwohl bildet seine Arbeit eine unerläßliche Grundlage für jede Beschäftigung mit dem Werk von Seckerwitz. Georg Ellinger setzte sich nahezu gleichzeitig zu Treichel mit der lateinischen Lyrik von Seckerwitz auseinander, 17 und Bethke untersuchte in seiner Dissertation über das pommersche Schuldrama auch das dramatische Werk von Seckerwitz, dem er einen hohen eigenständigen Wert zumißt. 18 Da inzwischen durch einige Neufunde zur Biographie wie zum Werk, vor allem aber infolge neuerer Forschungen zur neulateinischen Literatur das CEuvre des Greifswalder Poeten differenzierter gewürdigt werden kann, soll im folgenden der Versuch unternommen werden, anhand ausgewählter Beispiele in das Werk von Johannes Seckerwitz einzuführen. Dieses Zeugnis der humanistischen Kultur in Pommern verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm bislang zuteil geworden ist. 12

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So zitiert etwa der pommersche Geschichtsschreiber Johann Micraelius aus seinen Gedichten. Siehe beispielsweise eine kurze Notiz in Christian Gottlieb Jöcher: Compendiöses Gelehrtenlexikon [ . . . ] . 3. Aufl. Leipzig 1733, Anderer Teil, Sp. 1159. Recht ausführlich bei: Johann Gottfried Ludwig Kosegarten: Geschichte der Universität Greifswald mit urkundlichen Beilagen, Greifswald 1857. ErsterTheil, S. 222f., mit Notizen über Seckerwitz' Stellung an der Universität. Fridericus Haase: Viro summo Georgio Friderico Schoemanno [ . . . ] Philosophiae doctori . . . Quinquagenario . . . Inest de vita Ioannis Seccervitii Vratislaviensis, olim Professoris Poetices Gryphiswaldensis commentatio [ . . . ] . Vratislaviae 1863. Auf den S. 32-34 bietet Haase eine umfängliche, wenn auch nicht vollständige Bibliographie der selbständig erschienenen Schriften von Seckerwitz. Siegfried Treichel: Leben und Werke des Johannes Seckerwitz. Diss. Greifswald 1928. Gutachter war der bekannte Humanismusforscher Paul Merker. Über einige Quellenfunde hinaus bietet Treichels Arbeit im biographischen Teil eine Paraphrase von Haase und untersucht darüberhinaus Seckerwitz' Verhältnis zur antiken Dichtung. Ellinger, wie Anm. 3, S. 278-283. Bethke, wie Anm. 2, S. 48-53.

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II Vorab sei kurz die Vita von Seckerwitz skizziert. Das Geburtsjahr des gebürtigen Breslauers ist nicht bekannt. Da er im Mai 1548 in Wittenberg immatrikuliert wurde, dürften Haase und Treichel mit ihrer Vermutung, es um 1530 anzusetzen, eher im Recht sein als Ellinger, der »um 1525« annimmt, oder gar Karl Goedeke, der »um 1520« angibt. 19 In dieser Zeit wäre ein Alter von 23-28 Jahren für den Studienbeginn recht ungewöhnlich. Bedenkenswert ist auch Haases Vermutung, der Vater von Seckerwitz sei der Breslauer Arithmetiklehrer gleichen Namens gewesen, der vor 1529 ein Rechenbüchlein publizierte, das wiederholt aufgelegt wurde. 20 In die Wittenberger Studienzeit fallen erste poetische Versuche, so poetische Bibelparaphrasen und vor allem eine Querela Germaniae de bellis civilibus von 1553 - ein Stück, das noch in Janus Gruterus' Delitiae Poetarum Germanorum Aufnahme fand. 21 Solche den ovidischen Dichtungen (Tristia und Heroides) nachempfundene Querelae, die die Thematik der inneren Zerissenheit Deutschlands infolge der Religionsstreitigkeiten mit der Türkenproblematik verknüpfen, sind gerade im jüngeren Wittenberger Dichterkreis nicht selten und weisen Seckerwitz als Adepten dieser Gruppe aus. 22 Sein Gedicht operiert mit der topischen Gegenüberstellung der einst unbezwinglichlichen Germania mit einer Gegenwart, in der sich ihre Söhne selbst zerfleischen und damit Deutschlands Feinden, besonders den Türken, leichtes Spiel lassen. Origineller ist ein panegyrischer Teil, in dem das Wiederaufblühen der klassischen Studien mit dem der Religion durch Luther verbunden wird und - ganz im Sinne der Melanchthonianer - ein Gegensatz von studio humanitatis und Reformation geleugnet wird: Musarum decus cum relligione studebant Fundere purpurei solis in omne latus. Vndique concurrit studiis delecta iuuentus, Inque nouo laetus puluere quisque volat [.. ,] 2 3 (Meine Söhne eiferten, die Zierde der Musen zusammen mit dem Glauben in alle Erdwinkel zu tragen, die die Sonne bescheint. Von überallher strömt die zu den Studien erlesene Jugend zusammen, und jeder läuft froh auf dem neuen Kampfplatz.)

Die Anschauungen des Melanchthonkreises in Wittenberg spiegelt auch ein Gedicht wider, das Seckerwitz 1558 zur Erinnerung an den Tod Kaiser Karls V. der personifizierten Donau in den Mund legt. An Karls Bruder 19

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Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 2 , 2 . Aufl. 1886 . S. 101, Nr. 78. Haase, wie Anm. 15, S. 3. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. Bd. 18, Stuttgart 1992, S 5205-5209. (Janus Gruterus): Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium. Frankfurt/Main 1612, Bd. VI, S. 93-112. Vgl etwa Ellinger, wie Anm. 3, S. 87ff. (zu Stigelius). Gruterus, wie Anm. 21, S. 98

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Ferdinand gerichtet, blendet die In obitum Caroli Quinti Pathologia Danubii24 die Auseinandersetzungen mit den protestantischen Reichsständen völlig aus: Sie betont einerseits den nationalen Gegensatz zu Frankreich und die Siege Karls über Franz I., andererseits die wirklichen und projektierten Erfolge gegen die Türken. Wie bei Petrus Lotichius Secundus (1528-1560), dem Zeitgenossen von Seckerwitz und bedeutendsten lateinischen Poeten der Epoche, wird der Kaiser im Zitat einer berühmten Stelle der Aeneis Vergils25 als Bezwinger der Hochmütigen gefeiert: 26 [ . . . ] et parcere novit Supplicibus miseris magnorum more Quiritum; Atque idem valida vi debellare superbos [.. ,] 2 7 (Er wußte demütig bittende Elende zu schonen nach der Sitte der großen Quinten und zugleich mit starker Hand die Hochmütigen niederzuringen.)

Hier reflektiert Seckerwitz' Gedicht ein wichtiges Element des kaiserlichen Selbstverständnisses. Der Kaiser figuriert als endzeitlicher Befreier des Heiligen Landes von der Herrschaft der Ungläubigen - ein Bild, das auch sonst in der Karlspanegyrik eine wichtige Rolle spielt:28 Soweit ich sehe, betont die Pathologia von Seckerwitz erstmals nachdrücklich ein Motiv, das etwa in der lateinischen Jesuitendichtung über Karl V.29 (und noch bei August von Platen-Hallermünde) einen wichtigen Platz einnehmen wird: die Resignation und Abdankung des Herrschers der Welt, der von keiner imperii non saturanda libido erfaßt ist. Unter die bedeutenden Leistungen des Kaisers zählt Seckerwitz die Christianisierung der Neuen Welt, die für ihn ein foelix orbis ist. Das Gedicht klingt aus in einem Preis Ferdinands und der domus Austria. Bereits vor der Publikation dieses Poems war Seckerwitz mit geistlichen carmina hervorgetreten, von denen er eines, eine zeittypische poetische Paraphrase des biblischen Buches Jesus Sirach, 30 Herzog Christoph von Württemberg widmete - wie die Vorrede deutlich erkennen läßt in der Absicht, einen Gönner zu gewinnen. Im Rahmen der neulateinischen poetischen Bibelparaphrasen ist das Buch keine geringe Leistung. In der Tat scheint die Absicht von Erfolg gekrönt worden zu sein. Noch im Erschei24 25 26

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Abgedruckt bei Gruterus, wie Anm. 21, S. 79-85. Vergil, Aeneis 6,853: parcere subiectis et debellare superbos [ . . . ] . Zu dem Bild Karls V. bei Lotichius vgl. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im sechzehnten Jahrhundert: Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia, Bd. 12), S. 206. Gruterus, wie Anm. 21, S. 81. Vgl. Wiegand, wie Anm. 26, S. 156ff und S. 180f. So etwa in den >Heroum Epistolae< von Jakob Bidermann (1578-1639), III, 6 (zuerst 1634). Bidermann läßt Karl in einem poetischen Brief an Franz Borgia seine Hinwendung zum spirituellen Leben begründen. Iesu Syraci liber, qui vulgo Ecclesiasticus dicitur, carmine Elegiaco redditus, Ioanne Seccervitzio Vuratislauiensi autore. Basel 1556 (benutztes Exemplar: UB Basel).

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nungsjahr des Jesus Sirach wurde Seckerwitz, der sich 1553 in Frankfurt an der Oder aufgehalten hatte, 1556, nicht erst 1557, wie Treichel meint, als Lehrer der Poetica Latina et Historia an die Tübinger Universität empfohlen, 31 die sich wegen fehlender Promotion des Kandidaten zunächst sträubte, den Schlesier aber schließlich doch akzeptierte. Seckerwitz eröffnete seine Lehrtätigkeit mit einer - im Druck erhaltenen - Rede über die Dichtkunst Vergils, den er - abweichend von Vergil präferierenden autoritativen Urteilen wie dem Julius Caesar Scaligers - als proximus Homero bezeichnete. 32 Der Professor publizierte u. a. in seiner Tübinger Zeit einen Hymnus de Spiritu Sancto, der wohl bei Ulhart in Augsburg gedruckt wurde, 33 daneben ein carmen auf den Tod des württembergischen Thronfolgers Maximilian34 und eine nicht mehr auffindbare poetische Paraphrase des Propheten Arnos, die 1558 in Basel gedruckt worden sein soll.35 Seckerwitz machte sich wegen eines offenbar recht lockeren Lebenswandels in Tübingen schnell mißliebig, auch wenn er erst 1560, nicht schon 1558, wie Treichel zu meinen scheint, 36 Tübingen endgültig verlassen hat. 37 Er war zwar schon vorher amtsenthoben worden, vertrat aber 1559 seinen Kollegen Michael Toxites, als dieser einige Zeit von Tübingen abwesend war, 38 und amtierte erneut von Juni bis August 1560.39 Grund des Amts Verlustes war auch nicht nur Trunksucht, sondern ein tätlicher Angriff auf einen Studenten und die nachfolgende Beleidigung des Universitätsrektors. 40 In Tübingen hat Seckerwitz offenbar auch mit dem dänischen Arzt und neulateinischen Dichter Johannes Franciscus Ripensis (Hans Frandsen; 1532-1584) die in Wittenberg geschlossene 31

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Vgl. dazu: Norbert Hofmann: Die Artistenfakultät der Universität Tübingen 1534-1601. Tübingen 1982 (Contubernium 28), S. 177. Über diese Rede vgl. Treichel, wie Anm. 16, S. 22f. Hymnus de Spiritu Sancto autore Ioanne Seccervitio Vuratislaviensi, Poetices & linguae Latinae, in Academia Tubingensi, professore, o. O. und J. Exemplar in Wolfenbüttel. Der sehr seltene Druck, der weder Haase noch Treichel zugänglich gewesen zu sein scheint, ist dem Augsburger Ratsherrn (senator) Johann Baptist Hentzel gewidmet, den Seckerwitz als Student in Wittenberg kennengelernt hatte, wie das Widmungscarmen berichtet. Seckerwitz erwähnt dort auch drei wenig erfolgreiche Reisen nach Augsburg. Der Hymnus selbst ist in Hexametern verfaßt. Abgedruckt bei Gruterus, wie Anm. 21, S. 88-93. Dieser Text war weder Haase noch Treichel zugänglich. Auch in Basel befindet sich kein Exemplar. Treichel, wie Anm. 16, S. 26. Hofmann, wie Anm. 31, S. 215. Vgl. Charles Schmidt: Michael Schütz, genannt Toxites. Leben eines Humanisten und Arztes aus dem 16. Jahrhundert. Straßburg 1888, S. 78. Die von Schmidt in Anm. 24 zu Seckerwitz nach David Friderich (!) Strauß: Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Frankfurt/Main 1856, S. 282, Anm. 1 gemachten Angaben sind irrig. Vgl. Hofmann, wie Anm. 31, S. 247. Vgl. Hofmann, wie Anm. 31, S. 214f.; Hedwig Röckelein/Casimir Bumiller (Hg.) . . . ein unruhig Poet. Nikodemus Frischlin 1547-1590. Balingen 1990, S. 46, wo - von Frischlin selbst bestätigte - Parallelen zum Verhalten Frischlins gezogen werden.

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Freundschaft erneuert, wie aus einem Gedicht der »Dänenlieder« hervorgeht. 41 Da sich Johannes Franciscus am 16. April 1559 nach einem Aufenthalt bei dem Heidelberger Mediziner Petrus Lotichius Secundus in Tübingen immatrikulierte, 42 und sich nicht lange dort aufhielt, muß ihn Seckerwitz nach diesem Zeitpunkt dort getroffen haben. Über das Leben von Seckerwitz nach 1560 sind wir schlecht unterrichtet. Im Jahr 1562 scheint er in seiner Heimatstadt Breslau eine Stelle gesucht zu haben, denn er widmete in diesem Jahr Caspar von Logau ein lateinisches Huldigungscarmen zur Wahl zum Bischof von Breslau. Für die Zeit von 1562 bis 1573 konnten weder Haase noch Treichel Lebenszeugnisse von Seckerwitz finden. Er muß sich indessen nach 156243 längere Zeit in Wien aufgehalten haben, denn er publizierte als poetices in inclyto Viennensi archigymnasio professor Ordinarius ein Haase und Treichel unbekannt gebliebenes Gedicht über »Christus als Quell der Weisheit« nach dem Evangelium vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. 44 Auch für die Jahre 1566-68 läßt sich seine Spur in Wien ausmachen, denn in diesen Jahren veröffentlichte er bei Caspar Stainhofer mehrere unbekannt gebliebene carmina,45 darunter 1568 ein Gedicht, in dem er den kaiserlichen Gesandten an der Hohen Pforte, Bischof Antonius Verantius von Erlau (Heves), zu dem Friedensschluß mit Suleiman beglückwünschte. 46 Seckerwitz erwägt in diesem in elegischen Distichen abgefaßten Poem die Vorteile von Krieg und Frieden mit den Türken und plädiert angesichts von deren Stärke trotz Bedenken nachhaltig für den Frieden. Das Gedicht klingt aus mit einem Preis des Bischofssitzes von Verantius. Da er die Eignung von Erlau für Schulen hervorhebt, 47 darf man wohl annehmen, daß das Huldigungsge41

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Johannes Secceruitius: Daneidum Sive Carminum De Rebus Danicis Libri Quatuor. Stettin 1581 fol. 29v. Vgl. Hermann Wiegand: Das »Iter Francicvm« des Dänen Johannes Franciscus Ripensis. Eine Odenwaldreise im Jahr 1559. In: Eberbacher Geschichtsblatt 1985, S. 8-16, hier S. 8. Zu Ripensis vgl. jetzt: Bernhard Coppel: Johannes Franciscus Ripensis und Petrus Lotichius Secundus. Die poetischen Zeugnisse einer Humanistenfreundschaft. Vortrag auf dem VIII. Kongress der International Association for Neo-Latin Studies, Kopenhagen 1991 (im Druck). Aus diesem Jahr datiert ein Brief, den er an die Tübinger Universität aus Wien am 25. Juni schrieb; vgl. Treichel, wie Anm. 16, S. 28. Elegia de Christo fonte sapientiae, sumpta ex materia evangelii de Christo nato annos duodecim [...] Wien 1563. Vgl. - auch zum folgenden - jetzt das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke, wie Anm. 20, S. 5210-5234 So 1566: Carmen in obitum Leonardi Pyhleri ad Dionysium Piopium Episcopum Modrusiensem [...]. Wien 1566. De auspicata et feüci legatione, qua sacra Caesa.(rea) M(ajes)T(as) sapienti atque salutari consilio, pace cum Imperatore Turcarum constituta, halcyonia orbi Christiano, rebus populisque Romani Imperij publicum otij ac quietis bonum restaurauit. Wien 1568 (Exemplar Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel). De auspicata..., wie vorige Anmerkung, Β 3v: Templa quies celebrare sinit, ritumque sacrorum, Imbuere & populos agnitione Dei.

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dicht ihm eine Stelle dort verschaffen sollte. Offensichtlich wurde Seckerwitz zumindest in dieser Zeit angesichts seiner prekären finanziellen Situation kaum von konfessionellen Skrupeln geplagt. Im selben Jahr publizierte er bei ebenfalls bei Stainhofer - in der Kontinuität seiner poetischen Bibelparaphrasen - eine poetische Paraphrase nach dem Epheserbrief des hl. Paulus. 48 Seckerwitz war in diesen Jahren sehr darum bemüht, einen zahlungskräftigen Gönner zu finden. Eine dauerhafte Anstellung fand er indessen erst 1574, als Herzog Ernst Ludwig Seckerwitz als professor poetices nach Greifswald berief. 1578 wurde ihm in einem Visitationsrezess die Erklärung der berühmten poetischen Psalmparaphrasen des Schotten George Buchanan 49 zusätzlich zu seinen übrigen Amtspflichten übertragen, 50 1578 und 1583 bekleidete er das Amt des Dekans der Artistenfakultät und verstarb in diesem Amt am 6. Januar 1583.

III Hatte sein bisheriges Schaffen - außer Gelegenheitsgedichten - in erster Linie der bei den Zeitgenossen sehr beliebten poetischen Bibelparaphrase gegolten, 51 publizierte er erst in seiner Greifswalder Zeit die beiden großen Gedichtsammlungen, die ihn zum wichtigsten neulateinischen Poeten Pommerns im sechzehnten Jahrhundert werden ließen. Als Frucht der Begleitung einer Gesandtschaftsreise nach Dänemark zu der Taufe der Tochter Auguste Frederiks II. (April 1580) veröffentlichte er 1581 in der Offizin Andreas Kellners seine Daneidum Sive Carminum De Rebus Datiicis Libri Quatuor, und im folgenden Jahr erschienen die Pomeraneidum libri Quinque,52 eine Sammlung von epischen und elegischen Poemen, die, wie schon der an der antiken Epik orientierte Titel ausweist (vgl. die Aeneis Vergils

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Apta scholis eadem, disciplinaeque regendae Vim prohibet, foedum supprimit omne nefas. Armatura militis Christiani informata ex textu D. Pauli ad Ephesios VI. ac illustri at magnifico D . Domino Eckio comiti a Salm [ . . . ] . Wien 1568. Zu ihnen vgl. Ian D. McFarlane: Buchanan. London 1981, S. 247-286. Sie waren im Norden Deutschlands als Schulbuch sehr beliebt. In Rostock befaßte sich ζ. B. Nathan Chytraeus (1543-1598) mit ihnen und edierte sehr erfolgreiche Ausgaben des Werkes. Vgl. McFarlane, S. 266 u.ö. Vgl. Kosegarten, wie Anm. 14, S. 222 (auch zum Folgenden). Neben den Wiener carmina kennen weder Haase noch Treichel: Elegia de divite epulone et mendico Lazaro, desumpta ex evangelicis historiis [ . . . ] . Köln 1556 (München SB und UB); Elegia de dulcissimo nomine Immanuelis. Stettin 1576. Die Daneides erschienen in Stettin bei Kellner, die Pomeraneides in Greifswald bei Augustin Ferber. Zitiert wird nach Greifswalder Exemplaren beider Werke: Daneidum Sive Carminum . . . , wie Anm. 39; Pomeraneidum Iohannis Seccervitii libri Quinque [ . . . ] . Greifswald 1582.

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oder Statius' Thebais), nahezu ausschließlich mit pommerschen Gegenständen befaßt sind. Im letzten Jahr erschien noch eine großangelegte poetische Paraphrase eines bekannten Andachtsbuches von Johannes Avenarius-Habermann 53 unter dem Titel Ephemeris Christiana54 in verschiedenen Versmaßen. Überblickt man die weltliche Dichtung von Johannes Seckerwitz, zeigt sich, daß - wie in der neulateinischen Dichtung üblich - Gelegenheitsdichtung des politischen (Hof) und akademischen Milieus in ihr den größten Raum einnimmt. Wichtige Gattungen wie Hochzeitsgedicht (Epithalamium), poetischer Nachruf (Epicedium), Hirtendichtung (Ecloga), Geleitgedicht {Apopempticon)\ Geburtstagsgedicht (Genethliacon) und Reisegedicht (Hodoeporicon) sind in ihr mit Beispielen vertreten. 55 Die Sammlung der Pomeraneides wird fast vollständig von ihnen konstituiert. Sie ist wie nicht selten offensichtlich aus vorgängigen Einzelpublikationen hervorgegangen, von denen sich in Wolfenbüttel wenigstens die »glückwünschende Havel« (Havelus gratulans) von 1577 erhalten hat, ein Glückwunschgedicht an Kurfürst Johann Georg von Brandenburg zur Hochzeit seiner Tochter Erdmute mit Johann Friedrich von Pommern. 56 Aus dem Rahmen dieser Gelegenheitsdichtung fällt lediglich eine Querela auf eine Pestepidemie, die die Stadt Anklam heimsuchte. 57 Der erste Teil des Gedichtes gibt einen Katalog der geistlichen und gelehrten Honoratioren Anklams, die die Pest hinwegraffte, während der zweite ganz traditionell als Pestursache den Zorn Gottes über das moralische Fehlverhalten der Menschen ausmacht; dies übrigens ganz im Gegensatz zu der fast gleichzeitigen Epistola Satyrica des Rostocker Professors und Lateinschulrektors Nathan Chytraeus (1543-1598) über - wohl dieselbe - Pestepidemie in Rostock, in der der Verfasser eine rationale, auf Hygiene beruhende Seuchenprophylaxe fordert. 58 53

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Über Habermann vgl. den Artikel von Heinz Wittenbrink. In: Killy, wie Anm.4, Bd. 4, S. 444. Ephemeris Christiana piarum precum in singulos dies hebdomadae distributarum [...]. Stettin 1583. Benutzt wurde ein Greifswalder Exemplar. Bequeme Übersicht und kurze Charakteristik dieser genera der neulateinischen Kasualdichtung jetzt bei James W. Binns: Intellectual Culture in Elizabethan and Jacobean England. The Latin Writings of the Age. Leeds 1990 (ARCA Classical and Medieval Texts, Papers and Momographs 24), S. 60-80. Havelus gratulans [...]. Rostock 1577, in den Pomeraneides, wie Anm. 52, fol. 19v27v. Pomeraneidum..., wie Anm. 52, fol. 204r-206v. Vgl dazu jetzt: Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit. (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius). In: Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann (Hgg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der Frühen Neuzeit Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit, Bd. 10), S. 1-29, hier S. 16-19 bzw. S. 23-29 (Text und Übersetzung).

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Sein Selbstverständnis als poeta doctus beleuchtet Seckerwitz in einem Gedicht des dritten Buches der Pomeraneides, das an den Marschall Herzog Barnims, Georg von Below, gerichtet ist und von den »Arten der Dichter« (genera poetarum) in einer »synkrisis« handelt. 59 Die Existenzform des humanistischen poeta wird als höchste unter den gelehrten Lebensweisen gewertet und unter den genera poetarum wiederum übertrifft der Epiker den Dramatiker und Lyriker. Sich selbst reiht Seckerwitz unter die Lyriker ein freilich in erster Linie nicht aus bloßer Bescheidenheit, sondern weil die Zeiten mit ihrer Geringschätzung der Musen dem Epiker wenig günstig sind: Quanquäm qui possunt nobis hanc tempora laudem Nostra dare? An magnum quid, et amplum carmine vates Inchoet egregio, cum Musis praemia desint? Nec Moecenates, nec sit pater optimus illis Augustus [.. ,]60 (Wie können gleichwohl unsere Zeiten uns diesen Ruhm (seil, des epischen Dichters) verschaffen? Oder soll ein Dichter etwa Großes und Bedeutendes mit seinem ausgezeichneten Liede beginnen, wo doch den Musen kein Lohn zuteil wird? Und ihnen weder Maecenas noch Augustus als bester Vater beisteht.)

Seckerwitz' bewegte Klage über die Verachtung der Musen beleuchtet bei aller tradierten Topik doch schlaglichtartig die Situation des Professors der Artistenfakultät, dessen geringe Bezahlung ihm kaum den Lebensunterhalt verschafft - ein Problem, das sich gerade in der Biographie von Seckerwitz spiegelt, der beständig auf der Suche nach Mäzenen war. 61 In den gleichen Kontext gehört eine Elegie über den »zweifachen Adel«, die den humanistischen Diskurs De vera nobilitate wieder aufnimmt und sogar Argumente aus der Zeit des Bauernkrieges wieder anklingen läßt, so das von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen zur Zeit von Adam und Eva: Cum Pater omnipotens limo foelice creasset Humanae primum genitorem stirpis Adamum, Vna fuit nostrae tunc sortis forma per orbem [.. ,] 62 (Als der allmächtige Vater den Stammvater des Menschengeschlechtes, Adam, aus dem fruchtbaren Schlamm schuf, hatten wir Menschen alle ein Los auf Erden.)

Bedenkt man, welche Schwierigkeiten Seckerwitz' Tübinger Nachfolger Nikodemus Frischlin etwa um die gleiche Zeit wegen seines Lobes des Bauernstandes in der oratio de vita rustica mit dem württembergischen Adel bekam, 63 kann man ermessen, daß Seckerwitz keineswegs ein bloß 59 60 61

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Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 117r-121r. Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 119v. Zum Problem allgemein Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982 (Studien u. Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), besonders S. 31ff. Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 121v. Vgl. dazu jetzt kurz: Wilhelm Kühlmann: Nikodemus Frischlin (1547-1590). Der

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akademisch gewordenes Problem ansprach. Freilich leugnet er nicht die Berechtigung eines durch virtus ausgezeichneten Geburtsadels, wenngleich er die Neigung der Nachgeborenen zu Lastern wie Trunksucht, Völlerei und Trägheit betont, stellt ihr aber als ebenbürtig die nobilitas der docti gegenüber. Auch die Pommern niedriger Herkunft werden als gebildete Männer hervorragende Ratgeber ihres Fürsten sein. Den höchsten Adel indessen wird erwerben, wer zu virtus oder doctrina Frömmigkeit hinzufügt: Haec vos aetherio proceres extollet Olympo.64 Seckerwitz erweist sich so mit wichtigen Themen seiner Dichtung als Späthumanist, der an den aktuellen Auseinandersetzungen um den sozialen Status des humanistischen Gelehrten regen Anteil nimmt. Angesichts einer oft bedrückenden pekuniären Misere versucht er die Würde des nichtadligen Gelehrtenstandes zu verteidigen. Daß er dies wesentlich zurückhaltender tut als etwa Nikodemus Frischlin, mit dem er sonst in Anspruch und Habitus viel gemeinsam hat, hängt nicht nur mit seiner gewiß geringeren Begabung zusammen. Sein faktischer wie sein erstrebter sozialer Status verweist ihn vielmehr auch auf einen Rezipientenkreis, der über den der res publica doctorum hinausgreift: Nicht nur ein großer Teil der Pomeraneides, sondern auch der Daneides ist einem Personenkreis gewidmet, der neben dem Fürsten selbst vor allem dessen adlige Kanzler und Räte einschließt. Angesichts eines solchen Publikums konnte Seckerwitz die Themen der späthumanistischen Dichtung nur in einer Form vorbringen, die dem Adel akzeptabel erschien. Dazu gehört auch, daß der beklagte Rückgang der epischen Dichtungsgattung in der Praxis dadurch aufgehoben wird, daß selbst die eigentlich eher als lyrisch eingestuften genera der Dichtung in hohem Maß episiert werden. Das Bestreben, möglichst in epischer Form die Taten des Hauses des von ihm Besungenen zu schildern, führt zu einer Konvergenz und Einebnung der Gattungen der Gelegenheitsdichtung, der die jeweilig gewählte austauschbar sein läßt und zu einer fast ermüdenden Homogenität der Dichtungen von Seckerwitz in beiden großen Gedichtsammlungen führt. Gattungsmischung ist im Werk von Seckerwitz geradezu die Regel. So ist das fraglos bedeutendste Gedicht der Pomeraneides, das epische Hodoeporicon, in dem die Jerusalemfahrt Herzog Bogislaws X. erzählt wird, 65 in den Rahmen eines Hochzeitsgedichtes gestellt. 66 Der Bräutigam wird durch die Erzählung der Taten seines Ahns (proavus) in ein helles Licht gerückt. Ein anderes Gedicht, das als Epithalamium für

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unbequeme Dichter. In: Paul Gerhard Schmidt (Hg.): Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Sigmaringen 1993, S. 265-288, hier S. 280-285. Frischlin hat sich übrigens auf Seckerwitz als seinen Vorgänger (auch in der Trunksucht) berufen; vgl. Treichel, wie Anm. 16, S. 25f. Pomeraneidum, wie Anm. 50, fol. 127r. Sie fand 1497 statt. Kurz zu dieser Fahrt ( mit Literatur) Kosegarten, wie Anm. 14, Erster Theil, S. 140f. Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 28r-51v (ca. 1280 Hexameter).

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die H o c h z e i t H e r z o g Ernst Ludwigs v o n Pommern mit H e d w i g - S o p h i e , einer g e b o r e n e n Prinzessin von Braunschweig-Lüneburg figuriert, 6 7 enthält nicht nur eine ausführliche G e n e a l o g i e der pommerschen Fürsten, sondern auch e i n e n ausgedehnten Preis der Städte Pommerns, der der Braut als B e w e i s der Dignität des pommerschen Landes dienen soll: Quae iam marmoreo Sponsae delata cubili Donat habere noui monimentum & pignus honoris: Foelicisque thori partas tot munere terras, Dotalesque tibi populos commendat & vrbes, Ο Virgo praestans praestanti iuncta marito [.. ,] 68 ({Die Göttin des Vaterlandes) bringt nunmehr diese Städte in das marmorne Brautgemach und schenkt sie Dir als Denkmal und Unterpfand Deiner neuen Ehre und vertraut Dir als Mitgift alle die durch das Geschenk der glücklichen Heirat erworbenen Länder und die Völker und Städte an, ο Du ausgezeichnete junge Frau, die Du einem ausgezeichneten Gatten verbunden wirst) D e r K a t a l o g der Städte, der in d i e s e m Gedicht g e b o t e n wird, ist nicht nur von regionalgeschichtlichem Interesse. Er kann auch zeigen, wie Seckerwitz K l e i n f o r m e n der spätantiken D i c h t u n g aufgreift und in andere Gattungen integriert. E s kann nämlich kaum ein Z w e i f e l b e s t e h e n , daß sich Seckerwitz für seinen Kranz pommerscher Städte den Ordo urbium nobilium des spätantiken Dichters Decimus A u s o n i u s (310-393/94 n. Chr.) zum Vorbild g e n o m m e n hat, dessen Dichtung ihn auch sonst beeinflußt zu haben scheint. 6 9 D e r epigrammatisch-kurze Typ des poetischen Städtelobs bildet einen, i m Vergleich zu den großen episch-deskriptiven Städtegedichten, die die humanistisch-neulateinische Poesie vornehmlich des deutschen Kulturraums b e s t i m m e n (etwa die große poetische Beschreibung Nürnbergs durch Helius E o b a n u s Hessus) 7 0 , nur wenig gepflegten Sonderzweig. 7 1 U n t e r den 67 68 69

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Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 52r-69r. Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 60v. Neue Ausgabe mit umfangreichem philologischen Kommentar von Roger Green (Hg.): The Works of Ausonius, edited with Introduction and Commentary by R. P. H. Green. Oxford 1991, S. 169-175 sowie S. 569-583 (Kommentar). Über die Städtegedichte des Ausonius vgl.: Regula Beck: Die »Tres Galliae« und das »Imperium« im 4. Jahrhundert. Studien zum »Ordo urbium nobilium« des Decimus Magnus Ausonius, Diss. Ztiprich 1969. Zur gattungsgeschichtlichen Einordnung des Zyklus vgl. zuletzt Hannah Szelest: Die Sammlung »Ordo Urbium Nobilium« des Ausonius und ihre literarische Tradition, zuerst 1973, jetzt in: Manfred Joachim Lossau (Hg.): Ausonius. Darmstadt 1991 (Wege der Forschung, Bd. 652), S. 265-282. Zu Ausonius in der Renaissance vgl. Roger Green: Ausonius in the Renaissance. In: I. D. McFarlane (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Sanctandreani [...]. Binghampton, New York 1986 (Medieval & Renaissance texts & studies, vol. 38), S. 579-585. Vgl. jetzt die Ausgabe von Harry Vredeveld (Hg.): Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Lateinisch- und Deutsch. Dritter Band. Dichtungen der Jahre 1528-1537. Bern u. a. 1990 (Mittlere deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, Bd. 39), S. 183-267. Zum lateinischen Städtelobgedicht vgl. jetzt die umfassende Monographie von Frans P. T. Slits: Het latijnse Stedegedicht. Oorsprong en ontwikkeling tot in de zeventiende eeuw. Diss. Nijmegen. Amsterdam 1990; zum humanistischen Städtelob S. 215-301;

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epigrammatischen Städtelobgedichten der Zeitgenossen von Seckerwitz sind die 1546 erstmals gedruckten Urbes von Julius Caesar Scaliger (1484-1558) schon dadurch bekannt geworden, daß sie in die wiederholt gedruckten Gesamtausgaben der Poemata dieses einflußreichen Humanisten aufgenommen wurden. 72 Im Unterschied zu diesen - Seckerwitz wohl vertrauten - Vorbildern hat Seckerwitz seinen Katalog pommerscher Städte als ein fortlaufendes carmen konzipiert, in dem allerdings der Anteil der einzelnen Städte in der Regel klar abgrenzbar ist. Mit durchschnittlich etwa 25-30 Versen für die größeren Städte und Orte wie Stralsund, Rügen und Greifswald und zwischen sechs und zehn Versen für die kleineren Orte bleibt Seckerwitz im Rahmen des Umfangs, den Scaliger vorgegeben hat. Zum Kummer der älteren Forschung interessiert sich Seckerwitz wenig für die landschaftlichen Reize Pommerns, hingegen sehr für die wirtschaftlichen Leistungen der Landesbewohner - ein durchaus humanistischer Zug, da sich die Neulateiner, die man oft als weltfremde Stubengelehrte anzusehen geneigt ist, durchaus einen Blick für wirtschaftliche Gegebenheiten und die vom Menschen geformte Kulturlandschaft hatten. Daß sich der Humanist Seckerwitz der Kirchen und Schulen annimmt, dürfte kaum Verwunderung erregen. Von den sechsundzwanzig Hexametern etwa, die er auf Greifswald dichtet, sind allein neun der Universität gewidmet. Sie mögen als Huldigung an den Genius loci folgen: Hac sedem nonus Varslaus in urbe Camoenis Condidit, & Sophiae qui pulchra reperta docerent, Iußit adesse viros opibus, pretioque vocatos. 7 3 At graviter lapsam vindex pietate Philippus 74 Extulit in melius, rediuiuaque stamina doctae Contulit ipse Scholae venturi prouidus aevi. Tu quoque tu curas Erneste 7 5 imitate Parentis Huic iam mite Scholae, columen largumque fauorem Das & grata pijs clementior otia Musis [ . . ,] 7 6 (In dieser Stadt gründete Wartislaw IX. den Musen eine Stätte und berief mit großem Aufwand an Schätzen und Geld Männer, die die herrlichen Ergebnisse der Wissenschaften lehren sollten. Als diese Stätte aber schwer darniederlag, besserte aus Frömmigkeit Philipp I. ihre Lage, erneuerte den Lebensfaden der gelehrten

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Überblick über die deutschen Städtegedichte S. 236-240, sowie Anm. S. 341-345 mit Lit. Zu Scaligers Städtegedichten vgl. Slits, wie Anm. 71, S. 259-272. Zur Rolle Herzog Wartislaws IX. bei der Universitätsgründung vgl. Kosegarten, wie Anm. 14, Erster Theil, S. 40-107 passim. Wohl im Interesse seines Preises des pommerschen Fürstenhauses geht Seckerwitz auf die entscheidende Rolle von Dr. Heinrich Rubenow mit keinem Wort ein. Über die Einführung der Reformation an der Universität durch Philipp I. vgl. Kosegarten, wie Anm. 14, S. 188ff. Zu Herzog Ernst Ludwigs Rolle vgl. Kosegarten, wie Anm. 14, S. 207ff. Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 62r.

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Schule und sorgte so für die künftige Zeit. Auch Du, Ernst Ludwig, ahmst die Fürsorge Deines Vaters nach und gewährst gnädig dieser Hochschule Stütze und reichliche Gunst und in Deiner Milde den Musen eine angenehme Existenz...)

Diese wenigen Verse enthalten einige der wichtigsten Charakteristica der panegyrischen Dichtung von Johannes Seckerwitz: Das Lob der Stadt wird immer eingebunden in das Lob des pommerschen Fürstenhauses, und die Panegyrik formuliert zugleich einen Anspruch an den Fürsten, wenn hervorgehoben wird, daß der Ahn des regierenden Fürsten die ersten Universitätslehrer Greifswalds hervorragend mit Geldmitteln ausgestattet habe. Trotz eines durch die rhetorischen praecepta des Städtelobes 77 und die geringe Verszahl gesteckten engen Rahmens versucht Seckerwitz auch bei kleineren Städten wie Stolp oder Pasewalk wenigstens einige Eigentümlichkeiten der betreffenden Orte hervorzuheben, so daß seine Städtevignetten oft bezeichnender wirken als die des Vorbildes Ausonius. Bei den pommerschen Fürstenresidenzen wie Wolgast wird deren Beziehung zum Herrscherhaus eingehend gewürdigt, bei den Landesstädten neben der lutherischen Orthodoxie, die sich immer auch in der Pflege des Schulwesens erweist, vor allem der bürgerliche Gewerbefleiß der Bewohner hervorgehoben. Die ortstypischen Produkte wie Bier und Honig bei Pasewalk werden ebenso gewürdigt wie der Fischreichtum der Peene bei Anklam. Insgesamt entsteht ein sehr anschauliches Bild der Städtekultur des frühneuzeitlichen Pommern, die eine Ausgabe dieser Teile des Hochzeitsgedichtes mit deutscher Übertragung zu einer lohnenden Aufgabe machen würde.

IV Traditionsgebundenheit und eigenes Profil der lateinischen Dichtung von Johannes Seckerwitz lassen sich gut an zwei umfangreichen Gedichten ablesen, die auf den ersten Blick derselben Gattung anzugehören scheinen. Das zweite Buch der Daneides wird von einem Hodoeporicon itineris Danici in fast 550 elegischen Distichen gebildet, 78 in dem Seckerwitz die Reise einer pommerschen Gesandtschaft unter Herzog Barnim von Pommern-Stettin zur Taufe der dänischen Königstochter Auguste im April 1580 beschreibt. Eine Analyse des Textes lohnt sich nicht nur deshalb, weil dadurch die Gattungsmonographie des Verfassers zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im sechzehnten Jahrhundert suppliert werden kann, 7 9 sondern auch, weil das Poem für die Dichtung unseres Autors bezeichnende Züge erkennen läßt. Im Rahmen einer der beliebtesten Gat77 78 79

Vgl. jetzt v. a. Slits, wie Anm. 71, S. 13-76. Daneidum, wie Anm. 41, fol. 19r-39v. Vgl. Anm. 26; ders. mit Ergänzungen: Hodoeporica. Zur neulateinischen Reisedichtung des sechzehnten Jahrhunderts. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die

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tungen der Dichtung des deutschen Renaissancehumanismus zeigt es deutlich die Eigenart von Seckerwitz' Dichtungen. Das Gedicht ist zweigeteilt: Der erste Teil beschreibt die gemeinsame Reise mit Herzog Barnim von Wolgast über Demmin, Rostock, Wismar, Grevesmühlen, Lübeck, Reinfeld (dessen Zisterzienserkloster zwei Jahre nach Seckerwitz' Besuch aufgehoben wurde), Segeberg, Altmünster, Rendsburg, Flensburg und Haderslev, dessen Name Seckerwitz etymologisiert und mit dem deutschen Hader in Verbindung bringt, nach Kolding, wo die Taufe festlich begangen wird; nach einigen Tagen tritt die Gesandtschaft die Rückreise u.a. über Odense, Nyborg, Korso, Ringstedt und Sorö nach Warnemünde und Rostock an. Unterwegs trennt sich aber Seckerwitz von ihr, um seinen Freund Hans Frandsen (Franciscus Ripensis), Medizinprofessor in Kopenhagen, 80 zu treffen. Mit ihm hatte er in Wittenberg und Tübingen in den 50er Jahren engen Kontakt gehabt, ihn aber seither nicht wieder gesehen. Da Seckerwitz Frandsen, der sich in Heisingborg aufhält, nicht antrifft, nimmt er Kontakt zu den praesides der Kopenhagener Universität auf, deren Hohe Schule er in einem dem Reisegedicht inserierten carmen als Pflanzstätte humanistischer Wissenschaft ebenso feiert wie als Hort des wahren (lutherischen) Glaubens. Inzwischen lädt ihn ein Brief von Frandsen nach Lund ein, wohin er über Malmö reist und wo er einer Hochzeit beiwohnt, der er ein eigenes Gedicht widmet. In Lund trifft er den berühmten Astronomen Tycho Brahe, dem er einen Panegyricus zueignet. Seckerwitz kehrt mit Frandsen über Heisingborg, wo er für die Witwe des gerade verstorbenen praeses eine poetische Totenklage verfaßt, und Helsingör nach Kopenhagen zurück. Dort wird eingehend Frederiksborg besichtigt. Ein Ausflug nach Roskilde gibt Gelegenheit, den Saxo Grammaticus zu rühmen - ein interessantes Zeugnis für das Interesse von Seckerwitz an mittelalterlicher lateinischer Literatur. 81 In Kopenhagen trifft er noch mit vielen Gelehrten, darunter dem Poeten Erasmus Laetus, 82 zusammen, ehe er die Rückreise antritt. Das Hodoeporicon itineris Danici hat von Treichel im Vergleich zu anderen Dichtungen von Seckerwitz eine fast enthusiastische Würdigung erfahren: »Man spürt, daß das Gedicht aus frischem Eindruck und Erlebnis

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Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/Main 1989, S. 117-139 (suhrkamp taschenbuch materialmen 2097). Vgl. oben Anm. 42. Daneidum, wie Anm. 39, fol. 38v. Über ihn vgl. u. a.: Walther Ludwig: Multa importari, multa exportarier inde - ein humanistisches Loblied auf Hamburg aus dem Jahre 1573 (zuerst 1983). In: Ders.: Schriften zur neulateinischen Literatur. München 1989 (Humanistische Bibliothek 1,35), S. 131-144; Karen Skovgaard - Petersen og Peter Zeeberg: Erasmus Laetus' Dabsskrift (1577) - presentation af et dansk renaessance-festskrift. In: Museum Tusculanum 57 (1987), S. 222-239; Minna Skafte Jensen: Latinsk Renaessancepoesie i Danmark. In: Renaessancestudier 2 (Kopenhagen 1988), S. 132-145 passim.

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geschrieben ist.«83 Das mag im Vergleich zu manchem der panegyrischen Gedichte der Daneides und Pomeraneides durchaus zutreffen, im Horizont der Gattung des neulateinischen Reisegedichtes indessen sind die in der Regel nur wenige Zeilen umfassenden persönlichen Bemerkungen, die sich meist auf die Aufnahme und Verpflegung durch Gastgeber, seltener auf die durchreisten Gegenden beziehen, alles andere als ungewöhnlich. Seckerwitz' Reisegedicht ist in diesem Betracht - etwa verglichen mit dem Italienreisegedicht von Melanchthons Schwiegersohn Georg Sabinus - ein eher durchschnittliches Produkt. Seine Bedeutung liegt im Rahmen der Gattung auf einem ganz anderen Gebiet: Seckerwitz betont sehr stark die politischen Beziehungen zwischen Pommern und Dänemark, die darin zum Ausdruck kommen, daß Herzog Barnims Begegnungen mit Würdenträgern des dänischen Staatsverbands wie Herzog Adolph von Holstein ausführlich geschildert werden und der König einen Panegyricus erhält, der auf die Verbindung von Musae und Religio abhebt. Diese Verbindung kommt auch in dem poetischen Brief zum Ausdruck, den Seckerwitz an die Universität Kopenhagen richtet. Er wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf die Einstellung des Verfassers zu den konfessionellen Auseinandersetzungen innerhalb des Protestantismus. Während er gegenüber der römischen Kirche klar seine Ablehnung bekundet - das Kloster Reinfeld gibt Gelegenheit, gegen die »fetten« Mönche zu polemisieren und der Papst figuriert als Romuleus Tyrannus - bekennt sich der ehemalige Wittenberger Student und Professor einer lutherischen Universität zu dem von den Gnesiolutheranern um Flacius Illyricus heftig angefeindeten Melanchthon: Quo socio magni vox est audita Lutheri, Vindice barbaries quo dedit acta fugam [.. ,] 8 4 (Die Stimme Luthers wurde durch ihn als Gefährten unterstützt, und die Barbarei ergriff von ihm als Gegner vertrieben die Flucht)

Seckerwitz kann so in jene zahlenmäßig nicht kleine Gruppe von Späthumanisten eingereiht werden, die ungeachtet scharfer Angriffe von orthodoxer Seite unbeirrt an den Verdiensten Melanchthons um Protestantismus und Humanismus festhielten.85 Die Betonung des politisch-konfessionellen Moments ist ein novum in der Gattungsgeschichte, in der Berichte über Gesandtschaftsreisen, die den Aktionsraum der res publica doctorum überschreiten, ohnehin selten sind.

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Treichel, wie Anm. 16, S. 75. Daneidum, wie Anm. 41, fol. 31v. Vgl. zu diesem Komplex das Fallbeispiel von Wilhelm Kühlmann: Zum literarischen Profil des Kryptokalvinismus in Kursachsen: Der Poet Johannes Major (1533-1600): In: Dresdner Hefte 29 (1992), S. 43-50.

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Auch in Aufbau und Gestaltung zeigt das Gedicht Eigenheiten, die wie schon ausgeführt auch für die übrige Dichtung von Seckerwitz bezeichnend sind: Durch Einfügung umfangreicher Elemente anderer Dichtungsgattungen wie Panegyricus, poetische Epistel, Epithalamium und Epicedium hebt er sozusagen die Gattungsgrenzen auf - eine Erscheinung, die ich zumindest in solchem Umfang in der neulateinischen Dichtung des späten sechzehnten Jahrhunderts sonst nicht beobachten konnte. Das hat wohl weniger mit poetologischen Absichten als mit dem Status des Autors zu tun. Er bewegt sich nicht nur als Professor in der Gelehrtenrepublik, sondern ist als eine Art poeta aulicus zugleich der höfischen Sphäre zugeordnet und dient nicht zuletzt als Sprachrohr der politischen Bestrebungen seiner pommerschen Landesherren. Seckerwitz läßt übrigens auch in dem Reisegedicht durchblicken, daß er mit seinem Status als Universitätslehrer in Greifswald nicht zufrieden ist: Htc dum multa cano, cathedrä professor inani Praemia vix sterili parua labore fero [.. .J 86 (Während ich hier (Greifswald) viel dichte und als Professor auf dem nichtigen Katheder kaum den Lohn für meine fruchtlose Arbeit davontrage)

Unverhüllt gibt er zu erkennen, daß seine Dichtung auch auf größeren materiellen Ertrag zielt, den er offensichtlich in Dänemark in höherem Maß zu erzielen hofft als in Pommern.

V

Ebenfalls den Titel Hodoeporicon trägt das umfangreichste epische Gedicht von Seckerwitz, hat aber einen ganz anderen Charakter. Mit der poetischen Bearbeitung chronikalischer Reiseberichte, denen er im Sachlichen weitgehend folgt, 87 über die Pilgerreise Herzog Bogislaws X. ins Heilige Land leistet er einen beachtenswerten Beitrag zu der beinahe noch zur Gänze unerforschten neulateinischen Epik Deutschlands, die neben religiösen Themen und poetischen Bibelparaphrasen besonders das zeitgeschichtliche Epos pflegte. 88 Die folgenden kurzen Bemerkungen können daher nur ein tastender Versuch sein, das Gedicht zu bewerten. Wenig verwundern wird bei der Wertschätzung, die Vergib Aeneis in der Poetik der Renaissance wie in der Dichtungspraxis der italienischen Neulateiner genoß, daß Seckerwitz bei seiner Episierung des tradierten Stoffes auf vergilische Motive, Darstel86 87 88

Daneidum, wie Anm. 41, fol. 29v. Vgl. Treichel, wie Anm. 16, S. 66f; kurze Analyse auch bei Bethke, wie Anm. 2, S. 43. Übersichten mit Literatur: Rupprich, wie Anm. 1, S. 207-212; Stammler, wie Anm. 1, S. 163-168. Stammler läßt sich übrigens vom Titel irreleiten und ordnet Seckerwitz' Gedicht S. 144 unter die poetischen Reisebeschreibungen ein, mit denen es kaum Berührungspunkte hat.

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lungsmuster und Strukturen zurückgreift. So nimmt er den Anfang der Aeneis auf, um Bogislaw wie Aeneas (und dessen Vorbild Odysseus) als großen Dulder in den Gefahren des Meeres zu zeichnen: Ille quidem multis iactatis casibus alto, Pertulit & fluctus maris, insidiasque latronum [ . . .] 8 9 (Er wurde von vielen Unglücksfällen auf dem hohen Meer herumgeworfen, ertrug die Fluten des Meeres und die Nachstellungen von Räubern)

Zugleich fügt er auch eine ganze vergilische Szene ein, als türkische Seeräuber bei Methone die Flotte bedrohen. Die Abstraktion der Göttin Maiestas klagt wie die vergilische Juno bei Jupiter, daß der insignis pietate vir - auch dies eine vergilische Wendung, die Aeneas bezeichnet 90 - zum Opfer von Räubern werde und erhält von Gott Vater, der ihr wie der vergilische Jupiter zulächelt, 91 die beruhigende Antwort, daß Bogislaw nicht nur unversehrt heimkehren, sondern Sohn und Enkel sehen werde, die das »Gestirn des heilbringenden Glaubens« und die Musen dereinst fördern würden eine Parallele zu Jupiters Prophezeiung der künftigen Geschichte Roms. Merkwürdigerweise läßt Seckerwitz dann (wie die vergilische Juno) eine Furie aus der Hölle kommen, um die türkischen Angreifer zu bezwingen. Zu dem Programm des vergilisierenden Heldenepos gehört auch, daß Sekkerwitz Bogislaw im Kampf gegen die türkischen Korsaren eine Aristie erleben läßt, die in der historischen Überlieferung keinerlei Anhaltspunkt hat. Das Epos ist in einem Detail aufschlußreich als Zeugnis für die politische Haltung seines Autors. Anläßlich der Beschreibung des Empfangs von Bogislaw durch die Stadt Nürnberg auf der Reise nach Venedig plädiert der bürgerliche Epiker nachdrücklich für die Eintracht von Fürsten, Adel und Stadtbürgertum, bereitet also die politische Konstellation der absolutistischen Staatsauffassung vor: Ο foelix Procerum, foelix sapientia Regum, Atque Ducum, studijs praeclaras mitibus vrbes Conciliare sibi, placidosque adiungere cives. Nulla salus regnis, quibus est discordia curae: D u x et Nobilitas ciues ubi vexat, & odit: Principis obluctans & Nobilitatis honori Stat ciuis, tumidoque mouens odia aspera fastu [ . . ,] 9 2 (O glücklich die Weisheit der Edlen, glücklich die der Könige und Fürsten, sich in mildem Eifer berühmte Städte geneigt zu machen, und sich friedfertige Bürger zu gewinnen. Kein Heil herrscht in Reichen, in denen Zwietracht eifert, wo Fürst und Adel die Bürger quälen und hassen und der Bürger wider die Ehre von Fürst und Adel streitet und in geschwollenem Hochmut rauhen Haß erzeugt) 89 90 91 92

Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 28v. Vgl. Vergil, Aeneis 1,3f. Vgl. u. a. Vergil, Aeneis V, 295 u. ö. Vgl. Vergil, Aeneis 1,254. Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 32r.

Johannes Seckerwitz als neulateinischer Dichter

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Hier kommt das Interesse des Vertreters des Stadtbürgertums an einer ruhigen politischen Entwicklung zum Ausdruck, die auch seine Ansprüche wahrt. Während Seckerwitz bei der Beschreibung der Reise im Heiligen Land ohne jede Distanz von den Gnadenstätten berichtet und offensichtlich auch gegen die Verehrung von Christusreliquien keinen Einwand erhebt, äußert er bei der Beschreibung eines Rombesuches auf der Rückreise scharfe Kritik an den politischen und religiösen Ambitionen des Papsttums. In die höfische Späre führt ein Zusammentreffen mit dem erkrankten Kaiser Maximilian I. in Innsbruck. Das Hilfeersuchen des Kaisers gegen Venedig kann der Pommernfürst, dessen enge Beziehungen zu der Lagunensstadt in dem Epos ihren Niederschlag finden, 93 abwehren, indem er auf die Notwendigkeit, seine Stände zu befragen, verweist. Politisches Programm und sakrales Selbstverständnis des Fürstentums spiegeln sich schließlich in dem freudigen Empfang Bogisla;ws durch seine Landeskinder in Stettin.

VI Betrachten wir in einer Zusammenschau noch einmal kurz das neulateinische Dichtungswerk des Greifswalder Universitätslehrers. 94 Zeittypisch debütiert der Zögling des Wittenberger Dichterkreises um Melanchthon mit poetischen Bibelparaphrasen, einem Dichtungsverfahren, dem auch seine spätere geistliche Dichtung treu bleibt - zuletzt unter dem Eindruck der poetischen Psalmparaphrasen des Schotten George Buchanan, die der Rostocker Latinist Nathan Chytraeus in Deutschland bekannt gemacht hatte und über die Seckerwitz in Greifswald Vorlesungen hielt. Seine weltliche Dichtung - immer wieder auch dazu bestimmt, ihm Gönner zu verschaffen zeigt den Greifswalder Universitätslehrer als Mittler zwischen der Sphäre der Gelehrtenrepublik und der höfischen Gesellschaft. Seckerwitz' poetisches Werk ist entscheidend von Auftrags- und Programmdichtung bestimmt. Trotz theoretischer Klage über fehlende Voraussetzungen für epische Dichtung episiert er deshalb die Gattungen der Kasualpoesie, was zu einer für ihn typischen Gattungsmischung führt. Der poeta doctus, der immer wieder Unzufriedenheit mit seinem sozialen Status als Hochschullehrer bekundet, wird zum Propagator der politischen, religiösen und kulturellen Bestrebungen der Fürsten Pommerns an der Schwelle zur absolutistischen Epoche. Er verbindet konsequent die Rühmung der Herrscher mit dem Lob des Landes und seiner Städtekultur.

93 94

Pomeraneidum, wie Anm. 52, fol. 45v. Ausgeklammert blieb das andersgeartete dramatische Werk. Vgl. dazu Treichel, wie Anm. 16, S. 83ff; Bethke, wie Anm. 2, S. 48-53.

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Hermann Wiegand

Schon deshalb verdient der schlesische Späthumanist als wichtigster lateinischer Künder der laus Pomeraniae im sechzehnten Jahrhundert noch immer unser Interesse.

Thomas Höth

Zu nachreformatorischen Entwicklungen im Kirchenwesen der Hansestadt Stralsund - Die Veränderungen in den theologischen Ansichten des Superintendenten Jakob Kruse

Seit geraumer Zeit hat sich in der historischen Forschung die Reformation als Untersuchungsschwerpunkt durchgesetzt. Im Mittelpunkt entsprechender Arbeiten stand in der Regel die Phase bis zur Realisierung eines evangelischen Kirchenwesens. Demgegenüber wurde der folgenden Konsolidierungsphase nicht immer genügend Aufmerksamkeit zuteil, so daß auf diesem Gebiet bis heute Desiderate bestehen. 1 In diesem Zusammenhang weisen die Entwicklungen im Kirchenwesen der Hansestadt Stralsund einige Besonderheiten auf, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Zum einen handelte es sich um eine mediate Stadt, zum anderen erfolgte der Durchbruch der Reformation hier bereits 10 Jahre vor der landesherrlichen Proklamation des Evangeliums im Jahre 1535.2 Der Drang der politischen Elite Stralsunds, in allen Urbanen Bereichen möglichst autonom zu handeln, manifestierte sich auch im Aufbau des städtischen Kirchenwesens.3 Die vor der Reformation über einhundert Personen zählende Stralsunder Geistlichkeit wurde auf zehn bis zwölf Angehörige des geistlichen Ministeriums reduziert. Das alleinige Berufungs-, Einsetzungs-, und Entlassungsrecht behielt sich der Rat vor. 4 Nur durch die Einrichtung der regelmäßig stattfindenden Synoden, seit dem Jahre 1541 unter dem Vorsitz des ehemaligen Pastor primarius von Stralsund, Johann Knipstrow, und durch politischen Druck bestanden für das pommersche Herzogshaus

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Aus der einschlägigen Literatur seien genannt: Christopher Burchili: The Urban Reformation and its Fate. In: Historical Journal 27 (1984), S. 997-1010; Bernd Möller: Reichsstadt und Reformation. Berlin 1987; Steven Ozment: The Reformation in the Cities. New Haven, London 1980; Alfred Schultze: Stadtgemeinde und Reformation. Tübingen 1918. Vgl. Hellmuth Heyden: Die Kirchen Stralsunds und ihre Geschichte. Berlin 1961.; Johannes Schildhauer: Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. In: Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte. Bd. 2. Weimar 1959, S.194-209. Vgl. Norbert Buske, Hans-Günter Leder: Reform und Ordnung aus dem Wort. Berlin 1985. Vgl. Hellmuth Heyden: Die evangelischen Geistlichen des ehemaligen Regierungsbezirkes Stralsund. Greifswald 1964.

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Thomas Höth

noch Einflußmöglichkeiten auf das städtische Kirchenwesen. 5 Die grundsätzliche Unabhängigkeit dieser städtisch-kirchlichen Einrichtung wurde durch ein seit dem späten Mittelalter existierendes Privileg, das ius de non evocando, untermauert, welches das Verbot enthielt, Stralsunder Bürger durch ein Gericht außerhalb der Stadtmauern zu verurteilen. Aus diesem Grunde hatten die Schweriner Bischöfe, zu deren Diözese die Stadt gehörte, in vorreformatorischer Zeit einen Official eingesetzt, der bei Fällen, in denen das kanonische Recht in Anwendung kam, in Stralsund selbst die Urteile fällte. 6 Auf den Umstand, daß die Hansestadt dem Bistum Schwerin zugehörte, beriefen sich die Stralsunder wiederholt, um sich Verpflichtungen gegenüber dem Herzogshaus entziehen zu können. 7 In der städtischen Kirchenordnung von 1525 hatte man festschreiben lassen, daß ein Pastor primarius bzw. Superintendent dem Kirchenwesen vorstehen sollte. 8 Da jedoch der 1540 vom Rat aus Hamburg berufene Johann Freder wegen seiner Äußerungen gegen das kaiserliche Interim und sein Eintreten für ein Eingreifen der Stralsunder auf Seiten Magdeburgs 1549 entlassen worden war, blieb dieses Amt bis auf eine kurzzeitige Unterbrechung über 10 Jahre hinweg vakant. 9 Bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger fiel die Wahl des Stralsunder Rates auf den Pastor der Marienkirche in Greifswald und Professor der Theologie an der dortigen Universität Jakob Kruse. 10 Dieser, ein gebürtiger Rostocker, brachte die besten Voraussetzungen mit, um eine Harmonisierung der Beziehungen zwischen dem Herzog und Stralsund auf kirchlichem Gebiet voranzutreiben. Er war von 1556-1563 Hofprediger in Wolgast, führte von 1565-1566 das Rektorat an der Universität in Greifswald und übte zusätzlich am dortigen herzoglichen Konsistorium das Amt eines Accessors aus. Weiterhin hatte er sich 1569 in seinem Traktat De gradu et officio Superintendentum in piis ecclesiis den gnesiolutheranischen Vorstellungen des damaligen Generalsuperintendenten Jakob Runge, wie auch seiner Konzeption, welche die Disziplinierungsmöglichkeiten des Konsistoriums betraf, angeschlossen. Zugleich hatte er sich gegen die Sonderentwicklungen Stralsunds auf kirchlichem Gebiet ausgesprochen.

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Vgl. Jacob Heinrich Balthasar: Erste Sammlung Einiger zur Pommerschen Kirchen=Historie gehörigen Schriften. 2 Bde. Greifswald 1723. Stadtarchiv Stralsund (künftig: St. A. Str.) Handschrift (künftig: HS) 294. Balthasar, wie Anm.5, Bd. 1, S.45: »Senatus Sundensis D. Christiano Ketelhut, et Gregorius Cepelin abituris Stettinum Synodum, tradiderat Protestationem scriptam, cujus haec fuit summa; Sundensis esse Diocaesis Swerinensis, ideo se nolle obligarii iis, quae Camminensis statueret, mittere tarnen concionatores suos concordiae causa.« Vgl. Emil Sehling: Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. 5Bde. Leipzig 1902-13. Bd. 4. Leipzig 1911, S. 542-548. Balthasar, wie Anm. 5, Bd. 1, S. 57: »Qua occasione Senatus offensus eum ab officium removit, cum ecclesiae biennio praefuisset.« Vgl. Klaus Harms: Jacob Runge. Ulm 1961.

Entwicklungen im Kirchenwesen Stralsunds

147

Aufgrund dieser Umstände war es nur verständlich, daß Kruse nach erfolgter städtischer Vokation erklärte, er könne diese nur annehmen, wenn der Rat eine fürstliche Nomination vorzuweisen habe. 11 Um diese Nomination zu erhalten, war der Magistrat bereit, dem Generalsuperintendenten Jakob Runge das Examinations-, Ordinations- und das Visitationsrecht, »die Lehr/Ceremonien/Predigtampt/[...] gemeine Kirchengebrauch, auch Kirchen Disciplin und Ordnung [...]« zuzuerkennen. 12 Nachdem die Stralsunder Administration diese Zusagen eingegangen war, nahm Jacob Kruse am 18. April 1570 seine ordentliche Vocation zum Pastor primarius der Hansestadt Stralsund an und wurde im Mai des Jahres von Runge ordiniert. Als Zeichen ihrer guten Gemeinschaft empfingen Runge und Kruse gemeinsam in diesem Gottesdienst das Abendmahl. 13 Jacob Kruses Werdegang schien die Gewähr zu bieten, daß sich die Beziehungen zwischen Stralsund und Herzog Ernst Ludwig auf kirchlichem Gebiet erheblich verbessern würden. Aber bereits sechs Wochen nach seiner Amtseinführung kam es zum offenen Bruch. Der Anlaß der folgenden Auseinandersetzungen war, daß der oberste Prediger der Stadt von Runge beauftragt wurde, zwei Pastoren (wahrscheinlich Nikolaus Kuse und Fabian Kloke) im Namen des Generalsuperintendenten zu instituieren. Entgegen dem vorher zugesagten Institutionsrecht des Generalsuperintendenten gestattete der Rat diese Form der Amtseinführung nicht. Er veranlaßte, sie durch Kruse im Namen des Magistrats vorzunehmen. 14 Die Ordination, auf Druck der politischen Elite der Stadt geschehen, unterstrich zum wiederholten Male die autonome Stellung des Stralsunder Kirchenwesens, und so war es nur zu verständlich, daß die Auseinandersetzungen um dessen Integration in die pommersche Landeskirche erneut ausbrachen. Verschärft wurde die Situation durch eine erneute Institution Kruses (es handelt sich hierbei um den Prediger Andreas Sachse an St. Johannes) 15 sowie durch die vom Magistrat erfolgte Berufung des Pastor primarius zum Superintendenten der Stadt, welche eine rangmäßige Gleichstellung mit Runge dokumentieren sollte. 16 Gleichzeitig kam es zwischen dem Herzog und der Stadt zu Differenzen wegen der Durchsetzung der Zweiten Pommerschen Kirchenordnung, die eine weitere Straffung und Vereinheitlichung der Pommerschen Landeskirche zum Ziel hatte. Bereits im Jahre 1561 legte das damalige städtische Ministerium seinen Standpunkt zu dieser neuen Kirchenordnung dar. Die in diesem Zusammenhang auf der Synode übergebene Protestschrift enthielt folgende Äußerungen: 11 12

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St. A. Str. Repositur (Rep.) 28 Bd. 146. Daniel Cramer: Das Grosse Pomrische Kirchen Chronicon. 4 Bücher [in einem Band]. Alten Stettin 1628; hier 3. Buch, S. 180. Harms, wie Anm. 10, S. 117. Balthasar, wie Anm. 5, Bd. II, S. 437. Cramer, wie Anm. 12,3. Buch, S. 191. Balthasar, wie Anm. 5, Bd. II, S. 438.

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Thomas Höth

die Lehre erkenne man an, die Ceremonien seien in Stralsund andere, der Stadt stehe ein eigenes Kirchengericht zu, die Disziplinarbefugnisse der Synode und des Generalsuperintendenten seien nicht berechtigt, - der öffentliche Bann und die öffentliche Buße seien unüblich, - das Examen und die Ordination der Prediger müsse man in der Stadt durchführen, - der Superintendent der Stadt sei bereit, mit dem Generalsuperintendenten wegen der Kirchenordnung zu konferieren, - die Bereitschaft des Ministeriums, an den Synoden teilzunehmen, sei vorhanden, - der Stadtsuperintendent solle befugt sein, Prediger und Schulmeister einzusetzen und zu beurlauben. 17 Diese Konfliktzonen bildeten den Hintergrund des Streits, der namentlich zwischen dem Generalsuperintendenten Jakob Runge und dem Stadtsuperintendenten Johann Kruse ausgetragen wurden, in Wirklichkeit jedoch den Kampf um die Durchsetzung des Summepiscopats der pommerschen Herzöge oder den Erhalt verschiedener gemeindlich orientierter Kirchensysteme darstellte. Die folgenden Auseinandersetzungen verschoben sich, namentlich durch Kruse, von der politischen Sphäre in die theologische. Die Ansichten Kruses waren auf ein gemeindlich orientiertes ecclesiologisches System gerichtet und mit der fürstlichen Rolle des höchsten Bischofs nicht vereinbar. Sie erinnern vielmehr an die konzipierte Kirchenstruktur, welche 1535 in Hamburg von verschiedenen Predigern hansischer Städte abgestimmt worden war. So warf Kruse zum Beispiel die Frage auf: »Ob das recht und der Heil. Schrift gemäß sei, daß einer allein im Lande Episcopus seyn solle / und generalis seyn und heissen solle / welcher alles zu sich ziehe [...]«, und: »So man an einem Ort / es wäre wo es wolte / Leute haben koente / die da duechtig waeren Consistoria anzurichten / ob es denn recht sey / daß die Persohnen ueber 30. oder 40. Meilen zu einem einigen Consistorio verweiset sollen werden?« 18 Die Gleichzeitigkeit der Kritik Kruses am Aufbau der Pommerschen Landeskirche mit dem Auftreten abweichender ritueller Handlungen in den Stralsunder Kirchen (die Geistlichen schlugen kein Kreuz bei der Taufe und trugen keinen Ornat während der Predigt) legt die Vermutung nahe, daß die Kritik nicht nur auf kommunalen Autonomiebestrebungen basierte, sondern auch auf reformierten Vorstellungen über ecclesiologische Strukturen fußte, welche seit dem Beginn des evangelischen Kirchenwesens in der " Ebd., Bd. I, S. 200. 18 Ebd., Bd. II, S. 466.

Entwicklungen

im Kirchenwesen

Stralsunds

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Stadt, namentlich durch Karsten Ketelhut, den Repurgator ecclesiae Sundensis, nachweisbar waren. 19 Eine neue Qualität in den Auseinandersetzungen wurde im Jahre 1572 erreicht, als auf der Stettiner Synode der Beschluß gefaßt wurde, daß »[...] wegen des Puncts von der Ordination und Institution der Prediger/weil etliche Theologie in ihren Schriften lehreten/das sie adiaphora wären [ . . . ] eine ausführliche Apologie in einem Generali Synodo möge gestellet werden.« 20 Diese Bemühungen lassen erkennen, daß die Rechtslage nicht eindeutig geklärt war und eine Nachbesserung bzw. Klärung des Sachverhaltes auf der Synode für notwendig erachtet wurde. Trotz der sich anbahnenden tiefgreifenden Differenzen zogen sich die Stralsunder Prediger nicht aus der Arbeit in der Pommerschen Landeskirche zurück, obwohl Kruse bis 1577 stets »nur« als Pastor primarius unter den Anwesenden verzeichnet wurde. 21 Eine Verhärtung der Fronten trat erst mit dem Jahre 1578 ein, als kein Prediger der Hansestadt auf der Synode zu Greifswald erschien, obwohl Herzog Ernst Ludwig ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Stattdessen wurde eine Klageschrift eingereicht, in der man forderte, bei der Verhandlung der Stralsunder Position neben dem Generalsuperintendenten und dem Wolgaster Hofprediger noch fünf weitere Theologen von der Disputation auszuschließen, da diese »verdächtig« wären. 22 Zur Verteidigung der städtischen Position monierte Kruse, der auf fürstlichen Befehl ein Gutachten zur Braunschweiger Kirchenordnung verfaßt hatte, zusätzlich verschiedene Punkte der Zweiten Pommerschen Kirchenordnung. So kritisierte er die Abschnitte über den Generalsuperintendenten, den Gebrauch und die Durchführung des Patronats-, Vocations-, Ordinations- und des Institutionsrechtes sowie die Disziplinierungsbefugnisse der Synode und des Konsistoriums. Daraufhin kam man in der Synode überein, die Diskussion über das Gutachten Kruses und seine 738 Änderungsvorschläge zur Pommerschen Kirchenordnung auf die Generalsynode im Jahre 1579 zu vertagen, um den Stralsundern die Möglichkeit zu geben, sich verteidigen zu können. 23 Diese Möglichkeit wurde von Kruse, trotz eines herzoglichen Befehls, nicht genutzt. Stattdessen versicherte er sich der Unterstützung des Rates der Stadt und des Kollegiums der Hundertmänner, die Ernst Ludwig in einem Schreiben vom 19. März mitteilten, daß »[...] kein Bürger oder Einwohner allhie [ . . . ] vor einig Geistlich noch weltlich Recht [ . . . ] citiret edder Vorbescheiden werden solle [...]«. 2 4 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 332, und Cramer, wie Anm. 12, S. 85. Balthasar, wie Anm. 5, Bd. II, S. 442. Ebd., Bd. I, S. 345. Ebd., S. 372. Ebd., Bd. II, S. 396. St. A . Str. Rep. 28 Bd. 52.

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Thomas Höth

Wahrscheinlich aufgrund dieser massiven Unterstützung ordinierte Kruse im folgenden Jahr ohne Legitimierung von Jakob Runge sechs weitere Prediger, da ihre Vorgänger an einer in der Stadt grassierenden Pest gestorben waren. 25 Der Magistrat verteidigte seine erneute Amtseinsetzung gegen die Herzöge, indem er betonte, daß kein Fürst seit »mutata religione« präsentiert hätte und Stralsund ja die Prediger versorgen müsse. Eine zusätzliche Legitimierung erhielt der Rat der Stadt durch die Erteilung des kaiserlichen »ius de non arrestando« 26 am 12. Mai 1581 bei seinem stets propagierten Anspruch auf »omnimodum Jurisdictionem«, also auf vollständige Rechtsautonomie. 27 Einige Wochen später, am 21. Mai, reiste Kruse nun doch nach Wolgast, um mit den pommerschen Synodalen einen Ausgleich zu finden. Diese jedoch hatten aus den Disputationsakten 40 Artikel entnommen, die besonders zu verurteilen waren, weil sie nach Auffassung der Wolgaster das gesamte in der Zweiten Pommerschen Kirchenordnung konzipierte ecclesiologische System in Frage stellten. 28 So lautete zum Beispiel eine seiner Thesen: »Daß die Kirchenordnung und Kirchen Regiment in Pommern ein Unchristlich/Papistisch/Teuffelisch Kirchenregiment sey.«29 Da aber auch auf dieser Zusammenkunft, bei solch gegensätzlichen Auffassungen nur zu verständlich, keine Einigung erzielt werden konnte, berief man zur Klärung des Konflikts für den 4. Juli 1583 wiederum eine Generalsynode nach Stettin ein. Die Synode fand, wie vorauszusehen war, ohne Stralsunder Beteiligung statt. Kruse begründete in einem Brief sein Fernbleiben, indem er schrieb, Pommern habe mit der Kirchenordnung und der Agenda »[...] einen grossen Abfall vom rechten Glauben gethan. Darumb könne und wolle er sich nach derselben nicht richten lassen.«30 So kam es folgerichtig zu einer Verurteilung seiner Ansichten in Stettin, ohne daß er die Möglichkeit seiner Verteidigung wahrgenommen hätte. 31 Dieser Akt der Verurteilung mobilisierte den Stadtsuperintendenten derart, daß seine folgenden Schritte jeglichen politischen Realitätssinn vermissen ließen. In einem Brief vom 3. Juni 1584 beschwerte er sich bei allen damaligen pommerschen Herzögen (Bogislaw, Barnim, Ernst Ludwig und Casimir), über die Verurteilung und ermahnte gleichzeitig die Fürsten, bei der Augsburgischen Konfession zu bleiben, da »das Brodt im Sacrament sey 25

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27 28 29 30 31

Andreas Abraham Theodor Kruse: Geschichte der Stralsunder Stadtverfassung. Stralsund 1847, S. 47. Johann Karl Dähnert: Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes=Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Ordnungen. 4 Bde. Stralsund 1765-1769; hier Bd. 2.1767, S. 32-33. St. A. Str. Rep. 13 Nr. 2508. Cramer, wie Anm. 12,4. Buch, S. 15-17. Ebd., S. 15. Balthasar, wie Anm. 5, Bd. II, D. 565. Cramer, wie Anm. 12,4. Buch, S. 18.

Entwicklungen im Kirchenwesen Stralsunds

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ein figürlich Zeichen des gegenwärtigen Leibes Christi/und das es recht gesaget sey/daß in denen Worten der Einsetzung das Wort Leib soviel sey als des Leibes Zeichen/und das Wort so viel bedeute als des Blutes Zeichen.« 32 Diese Interpretation der Eucharistie stieß auf derart heftigen Widerstand, daß man erneut einen Konvent nach Wolgast einberief. An dieser Zusammenkunft nahmen erstmals auch wieder Stralsunder Prediger teil, namentlich Jonas Staude, Joachim lilies und Laurentius Wessel. Doch trotz ihrer Anwesenheit kam es zu einer Verurteilung des Standpunktes von Kruse. Dieser Schiedsspruch ermöglichte es den pommerschen Herzögen, zu handeln. Herzog Ernst Ludwig befahl dem Rat, den Superintendenten unverzüglich zu entlassen. Obwohl der Magistrat von Stralsund und das Kollegium der Hundertmänner in einem Brief 33 an den Fürsten gegen diese Entscheidung intervenierten, erfolgte am 13. April 1586 die Amtsenthebung. Daraufhin mußte Kruse die Stadt verlassen. 34 Die trotz seines Rückhalts beim Magistrat und in der Bürgerschaft erfolgte Absetzung des Superintendenten Jakob Kruse muß als signifikantes Merkmal dafür gewertet werden, daß sich der fürstliche Anspruch auf den Summepiscopat in der nach Reichsfreiheit strebenden Hansestadt Stralsund durchgesetzt hatte. Wurde die förmliche Anerkennung dieser Beziehungen auch erst in den pacta conventa 1612 verbindlich fixiert, so kann doch die exemplarische Wirkung der Absetzung in diesem Zusammenhang kaum unterschätzt werden. 35 Es hatte sich eindeutig gezeigt, daß kirchliche SonderentWicklungen, wie zum Beispiel ein hansisch orientiertes Kirchenwesen, nicht realisiert werden konnten. Damit war eine der letzten Hürden gefallen, die einer einheitlichen Entwicklung der Pommerschen Landeskirche noch entgegenstanden.

32 33 34 35

Ebd., S. 25 und Balthasar, wie Anm. 5, Bd. II, S. 565. St. A.Str.Rep.28Nr.7. Balthasar, wie Anm. 5, Bd. II, S. 567. Dähnert, wie Anm. 26,2. Bd., S. 41-49.

Stefan Rhein

Johannes Cogelerus, Verbi Divini Minister Stettini (1525-1605) - Zu Leben und Werk eines pommerschen Theologen

Für Hanno Lietz

Wer in den Bibliographien zum Druckschaffen des 16. Jahrhunderts die Liste der Werke des Johannes Cogelerus oder Johannes Kögeler einsieht, könnte sich von der Quantität überrascht zeigen - VD 16 notiert 22 Titel, und der Index Aureliensis kennt sogar 50 Titel. 1 Überraschung stellt sich indessen gewiß ein, wenn weitergehende Recherchen in der einschlägigen Forschungsliteratur nach einem festen biographischen Standpunkt suchen; denn der fleißige Diener von Gottes Wort erscheint - wenn überhaupt nur als Marginalie in der pommerschen Kirchengeschichte. Der vorliegende Versuch wird - entgegen seiner ursprünglichen Intention einer Detailuntersuchung - den Rahmen weiter spannen und sich dem Leben und CEuvre dieses pommerschen Theologen in seiner Gesamtheit nähern müssen. 2 *

Nur zwei Lexikonartikel lassen sich über Cogeler auffinden; sie sind in ihrer Unbestimmtheit allerdings weniger Informationsbeiträge als viel1

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VD 16 (= Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts). Bd. 10, Stuttgart 1987, Κ 1689-1710; Index Aureliensis. Bd. 1/9, Baden-Baden 1991, S. 232-239. Cogelers Schriften wurden katholischerseits indiziert, vgl. J.C. Dähnert: Pommersche Bibliothek. Bd. 2. Greifswald 1753, St. 4, S. 138. Das Werkverzeichnis im Index Aureliensis ist keineswegs vollständig, vgl. unten Anm. 48 und 59. Eine katechetische Schrift, die ebenfalls nicht genannt wird, liegt ediert vor: Die Sprüche Salomons, für den Gebrauch an der Stettiner Schule verfaßt, sind nach einem ohne Orts- und Zeitangabe überlieferten Druck publiziert von Johann Michael Reu: Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen Kirche Deutschlands zwischen 1530 und 1600. Bd.I/3,la. Gütersloh 1927 (Nachdruck Hildesheim 1976), S. 339*-349*. Für freundliche Unterstützung danke ich Dr. Ursula v.d. Gönne-Stübing, Prof. Dr. Hans-Günter Leder, Thomas Höth (alle Greifswald) und Erika Schulz (Wittenberg). Im folgenden werden diese Siglen verwendet: CR: Corpus Reformatorum. Philippi Melanthonis opera quae supersunt omnia. Bd. 1-28. Hg. von Karl Gottlieb Bretschneider/Heinrich Ernst Bindseil. Halle 1834-1860. MBW: Melanchthons Briefwechsel. Regesten. Hg. von Heinz Scheible. Stuttgart 1977ff.

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Stefan Rhein

mehr Dokumente nur mühselig kaschierten Nichtwissens: Im Historischen Lexikon evangelischer Jubel-Priester aus dem Jahr 1746 vermerkt Johann Matthias Groß: »Cogeler, Johannes, Superintendens und 50.jähriger Pastor zu St. Jacob in Stettin, gieng Ann. 1607 mit Tode ab, da ihm M. Lucas Tabbert succedirte.« Auch Jöchers Gelehrtenlexikon wenige Jahre später (1750) bleibt mehr als vage: »Cogler, oder Cogeler, (Jo.), ein Pastor Primarius und Superintendent zu Stettin, von Quedlinburg, in der letzten Helffte des 16 Seculi« und zählt einige Werktitel auf. Groß geht in seinem Eintrag übrigens wörtlich auf die Chronik des Johannes Micraelius zurück, die unter dem Titel Altes Pommer Land erstmals 1639 erschien und einen weiten Bogen von der seit der Antike bezeugten Bevölkerung bis zur unmittelbaren Gegenwart (das Jahr 1637) schlägt. In Buch 4 wird zum Jahr 1607 vermerkt: »Bey angehendem mdcvij. Jahre, als nach Absterben Doctoris Johannis Cogeleri, weyland Superindententen und funftzigjährigen Pastoren zu St. Jacob in Stettin, M. Lucas Tabbert Pastor von St. Niclaus zum Pastorat nach S. Jacob [ . . . ] gefordert ward [.. .].«3 Weitaus umfassendere biographische Notizen hätten die genannten Autoren vorweisen können, wenn sie die erste Pommersche Kirchengeschichte konsultiert hätten. Der Verfasser, Daniel Cramer, Professor am Stettiner Pädagogium, Hofprediger und Generalsuperintendent, ließ dieses breit angelegte, chronikalisch aufgebaute Werk 1603 unter dem Titel Pommerische Kirchen Chronica und in zweiter Auflage 1628 unter dem leicht veränderten Titel Großes Pommerisches Kirchen Chronicon erscheinen. 4 Diese zweite Auflage bietet zum Jahr 1605 aus Anlaß der Todesmeldung einen kurzen Rückblick auf das Leben Cogelers: Noch in diesem Jahr 1605. den 25. Decembr. stirbt der Alte Herr Superintendens und Pastor zu S. Jacob in Alten Stettin, Johannes Cögler der heiligen Schrifft Doctor, war A. C.1525. zu Quedlenburg geboren, A. C.1545. kümpt er gen Wittenberg, da er noch ein gantz Jahr Lutherum gehöret. Im Jahr 1546. nach Lutheri Todt, zeucht er nach Rostock, allda er Drey gantzer Jahr verharret. A . C . 1549. zeucht er anderweits gen Wittenberg, promoviret in Magistrum A . C.1550. In Doctorem aber Anno 1558. wird A.C.1572 Superintendens generalis des Fürstenthumbs Pomren Stettinischen Orts. Unangesehen aber er ein Stein Alter Mann von 80. Jahren worden, hat er dennoch sein Predigamt zimlich verrichten können, daß er ob er wol nicht viel Frewde von etlichen seiner Kinder belebt, auch sonsten mit vielerley Arbeit beschweret, und Lebens satt geworden, dennoch bey richtigem Verstandt biß an sein letztes. Ende behalten, also auch daß ihm die Augen niemahln tunckel worden, daß er der Augengläser auff der Cantzel oder sonsten gebrauchen dörffen. Ligt zu S. Jacob begraben, da auch sein 3

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Johannes Micraelius: Erstes Teil der letzten Pommerschen Jahr=Geschichten [ . . . ] und also das vierdte Buch vom Pommer Lande. Stettin: Georg Rheten 1639, S. 12 [Ex.: H A B Wolfenbüttel GM 3679], Zu Cogeler vgl. außerdem Buch 3, Teil 2, S. 611 und S. 614. Daniel Cramer: Das Grosse Pommerische Kirchen Chronicon [ . . . ] . Stettin 1628 [Ex.: H A B Wolfenbüttel T870.2" Heimst.]. Zu Daniel Cramer vgl. etwa Hellmuth Heyden: Pommersche Geistliche vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Köln 1965, S. 173-179, und Sabine Mödersheim in diesem Band.

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eigentliches Contrafey bey der Cantzel, zur Gedechtnuß sampt etlichen Decachronostichis auffgestellet worden.5

Cramers Würdigung, auf der die einschlägige Darstellung der evangelischen Geistlichen Pommerns mit nur geringen Ergänzungen basiert 6 , soll im folgenden erste Anhaltspunkte zur Rekonstruktion der Biographie Cogelers liefern. Ausgeblendet mag das offensichtlich exzellente Augenlicht des »Alten Herrn« bleiben, und auch zu den familiären Streitigkeiten werde ich nichts Neues beitragen können. Über die bloße Angabe des Geburtsdatums hinaus - 1525 - sind keine weiteren Informationen, etwa zu den Eltern, bekannt. 7 Der Geburtsort Quedlinburg erscheint als Cognomen »Quedelburgensis« auf Titelblättern oder auch bei dem Rostocker Immatrikulationseintrag: »Johannes Kogeler Quedelburgensis«. Dieser Eintrag datiert vom 24.12. 1547;8 Cogelers Rostocker Studium begann also nicht schon 1546, wie Cramer und seine Nachschreiber behaupten, sondern erst im Wintersemester 1547. Der damals 22jährige hatte allerdings - wie üblich - schon Jahre zuvor seine Studien aufgenommen. Wittenberg war laut Cramer seine erste universitäre Station; in der Wittenberger Matrikel taucht Cogelers Name indessen nicht auf. Cramer nennt das Jahr 1545 und das Studium bei Luther, und es ist auffällig, daß Cogeler eben davon in seiner Leichenrede auf Christoph Stymmelius eigens berichtet: »Ich habe selbst gehöret von D. Luthero, Anno 1545. da er die Epistel S. Pauli erkläret, Rom.3.« 9 So ist ein Wittenberger Studium Cogelers vor 1547 unzweifelhaft, nur nicht der Inscriptionstermin zu bestimmen. 10 Die Rostocker Matrikel führt Cogeler ein zweites Mal auf: Zum Jahr 1550 wird vermerkt, daß am 23. Juni Magister Johannes Cogeler aus Quedlinburg aufgenommen wurde, der in Wittenberg promoviert wurde. 11 In den entsprechenden Aufzeichnungen der Wittenberger Artistenfakultät ist tatsächlich Cogelers Promotionsakt zum Magister notiert, und zwar unter dem Datum 11. Februar 1550.12 Cogelers Studienzeit 5 6

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D. Cramer, wie Anm. 4, Buch 4, S. 144. Hans Moderow/Ernst Müller: Die evangelischen Geistlichen Pommerns von der Reformation bis zur Gegenwart. Teil 2. Stettin 1912, S. 562. Dies ergab eine Anfrage beim Stadtarchiv Quedlinburg. Die Matrikel der Universität Rostock. Hg. von Adolph Hofmeister. Bd. 2. Rostock 1891, S. 114a. J. Cogeler, wie Anm. 38, fol. Flv. Die theologische Vorlesung bei Luther bedeutet nicht, daß Cogeler 1545 schon sein Artistenstudium abgeschlossen hatte, da er sich in Rostock ohne Magistertitel einschrieb und diesen erst fünf Jahre später, am 11.2.1550, erhielt. Die Matrikel der Universität Rostock, wie Anm. 8, S. 119: »Eodem anno [= 1550] vigesimo tercio Iunii receptus est Mgr. Iohannes Kogeler Qwedelborgensis Wittenbergae promotus« (späterer Zusatz: »nunc doctor theologiae Witebergae promotus et superintendens Stetinensis et Pomeraniae ulterioris«). Julius Köstlin: Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger philosophischen Fakultät (1548-1560), Halle 1891, S. 10 (»Johannes Kegler Quedelbergensis«),

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in der Artistenfakultät läßt sich demnach in folgende Etappen aufteilen: Studium in Wittenberg zumindest 1545 bis 1547, Immatrikulation in Rostock 24.12.1547, Magisterpromotion in Wittenberg 11.2.1550 und Rückkehr nach Rostock 23.6.1550. In die Geschichte Pommerns13 tritt Cogeler erstmals 1551, als er - so schon Cramer14 - nach Stettin kommt und in Nachfolge des Peter Artopaeus für 3 Jahre Rektor der Stadtschule wird. Von einem seiner damaligen Schüler haben wir durch das Wittenberger Ordiniertenbuch zufällige Kunde: Ein Magister Paulus Elardus stellt sich darin als in Stettin gebürtig vor; er habe dort auch die Schule besucht und u. a. den hochgelehrten Johannes Cogeler zum Lehrer gehabt.15 Cogeler verläßt 1554 Stettin und geht wieder nach Wittenberg zurück, um drei Jahre hier zu bleiben. 16 In diesem Jahr 1554 - und nicht schon 154517 oder 155018 - tritt der Schriftsteller Cogeler an die Öffentlichkeit mit der Publikation einer Predigt: Die erste Predigt von dem Spruch unsers lieben Herrn Jhesu Christi: Seid on Falsch wie die Tauben (Wittenberg: Peter Seitz Erben 1554). In Wittenberg widmete er sich wohl insbesondere theologischen Studien, bis er am 22. Juli 1557 nach Stettin berufen wurde, um als >Kirchendiener< also als 2. Pastor, an der St. JacobiKirche tätig zu sein. Paul von Rhoda, damals Superintendent in Stettin, war wie Cogeler aus Quedlinburg und hat den Landsmann gewiß protegiert. Eine handschriftlich überlieferte zeitgenössische Abfolge der Stettiner Pa13

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Eine profunde Skizze der Reformationsgeschichte Pommerns bietet Roderich Schmidt: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650. Bd. 2 (Der Nordosten). Hg. von Anton Schindling/Walter Ziegler. Münster (2. Aufl.) 1990, S. 183-205. D. Cramer, wie Anm. 4, Buch 3, S. 121: »Anno 1551. kompt Johannes Cögelerns zu der Zeit Magister erstlich gen Stettin und war an der Stadtschulen daselbst Rector, succedirte M. Artopaeo: In welchem Dienst er auch 3. Jahr verharrete.« Wittenberger Ordiniertenbuch. Hg. von Georg Buchwald. Bd. 2. Leipzig 1895, S.34 (Nr. 417), 30.7.1564. Zu Cogelers Schulrektorat - mit dem Abdruck eines Schreibens an den Magistrat über den schlechten Zustand der Schule - Fr. Koch: Geschichte des Lyzeums zu Stettin. 1. Programm 1804. [Stettin 1804], S. 44f. Vgl. D. Cramer, wie Anm. 4, Buch 3, S. 131: »Noch in dem Jahr [=1554] zeucht Johannes Cöglerns, zu der Zeit Magister und Schulmeister der Stadtschulen zu Stettin, welcher er Drey Jahr für gestanden hatte, gen Wittenberg, da er dann Drey Jahr lang bleibet, und von dannen Anno 1557. Wiederumb gen Stettin zum Predigampt an S. Jacobs Kirchen abgefordert wird, und wird nach seinem Abzug auß den Schuldienst Joachimus Grünenberg (welcher hernach im Städtlein Tham lange Zeit Pastor war) Rector an gemelter Schulen zu Stettin.« Josef Deutsch: Die Bibliothek Herzog Philipps I. von Pommern. In: Pommersche Jahrbücher 26 (1931), S. 1-45, S.28 Anm. 102, weiß von einer 1545 gedruckten Predigt; sie ist eindeutig auf 1554 zu datieren (für briefliche Auskunft danke ich Dr. Christine Petrick [UB Greifswald]). So Index Aureliensis, wie Anm. 1, S.232, und VD 16, wie Anm. 1, Κ 1692, wo fälschlicherweise eine Ausgabe der »Imagines elegantissimae« auf 1550 datiert wird; das dort angeführte Wolfenbütteler Exemplar ist von 1560, auch das Lüneburger Exemplar ist von 1560 (briefliche Mitteilung von Herrn Hopf, Ratsbücherei der Stadt Lüneburg).

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stören gibt dafür die Beweise: Hier ist nicht nur das Fest Maria Magdalena, also der 22. Juli 1557, als Berufungstag bezeugt 19 , sondern auch von dem besonderen Vertrauensverhältnis Cogelers zu Paul von Rhoda die Rede: Es hatt auch M. Paulus bey seinen lebenzeiten in seinem löblichen Alter zu einem getreuen Successoren seinen lieben landtsman M. Johannem Coglerum, domals Rectorem der Stadtschulen, oftmals an seiner statt sein Ambt auf der Cantzel zu verwalten substituiret, wie er dan auch folgends Anno 57 von Ε. E. Radte und Diaconis ordentlich vociret. 20

Dieser Abschnitt informiert über eine ansonsten nicht bekannte Predigttätigkeit Cogelers in der Zeit seines Rektorats, also in den Jahren 1551 bis 1554, so daß die oben erwähnte 1554 in Wittenberg publizierte Predigt über Matth. 10,16 einen Stettiner Hintergrund erhält. Das sich anschließende Theologiestudium in Wittenberg (1554-1557) diente der fachwissenschaftlichen Fundierung der beruflichen Neuorientierung vom Lehr- zum Pfarramt. 21 In der genannten Handschrift ist überdies von Cogelers Promotion in Wittenberg und der nachfolgenden Bestätigung seines Stettiner Kirchenamtes die Rede. Cogelers theologische Promotion erfolgte im Wintersemester 1559 (nicht 1558!) an der Leucorea; die öffentliche Verteidigung von insges. 69 Thesen, gemeinsam durchgeführt von Paul Eber, Erasmus Laetus, Johannes Cogeler und Paulus Crellius, fand am 28. November 1559 statt, wie es der erhaltene Thesendruck auf dem Titelblatt aufweist. 22 Das Dekanatsbuch der Wittenberger theologischen Fakultät berichtet von der Promotion - ein übrigens nicht allzu häufiges Ereignis, da die letzte Verleihung des theologischen Doktorhuts drei Jahre zurücklag: Cogeler war aus Stettin mit der Bitte um die Promotion nach Wittenberg gekommen; auf Melanchthons Drängen schlossen sich Paul Eber, außerdem Paul Crell und der Däne Rasmus Glad dem Verfahren an. 23 Melanchthon verfaßte 69 Thesen, von denen Cogeler These 44 bis 56 zu verteidigen hatte. Am 7. Dezember 1559 erfolgte auf Einladung des Dekans Georg Major der festliche und öffentli19

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[Alfred] Uckeley: Die Reihenfolge der Geistlichen an Nikolai und Jakobi zu Stettin im Reformationsjahrhundert. In: Monatsblätter. Hg. von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde 1908, S. 1-6, S. 5. Uckeley, wie Anm. 19, S. 4. Viele protestantische Pfarrer kamen über den Schuldienst in das Pfarramt, vgl. Elke Axmacher: Praxis Evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller (1547-1606). Göttingen 1989, S. 30 Anm. 28. De his propositionibus [ . . . ] respondebunt [ . . . ] Eberus [ . . . ] , Laetus [ . . . ] , M. Iohannes Cogelerus Quedlinburgensis, [ . . . ] Crellius, Die vicesimo octavo Novembris, Wittenberg 1559 [Ex.: HAB Wolfenbüttel Alv. Ac 404 (4)]; Abdruck in CR 12, 645-657. Zum Datum vgl. auch D. Cramer, wie Anm. 4, Buch 3, S. 149: »Daß aber unter diesen obberührten Personen Herr Johannes Cögelerns nicht ist, war die Ursach, daß er gen Wittenberg verreiset war und in diesem Jahr [= 1559] Doctor theologiae ward.« Karl E. Förstemann: Liber Decanorum Facultatis Theologicae Academiae Vitebergensis. Leipzig 1838, p. 48.

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che Promotionsakt, der in einer ausführlichen Schrift gesondert dokumentiert ist. 2 4 N a c h 1560 blieb Cogeler bis zu s e i n e m Tod 1605 nunmehr als D o k t o r der T h e o l o g i e und fest bestallter Pastor an der St. Jacobs-Kirche - dies seit Michaelis [ = 2 9 . 9 . ] 1560 2 5 - Stettin treu. A n der Jakobi-Kirche war Cogeler also zunächst 2. Pastor (1557-1560) und damit G e h i l f e des ersten evangelischen Predigers in Stettin Paul v o n R h o d a , der 1557 schon 68 Jahre alt war; 2 6 1560 wurde er ordentlich bestallter Pastor, seit d e m T o d seines Mentors am 12.1. 1563 allein mit d e m Pastorat betraut; 2 7 1572 erhielt er die Ernennung zum Generalsuperintendenten, ein A m t , das er bis 1595 verwaltete. 2 8 D i e Generalsuperintendentur bringt Cogeler bei verschiedenen Amtsgeschäften in die einschlägigen A k t e n : w e n n er Pastoren examiniert, 2 9 Visitationen durchführt, 3 0 Streit in den Pfarreien zu schlichten sucht 3 1 oder an Synoden teilnimmt, aber auch bei Eingaben pro d o m o , w e n n er 1573 zu Beginn seiner A m t s z e i t den H e r z o g um höhere B e s o l d u n g bittet. 3 2 24

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Vgl. Johannes Haussleiter: Aus der Schule Melanchthons. Theologische Disputationen und Promotionen zu Wittenberg in den Jahren 1546-1560. Greifswald 1897, S. 138-149. Titelaufnahme bei Horst Koehn: Philipp Melanchthons Reden. Verzeichnis der im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke. Frankfurt/Main 1985, S. 1389 Nr. 219; mir lag das Exemplar des Wittenberger Predigerseminars vor: LC 845/18. Bei diesem Akt mußte Cogeler die Frage beantworten, ob die Stimme derer in der Kirche zu ertragen sei, die die Behauptung für wahr halten: Der neue Gehorsam ist nicht notwendig, da Paulus sagt: Solches sage ich nicht aus Gebot (1 Kor. 7, 6); Cogelers Antwort ist anzusiedeln auf dem Hintergrund des majoristischen Streits um die Rechtfertigungslehre, d.h. um den Anteil der bona opera an der >Seligkeit< (CR 10,885f.). »[...] und alß er von Wittenberg wiederkommen und in doctorem promoviret anno 1560 auf Michaelis seine Vocation und bestellung anderweitt renoviret und bestettiget«, vgl. Uckeley, wie Anm. 19, S. 5. Kurzbiographie des am 4.1. 1489 in Quedlinburg geborenen Reformators Paul von Rhoda (Paul vom Rode) in Robert Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersloh 1984, S. 179f. Ohne übrigens das Haus seines Vorgängers, das ehemalige Prioratshaus auf dem Jakobikirchhof, beziehen zu können, da es vom Herzog beansprucht wurde; zu den Verhandlungen, auch zu Cogelers Stellungnahmen, vgl. Ferdinand Bahlow: Das Prioratshaus bei St. Jacobi in Stettin. In: Monatsblätter. Hg. von Gesellschaft fUr Pommersche Geschichte und Altertumskunde 1907, S. 17-25, S. 40^13, S. 50-55. Das Jahr 1572 wird seit Daniel Cramer genannt und auch in der einschlägigen Zusammenstellung von Vanselow übernommen, vgl. A. C. Vanselow: Zuverläßige Nachrichten von denen Generalsuperintendenten, Präpositen und Pastoren [...]. Stargard 1765, S. 45. Zu den ersten urkundlich niedergelegten Beschlüssen mit der Unterschrift des Superintendenten Cogeler gehört ein Konsistorialbeschluß vom 7.5.1573, vgl. Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bd. 4. Hg. von Emil Sehling. Leipzig 1911, S.530f. Z.B. Johann Tidebühl, vgl. Heyden, wie Anm. 4, S. 139; Ordinationszeugnis für Jacob Mathaei 1591, vgl. Sehling, wie Anm. 28, S. 173. Visitationsabschied für Stolp 7.8. 1590, vgl. Sehling, wie Anm. 28, S. 540; Klage über mangelnde Kirchenordnung adliger Herrschaften in Visitationsberichten 1583, 1584, 1585, vgl. ibid., S. 315. Hellmuth Heyden: Kirchengeschichte Pommerns. Bd. 2. Köln (2. Aufl.) 1957, S. 45. Heyden, wie Anm. 31, Bd. 2, S. 37.

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Abschließend eine zusammenfassende Aufstellung wichtiger biographischer Daten Cogelers: 1525 (vor) 1545-1547 24.12.1547 11.2. 1550 23.6.1550 1551-1554 ab 1554 1554 22.7.1557 28.11.1559 7.12.1559 29.9.1560 1572-1595 25.12.1605

geb. in Quedlinburg Studium in Wittenberg imm. in Rostock Mag. in Wittenberg imm. in Rostock Rektor der Stadtschule in Stettin, gelegentliche Predigttätigkeit (in Vertretung von Paul von Rhoda) Theologiestudium in Wittenberg Erste Publikation (Predigt über Matth. 10,16) 2. Pastor an der St. Jacobi-Kirche in Stettin Promotionsprüfung in Wittenberg Dr.theol. Pastor an der St. Jacobi-Kirche Generalsuperintendent Hinterpommerns gest., begraben in der St. Jacobi-Kirche

Cogelers reichhaltiges theologisches Schrifttum ist ganz von seiner Praxis als Verkünder des Evangeliums bestimmt. So legitimiert er etwa eine kurze Schrift, in der er vermeintliche Entgegnungen gegen den Text des 2. PetrusBriefes widerlegt, mit dem selbstbewußten Hinweis: »Quia vero Deus me in hanc stationem collocavit, ut disseminem verbum incorruptum Dei [.. .]«.33 Die pragmatische Intention eines solchen - zunächst akademisch-scholastisch anmutenden - Dreischritts von These, Antithese, Auflösung, also von Petrus-Text, obiectio und solutio wird ebenfalls in der Praefatio deutlich angesprochen: Die Argumentationsfähigkeit gegen die Feinde des Evangeliums soll erhöht und die Intensität der Bibellektüre soll vertieft werden. Die Problemstellungen scheinen bisweilen von der Predigtpraxis weit entfernt zu sein - etwa die Frage, ob Christus, da er von Gottvater Ruhm und Ehre empfangen habe, doch nicht wesensgleich mit Gott sei; er muß ja einmal ohne Ehre gewesen sein (Nr. XI) - , so wird gleichwohl der aktuellpolemische Kontext, auf den sich der evangelische Prediger rhetorischdialektisch vorzubereiten hatte, nicht verschwiegen: die ausdrücklich genannten Feinde des Evangeliums kommen aus den Lagern der Papisten (etwa Nr. 13, cap. 2: Nr. 1, Nr. 2, Nr. 23, cap. 3: Nr. 6) und insbesondere der Wiedertäufer (Nr. XV, Nr. XXVIIII [hier außerdem Schwenkfeld], cap. 2: Nr. XI, Nr. XXIII). Eine ähnliche Textstruktur besitzt ein etwa 8 Jahre später publiziertes Werk Cogelers, das wiederum in einer dialogisch-argumentativen Form biblische Inhalte aufbereitet. Es handelt sich um ausführliche Darlegungen 33

Johannes Cogeler: Obiectiones aliquot in Epistolam secundam S. Petri Apostoli [ . . . ] . Wittenberg 1563, fol. A2v [Ex.: HAB Wolfenbüttel Ρ1355 Heimst. 8° (11)].

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zu Sonntagsepisteln, deren Text in Frage und Antwort aufgeschlüsselt wird. 34 Die Erläuterungen sind in kurze Kapitel aufgeteilt; der dialogische und übersichtliche Aufbau soll offenkundig den Eindruck eines langatmigen Fachtraktats erst überhaupt nicht aufkommen lassen. Die Adressatengruppe ist wiederum der aktive Prediger und wird auf dem Titelblatt sogleich angesprochen: »iis, qui textus Dominieales pro concione publica tractant, apprime utilis, vel potius necessaria«. In der Praefatio zu dieser über 470 Seiten starken Schrift versucht Cogeler einige zentrale Punkte seiner exegetischen Bemühungen herauszustreichen: die Konzentration auf die sprachliche Gestalt des Wortes, auf die rhetorische Stilisierung des Textes (»illustria lumina orationis« fol. 5v); das Festhalten an einem weitgefaßten Bildungsbegriff (»studia bonarum artium et cognitionem linguarum« fol. lOv), der sich bei Cogeler ζ. Β. in eingehenden Referenzen auf die Kirchenväterliteratur widerspiegelt; das dialektische Handwerk (»usum Dialectica« fol. lOv), das sich u.a. in einer der Lokalmethode verpflichteten Strukturierung des zu verstehenden Textes niederschlägt (»valde prodest, annotatos habere titulos locorum communium, certo ordine distributos« fol. 5v). Die ursprünglichen Bedeutungen des Wortes, die »nativae significationes vocum« (fol.4v), liegen ihm offensichtlich besonders am Herzen, und gegen den Vorwurf, mit seiner Sorgfalt hierbei kindisch zu wirken, verteidigt er sich mit einer ungewöhnlichen Formulierung: »Ecclesiam nihil aliud esse, quam Grammaticam sermonis Divini« (fol.4v). Cogeler greift hiermit wörtlich eine Aussage Melanchthons auf, die dieser in seinem 1550 erschienenen Vorwort zur Erklärung des Nicänischen Glaubensbekenntnisses niederschrieb: »Nec gignit Ecclesia novam doctrinam, sed velut Grammatica est sermonis divini; docet teneram aetatem, quid vocabula significent, et distribuit et numerat utcunque membra doctrinae.« 35 Das Insistieren eines Melanchthons auf notwendige Kenntnisse der Theologen in Grammatik, Rhetorik und Dialektik findet bei Cogeler eine konsequente Nachfolge. Die Praefatio zu der Erklärung der Sonntagsepisteln ist von dem leidenschaftlichen »Textorganisator« Cogeler ebenfalls übersichtlich aufgegliedert: 19 Regeln zum Verständnis der biblischen Briefe (v.a. des Paulus) (fol. 2v-9v) werden von 6 Begründungen des eigenen Unternehmens flankiert (fol. 10 r/v). »Textorganisator« soll im übrigen nicht nur ein vielleicht allzu saloppes Urteil über die sorgfältigen Aufbauschemata Cogelers ausdrücken; »Textorganisation« kennzeichnet vielmehr seine Darstellungsweise, die programmatisch keine Innovation präsentieren, sondern Bewährtes übersichtlich, auf den Prediger als Adressaten hin gesprochen: mundgerecht aufbereiten will. So beginnen etwa die Begründungen zur Publikation 34

Johannes Cogeler: Explicatio obiectionum quae in epistolis dominicalibus occurrere possunt [ . . . ] , Frankfurt/Main: Nicolaus Bassus 1571 [Ex.: HAB Wolfenbüttel YC 27 Helmst8°]. 35 CR 7,576; MBW 5778.

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des Buches über die Sonntagsepisteln mit dem Bekenntnis, in den Spuren der einschlägigen Kommentare Luthers und Georg Majors zu treten (fol. 9v). Cogeler bittet den Leser gleichsam um Entschuldigung für seine Unzulänglichkeiten (»agnosco imbecillitatem«), gesteht seine Schwäche in Dialektik ein (»ego ingenue fateor meam fragilitatem«) und rechtfertigt das eigene Buchprojekt mit blassen Verweisen wie »jeder sollte nach Kräften Gott preisen«. Sein Verhältnis zu den Vorläufern wird von Cogeler eindeutig bestimmt und ist schon auf dem Titelblatt mit einer Art Treuebekenntnis sichtbar >eingerücktunserer Lehren (»nostrorum Praeceptorum«); ihre autoritativen Aussagen sind deshalb auch zahlreich eingestreut, und wenn diese, so Cogeler weiter, nicht immer klar zu verstehen sind, dann >habe ich sie auf die einfachste Art und Weise erklärt< (»explicavi simplicissime«): Cogeler sieht seine Aufgabe darin, die Lehre der reformatorischen Vätergeneration zu popularisieren und sie zu katechetisch-didaktischer Gebrauchsliteratur umzuformulieren. 36 Cogeler gewinnt im übrigen bei seiner Selbstrechtfertigung fast schon pedantische Züge: Praktikabilität, Aufbau und Ordnung, Popularisierung dienen bis in die Typographie hinein als Legitimationsmuster; Begründung Nr. 6 beklagt die Rechtschreibdefizite der Studenten und die vielen Druckfehler und verspricht auch in dieser Richtung reichen Nutzen aus dem vorliegenden Buch (fol. lOv). Zu guter Letzt demonstriert der fleißige Autor die geforderten »bonae artes« an - vielleicht unwesentlich erscheinender - Stelle, nämlich bei der Formulierung des Widmungsbriefdatums, des 24. April 1570: Der Tag wird sechsmal codiert - durch Rekurs auf die Karthager, auf die Eroberung Trojas, auf die Vision Daniels, auf den Tod Kaiser Albrechts (tl308, beerdigt in Speyer), auf die Niederlage des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen bei Mühlberg (1547) und auf die stadtrömische Sage des Pasquillo (fol. llv/12v). Biblische Texte durch testimonia, objectiones und solutiones zu erklären, war für Cogeler offensichtlich eine ihm gemäße Darstellungsform, da er in einem kurzen Vorwort zu seiner Erklärung der Sonntagsepisteln dem Leser in Aussicht stellt, die gesamte Bibel in dieser Weise zu diskutieren (fol. 13r). Doch außer den Sonntagsepisteln, dem 2. Petrus-Brief und dem Galaterbrief hat er sich als Hermeneut keiner weiteren Bibeltexte zusammenhängend angenommen. 37 36

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Cogeler verteidigt diese reformatorische Lehre gegen aktuelle Angriffe aus den Lagern Schwenkfelds und der Wiedertäufer. In dem genannten Wolfenbütteler Exemplar (wie Anm. 34), hat ein zeitgenössischer Leser unter seinen wenigen Lemmata (auf der Innenseite des vorderen Einbanddeckels) »Anabaptistae«, »Müntzerus« und »Stenckefeldius« aufgenommen, hat Cogelers Schrift also in dieser polemischen Ausrichtung gelesen. Die Galater-Erklärung (Aliquot objectiones in epistolam Pauli ad Galatas, ac breves solutiones. Deinde etiam aliquot propositiones de invocatione Sanctorum [ . . . ] a D.

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Werke aus der Praxis, nicht für die Praxis, nämlich Predigten, bilden e i n e n zweiten Textkomplex des T h e o l o g e n Cogelers. D i e s e Predigttexte h a b e n ihre Drucklegung vor allem als Leichenpredigten erlebt. D e r Superintendent Cogeler hatte beispielsweise Stettiner Pastorenkollegen das letzte Geleit zu g e b e n . Z u den bekannteren Persönlichkeiten gehört etwa Christoph Stymmelius (geb. 2 2 . 1 0 . 1525), der a m 19. Februar 1588 verstarb; seine B e d e u t u n g für die p o m m e r s c h e Literaturgeschichte beruht auf Schuldramen, die auch Cogeler zu Beginn d e s biographischen Abschnitts gebührend herausstreicht. 3 8 A m 22. Februar hielt Cogeler d e m D o k t o r der T h e o l o g i e , Pastor in St. Marien und Professor im Fürstlichen Pädagogium eine ausführliche deutsche Predigt; die Schriftbetrachtung über Jesaia 56 teilt er ausdrücklich in 4 Teile ein (»Ich wil aber vormittels Göttlicher G n a d diese Predigt in 4. Stücke teilen« fol. B 3 v ) , v o n d e n e n der 4. Teil d e m L e b e n und Werk des Toten gewidmet ist. Nicht nur der explizite A u f b a u , sondern auch die Würdigung des Predigers Stymmelius erinnern an eigene Prinzipien Cogelers; seine o b e n angedeutete M e t h o d e , Bibeltexte mit Gegenpositionen zu kontrastieren, um klar und deutlich die wahre evangelische Lehre zu profilieren, k ö n n t e nicht besser als mit den f o l g e n d e n Worten über Stymmelius charakterisiert werden: Wenn er predigte, satzte er allzeit: Antithesin, Negativam, das ist recht, das ist unrecht, der Lehre solt ihr folgen, die ander lehre ist unrecht, In massen auch solcher Proceß in allen hauptstücken in der Augsburgischen Confession wirt gehalten. Denn gleich wie man denen dancket, welche ausweisen den rechten weg, und zugleich andeuten andere abwege, beyde zur lincken und zur rechten, wenn wyr reysen. Also sol unn muß dasselbige geschehen im leren, damit wyr nicht werden irre oder vorführet, mügen auch Gott dem HERRN desto mehr dancken, daß er uns für irthumb

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Iohanne Cogelero verbi divini ministro Stetini in Pomerania, Wittenberg: Johannes Crato 1564 [UB Rostock Fe 3953]) begegnet den vermeintlichen Vorwürfen gegen Paulus mit den entsprechenden Widerlegungen. Beispiel: Paulus wünscht den Galatern Frieden. Aber die Kirche hat in diesem Leben keinen Frieden. Ergo: Haec precatio est inutilis. Responsio: Paulus erbittet keinen irdischen Frieden, sondern pacem a patre, id est, tranquillam conscientiam (fol. A5v/A6r). In einem Appendix stellt Cogeler 80 [!] Regeln zum wahren Gebet und insbesondere zur Heiligenanrufung zusammen. Ein Hinweis für weitere notwendige Untersuchungen: Die Galater-Auslegung und die Regeln sind auch handschriftlich überliefert und bieten hier an zahlreichen Stellen einen von der Druckfassung sehr verschiedenen Text [UB Rostock Mss. theol. 66b], Johannes Cogeler: Leichpredigt bey dem Begrebnus des Ehrwirdigen [ . . . ] Herrn D. Christophori Stymmelij [...], Stettin 1588 [Ex.: HAB Wolfenbüttel 446.1. Theol. (19)], fol. G2r: »Denn da er 19. jähr alt gewesen, hat er Comoediam studentes geschrieben, davon der treffliche man D. Jodocus Willichius in praefatione meidung thut, und hat die arbeit zum höchsten gerhümbt, also dz zweimhal, beym leben Philippi zu Wittenberg die Comedia ist gespielt, daran die Gelarten grossen gefallen getragen.« Stymmels Komödie »Studentes comoedia de vita studiosorum« (ed. mit Vorwort von Jodocus Willich, Frankfurt/Oder 1549) wird ausführlich gewürdigt in: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Hg. von Theodor Brüggemann. Stuttgart 1987, Sp. 511-526 (hier Cogelers Hinweis auf zwei der drei mit Sicherheit veranstalteten Aufführungen [Sp. 521]).

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behütet, auch für die so im irthumb schweben bitten, Gott derr HERR wolte sie bekehren, unn auff den rechten weg und bahn führen (fol. G4v). D i e für die p o m m e r s c h e Reformationsgeschichte aufschlußreichste Predigt ist o h n e Zweifel die Grabpredigt auf den H e r z o g Johann Friedrich VIII. aus d e m Jahr 1600. Hier bietet Cogeler e i n e n Abriß der theologischen und kirchlichen Entwicklungen von 1542, der Gründung der Stettiner Schule, bis 1600, eine gerade aus d e m Blickwinkel des A u g e n z e u g e n wichtige Zusammenfassung der innerprotestantischen Auseinandersetzungen (Stichworte: Interim, Osiandrismus) bis hin zu d e m Anteil des pommerschen Herrscherhauses an der Institutionalisierung der evangelischen Landeskirche durch Kirchenordnungen, Visitationen etc. 3 9 E i n e ausführliche Anleitung für die Prediger in P o m m e r n legte Cogeler 1587 vor. D i e deutschsprachigen Belehrungen verdienen künftig eine größere Beachtung, da sie nicht nur in das zeitgenössische Predigen, die M e ß gestaltung o d e r die einzelnen Predigtarten (Hochzeits-, Beerdigungs-, Taufpredigten etc.) Einblicke bieten, sondern auch in den kirchlichen Alltag in Pommern. S o gibt es D a r l e g u n g e n zu v e r b o t e n e n Predigtthemen: Es geben auch etliche Prediger gros ergernis, wenn sie so gar unbescheiden heraus fahren, wie einer auff S. Johans tag gepredigt von seiner Geburt aus dem libello de Anima Philippi, den gantzen tractatum, Quomodo fiat conceptio, und alles was die Physici davon schreiben. Wie ergerlich dieses gewesen, mögen gute leute selbst bedenken (fol. C8v). o d e r z u m kirchlichen Bann: Ich erfahre, das in hinter Pommern bey den Cassuben etliche Prediger gar leichtfertig mit dem Bann umbgehen, auch umb geringes dinges willen, wenn mans von jnen begeret, die leute verbannen, verfluchen und mißbrauchen darzu den 109. psalm und die flüche, so im fünfften buch Mosis im 28. Capittel gesetzet werden. Denen sol man in Synodis untersagen und sie aus der Kirchenordenung recht unterrichten, was der Bann sey, wie und zu welchem ende er sol Christlich mit aller bescheidenheit gebraucht werden. 40

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Johannes Cogeler: Eine Trostschrift über den tödlichen Abgang des [ . . . ] Fürsten [ . . . ] Johannis Friderici [...], Stettin 1600 [Ex.: UB Greifswald Fe 937c (Adn.3)]. Cogeler gehört - im Gegensatz zu Kruse (vgl. den Beitrag von Thomas Höth in diesem Band) in die Schar der auf Institutionalisierung der Territorialkirche eingeschworenen pommerschen Theologen. In der Leichenpredigt auf Johann Friedrich spricht er von der herzöglichen Religionspolitik: »Nach etlichen Jahren haben unsere Landes Fürsten mit reiffem rhat bewogen, das eine gewisse grundtliche und wolgefaßte Kirchenordnung wurde entworffen, durchgesehen, wol berahtschlaget und endlichen publiciret [...]. Dieses aber ist alles wol geraten« (fol.C6v). Ich hoffe, in absehbarer Zeit Cogelers Ausführungen zur pommerschen Reformationsgeschichte in seiner Leichenpredigt auf Herzog Johann Friedrich kommentiert vorlegen zu können. Johannes Cogeler: Eine vormanung und erinnerung an die Predicanten auffm Land In Pomern: Wie sie sich in ihrem Ampt durchaus sollen vorhalten im Studierende, Predigen und Vorrichtung des gantzen Ampts in Synodis, im Examine und vorhörung der Zuhörer. Unnd wie sie ihr Leben sollen anstellen sampt den jhren. Und wie sie

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In meinen bisherigen Ausführungen ist ein Name nur als Marginalie aufgetaucht, der in Cogelers Leben und Werk gleichwohl zentral ist: Philipp Melanchthon. Daß Melanchthon die theologische Promotion Cogelers entscheidend beförderte, oder Cogeler in der Ausformulierung seiner sprachlich-dialektisch orientierten Bibelhermeneutik Melanchthon prominent zitierte, sind noch keineswegs ausreichende Begründungen für diese Behauptung, die durch einen erhaltenen Briefwechsel nicht verifiziert werden kann. 4 1 In der einschlägigen Forschungsliteratur zum Einfluß Melanchthons in Pommern - die im übrigen zu einer Kontroverse über die behauptete »Dominanz« Melanchthons gegenüber Bugenhagen geführt hat - sind zahlreiche Verbindungslinien geknüpft worden, über pommersche Studenten, v.a. Jakob Runge, über Konsilien bei theologischen, kirchenorganisatorischen oder universitären Problemen oder über seine Schriften, die u. a. in das pommersche Corpus doctrinae Christianae aufgenommen wurden; Cogeler hingegen wurde in diesem Wittenberg-Pommern-Netzwerk noch kein Platz zugewiesen. 42 Um den prägenden Einfluß Melanchthons aufzuzeigen, ist es notwendig, in das wohl bekannteste Werk Cogelers, die Imagines elegantissimae, Einblick zu nehmen und zunächst auf biographische Verweise zu achten. Schon auf dem Titelblatt sind die Quellen des Werkes unmißverständlich genannt: Was folgt, ist teils aus den Vorlesungen des Herrn Philipp Melanchthon, teils aus den Schriften der Kirchenväter gesammelt (»collectae partim ex praelectionibus Domini Philippi Melanthonis, partim ex scriptis Patrum«). In der an Weihnachten 1557 verfaßten Vorrede zum ersten Band der Imagi-

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mögen auch haben jhre notturfftige underhaltung, Stettin 1587 [UB Greifswald Fe 937c (Adn. 9)], fol. Elr/v. Cogeler erscheint in Briefen Melanchthons nur im Kontext seiner Promotion, vgl. CR 9, 982 und Philipp Melanchthon: Epistolae, iudicia [ . . . ] . Hg. von Heinrich E. Bindseil, Halle 1874, S. 460 und S. 597. D a ß die Bedeutung Melanchthons für die Entwicklung der pommerschen Kirche größer als die Bugenhagens gewesen sei, behauptet Klaus Harms: Melanchthons Beziehungen zu Pommern und sein Einfluß auf die pommersche Kirche. In: Baltische Studien 47 (1960), S. 91-107. Kritisch Hellmuth Heyden: Zur Geschichte der Reformation, in: Ders.: Neue Aufsätze zur Kirchengeschichte Pommerns. Köln 1965, S. 27-30. Vgl. auch Robert Stupperich: Melanchthons Anteil an der Reformation in Pommern. In: Archiv für Reformationsgeschichte 51 (1960), S. 208-222. Kurz erwähnt wird Cogeler von Kurt Hannemann: Melanchthon und sein Pommern. In: Unser Pommern. Vierteljahreschrift für Heimat und Volkstum 4 (1965), S. 11-13, S. 11. Zu Runge jetzt Heinz Scheible: Melanchthons Abschiedsbrief an seinen Schüler Jakob Runge. Eine Neuerwerbung der Badischen Landesbibliothek. In: Bibliothek und Wissenschaft 23 (1989), S. 268-290 (auch mit erhellenden Ausführungen zu Melanchthons Verhältnis zum pommerschen Fürstenhaus, ν. a. zu Herzog Philipp; dieser war Sohn der pfälzischen Kurfürstentochter Amalie und am Heidelberger Hof erzogen worden).

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nes (der dann 1558 in Wittenberg bei Johannes Crato gedruckt wurde, der erste von insgesamt 5 Bänden, die bis 1567 erschienen 43 ) stellt Cogeler Melanchthon als seinen verehrten Lehrer vor (»D. Praeceptoris mei charissimi Philippi Melanthonis« fol.B7r). So verwundert es nicht, daß Melanchthon nicht nur im ersten, sondern auch in den später publizierten Bänden zur meistzitierten Autorität avanciert und bisweilen sogar mit exakt datierten Aussagen zu Wort kommt: Am 30.7.1554 habe Melanchthon von einem Mord in Trunkenheit erzählt (Bd. 2, fol.E3v), am 23.8. 1557 Verse auf Isaak gedichtet (Bd. 2, fol. F8v), am 17.2. 1552 über den Wert geschichtlicher Reflexion nachgedacht (Bd. 3, fol.F3r) oder am 28.7. 1558 gegen Staphylus polemisiert (Bd. 3, fol. F7v). Ob Cogeler an den genannten Tagen Ohrenzeuge war oder die Informationen aus zweiter Hand erhielt, sei dahingestellt: Die Verse auf Isaak etwa dichtete Melanchthon auf der Reise nach Worms 44 , oder am 17. Februar 1552 hielt er sich in Nürnberg auf (vgl. MBW 6351), so daß die Nachrichten aus Berichten Melanchthons, aus Briefen, schriftlichen Unterlagen oder aus Erzählungen stammen. Aus welchen Vorlesungen Melanchthons Cogeler sein Wissen genommen hat, ist ebenfalls kaum zu entscheiden; Cogelers Studienzeiten in Wittenberg umfassen die Jahre (vor) 1545-1547, die Magisterprüfung 1550, 1554-1557 und die Promotion 1559. In Teil 3 der Imagines kommt Melanchthon mit einer auf 1550 datierten Apostrophe an seine Zuhörer zu Wort (fol. G2r). Fast 8 Jahre lang habe er bei Melanchthon gehört, so berichtet Cogeler im Widmungsbrief zum 4. (fol.Blr) und zum 5. Teil (»ultra annos Septem« fol. A6v). Doch nicht nur Melanchthons Dicta aus Alltagssituationen und aus Vorlesungen werden von Cogeler zur Illustration herangezogen, sondern auch Melanchthons gedrucktes Schrifttum ist ihm ein Steinbruch für zahlreiche Reminiszenzen, Beispiele und Sentenzen. Vielfältig belegbar ist demnach die Feststellung, daß Melanchthon durchgängig zur überragenden Autorität, die sogar hieratisch-präzis kontextualisiert wird, avanciert. Cogelers Zitierrückgriff auf >Dicta Melanchthonis< hat einige zeitgenössische Parallelen, z.B. die Anekdotensammlung des Johannes Manlius, der in seinen Collectanea locorum communium auf die religiöse Überzeugungskraft der Aussagen des von ihm verehrten Melanchthon vertraut, die bunte

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Die fünf Teile der Imagines sind getrennt aufgelegt worden: 1. Aufl.: 1558-1567, und 2. Aufl.: 1568-1572 (nurTeil 1-3). Vgl. auch die Titelaufnahmen in Wilhelm Hammer: Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte. Bd. 1. Gütersloh 1967, Nr. 150a, 199,273,340, 348, 377, 384; Bd. 3. Gütersloh 1981, Nr. A 399b, Α 427a. Die folgenden Zitate basieren auf dem Exemplar des Melanchthonhauses Bretten: Μ 372 (zeitgenössisch [ca. 1579] zusammengebunden: Buch 1-3 der zweiten Aufl., Buch 4-5 der ersten Aufl.). Cogelers Abdruck stellt die Erstedition dieser Verse dar, vgl. Hammer, wie Anm. 43, Bd. 3, Nr. 150a.

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Sammlung erbaulicher Exempel in das Loci-Raster einpaßt und damit Situationen und Worte des Alltags in den Rang theologischer Quellen erhebt. 45 Wer das Spektrum der in Cogelers Imagines zitierten MelanchthonQuellen abschreitet, macht eine zunächst erstaunliche Erfahrung: Zitiert werden nicht die bedeutenden theologischen Schriften wie die Loci communes, die Bibelkommentare oder die Confessio Augustana, sondern vorrangig Melanchthons Declamationen, die Cogeler nach genauem Textstudium oft mit präzisen Seitenangaben zitiert (etwa Buch 2, fol. D4r: »tom 2, folio 32«), Was aber erregte seine Aufmerksamkeit bei Themenstellungen wie »Rede über die Ameise«, »Rede über Sympathie und Antipathie« oder »Rede über die drei Scheffel Mehls«, die gewiß zu den unbekannteren Melanchthon-Texten gehören? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir die Imagines elegantissimae ein wenig näher betrachten. Der übersichtliche Aufbau piaziert an den Anfang eines jeden Kapitels ein Bild, das durch ausführliche Texte erklärt wird. Die Kapitel-Überschriften rekapitulieren Melanchthons Loci communes, was schon durch den Überschriftenbestandteil »locus« deutlich gekennzeichnet ist. 46 In den weiteren Bänden strukturiert Cogeler nach dem Glaubensbekenntnis (so in Teil 3) oder nach dem Vater-Unser (so in Teil 4). Bilder, Allegorien und Vergleiche werden in den Texten in bunter Folge aneinandergereiht und greifen auf vielfältige Assoziationsfelder zurück, die vom Tier- und Pflanzenreich bis zum menschlichen Körper reichen. Die Vorliebe für Gleichnisse und Allegorien ist im übrigen nicht nur in den Imagines elegantissimae vorherrschend, sondern ist charakteristisch für weite Teile der Bibelauslegung Cogelers. Die erste dieser Arbeiten behandelt in einer Predigt den Vergleich des Himmelreiches mit einer Perle. 47 Zu Beginn versucht Cogeler, »diese einfeltige art zu leren«, die manchen närrisch erscheine, zu rechtfertigen. Denn der fachwissenschaftliche Diskurs war darauf aus - das wußte schon Cogeler - »alles auff die goltwage« zu legen und »hoch mit jrer rede herein [zu] brange[n]«. Die einfältige Weise des bildhaften Sprechens legitimiert Cogeler mit der demütigen und unprätentiösen Rede Jesu, mit dem Hinweis auf den jüdischen Lehrgebrauch 45

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Zu Manlius und seiner Sammlung von Melanchthon-Exempeln vgl. Ernst H. Rehermann: Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts. Göttingen 1977, v. a. S. 176-178, und Burghart Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen. Der >Große SeelentrostPromptuarium exemplorum< des Andreas Hondorff und die >Locorum communium collectanea< des Johannes Manlius. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug/ Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 239-263, bes. S. 251-255. Die Aufstellung der verschiedenen loci Melanchthons vgl. CR 21, IX-XVI (in den drei Ausgaben). Cogelers loci »de diabolo« und »de cruce et afflictione ecclesiae« sind ohne exakte Titelentsprechungen in Melanchthons Loci communes. Johannes Cogeler: Eine Predigt von der Gleichnis unsere lieben Herrn Jhesu Christi, da er das Himelreich einer köstlichen Perrlen vergleichet. Wittenberg 1555 [Ex.: HAB Wolfenbüttel 463.22Theol. (13)].

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»dergleichen Parabolen« und mit dem Nutzen für die breite Öffentlichkeit: »Zum letzten ist es auch gut für den gemeinen man, das er ein ding deste besser und füglicher kan begreiffen, verstehen und behalten« (fol. A4r). 4 8 Während sich Cogelers deutsche Predigt an den »gemeinen man« wendet, sind die lateinischsprachigen und quellengesättigten Imagines ein Handbuch für den Lehrer und den Prediger, das zu den theologischen Loci die entsprechenden bildhaften Exempel zusammenstellt. Sie führen den evangelischen Schulmann und Theologen aus der universitären Gelehrsamkeit in die Erfordernisse der praktischen Frömmigkeitsunterweisung. Im Widmungsbrief zum 5. Band unterstreicht Cogeler neben der Notwendigkeit des wahren Glaubens im Angesicht der »furores Anabaptistarum« die Aufgabe, dem ungebildeten Volk (»rudi populo«) auf einfache Weise die in diesem Buch zusammengefaßten Lehren einzuträufeln (fol. A7r), und baut auf die Heerscharen von Lehrenden in Schule und Kirche, die »ministri verbi divini« (fol. Blr/v). Ist schon der Aufbau von den Loci Melanchthons beeinflußt und steht Melanchthon überdies als Quelle für die Inhalte ständig im Vordergrund, so beruft sich Cogeler auch bei der Rechtfertigung des Bildergebrauchs auf Melanchthon: Melanchthon habe in seinen Vorlesungen sehr oft Bilder »a membris humani corporis« verwendet (Buch 1, fol. E4r); außerdem rubriziert Cogeler beispielsweise Melanchthons Rede über die drei Scheffel Mehl als »allegoria« (Buch 1, fol.D4r). Da die protestantische Hermeneutik gemeinhin in Opposition zu der scholastischen Schriftsinnlehre auf den sensus litteralis eingeschränkt wird, ist ein mögliches Allegorisieren Melanchthons umstritten. So wird etwa in dem einschlägigen Artikel der Theologischen Realenzyklopädie zur »Bibelwissenschaft« einmal Melanchthon zu einem vehementen Gegner der allegorischen Auslegung erklärt (TRE 6, 348); von einem anderen Autor eines weiteren Teilkapitels wird ihm allerdings eine große Affinität zu Allegorie und Typologie attestiert (TRE 6, 380). Dem ist hier in notwendiger Verkürzung entgegenzuhalten, daß Melanchthons Exegese auf dem einen literarischen Sinn des biblischen Textes besteht, auf der »simplex et grammatica expositio«, 49 die von der christologischen neutestamentlichen Warte aus den sensus litteralis bestimmt und die 48

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In diesem Zusammenhang sei auch auf eine weder im V D 1 6 noch im Index Aureliensis (beide wie Anm. 1) aufgeführte Schrift Cogelers hingewiesen: Johannes Cogeler: Wie man nutzlich und fruchtbarlich die Psalmen des Königlichen Propheten Davids lesen und verstehen kan durch etliche kurtze Regulas begriffen, Wittenberg 1564 [Ex.: UB Rostock Fm 3781]; hier wird David häufig als Vorbild des figürlichen Sprechens genannt, ζ. B. fol. A4r/v: »[David gebraucht] schöne bilder genomen aus der natur als gleichnissen von dem Himel, Sternen, Sonn und Mond, von vielen Thieren, welche betrachtung gibt ursach den dingen weiter nach zudencken.« Philipp Melanchthons Schriften zur praktischen Theologie. T. 2 (Homiletische Schriften). Hg. von Paul Drews/Ferdinand Cohrs. Leipzig 1929 ( = Supplementa Melanchthoniana 5/2), S. 48 Z. l l f .

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vierfache Interpretationsweise (literal, tropologisch, allegorisch, anagogisch) für unterschiedslos jeden Vers der Schrift verbietet. Eingehend hat sich Melanchthon mit der allegoria auch in homiletischen Schriften auseinandergesetzt und ihr im Predigtkontext ihre Aufgabe zugewiesen. Der Gefahr der spekulativen Allegorisierung stellt Melanchthon zwei Korrektive entgegen: 1. Unklare Stellen der Schrift sind von den klaren her zu verstehen. 2. Jede Allegorie muß auf die entsprechenden Loci communes zurückgeführt werden. Vor allem eine Deutung mit Hilfe der Loci communes sichert die Rechtmäßigkeit der Auslegung. So dienen die aptae allegoriae nicht als sichere Beweise für Glaubenswahrheiten, sondern als Illustrationen für die verschiedenen Loci. 50 Bilder, Gleichnisse, Allegorien erregen beim Zuhörer Aufmerksamkeit und Affekte, so daß legitime Allegoresen der Rede eine gleichsam sinnliche Anschaulichkeit geben. Die Legitimität ist und bleibt das zentrale Problem, und um es nicht der subjektiven Willkür des einzelnen Predigers zu überlassen, zieht Melanchthon neben der notwendigen methodologischen Rückbindung an die Loci communes eine historische Absicherung ein: Die allegorischen Deutungen müssen von den Kirchenvätern als solche vorformuliert und anerkannt sein. 51 Cogelers Imagines sind - um es kurz zusammenzufassen - die ausführliche Umsetzung, die praktische Realisierung des Melanchthonischen Allegorie-Konzepts: Sie ordnen das Bildmaterial nach den Loci communes', sie berufen sich - nicht nur im Buchtitel - auf die Kirchenvätertheologie; sie wissen um ihre begrenzte Aufgabe, die christliche Lehre, die durch die Heilige Schrift vorab erwiesen ist, »dulcior« und »suavior« darzustellen, und sehen eben darin ihren Nutzen für Schule und Kirche. 52 Cogelers Imagines führen Textstrategien Melanchthons weiter, indem sie bevorzugt die Bilderwelt der Natur heranziehen und damit auf die Spuren Gottes, die vestigia Dei, in der Natur verweisen. So verfuhr auch Melanchthon in den genannten Declamationen, die etwa die Ameise als Metaphernreservoir für menschliche Tugenden, für das Staatswesen oder für sym- und antipathische Verhältnisse an einer Fülle natürlicher Exempel vorstellen. 53 In seiner Auslegung des biblischen Gleichnisses vom Sauerteig und den drei Scheffel Mehl betont Melanchthon ausdrücklich die Attraktivität der »imagines«, die aus »physica exempla« stammen. 54 Der Protestantismus hat ein umfängliches allegorisierendes Schrifttum hervorgebracht, so führt Heimo Reinit50

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Vgl. U w e Schnell: Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons. Berlin 1968, S. 125 mit A n m . 2 5 , und John R. Schneider: Philip Melanchthon's rhetorical construal of biblical authority, Lewiston 1990, S. 82-84. Vgl. Schnell, wie Anm. 50, S. 129. »Haec breviter dicere volui de Imaginibus, quae nobis doctrinam coelestem quae antea vero et solido fundamento ex sacra scriptura confirmata, corroborata et munita, dulciorem et suaviorem reddit« (Buch 1, fol. G4v). CR 11,925f. CR 11,789.

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zer am Beispiel der Naturallegorese aus und ordnet auch Cogeler in diesen meist unbeachteten Textstrang ein, ohne daß allerdings - dies sei angemerkt- Cogelers Imagines sich in der Naturallegorese erschöpfen. 55 Cogelers Melanchthonnachfolge dokumentiert sich überdies in gleichen Meinungen zu zeitgenössischen theologischen Streitfragen, etwa in der Gegnerschaft zum Osiandrismus und Flacianismus.56 An Cogelers überlieferten Werken ist vielleicht auch der Niedergang des Philippismus zu studieren. So rekurriert etwa seine Stymmelius-Grabpredigt von 1588 häufig auf Luther und erwähnt Melanchthon nur in einer marginalen biographischen Episode. Auch andere Predigten der 80er und 90er Jahre greifen kontinuierlich auf Luthers Schriften zurück und zitieren sie mit Band- und Seitenangaben; 57 Melanchthon indessen tritt kaum in Erscheinung, und wenn, dann nur mit dürrer Namensnennung. Zumindest in der kirchlichen Öffentlichkeit war es offensichtlich nicht mehr opportun, Melanchthon, der als vom Luthertum dissident und vermeintlicher Calvinist dikreditiert wurde, in den Mund zu nehmen. So erwähnt Cogeler in seiner Leichenpredigt auf Johann Friedrich in dem schon genannten Abriß der pommerschen Reformationsgeschichte nur an einer einzigen Stelle Melanchthon, und zwar dessen Reise nach Nürnberg, als er zum Konzil nach Trient Weiterreisen sollte: »haben sie den Herrn Philippum dahin gefoddert«, das ist alles zu Melanchthon, während Runge, sein Begleiter, mit ausführlichen Epitheta vorgestellt wird. 58 Fast 30 Jahre zuvor (1572) erschien in Stettin, in der officina Eichhorniana, eine Epigrammsammlung Melanchthons, die Cogeler besorgt hatte. Diese Sammlung, die im übrigen bislang der Melanchthonforschung unbekannt war, ordnet eine große Zahl von Gedichten, Übersetzungen und 55

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Heimo Reinitzer: »Da sperret man den leuten das maul auff«. Beiträge zur protestantischen Naturallegorese im 16. Jahrhundert. In: Wolfenbütteler Beiträge. Aus den Schätzen der Herzog August Bibliothek 7 (1987), S. 27-36, zu Cogeler: S. 42f. Antiflacianismus wird beispielsweise in den Briefen formuliert, die von Theodor Wotschke ediert wurden: Aus dem Briefwechsel des Stettiner Pfarrers Kogler. In: Archiv für Reformationsgeschichte 21 (1924), S. 90-94. Starke Ablehnung Oslanders bei Cogeler, wie Anm. 39, fol. C5v: »Bald auf diesem Sturmwinde [= Interim] kompt ein ander Teuffei, der hat Sieben Geister zu sich genommen, welche viel erger waren, denn der vorige. Nemlich den Osiandrum in Preussen [...].« Zum Osiandrismus in Pommern vgl. Jörg Rainer Fligge: Herzog Albrecht von Preussen und der Osiandrismus 1522-1568, Diss. Bonn 1972, S. 176-178 und 339-346 (zu Stettin und insbesondere zu Petrus Artopoeus, Cogelers Vorgänger im Rektorenamt). Eine theologische Charakterisierung der Philippisten, die auch manche Spezifika Cogelers umfaßt (Insistieren auf Bildung, Traditionsbezug zur altkirchlichen Theologie etc.) gibt Ernst Koch: Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland - Das Problem der »Zweiten Reformation«. Hg. von Heinz Schilling. Gütersloh 1986, S. 60-77, S. 69-73. Luther-Zitate in: Eine Trostschrifft über den seligen Abschied der [ . . ] Gartrudt Rungen [ . . . ] , Stettin 1600 [Ex.: U B Greifswald Fe 937 c (Adn. 1)], fol. A4r, B3r, C7rC8r, oder in: Eine Trostschrift über den tödlichen Abgang des [ . . . ] Fürsten [ . . . ] Iohannis Friderici, wie Anm. 39, fol. A5r, A5v, B6v. Cogeler, wie Anm. 39, fol. C6r.

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Epigrammen Melanchthons nach Teilkapiteln des Katechismus, nach dem Dekalog, nach dem Glaubensbekenntnis und dem Vater-Unser. Das Vorwort Cogelers lobt Melanchthon als unermeßlichen See des Wissens, als hellstes Licht der artes und preist ihn als besten und berühmtesten Autor zu Fragen der pietas, der Moral und der reinen Lehre.59 1572: Melanchthons Gedichte als Hauptquelle katechetischer Unterweisung; 1600: aus dem hellsten Licht des Wissens und der Frömmigkeit ist ein dürres »Herr Philipp« geworden. Wurde in diesen Jahrzehnten aus dem bildungsoptimistischen Melanchthon-Jünger der gnesiolutheranische Generalsuperintendent Cogeler? Eine exemplarische Biographie im Zeitalter der Konfessionalisierung?

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Epigrammata Reverendi et clarissimi viri D. Philippi Melanthonis, iuxta partes Catechismi collecta et distribute, opera et studio Iohannis Cogeleri, verbum Dei ex fontibus Israelis haustum docentis Stetini, Stettin 1572 [Ex.: UB Greifswald Fe 937 c (Adn. 7)], fol. *3r/v. Diese Schrift ist vom Index Aureliensis, wie Anm. 1, nicht in Cogelers Werkverzeichnis aufgenommen worden. Vgl. dagegen Reu, wie Anm. 1, S. 351*-353*.

Herbert

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Thomas Kantzows Hochdeutsch. Zum Sprachstand der ersten hochdeutschen Fassung seiner Pommerschen Chronik

1. Kantzows Leben Über den Lebenslauf und die Lebensumstände des zunächst Stettiner, dann Wolgaster fürstlichen Sekretärs und pommerschen Historiographen Thomas Kantzow weiß man einiges, jedoch nicht eben viel. Das älteste Lebenszeugnis findet sich in der Rostocker Universitätsmatrikel: danach wird dort am 10. April 1526 »Thomas Cantzow Szundensis« immatrikuliert.1 Das mit »Szundensis« angesprochene Stralsund kann aufgrund anderer zeitgenössischer Quellen nicht nur als Kantzows Herkunftsort, sondern auch als seine Geburtsstadt gelten. Sein Geburtsdatum hingegen ist unbekannt; mehreres weist allerdings darauf hin, daß er im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts geboren sein dürfte. 2 Bereits 1528, zwei Jahre nach seiner Immatrikulation in Rostock, erscheint Kantzow in einer in Stettin von den gemeinsam regierenden Herzögen Georg und Barnim von Pommern ausgestellten Urkunde als »Tomas Kansow vnse Secretarius«,3 und 1530 wird er in einer anderen Urkunde als Magister bezeichnet. 4 Daraus ist zu schließen, daß er in Rostock vermutlich nur die Artistenfakultät besucht hat; die Mindeststudiendauer, die für die 1

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Des Thomas Kantzow Chronik von Pommern in hochdeutscher Mundart. Erste Bearbeitung. Hg. von Georg Gaebel. Stettin 1898. Darin: Einleitung des Hg.s, S. I-LXXVII, hier: S. I. - Zu Kantzows Vita weiterhin: Fr. Groenwall: Thomas Kantzow und seine Pommersche Chronik. In: Baltische Studien 39 (1889), S. 257-353, hier: S. 262; Hermann Bollnow: Die pommerschen Herzöge und die heimische Geschichtsschreibung. In: Baltische Studien. Neue Folge 39 (1937), S. 1-35; Jürgen Petersohn: Die dritte hochdeutsche Fassung von Kantzows Pommerscher Chronik. Identifikation eines verkannten Geschichtswerks. In: Baltische Studien. Neue Folge 59 (1973), S. 27-41. - Auf die vorgenannten Arbeiten stützen sich meine nun folgenden Bemerkungen zur Biographie Kantzows. Weitere einschlägige Literatur, insbesondere die ältere, bei Petersohn, wie oben, S.27f., Anm. 1-4. - Vgl. außerdem: Roderich Schmidt: Kantzow, Thomas. In: Neue deutsche Biographie. Bd. 11. Berlin 1977, S. 128-129. Herbert Blume: Kantzow, Thomas: In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. Bd. 6. Gütersloh/München 1990, S. 234.

Siehe Groenwall, wie Anm. 1, S. 262. 3 Ebd., S. 267. 4 Ebd., S. 266.

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Herbert

Blume

Magisterpromotion erforderlich war, betrug nach den damaligen Statuten der Rostocker Artistenfakultät eineinhalb Jahre. 5 Nach einem recht kurzen Studium von maximal zwei Jahren also tritt Kantzow in die herzogliche Kanzlei in Stettin ein, offenbar zunächst in subalterner Stellung. Herzog Georg, der ältere der beiden Brüder, die seit dem Tode ihres Vaters Bogislav X., d.h. seit 1523, gemeinsam regierten, stirbt 1531. Der jüngere Bruder, Barnim, ist nicht bereit, die gemeinsame Regentschaft mit Georgs Sohn Philipp fortzusetzen, sondern dringt auf Erbteilung. Diese wird mit Vertrag vom 21. Oktober 1532 vollzogen: das ganze Land, einschließlich »Rede, Cantzler, hofgesynde, hämisch, geschutte, artelerie, vnd husgerat« 6 wird in zwei Teile geteilt, und das Los entscheidet, daß Herzog Barnim das östliche Pommern mit Stettin, Herzog Philipp das westliche mit Wolgast als Hauptstadt erhält. Kantzow geht als einer der Sekretäre Philipps mit nach Wolgast. Sein Wirken in der dortigen Kanzlei ist in einer Reihe von Urkunden aus den Jahren 1533 bis 1537 bezeugt. U. a. geht es dabei um die Durchführung der Reformation im Wolgaster Landesteil. Im Sommersemester 1538 immatrikuliert Kantzow sich aufs neue an einer Universität, diesmal in Wittenberg. Anzunehmen ist, daß er mit diesem erneuten Studium das Ziel anstrebte, in einer höheren Fakultät den Doktorgrad zu erwerben, um sich damit für ein herausgehobenes Verwaltungsamt in herzoglichen Diensten zu qualifizieren. Kantzows Wittenberger Studien werden von beiden Herzögen, Barnim und Philipp, gemeinsam mit einem Stipendium finanziert, und zwar übertragen ihm die Herzöge im Mai 1538, also zur Zeit der Immatrikulation, auf Lebenszeit alle die Präbenden, die ihm während seiner Stettiner und Wolgaster Sekretärstätigkeit nach und nach als eine Art Gehalt zugeteilt worden waren. 7 Bei solchermaßen fortlaufender Besoldung ist Kantzow in Wittenberg von seiner Sekretärstätigkeit zwar entbunden, dennoch ist er auch dort offenbar in herzoglichen Diensten wirksam, denn 1539 erhält er den Auftrag, mit Luther, Melanchthon und Bugenhagen über die Besetzung einer theologischen Professur an der Greifswalder Universität zu verhandeln. 8 Den Schlußpunkt seines Wittenberger Studiums setzt für Kantzow nicht die Doktorpromotion, sondern ein früher Tod. Der vermutlich noch nicht Vierzigjährige wird 1542 in Wittenberg von Krankheit befallen, reist hastig ab, gelangt zwar noch nach Stettin, stirbt dort aber am 25. September desselben Jahres. Kantzow soll in der Stettiner Marienkirche begraben sein.

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Ebd., S. 267. Ebd., S. 271. - Das Zitat stammt aus Kantzows niederdeutscher Fassung seiner Pommerschen Chronik. Über diese Version u.a. Gaebel, wie Anm. 1, S. VIII-XV. Bollnow, wie Anm. 1, S. 14. Ebd., S. 13.

Thomas Kantzows Pommersche Chronik

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2. Kantzows Pommersche Chronik Daß einerseits hier und heute, fast auf den Tag genau 450 Jahre nach Kantzows Tod, immer noch von ihm die Rede ist und daß andererseits die Herzöge Barnim und Philipp es sich damals einiges kosten ließen, Kantzow in Wittenberg ein zweites Studium zu finanzieren, hat ein und dieselbe Ursache: Thomas Kantzow hat sich bleibende Verdienste als Historiograph Pommerns erworben, und er besaß solche Meriten auch bereits 1537/38 in so hohem Maße, daß es den Herzögen zu Recht sinnvoll erschien, Geld in sein Studium zu investieren. Den bis heute nicht erloschenen Ruhm Kantzows macht seine Pommersche Chronik aus, oder, mit dem ausführlichen Titel der Fassung, der wir uns hier zuwenden werden: Ursprungk, Altheit und Geschieht der Volcker und Lande Pomern, Cassuben, Wende und Rhugen.9 Kantzow hat seine Chronik Pommerns in nicht weniger als vier Fassungen bzw. Bearbeitungen geschrieben, die sämtlich im Autograph des Verfassers überliefert sind. Die erste Redaktion, noch in niederdeutscher Sprache abgefaßt und von ihm selbst mit dem Titel versehen Fragmenta der pamerischen geschichte, vth welcken (so men de tide recht ordent vnd dat jennige, was vnrecht ist, recht maket) men wol einen guden wech tho einer Chroniken hebben konde,10 trägt zwar auf dem Titelblatt die von anderer Hand hinzugefügte Jahreszahl 1538; aus dem Inhalt geht jedoch hervor, daß er die Arbeit daran bereits 1536 abgeschlossen hat. Seine Quellen sind u.a. Saxo Grammaticus und Helmolds Slawenchronik. Wie diese erste Fassung, die niederdeutsche, die ihre Bezeichnung Fragmenta zu Recht trägt, ist auch die nächste Redaktion noch in Wolgast entstanden, vor Kantzows Abreise nach Wittenberg, mithin Ende 1537, Frühjahr 1538 abgeschlossen. Nunmehr in hochdeutscher Sprache arbeitet Kantzow in dieser Fassung das in der nd. Vorstufe von ihm nur bruchstückhaft Angelegte erstmals zu einer Gesamtdarstellung aus, die mit Ausführungen über die Herkunft der Wenden, also mit der Völkerwanderungszeit beginnt und bis zum Tode Bogislavs X. reicht. Angehängt sind einige topographisch-landeskundliche Kapitel »Von itzigem Pomern«. In Wittenberg schreibt Kantzow seine Chronik noch zweimal um; es gibt also eine 2. und eine 3. hochdeutsche Fassung. Die 2. hd. Fasssung, etwa 1538/39 geschrieben, wird nach ihrem Aufbewahrungsort im 19. Jahrhundert, nämlich dem Archiv der Fürsten zu Putbus, 11 in der Forschung als Codex Putbussensis bezeichnet. Die 3. und letzte hd. Fassung, zu Beginn der 9 10

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Gaebel, wie Anm. 1, S. 1. Ebd., Einleitung, S. VIII. - Edition: Des Thomas Kantzow Chronik von Pommern in niederdeutscher Mundart. Hg. von Georg Gaebel. Stettin 1929. Ebd., S. XXIII-LX. - Edition: Des Thomas Kantzow Chronik von Pommern in hochdeutscher Mundart, Bd. I: Letzte Bearbeitung. Hg. von Georg Gaebel. Stettin 1897.

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Herbert Blume

40er Jahre abgefaßt, trägt, wie schon Bugenhagens frühes Auftragswerk, den Titel Pomerania.12 Kantzows Pomerania ist in einer Vielzahl von Handschriften überliefert, und man hat in Unkenntnis der Originalhandschrift bis vor kurzem gemeint, daß Kantzows vertrauter Freund und Nachlaßerbe, der fürstliche Sekretär Nikolaus von Klemptzen, 13 als Redaktor großen Anteil an der letzten Ausarbeitung und Formulierung habe, so daß man dazu neigte, in der Pomerania nur mit Vorbehalt ein Werk Kantzows zu sehen. Seit der Auffindung von Kantzows Autograph in der Kgl. Bibliothek zu Kopenhagen vor etwa 20 Jahren 14 ist es indessen sicher, daß Klemptzens redigierende Eingriffe in den Text weitaus weniger zahlreich sind, als man bis dahin glaubte. Wie der paläographische Befund zeigt, ist auch die Pomerania im wesentlichen Kantzows eigenes Werk. 15 Dem von Kantzow in Wittenberg immer weiter betriebenen inhaltlichen Ausbau der Chronik kommt vor allem seine hier erworbene Kenntnis vieler in Wolgast nicht zugänglicher Quellen zugute: für die frühgeschichtliche Epoche z.B. seine Lektüre des Tacitus, dessen Kenntnis ihm durch Melanchthon vermittelt wurde.

3. Z u r Sprache der 1. hochdeutschen Fassung Im folgenden wird es jedoch weder um Quellen- noch um Rezeptionsprobleme gehen, ebensowenig um Fragen nach den Inhalten von Kantzows Chroniken, nach ihrer historischen Verläßlichkeit, Glaubwürdigkeit, Komposition, historiographischen Tendenz noch um dergleichen geschichtswissenschaftliche Fragestellungen mehr. Vielmehr wird im Zentrum des Interesses die Frage stehen, wie das Hochdeutsch beschaffen ist, das ein sonst niederdeutsch sprechender und niederdeutsch schreibender fürstlicher Sekretär in Pommern, also einer, der völlig »eingetaucht« ist in einen niederdeutschen Sprachalltag, aufs Papier bringt. Damit richtet sich unser Augenmerk notwendigerweise auf die 1. hd. Fassung der Chronik, auf jene also, die noch in Wolgast entstanden ist. In der Philologie des Niederdeutschen ist der frühneuzeitliche Prozeß der Ablösung der nd. Schriftsprache durch das Hd. ein immer wieder aufgegriffener Forschungsgegenstand, 16 und man ist über die Art und Weise, wie 12

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Edition: Pomerania. Eine pommersche Chronik aus dem sechzehnten Jahrhundert. Hg. von Georg Gaebel. 2 Bde. Stettin 1908. Über ihn z.B. Bollnow, wie Anm. 1, S. 16ff. - Gaebels Einschätzung, Klemptzen besitze als Redaktor hohen Anteil am Wortlaut der Pomerania, ist durch das Finderglück und die Forschungen Petersohns (siehe Anm. 1) inzwischen widerlegt worden. Durch Jürgen Petersohn. Siehe Anm. 1. Vgl. Petersohn, wie Anm. 1, insbesondere S. 30-34. Den jüngsten Überblick hierüber bietet: Timothy Sodmann: Der Rückgang des Mittelniederdeutschen als Schreib- und Druckersprache. In: Sprachgeschichte. Ein Hand-

Thomas Kantzows Pommersche Chronik

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dieser Prozeß in der frühneuzeitlichen Textgeschichte in einer kontinuierlichen Stufenfolge ( v o m noch ungemischten Niederdeutsch über drei voneinander unterscheidbare Mischzustände z u m ungemischten Frühneuhochdeutsch) verlaufe, zu Generalisierungen gelangt. 1 7 Ich m ö c h t e im folgenden zeigen, daß der Sprachstand von Kantzows 1. hd. Chronik in das geläufige Bild der allmählichen, gleichsam schleichenden A b l ö s u n g der einen Schreibsprache durch die andere nicht recht hineinpaßt. Ein von mir ursprünglich beabsichtigter Vergleich der nd. Fassung von 1536 mit der 1. hd. Fassung v o n 1537/38 hat sich bei n ä h e r e m H i n s e h e n als nicht tunlich erwiesen, vor allem, aber nicht nur, w e g e n des Entwurfscharakters der nd. Fassung. Statt dessen habe ich aus der 1. hd. Fassung ein Korpus von gut 6.500 Wörtern ausgewählt (nämlich das 1. B u c h ) und dieses für sich analysiert. D a m i t sind etwa 6,1 % der G e s a m t t e x t m e n g e der Chronik erfaßt. Ich habe mich auf die mir besonders aussagekräftigen Sprachebenen P h o n i e und Graphie beschränkt und als Parameter solche MerkmalsVariablen ausgewählt, an d e n e n besonders deutlich erkennbar wird, was für eine A r t von H o c h d e u t s c h ein gebildeter M a n n namens Kantzow in der sprachlichen Diaspora 1 8 Pommerns z u w e g e bringt. D a die 1. hd. Fassung 1898 v o n Georg G a e b e l mustergültig, d . h . buchstabengetreu ediert worden ist, 1 9 konnte ich G a e b e l s Edition m e i n e n Untersuchungen zugrunde legen. Kantzows Handschrift befand sich früher im Besitz der Gesellschaft für

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buch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. 2. Halbbd. Berlin/New York 1985, S.1289-1294. Artur Gabrielsson: Das Eindringen der hochdeutschen Sprache in die Schulen Norddeutschlands im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 58/59 (1932/33), S. 1-79; derselbe: Die Verdrängung der mittelniederdeutschen durch die neuhochdeutsche Schriftsprache. In: Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg. von Gerhard Cordes und Dieter Möhn. Berlin 1983, S. 119-153; Dieter Möhn: Deutsche Stadt und niederdeutsche Sprache. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 96 (1973), S.111-126. Wenn hier und im folgenden bisweilen der Ausdruck »Diaspora« verwendet wird, so impliziert dies sicherlich eine Perspektive von Süden nach Norden. Ausdrücklich nicht beabsichtigt ist damit eine unterschiedliche Bewertung von Mittelniederdeutsch und Frühneuhochdeutsch. Beide Schriftsprachen waren damals gleichermaßen elaboriert und wissenschaftsfähig. Insonderheit die heute (im Vergleich mit der hd. Standardsprache) gegebene relative Armut der niederdeutschen Mundarten an deverbativen Substantiven, die fühlbar wird, wenn es um die Formulierung theoretischer und abstrakter Inhalte oder genereller Aussagen geht, bestand damals noch nicht. - Zum Phänomen des Abstrakta-Mangels im gesprochenen Nd. unserer Zeit vgl. z.B. Herbert Blume: Niederdeutsch als Literatursprache. Möglichkeiten und Schwierigkeiten. In: Bericht [von der] 40. Bevensen-Tagung. 1987, S. 17-28. Wie Anm. 1. - Kantzows Pommersche Chronik in ihren insgesamt vier Fassungen erfreut sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einer lebhaften Editionsgeschichte. Der Prominenteste in der Schar der frühen Kantzow-Editoren ist Ludwig Theobul Kosegartens Sohn Johann Gottfried Ludwig Kosegarten. - Alle diese frühen (teilweise recht unvollkommenen) Kantzow-Ausgaben sind durch die Editionen Gaebels (siehe

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Herbert Blume

pommersche Geschichte und Altertumskunde, und zwar in deren Bibliothek im Stettiner Schloß. Heutiger Besitzer ist das Wojewodschaftsarchiv Stettin. 3.1 Niederdeutsches

in Kantzows

Hochdeutsch

Daß hd. Texte der frühen Neuzeit, die in Norddeutschland von Autoren geschrieben werden, deren Muttersprache, mündliche Alltagssprache und z.T. auch noch Schreibsprache das Niederdeutsche ist, nd. Beimischungen aufweisen, ist eher die Regel als die Ausnahme. Auch bei Kantzow ist dies nicht anders. Daß er in seinem pommerschen Alltag niederdeutsch sprach, ist nicht bezweifelbar. Sichtbares Zeichen davon ist im Chroniktext sein gelegentliches Zurückfallen ins weniger anstrengende Nd. in einigen Marginalien. 20 Nd. war überdies die bevorzugte Urkundensprache der Wolgaster Kanzlei bis 1543.21 Wenn Kantzow in Wolgast 1536/37 eine Chronik in hd. Sprache abfaßt, so ist dies also in doppelter Hinsicht für ihn ein sprachliches Debüt. Es sei hier daran erinnert, daß der Terminus »Hochdeutsch«, auf die Zeit Kantzows bezogen, nach Lage der Dinge nicht eine irgendwie normierte oder standardisierte Sprache meinen kann. Vielmehr ist »Hochdeutsch« im Hinblick auf das 16. Jahrhundert lediglich als der Oberbegriff für alle deutschen Mundarten und Schreibdialekte südlich der Benrather Linie zu verstehen. Jene kollektive, sich über mehrere Jahrhunderte hinziehende Sprachstandardisierungsarbeit, an der später Leute wie Schottelius, Gottsched, Adelung, schließlich noch Konrad Duden und Theodor Siebs mitgewirkt haben, war damals noch zu leisten und lag im wesentlichen noch in weiter Ferne. »Hochdeutsch« in diesem Sinne einer in sich noch sehr heterogenen Schreibsprache konnten Literaten in Kantzows Situation nur durch autodidaktisches Imitieren von eben mehr oder minder divergierenden Schreibmustern lernen, kaum durch Orientierung an grammatischen Regelwerken. Angesichts alles dessen fällt es auf, wie gering der Anteil niederdeutscher Interferenzen in Kantzows hd. Text ist. Auch bei großzügigster Auslegung des Begriffs »nd. Interferenz« weist das Korpus nicht mehr als etwa 100 Vorkommensfälle von Interferenz auf; dies entspricht 1,5% der Gesamtwortmenge. Wohlgemerkt sind dies nicht 1,5% nd. Wörter in einem hd. Text, sondern 1,5% Wörter, die mehr oder weniger, teilweise eben auch

20 21

Anm. 1, 10, 11 und 12) überholt. Die bibliographischen Daten der älteren Ausgaben finden sich bei Petersohn, wie Anm. 1, S. 28ff. In Gaebels Edition, wie Anm. 1, S. 179,183,191,197und öfter. Vgl. Willy Scheel: Zur Geschichte der Pommerischen Kanzleisprache im 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 20 (1894), S. 57-77, hier: S. 69.

Thomas Kantzows Pommersche

Chronik

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nur ganz gering, nd. gefärbt sind. Vergleicht man Kantzows Hd. z.B. mit der Sprache eines 1515 in der Braunschweiger Ratskanzlei entstandenen Briefs (des ältesten, der hd. »gemeint« ist, also auch eines hd. Debüts), dem bei enger Auslegung des Begriffs »nd. Interferenz« 15,5%, bei weiter an die 20% nd. oder nd. gefärbte Wörter zu attestieren sind, so erweist sich Kantzows Hd. für einen Debütanten als eindrucksvoll »rein«. 22 Eine Betrachtung der Interferenzen im einzelnen ergibt folgendes Bild. Allein 31 Fälle gehen auf das Konto der Schreibung (sl) statt hd. damals bereits zu erwartendem (schl). Das Gros dieser Fälle bieten vor allem die Flexionsformen des Verbums schlagen und seiner Präfixkomposita: slug, slugen, gestagen, erslug, erslagen, verslug sowie der zugehörigen Verbalabstrakta: von den Siegen, mit Anslegen, Furslag, Gesiecht, Slacht. Außerdem begegnen siecht und Slos. Auf hd. Gebiet hatte sich die Palatalisierung des /s/ vor IM in Lautung und Schreibung zu Kantzows Zeiten weitestgehend durchgesetzt. 23 Die palatale Aussprache des (sl) als /schl/ in der heutigen pommerschen Mundart dürfte eine jüngere Erscheinung sein, 24 so daß Kantzows (sl)-Formen als nd. Interferenzen gelten können. Vereinzelt schreibt er auch (schl): im Korpus begegnen schlug, schluck (3. Sg. Prät. von schlagen) und schlugen. Nd. Konsonanz statt hd. weisen außerdem die folgenden Wörter auf: jegen >gegen< zu rugge >zurück< waldeten >walteten< Weissei >Weichsel< (Flußname), floch >flog< (dagegen aber: schluck zu schlagen, s.o.; wegk), scheidig >scheltig< In der 3. Sg. Prät. des Verbums substantivum schwankt Kantzow zwischen war (11 Belege) und was (15 Belege). Auch diese wasFormen möchte ich als nd. Elemente ansehen. In Kantzows nd. Chronik von 1536 erscheint was durchgehend, während sich auf hd. Territorium der Ausgleich des Grammatischen Wechsels von mhd. was zu fnhd. war zu Kantzows Zeiten schon weitgehend vollzogen hat. Luther hat war, 22

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Zur nd.-hd. Mischsprache dieses Briefs siehe: Dieter Cherubim: Mehrsprachigkeit in der Stadt der frühen Neuzeit. Am Beispiel Braunschweigs und Hermann Botes. In: Hennen Bote. Braunschweiger Autor zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hg. von Detlev Schöttker und Werner Wunderlich. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Forschungen 37), S. 97-118. Virgil Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik. I. Bd.: Lautlehre. 3. Teil: Konsonanten. 2. Hälfte (Schluß). Heidelberg 1951, S.222ff. Vgl. Virgil Moser, ebd.; William Foerste: Geschichte der niederdeutschen Mundarten. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von Wolfgang Stammler. Bd. I. Berlin 21957, Sp. 1729-1898, hier: Sp. 1876; Renate Herrmann-Winter: Plattdeutsch in Vorpommern. In: Vorpommern. Geschichte, Sprache, Volkskultur. Hg. vom Volkskulturinstitut Mecklenburg und Vorpommern. Redaktion: Renate HerrmannWinter. Rostock 1991, S. 18-24. - Vereinzelte Schreibungen mit (schl) finden sich allerdings doch schon in Kantzows niederdeutscher Chronik. Neben dominanten (sl)-Formen begegnen hier und da Schreibungen wie schlart, uthschlan, schlügen·, vgl. Waither Baetke: Das starke Verbum in Thomas Kantzows niederdeutscher Chronik. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 43 (1917), S.87-100.

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während was damals eher bei obd. Autoren, z.B. Hans Sachs oder Sebastian Münster, zu finden ist.25 In einigen Fällen verwendet Kantzow nd. anstelle von hd. Stammvokal. Durchgängig der Fall ist dies in Wörtern, die den Wortstamm hd. Ruhm (nd. Rom) enthalten: somit in Rhom, rhomet (3. Sg. Präs.), berhomet. Dieselbe Interferenz liegt vor in Blotvergiessen und erfhor. Dagegen verwendet er in Wörtern, die mit dem hd. Stamm Mut gebildet sind, konsequent die hd. Variante, also Gemüte etc. Seltener als die (u)-{o)-Vertauschung unterläuft ihm ein nd. langes (e) anstelle eines fnhd. (ei). Diese Interferenz tritt ausschließlich im Prät. des starken Verbums bleiben ein: ρ leben, uberpleb. Beim Präteritopräsens müssen halten sich im Prät. die Wortformen mit nd. Vokal (mosten) und mit hd. (musten/müsten) quantitativ die Waage. Das Adj. wenig erscheint im Korpus ausnahmslos in der Schreibform weinig. Hierin könnte man zwar gleichfalls nd. Interferenz erblicken, doch die Annahme ist nicht zwingend, da weinig auch auf hd. Territorium möglich ist: in Wittenberger Drucken, die zu Kantzows Lebzeiten erschienen sind, konkurrieren weinig und wenig miteinander. 26 In die oben angestellte Berechnung der Zahl von 1,5 % Interferenzfällen sind die Vorkommen von weinig einbezogen worden. Entschiede man sich hier und in ein paar ähnlich gelagerten Fällen gegen die Annahme von Interferenz, so ergäbe sich für Kantzows Text ein noch geringerer Interferenzquotient als 1,5. Sprachliche Interferenz kann sich bekanntlich auch in der Bildung von hyperkorrekten Formen auswirken. Solche Hyperkorrektismen sind ein Indiz dafür, daß ihr Urheber die Sprache, die er zu sprechen oder zu schreiben sich bemüht, nur unvollkommen beherrscht. Es spricht für Kantzows gute Kenntnis der neuen Schreibsprache Hochdeutsch, daß ihm im untersuchten Korpus nur ein einziger hyperkorrekter »Ausrutscher« passiert: er berichtet davon, daß man Verbrecher in den leichten Galgen henken ließ. Mit der Abschaffung des Galgens aus der Öffentlichkeit ist auch die noch bis in späte 18. Jahrhundert geläufige Redeweise 27 außer Gebrauch gekommen, jemand werde in den lichten Galgen gehenkt, d.h. am frühen Morgen, nach Tagesanbruch. Kantzow sitzt hier, wenn er vom leichten 25

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Der hier in Betracht kommende Bd. V der Grammatik des Frühneuhochdeutschen von Moser und Stopp (s.u. Anm.31 u.ö.) liegt noch nicht vor. Überblicksartig stattdessen: Gerhard Philipp: Einführung ins Frühneuhochdeutsche. Heidelberg 1980, S. 74. Siehe Gerhard Kettmann: Zum Graphemgebrauch in der Wittenberger Druckersprache. Variantenbestand und Variantenanwendung. In: Autorenkollektiv unter der Leitung von Joachim Schildt (Hg.): Zum Sprachwandel in der deutschen Literatursprache des 16. Jahrhunderts. Studien, Analysen, Probleme. Berlin 1972 (Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 63), S. 20-100, hier S. 36. Vgl. das Grimmsche Wörterbuch, Bd. 4, s.v. Galgen, Sp. 1169, mit zahlreichen Belegen für lichter Galgen vom Meistersang über das Eulenspiegelbuch und Hans Sachs bis zu Kotzebue.

Thomas Kantzows Pommersche

Chronik

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Galgen schreibt, der nd. Homophonie zweier semantisch verschiedener niederdeutscher Adjektive licht (>hell< und >nicht schwergebärenMemoiren< Wessels sagt.«13 Was Joachim von Wedel anlangt, so entstand sein »Haußbuch, worin die vornehmsten Geschichten, so sich von Ao. Christi 1501 bis ad. A. 1606, sowohl in Pommern als auch in gantz Europa und andern Oertern begeben und zugetragen [...]«, 1 4 nur wenige Jahre nach Sastrows Schrift. Auch Wedel widmete genau wie Sastrow - seine »um Pommern zentrierte Chronik« den eigenen »Kindern als memorial und handlungsorientierende anleitung, als wohlge-

meinte erinnerungen und lehren [.. .].« 15 - Wiederum Sastrow vergleichbar, verzeichnete auch Wedel außergewöhnliche Begebenheiten, »die der zeitgenössischen Kriminal- und Naturgeschichte zugehören« und nicht selten eine schwankhaft-anekdotische Gestalt haben. Interessant ist die Tatsache, daß vielen der von Wedel angeführten Begebenheiten aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts »wahrscheinlich Flugblätter als Quellen zugrundeliegen.« Trotz einer wenigstens partiellen Ähnlichkeit des Herangehens im Falle 1' Vgl. Mohnike, wie Anm. 1, S. LXXIIIf. 12 Etliche Stücke, wo idt vormahls im Pawestdohme und dem Gadesdinste thom Stralsunde gestahn, bet up dat Jahr, da Seel. Herr Ca(r)sten Ketelhodt dorch Schickunge des Allmechtigen dat seine Wort Gades anhof tho predigende dorch Her Frantz Wesseln, Boergermeistern thom Sunde beschreven. Anno 1550. 13 Mohnike, wie Anm. 1, S . L X V . - Der Titel von Dröges Arbeit lautet: D e s Erbarn, Vornamen und Wolwysen H e m Frans Wessels, seldesten Boergermeisters thom Stralsunde, gantze Levendt unde Christlyke Affscheidt. Sampt aller Radeßheren und Prediger Namen, welker by synen tyden gelewet [ . . . ] Rostock M. D . L X X . 14 Hg. von Julius Frhr. von Bohlen Bohlendorff unter dem Titel: Hausbuch des Herrn Joachim von Wedel auf Kempzow Schloß und Blumberg erbgesessen. Tübingen 1882 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 161). 13 Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 29), S. 117; hier auch das nachfolgende Zitat.

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Horst Langer

Wedels strukturierten im einzelnen aber weder er noch Franz Wessel ihre Arbeiten in einer der Sastrowschen Schrift gleichzusetzenden Art und Weise - nicht die aus dem eigenen und vor allem ichbezogen gewerteten Erleben abgeleitete Reflexion dominiert, wie im Falle Sastrows zumindest streckenweise, sondern der eher nüchtern registrierende Blick des gleichwohl emotional nicht unbeteiligten Historikers bzw. Chronisten. Bereits Mohnike wies auf den bemerkenswerten Neuansatz Sastrows hin: Dieser »begnügte sich nicht, wie manche seiner Vorgänger, [...] namentlich Nicolaus Gentzkow, gethan hatten, ein bloßes Tagebuch aufzusetzen, sondern verfaßte eine förmliche Geschichte seines Lebens, in welcher er zugleich auf diejenigen wichtigen Begebenheiten seiner Zeit, in welchen er mitgewirkt hatte, oder von denen er doch Augen- oder Ohrenzeuge gewesen war, Rücksicht genommen, und zugleich eine Art von Sittengemälde seiner Zeit entworfen hat.«16 Freilich erschöpft sich in dieser Charakterisierung nicht die innovatorische Leistung Sastrows. Will man diese in terminologischer Hinsicht auf den Punkt zu bringen versuchen, bietet sich die von Ingrid Schiewek bereits Ende der 60er Jahre in die Diskussion gebrachte Formel »Individuelle Perspektive kontra Reihenstruktur« 17 an, wenngleich nicht uneingeschränkt, wie schon der Einstieg des Vortrags zeigte. Die im Falle Sastrows begegnende, noch weiterreichend zu charakterisierende vormoderne Form von Ich-Bewußtsein zeigt sich freilich nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie in der Art der Auswahl und Darbietung einzelner als besonders wichtig empfundener Lebenstatsachen - sie hat, in engstem Zusammenhang mit den benannten Gesichtspunkten, viel mit bestimmenden »Inhalten« des Lebensresümees bzw. mit ihrer Bewertung durch den Verfasser zu tun. Diese »Inhalte« sind in jeder wesentlichen Hinsicht von den glaubensbezogenen Maximen der Reformation und einer ihnen entsprechenden Praxis bestimmt. Folgerichtig findet die enge Anlehnung an Leben und Lehre Luthers (dem Sastrow in Wittenberg persönlich begegnet war) ihren Niederschlag auch und vor allem dort, wo Sastrow die ideellen und materiellen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen seines Entwicklungsweges überdenkt. Dabei mißt er zum einen seinem unermüdlichen beruflichen Engagement, zum anderen der Gnade Gottes entscheidendes Gewicht für das Gelingen seiner Anstrengungen bei. 18 Diese Botschaft 16 17 18

Mohnike, wie Anm. 1, S. LXXVI. Schiewek, wie Anm. 8, S. 902. Dazu ausführlich: Langer, wie Anm. 4, S.83ff. - Unter grundsätzlichem Aspekt Conrad Wiedemann: Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende zur Neuzeit. Heidelberg 1979. - Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit. Köln, Wien 1982 (Literatur und Leben, N. F. Bd. 22), S. 38ff. - Ingrid Schiewek: Beziehungen zwischen Arbeitsethos und Menschenbild in der Renaissance. In: Robert Weimann u. a. (Hg.): Renaissanceliteratur und frühbürgerliche Revolution. Berlin und Weimar 1976, S. 170-181. Ingeborg Spriewald: Bürgerliches Leistungsdenken und seine Ausprägung im Ent-

Bartholomäus Sastrows Selbstdarstellung

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möchte Sastrow seinen Kindern und Kindeskindern, aber auch allen anderen möglichen Lesern als Vermächtnis übermitteln, als Aufruf zur Nachahmung. Sastrow ist überzeugt davon, daß Gott denen zur Seite steht, die sich eines solchen Beistands durch ihr eigenes Tun und Lassen als würdig erweisen. Individualität definiert sich so gleichermaßen als die Wahrnehmung von Eigenverantwortung wie als Vertrauen auf Gott - zahlreiche entsprechende Aussagen ließen sich zur Stützung dieser Lesart heranziehen. Die nachfolgend zitierte soll als pars pro toto stehen. Nachdem Sastrow (im dritten Teil) die drückende materielle Not am Beginn seiner Ehe beschrieben hat, fährt er fort: »[...] sollich einen armen, trostlosen, traurigen Anfang hett es mit meinem Ehestande, gleichwoll hett unser Herr Gott mich jnn solchem Stande nunmehr 45 Jahr reichlich versorget, das ich, neben meinem und der Meinen Underhalt, vnnd Aussteuer meiner Kinder, wolliches ein Grosses ist [...] ein eigen Haus vnnd genuch darinn, vnnd so uiel auf Zinse haben, das ich [...] woll leben vnnd mit Grunde nunmehr 46 Jahr her täglich sagen können: Heut/bin ich reicher als ich gestern war, und doch keinen andern modum aquirendi rerum domina gebraucht, als meine Schreiberei [eine Bemerkung, mit der Sastrow freilich in mehrfacher Hinsicht untertreibt, wie seine Darstellung deutlich macht, La.], dafür jch vnnd meine Erben unserm Herr Gott nimmehr zuuallen (vollkommen, Mohnike) danken können.« (III, 16/17) Im Angesicht einer solchen gleichsam dualistisch strukturierten Lebensauffassung - Gott, der Herr, einerseits und der Mensch als sein weithin eigenverantwortliches Geschöpf andererseits - begriff Sastrow sein Schicksal als Ergebnis eines Gewordenseins, das nicht zuletzt Resultat einer »persönlichen Tatenfolge« 19 war und solcherart auch vor Augen geführt werden sollte. »Das Gluck (das er mit seiner Berufswahl getroffen hatte, La.) jst männichem in die Augen geschienen, in dem mein Exempell willen volgen, vnnd sich zur Schreiberei begeben, das Vordriesliche aber (so allewege vorher gehen mus), viell unschlaffende Nächte, arbeitsamer Tage, bisweilen Hunger vnnd Durst, furstende Sorge und Gefahr etc. hatt man geschewet, nicht ertragen wollen, jn der Gefahr bestecken geblieben, ja under hunderten kaum einer durchbrechen können.« (II : 66) Die in einem solchen Verständnis zum Ausdruck kommende Betrachtungsweise fußte neben der im engeren Wortsinne humanistischen insbesondere auf Luthers Mündigkeitserklärung des Menschen. Der Wille zur Nachzeichnung des unter dieser Voraussetzung durchaus als einmalig empfundenen eigenen Lebens im Zeichen göttlicher Gnade speiste sich (wiederum mutatis mutandis) zu einem bestimmten Teil zweifellos auch aus der Vorbildwirkung der in dieser

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wicklungsbild des Menschen. In dieselbe: Vom »Eulenspiegel« zum »Simplicissimus«. Zur Genesis des Realismus in den Anfängen der deutschen Prosaerzählung. Berlin 1978, S. 104-110. Schiewek, wie Anm. 8:1967, S. 906.

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Horst Langer

Zeit bekannt gewordenen Lebenserinnerungen Caesars, Augustins, Dantes und Petrarcas sowie aus vergleichbaren Versuchen im Bereich der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, in der sich - etwa im Falle Dürers, der beiden Holbeins und Cranachs - »die Tendenz manifestierte, nicht nur fremde, sondern auch die eigene Individualität im Porträt darzustellen.« 20 Gewiß spielte - wie oben per Zitat bereits hervorgehoben - eine nicht gering zu achtende, mit den vorstehend bezeichneten Zusammenhängen aufs engste verbundene Rolle die alles andere als der Hoffart verdächtige Absicht, von sich und dem eigenen Leben ein als exemplarisch verstandenes Bild zu hinterlassen, das den Nachfolgenden nicht nur Orientierung, sondern auch Zuspruch geben konnte. Auf solcherart fundierten Grundlagen fußend, unternahm Sastrow den Versuch einer quasi analytischen Betrachtung von ihm erlebter historischer Abläufe. Dabei kritisierte er aus dem Bewußtsein des Mitredenkönnens solche Chronisten, die - wie etwa Johann Berckmann (Bergmann) »den rechten Grund der Historien wenig anrurt haben, vnnd, was sie noch geschrieben, unordentlich durch einander geworfen, und vormischt [...], das man zu keinem rechten Vorstandt Historiam, vnnd wie die auf einmal folgen, kommen könne«. (Vorrede 1 : 7 ) . Sozusagen in Klammern bleibt anzumerken, daß die Einschätzung des Stralsunder Geschichtsschreibers Berckmann - Augustinermönch, sodann Prediger zu St. Marien und schließlich Seelsorger bei den Brigittiner Nonnen (über deren »sodomitisches Treiben« sich Sastrow außerordentlich kritisch äußerte, vgl. I, XIII: 52) - zu einseitig abgewertet wird. Immerhin hat Sastrow selbst die Arbeit Berckmanns, der - wie etwa auch Wessel - Augenzeuge des Reformationsgeschehens war, viel benutzt. 21 Sastrow gelang in der umrissenen Hinsicht gegenüber vielen anderen vergleichbaren zeitgenössischen Arbeiten - z . B . auch Selbstreflexionen von Adligen wie Götz von Berlichingen, Sebastian Schertlin von Burtenbach, Hans von Schweinichen oder von Stadtbürgern wie Albrecht Dürer, Johannes Keßler, Thomas Platter und anderen - über weite Strecken eine so zuvor kaum einmal erreichte »kausallogische und sachimmanent orientierte Darlegung des Stoffes«. 22 Allerdings blieb seine Selbstdarstellung durchaus nicht frei von Zügen einer tradierten Mustern verpflichteten, auf dem Prinzip zum Beispiel der Exempelliteratur basierenden Reihungsstruktur. Sie sollte der Korrektur als fragwürdig empfundener Urteile selbst renom20 21

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Gernentz, wie Anm. 6, S. 412. Vgl. dazu: Mohnike, wie Anm. 1, S. LXIIIff. - Johann Berckmanns Stralsundische Chronik und die noch vorhandenen Auszüge aus alten verloren gegangenen Stralsundischen Chroniken [ . . . ] Hrsg. von Gottlieb Christian Friedrich Mohnike und Ernst Heinrich Zober (Stralsundische Chroniken, Theil 1). Stralsund 1833. Robert Weimann: Autobiographie. Die neue Instanz des tätigen Individuums. In: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hrsg. von demselben. Berlin und Weimar 1977, S. 230.

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Selbstdarstellung

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mierter Autoren dienen. Doch war sie zugleich Ausdruck einer Unentschiedenheit, die der noch tastenden Suche nach einer den verhandelten Gegenständen angemessenen Darbietungsperspektive entsprach. Gleichwohl erbrachte die Region mit der Selbstdarstellung Sastrows in theoretisch-konzeptioneller, kompositorischer und nicht zuletzt auch sprachlicher Hinsicht einen bemerkenswerten Beitrag zur Entwicklung der Gattung und der erzählenden Literatur überhaupt. Daß diese Leistung einem Mann zu verdanken ist, dessen Geschäfte ein Leben lang zwar mit dem geschriebenen, nicht aber mit dem literarisch geformten Wort verbunden waren, nötigt umso größeren Respekt ab.

Achim

Aurnhammer

Andreas Hiltebrand - ein pommerscher Dichterarzt zwischen Späthumanismus und Frühbarock

Über Andreas Hiltebrand geben die frühen Gelehrtenlexika nur spärlich und noch dazu fehlerhaft Auskunft: HILDEBRAND, Andreas, ein Doctor Medicinä von Stettin, war bey dem gräflich-stollbergischen Hofe Leib-Medicus, practicirte hernach in seinem Vaterlande, schrieb »Diarium pomeranicum«; die »Genealogie« der Hertzoge von Pommern; »epistolas medicas« [ . . . ] , welche Greg. Horstii »observationibus medicinalibus« einverleibet worden; übersetzte auch des Evangelistce Quatramni »Tract, de peste« aus dem Italienischen ins Lateinische, und starb 1637.1

Diese Notiz bei Jöcher, die als exemplarisch gelten kann, führt unter den medizinischen Schriften neben der Übersetzung eines Pesttraktats lediglich sechs Beiträge aus einem Sammelwerk an, ohne die selbständigen Publikationen zu nennen, von der bedeutenden historisch-genealogischen Produktion kommen nur zwei Titel zur Sprache, und das beachtliche poetische Werk Hiltebrands übergeht der Eintrag ganz. Kaum ausführlicher und zuverlässiger sind die Angaben bei Zedier oder in Vanselows aufklärerischem pommerschen Gelehrtenlexikon. 2 Die modernen wissenschaftlichen Nachschlagewerke, di& Allgemeine Deutsche Biographie und die Neue Deutsche Biographie verzeichnen Hiltebrand überhaupt nicht mehr; und in den großen literaturgeschichtlichen Lexika unserer Zeit (Kosch, Killy) kommt der pommersche Dichterarzt ebensowenig vor wie in medizingeschichtlichen Handbüchern. 3 Daß Andreas Hiltebrand so sehr in Vergessenheit geraten ist, beruht vor allem auf unzulänglicher Kenntnis seines literarischen Werks. So ist kaum bekannt, daß Hiltebrand der erste Übersetzer Torquato Tassos im deutschsprachigen Raum war; die knappen Hinweise von Holstein und Bethke 1

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Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Bd. 2. Leipzig 1750, Sp. 1598. Vgl. Johann Heinrich Zedier: Großes vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 13. Leipzig 1735, s.v. Hiltebrandt, und Amandus Carolus Vanselow: Gelehrtes Pommern. 1728, s.v. Hiltebrandt, die sich weitgehend mit Jöchers Eintrag decken. Hiltebrand taucht weder in den großen medizingeschichtlichen Lexika (z.B. Haberling, Hubolter, Vierordt) noch in den einschlägigen regionalspezifischen Überblickswerken zur pommerschen Literatur- (z.B. Raeck) und Medizingeschichte auf; [Martin] Bethe: Pommerns älteste Ärzte (bis 1600). In: Mitteilungen des Roland 17 (1932), S. 25f., kommt allerdings wegen der zeitlichen Grenze nicht in Betracht.

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blieben in der Forschung unbeachtet. 4 Zudem fehlen die Grundlagen für eine angemessene literarhistorische Bewertung: nicht nur Hiltebrands Leben liegt im dunkeln, lückenhaft ist auch unser Wissen über den geschichtlichen Hintergrund seiner Biographie: die kulturelle Blütezeit in Pommern unter dem gebildeten Herzog Philipp II. Dessen Tod im Jahre 1618 fällt geradezu symptomatisch mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges zusammen, der für Pommern so verheerende Auswirkungen hatte. 5 Die moderne Vernachlässigung Hiltebrands steht in einem krassen Gegensatz zu seiner historischen Bedeutung. Als Repräsentant der gebildeten städtischen Führungsschicht in Stettin genoß Hiltebrand hohes Ansehen beim Herzogshaus und bei der pommerschen Bildungselite, darüber hinaus unterhielt er als medizinische Koryphäe und humanistischer Gelehrter weitverzweigte auswärtige Kontakte zu bedeutenden medizinischen Fachkollegen, gelehrten Humanisten und Potentaten. Im folgenden soll - auf der Grundlage erstmals gesicherter biographischer und bibliographischer Daten - die literarhistorische Bedeutung des Dichterarztes Andreas Hiltebrand vor dem Hintergrund der kulturellen Entwicklung Pommerns zu Beginn des 17. Jahrhunderts erörtert werden. Zu diesem Zweck werden Bildungsgang, Werk und Korrespondenz Hiltebrands nicht nur beschrieben, sondern in ihrer geschichtlichen Repräsentativität erfaßt. 6 Es gilt festzustellen, inwieweit Leben und Werk Hiltebrands dem typischen Funktionswandel des Gelehrten in Deutschland zwischen Späthumanismus und Frühbarock entsprechen. Dieser methodische Ansatz gestattet es vielleicht auch, den regionalhistorischen Faktor in Hiltebrands Werk zu bestimmen, nämlich die spezifischen Auswirkungen des pommerschen Milieus zu ermitteln, in dem Hiltebrand aufwuchs und in dem 4

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Hugo Holstein: Zu Tassos Amynt. In: Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte 4 (1891), S. 508-510, wie Wilhelm Bethke: Die dramatische Dichtung Pommerns im 16. und 17. Jahrhundert, (Diss. Berlin 1937) Stettin 1938, bes. S. 83, kennen freilich nur die Editio princeps aus dem Jahre 1616 von Hiltebrands Aminta-Übersetzung und bleiben auch in literarhistorischer Hinsicht ergänzungsbedürftig. Die Verballhornungen, die Hiltebrands Übersetzung in der italienischen Tasso-Forschung erfuhr, sind in Anbetracht der schlechten germanistischen Forschungslage durchaus entschuldbar. Leider fehlt eine fundierte kulturgeschichtliche Abhandlung über die Anfänge eines modernen Staatswesens in Pommern zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die M[artin] Wehrmann: Geschichte von Pommern. Bd. 2. Gotha 1921, bes. S.103ff., ergänzen könnte. Verlohnte doch gerade die absolutistische Neuorganisation des Stettiner Landesteils unter Herzog Philipp II. (seit 1606) eine eigene Untersuchung, die bei Martin Spahn: Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte des Herzogtums Pommern von 1478 bis 1625. Leipzig 1896 (Staats- und socialwissenschaftl. Forschungen, 14, 1), anzuknüpfen hätte. Noch nicht überholt ist der knapp informierende Artikel von [K. Th.] Pyl: Philipp II., Herzog von Pommern-Stettin. In: A D B 26 (1888), S. 34-36. Von der kulturellen Blüte der Residenzstadt Stettin vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges vermittelt das Reisetagebuch des Kunstagenten Philipp Hainhofer aus dem Jahre 1617 einen Eindruck. Hiltebrands Werke und Briefe sind im Anhang ausführlich verzeichnet.

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er dreißig Jahre lang, von 1607 bis 1637, als Mediziner und Literat wirkte. Die biographischen Kenntnisse, die eine solche Studie voraussetzt, verdanken wir dem ausführlichen Leichenprogramm von Martin Leuschner, Rektor des herzoglichen Gymnasiums zu Stettin. Ein gedrucktes Exemplar dieser Rede ist leider nicht mehr nachzuweisen. 7 Doch findet sich eine zeitgenössische Abschrift in der Sammlung Vitae Pomeranorum der Universität Greifswald. 8 Es handelt sich um ein vierzehnseitiges lateinisches Manuskript, dessen letzte vier Seiten leider mit erheblicher Texteinbuße beschädigt sind. Die fehlenden Stellen lassen sich aber mit Hilfe einer angehängten Abschrift (VP 18, Bl. 48r—49v) sowie eines autobiographischen Briefes Hiltebrands an Johann Peter Lotichius ergänzen. 9 Um das Wirken Hiltebrands in seinem soziokulturellen Umfeld zu situieren, bedurfte es eines kontextbezogenen Quellenstudiums. 29 selbständige Einzeldrucke - Neu- und Titelauflagen mitgerechnet - konnte ich bislang ermitteln. Sie dokumentieren in ihren Vorreden, Widmungen und Lobgedichten Hiltebrands hohes Ansehen in der Gelehrtenrepublik. Auch Stammbucheinträge (zwei konnte ich nachweisen), Werke, die Hiltebrand gewidmet wurden (vier an der Zahl), und Drucke, denen Hiltebrand ein Geleitgedicht mit auf den Weg gegeben hat (sieben stehen zu Buche), tragen dazu bei, Hiltebrands Bedeutung und Einfluß in der pommerschen Gesellschaft zu rekonstruieren. Aufschlußreich für die soziale Stellung Hiltebrands ist schließlich die verstreut überlieferte Korrespondenz: von und an Hiltebrand sind bislang 13 ungedruckte Briefe, teils Abschriften, teils eigenhändige Manuskripte, und 17 gedruckte Briefe nachgewiesen. Auf der Gesamtheit dieses Quellenmaterials basieren der nachfolgende Versuch einer >intellektuellen Biographies die anschließende literarhistorische Würdigung Hiltebrands und dessen abschließende Einordnung in das soziokulturelle Milieu Pommerns im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts.

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Das Exemplar in der Stadtbücherei Stettin, das Bethke, wie Anm. 4, S. 83, erwähnt, ist nach freundlicher Auskunft des Bibliotheksdirektors St. Krzywicki nicht mehr aufzufinden. Auch blieben sämtliche diesbezügliche Anfragen bei polnischen und norddeutschen Bibliotheken erfolglos. Vgl. Edmund Lange: Die Greifswalder Sammlung »Vitae Pomeranorum«. Greifswald 1898 (Baltische Studien, 1. Folge, Erg.-Bd.), S. 148 s. v. Hildebrand(t), Hiltebrand(t), Nr. 2. Martin Leuschners Leichenprogramm findet sich in Vitae Pomeranorum. Bd. 18, Bl. 43 r -47b v [darauf beziehen sich die mit der Sigle VP versehenen Seitenzahlen im Text], Andreas Hiltebrand an Johann Peter Lotichius. Stettin, 22. August 1628. MS (lat.) St.und U B Hamburg, Cod. Sup. ep. 34, Bl. 70 v -73 r . Die weitgehenden textlichen Übereinstimmungen zwischen den autobiographischen Passagen dieses Briefes und Leuschners Leichenprogramm lassen darauf schließen, daß dessen Rede auf einer autobiographischen Skizze Hiltebrands beruht und verbürgen somit den hohen Wahrheitsgehalt des Programms.

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1. Hiltebrands Leben und Bildungsgang Andreas Hiltebrand wurde am 25. November 1581 in Stettin geboren. Er stammt sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits aus der städtischen Führungsschicht Pommerns. Sein Vater Andreas, Senator der Stadt Stettin, war wie sein Großvater Jodocus Hofapotheker. 10 Auch die Vorfahren der mütterlichen Linie, die Familien Werdermann (Werdenmann) und Hademar (Hademer), standen an der Spitze der Stettiner Bürgerschaft, der Großvater Ambrosius Hademar, promovierter Jurist, war sogar Bürgermeister von Stettin. 11 Seiner sozialen Herkunft gemäß war Andreas Hiltebrand zum Arzt bestimmt. Zunächst besuchte er die städtische Ratsschule unter Valentin Lolleius, zusätzlich erhielt er häuslichen Privatunterricht. Um 1600 bezog er die protestantische Universität Wittenberg, 12 wo er auf Empfehlung seines Taufpaten Johannes Rungius im Hause des Theologie-Professors David Rungius verkehrte (VP 18, B1.45v). Es folgte ein zweijähriges Studium der Philosophie und der Anfangsgründe der Medizin an der Universität Leipzig.13 Wohl aus Anlaß der Magisterpromotion veröffentlichte Hiltebrand ein Sendschreiben über die Vorteile des Landlebens (Oratio agriculturae et agricolarum, 1602), das er dem pommerschen Landrat Caspar von Eichstedt, einem dem Herzogshaus eng verbundenen Mann, widmet, den er als »Literarum, Literatorumque Fautorem« und persönlichen »Mecoenatem suum colendissimum« apostrophiert. Hiltebrands Rede zeugt von solider klassischer Bildung, vor allem Verse von Virgil und Horaz verbürgen als anerkannte Autoritäten das glückliche Landleben. Daß aber in den antiken Positionen durchaus zeitgemäße Fragen behandelt werden, zeigt nicht zuletzt die dezidierte Hofund Höflingskritik, in der Hiltebrand aus dem zeitgenössischen Speculum vitae aulicae, der protestantischen Hofsatire Hartmann Schoppers, zitiert. So läßt bereits der jugendliche Bürgersohn Hiltebrand eine ambivalente Haltung zur höfischen Gesellschaft erkennen, wie sie für den Gelehrten um 1600 typisch ist: einerseits hofft er auf fürstliche Förderung der Wis10

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Genealogische Daten zur Familie Hiltebrands bei Kurt Winckelsesser: Stettiner Ratsgeschlechter. Ergänzungen zur Alten und Neuen Folge. In: Sedina-Archiv N.F. 3 (1968), Nr. 5, S. 113f„ hier 113. Vgl. Max Bruhn: Bürgermeister Pommerns in 700 Jahren. Hamburg und Lübeck 1981-1984 (Sedina-Archiv), S. 35. Hiltebrands Name erscheint bereits - von Leuschner nicht erwähnt - im Jahre 1593 (non iuravit) in der Matrikel der Universität Frankfurt/Oder; vgl. Ernst Friedländer: Ältere Universitätsmatrikeln: I. Universität Frankfurt a.O. Bd. 1: 1506-1648, Leipzig 1887 (Publicationen aus den K. Preuß. Staatsarchiven, 32], S. 379. Auch die Wittenberger Immatrikulation (1600) ist nachgewiesen; vgl. Album Academiae Vitebergensis. Bd. 2 (1502-1602), Halle 1894, S. 472. Hiltebrand immatrikulierte sich im Jahre 1601 an der Universität Leipzig; vgl. Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559-1809. Hg. von Georg Erler. Bd. 1. Leipzig 1909, S. 188.

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senschaften, andererseits kritisiert er höfliche Verstellung von der Warte des protestantischen Humanisten. Nach der Magisterpromotion trat Hiltebrand - wie üblich - die sogenannte Peregrinatio academica an. Sie verbesserte gerade für Mediziner und Juristen die sozialen Aufstiegschancen erheblich. Hiltebrands Studienreise ist allerdings vergleichsweise ausgiebig und weiträumig. 14 Im Jahre 1603 reiste Hiltebrand über die Hansestädte nach Holland, um in Leiden Medizin zu studieren. 15 Leiden, das intellektuelle Zentrum der »niederländischen Bewegung«, 16 öffnete sich der modernen Empirie in den Naturwissenschaften in starkem Maße und galt besonders in den medizinischen Studien als vorbildliche Alma mater.17 Hiltebrand knüpfte freundschaftliche Kontakte mit den führenden Vertretern der Reformuniversität Leiden, mit Joseph Scaliger, Daniel Heinsius und Dominicus Baudius, und studierte bei den berühmten Anatomen Petrus Pavius, Aelius Everhard Vorst und Otto Heurnius (VP 18, Bl. 46r). Er nahm an Sektionen teil und disputierte. Zwei gedruckte Leidener Disputationen (De Phlebotomia et Arteriotomia [1603], De Crisibus et Diebus Decretoriis [1605]), die Hiltebrand unter dem Vorsitz von Pavius bestritt, verdienen weniger aufgrund ihrer Thesen Beachtung; denn trotz vereinzeltem Rekurs auf moderne Autoritäten wie Fracastoro und Andreas Laurentius stellen sie vorwiegend klassische Lehrmeinungen eines Galen und Hippokrates zur Diskussion. Interessanter sind sie als Zeugnisse der starken landsmannschaftlichen Verbundenheit Hiltebrands, die in den Gratulationsgedichten und Widmungen zum Ausdruck kommt. So enthalten beide Disputationsdrucke lateinische Lobgedichte norddeutscher Kommilitonen. Und der Rostocker Medizinstudent Matthäus Bacmeister, später selbst ein berühmter Mediziner, preist in seinem Lob die gemeinsame pommersche Heimat, die sich solch großer Geister rühmen könne: Tum natale solum exsultat POMERANIA felix, Doctrinä egregiis tot decorata viris.18 14

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Vgl. dazu Jörg Jochen Berns: Peregrinatio academica und Kavalierstour. Bildungsreisenjunger Deutscher in der Frühen Neuzeit. In: Rom-Paris-London: Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Hg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988 (Germanistische Symposien-Berichtsbde., 8), S. 155-181. Zu Hiltebrands Immatrikulation in Leiden als stud. med. im Jahre 1603 vgl. Album studiosorum Academiae Lugduno-Batavae 1575-1875. Hg. von Guillaume du Rieu. D e n Haag 1875, S. 70. Über die »Niederländische Bewegung« und ihre deutsche Rezeption unterrichtet gültig Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1969. Vgl. Leiden University in the Seventeenth Century. An Exchange of Learning. Hg. von Th. H. Lunsingh Scheurleer und G. Η. M. Posthumus Meyjes. Leiden 1975. Vgl. Matthaeus Bacmeister: Dn. Andreas Hiltebrando, De Phlebotomia et Arteriotomia public^ in almä Lugduno-Batavä Academiä cum omnium applausu disserenti

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Seine Disputation über das operative Öffnen von Arterien und Venen hat Hiltebrand dem jungen Herzog Philipp dediziert, seine zweite Disputation ist führenden Vertretern der pommerschen Staatsverwaltung und Mitgliedern der eigenen Familie zugeeignet: dem Kanzler und Geheimen Rat Martin Chemnitz und dem Landrat Caspar von Eichstedt gesellt Hiltebrand den Großvater Ambrosius Hademar und seinen Vater als weitere Adressaten hinzu. Auch die im Jahre 1606 folgende England- und Frankreich-Reise Hiltebrands ist keine Kavalierstour, sondern gehört zum medizinischen Bildungsgang. In Paris machte Hiltebrand die Bekanntschaft des Leibarztes König Heinrichs IV., Andreas Laurentius, den er bereits in seinen Leidener Disputationen traktiert hatte, und lernte die Ärzte Joseph Duchesne, Johannes Riolan und Simon Petraeus kennen. Darüber hinaus eignete sich Hiltebrand die französische Sprache an (VP 18, B1.46 v ). Die klassische Italienreise mit den üblichen Stationen schließt sich an: durch Savoyen und Piemont reiste Hiltebrand über die oberitalienischen Städte nach Florenz, Rom, Venedig und Padua, wo er sich immatrikulierte, 19 mit Italienisch die zweite moderne Fremdsprache erlernte und bei großen Koryphäen Medizin studierte: Hercules de Saxonia, Hieronymus Fabricius ab Aquapendente, Prosperus Alpinus, Eustachius Rudius, Thomas Minadous, Francesco Campana und Julius Casserius (VP 18, Bl. 46 v -47 r ). Zwar verlieh die Universität Padua auch Protestanten akademische Grade, doch Hiltebrand verließ Italien im Jahre 1607 und reiste durch Tirol an den schweizerischen Oberrhein, um sich in Basel zu immatrikulieren. Dort wurde er nach einer öffentlichen Disputation De Apoplexia am 26. März 1607 zum Doktor der Medizin promoviert. 20 In Prognostik, Theorie und Therapie des Schlaganfalls erweist sich Hiltebrands Schrift deutlich der Empirie und den zeitgenössischen Autoritäten verpflichtet. Auch stehen Fragen einer medikamentösen Behandlung mit konkreten Rezepten im Vordergrund - vielleicht eine Folge der pharmazeutischen Familientradition. Dieses Interesse für Medikamente teilte Hiltebrand mit dem berühmten Caspar Bauhin, seinem medizinischen Lehrer in Basel, mit dem Hiltebrand zeitlebens brieflich in Verbindung blieb. Eine Rheinreise (Straßburg, Speyer, Heidelberg) brachte Hiltebrand dann über Leipzig nach Stettin zurück (VP 18, Bl. 47 r ). Das Angebot, eine leitende Tätigkeit am märkischen Gymnasium Joachimsthal auszuüben,

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gratulor. In: Α. H.: Disputatio medica de Phlebotomia et Arteriotomia (Bibl.-Nr. 2), Bl. A 5 V -A 6V, hier A 6V (V. 51f.). Hiltebrands Aufenthalt an der Universität Padua im Jahre 1606 ist in den Akten der Deutschen Nation festgehalten; vgl. Atti della Nazione Germanica Artista nello Studio di Padova. Hg. von Antonio Favaro. Bd. 2. Venedig 1912, S. 260,265,267. Immatrikulation und Promotion sind in den Matrikeln der Universität Basel bezeugt; vgl. Die Matrikel der Universität Basel. Hg. von Hans Georg Wackernagel. Bd. 3 [1601/02-1665/66]. Basel 1962, S. 70.

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zerschlug sich, weil der Brandenburger Kurfürst Joachim Friedrich plötzlich starb. Doch vielleicht wurde Hiltebrand infolge dieser Verbindung zum Hause Brandenburg an den Hof der pommerschen Herzoginwitwe Erdmute, einer Brandenburgerin (Witwe des Herzogs Johann Friedrich VIII.), nach Stolp bei Stettin gerufen - seit 1600 dienten Schloß und Amt Stolp als Witwensitz der pommerschen Herzöge. 21 Dort wirkte Hiltebrand für fast fünf Jahre als Fürstlich Stolpischer Leibmedicus (VP 18, Bl. AT) (nicht etwa - wie bei Jöcher oder Vanselow zu lesen - als »gräflich stollbergischer Leibarzt«). Im Gefolge Erdmutes nahm Hiltebrand an diversen Hoffeiern (Exequien, Hochzeit) in Berlin und Dresden teil und verfaßte auch Gelegenheitsgedichte. Im Jahre 1613 bat Hiltebrand um Entlassung aus seinen Diensten und übersiedelte ins heimatliche Stettin, wo er bis zu seinem Lebensende als praktischer Arzt tätig war. Weder Leuschners Rede noch Hiltebrands Korrespondenz erklären diesen Schritt. Doch wollte sich Hiltebrand wohl stärker seinen medizinischen, historischen und poetischen Interessen widmen. So übersetzte der Arzt in den Mußestunden den modernen italienischen Pesttraktat des Evangelista Quattrami de Agubio (1618)22 - Jöcher erwähnt ihn - und den Aminta (1616), das berühmte Pastorale von Torquato Tasso, ins Lateinische. Die Geleitgedichte, die die bibliographisch bisher kaum erfaßte zweite Auflage (Frankfurt/M., Aubry und Schleich 1624) der Aminta-Version enthält, zeugen von der allgemeinen Reputation, die Hiltebrand in der deutschen Gelehrtenrepublik genoß. Zu seinen Lobrednern zählen nicht nur prominente pommersche Gelehrte wie der herzogliche Rat Jurga Valentin Winther oder die Mediziner Herlitz und Bacmeister, sondern auch auswärtige Gelehrte wie der bedeutende Nürnberger Patrizier Georg Rem und der Leipziger Medizinprofessor Johann Siglicius. Seine standesgemäße Heirat mit der Juristentochter Regina Eger, Enkelin des berühmten Arztes Caspar Peucer und Urenkelin Melanchthons, wie er seinen Brieffreunden gegenüber selbst betont, stärkte Hiltebrands beachtliche Stellung in der städtischen Führungsschicht Stettins. Von den sieben Kindern aus dieser Ehe überlebten nur der erstgeborene Sohn, Jodocus Andreas (geb. 1617, gest. 1679), später Advokat am Schwedischen Hofgericht, 23 und eine Tochter. 21

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Vgl. W. Kuschfeldt: Herzogthum zur Stolpe. 650 Jahre deutsche Rechts- und Hansestadt Stolp in Pommern, 1310-1960. Lübeck 1960, S. 20. Hiltebrands Übersetzung eines volkssprachlichen Pesttraktats ins Lateinische stellt keinen Sonderfall dar. So übersetzte etwa Hiltebrands Freund und Medizinerkollege Gregor Horstius einen Tractatus de Peste (»primum gallicfe conscriptus«) von Angelo Sala ins Lateinische (Opera medica. 3. Aufl. Hg. von D. Horstius. Nürnberg 1660. Bd. 3, S. 229-253). Überhaupt erfolgte die übersetzerische Aneignung der volkssprachlichen Fachliteratur Italiens in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert zu einem erheblichen Teil in lateinischer Sprache. Vgl. sein Leichenprogramm von Cunradus Tiburtius Rango: Christliche Leich-Predigt

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Hiltebrand übernahm zwar keine kommunalen oder politischen Ämter in der Stettiner Bürgerschaft, doch war er federführend an Winthers ausgreifender historisch-geographischer Erfassung Pommerns beteiligt, die Herzog Philipp II. 1613 in Auftrag gegeben hatte. Als Kenner der historischen Genealogie gehörte er zu den wichtigsten Mitarbeitern dieses für den Frühabsolutismus in Pommern typischen Projekts. 24 Nach dem Tod Herzogs Philipp II. und dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges blieb Hiltebrand seiner patriotisch-protestantischen Gesinnung treu. Aus seiner politischen Parteinahme gegen die kaiserlichen Truppen, die Pommern in den zwanziger Jahren bedrückten, machte er in seinen Briefen kein Hehl. Er wurde zu einem Verehrer des schwedischen Königs Gustav II. Adolf und suchte durch seine genealogische Forschung die Herrschafts- und Legitimationsansprüche des pommerschen Herzogshauses und der schwedischen Krone weiter zu unterstützen. Diese Auftragsarbeiten, die Hiltebrand nur mühsam mit seiner ärztlichen Praxis vereinbaren konnte, wie er in Briefen immer wieder klagt, brachten ihm großen Ruhm ein: Gustav Adolf verehrte ihm persönlich ein Bildnismedaillon, die mehrfach aufgelegte Genealogia der Königen in Schweden wurde sogar ins Englische übersetzt. Die schwedische Vorherrschaft, unter die Pommern nach 1630 geriet, wurde von der gebildeten Führungsschicht, zu deren prominenten Vertretern Hiltebrand gehörte, offen begrüßt. Als im Jahre 1633 Martin Leuschner, der Rektor des herzoglichen Gymnasiums in Stettin, diese politische Entwicklung in einem allegorischen Schultheater, der Panegyris Oratoria, feierte, trug die Stettiner Bildungselite, unter ihnen auch Hiltebrand, Lobgedichte auf den gefallenen >Löwen aus Mitternacht< bei. 25 Die enge Verbundenheit zwischen Hiltebrand und dem Herzoglichen Gymnasium findet ihren Ausdruck darin, daß ihm Stettiner Disputationen und Lehrbücher (M. Bambamius) gewidmet werden. Hiltebrand pflegte aber auch weiterhin die medizinische Heilkunde: er tauschte mit auswärtigen Kollegen Erfahrungen aus und veröffentlichte Gutachten, wie sein Urteil über Natur und Wirkung des Kautschuk, des

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[ . . . ] Bey dem Ansehnlichen Christlichen Leich-Begängniß Des Weiland Edlen/GroßAchtbahren/Wolgelahrten und Wolweisen Herrn Jodoci Andreae Hiltebrandts. Stettin (M. Höpfners Witwe) 1679. Eine knappe historische Einordnung des Projekts der Pomeraniographia gibt Josef Deutsch: Pommersche Geschichtsschreibung bis zum Dreißigjährigen Krieg. In: Pommersche Jahrbücher 23 (1926), S. 1-36, hier 31f. A. Hiltebrand: »O tuaquammiseraest facies, GERMANIA!«. In: Martin Leuschner: Panegyris Oratoria. Stettin (D. Rhete) 1633, Bl. A 7 r f., beklagt in einer ersten Apostrophe das Leiden Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg (V. 1-10), preist dann in einer zweiten Apostrophe Leuschner wegen dessen dramatischer Inszenierung des Kriegsgeschehens und Verherrlichung des heldenhaften König Gustav II. Adolph (11-20) und drückt im dritten Teil in Form eines Gebets die Hoffnung aus, daß der schwedische Thronfolger Frieden und Frömmigkeit wiederherstellen möge (V. 21-26, hier 25f.: » [ . . . ] et omni | Aurea florebit Pax Pietasque loco«).

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sogenannten Gummi Gotta. Im Jahre 1631 stellte er auf einer Versammlung pommerscher Ärzte mehrere Medikamente vor, die sein Bruder Wilhelm, Apotheker, zubereitete. Der gedruckte Vortrag enthält eine Vielzahl von Geleitgedichten, die den humanistischen Primat der Antike aufgeben und den wissenschaftlich-kulturellen Fortschritt der modernen Neuzeit in Deutschland inaugurieren. Als Wortführer dieser frühbarocken Position erscheint der Danziger Opitzianer Michael Albinus, einziger Nicht-Pommer unter den zwölf prominenten Gratulanten: sein Lobgedicht über den Fortschritt der Künste und Wissenschaften in Deutschland sticht nicht nur wegen der Länge, immerhin 156 Alexandriner, sondern mehr noch dadurch ab, daß es als einziges der Lobgedichte in deutscher Sprache verfaßt ist. 26 Hiltebrand selbst hatte sich bereits im Jahre 1624 in deutschsprachigem Dichten - freilich ohne Kenntnis der Opitzischen Regeln - versucht. Sein letztes poetisches Werk, die Epigrammatum Centuria, eine Hundertschaft geistlicher Disticha, erschien wieder in lateinischer Sprache. In vielen dieser epigrammatischen Zweizeiler werden höfisch-politische Themen christlichhumanistisch gedeutet. Darin zeigt sich noch einmal der Zwiespalt des Dichterarztes zwischen Späthumanismus und Frühbarock. Hiltebrand starb mit 55 Jahren am 13. Februar 1637, am 22. Februar begrub man ihn in der Stettiner Jakobskirche. 27

2. Literarhistorische Würdigung Aus der milieubezogenen Darstellung von Leben und Werk wird deutlich, daß Hiltebrand in vieler Hinsicht dem Gelehrtentyp des deutschen Späthumanismus entspricht. Zu den Kriterien, die den späthumanistischen Gelehrtenstand als Gruppe und Führungsschicht gesellschaftlich abgrenzen, rechnet Erich Trunz bekanntlich Universitätsstudium mit akademischem Grad, akademische Bildungsreise, lateinische Gelehrsamkeit mit Kenntnis der klassischen Autoren sowie standesspezifische Kommunikationsformen, die dem humanistischen Freundschaftsideal verpflichtet sind (Korrespondenzen, Stammbucheinträge, Widmungen etc.). 28 Diese Merkmale erfüllt An26

27

28

Michael Albinus: »Wer sind doch nur die L e u t . . . « . In: A. Hiltebrand: Oratiuncula. Stettin (N. Barthold) 1631, D 2 r - D 4V. Bibliographisch erfaßt und knapp gewürdigt ist dieses programmatische Geleitgedicht bereits in der vorzüglichen Monographie von Dick van Stekelenburg: Michael Albinus >Dantiscanus< (1610-1653). Eine Fallstudie zum Danziger Literaturbarock. Amsterdam 1988 (Amsterdamer Publ. zur Sprache und Literatur, 74), S. 285f. Selbst Hiltebrands Todesdatum war bisher nicht bekannt oder unrichtig überliefert; so gibt Winckelsesser, wie Anm. 10, S. 113, den 3. Februar 1637 als Sterbetag an. Vgl. Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur [zuerst 1932], In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hg. von Richard Alewyn. Köln und Berlin 31968 (Neue Wiss. Bibliothek, 7), S. 147-181. Der von Trunz seinerzeit skizzierte Funktionswandel der Gelehrtenschicht ist mittlerweile gut

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dreas Hiltebrand im wesentlichen. Der bürgerlichen Führungsschicht entstammend, gehörte er aufgrund seines Studiums an bedeutenden deutschen wie ausländischen Universitäten, seiner ausgedehnten Bildungsreise und der gesellschaftlich renommierten Promotion zum Doktor der Medizin zur Res publica litteraria der pommerschen Residenzstadt Stettin. Dabei handelt es sich um einen überschaubaren Kreis von vielleicht 20 bis 30 Personen, deren Namen - sei es als Empfänger oder Verfasser - in Widmungen und Geleitgedichten der Stettiner Drucke aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts immer wiederkehren. Zu diesem ratsfähigen >Zitierkartell< gehören die Theologen Daniel Cramer, David Reutz und Johann Crüger, die Juristen Paul Friedeborn, Martin Chemnitz und Jurga Valentin Winther, die Ärzte Lorenz Eichstedt und Andreas Hiltebrand selbst, sowie die Rektoren und Professoren am Herzoglichen Gymnasium Joachim Praetorius, Johannes Micraelius und Martin Leuschner. Auch in seinem ambivalenten Verhältnis zum Hof erweist sich Hiltebrand als Humanist. Bereits in seiner Erstlingsschrift verurteilt er den Höfling und preist den glücklich, der dem Hofleben entsagt. Als er dem Nürnberger Patrizier Georg Rem von einem Volksaufstand gegen die fürstliche Verwaltung in Stettin berichtet, sympathisiert er mit der republikanischen Herrschaftsform. 29 Immerhin schied Hiltebrand aus dem Amt eines fürstlichen Leibmedicus freiwillig aus. Doch schon durch seine Teilnahme an der von Herzog Philipp II. verordneten historisch-geographischen Beschreibung Pommerns und erst recht mit seinen genealogischen Auftragsarbeiten für das pommersche Fürstenhaus wie für die schwedische Krone gerät Hiltebrand in die Maschinerie des frühmodernen Machtstaates. Dazu paßt die betont neustoizistische Weltanschauung, die Leuschner in Hiltebrands Denken hervorhebt, und zu der sich dieser auch in seinen Briefen immer wieder bekennt. So zitiert er mehrfach, etwa wenn er zu Gleichmut bei Trauer wie Glück mahnt, Justus Lipsius, demzufolge >selbst dem größten Gut immer etwas Trauer beigemischt istGoldenen Frieden< in der Freien Reichsstadt Nürnberg beglückwünscht: »Tandem etiam de Aurea vestra pace qua fruimini vobis gratulor«. So dämpft Hiltebrand die Freude über seine Heirat mit einer Devise des Justus Lipsius: »in hac mortali vita nullum tam optabile bonum quod non mixtum sit poculo aliquo maerorum, publica ea et aeterna Lex, inquit Lipsius, cui qui repugnat improbus est et refractarius« (Brief an Georg Rem vom 12. Dezember 1616. Ebd., Bl. 160v). Andrer-

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Hiltebrand huldigte - vor allem in seinen Studienjahren - einem ausgeprägten amicitia-Ideal, wie exemplarisch seine emphatische Freundschaftserklärung ins Stammbuch seines Paduaner Kommilitonen Heil aus Danzig bezeugt. 31 Auch sein Büchergeschenk an die Bibliothek der deutschen Nation in Padua - darunter die italienische Novellensammlung II Pecorone stellt Hiltebrands patriotisch-humanistisches Gemeinschaftsgefühl unter Beweis. 32 Noch die Tasso-Übersetzung aus dem Jahre 1616 beschwört mit ihrer überschwenglich-sentimentalen Widmung an die Triga amicorum einen studentischen Freundschaftsbund und den gemeinsamen ItalienischUnterricht in Padua. Zu auswärtigen Gelehrten unterhielt Hiltebrand zeitlebens freundschaftliche Verbindungen, die er durch Widmungen und Geleitgedichte zu festigen suchte. Auch beteiligte sich Hiltebrand am humanistischen Briefkult. So korrespondierte er mit den Medizinern Caspar Bauhin, Gregor Horstius, Johann Peter Lotichius und Matthias Untzer, aber auch mit Juristen und Philologen wie Georg Remus, Georg Mauritius und Lorenz Ohm. Von einem deutschen Brief an den Braunschweiger Herzog August abgesehen, führte Hiltebrand seine gelehrte Korrespondenz in lateinischer Sprache, dem Idiom der Humanisten. Doch kündigt sich in dem Verhältnis zur Literatursprache, und dies scheint mir ein wesentlicher Aspekt für eine historische Einordnung Hiltebrands zu sein, der entscheidende Wandel vom Späthumanismus zum Frühbarock an: die Abkehr vom Latein hin zur Volkssprache. Diese sprachliche Umorientierung zeichnet sich allerdings weniger in Hiltebrands eigenem Werk ab, als vielmehr in seinem übersetzerischen Schaffen und seinem Interesse für die moderne volkssprachliche Literatur. Hiltebrand selbst verwendete das Deutsche erst spät und nur halbherzig als literarische Sprache. Seine medizinischen Schriften sind sämtlich in Latein verfaßt, sein seits ist auch der Trost, den Hiltebrand Georg Rem anläßlich des Todes von dessen Ehefrau spendet, neustoizistisch geprägt: »Non nisi serenitatem nautis gratiorem in tempestate advenire quam lugere amico amicum inquit Lipsius ex Euripide«. Der Trost für den trauernden Freund gipfelt schüeßlich in derselben lipsianischen Sentenz: »Sed quid agendum? patienter ferenda sunt omnia quae mutari nequeunt, praesertim cum nihil in omni vita täm optabile sit, quod non mixtum poculo aliquo moerorum: Haec publica et aeterna Lex, cui annexium est angi et dolere, Improbus ac refractarius quisquis ei repugnat« (Brief an Georg Rem vom 30. November 1617. MS UB Göttingen, Cod. 2° Philos. 92, Bl. 163 r -164 r , hier 163v). Auf Justus Lipsius bezieht sich Hiltebrand auch in seinem Schreiben an Gregor Horstius vom 12. Mai 1620 [recte 1619]. - Auf Hiltebrands christlichen Neustoizismus spielt auch Martin Leuschners Leichenprogramm an, demzufolge Hiltebrand alle Schicksalsschläge gleichmütig ertrug: »varias vitae adversitates et aerumnes patienter tulit, ab omnibusque saevientis fortunae adversae procellis, Divini Numinis auxilio fretus invictum se praestitit« (VP 18, B l ^ b O . 31

32

Hiltebrands Eintrag vom 5. September 1606 in das Stammbuch des Heinrich Heyl lautet: »Is est amicus qui in re dubia re iuvat ubi re opus est« (MS Bibl. Polskiej Akademii Nauk Danzig, Cod. 2506, Bl. 136"). Vgl. Atti della Nazione Germanica Artista, wie Anm. 19. Bd. 2, S. 267.

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poetisches Werk mit einer - allerdings bemerkenswerten - Ausnahme ebenfalls; lediglich seine genealogischen Arbeiten, die wohl auch propagandistischen Zwecken dienen, erschienen seit 1630 auch zweisprachig oder gar nur in deutscher Sprache. Erstaunlich hoch schätzte Hiltebrand die modernen romanischen Volkssprachen, die mehr dem modernen höfischen als dem klassisch-humanistischen Bildungsideal entsprachen. Er übersetzte zwei fast noch zeitgenössische Texte aus dem Italienischen ins Lateinische: ein fachsprachliches und ein poetisches Werk. Seine Übersetzung von Evangelista Quadramios Pesttraktat (1618) rechtfertigt Hiltebrand einerseits mit einem modernen Argument, nämlich als Übung der geliebten italienischen Sprache, und andrerseits mit einem humanistischen Argument, nämlich als Freundschaftsdienst zu dem Zweck, einen volkssprachlichen Text der lateinischsprachigen Gelehrtenrepublik zugänglich zu machen. 33 Die Statuskonkurrenz zwischen der antiken Bildungssprache und der modernen Volkssprache spiegelt sich auch in den Urteilen seiner Zeitgenossen über die poetische Übersetzung wider: Während Hiltebrand seine lateinische Version Tassos italienischem Original bescheiden unterordnet, preisen die Geleitgedichte Hiltebrands Übersetzung überwiegend als Veredelung der volkssprachlichen Vorlage.34 Es ist hier nicht der Ort für eine detaillierte philologische Kritik von Hiltebrands Tasso-Übersetzung.35 Soviel sei aber bemerkt: Hiltebrand versuchte in seiner lateinischen Version Tassos frühbarocken Aminta in die Sphäre eines bürgerlichen Bildungshumanismus »rückzuübertragen«. Die Umwandlung des höfischen Pastorais in eine akademische Schulkomödie geht zu Lasten von Tassos Ästhetik des Vagen und Unbestimmten. Zwar schmiegen sich Hiltebrands jambische Senare den variableren Madrigalversen erstaunlich gut an, doch wirkt die lateinische Übersetzung bei allem Kunstverstand wegen ihrer metrischen Monotonie, Rhetorisierung von Zwischentönen, Vereindeutigung und antikisierenden Sentenzenfülle antiquiert. In merkwürdigem Kontrast zum bildungshumanistischen Ideal hat Hiltebrand der Neuauflage von 1624 eine deutschsprachige Perioche beige33

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So schreibt Hiltebrand in der Epistola dedicatoria: »Verum geminam mihi versionis hujus causam fuisse sciatis; Unam, ut in lingua isthac Hetrusca uberius me exerceam, cujus alioquin penitus obliviscerer, nisi interdum, otii et temporis aliquid, quantum quidem ab occupationibus aliis suffurari possum, illi impenderem: Alteram ut uni e vobis, tibi videlicet Excellentiss. Dn. D. SIGLICI, amicorum amicissime satisfaciam; Tu enim primo, ut operam hanc susciperem unice expetiisti, postmodum vero, ut eandem, caeptam jam pertexerem et absolverem, frequentissimis literis tuis monuisti« (Tractatus Brevis de Praeservatione et Curatione Pestis, Leipzig 1618, A 2 v f.). So geben etwa Georg Rem oder Philipp Pitzanius der lateinischen Übersetzung Hiltebrands den Vorzug vor Tassos italienischem Original. Im folgenden resümiere ich die Ergebnisse des ausführlichen Übersetzungsvergleichs in meiner Studie über Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit, 13).

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geben: das erste größere deutschsprachige Rezeptionszeugnis von Tassos Aminta überhaupt. Vielleicht erhoffte sich Hiltebrand von den deutschen Inhaltsangaben der einzelnen Akte eine größere Bühnenwirksamkeit des Stücks. Dafür sprechen mehrere Apostrophen an das Publikum. Die fünf deutschen AktPeriochen, die jeweils 20-24 Verse umfassen, sind allesamt in jambischen Vierhebern abgefaßt, die sich paarweise reimen. Da an vielen Stellen trotz zahlreicher Elisionen Wort- und Versakzent nicht zusammenfallen, ist der erste deutsche Aminta ein sehr kunstloses Gebilde. Es bekundet eindrücklich, daß zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Deutsche noch keine den anderen europäischen Sprachen adäquate Dichtungssprache war. Der im Lateinischen so versierte Verfasser verfügte im Deutschen über vergleichsweise beschränkte Ausdrucksmöglichkeiten. Eine Verniedlichung, die sich in zahlreichen Verkleinerungsformen äußert, sowie eine Moralisierung, welche in der Berufung auf Gott und in der Betonung der Ehlichen Lieb zum Ausdruck kommt, prägen die deutschen Akt-Periochen. Es ist bezeichnend, daß Hiltebrand sie mit einem Merkspruch beschließt, der die Moral von der Geschichte Amintas mitteilen soll: Als viel mahl gar wunderlich / Der Jungfrawn Hertzen endern sich. 36

Von Tassos Ästhetik des Unbestimmten, der Hiltebrand in seiner lateinischen Übersetzung noch einigermaßen gerecht werden konnte, ist hier nichts mehr zu spüren. Daß das lateinisch-deutsche Qualitätsgefälle sich aber nicht nur formal, sondern auch inhaltlich niederschlägt, läßt elitäre Distinktion als Kalkül dieses zweisprachigen Kompromisses vermuten. Latein sollte unverändert als aristokratisch-elegante Kommunikationsform in Kraft bleiben, während dem breiten Publikum die moralischen Inhalte kunstlos in der Muttersprache vermittelt werden sollten. Dieser humanistisch-barocke Vermittlungsversuch, erschienen im selben Jahr wie das Buch von der Deutschen Poeterey, konnte sich gegen den raschen Siegeszug der Nationalsprache freilich nicht behaupten. Dagegen bildete Hiltebrands lateinische /Immta-Übersetzung den ästhetischen Qualitätsmaßstab für die erste deutsche Übersetzung durch Michael Schneider, die August Buchner 1639 in Auftrag gab. 37 36

37

TorquatoTasso: Amynta [Aminta, lat.]. Übers, von Andreas Hiltebrand. Frankfurt/M. (D. und D. Aubry und C. Schleich) 1624, S. 85 [recte 101]. »An den Wohlmeinenden Leser« von Torquato Tasso: Amintas oder Waldtgedichte [Aminta, dt.]. Übers, von Michael Schneider. Wittenberg (J. W. Fincel für Autor) 1639, Bl. )(7V, teilt der Übersetzer Schneider mit, daß er den >Amintas< [ . . . ] aus dem Weitzschen des Torquati Tassi ümbgesetzet«, dabei aber »zuweilen« eine »Frantzösische dolmetzschung / und dann eine Lateinische poetische version eines D. Hildebrandes aus Pommern / (so unser höchstgerühmter H. Senior / der aller welt bekandte H. Buchner / mein fürnembster freundt allhier / mir zukommen lassen /) ein auge gewandt / und darauß mich des wahren innhalts erholet habe«.

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3. Hiltebrand als Repräsentant der pommerschen Kultur im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts Hiltebrands Festhalten an der lateinischen Sprache ist typisch für das gelehrte Pommern im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. Dies erhellt aus den Geleitgedichten zu Hiltebrands medizinischer Rede aus dem Jahre 1631. Während alle elf Vertreter der Stettiner Bildungselite bei ihrem Lob des modernen wissenschaftlichen Fortschritts dem Humanistenlatein treubleiben, feiert der einzige Nicht-Pommer unter den Lobrednern die Überlegenheit der Moderne über die Klassische Antike, wie sie in der Kopernikanischen Wende zum Ausdruck kommt, nach dem Vorbild der etablierten romanischen Sprachen selbstbewußt im deutschen Idiom: Das höfflich Franckreich / Italien deßgleichen Last jhrer Dichter Schaar biß an den Himmel reichen / Zur Sprach- und Landes-Zier / das Deutschland geht mit jhn Sie sind gestiegen hoch / wir folgen jhnen kühn. Mit unser Deutschen Zung. [.. ,] 38

Warum aber - und Andreas Hiltebrand ist dafür repräsentativ - vollzog die pommersche Bildungselite in Stettin die Wendung zur Nationalsprache nur halbherzig und vergleichsweise spät? Dies läßt sich nicht allein auf die Randlage im Deutschen Reich zurückführen, vielmehr muß die kulturelle Entwicklung im Vorkriegs-Pommern zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Rechnung gestellt werden. Unter der Regierung Herzog Philipps II. wuchs Stettin zu einer höfischen Residenz heran, die den Vergleich mit den wichtigsten kulturellen Zentren im damaligen Deutschland aushält, etwa Heidelberg unter Pfalzgraf Friedrich V. oder Kassel unter Landgraf Moritz dem Gebildeten. Vielleicht noch stärker als diese orientierte sich der pommersche Hof Philipps II. kulturell an den italienischen Residenzen der Renaissance. Der Herzog hatte eine ausgedehnte Bildungsreise nach Italien unternommen und in Stettin eine Bibliothek und Gemäldegalerie nach dem Vorbild der Medici in Florenz angelegt39 - ein Beispiel mäzenatischen Kunstverstands, das die Zeitgenossen gerne zum Vergleich heranzogen. Diese kulturelle Anlehnung an das weiter entwickelte Italien beeinflußte auch merklich den gelehrten Späthumanismus in Pommern. Man suchte in einem Kompromiß die Errungenschaften der lateinischen Bildungskultur beizubehalten, sie gleichzeitig aber für die modernen Inhalte und neuen Gattungen der italienischen Literatur zu öffnen. So kam die Mode der 38 39

Michael Albinus, wie Anm. 26, hier D 3rf. Vgl. etwa Jurga Valentin Winther: Parentatio Philippica Secunda: De vita Philippi II. Ducis Stetini Pomeraniae, etc. In: ΘΡΗΝΟΙ ΕΠΙΤΑΦΙΟΙ in luctuosum praematurumque obitum [...] Philippi Secundi. Stettin [S.] Keiner [1618], Bl. Ο 4rf., wo geschildert wird, wie sehr sich Philipp auf seiner Italienreise die dortigen Fürstenhöfe zum Vorbild nahm.

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Schäferspiele und Tragikomödien früh nach Pommern. Der herzogliche Rat Winther übersetzte Guarinis Pastor Fido bereits 1607 ins Lateinische, also noch zu Lebzeiten des italienischen Dichters. Diese Übersetzung wurde zur Hochzeit Herzogs Philipp II. mit der Schleswig-Holsteinischen Prinzessin Sophia im Jahre 1607 im Stettiner Schloß aufgeführt. 40 Dem Pastor Fidus folgte, wie Winther in einem Geleitgedicht ironisch bemerkt, Hiltebrand mit Tassos Amynta nach. Der bekannte Dichterwettstreit, der Gareggiamento poetico zwischen Tasso und Guarini, wird so umgekehrt nach Pommern transferiert und von den Lobrednern auch auf die Übersetzer Winther und Hiltebrand übertragen. 41 Die außerordentliche Leistung der pommerschen Bildungselite unter Herzog Philipp II. besteht also in ihrer frühen Rezeption avancierter italienischer Muster im lateinischen Idiom der Humanisten. Freilich blockierte diese Errungenschaft weitere Neuerungen. Die inhaltliche Modernisierung des Humanistenlateins unter der Regierung Philipps II. führte zu einer vergleichsweise späten Aufnahme des Deutschen als Dichtungssprache. Die Stettiner Gelehrtenschicht bleibt im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts der lateinischen Sprache treu. Hiltebrands Versuch, in seiner Neuauflage des Aminta das Deutsche zum Medium einer zweitklassigen, kunstlosen Vermittlung an das breite Volk zu machen, setzt sich nicht durch. Immerhin gewinnt das Deutsche in seinen genealogischen Arbeiten, die propagandistischen Zwecken dienen, an Gewicht. Doch während um 1630 sich in anderen Teilen Deutschlands ein muttersprachliches Dichten weitgehend durchgesetzt hat, hängen Pommerns Gelehrte noch stärker am Latein. Dieser Abstand zeigt sich im deutschsprachigen Geleitgedicht des Michael Albinus, der mit geradezu missionarischem Eifer für das Deutsche als moderne Dichtungs- und Wis40

Battista Guarini: Pastor Fidus [Π Pastor fido, lat.J. Übers, von Jurga Valentin Winther. Stettin 1607. Winther rechtfertigt im Anhang seine Übersetzung mit vier interessanten Gründen. Neben dem analogen Anlaß einer Fürstenhochzeit ließ auch die moderne Form das Stück zur Übersetzung geeignet erscheinen: »Talia namque sibi spectacula tempora poscunt«. Daß Winther seine Übersetzung aus dem exklusiven Italienischen ins allgemeine Latein als Kulturtransfer versteht, erläutert er im dritten Punkt: »Ut quod certae gentis huiusque fuit proprium, et peculiare, toties excusum et recusum in nobilioribus Italiae civitatibus, publici juris extaret. Lingua enim Latina communis omnibus«. - Winthers Übersetzung ist in den Darstellungen der deutschen Guarini-Rezeption bislang unberücksichtigt geblieben, obwohl Bethke, wie Anm.4, S. 77-θ3, Winthers Pastorale kundig gewürdigt hat.

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Vgl. etwa das Geleitgedicht des Philipp Pitzanius. Aber auch der Stettiner Ratsherr Jurga Valentin Winther spielt in seinem Geleitgedicht auf den italienischen Dichterwettstreit an und bezieht diesen ironisch auf sich und Hiltebrand: IN AMYNTAM D. AND. HILTEBR. PASTOREM FIDUM Latio sermone polivi, Hiltebrande tibi Dulcis AMYNTA placet. Est aliquid Latiis iuvenes spaciarier Hort is, Sed nos tardigrados abstinuisse decet. (Vgl. Hiltebrand [Übers.], wie Anm. 36, Bl. (:) ό1).

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senschaftssprache wirbt. So ergibt sich für die pommersche Literatur zwischen Späthumanismus und Frühbarock der eigenartige Tatbestand, daß eine frühe kulturelle Blüte eine Weiterentwicklung hemmen kann. Andreas Hiltebrand ist für diesen pommerschen Sonderweg ein Kronzeuge.

Bibliographischer Anhang A) Schriftenverzeichnis

(chronologisch)

1. ORATIO. | AGRICVLTVRiE | Et | AGRICOLARVM | continens | Encomia, & Vtilitates. | Scripta | ab | ANDREA HILTEBRANDO, | Iuniore St. Pom. | Stettin (M. MüUer) 1602 [22. Dezember 1601]. (Caspar von Eichstedt zugeeignet. - Enthält lat. Lobgedicht von Iacobus Frostius [17 Disticha].) - WiMBP Stettin 2. DISPVTATIO MEDICA | DE | PHLEBOTOMIA | ET | ARTERIOTOMIA, | Quam | D. Ο. Μ. A. | Sub Praesidio | Clarissimi ac Praestantissimi Viri, | D. PETRI PAUVI, MEDICINE D. | & in illustri Lugduno-Batavä Academiä | professoris Primarii, | publik defendere conabitur | ANDREAS HILTEBRANDT, StetinoPomeranus. | Ad XX. diem Martii, Anno Μ D CIV. | Loco & horä consuetis. | Leiden (I. Patius) 1603. (Fürst Philipp [II.] zugeeignet. - Enthält lat. Lobgedicht von Matthxus Bacmeister [30 Disticha].) - UB Leiden 3. DISPVTATIO MEDICA | DE | CRISIBVS ET DIEBVS | DECRETORIIS, | Quam, | FAVENTE DEO OPT. MAX. | Praeside | Clarissimo, Doctissimoque Viro, j Dn. JELIO EVERHARDO VORSTIO, | Medicinae Doctore, & Professore ordinario; | Illustrissimique Principis D. D. MAURITI, | NASSAVLE Comitis, &c. | Archiatro dignissimo, | In almä Lugdunensium Academiä, | Public^ defendendam suscipiet | ANDREAS HILTEBRANDT Stetino-Pomeranus, | Ad diem XVI. Martii, Anni M. D. C. V. | Horis locoque solitis. | Leiden (I. Patius) 1605. (Martin Chemnitz, Caspar von Eichstedt, Ambrosius Hademar und Andreas Hiltebrand [sen.] zugeeignet. - Enthält lat. Lobgedicht von Matthaeus Radecius [8 Disticha].) - UB Bonn, UB Leiden 4. DE APOPLEXIA | Conclusiones | Quas | DEOTer Opt. Max. Praeside | & Auspice | Ex Decreto & Auctoritate Amplis- | simi & Gratiosissimi Medicorum | Collegij, in alma Basileensi-1 um Academia | Pro gradu Doctorali, & summis in arte Medicä Pri-1 uilegijs solemniter consequendis | Publica: Disquisitioni & Censura; | euentilandas proponit | ANDREAS HILTEBRANDT, | Stetino Pomeranus. | Ad diem 14. Martij. | Hora locoque solitis. | Basel (J. Schröter) 1607. (Desiderius Constantin Oesler [Hzgl. Pommerscher Leibarzt] und Andreas Hiltebrand [sen.] zugeeignet. - Enthält lat. Gratulationsgedicht von Laurentius Ohm [7 Disticha].) - UB Basel, UB Bonn

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5. ΘΡΗΝΟΙ | Beatiss. Manibus | Illustris & Augustae Principis ac Domina: | DN. CATHARINE I URSUL/E, | Illustrissimi Principis ac Domini Dn. | FRANCISCI II. INFERIORIS SA- | XONIAE, ANGRI^E & W E S T P H A L I A | Ducis, Dynastae Laöburgensis &c. | Filiae, | EX AULA STOLPENSI IN L/ETAM | Coeli Regiam XII. Kaiend. Marti | Anni M. D. CXI. | translate. | Debitae reverentiae, ultimaeq; et piae devotionis | ergö conscripti, ab. | ANDREA HILTEBRANDO D. Illustrissimae | Viduae Stolpensis Medico. | Stettin (M. Müller) 1611. - WiMBP Stettin 6. HYMEN/EUS | διαλογικός | Apollinis & Venerandi Musarum chori, in VI-1 terioris POMERANLE Parnasso, Divae Mariae | olim sacro, Honori Nuptiarum | REVERENDI DOCnS-1 SIMIQUE VIRI DN. MICHAE= | LIS PONTANI, Pastoris Ecclesia; Smol-1 sinensis fidelissimi, legitimo thoro, connubioque stabili | jungentis sibi lectissimam puellam CATHARINAM KLU- | VETASCHI AN AM, in Illustri Gynaezeo Stolpensi libe-1 raliter educatam, VII. Iduum Februarii Anni | M. DC. XIII. | Non täm moris quäm amoris ergö | Concinnatus ab | ANDREA HILTEBRANDO D. | Jllustrissimae Ducissae Stolpen-1 sis Medico. | Stettin (Typis Kelnerianis [M. Müller?]) 1613. - LB Dresden [Enthält handschr. lat. Gelegenheitsgedicht auf zweite Ehe des Michael Pontanus mit Anna Farschebottria am 14. Januar 1627 (9 Disticha).] 7. AMINTA | COMOEDIA PASTORALIS | NOBILISSIMI | DN. TORQUATI | ΤASSI. | Ex Italico in Latinum converse | AB | ANDREA HILTEBRANDO | Pom. Med. D. | Frankfurt/Oder (J. Eichhorn [d. J.]) 1616. (Joachim Götze, Laurentius Ohm und Sebastian Stripe zugeeignet. - Enthält Lobgedichte von Johann Crüger [lat.], Johannes Siglicius [griech.] und Matthaeus Bacmeister [lat.].) - St.- und UB Hamburg 8. TRACTATUS BREVIS | De Praeservatione & Curatio-1 ne Pestis, | F. EVANGELISTIE | QVATTRAMMI DE AGU-1 bio, Ordinis Eremitani S. Augustini, Botani-1 ci Illustriss. & Reverendiss. Cardinalis | Estensis, ad | REVERENDISS. PATREM THAD-1 DJEUM PERUSINUM auctoritate Apostolicä | ejusdem Ordinis Vicarium generalem | dignißimum. | Rom? olim ante XXX. Annos editus. | Jam verö ex Italico Latinus, | Operä & studio | AND. HILTEBRANDI, MED. D. | Leipzig (E. Rehefeld und J. Grosse) 1618. (Gregorius Horstius, Johannes Siglicius, Laurentius Hoffmann, Christian Wilhelm, Matthias Untzer und Matthaeus Bacmeister zugeeignet.) - HAB Wolfenbüttel 9. VOTUM NUPTIALE PRO FELI- | cisS. tacdarum auspiciis | ILLVSTRISSIMI PRINCIPIS | AC DOMINI, | DN. ERNESTI, | EX ANTIQVISS. REGVM | PANNONLE FAMILIA ORIVNDI. | Ducis Croyensis & Aischotani, Mar-1 chionis ab Havre, Principis sacri Rom. Imperl, Co-1 mitis de Fontenä & Bayone, Baronis in Damp-1 martin & Vinstingen, &c. | NEC NON | ILLVSTRISSIMI DUCISS/E | DN. ANNA, | ILLVSTRISSIMI QVONDAM CEL· | SISSIMIQVE PRINCIPIS AC DN, | DN. BVGISLAI XIII. | DVCIS STETINI POMERANLE, | CASSVBORVM ET VANDALORVM, | Principis Rugiae, Comitis Gutzkoviae, Leo- | burgl & Butovl Dynastae, &c. | BeatisS. & nunquäm satis laudandae Mem. | Herois FILLE. | Quae Prid. Non. Sextiiis Anni M. DC. XIX. in Arce | Stetinensi celebratae sunt. | Humilimfe conscriptum & consecratum | ab | ANDR. HILTEBRANDO, POM. MED. D. |

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Achim Aurnhammer Stettin (J. Chr. Landtrachtinger) [1619], - LB Dresden, HAB Wolfenbüttel [vgl. Nr. 9]

10. TABULA GENEALOGICA ILLUSTRISSIMORUM DU- | CUM CROYENSIUM ET ARSCHOTANORVM, EX ANTIQVISS. RE-1 gum Pannoniae familiä originem trahentium. | Stettin (J. Chr. Landtrachtinger) [1619], - HAB Wolfenbüttel [Widmungsexemplar für Herzog August von BraunschweigWolfenbüttel; angeb. an Nr. 8] 11. ULTIMI HONORES, | Quos | NobiliS. Viro-juveni | DN: CONRADO ä | Manteuffel / | Hsereditario in Arenhousen & Poltzin / post | gravissimos diuturnioris morbi cruciatus ac | dolores exanclatos STETINI. XXIX. Ju- | nl Anni M. DC. XX. ρίέ placidöque de-1 functo, & in aede ad D. Jacobi. XX. | Juli ritu solemniore se-1 pulto | Exhibet | AND. HILTEBRANDT. | MED. D. | Stettin (S. Keiner) 1620. - LB Dresden 12. * Elegia gratulatoria ad [...] Georgium Guilielmum March. Brandenb. [...] post investituram ducatus istius Varsaviae a. 1621 ab Aug. Polonorum rege Sigismunde III. acceptam. (Cum tabula genealog.) Stettin 1621. Fol. (4 Blätter). - Einziges nachgewiesenes Exemplar (Deutsche Staatsbibliothek Berlin) nicht mehr auffindbar. 13. GENEALOGIA | Illustrissimorum | POMERANLE | DVCVM | Ab Anno videlicet D. CC. LXXXIX. ad | hunc präsentem M. DC. XXII. additö plerorumque Nativi-1 tatis, matrimonii & Obitus tempore, ex Annalibus Pomeranicis, | Marchicis, Polonicis & Prutenicis ut plurimum | Manu scriptis collecta | [...] | ab | ANDREA HILTEBRANDO | Pomerano, Medic. D. | Stettin (J. Chr. Landtrachtinger) 1622. (Den pommerschen Fürsten Bogislaw XIV., Philipp Julius und Ulrich zugeeignet. Enthält 103 Prosopodisticha auf Bildnisse pommerscher Herzöge von J. V. Winther und 16 Monosticha H.s auf Herzöge von Rügen. 1 Lobgedicht [lat.] von J. V. Winther.) - LB Dresden [Widmungsexemplar für Georg Rem], ULB Halle, HAB Wolfenbüttel [Widmungsexemplar für Herzog August von Braunschweig-Lüneburg] 14. GENEALOGIA | Illustrium & Generosissimorum | COMITUM AB Ε- | BERSTEIN. | Ab Anno Christi D. CCCC. ad hunc prssen- | tem M. D CXXIII. ex Annalibus & Historiographie di-1 versis hinc inde collecta, certisque tabulis | inclusa, & | Illustribus, Reverendissimo ac Generosißimis | Dominis, | DN. IOHANNIIACOBO, COMITI EBER-1 STEINIO, Domino in Frawenburch & | Forbach &c. | DN. GEORGIO-CASPARO, CAPITVLI | Caminensis Praeposito, | DN. VOLRADO, DN. LVDOVICO-CHRI- | STOPHORO, DN. ALBINO, ET | DN. CASPARO. | Comitibus ab Eberstein, Dominis in | Neugarten & Massow &c. Dominis suis summö | observantiae studio perpetim colendis consecrata | Ab | ANDREA HILTEBRANDO. POM, | Med. D. | Stettin (J. Chr. Landtrachtinger) 1623. (Mitgliedern des gräflichen Hauses Eberstein zugeeignet.) - WiMBP Stettin [Widmungsexemplar für Daniel Cramer].

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15. LACRUM/E | In Obitum | Illustrißimi ac Reverendißimi Principis ac Domini, | DN. ULDARICI, | Ducis Stetini Pomeraniae, Cassubiorum & Vandalorum, Principis | Rugi®, Episcopi Camminensis, Comitis Gutzkovis, Terrarum Leobur-1 gensium & Butoviensium Domini, &c. | Stettin (Typis Duberianis [N. Barthold?]) 1623. - WiMP Stettin 16. ΑΜΥΝΤΑ | COMOEDIA | PASTORALIS | ELEGANS, | NOBILISSIMI | DN. TORQUATI ΤASSI. | Ex Italico in Latinum conversa | AB | ANDREA HILTEBRANDO | Pomeranö Medic. D. | Editio Secunda, priore correctior. | Frankfurt/Main (D. und D. Aubry und C. Schleich) 1624. (Joachim Götze, Laurentius Ohm und Sebastian Stripe zugeeignet. - Enthält Lobgedichte von Jurga Valentin Winther (lat.), Johann Crüger (lat.), Georg Rem (lat.), Lorenz Ohm (ital. Sonett), David Herlitz (lat.), Johann Siglitz (griech.), Matthaeus Bacmeister (lat.), Philipp Pitzanius (2 lat.). - »Iudicia« von Sebastian Stripe (frz.), Lorenz Ohm (2 ital.), Joachim Goetze (lat.) und Matthias Untzer. - Am Schluß deutschsprachige Aktperiochen.). - St.- und UB Hamburg, KB Stockholm 17. GENEALOGIA | SERENISSIMORUM POTEN- | TISSIMORVMQVE | REGUM SUE- | CUE, | Ε diversis Historiographis collecta, | & ad prasentem usque Annum | Μ DC XXX. | continuata | ab | ANDREA HILTEBRANDO | POM. MED. D.| Stettin (N. Barthold) 1630. (Kg. Gustav Adolph II. von Schweden zugeeignet [lat. Widmungsgedicht].) - KB Stockholm, HAB Wolfenbüttel 18. GENEALOGIA | Serenißimorum, Potentißimorumque | REGVM | SVECLE, | Ε DIVERSIS HISTORIOGRAPHIS COLLE-1 cta et ad präsentem usque ann. Μ DC XXX. continuata | AB ANDREA HILTEBRANDO POM. Med. D. | Stettin (N. Barthold) 1631. (Kg. Gustav Adolph II. von Schweden zugeeignet.) - UB Göttingen 19. ORATTVNCVLA | ANDR. HILTEBRANDI, | Medicinae D. | Fratre suö amantißimö | GULIELMO, | Pharmacopoeö, | THERIACAM, | MITHRIDATTVM, | ANTIDOTVM MATTHIOLI, | et alia quaedam composita Nobiliora, | Amplißimo, honoratißimoque MEDICO- | RVM Collegio, in celeberrimä Pomeranorum Vr | be STETINENSI, praesentibus omnium Facultatum Doctori-1 bus, Consulibus, Senatoribus, aliisque Viris literatioribus | et Artis Medicae cultoribus, favitoribusque, | Exhibente, | Habita | VIII. KL. Sextiiis, ipso nimirum Die, D. JACOBO Apo-1 stolo Sacrö, Annö redempti generis humani | M. DC. XXXI. | Adjectis Virorum Clarißimorum aliorumque Amicorum | Carminibusgratulatoriis.| Stettin (N. Barthold) [1631], (Wilhelm Hiltebrand zugeeignet. - 11 lat. Lobgedichte auf Wilhelm Hiltebrand von David Reutzius, Daniel Cramer, Joachim Prätorius, Christopherus Schultetus, Samuel Scarlach, Laurentius Eichstadius, Martin Leuschner, Johann Micraelius, Martin Bambamius, Johannes Sarnovius, Balthasar Neander, 1 dt. Lobgedicht von Michael Albinus [78 Alexandrinerpaare].) - HAB Wolfenbüttel 20. DIARIUM POME-1 RANICUM, | Daß ist /1 Kurtzer Histori= | scher Calender deß hoch= | löblichen vhralten Fürstlichen | Hauses / zu Stettin Pomren / etc. | Darinnen / was sich denckwür= | diges von Geburten / Beylagern / vnd | Absterben in demselben

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an einem jedem | Tage / durchs gantze Jahr / begeben und zugetra= | gen / klärlich angezeiget wird / darauß bevorab | zu ersehen / wie solch Fürstlich Hauß mit Kay= | sern / Königen / Chur vnd Fürsten in vnd auß= | erhalb Römischen Reichs / gar nahe | mit Blutfreundschafft | verwandt. | Alles aus glaubwürdigen Chronicis vnd | Annalibus extrahiret, vnd mit fleiß | zu sammen bracht /1 Durch | ANDR. HILTEBRANDUM.P.M.D. | [Stettin] (D. Rhete) 1631. (Bogislaw XIV., sowie den Fürstinnen Elisabeth und Sophie von Schleswig-Holstein, Sophie von Sachsen, Hedwig von Braunschweig-Lüneburg [...], Herzogin Anna von Croy und Aarschot und den Herzögen Wilhelm von Livland und Ernst-Bogislaw von Croy und Aarschot [sämtlich Repräsentanten des pommerschen Heizogshauses] zugeeignet.) - KB Stockholm, HAB Wolfenbüttel 21. GENEALOGIA | Oder | Stamm= vnnd Geschlecht=Register | Der Durchleuchtigsten Großmächtigsten | Königen in | Schweden. | Auß vnderschiedtlichen Historienschreibern | zusammen gelesen / vnd vom Jahr 1250. biß vff jetzige | Zeit continuirt, fortgeführt / vnd an Tag gegeben | Von | ANDREA HILDEBRANDT der Medicin vor= | nehmen Doctorn, und Fürstlichem Pommeri= | sehen LeibMedico. | Stettin (N. Barthold) 1631. (Kg. Gustav Adolph II. von Schweden zugeeignet [Dt. Widmungsgedicht].) 21a. - Titelauflage: Stamm- unnd Geburt-1 Register | Der Durchleuchtigsten Großmächtigsten | Königen in | Schweden. | Stettin 1630[!]. - KB Stockholm, HAB Wolfenbüttel 22. GENEALOGIA | Oder | Stamm= vnd Geschlecht=Register | Der Durchleuchtigsten Großmächtigsten | Königen in | Schweden / vnd | Polen. | Auß vnderschiedtlichen Historienschreibern | zusammen gelesen / vnd vom Jahr 1250. biß vff jetzige | Zeit continuirt, fortgeführt / vnd an Tag gegeben | Von | ANDREA HILDEBRANDT der Medicin vor= | nehmen Doctorn, und Fürstlichem Pommeri= | sehen LeibMedico. | Stettin (N. Barthold) 1631. (Kg. Gustav Adolph II. von Schweden zugeeignet [einfache dte. Zueignung].) 22a. - Titelauflage: Stamm= vnd Geburt= | Register | Der Durchleuchtigsten Großmächtigsten | Königen in | Schweden vnd Polen. | Frankfurt [J. Fr. Weiß] 1631. - UB Rostock, KB Stockholm 23. GENEALOGIA, | Oder | Stamm= vnd Geschlecht=Register /1 Der Durchlauchtigsten / Großmächtigsten | Königen in | Schweden. | Auß vnterschiedlichen Historienschreibern | zusammen gelesen / vnd vom Jahr 1250. biß vff jetzige | Zeit continuirt / fortgeführt / vnd an Tag gegeben | Von | ANDREA HILDEBRANDT, der Medicin | vornehmen Doctorn / vnnd Fürstlichem Pommerischen | Leib=Medico. | Stettin (N. Barthold) 1632. (Kg. Gustav Adolph II. von Schweden zugeeignet [1 dt. Widmungsgedicht, 1 dt. Zueignungsschrift von J. Fr. Weiß, 3 lat. Gedichte auf Bildnis Gustav Adolphs].) 23a. - Titelauflage: Stammen= vnd Geburt=Register / | Der Durchläuchtigsten / Großmächtigsten | Königen in | Schweden. | Frankfurt (J. Fr. Weiß) 1632. - LB Darmstadt, KB Stockholm

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24. - Übersetzung: THE | GENEALOGIE | AND PEDIGREE | OF THE MOST ILLVS- | TRIOVS AND MOST | MIGHTY KINGS | IN | SVEDEN. | [ . . . ] | By A N D R E W HILDEBRANDT, Doctor | in Physicke, and Physitian for the body to the | Duke of POMEREN. I First, Printed in Stettin, in High-Dutch, By Nicholas | Barthold, Anno, 1631. I And translated into English, by S r . S. L. Knight. | London (Marigold für J. Boler) 1632. - KB Stockholm 25. GENEALOGIA | Oder | Stam=Linie | Königlicher Mayestät zu Schweden | GUSTAVI | ADOLPHI, | Christseeligster vnd Glorwürdigster | Gedächtnüß / etc. | Auß Allerhand Historicis vnd glaubwür= | digen documentis zusammen gebracht / vnd hiebevor | in Lateinischer Sprach außgangen / anitzo aber anderweits | vbersehen / und biß auff dieses gegenwertige 1633 | Jahr Continuiret | Von | ANDR. HILTEBRANDO, | Pom. Med. Doct. | Stettin (D. Rhete) 1633. (Königinwitwe Maria Eleonora und Prinzessin Christina von Schweden zugeeignet.) - St.-B. Braunschweig, LB Darmstadt, LB Dresden, KB Stockholm 26. ANDR. HILTEBRANDI, | MED. D. | Epigramma-1 tum Centuria. | Stettin (D. Rhete) 1634. (Martin Leuschner, Heinrich Kielmann und Erich Pelshofer zugeeignet.) - HAB Wolfenbüttel

B) Korrespondenz

(Regesten)

Hiltebrand unterhielt einen regen Briefwechsel. Überliefert sind 17 gedruckte und 13 ungedruckte Briefe. Hiltebrand korrespondierte mit: Herzog August von BraunschweigWolfenbüttel, Caspar Bauhin, Joachim Götze, Gregor Horstius, Johann Peter Lotichius, Georg Mauritius, Lorenz Ohm, Georg Rem, Sebastian Stripe, Matthias Untzer. An Caspar Bauhin. Stettin, 8. August 1607. MS (lat. Autogr.) ÜB Basel, Cod. G2 I 3, Bl. 21r.

Empfiehlt den Medizinerkandidaten Sebastian Rhodt und erkundigt sich nach der Disputation des Kandidaten Frosch unter dem Vorsitz von Platter. Graf Albert von Stein als Mittelsmann. Gruß an die Basler Medizinerkollegen Platter, Stupanus, Ryffius, Cocceius und P[?]reininger. An Gregor Horstius. Stettin, 3. Mai 1614. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2. Hg. von Daniel Horstius. Nürnberg 3 (Endters Erben) 1660, s. v. »Observatio XLVI. Generatio Calculi, de cornu cervino, de haemorrhagia, de gutta gamandra, &c. [Briefwechsel zwischen Hiltebrand und Horstius]«, S. 229-235, hier 229f. Bezugnahme auf Gespräch anläßlich der fürstlichen Exequien in Dresden 1611. Lobt die medizinische Schriftstellertätigkeit des Horstius. Abweichende Ansicht über Ursachen von Nierensteinen. Einsatzmöglichkeiten von Hirschhorn und von »Hirschkolben Wasser«. Zur Ätiologie und Therapie von Nasenbluten. Von Gregor Horstius. Gießen 12. September 1614. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 231f. Bleibt bei seiner Ansicht über Entstehung von Nierensteinen. Zum Gebrauch des Hirschhorn. Zur Wirkung von Leberumschlägen bei Blutungen.

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An Caspar Bauhin. Stettin, 1. Dezember 1614. MS (lat. Autogr.) UB Basel, Cod. G215, Bl. 102 r+v . Dankt Bauhin für die Zuleitung diverser Briefe und für die beiden Trakate: »De Lapide Beroartico« und »De Hermaphroditorum, partuumque monstrosorum Natura«. Skizziert seinen beruflichen Werdegang und nennt Beispiele merkwürdiger Fälle aus seiner medizinischen Praxis. Hühnereigroßer Blasenstein, der Patienten abging, wurde Hzg. Philipp II. zum Geschenk gemacht. Erkundigung nach Pflanzenzwiebel, die er Β. aus Italien mitgebracht hatte. Erzählt von holländischen Tulpenzwiebeln, die ihm Petrus Pavius aus Leiden geschickt habe, und von denen er, falls sie blühen, auch Bauhin schicken werde. Empfehlung für seinen Bruder Ambrosius [dieser wird am 6. September 1617 in Basel zum Dr. jur. promoviert]. An Gregor Horstius. Stettin, 5. Dezember 1614. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 232f. Greift Theorie über Entstehung von Nierensteinen erneut auf. Beschreibt einen Krankheitsfall, der seine Theorie stützt. Betont Erfahrung in Pädiatrie (z.B. Wurmkur) durch Studium in Padua. Erörtert pharmazeutische Bedeutung von Kautschuk. An Georg Rem. Stettin, 23. Mäiz 1615. MS (lat. Autogr.) UB Göttingen, Cod. 2° Philos. 92, Bl. 159 r+v . Lob Rems, der sich Nachruhm zum einen mit gelehrten Schriften, zum andern mit Menschlichkeit und Wohlwollen verdiene, wie sie seinem Bruder Ambrosius und auch ihm zuteil wurde. Bedauert, bei seiner Rückkehr aus Italien Rem nicht in Nürnberg besucht zu haben, zumal er in Belgien, Frankreich und Italien mehrere Nürnberger (Joh. Sig. Fürer, David Harstörffer, Martin Carolus Haller) kennengelemt habe, die er hier hätte Wiedersehen können. Übersendet als Freundschaftsgabe seine »Aminta«Übersetzung. Von Gregor Horstius. Frankfurt, 17. September 1615. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 233. Verweist auf Unzers neue Erkenntnisse der Nierensteinforschung. Bricht wegen des Lärms der Frankfurter Buchmesse seine medizinische Erörterung des Kautschuk ab. Von Sebastian Stripe. Berlin, 27. November 1615. Druck (frz.) in: Α. H.: Amynta [Aminta, lat.]. Frankfurt/Main (D. und D. Aubry und C. Schleich) 21624, S. 76. Dankt dafür, daß H. ihm seine »Aminta«-Übersetzung gewidmet hat. Von Lorenz Ohm. Dessau, 4. März 1616. Druck (ital.) in: Α. H.: Amynta [Aminta, lat.]. Frankfurt/Main (D. und D. Aubry und C. Schleich) 21624, S. 76f. Dankt H. für die Widmung der lobenswerten »Aminta«-Übersetzung. Von Lorenz Ohm. Halle, 4. Oktober 1616. Druck (ital.) in: Α. H.: Amynta [Aminta, lat.]. Frankfurt/Main (D. und D. Aubry und C. Schleich) 21624, S. 77. Dankt H. erneut für die Widmung des »Aminta« und lobt diese Übersetzung. An Georg Rem. Stettin, 12. Dezember 1616. MS (lat. Autogr.) UB Göttingen, Cod. 2° Philos. 92, Bl. Ιό^-ΐόΐ". Η. fühlt sich aufgrund der Güte Rems mit diesem bis zum Tod verbunden. H. ist als Arzt beim pommerschen Landadel beschäftigt. Berichtet von seiner Heirat mit einer Urenkelin Philipp Melanchthons. Neustoizistische Devise (Lipsius-Zitat). Glückwunschgedichte der Freunde enthalten ein anonymes Gedicht von H. und »Dialogi gallici« seines Bruders Ambrosius. H. beglückwünscht Rem zum Frieden in Nürnberg, denn in Stettin drohe ein Volksaufstand. Die Menge habe Senatswächter gemeuchelt und aus dem Fenster geworfen, da sie am Wohlstand finanziell beteiligt werden wolle. Herzog hat Adelsversammlung einberufen. H. hofft auf Ende der politischen Krise in Stettin.

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Von Joachim Götze. Olenhausen, 5. August 1617, Druck (lat.) in: Α. H.: Amynta [Aminta, lat.]. Frankfurt/Main (D. undD. Aubry undC. Schleich)21624, S. 78. Götze dankt H. für Widmung und Übersendung der »Aminta«-Übersetzung, die ihm wie auch dem Göttinger Mediziner Ludolph Henckel außerordentlich gefalle. An Georg Rem. Stettin, 30. November 1617. MS (lat. Autogr.) UB Göttingen, Cod. 2° Philos. 92, Bl. 163r-164r. Kondoliert zum Tod von Rems Ehefrau und tröstet ihn mit neustoizistischen Gedanken (Lipsius-Zitate). Wünscht Rem eine neue Lebensgefährtin, die der verstorbenen gleichkomme. Spricht von Komet, den er am 21. November zuerst gesehen habe. Sieht in ihm Vorzeichen eines Krieges, der nach böhmischer Königswahl drohe. Bittet um göttliche Gnade und Einsicht der blutigen Kirchenführer. Erwähnt, daß Herlitz auf fürstlichen Befehl an einem Traktat über diesen Kometen schreibe. Übermittelt Gruß von Martin Chemnitz. Kündigt die Publikation eines Pesttraktats zur Leipziger Messe an und verspricht Rem ein Exemplar. P. S.: Legt Kometenschrift des Herlitz bei, die während der Niederschrift des Briefes eingetroffen ist. An Gregor Horstius. Stettin, 12. Mai 1620 [recte 1619]. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 233f. Dankt für Schreiben, das er durch gemeinsamen Freund D. Cramer erhalten hat. Seine Übersetzung von Quatrammis Pest-Traktat ist Horstius gewidmet. Beruft sich dazu auf Lipsius. Außerdem nachträgliche Übersendung seiner »Aminta«-Übersetzung. P. S.: Bericht über wundersamen Blutfluß bei einem halbverwesten Kind, das so seine ledige Mutter als Mörderin verrät. Bezugnahme auf medizinische Wirkung des Kautschuk. Von Gregor Horstius. Gießen, 20. Juli 1619. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 234. Dankt für Comaediola [seil. »Aminta«] und will sich um Aufführung durch Studenten in Gießen bemühen. Führt H.s Anekdote vom wundersamen Blutfluß auf natürliche Ursachen zurück (Wärmezufuhr). Urteil von Heidelberger Ärzten über neue Heilpflanzenwurzel. An Gregor Horstius. Stettin, 1. September 1619. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 235. Greift H.s natürliche Erklärung des blutenden Leichnams auf und erwägt neben Sympathie bzw. Antipathie als natürlicher Ursachen auch ein göttliches Zeichen als Erklärung. Dankt H. für das Bemühen um eine studentische Aufführung seiner » Aminta«-Übersetzung. Von Gregor Horstius. Frankfurt, 8. April 1620. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 235. Erörtert erneut den Fall des blutenden Leichnams. Stellt nicht die Möglichkeit eines göttlichen Wunders in Abrede, beharrt aber auf der Möglichkeit einer natürlichen Ursache. Erwähnt neue Veröffentlichung über Wassersucht von C. Piso in Pont-äMousson. Von Matthias Untzer. Halle, 22. Mai 1622. Druck (lat.) in: Α. H.: Amynta [Aminta, lat.]. Frankfurt/Main (D. und D. Aubry und C. Schleich) 21624, S. 80f. Dankt für Widmung und Übersendung der Pesttraktat-Übersetzung. Lobt H.s Übersetzungskunst, die dieser bei Quatrammis Pestschrift undTassos »Aminta« an den Tag gelegt habe, und fordert ihn auf, künftig mit lateinischen Schriften seine >Ehre und Ruhm bei Nachwelt und Gelehrtenrepublik< zu kräftigen.

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Achim Aumhammer

An Joachim Götze. Stettin, 26. Januar 1623. Druck (lat.) in: Α. H.: Amynta [Aminta, lat.]. Frankfurt/Main (D. undD. Aubry undC. Schleich) 21624, Bl. (:) 4 r+v . Dankbare Bezugnahme auf Götzes Brief vom 5. August 1617. H. erneuert mit diesem Schreiben an Götze seine Zueignung des »Aminta«, der nun in verbesserter zweiter Auflage erscheint. Von Gregor Horstius. Ulm, 5. Februar 1624. In: Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2, S. 235. Verweist H. wegen dessen Interesse für württembergische Genealogie an den Stuttgarter Hofarzt J. Plachetius. Unterrichtet H. von neuen Erkenntnissen über die Zubereitung von Kautschuk als Vomitiv. An Georg Rem. Stettin, 18. November 1624. MS (lat. Autogr.) UB Basel, Cod. G 120, Bl. 92r. Dankt in Erwartung des genealogischen Reusnerianischen Werks Rem für dessen Hilfe und bittet um weitere Förderung. Übersendet einige Centurien Anagramme mit der Bitte um deren Veröffentlichung. Berichtet von Beginn einer Pestepidemie, der schon über 100 Infizierte zum Opfer gefallen sind. An Johann Peter Lotichius. Stettin, 12. Januar 1627. MS (lat.) St.- und UB Hamburg, Cod. Sup. ep. 34, Bl. 42r-43v. Dankt Lotichius für dessen »Discursus de Gummi Gotta, sive peruviano«, wo H. lobend erwähnt wird. Korrigiert die Angabe des Lotichius, wonach nur Philipp Hechstetter und Johannes Rosenberg über die medizinische Wirkung des Gummi geschrieben hätten, durch Hinweis auf Michael Reudenius, der bereits im Jahre 1614 ein medizinisches Sendschreiben »De novo Gummi purgante« an den Arzt Adam Schwarz (Med. Vinariensis) verfaßt und mit medizinischen Koryphäen darüber korrespondiert habe, deren Antworten H. gesammelt hat. Wünscht Auskunft über medizinische Erfahrung mit »Radix Gelapii«. Bittet Lotichius um familiengeschichtliche Auskünfte betr. die Grafen von Hanau (ihnen hatte Lotichius sein »Tractatus« gewidmet) für sein »Opus Genealogicum Reusnerianum«. An Johann Peter Lotichius. Stettin, 3. August 1627. MS (lat.) St.- und UB Hamburg, Cod. Sup. ep. 34, Bl. 43v. Bestätigt späten Empfang der prompten Antwort des Lotichius vom 13. März mit Daten für sein genealogisches Werk. Übersendet Epigramm als Geleitgedicht für den »Tractatus de Febribus« des Lotichius und erbittet für seine Stammtafeln weitere genealogische Nachrichten zu den Grafen von Hanau und verwandten Dynastien. An Johann Peter Lotichius. Stettin, 28. Februar 1628. MS (lat.) St.- und UB Hamburg, Cod. Sup. ep. 34, Bl. 6ff-62". -Teildruck [falsch datiert auf 1. März 1628] in: Christophorus August Heumann: Poecile sive epistolae miscellaneae ad literatissimos aevi nostri viros. Bd. 3. Halle 1729, S. 397. Entschuldigt verspätete Antwort. Nimmt auf Fragen aus zwei Briefen des Lotichius zu »Gummi GOTTA« Bezug. 1. Ob Gummi ein Saft sei? Erinnert an Koryphäen wie M. Bacmeister aus Lüneburg, Nicolaus Monardes, sowie Caspar Weckerlin, Horstius und Clusius, die ihn für Baumsaft halten, während nur Michael Reudenius ihn nicht zu den Säften zähle. - 2. Differenzen der Substanz? Klagt, daß empirische Grundlage für Aussage fehle. - 3. Wo entsteht Substanz? »India occidentalis oder Neue Welt« - dem holländischen Kaufmann zufolge, von dem er Gujak bezog - und in Peru. - 4. Temperamentum des Stoffes? Bleibt unklar. - 5. Medizinische Anwendungsmöglichkeiten ? Berichtet von Erfolg bei »Febribus Tertianis« durch Exkretion von Gallenflüssigkeit (teilt Rezeptur mit). Epigramm für »Bibliotheca Poetica« und Bitte um Belegexemplare der Schriften des Lotichius. Dank für »Tractatus de Febribus«. Berichtet

Andreas Hiltebrand-ein

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von der Mühsal seiner genealogischen Forschungen. Bittet Lotichius um den Namen des Grafen von Hanau, der seiner Basier Promotion im Jahre 1607 beiwohnte. Frage nach medizinischen Erfahrungen mit »Radix Gelapii«. Berichtet in Ergänzung zu Lotichius' »Thesis de lapide Bezoar« von Steinfund im Bauch eines pommerschen Bauern. An Johann Peter Lotichius. Stettin, 22. August 1628. MS (lat.) St.- und UB Hamburg, Cod. Sup. ep.34, Bl. 70 v -73 r . - Teildruck in: Christopherus August Heumann: Poecile sive epistolae miscellaneae ad literatissimos aevi nostri viros. Bd. 3. Halle 1729, S. 397-399. [Wichtiger autobiographischer Brief!] Dankt für Brief des Lotichius mit »Tetrastichis in singulos Imperatores Romanos«. Er schickt Lotichius als Gegengabe »Epigrammata sacra« (vor sechs Jahren konzipiert, auf Bitten des Pastors gedruckt); von seiner lateinischen Übersetzung des italienischen Pesttraktats besäße er kein überzähliges Exemplar. Bittet Lotichius um Exemplar von dessen »Bibliotheca poetica«. Erwartet Ulmer Neuausgabe des »Tractatus de sanitate studiosorum« seines Freundes Gregor Horstius und »Decas Exercitationum Pharmaceuticarum«. - Schildert seinen Lebenslauf. Erwähnt Krieg in Pommern und verzeichnet seine eigenen Schriften. Vorarbeiten zu einer medizinischen Methodik blieben wegen des genealogischen Hauptgeschäfts auf der Strecke. Setzt auf Bitten des Konsuls Joannes Thymius in Frankfurt/Oder Vorarbeiten des chronologischen Werks von Sethus Calvisius fort. Zählt zu seinen Schriften auch: 3 Bücher »Poemata« (Epithalamia, Epicedia et Miscellanea), ein Buch »Carmina Adoptiva«, sowie eine Centuria »Anagrammatum«, zudem habe er »Laurentius Aenigmaticus« zum Druck befohlen. Berichtet von seinen Verhandlungen mit Frankfurter Druckern und Verlegern (Aubry und Schleich, Treutel). H. schickt Lotichius Jamben für dessen »Notae ad Petronium Arbitrum«. Emendation eines eigenen Gedichts in L.s »Tractatus de Febribus«. Erneut genealogische Fragen. An Johann Peter Lotichius. Stettin, 16. Mai 1632. MS (lat.) St.-und UB Hamburg, Cod. Sup. ep. 34, Bl. 107r-108v. Schickt Lotichius Glückwunschepigramm und Rede über Theriak sowie andere Antidote. Bittet Lotichius um dessen »Opera Medica, Poetica, Philosophica et philologica« gemäß neuem Bücherkatalog. Erbittet genealogische Auskünfte und deren Übersendung an den Hamburger Bürgermeister von Oertzen. Berichtet, daß ihm der König von Schweden zum Dank für genealogische Arbeit goldenes Bildnis verehrt habe. Bedauert, kein Freiexemplar mehr übrigzuhaben. Kündigt aber Neuauflage desselben Werks in Frankfurt/M. bei W. Finzer [tatsächlich bei W. Weiß] an. Bedauert Druckfehler, besonders in Dedicatio. An Georg Mauritius [jun.]. Stettin, 15. April 1631. MS (lat. Autogr.) St.-und UB Hamburg, Cod. Sup. ep. 36, Bl. 406 r -407 r . Beruft sich für Kontaktaufnahme mit Mauritius auf seine Freundschaft zu dem verstorbenen Rem. Beklagt teilnahmsvoll den Kriegsdruck auf die Stadt Nürnberg, von der der Kaiser nun sogar eine Jesuitenkirche fordere. Dankt für Interesse, das Mauritius (und mittelbar auch Caspar Hofmann) für seine Genealogie haben. Bittet um Unterstützung bei seinem genealogischen Projekt und stellt umgekehrt Hilfe in Aussicht. Erwähnt dankbar die Hilfe, die ihm Graf Wolfgang-Friedrich von Pappenheim hat zuteilwerden lassen. Klagt über Unverstand des Frankfurter Druckers Treutel. Austausch von genealogischen Daten und Fragen. - Fügt Schriftenverzeichnis bei und schickt Glückwunschverse für goldenes Bildnis des Schwedischen Königs.

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An Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel. Stettin, 23. Mai 1633. MS (dt. Autogr.) HAB Wolfenbüttel, Cod. BA II, Briefe Herzog August, Nr. 335. Bittet Herzog August um genealogische Daten des Hauses Braunschweig-Lüneburg zur Vervollständigung seines genealogischen Werkes. Übersendet seine Trauerode auf Tod Gustav Adolphs (»Anitzo übersende E. F. D. ich einligende Odam lugubrem [...] non absque lacrumis a me conscripta«) und stellt genealogisches Werk in Aussicht. Erwähnt Besuch der Brandenburger in Wolgast.

C)

Stammbucheinträge

Eintrag in Stammbuch des Mediziners Heinrich Heyl jun. aus Danzig. Padua, 5. September 1606. MS (lat. Autograph) Bibl. Polskiej Akademii Nauk Danzig, Cod. 2506, Bl. 136r. Eintrag ins Stammbuch des Caspar Bauhin. Basel, 23. März 1607. MS UB Basel, Cod. AN VI 16, Bl. 47v.

D)

Geleitgedichte

Gregor Horstius: Opera medica. Bd. 2. Hg. von Daniel Horstius. Nürnberg (Endters Erben) 31660. (Lat. anagr. Distichon, dat. 1622) Daniel Cramer: De Peste, nova dissertatio theologica et scholastica. Leipzig (G. Ritzsch für E. Rehefeld und J. Große) 1625. (Lat. Lobgedicht [7 Disticha]) [Hiltebrand ist im Index autorum aufgeführt] Christopherus Schultet us: Brabeum servorum fidelium emeritorum, Oder Ehrendanck aller getrewen Diener Christi [...] Leichbestätigung Des Ehrenvesten / Achtbaren und Wolgelahrten Herrn M. Valentini Loleii Der Stadtschulen in Alten Stettin Rectoris emeriti. Stettin (N. Barthold) 1631. (Lat. Trauergedicht [7 Disticha]) Martin Leuschner: Panegyris Oratoria Consultative et Eucharistica In quinque Actus distributa. Stettin (D. Rhete) 1633. (Lat. Lobgedicht [13 Disticha]) Martinus Bambamius: Tyrocinium ethicum Aristotelicum cum variis virtutum et vitiorum Exemplis et Sententiis in usum studiosorum adolescentum. (2. Aufl.) Stettin (D. Rhete) o. D. [1634?]. (Lat. Lobgedicht [4 Disticha]) Fridericus Crugerus: ΕΥΘΑΝΑΣΙΑ apostolica, Das ist / Apostolische Sterbekunst [...] In einer Christlichen Ehrn= und LeichPredigt / Bey Des Weyland Ehrnvesten / Achtbahren und Hochgeiarten Herrn Davidis Herlicii Philosophise und Medicinae Doctoris, Astronomi, Historici, Poetae Cses. &c. Vornehmen und Hochberühmbten Practici Leichbestattung. Stettin (D. Rhete) 1637. (Lat. Trauergedicht [6 Disticha]) Laurentius Eichstad: Pars Altera Ephemeridum novarum et motuum coelestium decennalis ab Anno Μτ& Christians 1641. incipientum, et in annum 1650. desinentium. Stettin (G. Rhete) 1634. (2 lat. anagr. Disticha)

E) Hiltebrand gewidmete Drucke Paulus Melissus Schedius: Schediasmata cum Fidleri Fluminibus Germanis. Hg. von Valentin Härtung. [Leipzig] (K. Klosemann) 1625. Paulus Orneis: De tribus rerum publicarum formis, earumque ΠΑΡΕΚΒΑΣΕΣΙ, ut et de

Andreas Hiltebrand-ein pommerscher Dichterarzt

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repub[lica] mist a. (Vorsitz: Martin Leuschner). Stettin (G. Goetschius) 1631 (Disputationes Politicae. Hg. von M. Leuschner, 3). Caspar Mejerus: De officialibus in genere, nec non in specie de senatu et senatoribus (Opponent: Thomas Lansius. Vorsitz: Martin Leuschner). Stettin (G. Goetschius) 1631 (Disputationes Politicae. Hg. von M. Leuschner, 5). Laurentius Eichstad: Pars Prima Ephemeridum novarum et motuum coelestium quinquennalis ad annos Μτχ Christians 1636. 1637. 1638. 1639. 1640. Stettin (D. Rhete) 1634.

Thomas Lederer

Leben, Werk und Wirkung des Stralsunder Fachschriftstellers Johann Grasse (nach 1560-1618)

Wer das literarische Leben einer Region rekonstruieren will, tut gut daran, dabei auch die Fachschriftsteller zu berücksichtigen. Gerade sie haben oft Werke von enormer Wirkung und weiter Ausstrahlung geschrieben. Überdies erweist sich ein weit gefaßter Literaturbegriff, der auch wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswerte Fachtexte einbezieht, für die frühe Neuzeit immer wieder als unabweisbar. Im Rahmen der städtischen Kultur Stralsunds verdient ohne Zweifel das Werk des Stralsunder Juristen Johann Grasse (nach 1560-1618), der als alchemischer Fachschriftsteller hervortrat, besondere Aufmerksamkeit. Denn tatsächlich gewann sein Hauptwerk europäische Bedeutung, ja seine Wirkungsgeschichte setzt sich eigentlich noch bis in unsere Zeit fort. Schließlich kommt Grasses alchemische Hauptschrift nicht etwa als literarisch glanzloser Rezepttext einher - nach Art etwa eines »Recipe 1 Pfund Blei und reib es klein« sondern bedient sich als parabolische Erzählung poetischer Formen und entfaltet durchaus literarischen Reiz. Grasses Hauptwerk führt eindringlich vor, wie sich in der Sprache der Alchemie der Charakter der Fachsprache - also die Beschreibung chemisch-stofflichen Geschehens - durchdringt mit allegorischer Bildlichkeit und symbolischer Bedeutung. Auch damit gehört Grasse zur Gefolgschaft des Renaissancearztes und Naturphilosophen Paracelsus, mithin zu einer umfassenden Reformbewegung, die in der Rosenkreuzerfiktion ihren eigentümlichsten Ausdruck - mit beträchtlicher Nachwirkung - fand. 1 Von Johann Grasses Leben indes finden sich nur wenig Spuren. 2 Es fehlen Selbstzeugnisse, und zeitgenössische Quellenhinweise sind spärlich. 1

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Zum bislang wenig untersuchten Zusammenhang von Paracelsismus, Alchemie und heterodoxen Reformbestrebungen vgl. etwa Wilhelm Kühlmann: Paracelsismus und Häresie. Zwei Briefe der Söhne Valentin Weigels aus dem Jahre 1596. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 18 (1991), S. 24-30; sowie Joachim Teile: Johann Huser in seinen Briefen. Zum schlesischen Paracelsismus im 16. Jahrhundert. In: Parerga Paracelsica. Paracelsus in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Joachim Teile. Stuttgart 1992 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 3), S. 159-248. Die wenigen früher bekannten biographischen Daten gingen auf eine kurze Mitteilung im »Diarium biographicum« von Henning Witte (Danzig 1688) zurück, die jedoch manch Irriges enthält. Nach Witte soll Grasse aus Pommern stammen, »Syndikus« der

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Thomas Lederer

Er wurde Anfang der 1560er Jahre in der Hansestadt Riga geboren3 und stammte wahrscheinlich aus einer aus Pommern zugewanderten Familie.4 Zum Studium der Rechte ging er 1581 an die Universität Frankfurt/Oder, 1585 dann an die Helmstedter Universität,5 wo er auch promovierte.6 Schon während seines Studiums begann er, sich mit Alchemie zu beschäftigen.7 Die Leidenschaft für die Alchemie hatte Ende des 16. Jahrhunderts Personen aller Stände erfaßt; auch im gebildeten Bürgertum, dem Grasse angehörte, war dies keine Seltenheit. 1597 erwarb Grasse das Bürgerrecht der Hansestadt Stralsund, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1618 behielt.8 Die Gründe seiner dortigen Niederlassung und seine genaueren Lebensumstände sind uns nicht bekannt. Anscheinend versuchte er, dem als promovierten Juristen von vornherein ein gewisses Ansehen zukam, mit einem prätentiösen äußern Habitus und großer Redegewandheit dem damals schlechten Ruf der Alchemie entgegenzuwirken und ihren Anspruch als Wissenschaft

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Stadt Stralsund gewesen sein und in seinen letzten Jahren in Livland (Baltikum) gelebt haben, wo er 1623 in Riga verstorben sein soll. All diese Angaben waren zu korrigieren. - Der neuere Forschungsstand wird zusammengefaßt in dem Lexikonartikel von Joachim Teile: Grasse, Johann. In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 4. Gütersloh, München 1989, S. 316. Grasse bezeichnet sich im Besitzeintrag der möglicherweise von seiner Hand stammenden Handschrift Mellon Ms.50 (New Haven/Connecticut, Yale University, Beinecke Library) mit dem Attribut »Rigensis«, ebenso in den Matrikeleinträgen der Universitäten Frankfurt/Oder und Helmstedt; vgl. Ältere Universitäts-Matrikeln: I. Universität Frankfurt a. d. Oder. Hg. von Ernst Friedländer. Bd. 1. Leipzig 1887, S. 287b, Zeile 40, und Album Academiae Helmstadiensis. Bearb. von Paul Zimmermann. Abt. 1: 1574-1636. Bd. 1. Hannover 1926, S.52. - Sein genaues Geburtsjahr konnte nicht ermittelt werden, da zu dieser Zeit in Riga noch keine Kirchenbücher geführt wurden. Der Name Grasse wird in Pommern häufiger angetroffen; vgl. Herbert Spruth: Landes· und familiengeschichtliche Bibliographie für Pommern. Neustadt/Aisch 1962-1965, S. 298, 460, 799. - Ein Jacob Grasse war nachweislich im 15. Jahrhundert aus Pommern nach Reval ausgewandert; vgl. Liselotte Feyerabend: Die Rigaer und Revaler Familiennamen im 14. und 15. Jahrhundert. Köln, Wien 1985 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 7), S. 112. In den Matrikeln dieser Universitäten verzeichnet; wie Anm. 3. Grasse unterzeichnete einen Kreditvertrag mit »Johannes Grassaeus, rechten Doctor« (Abschrift im Stadtarchiv Stralsund, Rep. 3, Nr. 5086, Bl. 44r) und wird in derselben Stralsunder Nachlaßakte immer als »Doctor« bezeichnet. - Da weitere Matrikeln neben Frankfurt/O. und Helmstedt seinen Namen nicht aufführen, ist anzunehmen, daß er auf der Helmstedter Universität promovierte, wenn auch unter den erhaltenen Helmstedter juristischen Dissertationen keine aus Grasses Feder aufzufinden ist. Aus der Frühzeit der Universität Helmstedt (bis etwa 1625) sind jedoch zahlreiche Disputationen verloren; vgl. Werner Kundert: Katalog der Helmstedter juristischen Disputationen 1574-1810. Wiesbaden 1984 (Repertorien zur Erforschung der frühen Neuzeit, Bd. 8). Eine Anmerkung Grasses in der Handschrift Mellon Ms. 50 (s. Anm. 3) besagt, er habe 1590 von dem braunschweigischen Pastor Melchior Leporinus (Haase) ein alchemisches Rezept bekommen. Dies stellt das früheste bekannte Zeugnis für Grasses Neigung zur Alchemie dar. Freundliche Auskunft des Stadtarchivs Stralsund.

Der Fachschriftsteller Johann Grosse

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zu begründen.9 Jedenfalls lag Grasses Wirkkreis überwiegend im Raum der nordostdeutschen Hansestädte; man weiß etwa, daß er mit Hamburger und Lübecker Ärzten, die der neuen paracelsischen Therapierichtung der chemischen Arzneien anhingen, zusammenarbeitete.10 Wahrscheinlich boten jedoch die vom nüchternen Kaufmannssinn geprägten Hansestädte letztlich zu wenig Möglichkeiten, um den Lebensunterhalt mit der Alchemie zu bestreiten. Dies im Gegensatz zu vielen Fürstenhöfen jener Zeit, so daß auch Grasse eine Anstellung bei einem Fürsten suchte: Zeitweilig stand er in Diensten des Kölner Kurfürsten Herzog Ernst von Bayern.11 Dieser war selbst leidenschaftlicher Alchemiker und hatte sich, vor allem indem er maßgeblich die Drucklegung der ersten Paracelsus-Gesamtausgabe förderte, den >Feuerkünstlern< jener Zeit als wohlwollender Mäzen empfohlen.12 An bekannteren Gestalten in Grasses Lebenkreis sind weiter zu nennen die norddeutschen Arztalchemiker Michael Maier13 und Heinrich Khunrath,14 der holsteinische Theosoph Joachim Morsius15 und der Helmstedter Theologieprofessor Cornelius Martini.16 Möglicherweise gehörte der Wittenberger Mathematikprofessor Melchior Jöstel zu seinen Briefkorrespenden-

' Der Arztalchemiker Michael Maier berichtet in seinem »Examen fucorum pseudochymicorum« (Frankfurt/M. 1617) über einen (für ihn betrügerischen) Alchemiker »a gramine denominato«, welcher allem Anschein nach mit Grasse zu identifizieren ist, er sei mit prächtiger Kleidung, goldener Kette und sehr eloquent aufgetreten; ebd, S. 33-34. 10 Die Stralsunder Nachlaßakte (s. Anm. 6) nennt den Hamburger Arzt Johann Westhoff und den Lübecker Arzt Jakob Martini als Gläubiger Grasses, für die er alchemische Medikamente herstellte. Von Westhoff kennt man ein »Carmen«, das er der »Chrysologia seu Examen Auri chymicum« (1622) des Chemiaters Angelo Sala voranstellte. 11 Im Oktober 1603 sandte Grasse einen Brief an Kurfürst Ernst, um sich als alchemischer Lehrer zu empfehlen. Der Brief ist nur aus Abdrucken bekannt; zuerst in: Mysterium occultae naturae. Das ist: Von der Herrlichen und Edlen Gabe Gottes, der Sternflüssigen Blumen des kleinen Bawerß. Hamburg 1657, Appendix, S. Cvj-D3. So ist es glaubhaft, wenn ein Bekannter Grasses, Joachim Morsius, in einer erstmals 1621 gedruckten Schrift, der Verse Grasses beigegeben sind, diesen als »consiliarius Archiepiscopi Coloniensis« tituliert; vgl. Cornelius Drebbel: Tractatus duo: prior de natura elementorum, posterior de quinta essentia. Editi cura Joachimi Morsii. O.O., o.J. [1621], Bl. C6v-C7r. 12 Eine eindringendere Studie zur Alchemie an Emsts Hofe findet sich in der Dissertation des Vf., die Grundlage dieses Beitrags bildet (Druck in Vorbereitung). 13 Vgl. Anm. 9. 14 Im Dezember 1596 teilte Khunrath in Hamburg Grasse ein Rezept für ein »Sigillum Hermetis« mit; es ist abgeschrieben in einer Hs. der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (Mscr. Dresd. J 345, Bl. 854"). 15 Morsius, der weitgespannte Beziehungen zu Aichemikern undTheosophen seiner Zeit unterhielt, veröffentlichte 1621 ein alchemisch-allegorisches Gedicht Grasses; wie Anm. 11. 16 Die Stralsunder Nachlaßakte (wie Anm. 6, Bl. 50*) nennt »M. Cornelius Martini zu Helmstat« als Gläubiger Grasses. Von C. Martini wurde schon im 17. Jahrhundert berichtet, er habe sich nach anfänglicher Gegnerschaft zur Alchemie bekehren lassen, was jedoch öfters bezweifelt wurde.

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ten. 17 Grasses Bekanntschaft mit dem theosophisch geprägten Breslauer Stadtarzt Johann Dobritius lassen auch Verbindungen zu dem schlesischen Paracelsisten- und Theosophenkreis vermuten. 18 Letztlich bleiben die Umrisse seiner Persönlichkeit jedoch schemenhaft. Grasses bei weitem bedeutendstes Werk ist ein zweiteiliger deutscher alchemischer Traktat, der bis 1598 vollendet war und der unter dem zunächst befremdlich anmutenden Titel Der Große und der Kleine Bauer bekannt wurde. Als Verfasser dieser in mehreren Ausgaben mit wechselnden Titeln (Erstdruck 1617) anfänglich anonym gedruckten Schrift tauchte der Name Grasse bibliographisch bislang überhaupt nicht auf, da seit dem 18. Jahrhundert die zu seinen Lebzeiten zumeist verwendete lateinische Namensform Grasseus fälschlich in die deutsche Form Grasshof(f) übertragen wurde, welche sich bis heute erhielt. 19 Weiter kennt man von Grasse eine vermutlich autographe Aichemiehandschrift,20 die allerdings eher den Charakter einer uneigenständigen Kompilation trägt; einen längeren, nur handschriftlich überlieferten Traktat über die alchemische Theorie, 21 kurze Rezepttexte, sowie einen längeren Brief, in dem er sich dem Kölner Kurfürsten Ernst als alchemischer Lehrer empfahl. 22 - Die folgenden Ausführungen, die Grasse als Fachschriftsteller würdigen, können sich daher auf den sogenannten Großen und Kleinen Bauern beschränken. Beide Traktate wurden erstmals zusammen 1617 in Frankfurt/Main mit dem Titel Aperta area arcani artificiosissimi abgedruckt ; 23 in Straßburg erschien sogleich 1618 17

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Eine Hs. der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (Cod. alchim. 651, S. 390-391) enthält drei Briefe alchemischen Inhalts von Grasse an Jöstel, deren Authentizität jedoch unsicher ist. Johann Dobritius aus Breslau wird in der Stralsunder Nachlaßakte (wie Anm. 6, Bl. 39v, 50") als Gläubiger Grasses genannt. Von Dobritius wurde eine Schrift astrologisch-theosophischen Inhalts gedruckt: »Chronomenos, d.i. Zeiterinner«. Liegnitz 1612. Er besaß Verbindungen zu einem Danziger Kreis von Theosophen; vgl. Theodor Wotschke: Wilhelm Schwartz. Ein Beitrag zur Geschichte des Vorpietismus in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930), S. 89-126, hier S. 91-92. Dobritius korrespondierte auch mit dem Kasseler Hof des Landgrafen Moritz; vgl. Christoph von Rommel: Neuere Geschichte von Hessen, Bd.2 (Geschichte von Hessen, Vierten Theiles zweite Abtheilung, Bd.6). Kassel 1837, S. 537. Die richtige Namensform »Grasse« ergibt sich zweifelsfrei aus der Nachlaßakte des Stralsunder Stadtarchivs von 1618-1621 (wie Anm. 6 , Bl. 62')· Die Hs. liegt heute in den USA: New Haven/Connecticut, Yale University, Beinecke Library, Mellon Ms.50. Der Traktat »De materia Lapidis« ist enthalten in: Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 4° Ms. ehem. 86, Bl. 46v-70v; Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod.alchim. 656, S. 347-408. - Er konnte vom Vf. aufgrund deutlicher Gemeinsamkeiten mit dem gesicherten Werk Grasse zugesprochen werden. Vgl. Anm. 11. Der genaue Titel lautet: Arcani artificiosissimi aperta area. Das ist: Der allergrösten und künstlichsten Geheimnüssen der Natur eröffneter und offstehender Kasten. Darinnen von der waren Materia / vnnd deren / deß eintzigen Subjecti Vniversalis magni, vnfehlbaren Erkantnuß / auß welchem allein das höchste Werck / nemlich der Lapis

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eine sich auf den Kleinen Bauern beschränkende kommentierte Ausgabe unter dem Titel Ein philosophischer und chemischer Tractat: genannt der kleine Baur. Es folgten dann bis 1753 weitere elf Druckausgaben; später wurden bis in unsere Tage noch Exzerpte aus den Bauern abgedruckt. 24 Der Große und der Kleine Bauer bilden die in der Alchemie obligate Zweiheit von Theorica und Practica. Der erste Traktat, der sogenannte Große Bauer, erörtert die alchemische Theorie weitgehend auf dem Boden der bereits in Spätantike und Mittelalter entwickelten Lehren. Auf eine eingehendere Diskussion wohl mehr von spezifisch chemiegeschichtlichem Interesse sei hier verzichtet. Nur insoweit sei dieser Traktat charakterisiert, daß er trotz seines weitgehend traditionellen Inhalts insofern in die Neuzeit weist, als er versucht, eine gewisse Systematik in das unübersichtliche, oft widersprüchliche Gestrüpp der alchemischen Lehrsätze zu bringen. Grasse zielt darauf ab, mit einer methodischen Beweisführung die Kardinalfrage nach der richtigen Ausgangsmaterie des »Großen Werks« der Alchemie auf die scheinbare Lösung hinzuführen, daß nur ein Bleierz diese Materie sein könne. Er nennt sogar - ziemlich unüblich in damaligen alchemischen Schriften - besonders geeignete Bleierze bestimmter Bergwerke. Heute klingt die Aussage, Alchemisten wollten aus Blei Gold machen, wie ein Allgemeinplatz. Dies war aber keineswegs immer selbstverständlich: In der mittelalterlichen Alchemie stand das Quecksilber im Mittelpunkt der Bemühungen. Daneben wurden alle möglichen anderen metallischen und organischen Materien erprobt. Grasses Großer und Kleiner Bauer stellen sich nun mit an die Spitze einer alchemischen Richtung des 16. Jahrhunderts, die wiederum das Metall Blei propagierte, das bereits in der frühen Alchemie eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Dennoch: der einleitende Traktat des Großen Bauern allein hätte wohl kaum für den Nachruhm Grasses gesorgt. Der Titel Großer Bauer zielt bereits auf den folgenden Teil, der die Praxis des alchemischen Werks allegorisch veranschaulicht und in dem nun tatsächlich ein »kleiner Bauersmann« auftritt. Dieser Kleine Bauer geriet zu einem bedeutsamen, vielschichtigen Sinnbild frühneuzeitlicher Alchemie; erst durch diese Schrift wurde der hohe Rang Johann Grasses als alchemischer Fachautor begründet. Es handelt sich hier um die Schilderung der alchemischen Praxis in verschlüsselter Rede. Sie ist eingekleidet in die Ich-Erzählung eines Alchemikers. Dieser Adept, von seinen Mißerfolgen enttäuscht und verbittert, beschließt, auf Reisen zu gehen, um die wahre Materie zu finden. Dabei begegnet ihm ein »feiner, ehrbarer, alter Bauersmann« mit zwei Blumen in

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Philosophicus, welches allen Tincturen in der gantzen Chymia vorgehet / entspringet / auch auß dessen Geist alle dinge der gantzen Welt vniuersaliter herfliessen / klärlich gehandelt wirdt. Beneben der rechten vnd warhafftigen Physica naturali rotvnda, durch eine Visionem Chymicam Cabalisticam gantz verständtlich beschrieben. Eine genauere Bibliographie von Grasses Werk enthält die Dissertation des Vf.

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der Hand. Jene Blumen und seine farblich eigentümliche Gewandung verraten dem Adepten sogleich die alchemische Symbolik des Bauern. Es entspinnt sich ein langes Gespräch zwischen den beiden über das alchemische Werk, in dem offenbar wird, daß eben dieser niedere, schlecht und einfältig anzusehende Bauer die Wahrheit der Alchemie besitzt, die er dem Adepten dann ausführlich eröffnet. Die zunächst befremdlich wirkende Einkleidung einer alchemischen Fachschrift in die Form einer Ich-Erzählung stellt nun nicht Grasses Erfindung dar, sondern besitzt ihr Vorbild in französischsprachigen Aichemietexten, die wohl spätestens seit Ende des 15. Jahrhunderts in Frankreich entstanden. 25 Sie berichten ausgiebig und detailreich in fast novellistischem Stil von den Reisen und Fährnissen eines Adepten. 26 Auch in der Aichemieliteratur zeigt sich demnach der Einfluß französischer Literatur mit ihrer langen epischen Tradition. Es bleibt hier festzuhalten, daß nicht nur die »fiktionale« Literatur, sondern auch alchemische Fachliteratur formal-stilistische Entwicklungen und Abhängigkeiten aufweisen kann; allerdings sind diese bislang nur wenig untersucht worden. Grasses Kleiner Bauer bildet das erste ausgeführte Beispiel dieses Typus der alchemischen Erzählung in der deutschsprachigen Aichemieliteratur. Keineswegs verharrt er jedoch bei einer bloßen Paraphrase der französischen Vorlagen, sondern bietet eine durchaus eigenständige Verarbeitung. Als wesentlichster Unterschied ist zu erkennen: Bei den französischen Texten ist die realitätsnahe Ich-Erzählung des Adepten völlig getrennt von einer anschließenden Parabel, die das »Große Werk« der Alchemie allegorisch beschreibt. Grasse verschmilzt nun den biographischen Erzählrahmen mit der Parabel - bei ihm also mit dem Motiv der wunderbaren Begegnung mit dem allegorischen Bauersmann - zu einer Einheit. Dadurch entfernt sich der Text Grasses wieder von der Realistik der französischen Vorlagen, welche man fast für sich als Novelle über einen alchemischen Stoff 25

Den frühesten Text dieser Art stellt wohl die alchemische Erzählung des Bernardus Trevisanus bzw. »Grafen Bernhard« dar. Identität und zeitliche Einordnung dieses Alchemikers bleiben ungewiß; er ist nicht mit einem Alchemiker Bernhard von Trier zu verwechseln, der historisch nachweisbar im 14. Jahrhundert lebte; vgl. hierzu Lynn Thorndike: A history of magic and experimental science. Bd. 3. New York 1951, S .611-627. Wahrscheinlich entstand Trevisanus' Werk Ende des 15. Jahrhunderts in Frankreich. Es wurde Vorbild für eine ähnlich gestaltete alchemische Erzählung des in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisbaren französischen Edelmannes Denis Zacaire (Dionysos Zacharias). Beide Texte wurden in Antwerpen 1567 erstmals zusammen in französischer Sprache gedruckt unter dem Titel: »Opuscule tres-eccellent de la vraye philosophie naturelle des metaulx et traicte de venerable Docteur Allemant Messiere Bernard Conte de la Marche Treuisane«. Das Attribut des »deutschen Doktors« ist wohl irreführend.

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Das Motiv des suchenden und reisenden Adepten erschien fast toposhaft sicherlich bereits früh in der mittelalterlichen Aichemieliteratur; es bleibt jedoch beiläufiges Attribut, ohne als Hauptmotiv einer Erzählung ausgeführt zu werden.

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lesen könnte. Seine Erzählung wendet sich so ins Ideale, erhält einen artifiziellen, märchenhaft anmutenden Charakter. Grasses »kleiner Bauersmann« verkörpert eine Personifikation des Planetengottes Saturn, der seit alters her auch mit dem Landbau in Verbindung gebracht wurde. Der kalte, ungünstige Saturn steht wiederum traditionell für das geringe, dunkle Metall Blei. Grasse ist es also darum zu tun, mit seinem Kleinen Bauern der Blei-Theorie einen bildhaften, anspielungsreichen Ausdruck zu geben. Dies geschieht jedoch keineswegs in bloßer Formelhaftigkeit, etwa so, daß statt »Bauer« nun einfach Blei gesetzt werden könnte. In der alchemischen Vorstellungswelt kommt dem Stofflichen immer auch eine darüber hinausweisende Dimension zu; das alchemische Symbol bedeutet Stoff und Idee zugleich. 27 Da der Bauer vor Grasse nicht zum alchemischen Symbolinventar gehörte, ist nach Grasses Absicht bei der Einführung dieser Figur als alchemischer Allegorie zu fragen und an die außeralchemischen Bezüge der Bauernfigur im 16. Jahrhundert zu erinnern. 28 Als der tiefste, von der städtischen Gesellschaft verachtete und verlachte Stand trat der Bauer in der deutschsprachigen Literatur der frühen Neuzeit zumeist als dummer Tölpel auf, etwa in der Schwankdichtung. Viel seltener begegnet der zwar arme, jedoch gewitzt-kluge Bauer, der durch seine List über die höheren Stände siegt. Im frühneuzeitlichen Schwank- und Zaubermärchen gilt der Bauer als der schlechthin Niedere, Arme, jedoch gelangt er durch seine Schläue zu Reichtum. 29 Wenn Grasse mit dem zumeist so verachteten Bauer die gesuchte Materie des »Großen Werks« allegorisiert, verbildlicht er eindringlich den Gedanken schon der mittelalterlichen Al27

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Zur Symbolsprache der Alchemie vgl. Michel Butor: Die Alchemie und ihre Sprache. Essays zur Kunst und Literatur. Frankfurt/M. 1990. Hier ist nicht der Ort für eine umfassende Darstellung des Bauernbildes im 16. Jahrhundert; vgl. dazu z.B. Fritz Martini: Das Bauerntum in deutschen Schrifttum. Von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Halle/Saale 1944; Helga Schüppert: Der Bauer in der deutschen Literatur des Spätmittelalters. In: Bäuerliche Subkultur des Spätmittelalters. Wien 1984, S. 125-176; sowie Heide Wunder: Der dumme und der schlaue Bauer. In: Mentalität und Alltag im Spätmittelalter. Hg. von Cord Meckseper u. Elisabeth Schraut. Göttingen 1985, S. 34-52. Als weitere, positive Facetten des Bauernbildes in anderen Literaturgattungen dieser Zeit seien erwähnt: In hochmittelalterlicher Lehrdichtung wird eine besondere Wertschätzung des Bauern aufgrund seiner Arbeit zum Segen der Menschheit vorgetragen; im »Irreitend Bilger« von Jörg Wickram kommt der in der Erzählliteratur sehr vereinzelt stehende fromme und gelehrte Bauer vor; in der neulateinisch-humanistischen Dichtung des 16. Jahrhunderts wird die antike Tradition der Bauernverherrlichung beschworen. Doch abgesehen von der formalen Verschiedenheit dieser Literatur zu Grasses Erzählung überdeckte sie wohl kaum das allgemein tiefe Ansehen des Bauernstandes in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. So wird der Bauer auch auf bildlichen Darstellungen des 17. Jahrhunderts zumeist negativ stilisiert; vgl. Renate Haftlmeier-Seiffert: Bauerndarstellungen auf deutschen illustrierten Flugblättern des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1991 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 25).

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Chemie, die Materie des »Steins der Weisen« sei unscheinbar, liege überall, von allen geringgeschätzt, am Wege. Auch korrespondiert dies mit der »Christus-Lapis-Parallele« der spätmittelalterlichen Alchemie: Die veredelnde Materie des Steins gilt als zunächst so verachtet, wie es der Erlöser Christus in seinem Volk war. Doch darüberhinaus soll der niedrige Bauer auch versinnbildlichen, daß Gott das Gelingen des alchemischen Werks, und damit der wahren Naturerkenntnis jenseits des Bücherwissens, keineswegs nur den Reichen vorbehalten, sondern gerade auch den Armen ermöglichen wollte, die es viel eher verdienten. So spricht der Ich-Erzähler in Grasses Erzählung: 30 Da fiel mir eyn / daß der Bauer gesagt hatte / daß Gott ime ein solches Ansehen auß hochwichtigen Vrsachen gegeben vnnd gethan hette / zudem auch / damit es die armen so wol als die reichen haben möchten / vnd sich dessen gegen Gott nicht zu beklagen hetten / als solte Gott dem reichen in diesem einen Vorzug gegeben haben / Nein warlich / die reichen achten sie nicht / vnd gleuben viel weniger / daß ein solches in ihm stecke . . . Auch bekämen es die armen eher zu handen als die reichen /

Der Bauer als Typus des schlechthin Armen und Niederen wird so in der Interpretation Grasses zum Symbol einer Alchemie mit sozialer Intention, die nicht nur an Fürstenhöfen, auf welche sie im Zeitalter des beginnenden Absolutismus mehr und mehr verwiesen war, sondern gerade von den Armen betrieben werden soll. Der niedere Bauer als Träger der alchemischen Wahrheit deutet eine Alchemie mit dem Ziel ausgleichender Gerechtigkeit an. Grasses »Kleiner Bauer« gibt auch seiner heftigen Klage darüber Ausdruck, daß die Alchemie als in seinen Augen »wahre Philosophie« von den Universitäten ausgeschlossen, gar von den akademischen Gelehrten tief verachtet war: 31 wann sie [die Universitätsgelehrten] nicht Doctores oder Magistri weren / so vbten sie sich noch wol in der wahren Philosophia, aber jetzo schämen sie sich dessen / daß weil sie graduirte Personen noch lernen sollen / darumb muß die vera philosophia vnter dem schein der falschen vnschuldig verdampt / auff das eusserste verfolgt vnd gelästert werden / aber also muß es zugehen vnd geschehen / daß Gottes Weißheit vor der Welt Thorheit heisse.

Grasses »Kleiner Bauer« versinnbildlicht somit auch die Ohnmacht der Alchemie, die sich als Wissenschaft verstand, gegenüber einem erstarrten akademischen Bildungssystem.32 Der Bauer als Typus des schlechthin Un30

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Vgl. Arcani artificiosissimi aperta area (wie Anm. 23), S .120-121. - Zwar findet man schon in der spätmittelalterlichen Alchemie den anscheinend Arnald von Villanova zugeschriebenen Lehrsatz, der die Ubiquität der Materie verdeutlichen soll: >Sowohl Reiche als Arme besitzen den Stein der Weisen, er findet sich überall.< Doch Grasses Gedanken, zwar davon abgeleitet, gehen deutlich darüber hinaus. Arcani artificiosissimi, wie Anm. 23, S .114-115. Den ersten Erfolg in ihrem Ringen um akademische Anerkennung errang immerhin die medizinisch-pharmazeutische Richtung der Alchemie mit der Errichtung eines Lehrstuhls für Chymiatrie innerhalb der medizinischen Fakultät an der Marburger Universität im Jahre 1609.

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gebildeten wird zum Konterpart »sophistischer« Gelehrsamkeit. Er bezieht seine Weisheit aus der unmittelbaren Kenntnis der Natur. Indem ausgerechnet dieser unscheinbare Landmann um das Geheimnis der alchemischen Werks, damit der wahren Naturerkenntnis weiß, verheißt er dem Leser der Erzählung die endliche Anerkennung der so verachteten Alchemie - freilich weniger mittels rational-beweiskräftiger Argumentation, sondern durch ein märchenhaftes, unerwartetes Wunder. So wird erklärlich, warum Grasses Kleiner Bauer innerhalb einer weitverbreiteten Strömung der Zeit um 1600 hochgeschätzt wurde, nämlich dem reformerisch gesinnten Paracelsismus. Paracelsus galt hier nicht nur als Erneuerer der Medizin, sondern weit umfassender als der in die Naturgeheimnisse eingeweihte »Philosophus teutonicus«, dessen Autorität vielen zu versprechen schien, die erstarrte aristotelisch-scholastische Gelehrsamkeit aufzubrechen, eine neue wahrhafte Harmonie von christlichem Glauben und Wissen zu begründen. Diese Reformbewegung von Ärzten, heterodoxen Theologen und Aichemikern kämpfte noch um ihre Anerkennung und versuchte mühsam, sich an den Universitäten Bahn zu brechen. 33 Solche Paracelsisten konnten sich leicht gerade in Grasses »Bauern«-Symbol wiedererkennen, denn insbesondere der Alchemie kam in ihrem Reformprogramm die bedeutendste Rolle zu: Sie versprach durch wahre, von Gott gegebene Naturerkenntnis abseits der Bücherweisheit der Gelehrten - und dafür stand der Bauer als treffendes Sinnbild - eine umfassende Transformation nicht nur der unedlen, »kranken« Metalle, sondern überhaupt aller sündhaften Materie, damit auch des siechen Menschenkörpers. Solches gehörte unabdingbar zur ersehnten »Generalreformation«. Auch Grasse nahm derartige Gedanken im Schlußteil seines Kleinen Bauern auf: Das Tun des Alchemikers bedeutet weit mehr als bloßes Goldkochen, es erscheint geradezu als Erfüllung des göttlichen Plans. Der rosenkreuzerische Paracelsismus nach 1600 hatte eine deutliche sozialutopische Intention. 34 Auch für solche Ideale konnte Grasses Kleiner Bauer ein Sinnbild abgeben. Dies belegen die Kommentare 35 des rosenkreuzerisch gesinnten Straßburger Theologen und Alchemikers Johann Walch (ca. 1551-1620)36 zum Kleinen Bauern. Er betrachtete die Feuerkunst schlechterdings als Garanten einer 33

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Vgl. hierzu den Aufsatz von Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 77 (1977), S.57-137, und 79 (1979), S.125-223. Sie kam vor allem bei Johann Valentin Andreae zum Ausdruck; vgl. Richard van Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae (1586-1654). Stuttgart 1978. Sie erschienen zuerst 1618 im Anhang zu einer Straßburger Ausgabe von Grasses »Kleinem Bauern« mit dem Titel: Ein Philosophischer und Chemischer Tractat: genannt Der kleine Baun [ . . . ] Sampt beygefügten Commentariis Ioannis Walchii Schondorffensis. Eine biobibliographische Würdigung von Walchs Leben und Werk fehlt bislang; eine

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Thomas Lederer

erneuerten, gerechteren Gesellschaftsordnung und nahm den Kleinen Bauern als Symbol einer solchen sozialreformatorisch gedachten Alchemie. Somit repräsentierte der Kleine Bauer des Stralsunders Johann Grasse in der Zeit um 1600 ein vielschichtiges Sinnbild, ein Gleichnis des Anspruchs der mißachteten Alchemie auf ihre Rechtfertigung und damit verbundener kulturgeschichtlicher Strömungen; er ist keineswegs als bloß manieristische Verrätselung stofflich-alchemischer Vorgänge zu deuten. Hierin liegt nun unter anderem eine Erklärung für die große Wirkmacht von Grasses Bauern. Sie erlebten bis ins späte 18. Jahrhundert immerhin 13 Druckausgaben sowie zahlreiche Abschriften, wurden ins Lateinische, Französische, Englische übersetzt. Besonders auch in Frankreichs Alchemie galt Grasses Kleiner Bauer bis zu ihrem durch die Revolution besiegelten Ende als Autoritätsschrift; er stellte demnach innerhalb der Aichemieliteratur ein Werk von wahrhaft europäischer Geltung dar. Schon lange vor dem Erstdruck von 1617 lief Grasses Großer und vor allem sein Kleiner Bauer in Alchemikerkreisen in Abschriften um. Einige Autoren verarbeiteten schon früh Motive aus Grasses Erzählung für ihre alchemische Allegorien, die oftmals höchst fantastisch ausgeschmückt wurden. 37 Die artifizielle Allegorik und der märchenhafte Tonfall von Grasses Kleinem Bauern wirkten offenbar anziehend und fanden manchen Nachahmer. Allerdings entspricht in Grasses Allegorie dem einzelnen Motiv eine genaue alchemische Sinnhaftigkeit, die aus der hergebrachten Lehre abzuleiten ist, während bei den meisten Nachfolgern der ursprünglich gemeinte Sinn mehr und mehr überwuchert wird von einem ausufernden Gemisch alchemisch-allegorischer und märchenhafter Begrifflichkeit, das das traditionelle Lehrgebäude sprengt und sich inhaltlich aus dem alten Bedeutungszusammenhang heraus verselbständigt. So überrascht es nicht, daß sich dieser Rezeptionsprozeß von Grasses Kleinem Bauern auch noch nach dem Ende der Alchemie als Wissenschaft fortsetzen konnte: Der von solchen Stoffen inspirierte Dichter Clemens Brentano bediente sich Grasses Erzählung in einer im Grunde ähnlichen Weise. In sein Märchen von dem Hause Starenberg, das mancherlei alchemische Motivik zusammenschmilzt, baute er auch die bekannteste Passage aus dem Kleinen Bauern ein. 38 Nur wird fraglos hier keine alchemische Aussage

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38

Zusammenstellung der Lebensdaten findet sich in der Dissertation des Vf., s. Anm. 12. Ein besonders bemerkenswertes, sprachlich höchst reizvolles Beispiel dieser Rezeption bietet Lucas Vorberg: Zwey opuscula chymica. I. Elucidarius purus philosophicus de universali arcano. II. Das ander Baisami et florum sulphuris. Brieg 1627. Auf Brentanos Vorlage, Grasses »Kleinen Bauern«, wies erstmals Friedhelm Kemp hin; vgl. Clemens Brentano: Werke. Hg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. Bd.3: Rheinmärchen. München 1965, S.1084-1085. Auch die Frankfurter Brentano-Ausgabe verweist darauf; vgl. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Bd. 17: Die Mährchen vom Rhein. Hg. von Brigitte Schillbach. Stuttgart 1983, S. 396,

Der Fachschriftsteller Johann Grosse

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mehr intendiert; die märchenhafte Szene mit dem Rückgriff auf die alchemische Bildlichkeit hat sich nun endgültig aus dem alten Bedeutungsgefüge gelöst und ist ganz zum kunstreichen Sprachspiel geworden. In ähnlicher Weise bediente sich noch der neuromantische Dichter und Alchemist Alexander von Bernus im 20. Jahrhundert einiger Motive aus Grasses Kleinem Bauern für sein esoterisch-bedeutungsvoll gemeintes Gedicht Stunde des Saturn.39 Bei transmutationsgläubigen Esoterikern leben Grasses Großer und Kleiner Bauer noch bis in unsere Tage fort: des öfteren findet man Textauszüge in entsprechenden Anthologien. 40 Es sollte damit deutlich geworden sein, daß der Stralsunder Alchemiker Johann Grasse mit seinem Werk nicht nur aus alchemie-, sondern auch aus literarhistorischer Sicht eine Würdigung verdient und einen beachtlichen Beitrag zur im Pommern der frühen Neuzeit entstandenen Literatur geleistet hat.

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410, 550. - In der Frankfurter Ausgabe trägt das Märchen den Titel: Radlof erzählt seine Reise. Abgedrucktin Alexander von Bernus: Leben, Traum und Tod. Nürnberg 1962, S. 167. So wurde ζ. B. der Anfangsteil des »Großen Bauern« ungekürzt abgedruckt in: Alchymia. Die Jungfrau im blauen Gewände. Aichemistische Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. von Richard Scherer. Mössingen-Talheim 1988, S. 88-94.

Robert Seidel

Epicedien in pommerschen Leichenpredigten aus der Sammlung Stolberg

1. Einleitung Diese Studie versteht sich weniger als literaturwissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne denn als Beitrag zur Leichenpredigtforschung. Dabei wird >Leichenpredigt< heute gleichbedeutend mit >Trauerschrift< oder >Gedenkausgabe< als Fachterminus für ein Druckerzeugnis verstanden, das neben der eigentlichen >Christlichen Leich=Predigt < und diversen fakultativen Bestandteilen fast in jedem Fall noch einen Lebenslauf des Verstorbenen (>VitaPersonaliaVita< - von Vertretern verschiedener Fachrichtungen untersucht, doch meist ohne Berücksichtigung der angehängten Epicedien. Dabei scheint in bezug auf letztere noch immer der literarästhetische wie vor allem sachliche Irrtum zu bestehen, der in einer Studie zur frühneuzeitlichen Leichenpredigt aus dem Jahre 1967 begegnet: Völlig außer acht bleiben [in dieser Arbeit] Abdankungen, akademische Leichenprogramme und Epicedien, deren Umfang sich nach dem Stand der Verstorbenen richtet und an Seitenzahl die gewiß nicht geringe der Leichenpredigten manchmal noch übertrifft. Wie die Leichenpredigt selber nimmt auch dieser ihr Anhang im Laufe des 17. Jahrhunderts stark zu. Der theologische und literarische Wert dieser Erzeugnisse ist meist gering. 3

Diejenigen unter den Leichenpredigtforschern, die sich aus primär historischem Interesse auch mit Epicedien beschäftigen und anerkennen, daß deren Untersuchung »eine Fülle biographischer Daten zu Autoren und Gefeierten zutage fördern«4 werde, pflegen grundsätzlichen5 Erwägungen 2

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Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147, hier S. 111. Eberhard Winkler: Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener. München 1967 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus. 10. Reihe. Bd. 34); hierS. 13. Lenz (1990; wie Anm. 1), S. 151. Anders stellt sich die Lage freilich bei monographischen Studien dar, wo das Aufsuchen aller erreichbaren Quellentexte zwangsläufig zur Einbeziehung auch der Epicedien führt. Vgl. den exemplarischen Aufsatz von Rudolf Lenz und Gundolf Keil: Johann Christoph Donauer (1669-1718). Untersuchungen zur Soziographie und Pathographie eines Nördlinger Ratskonsulenten aufgrund der Leichenpredigt. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 38 (1975), S. 317-355. Sehr anschaulich in bezug auf die Quellenauswertung ist auch die jüngst erschienene Miszelle von Werner Wilhelm Schnabel: Ein Adamant an Herz-Standhafftigkeiten. Catharina Regina von Greiffenberg und ihr Epicedium auf Carl von Stein (1675). In: Wolfenbütteler BarockNachrichten 19 (1992), S. 26-33.

Epicediert in pommerschen

Leichenpredigten

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zu einer verbindenden Betrachtung der Vita, der Epicedien und der aus anderen Q u e l l e n erreichbaren D a t e n im allgemeinen aus d e m W e g e zu g e h e n . 6 D i e s e r Sachverhalt ist um so erstaulicher, als es doch auf der H a n d liegt, daß bei einer Untersuchung v o n Epicedienanhängen in Leichenpredigten verhältnismäßig leicht überschaubare Faktoren wie Zahl und R e i h e n f o l g e der Beiträge, ständische u n d berufliche Zusammensetzung der A u t o r e n , Entscheidung für deutsche o d e r lateinische Sprache, Themenvielfalt oder Themengleichheit, Unterschiede in literarischer Technik und K o m p e t e n z , Art u n d Funktion der A n m e r k u n g e n und Selbstkommentare usw. für alle mit der Gattung >Leichenpredigt< befaßten Disziplinen v o n erheblichem Aussagewert sein müßten. D i e f o l g e n d e Studie versucht, Möglichkeiten wissenschaftlicher Nutzung anzudeuten, die eine aufmerksame R e z e p t i o n des gesamten N a m e n - , D a ten- und Faktenmaterials einer Leichenpredigt insbesondere unter literar-, bildungs- und konfessionsgeschichtlichen Gesichtspunkten bieten kann. D a s herangezogene Textmaterial stammt aus pommerschen Leichenpredigten. D a bei der Auswertung v o n Kasualdrucken die A u s w a h l der Texte ein methodisches Problem darstellt, soll über das V o r g e h e n in diesem konkreten Fall kurz berichtet werden.

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Sibylle Rusterholz bemerkt in ihrem Forschungsbericht (Leichenreden. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven ihrer interdisziplinären Erforschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4 (1979), S. 179-196), daß die Vertreter der verschiedenen Fachrichtungen »jeweils vorwiegend nur einen bestimmten Teil dieser Gedenkausgaben untersuchen« (S. 180). Selbst Rudolf Lenz hängt in seinen Darstellungen des Forschungsstandes die Epicedien meist lose an die Prosapartien an (Leichenpredigten als Quellen zur Erforschung der barocken Kultur- und Literaturlandschaft Schlesien. In: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990), S. 83-99; hier S.93: »Will man abschließend noch eine weitere Möglichkeit der Inanspruchnahme der Quellengattung Leichenpredigten diskutieren, ohne [!] auf den jeweiligen Personalteil zuzugreifen, bieten sich die den Druckwerken beigegebenen Epicedien an«). Im übrigen sind bei Lenz (1975, 1979, 1984; wie Anm. 1) Epicedien nur ganz am Rande (z.B. im Ausstellungskatalog in Bd. 2, 1979) erwähnt, nie eigens thematisiert; insbesondere fehlen sie gänzlich in den Artikeln über Frauen und Kinder in Leichenpredigten (Heide Wunder: Frauen in den Leichenpredigten des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Lenz (1984), S. 57-68; Ines Elisabeth Kloke: Das Kind in der Leichenpredigt. In: Lenz (1984), S. 97-120). Die Vorstellung von vier Trauergedichten in einem Kapitel über das Epicedium bleibt gänzlich ohne den Ansatz einer Auswertung (Lenz, 1990, wie Anm. 1, S. 153-161). Maria Fürstenwald (»Memoria est laudatio.« Literarische Barockgattungen als Ergänzung genealogischer Quellen. In: Genealogisches Jahrbuch 12 (1972), S.5-16) geht nur auf die literarischen Gattungen der Leichabdankung und des »Trauerschäferspiels« ein.

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2. Z u r Erstellung eines repräsentativen Textcorpus D i e große Sammlung v o n Gelegenheitsdrucken, vor allem Leichenpredigten, die als Vitae Pomeranorum7 in der Universitätsbibliothek Greifswald liegen, wurde hier unberücksichtigt gelassen. In den großen Leichenpredigtsammlungen außerhalb P o m m e r n s befinden sich ebenfalls zahlreiche Trauer Schriften aus dieser R e g i o n - so in der umfangreichsten von ihnen, der Stolbergschen Sammlung 8 (heute in Wolfenbüttel), ziemlich genau 2 0 0 Leichenpredigten, die in den p o m m e r s c h e n Städten Kolberg, Greifswald, Stargard, Stettin und Stralsund gedruckt w o r d e n sind. 9 Sie d e c k e n die g e s a m t e E p o c h e der Leichenpredigtproduktion v o n der Mitte d e s 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ab, w o b e i die statistische Häufigkeit den auch für andere R e g i o n e n ermittelten Werten entspricht und so einen H ö h e p u n k t in der z w e i t e n Hälfte des 17. Jahrhunderts aufweist. A u s der Masse dieser p o m m e r s c h e n Leichenpredigten in der Stolbergschen Sammlung wurde für die vorliegende Studie die große Gruppe jener D r u c k e , die keine G e dichtbeigaben enthielten, ausgesondert, außerdem auch noch die auffallend kleine Gruppe v o n Leichenpredigten mit einem bis drei Epicedien, w o also meist nur der Pastor selbst und ein oder zwei Familienangehörige oder e n g e F r e u n d e ein Gedicht beisteuerten.

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Zu dieser Sammlung vgl. Edmund Lange: Die Greifswalder Sammlung Vitae Pomeranorum. Alphabetisch nach Geschlechtern verzeichnet. Greifswald 1898 (Baltische Studien. Erste Folge. Ergänzungsband); ders.: Ergänzungen zu seinem Werke Die Greifswalder Sammlung Vitae Pomeranorum (1898). In: Baltische Studien NF 9 (1905), S. 55-136; Christine Petrick: Die Vitae Pomeranorum - eine Kostbarkeit der Greifswalder Universitätsbibliothek. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 104 (1990), S. 322-324. - Außerdem zur Leichenpredigtliteratur in Pommern: Edmund Lange: Greifswalder Professoren in der Sammlung der Vitae Pomeranorum. In: Baltische Studien 44 (1894), S. 1-42; Döring von Gottberg: Von den Leichenpredigten und den Trauergedichten im 16. und 17. Jahrhundert in Pommern. In: Unser Pommerland 12 (1927), S. 109-110. Die Sammlung wurde von der Reichsgräfin Sophie Eleonore zu Stolberg-Stolberg (1669-1745) zum Zwecke privater Erbauung (aber unzweifelhaft auch aus Sammelleidenschaft) systematisch zusammengestellt. Sie enthält ohne die Dubletten über 24000 Drucke und ist durch einen vierbändigen Katalog und zahlreiche Register gut erschlossen: Willy Friedrich/Carl Güttich (Bearb.): Katalog der Fürstlich Stolberg-Stolbergschen Leichenpredigten-Sammlung. 4 Bde. Leipzig 1927-1935 (Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen 2); hier Bd. 1, S.5-13 ein instruktives Vorwort von Werner Konstantin von Arnswaldt. Die Katalogeinträge geben Ort und Datum von Geburt und Tod der behandelten Personen, Ehepartner, Beruf, dazu Drucker, Druckort und Seitenzahl der Trauerschrift sowie vor allem die Autoren (oft mit Berufsbezeichnung oder Titel) der Christlichen Leich=Predigten, der Personalia und der Epicedien (mit Sprachennachweis) an. Es sind allerdings nicht wenige Fehler bei den Einträgen zu beanstanden. Über die Buchdrucker in den genannten Städten informiert Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 21982 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12).

Epicedien in pommerschen

Leichenpredigten

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Übrig blieben danach 69 in Pommern gedruckte und jeweils mindestens vier Epicedien enthaltende Leichenpredigten. Aus den 69 Verstorbenen wurden sodann fünf repräsentative Personengruppen gebildet, nämlich: adlige Damen, Kleinkinder, Pastoren, städtisches Patriziat und Universitätsprofessoren. 10 Die exakt 100 Jahre von 1609 bis 1708 - die Blütezeit der Leichenpredigt - wurden schließlich in zwei Phasen gegliedert (eine Anfangsphase von 1609 bis 1641 und eine Endphase von 1668 bis 1708), und jeder Phase wurde ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der genannten Gruppen zugeordnet. Damit war sowohl die Zeitachse als auch die Palette der Personengruppen soweit abgedeckt, daß aller Voraussicht nach die Lebensläufe und die etwa 180 Gedichte aus den zehn Leichenpredigten einen die Alltagsproduktion illustrierenden Querschnitt durch die frühneuzeitliche Trauerschriftenlandschaft in Pommern ergeben würden. 11

3. Beobachtungen bei einem Gesamtüberblick über das ausgewählte Textmaterial Ein Blick auf die Zusammensetzung der Autoren bei Epicediensammlungen ergibt den für den literarischen Massenbetrieb der Zeit aufschlußreichen Befund, daß Anzahl und Verfasser von Epicedien etwa auf Kleinkinder einerseits und auf bedeutende Persönlichkeiten andererseits sich bis zu einem gewissen Grade entsprechen. Dies ist nicht verwunderlich, da die Gedichte ja in jedem Fall der Familie des Toten zugedacht waren und außerdem ein Todesfall wie jedes gesellschaftliche Ereignis Anlaß war, durch das Zusammenstellen einer Gedenkschrift die ständische Identität der Gelehrtenrepublik einschließlich ihrer Grenzbereiche zu Adel und Patriziat zu festigen. 12 Gerade diese Funktion der Kasuallyrik muß jedoch berücksichtigt werden, damit das wiederholt vorgetragene Verdikt, die 10

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D . h . überregional bekannte und geachtete Gelehrte, die wenigstens zeitweilig an einer Universität wirkten. Der Auswertung ist noch vorauszuschicken, daß die Benutzung weiterer Leichenpredigten, die sich etwa im Verlaufe der Untersuchung als lohnend erweisen sollten, aus Zeitgründen nicht möglich war, so daß ich mich in der Tat völlig auf das soeben vorgestellte Material, das ich nur mittels karger Katalogangaben erschlossen hatte, beschränkten mußte. Auch sollte klar sein, daß das Textmaterial wohl Einblicke in die Produktion vor Kasuallyrik bietet, aber nicht repräsentativ im Sinne statistischer Erhebung (etwa für den regionalen Vergleich) ist. Vgl. dazu Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur (1931). In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hg. von Richard Alewyn. Köln/Berlin 3 1968 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 7), S. 147-181; hier S. 151 über den Stand der akademisch Gebildeten: »Nach oben hin verlor sich diese Schicht durch die Doctoren in den Adel, nach unten hin durch Baccalauren, die Handwerker oder Kaufleute wurden, ins Bürgertum. Sie blieb aber eine feste Gruppe zwar nicht in staatsrechtlicher, wohl aber in gesellschaftlicher und - was besonders wesentlich war - in geistiger Hinsicht.«

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Gelegenheitsgedichte glichen sich wie ein Ei dem anderen, nicht unwillkürlich doch noch als literarisches Kriterium eingesetzt wird. Es ist - um ein Beispiel anzuführen - ebenso zutreffend wie aus der Zeit heraus akzeptabel, daß die 22 Epicedien auf den im Alter von sechs Monaten verstorbenen Philipp Christian Marstaller weniger Variation in der Wahl der rhetorischen Topoi und deren individueller inhaltlicher Füllung 13 zeigen als die 13 Gedichte, die nach dem Tode des prominenten und äußerst streitbaren Kontroverstheologen Johannes Colberg verfaßt wurden. Was die Texte im einzelnen betrifft, so finden sich verschiedene Sonderformen des Trauergedichtes, also etwa fingierte Epitaphien (teilweise als Ansprache des Toten an die Vorübergehenden formuliert), 14 aber auch die unterschiedlichsten literarischen Spielereien, von denen Chronogramm und Anagramm nur die geläufigsten sind. Es finden sich alle loci, die das System der rhetorischen inventio ausmachen, 15 angeführt vom >locus a nominationefaustusspäten< Phase (ab 1668) sind metrische Unreinheiten bei weitem nicht mehr in der Fülle zu finden wie etwa in den 1637 verfertigten Alexandrinern des Pastors Joachim Friderici, 13

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Aus dem frühen Tod leitet sich für die lamentatio fast stereotyp das Argument ab, das Kind habe Anlaß zu großen Hoffnungen gegeben, während die consolatio u.a. darauf aufbaut, daß Gott die, die er liebe, früh zu sich rufe. Vgl. Wulf Segebrecht: Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und Grabschriftenvorschlägen in Leichcarmina des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 430-468. - Ein besonders reizvolles Beispiel für eine Totenrede mit integriertem Epitaph findet sich in der Leichenpredigt (LP) auf den genannten Philipp Christian Marstaller (Sammlung Stolberg, Nr. 15687), fol. F2v-3v. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 111-138. Sammlung Stolberg, Nr. 19666, fol. A2v.

Epicedien in pommerschen Leichenpredigten

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der bezeichnenderweise in derselben Sammlung ein Epicedium in korrekten lateinischen Distichen verfaßt hatte: Diß ist der Danck vnd Lohn damit werden gezieret Die so Gerecht vnd Fromb ein solche Ehr gebühret / Dann Esaias nicht treugt in der Weissagung schon / Vnd Jesus Christ selbst sagt der wahre Gottes Sohn. Der geb vns Fried vnd helff vns allen zugleiche In seines Himmlischen Vaters ewiges Reiche / Da die Gerechten werden leuchten wie die Sonn / Vnd haben Fried vnd Ruh / dazu ewige Wonn. 17

Was die Verwendung der Sprachen Deutsch und Latein in den Epicedien betrifft, zeigt der Befund eine erhebliche Abweichung gegenüber der verbreiteten Ansicht, bereits seit der Wende zum 17. Jahrhundert sei das Latein allmählich vom Deutschen abgelöst worden. 18 In den pommerschen Leichenpredigten aus der Sammlung Stolberg erscheinen vor dem Jahre 1650 deutsche Gedichte nur ganz vereinzelt, danach holen sie allmählich auf und gewinnen erst gegen Ende des Jahrhunderts 19 die Oberhand. Allerdings gibt es noch bis ins 18. Jahrhundert hinein Leichenpredigten, die mehr lateinische als deutsche Gedichte aufweisen. Dabei ist ein Unterschied in der Sprachenwahl zwischen den Epicedien auf Gelehrte und Pastoren einerseits und Patrizier andererseits nicht festzustellen. 20 Bei der Durchsicht mehrerer zeitlich aufeinanderfolgender Leichenpredigten aus demselben Personenkreis läßt sich (anhand des Kataloges der Sammlung Stolberg) gelegentlich beobachten, wie einige Autoren im Laufe der Zeit vom Lateinischen zum Deutschen wechseln. Auffälliger ist allerdings, daß in der Zeit nach 1650 nicht selten die älteren, in der Gelehrtenrepublik etablierten Männer das Latein beibehalten, während jüngere Personen, die ja dieselbe intensive Lateinbildung erfahren haben und das Latein 17

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LP auf Rahel vonTwenhuisen; Sammlung Stolberg, Nr.7184, fol. H2v; andere Passagen des Gedichtes weisen eine noch höhere >Fehlerquote< auf. Vgl. auch das einzige deutsche Epicedium auf David Rhet aus dem Jahre 1638 (Sammlung Stolberg, Nr.18783, fol. G3v). - Daß man in Pommern zu dieser Zeit gleichwohl auf der Höhe der poetischen Errungenschaften war, beweisen eindrucksvoll die Gedichte der Sibylle Schwarz (1621-1638), die sich von den Schriften Opitzens, der damals im nahen Polen weilte, direkt inspirieren ließ. Vgl. Helmut W. Ziefle: Sibylle Schwarz. Leben und Werk. Bonn 1975 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 35), S.319-322. So Lenz (1990; wie Anm. 1), S. 12. Auch hier ist wie oben (Anm. 17) Vorsicht zu gebrauchen bei der Vermutung, die abgelegene Region Pommern habe die Kasualdichtung in deutscher Sprache später als andere Gebiete zur Regel gemacht. Nur systematische, auf gleichen Rahmenbedingungen und breiter Textbasis aufbauende Querschnittsuntersuchungen zu verschiedenen Regionen könnten diese Frage sicher beantworten. Die von mir ausgewählte, relativ frühe Leichenpredigt auf den Kaufmann Johann Saur aus dem Jahre 1668, die ausschließlich deutsche Epicedien enthält, ist ein Sonderfall. Sie wurde herangezogen, damit das Gesamtmaterial an deutschen Gedichttexten einen repräsentativen Umfang erhielt.

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im täglichen Leben gewiß ebenso häufig praktizieren, für ihre Epicedien das Deutsche wählen. Als Beispiel mag eine der frühesten Leichenpredigten gelten, in denen beide Sprachen bei den Gedichten etwa gleich stark vertreten sind: die auf die Bürgermeistersgattin Margarete Fleck aus dem Jahre 1653.21 Lateinische Epicedien verfaßten unter anderem der Generalsuperintendent D. Jacob Fabricius (geb. 1593), der designierte Generalsuperintendent D. Christian Groß (geb. 1601), der bekannte Historiker und Rektor des Stettiner Gymnasiums, D. Johannes Micraelius, (geb.1597),22 sowie die wichtigsten Schulmänner der Stadt, M. Martin Bambamius und M. Erich Pelshofer (geb. 1600).23 Dagegen schrieben einige Baccalaurei und Studenten (wie auch die vertretenen Adligen) auf Deutsch. Dies ist allerdings - hier wie in anderen Leichenpredigten dieser Übergangszeit - nur eine gewisse Tendenz. Häufig verfassen Gelehrte, die den Magister- oder Doktortitel tragen, deutschsprachige Gedichte, und auch ganz junge Leute schreiben bis ins 18. Jahrhundert hinein auf Latein. Hier schließt sich die sehr wichtige Frage an, ob im Verlauf des 17. Jahrhunderts, eventuell auch in Verbindung mit dem Sprachenwechsel, eine Wandlung der Paradigmen in der Trauerlyrik stattgefunden hat. In der Tat ist an den ausgewählten Texten der Übergang vom Späthumanismus zum Barock abzulesen. Dafür sei nur das Beispiel zweier Stettiner Patrizier, des Buchdruckers David Rhet (gest. 1638) und des Gewürzhändlers Johann Saur (gest. 1668) herangezogen. In den fast durchweg lateinischen Epicedien auf Rhet wird die Kunst des Buchdruckes (oder das Buch überhaupt) als Errungenschaft gepriesen, die den Nachruhm von Personen gewährlei-

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Sammlung Stolberg, Nr.5122 (nicht eingesehen; Sprachenangaben nach dem Katalog, wie Anm. 8). Der aus Köslin in Pommern stammende Johannes Micraelius (1597-1658) ist nicht nur als Historiker und Philologe wichtig (Franz Günter Sieveking: J.M. In: LiteraturLexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. Bd. 8. Gütersloh/München 1990, S. 158), sondern auch als Verfasser von Schuldramen, die den Schwedenkönig Gustav Adolf aus einer Position des orthodoxen Luthertums heraus verherrlichen und seine Gegner verspotten. Vgl. dazu Karl Krickeberg: Johannes Micraelius, ein Dichter des dreissigjährigen Krieges. Diss. Göttingen 1897 (nicht bei Sieveking). Bezeichnend für den Literaturbegriff der Zeit ist, daß Krickeberg die zahlreichen Kasualgedichte des Micraelius unter dessen »Dichtwerken« nicht einmal erwähnt. Die Lebensdaten aller in dieser Arbeit genannten Personen aus Pommern entstammen folgenden Nachschlagewerken: Lange (wie Anm. 7); Die Evangelischen Geistlichen Pommerns von der Reformation bis zur Gegenwart. Auf Grund des SteinbrückBergschen Manuskriptes bearbeitet von Hans Moderow (1. Teil: Der Regierungsbezirk Stettin. Stettin 1908) und Ernst Müller (2. Teil: Der Regierungsbezirk Köslin. Die reformierten Gemeinden Pommerns. D i e Generalsuperintendenten. Stettin 1912); P. Magunna: Register zu Band 1-46 (Alte Folge) der Baltischen Studien (Stettin 1912); Michael Nickel: Register zu Band 27-42 (Neue Folge) der Baltischen Studien (Marburg 1989). - Einzelnachweise werden im folgenden nur gegeben, wenn an der betreffenden Stelle weitere wichtige Informationen zu finden sind.

Epicedien in pommerschen

Leichenpredigten

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stet. In diesem humanistischen Sinne kann der bleibende Ruhm des Verstorbenen mit dem der von ihm hergestellten Bücher verbunden werden: At cineres fratris fletu nolite gravare, Qui libros eudit, vendidit, interiit. Vivit adhuc virtus, nec non post funera fama Ejus; quam libris sparsit ubique bonis. 24 (Doch beschwert nicht die Asche eures Bruders mit euren Tränen. Gestorben ist einer, der Bücher druckte und verkaufte. Noch lebt seine Kunst, und auch lebt nach seinem Tode sein Ruhm, den er allenthalben durch gute Bücher verbreitete.)

Demgegenüber wird in den ausschließlich deutschen Epicedien auf den »Kauffmann« Saur, die voll von barocker Metaphorik sind,25 der >locus generis< im Zusammenhang mit dem Streben nach Weltüberwindung eingesetzt: Und so hat auch die seeige Seele Herrn Sauers in der Leibes=Höle Ihr anvertrautes Capital Wohl wissen an den Mann zu bringen / In Glauben / durch den Tod / zu dringen Zu CHRISTO in den Himmels=Saal. 26

Gleichwohl handelt es sich bei diesem Paradigmenwechsel keineswegs um einen strikten Prozeß der Ablösung des Alten durch das Neue. Am Ende des Untersuchungszeitraums, in der Leichenpredigt auf den Pastor Albert Siedanus aus dem Jahre 1707, findet man auf engstem Raum die geläufigsten Argumentations- und Realisationsmöglichkeiten der Epicediendichtung des vergangenen Jahrhunderts nebeneinander:27 a) Nachruhm des Toten (humanistisch / latein): CRede mihi, non est mors ultima linea Vitae; Non omnis moreris, vivit post funera Virtus. [...] SLEDANUS moritur, mortis nox abripit illum, O! dolor, ex Oculis nostris, sed fama perennat. (Glaube mir, der Tod ist nicht der Schlußstrich des Lebens. Du stirbst nicht ganz, die Tugend lebt nach dem Leichenbegängnis weiter. [ . . . ] Siedanus ist gestorben; die Nacht des Todes hat ihn - ο Schmerz! - unseren Augen entrissen, doch sein Ruhm währt ewig).

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LP auf David Rhet (wie Anm. 17), fol. F2r. Das Leben als »Thränen=Thal«, der Mensch als »Traum der Zeit«, die »Unbeständigkeit« und »Eitelkeit« der Welt, der Tanz der Toten usw. LP auf Johann Saur (wie Anm. 20), fol. A4v-Blr. Alle folgenden Belege in der LP auf Albert Siedanus; Sammlung Stolberg, Nr.21166: Epicedia (nicht foliiert).

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b) Nachruhm des Toten (humanistisch / deutsch): Sein Nahm steht unverletzt / sein Ruhm wird nicht vergehn. 28

c) Eitelkeit des Erdenlebens (barock / latein): Vita qvid est variis fortunae expost'a periclis? Vah! vivens mors est. Si moriare pius, Tunc aetemantis capies primordia vitae, [...] Nos dubii rtigras volvimur inter aqvas. (Was ist das Leben, das den vielfältigen Unbilden des Schicksals ausgesetzt ist? Ah! Ein lebender Tod ist es. Wenn du als frommer Mensch stirbst, dann wirst du den Beginn eines ewigwährenden Lebens erlangen, [ . . . ] wir [Lebenden] dagegen treiben schwankend auf schwarzen Wassern.)

d) Eitelkeit des Erdenlebens (barock / deutsch): Ein solcher GOttes Knecht liegt hier dem Leibe nach / Die Seel' ist schon gerückt ins güldne Stern=Gemach. Hemmt / Hinterlassene / die strenge Thränen=Ruthen / Weil Der (de? E?ch) geliebt / hier nicht Vergnügen fand / Drumb eyl't Er / was er kont' / ins rechte Lobe=Land / Woselbst der Engel Chor GOtt lobt ob allem Guten.

4. Ansätze zur Auswertung besonderer Fälle in der Epicediendichtung Die dieser Arbeit zugrunde liegenden pommerschen Leichenpredigten bieten über jene allgemeinen Feststellungen hinaus die Möglichkeit, anhand ausgefallenerer Zeugnisse den Wert der Gattung >Epicedium< für die Forschung auch in speziellen Bereichen zu erfassen. Drei Themenkomplexe wurden zur Illustration ausgewählt. 4.1. Das Epicedium als Dokument für die poetische Übung in den frühneuzeitlichen Lateinschulen Die heute erreichte Offenheit der Forschung gegenüber dem Phänomen Kasualdichtung macht es möglich, auch auf die bescheidensten Produkte der Gattung, die von Kindern und Jugendlichen verfaßten bzw. ihnen zugeschriebenen Gedichte, näher einzugehen. Wir sind durch Schulordnungen und zeitgenössische Berichte recht gut über das Schulwesen und die allgemeinen Bildungsanforderungen der Epoche unterrichtet;29 was die 28

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Humanistisch ist bei diesem Gedicht auch das vorangestellte Motto aus einem antiken Autor: »HOnores ita gessit, ut ornamentum non accipere, sed dare ipsi dignitati videretur: (Justinus de Epaminonda. Lib. VI, cap. 8.)«. Vgl. Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Leipzig 31919 (Ndr. Berlin 1960). Bd. 1, S. 360-363. Nach Paulsen dürften die Schüler etwa ab dem zwölften Lebensjahr mit praktischen Übungen im Verfertigen lateinischer Gedichte begonnen haben. Einen Einblick in die Methodik des Dichtenlernens gibt die einflußreiche Breslauer Schulordnung des Petrus Vincentius aus dem Jahre 1570, wo für die

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Schüler tatsächlich produzierten, ist weit weniger zuverlässig dokumentiert. Hier stellen die Epicediensammlungen der Leichenpredigten eine Fülle von Texten zur Verfügung, die von jungen Menschen verfertigt wurden. In vielen Fällen läßt sich deren Alter mittels genealogischer Quellen direkt bestimmen oder wenigstens annähernd ermitteln: Gerade am Ende der Konvolute ist meist eine Reihenfolge der Beiträger gemäß ihrem Alter festzustellen. In besonders glücklichen Fällen sind sogar in verschiedenen Leichenpredigten Gedichte desselben jungen Menschen aus aufeinanderfolgenden Jahren überliefert, so daß ein Zuwachs an Bildung und technischer Fertigkeit zu erkennen ist. Besonderes Interesse verdienen zwei Distichen, die im Namen der beiden Großneffen des verstorbenen Stettiner Pastors Faustinus Blenno (des Enkels des gleichnamigen Reformators; s.u.) verfaßt sind und auf der letzten Seite des umfangreichen Konvoluts stehen. 30 Die Kinder, die beim Tode Blennos höchstens acht und neun Jahre alt gewesen sein können, 31 hätten - so die Fiktion - auf dem >locus a nominatione< aufgebaut, was die Verbindung des Vornamens zum Adjektiv >faustus< nahelegte. Das erste Distichon lautet: EX cella infausta fausta intrat Coeli Hypocausta BLENNO FA USTINUS: plangitur ergo minus. (Aus der unseligen Zelle in den seligen Heizraum des Himmels tritt Faustinus Blenno: So ist er weniger zu beklagen)

Und das zweite: IN Tumuli fausto fauste requiescere claustro FAUSTINUM Patruum; Distichon esto meum. (Im seligen Schutzraum des Grabes selig ruht mein Onkel Faustinus: Dies sei mein Distichon.)

Auffällig ist in diesen >Kindergedichten< das Bestreben, einen Binnenreim zu bilden. Es reimen sich in jenen sogenannten >leoninischen< Hexametern jeweils die beiden Silben vor der Hauptzäsur des Verses (Penthemimeres) und am Ende (fausta / Hypocausta bzw. fausto / claustro [unrein]); im

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Sekunda u. a. vorgeschrieben ist, daß man den Knaben »alte oder newe wol formirte Versus, die jhnen nicht bekandt sein, mit vorsetzung der Wörter, als were es eine soluta oratio, fürgebe, vnd jhnen befehle, dieselben nach den Regulis de Quantitate syllabarum, vnnd art der versuum, widerumb in formam eines Carminis zu setzen [...]« (Die evangelischen Schulordnungen des sechszehnten Jahrhunderts. Hg. von Reinhold Vormbaum. Gütersloh 1860, S. 108). - Von dem knapp sechsjährig verstorbenen Dietrich Johann Eckstein heißt es, er habe, »was die Studien betrifft / viel Lateinische Vocabula und Formeln vorzubringen gelernet« (Sammlung Stolberg, Nr. 8812, Vita, unpaginiert). Dieses bloße Auswendiglernen ging mit dem Leseunterricht einher und war Unterrichtsziel der untersten Klasse. LP auf Faustinus Blenno: Sammlung Stolberg, Nr. 4692, fol. N4v. Ihr Vater, Andreas Blenno, hatte am 6.2. 1632 geheiratet (Müller, wie Anm. 23, S. 462).

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Pentameter reimen sich die Schlüsse der Halbverse (Hemiepes; Faustinus / minus bzw. patruum / meum). Im klassischen Latein, an dem sich die Epicediendichter sonst orientieren, verwendete man gewöhnlich32 nur im Pentameter den Binnenreim, und auch dort nur, wenn beide Reimwörter sich in Kongruenz aufeinander bezogen. Dagegen war der Reim im Mittelalter, auch bei der Verwendung ansonsten klassischer Metrik, sehr geläufig. 33 Die mögliche Anlehnung beim lateinischen Dichten an mittelalterliche Vorbilder wäre an anderen Schülertexten zu überprüfen. Die Binnenreime geben den kurzen Gedichten den Anstrich des Spielerischen, was durch die Wahl der Reimwörter und die in eine Pointe mündende Struktur dieser epigrammartigen Gebilde noch verstärkt wird: Im ersten Text reimt sich »infausta« auf »Hypocausta« - damit ist offenbar das Fegefeuer gemeint, dessen Existenz sogleich geleugnet werden soll.34 Die Folgerung aus der Feststellung, daß der Tote von einem tristen in ein glückliches Leben hinübergegangen sei, wird mit einer durch das Reimwort des Pentameters pointierten Schlichtheit gezogen: »plangitur ergo minus«. Fast schon raffiniert ist die Schlußwendung im zweiten Text: Die Aussage wird hier in einen subjektwertigen Acl gekleidet, dessen Prädikat lediglich die lakonische Feststellung enthält, daß das Gedicht damit schon zu Ende ist: »Distichon esto meum«. Die beiden kurzen Texte sind in ihrem Rahmen souverän gefertigt und lassen keinen Zweifel daran, daß hier mit Hilfe eines Erwachsenen >kindgemäß< gedichtet worden ist. Die wenige Jahre älteren Knaben dichteten ihre Verse dann wohl bereits selbständig. Verstreute Beobachtungen an den Texten dieser Jugendlichen zeigen, daß - bei aller Perfektion im Detail - doch noch Unsicherheiten in der Technik des Verseschmiedens vorhanden sind. Der gewiß ebenfalls noch sehr junge Joachim Rhet 35 schreibt auf den Tod seines Onkels vier ungelenke Distichen, die von Redundanzen, Wiederholungen und ungeschickten Satzanschlüssen gekennzeichnet sind. 36 Ein Balthasar Blancke verheddert sich in seinem Epicedium auf eine adlige Dame mit Vornamen Rahel 37 in biblischen Vergleichen und Phrasen, denen das mühsame Zusammenfügen von Versatzstücken anzumerken ist. Als letzter unter den Adepten lateinischer38 Dichtkunst sei Ambrosius Hiltebrand angeführt, der, noch als Schüler, im Jahre 1638 ein kurzes 32

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Ausnahmen sind selten; bekannt ist der leoninische Hexameter aus der ars amatoria Ovids (1,59): »Quot caelum stellas, tot habet tua Roma puellas«. Friedrich Crusius: Römische Metrik. Eine Einführung. München 21955 (neu bearb. von Hans Rubenbauer), S. 38-39. Dasselbe in einer theologischen Argumentation in einem Gedicht des Friedrich Fabricius (im Anhang abgedruckt). Sohn des 38jährigen Georg Rhet. LP auf David Rhet (wie Anm. 17), fol. G3r. LP auf Rahel von Twenhuisen (wie Anm. 17), fol. H4v. Auf die deutschsprachigen Texte kann hier nicht eingegangen werden. Es seien nur die

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Epicedium auf den Buchdrucker David Rhet verfaßte. 39 Diesem schlichten Gedicht ließ er drei Jahre später, anläßlich des Todes des schon genannten Faustinus Blenno, ein weiteres folgen, das er nun als »S.S. Theologiae Stud.« unterzeichnete. 40 Dieses Gedicht ist länger und hat eine Überschrift und einen Nachspann, vor allem aber sind bei vier Versen Nachweise von Bibelstellen am Rand vermerkt. Die Beziehungen zwischen Bibeltext und Gedicht sind gesucht und dienen mehr dem Aufweis von Gelehrsamkeit als der Bekräftigung einer theologisch relevanten Aussage. - Es wäre reizvoll, die Fortschritte des Kasualdichters Ambrosius Hiltebrandt von diesen frühen Versuchen aus durch sein weiteres Leben im Kreis der pommerschen Gelehrtenrepublik weiterzuverfolgen.41 4.2. Das Epicedium als authentisches Dokument eines Bildungsoder Erbauungserlebnisses Die Situation, in der man ein Epicedium zu Papier brachte, war häufig diese: Relativ kurz nach dem jeweiligen Todesfall wurde es wohl mit Anteilnahme geschrieben, aber doch auf Anfrage und am Schreibtisch, unter Verwendung des Materials individueller Lebensdaten, die nach den Regeln der poetischen inventio an die rhetorischen >Fundorte< (loci) herangetragen wurden. 42 Wenn der Autor über das Hinscheiden der betreffenden Person lamentiert, auch wenn er Trostargumente vorbringt, so ist dies kein unmittelbarer Ausdruck eines spontanen Gefühls - was die Poetik der Zeit, wie hinlänglich bekannt, auch keineswegs forderte. Es ist vielmehr poetische Konvention, die empfundene Trauer in die Schreibsituation hineinzuverlegen, und so eine gleichsam künstliche Unmittelbarkeit zu erzeugen: »Kein eintzig wort steht hier / das nicht von thränen rinnt«. 43 In diesem Zusammenhang ist ein Gedicht aus dem herangezogenen Textcorpus von Interesse, bei dem zwei Schreibsituationen ineinander verwoben sind. Auch hier ist die Authentizität der Mitteilung eine indirekte, beiden Gedichte von Johann Friedrich und Martin Daniel Volckman, den Enkeln des Theologen Johannes Colberg, genannt (Sammlung Stolberg, Nr. 7044, fol. G2r-v). Das zweite ist gewiß für den (noch zu kleinen) Martin Daniel von Erwachsenen aufgesetzt, denn es fingiert allzu deutlich die Unmündigkeit des angeblichen Verfassers: »ICh kleiner Knecht / ich hör von ferne sagen // Daß Groß=Pappa schon sey zu Grab getragen; // Ich weiß zwar noch nicht was das sey // Doch ist mir nicht gar wol dabey« usw. Vgl. Lange, 1894 (wie Anm. 7), S. 11. 39 LP auf David Rhet (wie Anm. 17), fol. G3r. 40 LP auf Faustinus Blenno (wie Anm. 30), fol. L4r-v. 41 In den mir zugänglichen Nachschlagewerken war Ambrosius Hiltebrant nicht zu finden. Auch in der Sammlung Stolberg hat er keine weiteren Spuren hinterlassen. « Vgl. Segebrecht (wie Anm. 15), S. 114. 43 Der Vers (von Nicolaus Ludwig Essmarch) ist zitiert bei Segebrecht (wie Anm. 15), S. 171; hier, S. 166-173, Ausführungen »Zur Integration der Schreibsituation des Autors in das Carmen«.

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jedoch insofern, als ein länger zurückliegendes, schriftlich vor Ort fixiertes Erbauungserlebnis vom Autor im Moment der Abfassung des Epicediums vergegenwärtigt und in das Poem integriert wird. Der Stettiner Jurist Caspar Janthesius schrieb auf den Tod des mehrfach erwähnten Faustinus Blenno ein lateinisches Epicedium, 44 in dem es, wie ein vorangestelltes Motto aus Augustin verdeutlicht, um die Bereitschaft zum Sterben geht. Es beginnt mit drei Distichen, die sich an die »affines cari« wenden und in denen das stoisch-christliche »quotidie morimur« entfaltet wird. Nach zwei etwas dunklen Überleitungsversen folgt, durch Kursivdruck hervorgehoben, der Zentralteil des Gedichtes, der die Argumentation der Einleitung amplifiziert. Die Schlußverse des Gedichtes weisen gerade jenen Mittelteil, also die Erkenntnis der Nichtigkeit irdischen Daseins bzw. die Funktionalisierung des Lebens als Vorbereitung auf den Tod, als >praxis< des Verstorbenen aus und stellen so die Verbindung von Besinnung auf den Todesfall und Appell an die Mitwelt her: Haec quoniam docuit, praxique probavit Amatus Affinis; Nemo hunc jam periisse putet. Praeiit is saltern, reliquique sequemur eundem Ad Vitam aeternam, quemque vocante D e o . 4 5 (Da dies der geliebte Angehörige lehrte und durch sein tätiges Leben belegte, so mag niemand mehr glauben, er sei zugrunde gegangen. Vorausgegangen ist er nur, und wir übrigen werden ihm ins ewige Leben folgen, sobald Gott einen jeden von uns ruft.)

Was dieses konventionelle Epicedium auszeichnet, ist eine Fußnote, die Janthesius am Ende des kursiv gesetzten zentralen Erbauungsteils anbringt und in der er erklärt: Ut quondam in Antenoris vrbe sive Patavij (quam moderno tempore vulgo Paduam vocant) in circuitu templi Divi Anthonij, prope D. Justinam, cum applausu legi atque notavi. 46 (was ich einst in der Stadt Antenors [mythischer Gründer] oder in Patavium (das man in heutiger Zeit in der Volkssprache Padua nennt) im Kreuzgang der Kirche San Antonio, nahe bei Santa Giustina, mit Genugtuung las und aufzeichnete.)

Man darf diese gewiß authentische Situation, als der studiosus iuris - vermutlich während eines Studienaufenthaltes in dem für seine juristische Fakultät berühmten Padua - die Inschriften auf den Grabplatten in einem der beiden Kreuzgänge von San Antonio 47 las und abschrieb, als typisches Bildungs- und Erbauungserlebnis zugleich begreifen. In dieser Anmerkung zu einem sonst gänzlich unbedeutenden Kasualgedicht offenbart sich in nuce (und in bescheidensten Dimensionen) die kulturelle Leistung des christlichen Humanismus in Deutschland: Die Bildungsreise nach Italien 44 45 46 47

LP auf Faustinus Blenno (wie Anm. 30), fol. K4r-Llv. Ebd.,fol.Llr. LP auf Faustinus Blenno (wie Anm. 30), fol. Llv. Die einschlägige kunsthistorische Literatur dokumentiert zwar mehrere Epitaphien, aber nicht das von Janthesius zitierte.

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konfrontierte den deutschen Scholaren mit den Kunstwerken und Literaturdenkmälern der Antike, des Mittelalters und der Renaissance. 48 Er nahm sie als Bildungsgut oder - soweit sie christlich waren - als Grundlage erbaulicher Meditation mit nach Hause und war in der Lage, sie bei entsprechenden Anlässen zwanglos und in argumentativer Funktion im alltäglichen Leben wieder zu aktivieren. Diese Verbindung von zurückliegendem Erlebnis und aktueller Applikation wird im vorliegenden Falle dadurch hervorgehoben, daß die kursiv gesetzte Zentralaussage des Gedichtes durch Fußnote und Kontext zugleich dem Epitaphiendichter in Padua und dem Verstorbenen in Stettin zugeschrieben wird. 4.3. Das Epicedium als Dokument A useinandersetz ungen

konfessioneller

Epicedien sind - wie die übrigen Teile einer Leichenpredigt - als unmittelbare Zeugnisse des religiösen Lebens und der konfessionellen Kämpfe in der Frühen Neuzeit zu begreifen. Zum Aufweis ihres Quellenwertes wurde von den zehn zur Verfügung stehenden Personen die wohl schillerndste Gestalt ausgewählt, der lutherische Kontroverstheologe Johannes Colberg (1623-1687).49 Colbergs gesamtes theologisches Wirken war von einem permanenten, unnachgiebigen Kampf gegen alle diejenigen bestimmt, die seiner Ansicht nach die reine lutherische Lehre dogmatisch zu verwässern drohten. Sowohl aus dem Pastorat in seiner Heimatstadt Kolberg als auch von seinem Greifswalder Lehrstuhl wurde er wegen der Querelen, die er verursachte, vertrieben. Nur sein Ruf als bedeutender Gelehrter und die Hilfe von Freunden verschafften ihm nach langwierigen Bemühungen immer wieder eine Anstellung. Sein Biograph Hermann Klaje, der sich offenbar um Ausgewogenheit bei der Darstellung bemüht, kann sich am Schluß seiner Abhandlung des Abscheus vor dem Gegenstand nicht erwehren. Demnach hatte der jetzt endlich zur Ruhe Gekommene des Geistes Jesu Christi kaum einen Hauch verspürt. Unselig ein Mensch, der die Liebe vergißt und sich in Haß verzehrt!

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Janthesius hätte in den Kreuzgängen von San Antonio auch ein lateinisches Epitaph von Petrarca (auf Manno Donati) lesen können. Kurzer Lebensabriß in: ADB. Bd.4 (1876), S. 398-400, und Müller (wie Anm.23), S. 190; eine ausfuhrliche Studie verfaßte Hermann Klaje: D. Johann Colberg, Pastor in Kolberg und Professor in Greifswald. Ein Lebensbild aus der Zeit der synkretistischen Streitigkeiten des 17. Jahrhunderts. In: Baltische Studien NF 40 (1938), S. 103-200; speziell über den Streit Colbergs mit dem gemäßigten brandenburgischen Generalsuperintendenten Christian Groß: Christian Moritz Fittbogen: Beiträge zur Geschichte des Synkretismus in Pommern in der Zeit von 1653 bis 1665. In: Baltische Studien 34 (1884), S. 1-65; zu Colbergs Fehde in seiner Heimatstadt Kolberg: Hellmuth Heyden: Kirchengeschichte Pommerns. Bd. 2. Köln-Braunsfeld 1957 (Osteuropa und der deutsche Osten. Beiträge aus Forschungsarbeiten und Vorträgen der Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen 3), S. 96-97.

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Hart, aber treffend ist das Wort, das der Jurist Tarok ins Dekanatsbuch geschrieben hat: »Herr D. Joh. Colberg schied aus dem Leben, mit dem eine Saat vieler, schwerer Kämpfe begraben liegt«. 50 A n k n ü p f e n d an diese Würdigung m u ß man kurz auf den Personalteil der Leichenpredigt auf Colberg e i n g e h e n und die den Kirchenstreit betreffenden Passagen mit entsprechenden Stellen in den Vitae >friedliebender< Pastoren vergleichen. 5 1 Muster einer solchen unauffälligen, friedfertigen Pastorenexistenz war der schon genannte Albert Siedanus (1661-1707), Pfarrer der vorpommerschen G e m e i n d e Verchen. Ü b e r seine Amtsführung wird in seinen Personalia u. a. gesagt: Mit seinen Hnn. Brüdern im Heil. Ambt war ihm eine Lust das Band des Friedens und der Einigkeit fest zu halten / und seinem fürgesetzten Hrn .Praepositound Gen .Superintendent! alle Observantz zu bezeugen / daher Er wiederumb hochgeliebet und bey allen den Nahmen eines treuen und exemplarischen Lehrers mit Ehren hatte. 5 2 D i e s e Würdigung der Friedfertigkeit ist, wie der Vergleich mit anderen Leichenpredigten zeigt, nicht ein stereotyp wiederkehrendes L o b , etwa in der A r t , w i e der »Verdruß« i m Pfarramt gleichsam topisch für die M ü h e n dieses B e r u f s fast durchgehend in d e n Viten erscheint. 5 3 Ebenfalls noch im R a h m e n einer friedfertigen A m t s f ü h r u n g bewegt sich das Verhalten, das der jüngere Faustinus Blenno, E n k e l des R e f o r m a t o r s , 5 4 nach A u s w e i s der Vita an den Tag legte: In solchem seinem Lehr- vnd Predigampt aber / hat vnser Sehligverstorbener sich also verhalten / wie der Apostel von rechtschaffenen Lehrern erfodert / das er nicht alleine hat feste gehalten ob dem Worte GOttes / das gewiß ist vnd lehren kan / vnd mächtig

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Klaje (wie Anm. 49), S. 200. Die Vita Colbergs stammte, wie auch die Predigt selbst, von dem Greifswalder Professor eloquentiae et poeseos und Dekan der philosophischen Fakultät Christian Saalbach (1653-1713). LP auf Albert Siedanus (wie Anm. 27), fol. F2v. So auch bei Siedanus sogleich im Anschluß an die zitierte Stelle: »Dabey der Seel. Hr. Pastor nicht könte ohne Creutz seyn / massen in seinem H. Ampt sich vielerley Verdruß / Wiederwillen / Ungehorsahm und Undanck offt hervor gethan von bösen Hertzen vor welche er hertzlich gebetet / und Sie mit Guten überwunden hat.« Über diesen vgl. den Aufsatz von Magnus Buchholz: Magister Faustinus Blenno. Ein Lebensbild aus der pommerschen Reformationsgeschichte. In: 23. Programm des Gymnasiums der Stadt Pyritz [...]. Pyritz 1882, S. 1-24. Über die Theologenfamilie Blenno vgl. Müller (wie Anm. 23), s.v. - Die oben bereits mehrfach herangezogene LP auf Faustinus Blenno stellt mit ihrer auf die Pastorentradition der Familie ausgerichteten Vita, dem poetischen Stammbaum (Genealogia Blennoniana in Hexametern), den zusätzlich abgedruckten Epicedien auf den großen Vorfahren der Reformationszeit und den zahlreichen Beiträgen von Verwandten des Verstorbenen ein Beispiel dafür dar, wie das Sammelwerk >Leichenpredigt< als Instrument der Selbstverständigung und Identitätsfestigung einer berufsständisch geprägten Familie fungieren konnte. Es fehlt hier der Raum, das Zusammenwirken der verschiedenen Teile der Leichenpredigt in diesem Kontext darzustellen.

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gewesen zuermahnen / durch die heilsahme Lehre / sondern auch den frechen vnd vnnützen Schwätzern vnd Verführern krefftig wiedersprochen / vnd das Maul gestopffet [!] / ja auch allerhand einreissende vnd im Schwange gehende Sünde vnd Laster aus recht Christlichem Gottseligem Eyfer gestraffet. 55

Demgegenüber ist die Vita des Kontroverstheologen Johannes Colberg, die schon durch ihre Länge (14 Seiten) auffällt, mit Anspielungen auf dessen streitbares Wesen und Wirken durchsetzt.56 Abgesehen von einer Disputation mit den Jesuiten werden ausschließlich seine Konflikte mit Synkretisten, Reformierten und Sozinianern, also Gegnern innerhalb des Protestantismus, erwähnt. Seit seinen Studienjahren in Königsberg muß Colberg eine Freude daran gehabt haben, »durch fleißige Nebeneinanderhaltung [der Lehrmeinungen] / die Spreu vom Weizen / das Falsche vom Wahren / abzusondern«. 57 In der Folge des sogenannten >synkretistischen Streitesperegrinatio academica< befanden. - All diese noch auf einer sehr schmalen Quellenbasis beruhenden 102 Hinweise können nur ein Anstoß zu weiterem intensiven Eindringen in dieses Quellencorpus sein. Einmal abgesehen von den angedeuteten neuesten >Funden< zur MayerKorrespondenz gilt es, >zu retten was zu retten< ist: Korrespondenten zu ermitteln, in deren Nachlaß nach Briefen Mayers gesucht werden kann; andernorts (z.B. Augsburg; Kopenhagen) liegende Briefe oder gedruckte Schreiben zu suchen und festzuhalten. Meine diesbezüglichen Versuche sind eingegangen in ein Verzeichnis von Mayer-Korrespondenz mit einem Umfang von knapp 500 Nummern. Bei der noch anstehenen Berücksichtigung des »Greifswaldischen Wochenblattes« (vgl. Anm. 92) wird der Umfang von 500 Nummern erkennbar überschritten werden können. Wenn 97

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Alles nach Brief Liborius [II] Depkin (1661-1710) an J.F. Mayer in Greifswald, Riga 1709. In: Dähnert: Pommersche Bibliothek, wie Anm. 93,3.Bd. S. 91. -Martin Ottow und Wilhelm Lenz (Hgg.): Die evangelischen Prediger Livlands bis 1918. Köln/Wien 1977, S. 9.14.205 Nr. 342 (Depkin). - L. [I] Depkin war Dez. 1708 gestorben (ebd. Nr. 341). Ph. J. Spener an [Theodor Krüger] in Riga, Berlin 14.11. 1703. In: Spener: Schriften 15/1.1987, wie Anm. 111, (2) S. 265-269; Empfängeridentifizierung ebd., S. 72*. 1705 wird von Joh. Wallmann als Jahr der Untersuchung genannt: Esko M. Laine (Hg.): Der Pietismus in seiner europäischen und außereuropäischen Ausstrahlung. Helsinki 1992 (Veröffentlichungen der finnischen Gesellschaft für Kirchengeschichte 157), S.77 Anm. 90. In Pernau liefen gegen Krüger schon 1704 Untersuchungen. Gerhard von Rauch: Die Universität Dorpat und das Eindringen der frühen Aufklärung in Livland 1690-1710. Essen (1943). Neudruck Hildesheim 1969 (Schweden und Nordeuropa 5), S. 218. K. Sederholm: Theodor Crüger's, außerordentlichen deutschen Predigers zu St. Jakob in Riga, Proceß wegen eingeführter collegia pietatis und Irrlehren. In: Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Geistlichkeit Rußlands 7 (Dorpat/Riga 1848), S. 425-446, hier S. 427 (1706). 429 (Schade); 443 (Crassel). Verbindungen Krügers zu Spener und nach Kiel (zu Christian Kortholt? [15.1.1633-1.4.1694]) werden erwähnt (S. 429). Zu Crassel vgl. Blaufuß: Spener-Arbeiten, wie Anm. 69, S. 241 Anm. 7; zu Schade ebd., v.a. Kap. 1,3 und III und ders.: [Artikel] Schade, Johann Caspar. In: Literatur Lexikon. Bd. 10. Gütersloh/München 1991, S. 145-146. Pyl: Mayer, wie Anm. 103, S. 105, wies bereits betont auf Mayers zeitweise sich im Ausland befindliche Korrespondenten hin und nennt noch Wien und Ungarn. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese ersten Hinweise wohl auch aus den oben bei Anm. 86 bis 93 genannten handschriftlichen Briefen zu gewinnen sind. Ein genaues Studium dieser Quelle war bis zum Redaktionsschluß des vorliegenden Sammelbandes nicht möglich. Ich beabsichtige, diese Briefe eingehend zu untersuchen.

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freilich in der Literatur des öfteren Mayers Korrespondenz mit rund 1000 Schreiben aus der Feder von 240 Gelehrten und anderen beschrieben wird, so dürfte dies eine irreführende Information sein. 103 Mehr als die Hälfte der bislang erfaßten Schreiben stammen aus Mayers Greifswalder Zeit. Hier kann der Erforschung der Beziehungen unter Gelehrten in Pommern mancher Weg gewiesen und mancher Wink gegeben werden. Glatten und auf den ersten Blick attraktiven Ergebnissen gegenüber ist dies Material freilich sperrig. Dennoch darf dies nicht abschrecken vor einer gründlichen Durchforschung der Mayerschen Korrespondenz, soweit sie irgend greifbar ist.104

Schluß Mayers Kampf gegen den Pietismus sollte zwar nicht aus dem Auge verloren werden, durfte aber nicht bestimmend sein. Die Dinge liegen differenzierter, als es polternde Polemik erscheinen lassen will. Mayer dürfte hier auch Wandlungen durchlaufen haben. Gegenüber der geschilderten Aufnahme der Collegia-pietatis-Frage, aber auch den genannten frühen Predigten Mayers von 1683 und später sind Mayers polemische Beschreibungen von »Pietismus« wirklich von anderer Qualität: Die Pietisten »sind Schwärmer, so unter dem Schein der Gottseligkeit die reine wahre lutherische Religion verfolgen, den hochheiligen Grund derselben und der daraus gezogenen Lehren, als auch löbliche, Gottes Wort gemäße höchstnöthige Ordnung über den Hauffen werffen, in der Kirche allen Ketzern Thür und Thor öffnen, sich ihrer annehmen und sie vertheidigen, einen jeden Freyheit zu gläuben, was Er wolle verstatten, mit ihrer Scheinheiligkeit aber die armen Seelen bezaubern, daß sie [ . . . ] Augen haben und sehen nicht, Ohren haben und hören nicht, aber ihrer Verführer Fusstapfen gantz genau folgen, und denn mit ihnen zur ewigen Verdammniss eilen.«105 Die Konkretion dessen 103

Siehe [Th.] Pyl: [Artikel] Mayer: Joh. Friedrich. In: A D B 21. 1885, S. 99-108, hier S. 101 unten (ebenso Nagel: Mayer, wie A n m . 9 , S.37). Pyls Artikel ist selbständig gearbeitet, weist auf die Tatsache hin, daß Lebensbeschreibungen Mayers vielfach aus der Feder von Gegnern stammen und kann in eigenem (Pyls) Besitz befindliche Briefe verwerten. Der Umfang der Mayerschen Korrespondenz mit rund vier Briefen pro Briefpartner ist bei einiger Kenntnis von Mayers Biographie, aber auch bei einem Blick auf Briefsammlungen weniger wirksamer Theologen und Schulmeister der Zeit (Gottlieb Spizel/Augsburg; Christian Daum/Zwickau) eine ganz unwahrscheinliche Angabe. Von 10.000 Briefen wiederum (»1000« wäre dann Druckfehler) wage ich denn auch nicht zu reden, käme man hier doch in die Nähe des Leibnizschen Korrespondenzumfanges!

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Für meine Untersuchungen zur Korrespondenz J. F. Mayers beabsichtige ich auf jeden Fall auch ein Verzeichnis der ermittelten Korrespondenten Mayers. Derzeit sind knapp 100 Briefpartner meist durch Briefe selbst nachzuweisen. Zit. nach Hilding Pleijel: Der schwedische Pietismus in seinen Beziehungen zu

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ist dann vielfältig: Die Pietisten würden das Predigtamt abschaffen, ebenso die Sonn- und Festtage. Die Überflüssigkeit der Obrigkeit im Reich Gottes (auf dieser Erde?!) behaupten sie, und den Ehestand nennen sie nicht einen heiligen Stand. 106 Damit geht Mayer in einer Weise zur >SacheVerzeichnis< Fasz. 1—2 in Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 1, 1993 (= Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 62) S. 231-235.) - Auf ein inzwischen durch die handschriftliche Vorlage in Greifswald eindeutig zu dechiffrierendes Schreiben Samuel Schelwigs an J. F. Mayer vom 4.12. 1706 sei noch hingewiesen: Der Danziger Pietismusbekämpfer meint, wenn Mayer »den Superintendenten F . . . [Fergen] in Gotha in disgrace setzen könnten, so würden sie ein Instrumentum misericordiae et justitiae divinae seyn. [...]« (Pommersche Bibliothek, wie Anm.93, Bd.3, S. 56; Abfertigung: UB Greifswald Ms.Pom.232.2°, fol.261). Diese Machenschaften versteht man besser, wenn man weiß, daß Heinrich Ferge (1643-1709), 1676 Hofprediger, 1684 Generalsuperintendent, einen »Wahrhaften Bericht auf die falsche Beschuldigungen, womit der Pietismus war belegt worden« (Jena 1694.4°) veröffentlicht hat und bei Christian Gerber »Von den Fehlern der Symbolischen Bücher« gehandelt hat! (Ich habe dem Universitätsarchiv/Frau M. Schumann und Herrn Herlich sowie der UB Greifswald/Frau Dr. Chr. Petrick - weit über diese Einzelheit hinaus - für viele Hinweise und Hilfestellung sehr zu danken.) - Über Speners Verhalten bei der Nichtberufung Mayers nach Wittenberg (s. o. bei Anm. 22—23) auch noch 1688 dürfte aus der Korrespondenz Speners mit seinem Schwiegersohn in Leipzig, Adam Rechenberg, einiger Aufschluß zu erhalten sein, wie die mir dankenswerterweise durch die Pietismus-Arbeitsstelle Münster/Prof. D. K. Aland DD gewährte Einsicht in die Briefe vom 12.6. und 11.9.1688 zeigt.

J. F. Mayer. Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit

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Siegfried Wollgast

Spuren der Häresie des 17. Jahrhunderts in Pommern

Das Thema ist weitgefaßt - mit Absicht. Die deutsche Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts ist ohne Häresien nicht denkbar. Sie machen in dieser Zeit so etwas wie »die dritte Kraft« (F. Heer) aus. Im erbitterten Abwehrkampf haben die Katholiken wieder Tritt gefaßt und gehen in der sog. Gegenreformation, ausgerüstet mit einer neuen Ideologie bzw. Theorie, zum Gegenangriff über. Die Lutheraner, dann auch die Calvinisten, erzielen im Kampf gegen das Alte zunächst durchschlagende Erfolge: Zeitweilig ist Deutschland etwa zu neun Zehnteln evangelisch. Der Kampf der zwei bzw. drei Hauptkonfessionen verläuft ohne christlich-neutestamentlichen Friedens- und Versöhnungsgeist: Wer nicht der vertretenen (oder herrschenden) Religion anhängt, wird als Naturalist, Gottloser, als moralisch verkommen, als des Teufels Gefährte oder Produkt gekennzeichnet. Glimpflich kommt davon, wer nur ins Exil getrieben wird, so er nicht, häufig mehrfach, konvertiert. Der dogmatische Eifer der herrschenden Konfessionen paart sich bei den Protestanten in wachsendem Maße mit dogmatischer Verknöcherung. Die Kirche ist mit dem Staat untrennbar verbunden. Cuius regio et eius religio gilt seit 1555, es werden Religionskriege geführt. Dabei bringen diese Kriege Not, Pest, Tod, Elend, nahezu unvorstellbare Grausamkeiten. Was Wunder, daß breite Schichten (nicht allein wohl stets opponierende Individualisten) in Stadt und Land eine neue Welt herbeisehnen? Daß sie von der Generalreformation, von Christi Wiederkehr auf Erden, von einem Friedensfürsten, von einem gerechten Staate träumen? Ihn auch zu verwirklichen suchen? Thomas Müntzer ist ja lediglich ein herausragendes Beispiel für revolutionäres Handeln. Es gibt in dieser Zeit Apokalyptik und Chiliasmus crassus vel subtilis, die Bewegung der Rosenkreuzer mit ihren zumindest gesamtdeutschen Filiationen, den Paracelsismus, den Weigelianismus, den Böhmeismus. »Ismen«, heute verdächtig, sind immer oder zumeist Ausdruck breiter Bewegungen. Da gibt es die Sozinianer, die die heilige Trinität leugnen, die seit ca. 1650 immer breiter werdende Front gegen den Hexenwahn mit seinen Verbrennungskonsequenzen, den Sozietäts- und Utopiegedanken, neue Gesellschaftsmodelle und die Hoffnung auf den Frieden auf Erden. Dies alles wird aus der Bibel und dem Gottesverständnis zu begründen gesucht. Die Herrschenden der Konfessionen und die Regierenden samt ihrer Auguren, so meint man,

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hätten die Bibel, hätten Gott und Jesus Christus falsch verstanden, seine Gebote gar mißachtet. Die Oppositionellen aller Schattierungen fußen auf der Bibel, berufen sich auf Gott und Christus, suchen ihnen eine neue Deutung zu geben, um damit die irdischen Geschehnisse in Deutschland erklären und - wie man hofft - verändern zu können. Es dürfte nicht verwundern, daß die herrschenden Kirchen samt der ihr verbundenen und mit ihr wechselseitig verflochtenen Staatsmacht gegen diese Versuche frontal, unduldsam, sogar brutal vorgingen. Dazu gibt es eine reichhaltige Literatur, wobei man eigentlich erst seit dem 20. Jahrhundert - von Ausnahmen im 19. Jahrhundert abgesehen - dieser »dritten Kraft« breitere Forschungspotenzen widmet. 1 Die herrschenden Kirchen haben weitgehend diese Bewegungen lange totgeschwiegen oder verharmlost. Was hat diese lange Vorrede hier zu tun? Mir scheint, die Häresieforschung steht zu Pommern völlig am Anfang. Das ist fast unikal, denn zu Sachsen, der Oberlausitz, zu Schlesien usw. gibt es reichhaltiges Material, von Westdeutschland ganz abgesehen. Warum nicht zu Pommern? Bereits Ende des 14. Jahrhunderts finden wir in Hinterpommern die Waldenser, 1393 erschien der Cölestiner-Provinzial Peter Zwicker in Stettin und »lud eine große Zahl der Beschuldigten aus der näheren und weiteren Umgebung, aus der Neu- und Uckermark vor sein Gericht.« 2 Die Inquisition wütete gegen sie in gewohnter, überaus harter Weise. Es gelang aber nicht, sie völlig auszurotten: »So unklar und verworren z.B. die Angaben über die Sekte der Putzkeller sind, die in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts im Lande Barth Verbreitung gefunden haben soll, es scheint doch daraus hervorzugehen, daß es sich auch hier um eine Absonderung von der Kirche handelt, die vermutlich mit den Waldensern zusammenhängt.« 3 Dabei meint selbst Martin Wehrmann zum vorreformatorischen Pommern, 1

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Vgl. Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. 2. Aufl. Berlin 1993. Martin Wehrmann: Geschichte von Pommern, B d . I : Bis zur Reformation (1523), 2. umgearb. Aufl. Augsburg 1992 (Repr. d. Ausg. 1919), S. 181f. Vgl. zur Geschichte Pommerns aus polnischer Sicht: Historia Pomorza. Tom II: D o roku 1815. Pod. Redakcjj i ze wstgpem Gerharda Labudy. Cs6sc I (1464/66-1648/57). Bearb.: M. Biskup, M. Bogucka, A . Mjczak, B. Wachowiak. Poznan 1976, S. 651-1088 (ausführliches Literaturverzeichnis ebd., S. 651-697); Wilhelm Wattenbach: Kleine Abhandlungen zur mittelalterlichen Geschichte. Gesammelte Berliner Akademieschriften 1882-1897. Leipzig 1970 (Unveränd. Nachdruck aus den Abhandlungen und Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften), S. 127-292; Gottfried Brunner: Ketzer und Inquisition in der Mark Brandenburg im ausgehenden Mittelalter. Diss. phil. Berlin 1904; Dietrich Kurze: Zur Ketzergeschichte der Mark Brandenburg und Pommerns vornehmlich im 14. Jahrhundert. Luziferianer, Putzkeller und Waldenser. In: Jb. für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 16/17 (1968), S. 50-94; Quellen zur Ketzergeschichte Brandenburgs und Pommerns. Gesammelt, hg. und eingel. von Dietrich Kurze, Berlin - New York 1975 (Veröffentlichungen der Hist. Kommission zu Berlin, 45). Ebd., S. 182.

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das wissenschaftliche Leben habe dort, »soweit von einem solchen damals die Rede sein kann, kaum erkennbare Spuren hinterlassen. Die geistigen Bewegungen Deutschlands jener Zeit berührten das Land, das ferne von den Mittelpunkten der Kultur wegen der angeblichen Wildheit seiner Bewühner in üblem Ruf stand, nur wenig und oberflächlich.« 4 Und auch noch bis ins 17. Jahrhundert, für die von uns zu behandelnde Zeit, gilt: Es war ein halbslawisches Hinterpommern, vor allem im Grenzgebiet! Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts predigte man hier niederdeutsch; im äußersten Osten Pommerns, etwa in Lauenburg oder Bütow, auch kaschubisch oder polnisch. Schon in dieser Hinsicht waren die Grenzen zu Polen fließend und Danzig, ein Hort des Sozinianismus, war nicht weit. Nach der Reformation herrschte in Pommern ein sehr orthodoxes Luthertum. Damit verband sich bald ein ausgesprochener Haß gegen die Calvinisten wie gegen angebliche kryptocalvinistische Bewegungen. Auf der Synode zu Stettin (1593) wurde »zur Rettung der Wahrheit wider der Kalvinisten Verfälschung« die Schrift »Bekenntnis und Lehre der Kirche in Pommern vom heiligen Nachtmahl, von der Person und beider Naturen in Christo und von der ewigen Vorsehung und Wahl Gottes« angenommen. Zugleich wiederholte ein fürstliches Mandat die Erlasse von 1556,1563 und 1573 wider die Sakramentierer und andere Oppositionelle. 5 Dennoch herrschten auch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter den Geistlichen »fortgesetzte Streitigkeiten über die Lehre; einer verdächtigte den anderen des Kryptokalvinismus, und in Predigten oder Schriften eiferten sie gegeneinander.« 6 Grundlage der Lutheraner war das Corpus doctrinae Pomeranicum, 1563 angenommen. 7 Danach hatte sich in Pommern ein strenges Luthertum herausgebildet, »so streng, daß alle abweichenden Lehren, mochten sie kryptokalvinistischer oder synkretistischer Art sein, rücksichtslos bekämpft und ihre Anhänger aus Amt und Brot gedrängt wurden.« 8 Grundlage für Publikationen lieferten schon relativ früh die Druckereien zu Stettin (1569), Greifswald (1581) und Barth (1582).9 So war das Klima für ein Eindringen des Sozinianismus einerseits nicht günstig. Aber Staat und Kirche waren andererseits in Pommern schwach. Der moderne Staat konsolidierte sich hier langsamer als in anderen deutschen Territorien - jedenfalls

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Ebd.,S. 186f. Martin Wehrmann: Geschichte von Pommern, Bd. II: Bis zur Gegenwart, 2. umgearb. Aufl. Augsburg 1992 (Repr. d. Ausg. 1921), S. 91. Ebd., S. 161. Ebd.,S.90. Martin Wehrmann: Geschichte der Stadt Stettin. Stettin 1911, S. 241. Zur Entstehung der Reformation in Pommern: Alfred Uckeley: Der Werdegang der kirchlichen Reformbewegung im Anfang des 16. Jahrhunderts in den Stadtgemeinden Pommerns. In: Pommersche Jahrbücher 18 (1917), S. 1-108. Wehrmann, wie Anm. 5, S. 84.

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in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 10 Andererseits gab es großenteils zu Polen keine sprachlichen Barrieren und außerdem eine offene Grenze. An Hochschuleinrichtungen war und blieb Pommern bis zur Gegenwart arm. Vorpommern hatte die 1456 gegründete Universität Greifswald, Stettin seit 1544 ein Pädagogium. 11 Es erreichte in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges seine höchste Blüte. War doch Johannes Micraelius (1597-1658) von 1642 bis 1658 sein Rektor. Das Pädagogium glich jetzt einer universitären Artistenfakultät, war aber nicht mit deren Privilegien ausgestattet. 1667 wurde das Pädagogium von der schwedischen Regierung aufgelöst, dafür ein Gymnasium begründet. In Vorder- wie Hinterpommern gab es allerdings Gymnasien, auf einige, an denen auch zeitweilig Häretiker wirkten, werden wir noch eingehen. Greifswald war unter schwedischer Herrschaft erzkonservativ, also erzlutheranisch. 1677 wurde der vom brandenburgischen Kurfürst ausgewiesene Johannes Colberg Theologieprofessor in Greifswald. 12 In seinem Streit mit seinem Fakultätskollegen Jakob Hennig (1633-1704), der bis zu seinem Tode (1687) währte, wurde er von der schwedischen Kirchenleitung unterstützt. Mehrfach gab es Vorschläge, die Universität Greifswald nach Stettin zu verlegen, so 1650,1669,1679,1694. 13 Man war, auch von pommerscher Seite, der Meinung, die Universität müsse in einer blühenden Stadt sein, und das sei Stettin eher als Greifswald. Dabei wollte man das Stettiner Pädagogium mit der Universität verschmelzen. Übrigens gab es während der Schwedenzeit - auch schon zuvor - Klagen darüber, daß man in Greifswald zu leicht einen akademischen Grad erlangen könne. 14 Johann Friedrich Mayer, »ein kämpferischer, um nicht zu sagen fanatischer Anhänger der Orthodoxie, hatte [...] mit großem Eifer den um sich greifenden Pietismus bekämpft und war deshalb im Jahre 1691 von Karl XI. zum Oberkirchenrat in den deutschen Gebieten Schwedens ernannt worden.« 15 1689 wollten ihn die Schweden bereits als Prokanzler für die neue Universität Dorpat gewinnen. 1692 suchte man dem Pfarrer in Hamburg und Professor in Kiel die Greifswalder Theologieprofessur zu verleihen. Generell gilt für diese Zeit: »Die Orthodoxie hielt die pommersche Universität fest umschlossen.«16 Mayer sorgte durch seinen Einfluß auf die Berufungspolitik dafür, daß es so blieb. Er wurde 1701 ständiger Prokanzler der Universität, 1701/2 und 1705/6 ihr Rektor. Generell hat er das Bild dieser 10

E b d . , S . 102. Vgl. [M. Wehrmann]: Aus der Geschichte des Königlichen Marienstifts - Gymnasium in Stettin. 1544-1894. Stettin 1894. 12 Ivar Seth: D i e Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637-1815. Berlin 1956, S. 51. » Ebd., S. 37; S. 51f.; S. 53f.; S. 72f. " Vgl. u.a. ebd., S.26f.; S. 65u.a. 15 Ebd., S. 67. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Dietrich Blaufuß. 16 Ebd.,S.69. 11

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Universität im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts geprägt. 1692 gab die pommersche Regierung einen Erlaß gegen den Pietismus heraus, ein weiterer folgte durch unmittelbaren Einfluß Mayers 1694,17 1699 kam es in Greifswald zu einer großen Universitätsvisitation. 18 Das Ergebnis war hinsichtlich der Qualität vernichtend. Mayer hat, womit wir die Schlußphase des von uns zu umreißenden Zeitabschnitts voranstellen, mit größter Erbitterung gegen den Pietismus in all seinen Spielarten gekämpft, dazu eine Vielzahl von Schriften verfaßt. Von diesen hat wohl Eines Schwedischen Theologi Kurtzer Bericht von Pietisten19 das größte Aufsehen erregt. Die kleine Schrift (Quart 84 Seiten, davon S. 45-84 schwedische Edikte) erschien anonym und rief Gegenschriften hervor. Sie versteht sich als Warnung davor, daß der Pietismus durch Übersetzung deutscher entsprechender Bücher ins Schwedische auch in Schweden Fuß fasse. Mayer verfälscht eindeutig das Anliegen der Pietisten, die aus meiner Sicht zu dieser Zeit eine Fraktion der Frühaufklärung bilden. Dazu einige Schlaglichter aus Mayers Büchlein. Einleitend beruft sich Mayer darauf, daß König Karl XII. seine ganze Autorität und Macht gegen den Pietismus setze. Er wolle nun einen »Bericht von den gröbesten Pietistischen Satans-Lehren« geben. Diese »falschen Propheten« kämen in Schafskleidern zu den armen Deutschen und seien doch inwendig reißende Wölfe. 20 Folgende Definition wird von den Pietisten gegeben: 21 Es seynd die Schwärmer / so unter dem Schein der Gottseeligkeit die reine wahre Lutherische Religion verfolgen / den hochheiligen Grund derselben und der daraus gezogenen Lehren / als auch löbliche / GOttes Wort gemässe / höchstnöthige Ordnungen über den Hauffen werfen / in der Kirche allen Ketzern Thür und Thor öffnen / sich ihrer annehmen und sie vertheidigen / einen jeden Freyheit zu gläuben was er wolle verstatten / mit ihrer Scheinheiligkeit aber die armen Seelen bezaubern / daß sie bey den offenbahren Unwahrheiten und Betrügereyen / wie die Götzen der Heyden / Augen haben und sehen nicht / Ohren haben und hören nicht / aber ihrer Verführer Fußstapffen gantz genau folgen / und denn mit ihnen zur ewigen Verdammniß / eilen.

Unter diesem Namen gebe es unterschiedliche Richtungen. Mayer wettert vornehmlich gegen die radikalen Pietisten. Man nenne die Pietisten so, weil sie Feinde und Verfolger der wahren Gottseligkeit und Gottesfurcht seien. Vater der Pietisten sei der Satan, »Lügen / Leugnen und Lästern sind ihre 17 18 19

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Ebd., S.71f. Ebd., S. 74-79. [Johann Friedrich Mayer]: Eines Schwedischen Theologi Kurtzer Bericht von Pietisten. Samt denen Königlichen Schwedischen Edicten wider dieselben. Mit Königl. Majestät in Schweden allergnädigsten Bewilligung zum andren mahl in öffentlichem Druck publiciret, Leipzig 1706. Vgl.: Helmut Lother: Pietistische Streitigkeiten in Greifswald. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus in der Provinz Pommern. Gütersloh 1925, S. 261-267; Hilding Pleijel: Der schwedische Pietismus in seinen Beziehungen zu Deutschland. Eine kirchengeschichtliche Studie. Lund 1935. Ebd., S.4f. Ebd., S. 5-6.

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stärcksten Waffen.« 22 Johann Conrad Dippel (1673-1734) wird direkt angegriffen. Unter Bezug auf dessen »Glaubens-Bekäntniß pag. 8«, G. Arnolds »Kirchen- und Ketzer-Historie Tom. I, Lib. I, Kap. V, p.49« wird festgestellt, die Pietisten unterschätzten die Bibel und ihre Wirkung. Sie brächten sie auch unter die Leute, damit jeder sich sein eigenes Bild von ihr mache. Zur Unterstützung würden eigene Bibelübersetzungen gefertigt: »[...] zu Hamburg hat man sich nicht entblödet eine Bibel mit des schwermerischen Schusters / Jacob Böhmens Auslegungen angefangen zu drucken [.. ,].« 23 Von Luther und seiner Bibelübersetzung hielten sie wenig. Christian Thomasius (1655-1728) wird von Mayer mit den Pietisten in Zusammenhang gebracht. 24 Diese hielten die Orthodoxie der Lutheraner für eine »gebranntmarckte Hure / die mit ihrer öffentlichen Prostitution an den SchandPfahl gebunden ist.« 25 Das - damals vielleicht noch bestehende - Toleranzdenken der Pietisten wird für Ketzerei erklärt. Die Pietisten glaubten, jeder könne in seiner Religion selig werden, auch die Heiden. Die heilige Trinität leugneten sie. Von Christus und seiner Genugtuung verträten die Pietisten ketzerische Auffassungen. Gute Werke seien für Pietisten zur Erlangung der Seligkeit nicht erforderlich. Sie glaubten, ein Wiedergeborener könne das Gesetz völlig halten. Dippel meine z.B. auch, die Taufe gehöre nicht zum Evangelium. Das heilige Abendmahl - wieder wird Dippel als Beleg herangezogen - sei lediglich ein Gedächtnismahl. Den Beichtstuhl lehnten sie ab. Vom Predigtamt hielten die Pietisten nichts; die Gotteshäuser hätten ihren Ursprung bei den Heiden. Die Prediger bedürften nicht des Studiums und einer besonderen Kleidung. Die Kirchenbräuche sollten abgeschafft werden, auch der Sonntag und die Feiertage. Dippel undThomasius seien gegen die Obrigkeit. Mayers »Bericht« schließt mit der Frage, wo denn in der Bibel die Pietisten beschrieben würden? 2. Tim. 3, 1-9 ist die Antwort. Johann Conrad Dippel, einen Kronzeugen Mayers, lassen diese Vorwürfe nicht ruhen. Er schreibt unter seinem Pseudonym Christianus Democritus eine Gegenschrift. Das Vorwort ist 10. Dec. 1706 unterschrieben. Die Arbeit umfaßt 185 Quartseiten. Dippel druckt jeden Abschnitt aus Mayers antipietistischem Büchlein nochmals ab und gibt dann seine Widerlegung. Dabei kommt er zu folgenden Ergebnissen: Karl XII. sei, wie in der Geschichte häufig, von schlechten Priestern falsch beraten. »Luthers Schrifften sind gewißlich so variabel, daß keine Secte in gantz Europa zu finden die nicht ihre Lehr aus Luthero sollte demonstriren können.« 26 Die Pietisten 22 23 24 25 26

Ebd., S . l l . Ebd., S. 18. Gegen J.C. Dippel: S. 16,21f., 25,291., 32, 34f., 40. Ebd., S. 20, S. 26, S. 40. Ebd., S. 21. Christianus Democritus (d.i. Johann Conrad Dippel): Unpartheyische Gedancken / Über eines so genannten Schwedischen Theologi kurtzen Bericht von Pietisten etc.

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hätten Luthers Lehre besser verteidigt als der »schwedische Theologus«. Davon zeugten unter anderem die Schriften Philipp Jakob Speners und der Halleschen Pietisten. Die Orthodoxen seien selbst die ärgsten Ketzer unter der Sonne. Dazu zähle auch J. F. Mayer. 27 Dieser, wie überhaupt die Orthodoxen, sei ein »Seelen-Mörder«, ein »theologischer Charlatan», der ein sattes Leben führe und durch die Pietisten aus seiner vermeintlichen Seelenruhe und seinem satten fleischlichen Leben aufgeschreckt werde. 28 Und Dippel sagt auch »daß ein einig Blat aus dem Schwermerischen Schuster / dem Jacob Böhmen / besser sey / als alles / was Er [Mayer-S. W.] / so lange Er gelehret / in die Welt geschrieben.« 29 Die lutherische Orthodoxie stehe vor den Augen derer, die Christus kennen, wie eine Hure am Pranger. 30 Weder Christian Thomasius noch er, Dippel, hielten etwas von Ketzern, wie sie die Bibel schildere. Die Orthodoxie und Mayer selbst seien aber für Ketzer anzusehen. 31 Gottfried Arnold habe zu Recht gezeigt, »daß allezeit der Orthodoxe Hauffe am meisten von dem Reich Christi entfernt gewesen / und die evangelische Wahrheit nur bey denen zu finden / die der rasende Schwärm der Clerisey am meisten gehasset / und zum Satan gewiesen.« 32 Schon im Sinne der Aufklärung sagt Dippel: »Wann [ . . . ] das Wort Religion so viel heisset / als die Devotion und gläubige Unterthänigkeit unter den Willen des Schöpffers / so glauben sie [die Pietisten - S.W.], daß ein jeder in seiner Religion könne seelig werden / dem es ein Ernst ist / GOtt in Christo zu gefallen.« 33 Unter den Heiden sei es noch eher möglich selig zu werden »als nach dem falschen Sau-Evangelio / so auff des Schwedischen Theologi Cantzel erschallet.« 34 So geht Dippel Punkt für Punkt bei Mayer durch. Doch zurück zum 16. und 17. Jahrhundert! Orthodoxes Luthertum, das sich in Pommern etabliert, mußte von vornherein auch gegen Ansätze von Calvinismus in Opposition stehen. Dementsprechend waren Angriffe auf scheinbaren oder wirklichen Calvinismus bzw. Cryptocalvinismus vielfältig, erstreckten sich über ganz Pommern und wiederholten sich mehrfach. 35 So Nebst einer kurtzen Disgression. Von der Brutalität und Illegalität des ReligionsZwangs. Laodiceia 1706, S. 16. 27 Ebd.,S.22-24. 28 Ebd.,S.34,S.36. 2 » Ebd., S. 66. 30 Ebd., S.72. 31 Ebd., S. 74f. 32 Ebd., S.76. Vgl. Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Vom Anfang des Neuen Testaments biß auf das Jahr Christi 1688, Bd. 1. Frankfurt/M. 1729, Vorr., S. 1-26. 33 Ebd., S.77. 34 Ebd.,S.80. 35 Vgl. zum folgenden: Otto Plantiko: Pommersche Reformationsgeschichte. Mit einem Vorwort von V. Schulze. Greifswald 1922, S. 108-110, S. 127. Daniel Cramer: Das Grosse Pomrische Kirchen Chronicon. Das ist Beschreibung Vnd Ausführlicher Be-

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hatte der Konrektor des Pädagogiums zu Stettin, Konrad Berg (gest. 1592), 1586 seinen Schülern in 100 Leitsätzen eine Belehrung über das Abendmahl erteilt, durch die er sich des Kalvinismus verdächtig machte. Biblische Grundlage seiner Auffassungen war Joh. 20,19f. Zudem hatte er vertreten, Christus könne nicht mit dem Körper an verschiedenen Stellen und nicht im Abendmahl körperhaft zugegen sein. Christus sei mit seiner göttlichen Natur zwar überall, doch mit seiner menschlichen an einen Raum im Himmel gebunden. Bevor Berg neben der Professur am Pädagogium noch eine Predigerstelle an der St. Marienkirche erhielt, wurde er durch den Superintendenten Johann Kogeler und den Stettiner Hofprediger Jakob Faber (1559-1613), ab 1596 pommerscher Generalsuperintendent, einem Verhör unterzogen. Es fand sich jedoch nicht genug Grund, ihn vom Predigtamt fernzuhalten. Daß die Kalvinistenfurcht und Ketzerriecherei zu einer argen Gesinnungsschnüffelei ausartete, zeigt ein Vorfall aus dem Jahre 1592, bei dem der Wolgaster Herzog Ernst Ludwig den Anklamer Bürgermeister wegen seiner Stellung zum Abendmahl und zur Person Christi zur Rechenschaft zog. Die Geistlichkeit hielt ihn für unwürdig des Sakramentsgenusses, ein geistlicher Gerichtshof trat gegen ihn zusammen. Der Bürgermeister, der sich seinen Kollegen aus Wolgast und einen Notar aus Stettin zum Beistand hatte nehmen dürfen, wurde wegen seiner Rechtfertigungsversuche vom selbst anwesenden Herzog der Heuchelei bezichtigt und aufgefordert, binnen sechs Wochen ein genaues schriftliches Bekenntnis vorzulegen. Doch scheint der Vorgang mit dem einige Wochen darauf erfolgten Tode des Herzogs nicht weiter verfolgt worden zu sein. Außer Berg waren die Stettiner Prediger Mag. Joach. Stygius von St. Marien und Mag. Joachim Frisius, Archidiakon von St. Nikolai, als Kalvinisten verdächtig befunden worden. Sie mußten sich auf der großen Stettiner Synode 1593 nebst sechs Gesinnungsgenossen verantworten. Zu Stygius und Frisius kam als dritter im Bunde noch ein Prediger von St. Jakobi hinzu. Die übrigen waren der Konrektor und Subrektor des Pädagogiums, der Rektor der Stadtschule nebst zwei seiner Kollegen. Frise hatte z.B. seinen rieht / was sich fürnehmlich in Religions Sachen / von Enderung der Heydenschafft her / im Land zu Pomren / vnd zugehörigem Fürstenthumb Rügen / auch Graff- vnd Herrschafften / bey noch wehrendem Christenthumb / vnd dabey verlauffener Evangelischer Reformation / biß auff kegen wertige Zeit / begeben vnd zugetragen hat. Auß vielen Glaubwürdigen Alten vnd Newen Scribenten / Vhrkunden Archiven vnd andern Denckwürdigen Nachrichten zusammen / getragen [ . . . ] . Buch I-IV. Alten Stettin 1628. Bd. IV, S. 23f., 35f., S. 45-53, S. 96. L. Jacob Heinrich Balthasar: Historischer und Theologischer Discours Von Dem Eyfer der Pommern Gegen die Reformirten, in welchem die Statuten und Schlüsse der Fürsten, und die Verrichtungen der Theologen in Pommern Gegen die Reformirten Aus Historischen Nachrichten erzehlet werden. Und zugleich Wider den Hochberühmten Herrn Christoph Matth. Pfaffen, Vornehmen Theologum und Cantzlern der Universität zu Tübingen, bewiesen wird, Daß ein wahrhafftiger und gründlicher Zwiespalt unter den Lutheranern und neusten Reformirten sey. Leipzig 1722, S. 19-25.

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Schülern im Pädagogium eine Auslegung von Mt. 28, 20 diktiert, die eine Leugnung der Lehre von den zwei Naturen Christi enthielt. Christus sitze im Himmel auf einem umschriebenen Platz. Die Synode trat im herzoglichen Schloß zusammen und war außer von dem Stettiner Herzog Johann Friedrich (1542-1600) und dem Herzog Franz zu Barth (1577-1620), Bogislaw XIII. Sohn, besucht von den herzoglichen Kanzlern, Räten und einem ansehnlichen Teil der Ritterschaft. Aus den Städten waren die Bürgermeister von Stettin, Stargard, Stolp, Greifenberg und Treptow a. R. anwesend. Hinzu kamen die beiden Generalsuperintendenten von Stettin und Wolgast, der Kamminer Stiftssuperintendent, sowie die Pastoren von Stettin, aus Stargard, Stolp, Gollnow, Greifswald, Treptow a.T., Greifenberg, Wollin, Gartz a. O. und Greifenhagen. Hinzu kamen Zuhörer und Zuschauer aus Stettin selbst. Das Untersuchungsverfahren wurde als eine Ehrensache der pommerschen Kirche hingestellt, da bei den Herrschern anderer Länder der Verdacht aufgekommen sei, Stettin sei von der Lehre der Sakramentierer erfüllt. Die Verhandlungen dauerten mit 7 Sitzungen vom 1. bis 9. März. Die Bedrohten erbrachten den verlangten Widerruf. Die Freude bei den Verteidigern der Rechtgläubigkeit war so groß, daß das Ergebnis der langen Synodalverhandlungen als Triumph der reinen Lehre durch die drei Superintendenten in St. Marien, St. Jakobi und St. Nikolai, also in den drei vom Kalvinismus bedrohten Gemeinden, feierlich bekannt gegeben wurde. Stygius und Frisius durften noch zeitweilig in ihren Ämtern bleiben, wurden aber dann doch entlassen, da man ihrer einwandfreien Haltung nicht sicher war. Frise behielt aber bei Hofe seine Gunst, er wurde später Hofprediger in Rügenwalde. Bei Stygius erfolgte die Entlassung zu Michaelis 1593. Er fand in der Niederlausitz Unterschlupf. Im nächsten Jahre stellte er heimlich seinen Freunden in Stettin eine Schmähschrift zu, die namentlich gegen den Stettiner Generalsuperintendenten gerichtet war. Welche Wichtigkeit seine Gegner dieser Schrift beilegten, geht aus der Widerlegung hervor: Notwendige Antwort auf Mag. Joach. Stygii Büchlein, in welchem er seiner Kalvinischen Bekenntniißen vom heiligen Abendmahl und von der Person Christi, die er Ao. 93 auf gemeinem Synodo zu Alten=Stettin als unecht fallen lassen, und dagegen der reinen Lutherischen Lehre in selbigen Articuln unterschrieben, wiederholet und nachmals als recht verteidigt. Sampt wahrhafftigen Bericht auf seine unwahrhafftige Erzehlung der Geschichte des Stettinischen Synodi und unchristlichen Verleumbdungen seines gegentheils, gestellet und approbiret von den Supperintendenten, Pastorn und Predigern, so auf gedachtem Synodo selbst gewesen, und von allen andern, so itzo in den fürnehmsten Städten F. Stettinischer Regierung am Worte Gottes dienen. (1597)

Es wäre verdienstlich, diese Schrift zu untersuchen. Johann Berckmann überliefert uns bereits aus dem Jahre 1558 folgende Begebenheit aus Stralsund. 36 Hier fand sich der Laienprediger Petrus Sule36

Vgl. zum folgenden: ebd., S. 127f.; Hellmuth Heyden: Kirchengeschichte Pommerns.

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ke, ein Ziegelstreicher, offenbar ein Analphabet. Zuvor war er ein Jahr lang in Stettin gewesen. Suleke predigte auf Märkten und Straßen und verkündete, Gott werde die Welt wegen der Gleichgültigkeit gegen sein Wort strafen. Bei den einfachen Leuten fand er Anklang, erregte aber Anstoß bei den Reichen und fand namentlich im Pastor Mag. Stüblinger einen eifrigen Gegner. Besonders dessen Betreiben war es zuzuschreiben, daß der Rat Suleke ins Stadtgefängnis werfen ließ. Nachdem er hier kaum zwei Wochen gesessen hatte, verbreitet sich das Gerücht, er solle umgebracht werden. Die Folge davon war ein Auflauf von 400-500 Menschen vor dem Gefängnis. Es wurde aufgebrochen und Suleke mit Gewalt wieder in Freiheit gesetzt. Tags darauf eröffnete er seine Predigttätigkeit erneut und setzte sie vier Wochen hindurch ungestört fort. Schließlich wagte er es, in der Kirche zu predigen. Darauf ließ ihn der Rat wieder in der Büttelei einsperren, allerdings unter besserer Verwahrung. Nach vier Tagen wurde P. Suleke nach Ribnitz in Mecklenburg abgeschoben. Seit 1549 wirkte in Stargard i.P. als zweiter Rektor der neuen Schule Georg Schermer, geboren 1518 in Freienwalde. 37 Er hat sich um das Ansehen der Schule großen Verdienst erworben. Zudem bekämpfte er von der offiziellen Lehrmeinung der evangelisch-lutherischen Kirche abweichende Meinungen. In seinen Predigten rief er zur Buße auf, wandte sich gegen das unmäßige Fressen und Saufen. Das Volk hörte auf ihn, er gewann immer mehr Einfluß. In Stargard bildete sich für mehrere Jahre nach 1550 eine Pround eine Anti-Schermer-Partei. Die Gegner beschuldigten Schermer des Osiandrismus. Durch eine Stettiner Kommission, bestehend aus Paul vom Rhode (1489-1563), Johannes Knipstro (1497-1556) und dem Greifswalder Theologen Jakob Runge (1527-1595), wurde der Streit 1556 beigelegt. Der Vorwurf des Osiandrismus wurde zurückgewiesen. Der Stettiner Pfarrer Petrus Becker (Artopaeus) stand Oslander in Königsberg nahe und vertrat auch dessen Auffassungen. 1555 widerrief er. Da er aber seine osiandrischen Auffassungen weiter verbreitete, wurde er 1556 abgesetzt. Er starb 1563 in seiner Vaterstadt Köslin.38 All dies läßt sich noch unter die Rubrik »innerprotestantische Streitigkeiten« verbuchen. Aber die Lage war doch ernster. Sicher nicht grundlos erließen 1546 und 1563 die Landtage scharfe Edikte gegen die Wiedertäufer. In den 80er Jahren predigten Wiedertäufer bei Greifenhagen gegen die Kindestaufe und »verlästerten« das Sakrament des Abendmahls. Namentlich wird ein Friedrich Bovinhausen genannt. Die Sekte hatte ursprünglich

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Bd. II: Von der Annahme der Reformation bis zur Gegenwart, 2. umgearb. Aufl., Köln - Braunsfeld 1957, S. 52-54; ders.: Die Kirchen Stralsunds und ihre Geschichte. Berlin 1961, S. 177-181. Vgl. F. Boehmer: Beiträge zur Geschichte der Stadt Stargard in Pommern. 6. Heft. Stargard i.P. 1904, S. 51-55. Vgl. Heyden, wie Anm. 36,1957, S. 51.

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in Stettin gewirkt und war dann in die Pulvermühle bei Altdamm gezogen. 1600 wird in Stralsund ein Seidenspinner erwähnt, der sich als Wiedertäufer bekennt. Er erhält vom Rat unter der Bedingung das Niederlassungsrecht, daß er sich des Werbens für seine Religion enthalte. 39 Cramer berichtet: 40 Im Herbst und Winter 1581 ist eine Wiederteufferische Rotte von Stettin ab / da ihr Oberster sich eine Zeitlang heimlich enthalten hatte / gen Gryphenhagen eingeschlichen / hat bald jhre eignen Synagog anzurichten / wider die Kinder Tauff und Sacrament des Leibs und Bluts zu Lästern vnd schwärmerische Bücher vnter die Leute / auch vnter die Kinder in der Schulen außzusprengen / vnd jhre Schwärmery zuvertheidigen angefangen. Nach dem aber von einem Erbarn Raht vnd Pfarherrn desselben Orts besuchte Rotte fürgenommen ward / ist sie von dannen gewichen / vnd in eine Pulvermühl bey Damm niedergelassen / endlich aber verlauffen.

Generell ist hervorzuheben, daß nach dem Übertritt des brandenburgischen Herrscherhauses zum reformierten Glauben (1613) in Pommern eine Flut von Gegenschriften einsetzte, auch eine Spielart der »Kalvinistenriecherei«. Man hatte einfach Angst, daß die calvinistische Welle nach Pommern »überschwappen« würde. Auch der pommersche Generalsuperintendent und Greifswalder Theologieprofessor Barthold von Krakewitz (1582-1642) edierte mehrere Schriften gegen die brandenburgischen Calvinisten. 41 Eine endet mit dem Satz:42 »Behüte uns für Papistische Saur=teige / für Calvinistische Greueln und ärgerlichen unerbaulichen Neuerungen.« 1634 wurde ein noch 1725 in Pommern gültiges Kirchengebet eingeführt, in dem es heißt: 43 »Oh HERR GOTT / Vater aller Barmherzigkeit [...] Steure [ . . . ] den Papisten / Calvinisten / und anderen Rotten-Geistern / die dein seligmachendes Wort verfälschen.« Im 17. Jahrhundert finden sich auch Weigelianer in Pommern, direkt in Stettin. Am bekanntesten davon ist Gottfried Friedeborn, ein Sohn des Pastors Christian Friedeborn in Pölitz, einem »Stettinischen Städtgen«. Er hat »6 Jahr dem Consistorio und Ministerio zu Stettin mit seinen Weigelianischen Schwärmereyen viel zuthun gemacht.« 44 Gottfried Friedeborn hat, so die orthodoxe Nachricht, schon »in seiner Jugend ein frech Leben geführet, 39

Ebd., S. 55. Cramer, wie Anm. 35, S. 20. 41 Jacob Heinrich Balthasar: Andere Sammlung Einiger zur Pommerischen KirchenHistorie gehörige Schriften. Welche zur Erläuterung und Vermehrung der gedruckten Pommerischen Chronicken / mit möglichsten Fleiß und Treue [ . . . ] zum Druck befordert. Greifswald 1725, S. 665ff. « Ebd.,S.676. 43 Vgl. ebd., S. 679. Vgl. Balthasar, wie Anm. 35, S. 7f. 44 Ehre Gott Daniel Colberg: Das Platonisch=Hermetische Christenthum / Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten / Weigelianer / Rosencreutzer / Quäcker / Böhmisten / Wiedertäuffer / Bourignisltn / Labadisten / und Quietisten I. Franckfurt und Leipzig 1690, S. 232. Walch folgt in seiner Darstellung G. Friedeborns völlig E . D . Colberg. Vgl. Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions = Streitigkeiten, Welche sonderlich ausser der Evangelisch40

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daentzwischen etliche Weigelianische Bücher gelesen.«45 In Danzig wirkte er als Präzeptor. Er hatte hier Imaginationen, fühlte sich als der, der nach Offb. Joh. 2,27 die Heiden mit einem eisernen Stab weiden und wie eines Töpfers Gefäße zerschmeißen sollte. Natürlich ist »Heiden« hier sehr weit gefaßt. Friedeborn sah sich auch höher als Luther, dieser sei nur ein Vorläufer; er sei »Propheta extremi judicii«. Natürlich erntete er Protest, wurde festgesetzt aber endlich »in gratiam Consulis Stetiniensis Pauli Fridebornii dimittieret.« Wieder in Stettin, setzte er die Publikation seiner Schriften an den Superintendenten, das Konsistorium, die Prediger usw. fort. Der Rat nahm ihn 1643 fest und ließ ihn »auf das heilige geistesthor sezen.« Er verordnete, die Geistlichen sollten ihn öfter besuchen und umzustimmen suchen. Auf Empfehlung des Stadtphysikus wieder in Freiheit gesetzt, versandte er erneut oppositionelle Schriften, unter anderem an den Rat der Stadt. In der Stadtschule hielt Friedeborn dann einen »Conventus Theologorum in presentia aliquot deputatorum ex senatu«. Bald darauf wurde er erneut auf Ratsbeschluß festgesetzt. Der Greifswalder Theologieprofessor Ehre Gott Daniel Colberg (1659-1698) schreibt 1690 von einer Vielzahl von Schriften G. Friedeborns, den er auch der »Theophrastischen Platonischen Theologie« bezichtigt, was zum Weigelianismus keineswegs in Widerspruch steht. Colberg faßt Friedeborns Lehren in VII Thesen zusammen: I. Von der Schöpfung: Zwischen Gott und Finsternis (bzw. Hölle) seien Himmel und Erde zur Schiedsmauer gesetzt. II. Gott habe erstlich Reginam Sophiam, einen allgemeinen Geist der Welt, geschaffen und sie Gottes Sohn vermählt, da Himmel und Erde sollten geschaffen werden. 46 Diese Regina Sophia ist die erschaffene Weißheit / und ist, ein wesentlicher Geist und Bild der unerschaffenen Weißheit. Sie ist das Wort GOttes / so unter den Menschen geprediget wird. Von diesem erschaffenen allgemeinen Geist werden alle Dinge / auch die Engel gebohren / die Seelen aber der Menschen kommen nicht vom Licht der erschaffenen/sondern der unerschaffenen Welt. II. Von der Seele des Menschen. 1. Da GOtt sprach (faciamus hominem) da ist alsfort die Seele Adams entstanden / und nicht geschaffen / sondern gebohren / drum werden wir genant Wiedergebohrne. Sie ist aber gebohren aus dem Licht der unerschaffenen Weißheit. So ist nun Adam nicht eine erschaffene / sondern unerschaffene Weißheit angebohren / doch ist er nicht Christus selbst. 2. Die Seele ist ein Band des Geistes mit dem Leibe / sie bleibet nach dem Abschied von dem Leibe an dem Ort / da die vier Elementen ihre Wohnung haben. III. Von GOtt 1. Das Licht / daraus spiritus mundi acutus gehet / ist nicht das Wesen GOttes selbst / und ist doch unendlich. 2. Das Verborgene der Hertzen der Menschen ist Friedbornio nicht verborgen: seine Gedancken sind GOttes Gedancken: Er richtet die Gedancken der Hertzen und betrachtet sie. IV. Von Christo. 1. Die erschaffene Weißheit ist das Wort GOttes / so unter den Menschen geprediget wird / dieser Geist

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Lutherischen Kirche entstanden, Vierdter Theyl. Jena 1736, S. 1076f. Pölitz wurde 1321 mit seinem Gebiete Eigentum Stettins. Vgl. Wehrmann, wie Anm. 8, S. 47f. Zit. nach: W. Böhmer: Uebersicht der allgemeinen Chroniken und Geschichten Pommerns seit Kantzow. In: Baltische Studien 3 (1835), S. 159f. Colberg, wie Anm. 44, S. 233-236.

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hat ein lebendigmachendes Wort bey sich / so vom Gläubigen ausgehet / und übertrifft sapientiam angelorum. 2. Adam ist GOtt gleich geworden an Majestät und Herrligkeit / auch nach dem Fall. 3. Die Gottheit wohnet bey den Gläubigen leibhafftig: wie sie bey Christo wohnet Col. 2.4. GOtt wird Friedbornen zu seiner Rechten erheben / ja er ist schon zu GOttes Stul erhoben / die Väter / so mit Christo aufferstanden sind / sitzen auch zur Rechten GOttes. 5. Ein gläubiger Mensch werde vergöttert / gleich wie die menschliche Natur vergöttert ist. Er kennet die Tieffe GOttes /. 1. Cor. 2. 10. 6. Die gantze Creatur soll bey Christo bleiben / denn sie ist dazu erschaffen / daß sie soll ewig stehen / und nicht vergehen. V. Vom Ebenbild GOttes. Adam ist wesentlich das Ebenbild GOttes / und er ist im Anfang der Creaturen gebohren durch die Liebe des Vaters / und das Ebenbild GOttes ist kein Accidens, sondern Substantia. VI. Von der Gnadenwahl. 1. GOtt hat alle Menschen in Christo erwehlet / denn Electio ist / daß alle Menschen sollen selig werden. 2. Die Gnade der Erwehlung und Verstossung stehet in dem / weil die Menschen bey sich erwehlen / anfänglich eine reine oder unreine Liebe. 3. Wer nach dem Geiste von den Eltern gezeuget und gebohren wird / den erwehlet GOtt zu seinem Reich. VII. Von der Erbsünde. 1. Die Seele Adams ist nach dem Fall nicht verdammet worden / denn sie hat die Verheissung behalten / daß sie von Ewigkeit erwehlet worden. 2. Wir tragen an uns eine göttliche und menschliche Natur. 3. In der Natur ist gepflantzet eine reine Liebe wegen des natürlichen Lichts im Menschen / doch kan es nicht zu GOtt kommen ohne durch Christum und die Sacramenta. 4. Des Mannes Geist würcke auch ausser dem Leibe in des Weibes Leib / denn er gebiehret bey sich selbst einen lebendigen selbständigen Geist durch die erschaffene Weißheit / und die Liebe bey ihm gebiehret wesentlich durch Unterredung / und der Geist des Menschen bestehet wesentlich in der ehelichen Liebe / ehe er in Mutter=Leib gehet / durch Würckung des Geistes; [...] 5. Der Mensch habe ein geistliches natürliches Wesen / ehe er in Mutter=Leib gehet. 6. Beym Menschen ist ein lebendigmachender Geist aus GOtt / drumb ist er auch Imago Dei. VII. Von der Rechtfertigung und Wiedergebuhrt. Der Grund des Christenthums ist 1. Eine reine Liebe zun Eltern. 2. Daß er sich verlasse auffs Gebeth. 3. Die aus unreiner bösen Lust=Seuche gezeuget sind / können in ihrem Alter durch Geist und Wasser nicht wiedergebohren werden.« D i e N ä h e dieser Auffassung zu Valentin Weigel ist eindeutig, in dieser knappen Übersicht vermag ich darauf aber nicht weiter einzugehen. 4 7 D e r Weigelianer Andreas Detrii in Berlin sandte seinem Freund Johannes Permeier (1597 - nach 1643) am 12.1. 1638 verschiedene Prophezeiungen und Visionen. Darunter waren auch Etliche Bedenken, so Gottfried Friedeborn zu Alt Stettin dem Ministerio daselbst vorgehalten, was Gott insonderheit mit selbiger Stadt vor vielen Jahren für einen Bund gemacht und nun forthin seine Wahrheit von dannen ferner fortzupflanzen beschlossen hat. Ein Stettiner J . K . sendet am 16.4. 1639 an Permeier ein Schreiben Friedeborns, »von gleichmäßigen Plagen und Strafen, insonderheit aber v o m göttlichen Ratschluß, was er, der Höchste, mit seiner Person und dem Predigtamte daselbst zu Alt Stettin in dieser Zeit vorhat.« Vielleicht ist es das gleiche Schreiben. Nach Wotschke ist Friedeborn zu denen zu rechnen, »denen der Schrecken des lang sich hinziehenden dreißigjährigen Krieges A n l a ß gab, in Visionen die Zukunft zu deuten, Gottes Strafgericht zu schauen, Babels Fall zu verkünden, die sich als Propheten Gottes, als seine 47

Vgl. Valentin Weigel: Ausgewählte Werke. Hg. von Siegfried Wollgast. Stuttgart usw. 1978.

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besondere Werkzeuge gaben.«48 Er gehört so in eine Reihe mit Ludwig Friedrich Gifftheil (1591-1665), Tobias Schneuber, J. Permeier und anderen. Wotschke druckt ein Schriftstück Friedeborns an den Stettiner Syndikus Dr. Michael Raseke ab.49 Darin geht er auf die Ursachen des jetzigen weltlichen Unfriedens ein: Die Sünde ist die Ursache der Strafe Gottes, und sie besteht innerlich durch den Unglauben, äußerlich durch den Ungehorsam. Gott will aber die Strafe des ersten und anderen Todes aufheben. Zu dem Zwecke sendet er vier ewige Personen, von denen die ersten drei im Fleisch offenbart, die vierte Person künftig offenbart werden soll. In die ersten drei Personen sind Jesus Christus wie Gottfried Friedeborn und andere Häretiker eingeschlossen. An diese Personen soll man wegen der Erlösung glauben. Wer nicht an sie glaubt, ist zur Hölle verdammt. Von sich redet Friedeborn wahrlich in höchsten Tönen:50 Wir Gottfried Friedeborn, weißer Schwan Philadelphias, Amada, Camamada, Ridis, Smalkilimildis, Smalkalalaltis, Elmanlis, Obererzhoherpriester, Statthalter des h. göttlichen Reiches, König in der ganzen Welt, Friedefürst aller verdammten Kreaturen, Ueberwinder des ersten und anderen Todes, Heiland der gefangenen Israeliten, Richter der Heiden, Zerstörer der Stadt Babylon, Licht und Recht in der Höhe und Hefe der Kreatur, Gott und Vater, in welches Kraft und Allmacht Jesus Christus kommen wird zum jüngsten Gericht, König aller Könige, Herr aller Herren etc., reden im Namen Gottes, unseres himmlischen Vaters, nach seinem h. Willen und Wohlgefallen und zeugen von unserer ewigen Geburt, daß wir sind der persönliche Wille Gottes, und nach unserer angenommenen Menschheit im Reich des neuen Adams Jesu Christi sind wir die erschaffene Allmacht Jesu Christi, welche ist die Gemeine Philadelphia. Ich und der Vater zeugen die Wahrheit im Himmel und auf Erden und regieren alle Dinge, was im Himmel und auf Erden ist. Denn ich bin der Wille Gottes und die Allmacht Jesu Christi. Ich bin die Wahrheit und das Leben. Wer an mich glaubet und hält mein Wort und tut meinen Willen, der hat das ewige Leben. Ich rede die Wahrheit und will auch vollbringen die Wahrheit, da ich bin die Allmacht Jesu Christi.

Am 14. Mai 1640 werde seine Himmelfahrt erfolgen. Dort werde er ein großes Erdbeben erzeugen und seine Anhänger aus den gefangenen Kindern Israels aus der babylonischen Gefangenschaft freimachen. Auch Tote werden auferstehen. Sie werden mit den Lebenden sichtbare Gemeinschaft haben:51 Und der König Gustav Adolf, der tapfere Held aus Schweden, soll mit seinen Gewaltigen das Reich auf Erden wiederum einnehmen und soll alle Aergemisse aus seinem Reich ausrotten innerhalb vierthalb Jahre. Und Herzog Bernhard, der kühne Held, des frommen Kurfürsten Johann Friedrich Sohn und Nachkömmling, soll das Reich in Deutschland und in allen Ländern gegen Mittag und Morgen überkommen und soll alle Aergemisse aus seinem Reich ausrotten innerhalb vierthalb Jahre. Denn anno 1644 hat die Welt Ruhe und Frieden ewiglich. 48

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Theodor Wotschke: Gottfried Friedeborn ein Glaubenszeuge? In: Blätter für Kirchengeschichte Pommerns 9 (1932), S. 21. Ebd., S. 22-26. Heute wohl noch in: Waisenhaus-Bibliothek Halle - eine noch immer zu wenig genutzte Quelle für häretisches Gedankengut des 17. Jahrhunderts. Zit. nach: ebd., S. 24. Zit. ebd., S. 25.

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Wir sehen: Die Propaganda für den schwedischen König setzt sich selbst hier durch! Friedeborn will auch für Stettin mit seiner Himmelfahrt Zeichen setzen. Er will ihre Grundveste durch ein großes Erdbeben bewegen, dabei soll der Turm der St. Jakobs-Kirche zur Erde fallen, die Kirche soll auf ewig wüst bleiben. Kein Mensch und keine Kreatur sollen bei diesem schrecklichen Erdbeben verletzt werden. Friedeborn richtet sich also ausschließlich gegen die Steinkirche. Er ist sich seiner Sache so sicher, daß er anbietet: Gelinge es ihm nicht, zum festgelegten Termin den Turm der St. Jakobskirche niederzuwerfen, so möge man ihn enthaupten. Zuvor möge man aber die Kirche einreißen - so groß ist Friedeborns Haß gegen sie. Der Turm der St. Jakobskirche fiel nicht, Friedeborn wurde auch nicht enthauptet. 1653 ist er Pfarrer in Sahms (Herzogtum Lauenburg). Er mag hier »zu den holsteinischen und niedersächsischen Enthusiasten [ . . . ] Friedrich Breckling, Thomas Tanto und seinem Vetter Konrad Taube, Christian Hohburg (Prätorius), Paul Felgenhauer in Beziehung getreten sein.«52 Als Pfarrer schaffte Friedeborn 1662 eigenmächtig den Exorzismus ab, geriet mit dem Konsistorium in heftigen Streit, wurde 1665 seines Amtes entsetzt, zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, sein Pfarrkleid zerrissen. 1668 erhielt er dank Lübecker Vermittlung seine Freiheit wieder. Er ging jetzt in diese Hansestadt, geriet aber auch hier zur Geistlichkeit in Gegensatz, schlug sich zudem auf die Seite der Separatisten. Er mußte auch Lübeck verlassen und wandte sich nach Holland, schließlich wohl nach Cleve. Schriften Friedeborns sind m. W. nicht erhalten, obgleich Colberg von ihrer großen Menge spricht. Auch von schwerüch einer bestimmten häretischen Richtung (vor allem wegen mangelnder Nachrichten) zuzuschreibenden Personen ist für Pommern die Rede. So lesen wir, und das nur als ein Beispiel, von einem Studenten Bageminus, der 1655 in Leipzig lebte 53 und sich nachmals nach Stettin begab. Er publicirte eine Schrift, darinnen er vorgab: GOtt wäre von der Creatur, sie zu erschaffen, aus Liebe bewogen worden, nicht anders, als ein Bräutigam von seiner Braut, der [er] selbiger alles zu Gefallen thäte. Er thue auch nichts mit ihnen von sich selber, wo er nicht von denen natürlichen Ursachen dazu gebracht werde. Diese mit der Freyheit und Macht GOttes streitende Sätze sind von Scherzero in seinen Systemate widerleget worden.

Ich habe nachdrücklich betont, daß der Sozinianismus weder ausschließlich in Polen gedieh noch ausschließlich von Polen formiert wurde. Er besaß auch in Deutschland bedeutende Vertreter. 54 Gemeinhin wird (neben 52 53

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Ebd., S. 26. Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer= Lexikon. Chemnitz 1758, S. 141. Wollgast, wie Anm. 1, S. 346-422; Siegried Wollgast: Die philosophische Frühaufklärung in Deutschland. Quellen - Hauptlinien - Vertreter. In: Frühaufklärung in Deutschland und Polen. Hg. von Karol Bai, Siegfried Wollgast, Petra Schellenberger. Berlin 1991, S. 21-59.

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Nürnberg) vornehmlich Danzig als Zentrum zitiert. Aber die Grenzen zwischen Pommern und Danzig waren mehr als offen. Leider hat man sich in der Forschung des Wirkens von Sozinianern in Pommern bislang nicht angenommen. Die nachfolgenden Splitter wollen wieder auf eine Forschungslücke aufmerksam machen. Stettin unterhielt gute Handelsbeziehungen zu Guben. Hier aber wurde der Sozinianer Johann Preuß (um 1620-1696) geboren. Er wirkte lange in Polen und 1656 bzw. 1657 kam er nach Guben zurück, wo er auch seine sozinianischen Auffassungen vertrat. Sollte er nicht auch nach Pommern gewirkt haben, als er sich mit Emigranten aus Polen nach 1658 im Gubener Land niederließ? Schrieb er doch Das Glaubens-Bekentnis der allgemeinen christlichen Wahrheit zu steur; zu Rettung aber seiner eigenen Unschuld (1662); er ist unter anderem auch Autor der Theologia oder Gespräche von unterschiedenen Artickeln der christlichen Religion, insonderheit von der wahrhaftigen und heiligen Drey Einigkeit [...] (1682).55 Postum veröffentlichte Philipp Jacob Spener 1706 seine antisozinianischen Schriften. Sollten sie auch in Pommern gelesen worden sein? Auch in Berlin war der Sozinianismus weiter lebendig; 1716 publizierten Berliner Sozinianer ein neues Glaubensbekenntnis. 56 Philipp Hartmann, Pastor an der Marienkirche in Stralsund, verfaßte 1639 einen Tractatus de persona Christi. Er wurde in Rostock publiziert und war dem Rakauer Katechismus direkt entgegengesetzt. Man schreibt nur, was wirken soll. Wenn man in Stralsund gegen den Sozinianismus schrieb, so muß er damals dort etwas bedeutet haben. Gab es unter den vielen Einwanderern nach Stettin bzw. Pommern auch religiöse Emigranten? Sollte das orthodoxe Luthertum letzteres ausgeschlossen haben? Soweit offene Fragen. Hier noch einige Fakten zum Sozinianismus in Pommern. Jeremias Felbinger, 1616 zu Brieg in Schlesien geboren, »wurde erst zu Cöslin in Pommern Rector, hernach zu Stedin Cantor und gieng, nachdem er sich zum Arianismo öffentlich bekannt, An. 1687 nach Holland. [...] Gegen die Lutheraner hatte er einen unauslöschlichen Haß. Er gab verschiedene Schriften heraus, unter denen seine An. 1660 edirte teutsche Übersetzung des Neuen Testaments am meisten viel Aufsehens gemacht, und an vielen Orten sehr seltsam klinget, weil sie dem Grundtexte von Wort zu Wort nachgehet.« 57 Meines Wissens hat noch niemand untersucht: Weshalb ist Felbinger Rektor in Köslin geworden, und was hat ihn zum Sozinia55

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Friedrich Samuel Bock: Historia Antitrinitariorum, maxime Socinianismi et Socinianorum [ . . . ] ex Fontibus magnamque partem Monumentis et Documentis MSSCCtis recensentur. T. 1/2, Regiomonti et Lipsiae MDCCLXXVI (Repr. Leipzig 1978), S. 647-666. Walch, wie Anm. 44, S. 315f. Ein Auszug aus letzterer Schrift in: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen Theologischen Sachen 1725, p. 200ff. Walch, wie Anm. 44, S. 318f. Mehlig, wie Anm. 53, S. 648.

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nismus geführt? 58 Schon während und unmittelbar nach seinem Kösliner Wirken haben seine Schriften in Pommern Aufsehen erregt. Der Generalsuperintendent von Hinterpommern Christianus Groß (1602-1673) brachte zum Beispiel in Kolberg gegen Felbingers Übersetzung des sozinianischen Glaubensbekenntnisses eine Gegenschrift heraus. 59 Hat schon Valentin Schmalz (1572-1622) auf seinen zahlreichen »Missionsreisen« vom sozinianischen Zentrum Rakau nach Deutschland 60 etwa auch Pommern berührt, hat er mit jemand dort korrespondiert, auch in seinen 52 zumeist polemischen Schriften Personen oder Geschehnisse in Pommern erwähnt? Der führende deutsche Sozinianer Christoph Ostoerodt (lat. Paschasius od. Paschalodus, gest. 1611) kam als Rektor der Schule zu Schluchow (Schlochau) in Pommern an der polnischen Grenze mit den Sozinianern in Berührung und trat 1585 auf der Synode zu Chmielnik zu ihnen über. Daraufhin verlor er seine Stelle in Schluchow und ging kurz nach Danzig, anschließend zunächst in seine Heimatstadt Goslar, dann erneut nach Polen; von 1605 bis zu seinem Tode weilte er bei Danzig. 61 Wie und warum wurde er Rektor in Schlochau? Einer der berühmtesten sozinianischen Theoretiker, Martin Ruarus (geb. 1589), lebte von 1631 bis zu seinem Tode (1657) in Danzig bzw. Straszin bei Danzig. 62 Hier verfaßte er einen großen Teil seiner Schriften. Sollten von hier aus nicht auch Beziehungen zu Pommern, vor allem nach Stettin bestanden haben? Überhaupt bestand ja in Danzig bzw. bei Danzig eine starke und einflußreiche sozinianische Gemeinde, die sich vornehmlich aus Deutschen rekrutierte. Abraham Battus (1606-1674), Generalsuperintendent von Pommern, schreibt zum Jahre 1658, daß um die Pfingstzeit Jonas Schlichting (1592-1661) und Stanislaus Lubieniecki (1623-1675) in Greifswald und 58

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Zu J. Felbinger vgl.: Friedrich Samuel Bock, wie Anm. 55, S. 340-355; Christophorus Sandius: Bibliotheca Antitrinitarionim, Praef. et indice nominum instruxit Lech Szczucki, Varsoviae MCMLXVII. S. 153-157; Ludwik Chmaj: Bracia Polscy. Ludzie Idee-Wplywy. Warszawa 1957, S. 47f.; Heyden, wie Anm. 36,1957, S. 110. Jeremias Felbinger: Bekenntniß des christlichen Glaubens herfürgegeben im Namen derer Gemeinen, welche in Polen einen einigen Gott und seinen eingebornen Sohn J.C. und den H. Geist öffentlich bekennen: aus dem Lateinischen verdeutscht, 1653; Socinianisch Glaubensbekenntniß derer Gemeinen in Polen, welches anfänglich Jon. Schlichting von Bukowiec nach dem Symbolo Apostolico, in Wahrheit aber wider den apostolischen Glauben aufgesetzet, neulich Jeremias Felbinger aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, und herfürgegeben: Aus Gottes Wort geprüfet, und frommen christlichen Herzen zu trewer Warnung aufgedecket etc. durch Christianum Groß, D. Churfürstl. Brandenburg. General-Superint. in Hinterpommern, Colberg, gedruckt bey Heinrich Heysen, 1655; nach Bock, wie Anm. 55, S. 346f. Vgl. Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Gesammtentwicklung des christlichen Geistes, nach seinem historischen Verlauf und nach seinem Lehrbegriff. Erste Abtheilung. Kiel 1847, S. 188f. Ebd., S. 190f. Vgl. Bock, wie Anm.55, S.558-580; S.560: » [ . . . ] relicta patria in Pomeraniam emigrauit, et in hoc Ducatu ad rectoratum scholae Sluchouiensis ad terminos Poloniae promotus [...]«; Sandius, wie Anm. 58, S. 90-92. Fock, wie Anm. 60, S. 199. Vgl. Chmaj, wie Anm. 58, S. 65-207.

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Stettin lebten und dort ihre Auffassungen zu verbreiten suchten. 6 3 Balthasar berichtet weiter: 6 4 Es scheinet man habe zu der Zeit hie im Lande noch Furcht für die Socinianer gehabt. Denn so hat der Stralsund. Superintended, D. PHIL. HENR. FRIEDLIEB, in diesem 1662sten Jahre herausgegeben: Photinianische Wolffs-Klauen unter einem Schafs-Peltz verdecket. Da berichtet er in der dedication an die Stralsundischen / daß der Photinianische schleichende Schwärm in seiner Gemeine auch schrifftlich ausgepflogen sey. Er setzet hierauf ein in Niederländischer Sprachen geschriebenes Socinianisches Bekaentniß: De Leere van Godt, ende Christo, ende den heyligen Geest, met eigentlijcke Woorden der heylige Schrifftuyr, eerstelyk in >t hoogduyts t'samen ghestelt door een Belyder der goddelike Waerheyt, ende nu vertaelt in t< Nederduyts. In >t Jaer 1657 und erweiset mit dem Zeugniß eines Notarii de dato 6. Sept. 1661. daß Stanisl. Lubihnitzky dieses Bekändtniß seiner gewesenen und in der Francken-Strasse wohnenden Hauswirthin gegeben / und dabey gesaget: Solches wäre seine Lehre / dabey wolte er leben und sterben / und sie dürfte es wol lesen. Diese Wirthin aber habe es dem Superintendenti zugestellet. Worauf Lubinitzki, wie er hernach wieder gekommen / mit ihr gezürnet / und gesaget: Warumb sie das Büchlein dem Superint. zugestellet? Es wäre ihm von einer vornehmen hohen Persohn sehr hart verwiesen und vorgeworffen worden / daß er ihr solches gegeben. Sie hätte es dem Superint. nicht geben sollen. Hierauf folget die Wiederlegung der gedachten Bekäntniß. Endlich werden beygefüget BARTH. KRAKEVITZII Consultatio de Ministerio Consiliariorum Calvinisticorum fugiendo, ins Teutsche übersetzet / wie auch BARTHOL. BA'l'l'l Bedencken / daß man keinen Jüdischen Artzt brauchen solle / da man Christliche haben kan. Schliesset hierauf: Was ich hiemit meine, wird der leicht vernehmen, so das Zweck, wozu ichs angeftlhret, betrachtet. Man hätte wol erfahrne und rechtgläubige Christen, der in Polit. Milit. Civilischen Rath und Sachen zu gebrauchen, dass man der Photinianer Dienst und Rath leicht könte entbehren. Müssen also die Photinianer hieselbst zu öffentlichen Bedienungen seyn gebrauchet worden / welches gewiß höchst unverantwortlich und wieder die Landes-Gesetze gewesen. A u c h hier gebe ich diese Spur lediglich an, in der Hoffnung, daß sie bald aufgenommen wird. D e r pommersche Generalsuperintendent Conrad Tiburtius R a n g o (1639-1700) hat, vermeldet ebenfalls Balthasar, eifrig gegen alle Abweichungen von der Orthodoxie disputiert: » [ . . . ] die Gedancken v o n Hoburgiznem und Praetorio-Statianem Stacken ihm noch im Kopf / als wenn Pommern durch Baltzers und Hennigii Verführung davon voll wäre.« 6 5 Mag dies auch nicht der Fall gewesen sein, so dürften doch Spuren Hoburgischen D e n k e n s auch in Pommern präsent gewesen sein; das Wirken 63

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Anno eodem [spricht er in Annal. Fac. Theol.] circa Pentecostem retulit mihi Dn. D. Jo. Micraelius, Theologus insignis, / qui 3. Decembr. hujus anni placide ac b. defunctus / Stetino per literas, duos doctores έ grege Photinianorum, Schlichting atque Lubnitzki, έ Polonia, sua haereseos semina publice spargere moliri per libros, quos et Stettini et hic Gryphiswaldiae typis committi quaesiverant. Explorata rei certitudine, primum apud Consiliarios Regiminis inhibitionem quaesivi. Hi autem cum eos ä crimine seductionis excusabant, rem detuli ad Consiliarios provinciales, Anclami congregates, nec non ad Sereniss. Regem Svecia, ut et ad Comitem de Salmis Wrangelium. Duo per Dei gratiam factum, quod quidem dehinc per annum et ultra Stettini permanserint, sustentati sumtibus Regiis; verum, nec in scriptis, nec conversatione, nihil seductionis, quantum innotuit, ausi sunt moliri. Zit. nach Balthasar, wie Anm. 41, S. 716. Balthasar, wie Anm. 41, S. 721. Ebd., S. 807.

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von G. Friedeborn spricht ja dafür! Daß Rango in den siebziger Jahren auch einen Rektor des Stettiner akademischen Gymnasiums als »Weigelianisch« angriff, sei hier lediglich erwähnt. Vom Mecklenburger Superintendenten und Rostocker Professor Justus Christopherus Schomerus (1648-1693) wird postum 1706 eine Sammlung von 13 Universitätsdisputationen gegen den Sozinianismus herausgegeben. 66 Unter den Respondenten findet sich neben Mecklenburgern, Holsteinern, Schweden usw. auch »IIX. Benjamin Roloff / Starg. Pomer.« Auch auf diese Weise lebt der Sozianismus weiter - er ist 1706 noch immer bekämpfenswert! Schomer versieht den Band mit einer ausführlichen Einleitung. 67 Sie trieft vor Haß und fußt sehr stark auf Abraham Calovs antisozinianischen Schriften. Daß der Danziger Prediger Daniel Dilger (1572-1645) in Danzig Johann Arndts (1555-1621) Lehre vertrat, ist der Forschung wohl bekannt. Kaum untersucht ist wohl, weshalb er sein Verteidigungsbuch für Arndt in Stettin drucken ließ und warum das Haupt der pommerschen Kirche in seiner Zeit, Daniel Cramer (1568-1637), eine eher vermittelnde Stellung im Danziger Streit um Arndt einnahm. 68 Andererseits war theoretischer Hauptgegner der Arndtfreunde in Danzig der aus Stralsund kommende Hauptpastor an der Danziger Hauptkirche St. Marien Johannes Corvinus. Es dürfte in Pommern selbst nicht nur bei D. Cramer eine Affinität zu J. Arndts Wahrem Christentum (1605 bzw. 1610) gegeben haben. Wie sahen diese Positionen aus? Auch der Chiliasmus blieb in Stettin bzw. in Pommern überhaupt im 17. Jahrhundert nicht ohne Wirkung. Der neben Friedrich Ludwig Gifftheil wohl bekannteste Enthusiast in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, der Österreicher Johann Permeier, soll eine »Societas regalis Jesu Christi« gegründet haben. Ob sie überhaupt, etwa als Geheimgesellschaft, bestanden hat oder ihm nur als Ziel vorschwebte, ist nicht klar. Der weitgereiste Permeier deutete jedenfalls Johann Arndts Schriften oppositionell und fühlte sich als Werkzeug, eine einige Christenheit herbeizuführen. Für Permeier stand die Endzeit nahe bevor. Das Weltreich, die Kirchen, die vierte Monarchie würden in kurzer Zeit zerbersten. Das fünfte Reich der danielischen Weissagung, das Reich Gottes, werde anbrechen. Er selbst, 66

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Justus Christopherus Schomerus: Collegium Anti-Socinianum, quod Consentiente Rev. FCte Theol. ut multorum desiderio satisfaceret, Publicis Disputationibus XIII [ . . . ] De Damnabili Socinianismi Gangraena, h. e. Sectae Socin. natura, autoribus, antecessoribus, atqve progressu [...]. Rostock 1706. Ebd., p. 1-72. Vgl. Abraham Calov: Scripta Anti-Sociniana [ . . . ] Ulm 1684. zu C.T. Rangos Angriff vgl. Lother, wie Anm. 19, S. 3. Daniel Dilger: Des Ehrwürdigen / Achtbaren und Hochgeiarten Herrn Johannis Arndes, im Löblichen Fürstenthumb Lüneburg Superintendenten, Richtige / vnd in Gottes Wort wolgegründete Lehre / in den vier Büchern vom wahren Christenthumb: In etlichen Puncten auß dringenden / Nothwendigen vrsachen / angezogen / repetiret vnd wiederholet / Alten Stettin 1620. Vgl. Wilhelm Koepp: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Berlin 1912, S. 90, S. 94.

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Siegfried

Wollgast

Permeier, sah sich als den großen Reformator der Endzeit, als den noch einmal wiederkehrenden Elias. Hus sei die Gans gewesen, Luther der Schwan, nun folge mit Permeier der Adler: 69 Eine Gans voran gesungen, Ein Schwan hernach geklungen, Ein Adler Macht geschwungen An Weltes Ende gerungen.

In den dreißiger Jahren in Berlin weilend, unterhielt Permeier, der sich als der »himmlisch durchlauchtige in Gott hochgeborene Fürst und Herr, Herr Johannes der letzte, vom niederschlechtigen durch ein göttige Majestät eigen erbhöchstköniglich erhobenen Bethlehemshause David christheilig vermenschtes und apostolisch nachgesetzte Weltgeneraldirektor, der in Gott wahrgeistlich eingeweihte Erzbischof des melchesedekschen Hohenpriestertums« bezeichnete,70 einen umfangreichen Briefwechsel mit Enthusiasten in verschiedensten deutschen Landen. Diese waren verunsichert. Als König Gustav Adolf von Schweden am 26. Juni 1630 an der pommerschen Küste gelandet war, hatten Protestanten wie Enthusiasten auf ihn erhebliche Hoffnungen gesetzt. Gifftheil hatte in ihm den erhofften Löwen aus Judas Stamm gefeiert. Aber Gustav Adolf war nun tot, wer sollte dieser Löwe sein? Permeier unterhielt brieflichen Umgang unter anderem mit Gottfried Friedeborn und Hans Werner in Stettin. Von Friedeborn kursierten damals in Berlin zwei Schriften: 1. Die bereits oben erwähnten Etliche Bedenken·, 2. Schreiben von gleichmäßigen Plagen und Strafen, insonderheit aber vom göttlichen Ratschluß, was er, der Höchste, mit seiner Person und dem Predigtamt daselbst zu Alten Stettin in dieser Zeit vor hat. Sind sie doch noch in irgendeinem Archiv erhalten? Über Hans Werner wird Permeier am 16. Juni 1638 aus Stettin von Johann Kautz unterrichtet, dieser spreche beim Superintendenten täglich vor, künde von seinen Verzückungen, lasse sich davon nicht abbringen und berichte, wie er zu seinem Ruf gekommen sei. Er beabsichtige zu drucken, was er gesehen und gehört habe. »Proben« dieser künftigen Schrift werden im Brief an Permeier bereits angedeutet. Es läuft auf eine völlige Vernichtung der katholischen Konfession hinaus. Böhmen werde über Wien und selbst Rom siegen. Wien werde fürderhin nicht mehr Kaisersitz sein, Rom wird »durch Feuer in der Luft zerstieben, und hernach wird Gottes Wort an demselbigen Ort von neuem gepredigt werden.« So Hans Werner, über den ich sonst nichts zu sagen weiß, noch in einer Notiz vom 16. Januar 1643 aus dem Feldlager bei Freiberg. Zu dieser Zeit hatten 69

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Zit. bei: Theodor Wotschke: D e r polnischen Brüder Briefwechsel mit den märkischen Enthusiasten, in: Deutsche Wissenschaftliche Zeitschrift für Polen 22 (1931), S. 5. Zit. ebd., S.7; Vgl.: Richard van Dülmen: Prophetie und Politik. Johann Permeier und die »Societas regalis Jesu Christi« (1631-1643). In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 41 (1978) H. 2/3, S. 417^*48.

Spuren der Häresie

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seine Visionen bereits die Aufmerksamkeit des kursächsischen Hofes erweckt. 71 Viele Enthusiasten bzw. enthusiastische und somit oppositionelle Strömungen und ihre Vertreter in Pommern sind in der Literatur höchstens beiläufig erfaßt. So sandte der bereits erwähnte Berliner »Hutstaffirer« Andreas Detrii, ein Anhänger F.L. Gifftheils und J. Permeiers, am 16.1. 1638 bei einer Reise nach Leipzig von dort an Permeier die ihm von dem Greifswalder Studenten Andreas Radelow zugesandte Friedensvisionen des Seehausener Schulmeisters Richardis vom 10. und 13.10. 1637. Richardis behauptet geschaut zu haben, »wie Gott nach Zerstörung der vierten Monarchie sein Reich aufbauen und einen allgemeinen Friede nach dem Vorbild Salomos ausbreiten werde«. Permeier wertete diese Vision sehr hoch. 72 Weshalb hat sie aber Radelow übermittelt? Welche Position nahm er wo weshalb ein? War er wirklich Weigelianer? Auch dies ist m. W. noch nicht untersucht, - wie viele Probleme solcher Art. So ist Permeier offenbar 1626 auch in Stettin gewesen, wie aus einem seiner Briefe vom 7. September 1638 aus Baden hervorgeht. 73 Zu untersuchen wäre auch, ob nicht Spuren des Wirkens oder Verbindungen der brandenburgischen Enthusiasten Joachim Betke in Linum bei Fehrbellin, Johannes Sarnow inTemplin (beides eigentlich lutherische Pastoren), des genannten Berliner Hutstaffirers Andreas Detrii, des Berliner Kammergerichtsadvokaten Lorenz Grammendorf, des Havelberger Bürgermeisters Pantel Trapp auch nach Pommern führen. 74 Von den Enthusiasten bzw. Chiliasten gehen jedenfalls Verbindungen zu den Danziger Sozinianern aus. Daß diese nach Pommern gewirkt haben, wurde bereits angedeutet. Der bereits erwähnte Jonas Schlichting von Bukowice (Bauchwitz), polnischer Ritter, einer der schärfsten und gebildetsten Denker des Sozinianismus, hatte in Altdorf studiert, war dann unermüdlich für den Sozinianismus mit Wort und Schrift tätig, verließ Polen 1658 und hielt sich bis 1660 »in Stettin und Pommern auf«, 75 Stanislaus Lubienicki d. J. lebte vom 7. Oktober 1657 bis April/Mai 1662 - mit Unterbrechungen - in Stettin (auch in Wolgast). 76 Hier disputierte er auch mit J. Micraelius. Vor allem suchte er von hier aus zu erreichen, daß bei dem 71

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75 76

Vgl. ebd., S.9. Vgl.: Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten=Lexicon [ . . . ] , Τ. IV. Leipzig MDCCLI, Sp. 1820. Ebd., S. 20; vgl. Balthasar, wie Anm. 41, S. 681. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 1-22; Theodor Wotschke: Zur Geschichte der Unitarier in der Mark. In: Jb. für Brandenburgische Kirchengeschichte 7/8 (1911), S. 227-242; ders.: Der märkische Freundeskreis Brecklings. Fortsetzung. In: Jb. für Brandenburgische Kirchengeschichte 24 (1929), S. 168-177. Trapp war Weigelianer. Vgl. Wollgast, wie Anm. 1, S. 522, 587, 787. In die Anti-Weigelliteratur ist auch die gedruckte Rede des späteren pommerischen Generalsuperintendenten Moevius Völschowius vom Jahre 1626 aufzunehmen. Vgl. Balthasar, wie Anm. 41, S. 693. Fock, wie Anm. 60, S. 197; Bock, wie Anm. 58, S. 768. Bock, wie Anm. 58, p. 445-447; vgl. Κ. E. Jordt Jorgensen: Stanislaw Lubieniec-

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Friedensschluß zwischen Polen und Schweden auch die Sozinianer in die Amnestie einbezogen würden. Dies geschah de facto nicht, aber die Schweden erließen im Mai 1660 eine Note zugunsten des Sozinianismus:77 Notum testatumque facimus, quod licet a religione Romano-Catholica in Regno Poloniae Magnoque Ducatu Lituaniae dissidentes in moderno instrumenta pacis Sueco-Polonicae articulo de amnestia 2do per expressum non sint nominati, dicta tarnen amnestia tarn generalis quam specialis, etiam illos concernat, eaque ipsi tota frui debeant. Neque enim Legationi Suedicae mens fuit, ullas leges antiquas et antiquitus contra Haereticos sie dictos sancitas [geht auf das aus der Vergessenheit hervorgeholte Edict Wladislaw Jagellos] vel etiam novas durante hoc bello [ . . . ] latas [auf das Decret von 1658] hoc tractatu confirmandi, sed potius ut hac pacificatione cuncta in eum statum, qui ante hoc bello fuit, reducantur, nec cuiquam quod partes Sacrae Reg. Maj. Sueciae secutus fuerit, sub quocunque praetextu, noxae et fraudi, sit, efficiendi [ . . . ] .

Zu untersuchen wäre auch, weshalb die zur Emigration bzw. zum Widerruf gezwungenen Sozinianer wohl in die an Polen grenzenden Teile Schlesiens, Preußens und der Mark flohen, nicht aber nach Pommern. Allerdings hatte der preußische Kurfürst auch Fürbitte für sie eingelegt. Oder sollte, was ich für unwahrscheinlich halte, die Flucht nach Pommern bisher der Forschung verborgen geblieben sein? Jedenfalls bestanden entsprechende Kontakte zwischen den Sozinianern in Polen und den Pommern bzw. Stettinern ziemlich lange, - und es sind keine Unikate. Dafür einige weitere Beispiele: Florian Krause (Crusius, gest. nach 1646), ein bedeutender sozinianischer Theoretiker, schreibt aus Danzig am 17. Juni 1733 an Johann Permeier, er habe dessen Brief vom 25. März am 14. Juni erhalten »samt den beigelegten Sachen, die mir von H. Joh. Kautz [ . . . ] zu kommen. 78 Die Beilagen bestanden offenbar vor allem in Informationen über die »Sancta societas regalis Jesus Christi«. Kautz war Postmeister in Stettin. Er hat, wie wir oben mitteilten, auch am 16. Juni 1638 an Permeier geschrieben und ihm Nachrichten über oppositionelle Regungen in Stettin vermittelt. So dürfte die Vermittlung auch des Danziger Briefes nicht auf die dienstliche Pflicht von Kautz zurückzuführen sein. Denn Krause schreibt in diesem Brief weiter: »Wenn der Herr an mich schreiben will, so ist am sichersten, daß er seine Briefe über Stettin durch H. Kautzen hierher nach Danzig an H. Martin Voß bestellen läßt.« 79 Am 25. September 1636 meldet Crusius Permeier, er habe inzwischen weitere seiner Schriften durch J. Kautz erhalten. Dieser sei »dieser Schriften wegen bei dem schwedischen Kommandanten in Stettin in ziemliche Verlegenheit gekommen, und er hat alle Schriften des Herrn [d.i. Permeiers - S.W.], die er bei sich gehabt, herausgeben müssen. Er bittet

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ki. Zum Weg des Unitarismus von Ost nach West im 17. Jahrhundert, Göttingen 1968 (Kirche im Osten, 6), S. 49-76. Fock, wie Anm. 60, S. 231f. Wotschke, wie Anm. 69, S. 25. Zit. ebd., S. 28.

Spuren der Häresie

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nichts mehr an ihn zu schicken.«80 Wo wird dieser Vorfall in den Archiven dokumentiert? Wo in der Literatur festgehalten? Weitere Briefe Permeiers erhält Krause offenbar über den Breslauer Stadtphysikus Jos. Dobricius (1575-1653). Im Brief vom 6. April 1637 nach Wien an Permeier erwähnt F. Krause den Stettiner Arzt und Mathematiker Lorenz Eichstedt (1596-1660), den wir 1645 in Danzig finden. Dieser habe ein Kalenderprognosticum herausgebracht, darin vor den neuen Propheten, namentlich vor Joh. Permeier gewarnt. 81 Sollte Eichstedt dabei nicht auch auf Resonanzen der »neuen Propheten« in Stettin gezielt haben? Im Brief vom 26. Juni 1637 berichtet Krause Permeier von einem Studenten, der vom Magistrat in Haft genommen wurde. Dieser Student habe in einer von Reformierten wie Lutheranern abwechselnd genutzten Kirche den Gottesdienst gestört und den Prediger scharf wegen seiner Heuchelei und eigenen Gottlosigkeit angegriffen. Er habe sich zudem als Prophet ausgegeben und prophezeit, daß Danzig noch in diesem Jahre durch Feuer vergehn und 1640 der letzte Tag des Herrn kommen werde. Dieser Student sei nach einigen Wochen Gefängnis wieder freigelassen worden, »darauf ist er nach Stettin, da er zu Haus gehöret, gezogen.«82 Krause bedauert, ihn daher nicht haben sprechen zu können. Wotschke sieht in diesem Studenten Gottfried Friedeborn. 83 Lorenz Grammendorf (um 1575-1650) teilt Permeier aus Berlin am 23. August 1637 mit, Gifftheil habe ihm aus Lübeck geschrieben und sei von dort nach Stralsund gegangen. 84 Findet sich in Stralsunder oder anderen vorpommerischen Archiven etwas über diesen Aufenthalt? Im Brief vom 13. Dezember 163785 meldet Grammendorf Permeier Details der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Schweden und Kaiserlichen in Pommern, ebenso Details aus dem kirchlichen Leben Stettins, so den Tod des Professors bzw. Pastors Daniel Cramer von der Marienkirche am 5. Okt. 1637. Die Kommunikationen zwischen Stettin und Berlin müssen trotz des Krieges also gut gewesen sein und zudem teilt man ja im allgemeinen nur brieflich das mit, von dem man glaubt, daß es Interesse findet. In einem Brief Permeiers an Lorenz Grammendorf vom 8.7. 1638 teilt er beiläufig mit, von der bei Merian in Frankfurt/M. erschienenen Schrift Speculum fidei habe er mit Unkosten unter anderem Exemplare nach Stettin geschickt.86 Was sagt diese Schrift aus? Sie ist offenbar von dem Flensburger Stadtschreiber Hartwig Lohmann (gest. um 1640) verfaßt, der zum häretischen 8» Ebd., S. 32. 81 Ebd., S. 33. 82 Ebd., S. 35. 83 Ebd. Vgl. Wotschke, wie Anm. 48. 84 Ebd., S.39. Zu L. Grammendorf vgl.: Eberhard Faden: Berlin im Dreißigjährigen Kriege. Berlin 1927, S. 190f. 85 Ebd., S. 39f. » Ebd., S. 47.

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Siegfried Wollgast

Kreis um Anna Ovena Hoyers (1585-1655) gehörte. Wer hat wohl diese Schrift in Stettin gelesen? Oder wer war ihr Adressat? Immer wieder offene Fragen! Und Permeier schreibt am 20. Oktober 1638 an Lorenz Grammendorf: Dabei kommt er auf Joh. Kautz sowie auf Visionen Hans Werners zu sprechen, die demnächst in Druck gehen sollten.87 Grammendorf teilt Permeier am 8. Februar 1643 mit, Kautz sei noch am Leben. »Ob aber dieser nicht die Welt lieb gewonnen bei dem Glück der Mitternächtigen, weiß ich nicht.« Permeier möge an ihn schreiben und ihn ermuntern, »da mir unlängst einer der Seinen [ein Stettiner? - S.W.] fast solche Andeutung getan.88 Ich weiß wohl: Dies sind Splitter, Andeutungen, Facetten. Mir scheint aber, das Material ist hinreichend, um die Aufmerksamkeit der Forschung darauf zu richten. Archivarbeit wird sich als nötig erweisen. Jedenfalls ist es an der Zeit, diese Forschungslücke zu schließen.

Gedanken über den Wert der Gefühle im Christentum< [1761] und >Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes< [1772, 31791] an den Tag gelegt hatte, das Resultat, zu welchem auch Kosegartens Entwicklung bis jetzt gelangt war.« Ewalds Rosenmonde. Beschrieben von ihm selber, und herausgegeben von Tellow. Berlin, 1791. bei Christian Friedrich Himburg.

Regionalität - Poetizität - Theologie der Natur

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Goethes Werther (1774), sondern vornehmlich auch darin, daß er Werther/ Goethes pantheisierendes Credo vom Erlebnis der »Gegenwart des Allmächtigen« in der Natur als »das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält« (so Werther »am 10. May«), 19 als explizit zitierte - Darstellungs- und Deutungsperspektive eigener bewegter Natur- und Gottes-Erfahrung narrativ aufgreift, umsetzt und regional konkretisiert: [...] Indem ich vor die Stadt hinaus ins Feld trat, indem der rasche Ostwind mir ins Antliz blies, die Stoppel unter meinem Fustritt rauschte, und die weisbereifte Flur mir im Sonnenstrahle [...] entgegen funkelte, ergriff mich ein sehr feierliches Gefühl, ein Hochgefühl meines Glüks und Lebens, ein Anbetungsgefühl für den Schirmer meiner Kraft und Jugend, für ihn den Allliebenden, der, wie Göthe herzrührend sagt, alle Dinge an seinem Busen wärmend trägt und erhält.20

Schon im Oktober 1775, auf der Reise zum Antritt seines Studiums in Greifswald, hatte Kosegarten, damals 17jährig, Goethes Werther kennengelernt und in seinem Tagebuch notiert: So eben hab' ich Werther durchgelesen. Ich bin gerührt, ich bin mit ihm verzeifelt, fast hätt' ich mich mit ihm durchstoßen. [...] Ach, der Zustand ist möglich, ich fühl' es. Ist es verdammlich? Wird ein Allliebender ihn rächen? 2 1

Und wenig später, am 1. Juni 1776, entsteht dann das Gedicht Das Wehen des Allliebenden, das, im Zeichen des titelstiftenden Goethezitats, die Omnipräsenz des »Allliebenden« in der Natur, ja dessen besondere Wesensverwandtschaft mit dem Menschen (der diesen seinen »Ursprung« zu erspüren vermag) in pantheistischer Bewegtheit verkündet; dabei sind es wehender Hauch und Schauer der abendlichen Natur selbst, von denen das lyrische Ich sich eindringlich und bedeutungsvoll (»O Jüngling, Erdenjüngling!«) angeredet fühlt: 22 Er, den dein Herz verkennet Und doch mit Inbrunst sucht, Er ist von dir nicht ferne. Das Auge, das ihn sucht, Wie leicht mag's ihn entdecken! Er wandelt um dich her, Im Abendrot, im Walde, Zu Land und auf dem Meer. 19

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[Johann Wolfgang] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. 1. Text: Erste und zweite Fassung. Bearbeiter des Bandes: Eva Merker. Berlin: Akademie-Verlag 1954 (= Werke Goethes. Hg. von der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin). S. 5 (Text der ersten Fassung von 1774). Ewalds Rosenmonde (wie Anm. 18), S. 110. Zitiert nach Franck (wie Anm. 3), S. 42 (Hervorhebung nicht im Original). Das Wehen des Allliebenden. In: Melancholieen. Stralsund: Chr. Lorenz Struck 1777 (S. 67); hier zitiert nach Franck (wie Anm. 3), S. 49f. - Wiederabdruck, in ursprünglicher und späterer Textgestalt, in: Dichtungen (wie Anm. 3), Bd. 6, S. 126 u. Bd. 9, S. 15; in späterer Fassung auch in: Ludwig Theobul Kosegarten's Poesieen. 2 Bde. Leipzig, bey Heinrich Gräff. 1798. Bd. 1, S. 53-57.

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Eberhard Rohse Von ihm, du Sproß des Himmels, Stammst du, allein von ihm. Dein Geist, des Ursprungs kundig, Schreit, schmachtet, dürst't nach ihm. Ihn, ihn, den Vater kennen Ist mehr denn Erdenfreud', Ihn innig, innig lieben, Ist Himmelsseligkeit 23

Theologisch zukunftsweisend für Kosegartens Uferpredigten und analog bedeutsame Rügen-Dichtungen (auch für die Greifswalder Ordinationsrede) in diesem frühen poetischen Text ist: Gotteserfahrung als unmittelbar andringende Naturerfahrung - das »Wehen des Allliebenden« als göttliche Selbstmanifestation in der Sprache der Natur und des Herzens - entfaltet sich, dichterisch und religiös, schon hier im Sprach- und Vorstellungshorizont der Areopagrede (Apg. 17,24-31), dem biblischen locus classicus natürlicher Theologie. Die Imagination allgegenwärtig-naturhafter Gottesnähe und -unmittelbarkeit (»Er wandelt um dich her, / Im Abendrot, im Walde,/Zu Land und auf dem Meer«) ebenso wie die darin sich erspürende Selbstgewißheit göttlicher Abkunft und Wesensverwandtschaft (»Von ihm, du Sproß des Himmels, / Stammst du, allein von ihm [...]«) aktualisieren Apg. 17,28: »Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie denn auch etliche Poeten bei euch gesagt haben: >Wir sind seines GeschlechtsLonginvor OrtThor, wo ist nun dein Gott?< [ . . . ] / Gestaltlos graußte mich die Schöpfung, ein Tyrann / Der Schöpfer, kalt und starr ein eisern Fatum an«). Schließlich aber, als letzte Peripetie der Gottesoffenbarung (»Und über mir erschien in hehrer stiller Pracht / Die vollgestirnte Nacht«): Ein heiliges Gewühl von Leben, Glanz und Wonne, Es lag das große All stillfeirend, liebewarm In seines Vaters Arm [•··]

»O Vater, rief ich aus, ο du, in dessen Armen Der Engel und der Wurm, und Mensch und Milb' erwarmen, Dir sinkt dein reuig Kind mit gramgemischter Lust An die versöhnte Brust.

Das Fazit dieses Theodizee-Erlebnisses zieht - naturandächtig, mit mitmenschlich-sozialer Konsequenz - die Schlußstrophe: Neukräftig stieg ich nun herab vom Prüfungshügel, In Osten wehten schon des Morgens Saffranflügel, In hochzeitlichem Schmuck lag feyrend die Natur, Das Meer ein Amethyst, und ein Smaragd die Flur. Am trümmervollen Strand, im Schutt verbrannter Hütte, trat ich ein Retter auf in der Verarmten Mitte Ich träuft' in ihren Kelch des Mitleids Honigseim, Und ging getröstet heim.

Gestade- und Uferszenen - erhabene Natur- und Gottesbetrachtung angesichts eindringlich-konkret vorgeführter insularer Topographie - als poetisch transformierte Uferpredigten: auch hier kehrt wieder, was Kosegar-

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tens initiale Landschafts-Begegnung bei seiner A n k u n f t auf Wittow ausmachte: »die ganze erschütternde Majestät der Natur«, deren »Erscheinungen« g e g e n ü b e r die »geistigen Flügel mir nimmer gänzlich sinken.«

3. U f e r p r e d i g t u n d P o e s i e d e s E i n f a c h e n u n d E r h a b e n e n - Poetitizät i m Z e i c h e n der » P o e s i e J e s u Christi« Nicht nur für sein Verständnis von Natur, sein Selbstverständnis als Uferprediger und seine (bisher nur marginal berücksichtigte) Christologie im Horizont »natürlicher« Theologie, sondern auch für das Dichtungsverständnis Kosegartens aufschlußreich erscheint eine seiner ersten Uferpredigten n o c h aus d e m Jahr des Amtsantritts als Altenkirchener Pfarrer und Präpositus: die am 8. Sonntag des H e r b s t m o n d e s 1792 (nach reichem Heringsfang in d i e s e m M o r g e n ) gehaltene Predigt Vom Meere.12 D i e s e Predigt über » G o t t e s Herrlichkeit im Meere« folgt d e m Text P s . 2 0 4 , 2 4 - 2 7 : (»Herr, wie sind deine Werke so g r o ß . . . « ) , e i n e m Schöpfungspsalm, in d e m der »begeisterte D i c h t e r David« das Meer, die fahrenden Schiffe und alles M e e r e s g e tier (bis hin zu den »scherzenden« Walfischen) »besingt«. 7 3 Zunächst stellt ein Prolog d e n Predigtzuhörern die Gestalt Jesu, seine Art zu predigen und seine biblische Predigtsituation als urbildlich-ideales Paradigma authenti72

73

Vom Meere. Eine Uferpredigt. In: Rhapsodieen (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 145-169; zu Anlaß und Datierung der Predigt ebd.S. 146 (Vorbemerkung, unpag.). Wiederabdruck unter dem Titel: Vom Weltmeer. In: Kosegartens Reden (wie Anm. 2 ), Bd. 1, S. 67-68; Teilabdruck nach Mohnike in: Coblenz (Hg.): »Hier ist gut sein« (wie Anm. 2), S. 47-51. Vgl. Kosegartens Fassung des Predigttextes (ebd. S. 149): »Psalm CIV.v. 24-27. >Herr, wie sind deine Werke so groß und so viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. Das Meer, das so groß und weit ist; da wimmelts ohne Zahl, beide große und kleineThiere. Daselbst gehen die Schiffe; das sind Wallfische, die du gemacht hast, daß sie darinnen scherzen. Es wartet alles auf dich, daß du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit«Ich preise dich, Vater [...]. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leichtgedichtete< Uferpredigt, gehalten von Pastor Finster,

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welchem Maße nicht allein der Theologe und Prediger, sondern immer auch der Dichter Kosegarten in den vielfachen Thematisierungen von NaturAndacht als Gottes-Andacht im Zeichen der Meeres- und Gestade-Natur Rügens engagiert ist. Und daß er dabei, last not least, in seinen »ländlichen« Hexameter-Dichtungen Jucunde und Die Inselfahrt die literarische Gattungstradition der Idylle als Poesie anmutig-naturnahen »ländlichen« Lebens wiederholt aufgreift, im Sinne seiner Natur-Theologie und -Ästhetik abwandelt und weiterführt - gipfelnd in den auch hier im Enthusiasmus »hoher Einfalt« zugleich und »Geisteserhabenheit« gehaltenen Ufer- bzw. Meeres-Predigten: Diese literarische Rezeption und Neukonzeption der Idylle entspricht in ihrer imaginativen Verschmelzung von konkret erlebter Regionalität, anmutig-erhabener Poetizität und biblisch inspirierter Theologie der Natur genau dem in der »Poesie Jesu Christi« gesichteten und begrüßten Kriterium ursprungsnah-gotterfüllten, aller »Prose« gegenwärtiger Zivilisation wesenhaft vorausgehenden Dichtertums: »Der ursprüngliche Ton seiner Seele war Idyllenton.« 89

4. Versuch eines Resümees Kosegartens Uferpredigten, die - schon für sich genommen - in ihrem naturund landschaftsbezogenen Enthusiasmus, ihrer besonderen geistlich-seelsorgerlichen Spiritualität sich als bemerkenswerte, ja bedeutsame Zeugnisse der Theologie- und Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts darstellen, kommt ebenso auch, wie zu zeigen war, integrative Bedeutung im gleichzeitigen poetischen Werk- und Denkhorizont ihres Autors zu: real gehaltene Uferpredigten wirken weiter nicht nur als theologisch-homiletisches Struk-

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in gekürzter Form auch in den Briefen eines Schiffbrüchigen (wie Anm. 1, S. 119-121) erscheint. Symptomatisch für Kosegartens poetologisch-theologische Wertschätzung der Idylle als adäquate Form der Darstellung ländlich-anmutiger und zugleich erhabener Natur, wie er sie im Pfarrhaus zu Altenkrichen und an den Gestaden Arkonas in schon fast alltäglicher Wiederholung erlebt, ist auch sein autobiographisches Hexameter-Gedicht Ekloge (1796), das den Tagesablauf seiner Wittower Pfarrer-Existenz (sein Leben »in dieser äusserstenThüle«) schildert. Etwa: » [ . . . ] und schreite/Selig hinaus in den seligen Tag; die Kühle des Morgens/Wehet schauernd mich an, wie Säusel der nahenden Gottheit.« Oder auch: »Welche mächtigre Wonne, sobald wir die Höhe gewonnen/Anzuschauen des heiligen Meeres lebendige Bläue./O du heiliges Meer, ein Emblem des Erhabnen, ein Spiegel/Unausschöpflicher Kraft und unauslöschlicher Milde!/Nimmer zu schauen vermag' ich dein majestätisches Ruhen,/Nimmer zu hören das Grollen der fernherwälzenden Fülle,/Ohne daß mir das Herz erschwillt, daß Schauder micht anwehn,/Und der Unendlichkeit Riesengefühl die Seele mir ausfüllt.« In: Ekloge. In: Die Hören. Eine Monatsschrift. [Hg. von Friedrich Schiller]. Jahrgang 1796. Siebentes Stück. Tübingen in der J. G.Cottaischen Buchhandlung 1796 [Fotomechanischer Nachdruck Darmstadt 1959], S. 60-89, hier S.65 u. 80; Wiederabdruck auch in: Geschichte seines fünfzigsten Lebensjahres (wie Anm. 4), S. 217-248.

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turmodell gedichteter Uferpredigten in wechselnden poetischen Kontexten (Jucunde, Inselfahrt, Briefe eines Schiffbrüchigen); sie erweisen sich als strukturbildend auch für zahlreiche literarische Uferszenen Kosegartenscher Idyllen-Dichtung, Erzählprosa und Lyrik - als szenisch transformierte, situativ immanent gewordene Uferpredigten in Form naturandächtigtranszendentaler Uferdialoge, -diskurse, -betrachtungen, -gesänge oder -gebete. Im Werk des Theologen und Dichters Kosegarten während seiner Wittower Jahre tendiert alles - sit venia verbo - >irgendwie< zur Uferpredigt; und dies - bei erstaunlicher Vielfalt homiletisch-poetischer Erscheinungsformen - in jeweils charakteristischer, epochentypisch signifikanter Konstellation von Regionalität, Poetizität und Theologie der Natur. Hinsichtlich dieser drei hier untersuchten Aspekte bleibt festzuhalten: Regionalität. In Kosegartens »vor Ort« gehaltenen Uferpredigten und mehr noch in seinen dichterisch ausgestalteten See- und Gestade-Szenen (Stubbenkammer, Kap Arkona, Hiddensee u.a.m.) wird Regionalität thematisch und literarhistorisch in dieser Zeit nahezu ohne Parallele90 literarisch konkret; nicht im Sinne späterer »realistischer« Natur- und Landschaftsdarstellung, sondern als landschafts- und landesspezifisch exakt gespiegelte Signatur einer Natur, die, gerade auch im Physiognomisch-Spezifischen ihrer unverwechselbaren Topographie, in »Anmuth« und »Erhabenheit« wie als Chriffrenschrift Gottes, in ihrem Schöpfungscharakter, ihrem Durchwaltet-Sein von Gott als dem »Allgegenwärtigen« ästhetisch und theologisch bedeutsam wird. Poetizität. Predigt, bereits in ihrer Theologie des Natürlichen ästhetisch sensibilisiert und geprägt, schlägt um in Poesie: Uferpredigten werden zu homiletisch-fiktionalen Einlagen in poetischen Texten, zu poetisch-theologischen Uferszenen mit eigenem, situationsimmanentem Andachts- und Predigtcharakter. Und dies nicht ohne begleitende ästhetisch-poetologische Reflexion über »Schönheit« als das »Göttliche in der Natur« (Ueber das wesentliche Schön) und das Poetische in der Bibel (Aphorismen über Poesie, Bibelpoesie und die Poesie Jesu Christi insbesondere). Die Motivik des »Buchs der Natur« als Sprache und Spur Gottes, die Ästhetik des Anmutigen und Erhabenen, der »poetische Enthusiasmus« des in seinen Naturpredigten zum »Dichter« werdenden Jesus als theologischer Horizont: dies alles trägt bei zum Fluidum des Poetischen in den Uferpredigten, bedingt die Poetizität anmutig-erhabener Uferszenen, nicht nur motivisch-thematisch, sondern bis hinein in die literarische Gattungsstruktur (im Formenspektrum von enthusiastischer Brief-Prosa, Gedicht und dem Erhabenen zugewandter Idylle). 90

Vgl. als - insgesamt seltene - Beispiele von Poesie bzw. Lyrik im 18. Jahrhundert mit bereits regional akzentuierter Thematik etwa Albrecht von Hallers Lehrgedicht Die Alpen (1729), Klopstocks Ode Der Zürcher See (1771, entstanden 1750), Goethes Römische Elegien (1795), Hölderlins Ode Heidelberg (1801).

Regionalität - Poetizität - Theologie der Natur

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Theologie der Natur. Kosegartens Grundkonzeption von Schöpfungstheologie als panentheistische und darin entschieden theozentrische Theologie der Natur (nach Apg. 17,28: »in ihm leben und weben und sind wir«) changiert - jenseits orthodoxer Offenbarungstheologie, aufklärerischer Dogmenkritik und pietistischem Bekehrungsdenken 91 - undogmatisch-facettenreich zwischen biblizistischer Schöpfungsfrömmigkeit (auch mit eschatologischen Perspektiven), aufklärerisch-deistischer Rationalität (bis hin zu Ansätzen zum kosmologischen, moralischen und teleologischen Gottesbeweis) und »natürlicher« Theologie (nach dem Credo der Areopagrede Apg. 17), zwischen empfindsam erregtem Humanitätspathos und pantheisierendem Sturm und Drang (nach Goethes Werther), mystischer Spiritualität (ähnlich den Strömen der Madame Guyon) und romantisierender Religiosität (als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« im Sinne Schleiermachers). In diesem ihrem zugleich bibelgläubig wie aufklärerisch-empfindsam und mystisch-romantisierend geprägten Panentheismus widerspricht Kosegartens enthusiastisch gepredigte, dichterisch vergegenwärtigte Theologie der Natur jedem traditionell bibeldogmatischen (wie auch jedwedem rationalistisch motivierten) Gott/Welt-Dualismus, nach der Grundüberzeugung und -erfahrung: Gott in der Natur, Natur in Gott. 92 Diese Theologie der Schöpfung im Sinne eines nicht anthropozentrischen, sondern theozentrischen Naturverständnisses, intendiert nicht den Menschen als Ziel und Krone der Schöpfung, sondern den Lobpreis Gottes durch die Schöpfung (woran auch der Mensch als Schöpfung teilhat): der Mensch ist Schöpfung, also soll er sich als Schöpfung begreifen, als Schöpfung leben, wie alle Schöpfung den Schöpfer preisen - als Sein in Gott, wie Gott in ihm ist. So zielt Theologie der Natur, als Versuch einer Überwindung des geschichtlichzivilisatorisch eher unheilvoll wirkenden anthropozentrischen Dualismus von Subjekt (Mensch) und Objekt (Natur), nicht auf Bemächtigung der Natur durch den Menschen, sondern auf dessen Teilhabe an der Natur als Schöpfung Gottes. Insbesondere erweist sich Poesie als Vollzug dieser Partizipation: Lob Gottes, gemeinsam mit der Gott predigenden und lobenden Natur, bedeutet, wie Kosegartens Uferpredigten und naturandächtigpoetische Uferszenen (zumal in ihrem ästhetisch-theologischen Doppelkonzept von Natur als Bibel und Bibel als Natur) immer wieder zeigen, Teilhaben am Loben der Schöpfung. - Erst in seiner letzten (zwei Jahre nur vor 91

92

Auf Kosegartens spätere Hinwendung zu Pietismus, Mystik und Erweckungsfrömmigkeit ist hier nicht weiter einzugehen. Vgl. hierzu Franck (wie Anm. 3), S. 215f, Ziel (wie Anm. 3), S. 346f. u. Coblenz: Die Uferpredigten Gotthard Ludwig Kosegartens (wie Anm. 3), Bd. 1, S.47f.. Diese (und die nachfolgend herangezogenen) theologischen Deutungskategorien sind angeregt durch Jürgen Moltmann: Gott in der Schöpfung. Eine ökologische Schöpfungslehre. München 1987 (hier bes. S. 27-30, 45, 51-53, 106f.u. 212f.); vgl. ferner Karl Müller u. Wolfhart Pannenberg (Hrsg.): Erwägungen zu einer Theologie der Schöpfung. Gütersloh 1970.

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Eberhard Rohse

seinem Tode in Greifswald verfaßten, nicht mehr gehaltenen), der Einweihung des »auf Arkona erbaueten Ufer-Bethauses« gewidmeten Uferpredigt, schreibt Kosegarten - aus inzwischen veränderter, christologisch-heilsgeschichtlicher Sicht - seinem Konzept allverbunden-theozentrischer Theologie der Natur auch das Bekenntnis zum Zeichen von »Golgotha« als Mitte aller Natur und Geschichte ein. 9 3 U n d nicht zuletzt: D i e für das theologisch-literarische (Euvre Kosegartens strukturtypische Metamorphose von Uferpredigt in andächtig-diskursive Landschafts-Dichtung, in zugleich regional konturenscharfe und verkündigungsträchtige Uferszenen, wirkt - wie Gemälde v o n Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich veranschaulichen - inspirierend bis hinein in die Malerei der Romantik. Dies gilt für Runges Fragment gebliebenes (von Kosegarten bei seinem früheren Schüler für das Ufer-Bethaus v o n Arkona in Auftrag gegebenes) Altargemälde Petrus auf dem Meer (1806), eine biblische Uferszene inmitten einer nächtlichen Rügenschen Boddenlandschaft; 9 4 dies gilt nicht minder für verschiedene Landschaftsgemälde Fried93

Vgl. Denkmal der Widmung des auf Arkona erbaueten Ufer-Bethauses (wie Anm. 6), S. 13-58 (»Die Predigt«). Nach wie vor ist auch hier von der Schöpfung als dem »großen Naturtempel« und der »Naturbibel« Gottes (S. 45f.), von dem »rings um mich aufgeschlagnen Buche Himmels und der Erden« (S. 16) und von dem »Ueberallgegenwärtigen« und »Allliebenden« (S.21) die Rede, präfiguriert der »heilige Berg« des Propheten als »Bethaus aller Völker« (nach dem Predigttext Jes. 56,7) das »Vorgebürge Arkona« und sein Bethaus als Ort gegenwärtiger Gottesanbetung (S.24f.); doch zugleich heißt es, in nunmehr christozentrischer (dem Zeichen Golgathas verpflichteter) Argumentation: »[...] daß dieses von nun an euch ein rechtes Bethaus werde, das ist: ein solches, darinnen durch die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit das höhere geistige Leben in euch gefördert und erkräftigt werde, jenes Leben, das allein den Namen des Lebens verdient, das Leben in Gott, als in dem durch Christus uns versöhnten Vater [...]. Dort ist die Kanzel, wo euch Christus gepredigt wird [...]« (S. 52f.); »Es müsse das Kreuz, das wir auf eurer Kuppel pflanzen, den vorüberfahrenden Seefahrern mahnen an Den, der den Sturm beschwor, und der das Meer bedräute. [...] Mit dem Zeichen, das die Welt überwunden hat, mit dem Zeichen, vor dem die Hölle bebt, und das Reich der Finsternis erzittert, mit dem Zeichen dessen, vor dem sich beugen alle Kniee auf und über und unter der Erden... mit des Kreuzes heilverkündendem Zeichen weih' ich dich, segn' ich dich, heilige ich dich, Haus des Herrn [...]« (S.55f.); und, heilsgeschichtlich-bundestheologisch das »Ein-für-allemal« des Sühnopfers Christi (vgl. Rom. 6,10, Hebr. 9,27f. u. 10,10) betonend: »Diese Opfer [d. h. im Unterschied zum »neuen Bund« die »Opfer und Brandopfer« des »altern Bundes«] haben ihre Bedeutung und Kraft verlohren, seitdem das heilige allvertretende Sühnopfer verblutet ist ein für allemal auf dem Hochaltar des schauerevollen Golgotha« (S. 57f.); Hervorhebungen nicht im Original.

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Dazu Jens Christian Jensen: Philipp Otto Runge. Leben und Werk. Köln 1978, bes. S. 255-161 (bes. mit Abb. Nr. 5 u. 52). Vgl. auch Runges Brief an Goethe vom 4.12. 1806 zu dem »Bilde, welches in der Kapelle aufgestellt werden soll, welche Kosegarten auf Arkona angefangen« (in: Philipp Otto Runge: Briefe und Schriften. Hg. u. kommentiert von Peter Betthausen. München 1981, S. 195f.): »Es ist die Erscheinung Christi, wie er zu Petro sagt: >Du Kleingläubiger, warum zweifelst du?< Es ist im Mondenschein, und da das Ganze in einer ansehnlichen Größe fürs Gebäude ausgeführt werden sollte, auch das einzige [Gemälde] darin ist, so würden manche

Regionalität - Poetizität - Theologie der Natur

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richs, der auf seinen Rügen-Wanderungen im Geiste Kosegartens (begleitet von seinem Kunstlehrer und Freund Johann Gottfried Quistorp, d e m Jugend- und Studienfreund Kosegartens) diese Insel- und Meeres-Landschaft oft gezeichnet und m a n c h e n seiner Landschaftsgemälde imaginativ-symbolhaft zugrunde gelegt hat - so etwa in U f e r - und M e e r e s - S z e n e n wie Kreidefelsen auf Rügen ( u m 1818), Mondaufgang am Meer (1822) oder auch und insbesondere in Der Mönch am Meer (1808/10). 9 5 D i e Bildkonzeptionen beider Maler - R u n g e s Vergegenwärtigung biblischen Heilsgeschehens als natursymbolisch-regionale U f e r - S z e n e , als biblisch-maritime Figurenszene in der Landschaft R ü g e n s (Biblisches in der Natur), und Friedrichs K o n frontationen transzendentaler Landschafts-Betrachter mit erhabener, unendlicher, verborgen-gottdurchwalteter Natur (Natur als Bibel) - antworten, im M o d u s romantisch-religiöser Bild-Ästhetik und Spiritualität, Kosegartenscher Verkündung von Natur und B i b e l als Chiffren des »Allgegenwärtigen«: als nicht mehr gedichtete, sondern gemalte Uferpredigten.

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imposante Erscheinungen, die der Wogen und des Mondenscheines, des Stürzens des Schiffs, welche mit den nächsten Umgebungen der Natur im Einklang ständen, zusammenzufassen sein«; zum »Mondscheinstück« für Kosegartens »Kapelle« ähnlich auch sein Brief vom Januar 1807 an Friedrich Christoph Perthes (ebd. S. 198). Vgl. Wieland Schmied: Caspar David Friedrich. Köln 1992, S. 81-83,104f. u. 62-64 (dort jeweils mit Abb.); Jens Christian Jensen: Caspar David Friedrich. Leben und Werk. Köln 1983, S. 183-189 (mit Farbtafel 9 u. Abb. 53), Farbtafel 19 u. S. 106-133 (u. Farbtafel 4). Zum Verhältnis Friedrichs zu Kosegarten vgl. bes. Gerd-Helge Vogel: Die Bedeutung Ludwig Gotthard Kosegartens für die Herausbildung des frühromantischen Weltbildes bei Caspar David Friedrich (im vorliegenden Band S. 549—562); ders.: Rügen in der Malerei und Zeichenkunst der deutschen Frühromantik (vom Vf. freundlicherweise zur Verfügung gestelltes Typoskript). - Zum Gemälde Der Mönch am Meer vgl. aus Heinrich von Kleists Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft (1810, in Umarbeitung eines Brentano-Textes): »Das Bild liegt [...] wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«; ein in diesem »Geiste« ähnlich zu malendes, in diesem »Geiste« künstlerisch neuartiges Landschaftsbild mtißte »eine wahrhaft Ossiansche oder Kosegartensche Wirkung« tun (in: Heinrich von Kleist. dtv-Gesamtausgabe. 8 Bde. Hg. von Helmut Sembdner. München 1964. Bd. 5, S. 61); schon in dem von Kleist benutzten Brentano-Text heißt es von der im Bild dargestellten Ufer- und Seelandschaft (ebd. S. 207): »wo Kosegarten wohnt.«

Klaus Manger

Melancholie und Harmonie in Ludwig Gotthard Kosegartens Lyrik

This sacred shade and solitude - what is it? Edward Young: Night Thoughts (1741-1745)

Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht ein Dichter, Theologe und Historiker, der sonst kaum im Mittelpunkt zu stehen pflegt. Und eine zentrale Frage, die wir an das Werk von Ludwig Gotthard, der Gräzisierungs- oder Latinisierungsmode entsprechend (vgl. Amadeus) auch: Ludwig Theobul Kosegarten (1758-1818) stellen, wird sein, ob auf diesen Autor der vielfach beschworene Schatten des Epigonalen fällt: etwa als Nachahmer Klopstockscher Gedichte, als Übersetzer von Richardsons Clarissa (1790-93) und als Nachahmer empfindsamer Briefromane oder als Verfasser der Jucunde (1803), in Nachahmung von Vossens Luise oder Goethes Hermann und Dorothea. Oder ob sich inmitten dieses Anscheins von Epigonalität auch ein originaler Kosegarten kennenlernen läßt, möglicherweise auch ein Kosegarten, dessen Originalität an die Region geknüpft ist, in der er lebte. Unklar bleibt, ob Brentano im Philister-Aufsatz mehr als ein Wortspiel im Sinn hatte, da er von einem »kosenden Gärtner« spricht, 1 weniger allerdings, daß es mehr als ein regionaler Akzent war, den Kleist mit Blick auf Caspar David Friedrichs Bild Mönch am Meer setzte, da er darin »eine wahrhaft Ossiansche oder Kosegartensche Wirkung« erkannte. 2 Um für unsere Fragestellung etwas zu gewinnen, will ich nicht so sehr literarhistorischen Bahnen folgen und das einigermaßen befestigte Kosegarten-Bild hier nachzeichnen, zu dem freilich noch nicht allzuviele beigetragen haben, 3 sondern ich will am Paradigma der Melancholie nach Kosegartens dichterischer Entwicklung fragen. Ausgehend von Kosegartens literarischem Frühwerk, dem Gedichtband Melancholien (1777), sollen titelgleiche Gedichte aus späteren Werkphasen gemustert werden, um festzustellen, 1

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Clemens Brentano: Der Philister vor, in und nach der Geschichte. In: Werke. Bd. 2. Hg. v. Friedhelm Kemp. München 21973, S. 1004f. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. Bd. 2. München 31964, S. 328. Vgl. Brentano, wie Anm. 1, S. 1034f. Vgl. Hermann Franck: Gotthard Ludwig Kosegarten. Ein Lebensbild. Halle 1887. Bruno Markwardt: Greifswalder Dozenten als Dichter. Zur Würdigung Ε. M. Arndts und G. L. Kosegartens. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17.10.1956. Bd. 1, S. 227-260. Gedichtinterpretationen zu Kosegarten scheinen keine vorzuliegen.

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Klaus Manger

welche formalästhetischen und thematischen Änderungen Kosegartens Lyrik aufweist. Der frühe Gedichtband, der Melancholien wie Blumen bündelt, kann seine Nachbarschaft zu Klopstocks Oden (1771) nicht verleugnen. Wie sie ist er anonym erschienen. Die gleichfalls anonym von Kosegarten im Jahr davor, 1776, veröffentlichten Gesänge, sein literarischer Erstling, sind Klopstocks Oden sogar im Titel verwandt. Deren lapidare Widmung »An Bernstorff«, den Mäzen und Leiter der dänischen Außenpolitik Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff (1712-1772), nimmt Kosegarten in seiner Zueignung der Melancholien »An Quistorp« auf, also an seinen Freund, den akademischen Zeichenlehrer Johann Gottfried Quistorp und späteren Lehrer von Caspar David Friedrich. 4 Im Unterschied zu Klopstocks Oden sind Kosegartens Melancholien mit einer Titel- und Schlußvignette sowie einer Zwischenvignette geziert, die dem Stil der Leipziger Illustration von Adam Friedrich Oeser (1717-1799) nahestehen, dem Besten, was es damals in Deutschland in Anlehnung an die französische Buchillustration gab. Es sind nämlich ohne Kartuschen, Rankenwerk oder andere Begrenzungen frei auf die Seite gestellte, idyllische Szenen, gewissermaßen in >freier Naturzur Melancholie< beziehungsweise >zur Schwarzgalligkeit neigend'

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Memoriae aeviternae sacrum!< (Übersetzt: »Ein Heiligtum ewig dauernden Gedenkens«),

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Inv.-Band, wie Anm. 31, S.69. Persönliche Beziehungen bestanden ζ. B. zwischen dem Dichter und den Gutsbesitzerfamilien Bamberg und Fock, die während der Altenkirchner Jahre von 1792 bis 1808 nicht nur zu Kosegartens Gemeinde gehörten, sondern auch zu seinem engeren Bekanntenkreis. Zum Pastor Blumenthal in Lancken hatte Kosegarten schon seit seinen ersten Besuchen Rügens näheren Kontakt, ebenso wie zu einigen Angehörigen des altadeligen Geschlechts derer von Platen. Es sei eigens darauf hingewiesen, daß besagter Kupferstich mit »Kosegarten inv.« bezeichnet ist. Johann Jacob Grümbke: Streifzüge durch das Rügenland, zuerst erschienen 1805 in Altona unter dem Pseudonym »Indigena«. Die entsprechende Stelle zit. aus einer Neuauflage. Hg. von Albert Burkhardt. Leipzig 1988, S.52. Von dort auch die Übersetzung der Tafel auf S. 228 übernommen.

L. (λ Kosegarten und die

Abb. 6

Grabmalkunst

Die Gräber von Kosegartens Kindern im Pfarrgarten zu Altenkirchen (Rügen). Illustration von C. Schule, geschaffen nach Idee des Dichters für sein Werk »An Juliens G r a b e « im 2. Band der »Poesieen«, 1798.

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Michael Lissok

Kosegarten schuf hier für seine Kinder und im übertragenen Sinne für sich selbst eine Grabstätte mit intimem, individuellem Gepräge als stillen Ort dauernden und - wenn man dies so bezeichnen kann - aktiven Gedenkens, des leisen Zwiegesprächs, der Meditation. 55 Mit der Inschrifttafel sowie dem Kupferstich in den Poesieen und nicht zuletzt dadurch, daß Besucher sich diese Stätte anschauen konnten, wirkte das Grab gleichsam auch als öffentliches Denkmal. Es ähnelt damit jenen Epitaphen, Grabmonumenten und Mausoleen, die in den damaligen Landschaftsgärten nach englischem Muster errichtet wurden. 56 Ähnlich wie dort läßt sich mit der Einbettung der Grabstätten in die Natur eine starke pantheistische Komponente erkennen. Durch die um die Gräber herum angepflanzten Rosen ergibt sich eine weitere Beziehung zur Dichtung Kosegartens und zur Sepulkralsymbolik seiner Zeit. Auch Kosegarten hatte sich den Altenkirchener Kirchhof als letzte Ruhestätte erkoren und nach seinen Biographen Ort und Ausführung des Begräbnisses, das im Herbst 1818 erfolgte, genau bestimmt. 57 Die Grabstätte liegt in einem eingezäunten Geviert, unmittelbar am südwestlichen Langhaus der Kirche. Das dort aufgestellte steinerne Monument ist eine hohe, schlanke Stele, die in Material und Gestalt lokalen Traditionen folgt (Abb. 7). Bis dahin selten auf Rügen anzutreffen war hingegen der Aufsatz mit Voluten und Palmette in gräzisierender Formung. Auf dem Altenkirchener Gottesacker gibt es zwar noch weitere Stelen mit Aufsätzen, die dem von Kosegartens Stein nahekommen, aber keiner von diesen erreicht dessen stilistische Reinheit. 58 Das klassische Gepräge der Kosegarten-Stele wird relativiert durch die neogotische Schrifttype der Inschriften. Hier haben wir ein frühes Zeugnis für den Einzug von Formengut der Neogotik in die Sepulkralkultur Nordostdeutschlands vor uns, der während der letzten Lebensjahre Kosegartens einsetzte (Abb. 8). 59 Goethe hatte auf Bitten des Sohnes, des bekannten Orientalisten Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, für den Gelehrten einen Denkspruch verfaßt. Jedoch ziert nicht dieser die 55

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Die Gedanken und Empfindungen, welche Kosegarten mit dieser Stätte stets eng verbanden, werden deutlich in solchen Äußerungen wie dieser aus der Autobiographie von 1816: »Eben aber die Gräber meiner Kinder dienten, mich nur noch inniger an den Ort zu fesseln.«; wie Anm. 34, S. 58. Über die Herausbildung der Begräbnis- und Denkmalkultur im Freiraum von Landschaftsgärten, s. Bernd Evers: Mausoleen des 17.-19. Jahrhunderts. Typologische Studien zu Grab- und Memorialbau, Diss. phil. Aachen 1983, S. 79-84. Franck, wie Anm. 4, S. 351f. Zumindest befindet sich in der St. Petri-Kirche zu Wolgast noch eine weitere Grabstele, die in qualitätvoller Ausführung genau den gleichen Aufsatz wie der Kosegartensche Stein besitzt. Typisch für die frühe Neogotik in Vorpommern sind Stelen, die sich im oberen Drittel zu einem Dreieck verjüngen, mit Blütenkelch und kleinem Metallkreuz bekrönt sind und deren Vorderseiten spitzbogige, eingetiefte, an den Rändern profilierte Felder für die Inschriften haben. Um 1815/20 beginnt auch die Ära der gußeisernen Grabkreuze.

L. G. Kosegurten und die

Abb. 7

Grabmalkunst

Vorderseite vom Grabmal Kosegartens auf dem Friedhof zu Altenkirchen (Rügen), 1818.

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Michael Lissok

Abb. 8 »Entwurzelte« Grabstelen aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf dem Kirchhof zu Altefähr (Rügen). Links eine frühe Stele in der für Vorpommern typischen neogotischen Formung.

Rückseite der Stele, sondern eine Strophe aus Paul Gerhardts Lied Wir sind nur Gast auf Erden. A u f die Umstände, die zu dieser Entscheidung der Hinterbliebenen Kosegartens führten, soll hier nicht eingegangen, stattdessen auf eine R e i h e von Arbeiten verwiesen werden, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen. 6 0 Kosegartens Schwiegersohn und Nachfolger im A m t des Altenkirchener Pfarrers, H . Baier, wurde 1822 neben ihm beigesetzt. A u f dessen Grabstätte wurde eine Kalksteinstele errichtet, die formal derjenigen auf dem Kosegarten-Grab stark ähnelt. 6 1 Angesichts der beschriebenen Voraussetzungen und Begleitumständen seines Schaffens kann es nicht überraschen, daß auch Kosegarten eine 60

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Der Beitrag von H. Balzer in der Greifswalder Zeitung vom 14.11. 1926 (Nr. 268, 2. Beiblatt) mit der Überschrift »Die verschmähte Goethe-Inschrift« sowie eine ergänzende Notiz nebst Erklärung der Urenkelin des Dichters in dem gleichen Blatt vom 8.1. 1927 (Nr. 6, 2. Beiblatt). Auch der Artikel von W. Urban »Kosegartens Grabstein« in der Ostsee-Zeitung vom 4.7. 1992 geht kurz darauf ein. Goethes Spruch fand noch Verwendung, indem er zumindest auf der Gedenktafel am Geburtshaus Kosegartens in Grevesmühlen (Mecklenburg) angebracht wurde. Mir ist noch nicht klar, warum dann Franck in seinem Abriß des Lebens von Baier, den er als Anhang in die Kosegarten-Biographie aufnahm, über einen »Leichenstein von schwarzem Marmor« schrieb, der am Grabe Baiers aufgestellt wurde, welcher sogar aus Bordeaux nach Rügen transportiert worden ist (Franck, wie Anm.4, S.401). Vielleicht kam die Kalksteinstele erst später auf die Baiersche Grabstätte.

L. G. Kosegarten und die Grabmalkunst

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Elegie unter dem Titel Dorfkirchhof verfaßte. 62 Diese hat Thomas Grays berühmtes Opus Elegy written in a country churchyard (veröffentlicht 1750) zum Vorbild und kann in weiten Passagen als eine der vielen freien Nachdichtungen dieses Werkes bezeichnet werden. Dementsprechend setzte Kosegarten wie Gray mit dem Gedicht vor allem der einfachen Landbevölkerung ein Denkmal. Es würdigt das schwere, monotone Dasein der Bauern auf der untersten Stufe der Gesellschaftshierarchie, fernab von der hohen Kultur und dem öffentlichen Leben. Wenn diese Elegie auch vorrangig auf der Rezeption anderer zeitgenössischer Poesie basiert, so möchte man doch gern glauben, daß Kosegarten in dem Gedicht ebenso persönliche Eindrücke der ländlichen Umgebung seines Zuhauses und damit auch der dörflichen Begräbnisstätten Rügens verarbeitete. Ein Gang über die Friedhöfe von Altenkirchen, Bobbin, Vilmnitz, Middelhagen oder Patzig mit ihrer jeweiligen stimmungsvollen Gesamterscheinung, ihrem noch in Gänze historischen Gepräge, kann durchaus solche Vorstellungen wachrufen, bekommen doch gerade hier manche Verse von Kosegartens Dorfkirchhof - wie auch andere seiner Todes- und Grabespoesien - so etwas wie einen konkreten Wirklichkeitsbezug. Dies scheinen mit die letzten Orte zu sein, welche uns nach zwei Jahrhunderten wieder näher zu jenen Gedanken und Regungen führen können, die Geist und Gemüt des Dichters einst so stark bewegten. Jedoch wird es wohl nur noch wenige Jahrzehnte dauern, bis auch die letzten Friedhöfe auf Rügen ihr geschichtsbezogenes Bild, ihren Wert als Ortschroniken verloren haben ganz im Sinne einer Notiz aus Ottiliens Tagebuch in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften: Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.

Der eigentümliche Reiz des harmonisch gewachsenen Neben- und Miteinanders von Natur und Monument wird dann verschwunden sein. 63 An all dies werden schließlich noch einzelne (über-)restaurierte, museal aufberei62

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Abgedruckt in den »Poesieen«, Dritter Band, Leipzig 1802, S.48ff., und in den »Dichtungen von L. G. Kosegarten«, wie Anm. 19, 9. Band, Greifswald 1824, S. 216ff. Ein quantitativer Vergleich zwischen dem aktuellen Bestand an Grabmälern aus dem 18. und 19. Jh. auf Rügens Kirchhöfen mit den im Inventar-Band (s. Anm. 31) angegebenen Zahlen vor drei Jahrzehnten zeigt erschreckend deutlich ihren immensen Schwund. Setzt sich diese Entwicklung fort, so werden in spätestens 20 Jahren nur noch wenige übrig sein. Die Verluste sind umso absoluter und endgültiger, weil bisher nicht einmal eine umfassende und exakte Dokumentation dieser stark gefährdeten Gruppe von Denkmälern vorgenommen wurde. Beklagenswert ist zudem, daß unter den Monumenten, die erst in jüngerer Vergangenheit verloren gingen bzw. von denen nur Fragmente erhalten blieben, etliche höchst bemerkenswerte, singulare Stücke sind. Es wäre höchste Zeit, die verbliebenen Stelen, Grabplatten, geschmiedeten wie gußeisernen Kreuze vor Verfall und Zerstörung zu bewahren und den historischen Fundus an Grabmälern zu dokumentieren.

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Michael Lissok

tete Denkmäler, sachlich-nüchterne Inventartexte, spärliche Archivalien und Fotos erinnern - und Verse Kosegartens wie die folgenden:64 Hier, wo die Ulme mit dem Tax sich paart, Wo grünbewachsen Sod' an Sode ragt, Hier ruhn des Dorfes Ahnen wohl verwahrt, Und keinen ward sein enges Haus versagt.

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Dichtungen von L. G. Kosegarten, wie Anm. 19, S. 217.

Regina Hartmann

Auf soziokultureller Identitätssuche - Romanfiguren Ludwig Gotthard (Theobul) Kosegartens im Kontext der populären Romanliteratur um 1800

Die Identitätssuche bürgerlicher Individuen wird in der Literatur des 18. Jahrhunderts als zunehmend virulentes Identifikationsproblem reflektiert. Das aufklärerische Denken, das dem einzelnen die Entfaltung seiner Persönlichkeit als selbstverantwortete Aufgabe übertrug und ein von freier Selbstbestimmung geprägtes Lebensideal formulierte, kollidierte mit den sozialen Gegebenheiten der Realität. Die Erfahrungen, die besonders junge bürgerliche Intellektuelle bei ihrem Vorhaben erlitten, einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden, machten ihnen die engen Grenzen ihrer Handlungsspielräume bewußt. Obwohl der Widerspruch zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und individuellen Bedürfnissen in aufklärerischer Sicht noch als generell lösbar angenommen wurde, zeigte sich in der Realität, daß die soziale Mobilität von bürgerlichen Intellektuellen stark eingeengt war; so blieben z.B. die Führungspositionen in der Verwaltung Adligen vorbehalten, so daß eine akademische Ausbildung keinesfalls auch ein späteres Amt garantierte. Diese ohne Aussicht auf eine entsprechende soziale Integration lebenden Bildungsbürger gelten als signifikant für die Literaturentwicklung im allgemeinen,1 und man kann hinzufügen: für die populäre Romanliteratur am Ende des 18. Jahrhunderts im besonderen. Teilweise aus dem Kleinbürgertum, oft - wie Kosegarten - aus protestantischen Pfarrhäusern stammend, war für sie eine zeitweilige Beschäftigung als Hofmeister charakteristisch, ehe es gelang, eine Lebensstellung zu finden. Entscheidend für ihre »Affinität [...] zur Literatur«2 war eine literarische Bildung, die ihnen in ihrem Selbstverständnis zwar einen sozialen Prestigegewinn einbrachte, der aber eben nicht mit einer »realen sozialen Statuserhöhung«3 verbunden war. Kosegarten stattet eine Reihe seiner Romanfiguren mit diesen sozialen Erfahrungen aus, die er selbst als Hofmeister auf verschiedenen pommerschen Gütern und als Direktor der Wolgaster Stadtschule machen mußte, ehe er 1808 die ersehnte Pfarrstelle in Altenkirchen auf Rügen erhalten konnte. Das bedeutet, die Identitätssuche dieser Figuren weist allgemein 1

Vgl. Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, S. 228. 2 Ebd.,S.229. s Ebd., S. 228.

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Regina Hartmann

zeittypische Momente auf, aber darüber hinaus auch solche, die der Persönlichkeit des Autors wie auch seinem Selbstverständnis als evangelischer Pfarrer und einer tiefen Verbundenheit zu seiner pommerschen Heimat geschuldet sind. Zunächst zur soziologischen Komponente der Fragestellung: Eberhard Lämmert stellt zu Recht eine unbedachte Verwendung des Begriffs »Bürgerlichkeit« in literaturhistorischen Untersuchungen in Frage und plädiert dafür, ihn im Sinne der Historizität zu hinterfragen. Er geht davon aus, »daß die Literatur eines der primären Auskunftsmedien dafür ist, was überhaupt als »bürgerlich« zu gelten hat. Deshalb sollte der Untersuchende auf die Frage nach Ausdrucksformen einer bürgerlichen Lebenshaltung in literarischen Texten zunächst mit einer genauen Beschreibung inhaltlicher oder auch stilistischer Textmerkmale antworten«, 4 um diese Befunde dann mit solchen, von anderen Wissenschaftsdisziplinen ermittelten zu einem Bild historischer Bürgerlichkeit zusammenzufügen. Als aussagekräftige künstlerische Mittel bieten sich dafür »spezifisch >bürgerliche< Konfliktlagen« der Romanfiguren an, wobei »nicht nur auf die Abspiegelung zeitgenössischer Verhältnisse, sondern gerade auch auf die Gegenentwürfe oder aber die Gründe des Scheiterns zu achten« ist, »die [ . . . ] den Lebenslauf dieser Figuren bestimmen«. 5 Da die »größere oder geringere Dynamik« der sozialen Statusveränderung, die die Figuren »anzielen oder der ihnen durch gesellschaftliche Einwirkungen zuteil wird«, besonders geeignet ist, um Sozialisierungsprozesse ins Blickfeld zu rücken, mit denen spezifische Weitorientierungen und Konventionen verbunden sind, 6 sollen einige Romanfiguren Kosegartens zunächst unter diesem Aspekt betrachtet werden. Allerdings ist es sinnvoll, in einer Darstellung - zumal auf der Ebene der Figurencharakteristik - auch das spezifisch regional-kulturelle Moment zu berücksichtigen. Im folgenden werden also einige Romanfiguren Kosegartens in ihrem soziokulturellen Handlungsraum betrachtet, wobei neben der Gestaltung von sozial bedingten Konfliktlagen auch die Religiosität sowie das Natur- und Heimaterleben der Figuren Aufmerksamkeit verdient. Die Wahl fiel auf die drei Romane Ewalds Rosenmonde,7 Hainings Briefe an Emma8 - beide 1791 erschienen - und Ida von Pleßen (1800), 9 wobei 4

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Eberhard Lämmert: Bürgerlichkeit als literarhistorische Kategorie. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 204. Ebd., S. 214. Vgl. M. Rainer Lepsius: Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit; ebd., S. 96. [Ludwig Theobul Kosegarten]: Ewalds Rosenmonde. Beschrieben von ihm selber und herausgegeben vonTellow. Berlin 1791, bei Christian Friedrich Himburg. Ludwig Theobul Kosegarten: Hainings Briefe an Emma. Herausgegeben von Ludwig Th. Kosegarten. 1. Bd., Leipzig 1791, in der Grafischen Buchhandlung. Ludwig Theobul Kosegarten: Ida von Pleßen. Eine romantische Dichtung, 1. Teil. Dresden 1800, bey Heinrich Berlach.

Romanfiguren Kosegartens

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ausschlaggebend war, daß sie ihre Figuren größtenteils auf Rügen agieren lassen und die ersten beiden zudem stark autobiographische Züge aufweisen. Im Zentrum dieser »Rügen«-Romane stehen jeweils junge bürgerliche Intellektuelle, die sich bei ihrer Identitätssuche in einer Konfliktsituation bewähren müssen. Interessanterweise variiert der Autor die Anlage und Lösung des Konflikts, so daß sich hier auch eine Veränderung seiner Absicht nachzeichnen läßt. Zwei der Protagonisten - Ewald und Haining - sind als Hofmeister bei adligen Familien Rügens tätig, der dritte ist Legationssekretär eines Grafen. Alle drei geraten mit ihrer Umgebung durch die Liebesbeziehung zu einem Mädchen in Konflikt, wobei ihnen gemeinsam ist, daß die Verwirklichung ihres Liebesanspruches als unverzichtbarer Teil ihrer Selbstverwirklichung verstanden wird. In dem frühesten Roman, Ewalds Rosenmonde, der bereits 1781 während Kosegartens Hauslehrerzeit bei der Familie von Flotow zu Reez 10 entstanden ist und eigenes Erleben aus der Zeit beim Landvogt Wolffradt in Bergen (1777) erzählt, wird mit der Liebe Ewalds zu der adligen Tochter des Hauses ein tragischer Konflikt gestaltet: Die Liebenden müssen erleben, daß das adlige Standesdenken der Eltern des Mädchens ihre Beziehung gewaltsam löst. Obwohl die stark von einer Werther-Rezeption 11 geprägte Ewald-Figur am Ende keinen Selbstmord begeht, sondern in der Arbeit eine gewisse Kompensationsmöglichkeit findet, erscheint ihr Lebensglück zerstört. In dieser für die zeitgenössische Roman- und Dramenliteratur charakteristischen Konstellation verteidigt Ewald die Überzeugung, daß »der Adel der Herzen« dem »der Pergamente« 12 gleichwertig ist, was ihn zunächst zu der Illusion verleitet, durch einen schnellen sozialen Aufstieg die Heiratseinwilligung der Eltern erhalten zu können. Während Ewalds berufliche Pläne, zunächst Lehrer an einem Gymnasium, später Schuldirektor zu werden und endlich eine Professur an der Landesakademie zu erhalten, ausschließlich von seiner Liebesbeziehung her motiviert sind, artikuliert Haining von vornherein ein Subjektbewußtsein, das ihm den Weg eines konkreten Lebensplanes weist. Anders als Ewald hat er kein Motiv, gegen Standesgrenzen zu rebellieren - er liebt eine Pfarrerstochter - , sondern seine soziale Identitätssuche bewegt sich im 10

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Reez war ein Gut in der Nähe von Rostock. Vgl. die Angaben in: Ludwig Gotthard Kosegarten: Dichtungen. 12. Bd.: Kosegartens Leben. 5. Ausg., Greifswald 1827, in der Universitätsbuchhandlung, S. 74. Die biographische Darstellung ist von Kosegartens Sohn verfaßt. Vgl. die Interpretation des Romans bei Regina Hartmann: Ludwig Theobul Kosegarten - ein massenwirksamer Romanautor Pommerns um 1800. In: Pommern. Geschichte, Kultur, Wissenschaft. Greifswald 1991. S. 348ff. [L. Th. Kosegarten]: Ewalds Rosenmonde, wie Anm. 7, S. 88. Ein solcher Konflikt ist ζ. B. auch Gegenstand in August Lafontaines viel gelesenem Roman »Klara du Plessis und Klairant« (1795).

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Rahmen der vorgegebenen Sozialordnung. Kosegarten charakterisiert ihn im Vorwort als einen »Jüngling, der mit der Liebe zu seinem Mädchen die Liebe zu den Wissenschaften und zur Gemeinnützigkeit a u f s glücklichste zu verbinden weiß [ . . . ] zuletzt [ . . . ] , wie billig, in die ganz alltägliche breitgetretene Heerstraße einlenkt, ein Amt annimmt, tüchtig arbeitet und sein Mädchen freiet [.. .]«. 13 Das heißt, Haining folgt mit seinen Lebensplänen dem zu dieser Zeit gültigen konventionellen Muster. Daß auch dieser Roman stark autobiographische Züge trägt, liegt auf der Hand, denn Kosegarten, der ihn nach eigenem Bekunden »zu Wolgast im Lenzmond 1791«14 verfaßt hat, erzählt in nur lockerer Verhüllung die Liebesbeziehung zu Catharina Linde, die 1786 seine Frau wurde, nachdem er 1785 Rektor an der Wolgaster Stadtschule geworden war. Im Unterschied zu Ewalds schwärmerischer Liebe ist die Hainings in die Prosaik des Alltags gestellt. Um eine Existenzgrundlage für die künftige Familie zu schaffen, kämpft er um eine gesicherte Stellung: Zweimal bewirbt er sich vergebens um eine Pfarrstelle auf der Insel Rügen, auch der Versuch, Bataillonsprediger zu werden, schlägt fehl; schließlich gelingt es ihm, die »oberste Lehrerstelle« »der Stadtschule« 15 in Asgard zu erhalten. Das Quälende eines Konfliktes, der für Haining und Emma aber keine mit dem Ewald-Roman vergleichbare dramatische Qualität hat, ergibt sich aus einer vierjährigen Warte- und Trennungszeit, 16 in der Haining immer erneut über »Mittel« nachsinnt, seine »Beförderung zu beschleunigen«. 17 Kosegarten wendet sich mit der »Herausgabe eines solchen Alltagshandels« 18 ausdrücklich nicht an »Liebhaber der Intrigue, des Wunderbaren, des hohen Romantischen«, 19 sondern an Leser, denen das »Häusliche, Vertrauliche« 20 zusagt, also das Familiensujet, dessen Beliebtheit bei den Zeitgenossen sehr groß gewesen ist, wie die zahlreichen sogenannten Familienromane beweisen. 21 In Hainings Briefen an Emma zielte Kosegarten darauf ab, seinen Adressaten praktische Lebenshilfe zu vermitteln. Denn der Protagonist lebt allen in einer ähnlichen Situation befindlichen Lesern vor, wie man mit Reiß, Zähigkeit und Geduld als auf sich gestellter mittelloser Intellektueller schließlich seinen Platz in der Gesellschaft findet. Dagegen erhält der Konflikt in dem 1800 in Altenkirchen geschriebenen Roman Ida von Pleßen eine 13 14 15 16 17 18 19 20 21

L. Th. Kosegarten: Hainings Briefe, wie Anm. 8, S. VIII. Ebd., S. XII. Ebd.,Teil II, S. 176. Die Handlung umfaßt den Zeitraum vom 14. Juni 1783 bis zum 10. Oktober 1787. Ebd.,Teil I, S. 122. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VII. Ebd., S. VI. Z.B. Romane von Carl Gottlob Cramer, August Lafontaine oder Gotthelf Wilhelm Christoph Starke, etwa dessen »Gemähide aus dem häuslichen Leben und Erzählung e n « ^ . 1-5. Berlin 1800-1805.

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andere Dimension. Obwohl es in diesem »Rügen-Roman« wie in Ewalds Rosenmonde um Liebe zwischen einem bürgerlichen Intellektuellen und einem adligen Mädchen geht, gestaltet Kosegarten hier eine andere Antwort auf die für die soziokulturelle Identitätsfindung der Figur so virulente Frage nach der Möglichkeit einer Mesalliance. Nur die adelsstolze Stiefmutter Idas steht einer Verbindung im Wege, ihr Vater schlägt Edmund vor, er möge sich oder, falls es an Geld mangele, Ida solle für ihn ein Adelsdiplom kaufen, sein Jagdhund sei teurer gewesen als dieses Papier. Da Ida ein Kind erwartet, drängt die Zeit, und so handeln sie planvoll und zielbewußt: Es wird die Flucht auf eine nahe gelegene dänische Insel vorbereitet, wo die Hochzeit stattfinden soll. Ein happy end also, was in der sozialen Realität durchaus im Bereich des Möglichen lag, freilich für die Liebenden dies in der Regel den Ausschluß aus dem Gesellschaftsleben bedeutete. Aber dieses happy end erhält dadurch eine spezifische Note, daß es quasi im Nachhinein in eine Katastrophe umgebogen wird: Auf der nächtlichen Bootsfahrt zu dem Schiff, das sie auf die Insel bringen soll, verunglücken die Liebenden. Dieser gemeinsame Liebestod hat als ein Beleg für die Affinität dieses Romans zur Frühromantik die Funktion, Edmund und Ida in einem Zustand höchster Liebeserfüllung und damit einer vollendeten Selbstfindung dem Geschehen zu entrücken. Der Autor weist mit dem Untertitel »Eine romantische Dichtung« darauf hin, daß er hier auch in seinem Selbstverständnis Einflüsse der Romantik verarbeitet. Daß dies auch seine Zeitgenossen so bewertet haben, beweist der Verriß des Romans aus aufklärerischer Sicht. Der Rezensent moniert die »bizarre Anlage« und meint damit die Schlußwendung: »Die beyden schon geretteten Liebenden gehen in einem Sturme zu Grunde, und man sieht [ . . . ] nicht ein, warum? Die einzige vernünftige Antwort [ . . . ] [ist], weil der Verf. das Schauerliche und Unerwartete liebt.« 22 Durch die sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzende voreheliche Intimität der Liebenden veranlaßt, sieht der Rezensent die Figuren in die Nähe zu Schlegels Lucinde gerückt. Daß das hier gestaltete Menschenbild einen deutlich romantischen Charakter hat, steht außer Frage. Für Edmund geht es nicht wie bei Haining um die Erfüllung eines sozialen Aufstiegsmusters, sondern bei seiner Identitätssuche wirkt die Entfaltung des eigenen Selbst als entscheidendes Movens. Das zeigt sich beispielsweise daran, daß er, um in Idas Nähe bleiben zu können, seine Stelle als Legationssekretär bei einem Grafen bedenkenlos kündigt. Die Frage des Lebensunterhaltes stellt sich für ihn überhaupt nicht: Freunde und das Vermögen seiner Braut werden später alles regeln. Ganz anders als Haining »weiß« er die »Liebe zu seinem Mädchen« nicht mit der »zur Gemeinnützigkeit zu verbinden«, sondern sieht die Erwerbssphäre als inhaltsleere Beschäftigung an. Es stellt sich die Frage nach der Eignung 22

Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 64, S. 371.

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einer solchen Figur für eine realitätsnahe Gestaltung ihrer soziokulturellen Identitätssuche. Im Sinne der Repräsentanz, zeitgenössische Selbstverwirklichungsmöglichkeiten bürgerlicher Intellektueller aufzuzeigen, ist sie sicher wenig geeignet. Andererseits ist es gerade ihre romantische Anlage, ihr Nichteingebundensein in ein Raster von Erwerbsstreben und sozialem Aufstiegswillen, das ihre spezifische Leistungsfähigkeit ausmacht. Kein anderer der Protagonisten der »Rügen«-Romane geht so scharf mit sozialen Mißständen ins Gericht wie Edmund. Der nach Idas Worten zum »Kammerjunker« und »Hofmarschall«23 völlig untaugliche »trotzige [...] Jüngling«, dem es an »geschmeidiger Nachgiebigkeit« fehlt, so daß er sich leicht »ohne Noth und Nutzen den Kopf an den eisernen Schranken der Konvenienz einrenn(t)«, 24 erlebt auf einer Wanderung durch Rügen nicht nur die Schönheit der Natur, sondern in kontrastiver Weise auch das Elend der Leibeigenen. Diese, »durch die Sklaverey entmenscht«, haben keinen Sinn für die Naturschönheit: 25 [ . . . ] verurteilt auf Zeitlebens für fremde Genüsse diese Scholle zu bearbeiten [ . . . ] , eingefangen, eingesperrt, aufs schmachvollste zergeißelt, wenn es ihnen einfällt, in einem fremden Gebiet als freyere Menschen aufatmen zu wollen; ohne Schutz, ohne Sicherheit, ohne Eigentum, [ . . . ] ohne Hoffnung, ihr Schicksal jemals zu verbessern, versinken sie endlich in [ . . . ] Dumpfsinn, [ . . . ] Faulheit, [ . . . ] Lügnerei, Trunkenheit und Dieberey [ . . . ] .

In dieser Passage der Figurenrede Edmunds gleitet der Autor unversehens aus der Fiktion heraus, und es spricht der Pfarrer Kosegarten, dessen Verständnis als aufklärerischer Theologe einen deutlichen sozialen Impetus besitzt. Die Leibeigenen sind für ihn »zu Bestien herabgewürdigte Menschen«, deren »Eigner« recht haben, wenn sie sagen, sie »wären der [...] Entlassung aus der Grundangehörigkeit noch nicht fähig [ . . . ] Und wie sollen sie es werden? Eure Predigten werden es nicht thun [...], denn das Volk versteht sie« nicht. »Eure Schulen werden es nicht thun«, denn oft sind sie »wahre Notställe, darinnen die Kleinen vollends an Leib und Seele verkrüppeln. - Und daß ihr es nur wißt! Es ist verlorne Mühe, die Verbesserung dieses Geschlechts von innen heraus zu betreiben.« 26 Diese leidenschaftliche Anklage gipfelt in der Forderung, die Leibeigenschaft abzuschaffen, und in der Überzeugung, daß diese Menschen dann auch »Pflichtgefühl und Rechtsgefühl« entwickeln und den »Krieg mit der Gesellschaft«27 beenden werden. Kosegarten sieht also die sozialen Ursachen des Verbrechens - eine bemerkenswerte Erkenntnis in dieser Zeit, die vor ihm vor allem von dem Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann formuliert 23

LudwigTheobul Kosegarten: Ida von Pleßen, wie Anm. 9, Teil I, S. 149. 24 Ebd., S. 147. * Ebd..TeilII, S. 122. 26 Ebd., S. 124. 27 Ebd., S. 125.

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worden war, dessen Roman Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend (Leipzig 1783ff.) große Beachtung gefunden hatte. Man hört den wortgewaltigen Prediger Kosegarten, der den Gutsherren vorwirft: 28 Ihr scheltet auf ihren [der Leibeigenen, R. H.] Undank, als ob der Ochs euch Dank schuldig wäre, weil ihr ihn füttert, damit er pflüge. Ihr wollt nicht bloß gehorcht, gescheuet, gefürchtet, ihr wollt noch obendrein geliebt von ihnen seyn. - Geliebt von Sklaven? Ο Hohngelächter!

An dieser Stelle wird besonders deutlich, daß das soziokulturelle Profil, das Kosegarten den Romanfiguren mitgibt, stark von seinen Positionen als Theologe geprägt ist, so daß man den Autor eigentlich nicht vom Pfarrer trennen kann. Nun ist hier nicht der Ort zu seiner ausführlichen Positionsbestimmung im religiös-philosophischen Diskurs der norddeutschen Theologie dieser Zeit. Einiges muß aber zumindest benannt werden, sonst erscheint gerade dieser Aspekt der Figurencharakteristik in unzulässiger Verkürzung. So ist die regionale Einfärbung der viel reisenden oder wandernden Figuren vor allem von ihrer Heimatliebe gespeist, die in ihrer Hinwendung zur Natur und den einfachen Menschen Pommerns Ausdruck findet. Mit ihrem sozial und nicht etwa wie bei Arndt national akzentuierten Volksbegriff stehen sie in einer Traditionslinie zu Herder, so daß als durchgängiges Strukturelement der Romane die oppositive Kontrastierung der Land-und Stadt- bzw. Hofsphäre eingesetzt ist. Dies alles korrespondiert der Betonung der »Freiheitsrechte des religiösen Individuums« von Seiten der protestantischen Aufklärungstheologie in ihrer »Auseinandersetzung mit der altprotestantischen Orthodoxie«, 29 die Kosegarten in dezidierter Weise in seiner Schrift Der Prediger, wie er seyn sollte (1800) geführt hat. 30 Wie namhafte Aufklärungstheologen (Semler, Jerusalem, Reimarus u.a.) vertrat er z.B. die »Selbständigkeit des eigenen Denkens« 31 im Sinne der religiösen Mündigkeit, die Forderung nach der Subjektivierung und Individualisierung des religiösen Bekenntnisses sowie ein »Gesinnungschristentum«, 32 das sich nicht auf Innerlichkeit beschränkte, sondern seine BewähM 29

30

31 32

Ebd.,S. 124f. Hans Erich Bödeker: Die Religiosität der Gebildeten. In: Religionskritik und Religiosität in der Deutschen Aufklärung. Hg. von Karlfried Gründer und Karl Heinrich Rengstorf. Heidelberg 1989, S. 151. Ludwig Theobul Kosegarten: Der Prediger, wie er seyn sollte. Dargestellt in dem Leben und den Schriften des Robert Robinson gewesenen Dissenterpredigers zu Cambridge, und Seinem ehrwürdigen Vater Herrn Bernhard Christian Kosegarten Pastor und Präpositus in Grevesmühlen in Mecklenburg zu seiner fünfzigjährigen Amtsjubelfeyer gewidmet von Ludwig Theobul Kosegarten, Doctor der Theologie und Philosophie, Pastor zu Altenkirchen auf Wittow. Leipzig 1800, bei Heinrich Gräff. Vgl. zur Titelaffinität: Regina Hartmann: Zum Diskurs des weiblichen Geschlechtscharakters als soziokulturelles Deutungsmuster in der populären Literatur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Germanistik III-2 (1993), S. 280f. Ludwig Theobul Kosegarten: Der Prediger, »Zueignung«, unpaginiert. Hans Erich Bödeker: Die Religiosität der Gebildeten, wie Anm. 29, S. 152.

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rung in der christlichen Nächstenliebe sah, d. h., »Religion [ . . . ] durch ein göttliches Leben [ . . . ] predigen« wollte. 33 Dies wirkt sich nicht nur auf die unangefochtene Gläubigkeit der Romanfiguren aus, sondern auch auf die aufopfernde Wohltätigkeit aller Protagonisten. Ihr Tugendverständnis ist geprägt durch eine »Religion des guten Lebenswandels«, in der es »aufs Tun ankam«, 34 wie Kant formulierte. Ein weiteres prägnantes Charakteristikum der Liebenden in den drei Romanen ist ihre Empfindsamkeit - bei Ewald und Haining noch gestützt durch die Briefform des ErzählVorganges. Bekanntlich erschöpfte sich Religion für die aufklärerischen Theologen nicht in ihrer »vernünftigen Dimension. Vielmehr verband sich bei ihnen der Glaube an einen gewissen Kanon ethischer und religiöser Grundwahrheiten mit der Wärme und Lauterkeit eines empfindsamen Herzens. Das Herz als Sitz des Gefühls konnte zum >Heiligthum< gesteigert werden [...]. Empfindsamkeit, Tugend und Religion wurden schließlich so eng verknüpft, daß ein unempfindsamer Mensch schon fast ein gottloser und lasterhafter Mensch war.« 35 Allen Protagonisten, selbst dem prosaischen Haining, ist eine empfindsame Naturschwärmerei eigen, die von der Überzeugung gespeist wird, in der Natur Gottnähe zu erleben, was auch als Hinweis auf die Klopstock-Rezeption Kosegartens gelten kann. Da Natur- und Liebeserlebnis sehr eng verbunden sind, wird der für die Zeitgenossen weit gehenden erotischen Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Ewald und Ida bzw. Edmund und Ida von Pleßen von vornherein jedes Signum der »Sündhaftigkeit« genommen. Liebe zu Gott ist Liebe zu den Menschen als natürlichen Wesen. Besonders in dem Roman Ida von Pleßen, in dem Kosegarten »die Liebe der Natur« 36 herausstellen wollte, verläuft die Handlung an authentischen Naturschauplätzen, so auf Arkona, der Stubbenkammer, »auf den Gipfeln des Graniz« 37 und in den Wäldern Rügens. Von Aussichtspunkten wie dem Rugard erleben die Figuren die Schönheit der Landschaft, die nicht nur als pommersche Heimat im konkreten Sinne, sondern zugleich als Heimstatt der Liebe - Liebesszenen finden häufig in der Natur statt - verstanden wird. Die Bedeutung des Naturerlebnisses für die Identitätsfindung der Protagonisten liegt also in seinem Verschmolzensein mit dem Liebes- und Heimatgefühl. Dies fällt als Gemeinsamkeit aller drei Romane um so mehr auf, als diese doch konzeptionell unterschiedlich angelegt sind, so daß sich natürlich auch funktional spezifische Akzentsetzungen feststellen lassen. Für Ewald 33 34

35 36 37

Ludwig Theobul Kosegarten, Der Prediger, wie Anm. 30, »Zueignung«, unpaginiert. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Ders.: Werke. Hg. von Ernst Cassirer. 11 Bde., Berlin 1912-1921. Bd. 6, S.325; vgl. auch Bd. 7, S. 352. Hans Erich Bödeker: Die Religiosität der Gebildeten, wie Anm. 29, S. 173. Kosegartens Leben, wie Anm. 10, S. 187. Ludwig Theobul Kosegarten: Ida von Pleßen, wie Anm. 9, Teil I, S. 259.

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bietet die Natur - wie für Goethes Werther - auch einen Freiraum, in dem er die in der gesellschaftlichen Sphäre erlebten Enttäuschungen kompensieren kann. Dieses Moment spielt bei Haining keine Rolle. Hier ist das Naturerleben nur insofern seiner Arbeitssphäre gegenüber gestellt, als es zwar als Erholung von der Hofmeistertätigkeit, aber nie als alternative Gegen weit zur Erwerbstätigkeit fungiert. Anders als Ewald führt Edmund die Suche nach einem sinnhaften Lebensinhalt von vornherein in die Natur. Er lernt Ida auf einer Wanderung durch Rügen kennen. Außerdem wird hier der Gleichklang von Naturzustand und seelischer Befindlichkeit zurückgenommen. Edmund erlebt, durch die Liebesbegegnung gesteigert, die Erhabenheit und majestätische Schönheit der Rügenschen Landschaft, die gelegentlich aber auch furchteinflößend und von Dämonen beherrscht erscheint. »Wie schauervoll, wie grausend war die Gegend«, 38 wertet er das nächtliche Erleben an einem See. Die Betonung von Größe und Majestät der Natur in ihrem Umschlag vom romantisch Wunderbaren zum Schauerlichen hat hier vor allem die Funktion, die Liebesbeziehung in einen transzendenten Sinnzusammenhang zu stellen, ihr den »Nimbus von Heiligkeit«39 zu geben. Ida erscheint Edmund als »himmlisches Wesen«40 und wird damit ebenso jeder profanen Sicht entrückt wie die Liebesnacht der beiden im Garten: Es »ging der Mond auf« und immer »magischer« wurde »die Beleuchtung; heimlicher, schauervoller [ . . . ] die uns umringende Schöpfung.« 41 Überblickt man die Lebenswege, die die Romanfiguren auf der Suche nach ihrer soziokulturellen Identität zurücklegen, so zeigt sich als dominant das Streben nach einer sinnhaften Einheit ihrer Lebensgeschichte. Nicht als Entwicklungsfiguren angelegt, sondern von vornherein mit einem Individualitätsbewußtsein ausgestattet, das die Problematik der eigenen Lage als bürgerliche Intellektuelle wachhält, finden sie in unterschiedlicher Weise im Bereich der Liebe, der Arbeit und der heimatlichen Natur, auf ihr Gottvertrauen gestützt, zu sich selbst. Obwohl die Arbeitssphäre für die EdmundFigur als Selbstverwirklichungsfeld ausgeklammert bleibt, kann dies nicht etwa als »letztes Wort« Kosegartens in dieser Frage gewertet werden. In seinem gesamten Romanwerk scheint vielmehr immer wieder die Pfarrhausidylle auf: als die nahezu ideale Möglichkeit der Selbstverwirklichung gerade durch Arbeit für die Gemeinde. Er hat zwar nie eine Pfarrerfigur in das Zentrum eines Romans gerückt, aber schon in seinem Erstlingsroman Ewalds Rosenmonde spielt ein Pfarrhaus als Ruhepunkt eine Rolle. Für Haining ist es der »Lieblingswunsch, in irgend einem schönen Naturfelde

38 39 40 41

Ebd., S. 47. Ebd., S. 175. Ebd., Teil II, S. 151. Ebd., S. 82f.

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ein stiller Dorfprediger zu werden«, 42 und in dem 1803 veröffentlichten Roman Adele Cameron äußert die Heldin: »Das Leben dieser Dorfprediger gleicht in Wahrheit einer schönen Idylle. In bescheidener Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig rinnt es ruhig hin [.. .].«43 Schließlich war es das Versepos Jucunde (1803),44 in dem Kosegarten sein Pfarrhaus auf Rügen als bukolische Idylle schildert, das die größte Aufnahme bei den zeitgenössischen Lesern fand, denn es erschien bis 1843 in sechs Auflagen. Daß der Autor hier in der Tradition des mecklenburgischen Idyllendichters und Predigers Brückner und vor allem von Voß' Luise steht, 45 ist unverkennbar. Das Wirken seines vorbildlichen Pfarrers in der Schrift Der Prediger, wie er seyn sollte charakterisiert Kosegarten in Voßscher Manier als einen Wechsel zwischen seinen Amtsgeschäften, nützlicher Beschäftigung in Feld und Haus sowie geselligen Mußestunden und der Hinwendung zu Kunst und Wissenschaft.46 Wie im Haining-Roman ist es das häusliche Leben, das als Familienkosmos als der wahre Ort der Selbstfindung des Individuums verstanden wird und in dem auch bürgerliche Standesethik zur Anschauung kommt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Suche der Protagonisten nach einer Heimstatt noch nicht von einem Bewußtsein der Vergeblichkeit geprägt ist. Sie verfolgen das Lebensideal einer ungeteilten Existenz, d. h. sie versuchen, ihr Leben in weitgehender Selbstbestimmung zu leben. Es macht einen Teil des Realismus der Romane aus, daß ihnen dies nur partiell gelingt. Wenn Kosegarten allen seinen Figuren die Liebe zur heimatlichen Natur mit auf den Weg gibt, so ist dies ein herausragendes Moment ihres Habitus, den er auch seinen Lesern vermitteln möchte: nicht zuletzt durch die Herausgabe von Karl Nernsts Wanderungen durch Rügen (1800),47 wo er selbst porträtiert ist, oder durch die »Rügische Erzählung« Die Raiunken,48 die eine alte Sage über das Herkommen der Rüganer wiedergibt. Daß seine Rügenschilderungen Anerkennung fanden, bezeugt die Mecklenburger Autorin Fanny Tarnow (1779-1862), die in ihrer Erzählung Allwina von 42 43

44 45

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48

Ders.: Hainings Briefe, wie Anm. 8, Teil II, S. 193. Ders.: Adele Cameron, 2 Tie., wohlfeile Ausgabe, Leipzig 1818, bei J.I. Hinrichs,Teil II, S. 214f. Ders.: Jucunde. Eine ländliche Dichtung in fünf Eklogen. Berlin 1803. Vgl. zu Voß die neuere Arbeit von Gerhard Hämmerling: Die Idylle von Geßner bis Voß. Theorie, Kritik und allgemeine geschichtliche Bedeutung, Frankfurt/Main 1981. Vgl. LudwigTheobul Kosegarten: Der Prediger, wie Anm. 30, S. 120. Karl Nerast's Wanderungen durch Rügen. Hg. von Ludwig Theobul Kosegarten. Düsseldorf 1800, in der Dänzer'schen Buchhandlung. Karl Nernst war ein Schüler Kosegartens in Wolgast, studierte später in Greifswald und lebte jahrelang auf Wittow - so der 1797 in Altenkirchen geschriebene »Vorbericht« Kosegartens (Ebd., S. III). Ludwig Theobul Kosegarten: Die Raiunken. Eine Rügische Erzählung. In: C . G . N . Gesterdings, der Rechte Doctors zu Greifswald, Pommersches Museum. Erster Band, welcher die beiden ersten Theile enthält. Auf eigene Kosten u. Verlag des Verfassers. Gedruckt zu Rostock 1782 u. 1784 mit Adlerschen Schriften, 1. Theil, S. 133-147.

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Rosen (1804) dem Autor dafür großes Lob zollt. Karl Nernsts Bericht zufolge hielt Kosegarten eine seiner Uferpredigten als eine »Lobrede auf Wittow« über die Worte: »Hie ist gut seyn, hie laßt uns Hütten bauen.« »In diesen Augenblicken wünschte ich ein Wittower zu seyn«, 49 kommentiert der Erzähler. Wenn das Altenkirchener Refugium auch wegen der Kriegsunruhen 1808 für den Autor zerbrach, in seinem literarischen Schaffen hat er ihm für alle Zeiten ein Denkmal gesetzt.

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Karl Nemst's Wanderungen, wie Anm. 47, S. 186.

Monika

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Frauen und Literatur in der Region Pommern

1. Überlegungen zum Thema So, wie mein Thema formuliert ist, »Frauen und Literatur in der Region Pommern« - ist es als sozialgeschichtliche Fragestellung angelegt. Erste Stufe der Erkundung, die auf so gut wie keine Vorarbeit zurückgreifen kann, mußte es sein, Quellen zu sichten. Bereits hier türmen sich gleich den Rügenschen Hünengräbern die Schwierigkeiten auf. Die Überlieferung von Frauentexten - ich folge hier Barbara Becker-Cantarino und schließe in diesen Komplex auch Texte ohne ästhetischen Anspruch ein ist genauso katastrophal wie der Stand ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung. 1 Der Androzentrismus der Literaturhistoriographie ist auch durch die Regionalforschung nicht zurückgedrängt worden. Frauentexten in einer Region wie der unsrigen auf die Spur zu kommen ist ein Unterfangen, in dessen Verlauf man es mit mehrfacher Ignoranz und eingeschränkter Optik zu tun bekommt. Zum einen, wie schon angesprochen, mit der Ignoranz der androzentrisch ausgerichteten historischen Disziplinen, zum anderen mit der durch die politische Geschichte nicht nur der letzten vierzig Jahre bedingten widersprüchlichen fachwissenschaftlichen Wertung von Regionalem. Da sich engagierte Wissenschaftlerinnen erst seit ca. zwanzig Jahren mit »FrauenLiteraturGeschichte«,2 d.h. mit den schriftlich fixierten historischen Zeugnissen weiblicher Lebenserfahrungen befassen, bedarf es kaum der Begründung, warum ich den Schwerpunkt meiner Ausführungen auf die erste Wortgruppe in der Formulierung »Frauen und Literatur in der pommerschen Region« legen muß und möchte. Ohne die noch so junge Forschungsgeschichte auch nur adäquat erfassen zu können, sehe ich sie bisher im wesentlichen von drei Schwerpunkten geprägt:

1

2

Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500-1800. München 1989 (dtv 4548), S. 14. Vgl. das Konzept des literaturgeschichtlichen Überblickwerkes von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann (Hg.): Schreibende Frauen. FrauenLiteraturGeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1989.

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1. der Erarbeitung eines spezifisch angelegten geschichtlichen Überblicks, so wie ihn die zwei Bände »Deutsche Literatur von Frauen« präsentieren. 3 Ihr Ziel bestand darin, die Präsenz von Frauen in der nationalen Kulturgeschichte überhaupt erst einmal zu erforschen und zu charakterisieren. Als theoretisch-methodologische Zielstellung galt es, dadurch einen qualitativ anderen Blick auf die Geschichte zu gewinnen. Vor allem der methodologische Gewinn war beachtlich. 2. Parallel dazu entstanden und laufen Editionsprojekte, um Texte zugänglich zu machen. Die intensive Erforschung einzelner Autorinnen erbrachte neben wichtigen Erkenntnissen zur Sozialgeschichte und »Geschlechter-Ideologie« auch Theorieversuche zum Problem »weibliches Schreiben«. 3. In jüngerer Zeit widmen sich Wissenschaftlerinnen der Erforschung von Texttypen, die von Frauen aufgrund ihrer spezifischen sozialen und kulturellen Identität genutzt wurden, so dem Brief und dem Frauenroman im 18. Jahrhundert. Die Parallelität und Überlagerung der verschiedenen gewichtigen Interessen am alten und doch so neuen Gegenstand FRAU (vom spezifisch literaturwissenschaftlichen bis zum kulturphilosophischen) erschwerten und erschwerten natürlich die Einbeziehung des dann marginal anmutenden Aspektes der Regionalität.

2. Methodische Fragen Abzulehnen ist prinzipiell ein Umgang mit dem Material, d.h. ein Denkkonzept, der bzw. das den »Anteil« der schreibenden Frauen an der herrschenden Literatur als etabliertes gesellschaftliches Verhältnis nur bestimmt, d. h. diese (Literatur) um den weiblichen Beitrag ergänzt, ohne daß sich die Perspektive auf dieses und auch das gesamte Material und damit die Fragen verändern. Das Thema »Literatur und Region« scheint mir im Sinne einer Bestandsaufnahme günstig, die Auswertung des Materials unter dem ausschließlichen Aspekt der Regionalität würde jedoch die oben charakterisierte Methode der Literaturhistoriographie befördern. Tatsächlich überlebten bis heute, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich Frauen- und Geschlechterforschung institutionell etablieren konnte und damit die materiellen Möglichkeiten existierten, die Geschichtslosigkeit der Frau aufzuarbeiten, im wissenschaftlichen und kulturellen Bewußtsein nur solche »Autorinnen«, die mit den herrschenden gesellschaftlichen Wertmaßstäben (nicht nur ästhetischen) übereinstimmten und also erfaßbar waren: ethisch3

Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. 2 Bände. München 1988.

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moralischen, geschlechtsideologischen, wissenschaftsmethodischen und, wie gesagt, ästhetischen. Sie paßten entweder mit ihren Texten in den zwar reichen, aber letztlich stets normierten ästhetischen Kanon - wie die Greifswalderin Sibylla Schwarz - oder fungierten als Musen bedeutender Dichter, Schriftsteller, Künstler etc. und lebten in deren Fiktionen fort. Wenn ich das hypothetisch für unseren Kulturraum durchspiele, so bedarf es keiner großen Suchanstrengung, um Ausfall auf der ganzen Linie zu konstatieren. Die schriftstellernden und musisch anregenden Frauen kamen aus Sachsen, Thüringen, Süddeutschland, aus den kulturellen Zentren des Reiches. Das soll nicht heißen, daß es »nur« eine Frage der bislang unzureichenden Quellensichtung ist, so als ob unentdeckte pommersche Dichterinnen en masse im Dornröschenschlaf lägen und es nur an den mehr oder weniger ignoranten Prinzen hinge. [ . . . ] Die Frage ist, wie bereits angesprochen, ob und inwieweit unser Konferenzthema dazu angetan ist, das Material Frauentexte - optimal zu erschließen. Ich sehe da Gewinn in zwei Arbeitsbereichen und für die Klärung zweier Problemkreise: 1. Gefordert ist die Suche nach Texten, nach schreibenden Frauen und Autorinnen. 4 Weitgehend bzw. ganz unbekanntes Material gilt es zu prüfen und ggf. bereitzustellen. Damit verbunden ist die Suche nach Wertungskriterien - eine Aufgabe, die den Rahmen der Frauenforschung sehr schnell sprengen dürfte. Hier bewegen wir uns zusammen und vergleichbar mit der regionalen Literaturgeschichtsschreibung auf Neuland - d . h . erst einmal in Archiven. 2. Es geht um die Frage, ob die Bedingungen, unter denen Frauen und Literatur zusammen wirkten, günstig waren oder nicht: Beförderten sie den Abbau der objektiven »Außenseiterexistenz« von Frauen in der Geschichte? Oder verbesserten sie beispielsweise den Zugang zu und die Partizipation an Bildung, künstlerischer oder geistiger Tätigkeit? Prägten sie die Erfahrungen auf eine Weise, die Originalität beförderte? Im ersten Teil dieses Beitrages gebe ich einen informativen Überblick im Sinne des ersten Arbeitsbereiches. Dem schließen sich Ausführungen zu Einzelbeispielen an, wobei von diesem Material punktuell, nicht systematisch, Aussagen zum zweiten Problemkreis abgeleitet werden. Die Auswahl der Beispiele steht im Zusammenhang mit den derzeit verfügbaren Quellen. Die Wertung des Materials erfolgt unter den genannten Aspekten.

4

In der Unterscheidung zwischen »schreibenden Frauen« und »Autorinnen« folge ich Marlies Gerhard, die mit Foucault die Unterscheidung abhängig macht von der Stellung zur Öffentlichkeit. Diese Stellung wiederum erklärt sich aus dem (Selbst)Bild des Autors, »das sich mit Prometheus identifiziert«, d.h. von einem Werte schaffenden Selbstverständnis gekennzeichnet ist. Vgl. Marlies Gerhard: Ich ist eine andere. Über die Briefe der Rahel Varnhagen. In: Dies.: Stimmen und Rhythmen. Weibliche Ästhetik und Avantgarde. Darmstadt und Neuwied 1986, S. 23ff.

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Monika Schneikart

3. Überblick über schreibende Frauen im 17. und 18. Jahrhundert Wenn im folgenden versucht wird, einen Überblick über schreibende Frauen in der pommerschen Region innerhalb des zur Diskussion stehenden Zeitraumes zu geben, so ist die erforderliche detaillierte Einordnung in den konkreten historisch-sozialen und kulturellen Binnenraum kaum vorzunehmen. Trotzdem ergeben sich erste Erkenntnisse über die kulturgeographische Landschaft Pommern. Die Voraussetzungen für Frauen, mittels Literatur - in Anlehnung an Becker-Cantarino - mündig zu werden, besser: literarisch mündig zu werden, indem die persönlichen Lebenserfahrungen reflektierend wahrgenommen und dadurch zunehmend auf die gesellschaftlich zugewiesene Geschlechtsrolle und die daraus abgeleiteten Verhaltensmuster bezogen wurden - diese Voraussetzungen waren, zumindestens im protestantischen Kulturraum, überall gleich. Sie hießen: Bildung und Förderung, auch Schutz durch nahestehende Männer (Väter, Ehemänner, aufgeschlossene Gelehrte). Das ermöglichte den notwendigen, aber ungemein schwierigen Zugang zur Öffentlichkeit, das Verlassen des zugewiesenen privat-familiären Raumes. Wurden die Bremsklötze bereits im familiären Bereich hervorgeholt, so war es aufgrund der ökonomisch-sozialen Abhängigkeit der Frau so gut wie unmöglich, aus der Tradition von Verhaltensmustern auszuscheren. Der soziale und intellektuelle Freiraum, den im Mittelalter die Klöster den Frauen boten, war mit der Reformation, also mit der Schließung der Klöster und mit der von Luther ausgearbeiteten protestantischen Familienideologie (u.a. Aufwertung der Mutterrolle und Abwertung der unverheirateten Frau zur »alten Jungfer«), verloren gegangen. 5 An die Stelle der Klöster traten in den folgenden Jahrhunderten als deren säkularisierte Form die Stifte für unverheiratete Frauen, beschränkt auf Angehörige der sozialen Oberschichten. Unterlagen der Klöster und ihrer Nachfolger, der Stifte, wären also potentielle Fundorte für Texte. In zwei hiesigen Klöstern resp. Stiften finden sich denn auch Spuren: aus dem Bergener Adligen Damenstift kommen zwei Dichterinnen des 18. und 19. Jahrhundert, das Adlige Kloster zu Stolpe verzeichnet eine gelehrte Priorin, die religiöse Lieder verfaßte.

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Vgl. Ruth Klüger: Zum Außenseitertum der deutschen Dichterinnen. In: Helga Gallas, Magdalene Heuser (Hg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Tübingen 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 55). Die zentrale These Klügers besagt, daß begabte und ambitionierte Frauen vor der Reformation günstigere gesellschaftliche Bedingungen zur Realisierung ihrer künstlerischen Fähigkeiten hatten. »Wenn wir von der Reformation als einer Bewegung sprechen, die den menschlichen Intellekt befreite und den geistigen Horizont der Menschen erweiterte, so heißt Mensch hier für ganze Jahrhunderte >Mann< und nicht beide Geschlechter.« (S. 14).

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Frauen in Pommern

Das Bergener »Adlige Kloster«, ein Stift für auf Rügen geborene adlige Damen aus den eingesessenen Adelsgeschlechtern, hervorgegangen aus dem 1193 gegründeten Cistercienser-Nonnenkloster, war im 18. Jahrhundert die Wohnstätte zweier Frauen, die ihre Gedichte auch publizierten. 1767 erschien anonym ein Bändchen mit dem schlichten Titel »Gedichte«, als deren Verfasserin Eingeweihte Eva Katharina Eleonora von Platen (1744-1799) zu nennen wußten. 6 Als Ende des 18. Jahrhunderts Rügen zum Touristenmagneten avancierte und durch Reiseschilderungen bekannt gemacht wurde, fehlte in keiner der gängigen Publikationen der Hinweis auf das 1799 verstorbene Fräulein von Platen. Zöllner konnte noch Handschriften einsehen, 7 Johann Jakob Grümbke druckte in seinen 1805 veröffentlichten Streifzügen

durch das Rügenland

einen Text (Mein Abschied)

ab.8

Gegenüber der anderen bibliographisch erfaßten Autorin, Laurette von der Oehe (1800-1887), 9 lohnen die wenigen überlieferten Gedichte der Eva Katharina Eleonora von Platen (dank zweier Heimatforscher 10 ) eine intensivere Auseinandersetzung, zeugen sie doch von einer guten Kenntnis, d.h. Verarbeitung der seinerzeit aktuellen Literatur. Diese zwei Frauen sind die bis jetzt einzig nachweisbaren Autorinnen für den Zeitraum nach 1750. Das ist ausgesprochen verwunderlich, da sich im gesamten 18. Jahrhundert und speziell in dessen zweiter Hälfte eine Literaturtradition von Frauen herausbildete. Demgegenüber sind mehr Namen (aber kaum Texte) aus dem 16. und 17. Jahrhundert bekannt. Für diesen Zeitraum ist charakteristisch, daß Frauen bis auf wenige bekannte Ausnahmen religiöse Texte schrieben. 11 Immerhin ist es ehrenvoll, im kleinen Kreis der bekannten, weil anerkannten Kunstdichter(innen) auch die Greifswalderin Sibylla Schwarz zu wissen. Auf diese stets in einschlägigen Nachschla6

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Eva Katharina Eleonora von Platen veröffentlichte ihre »Gedichte« absichtlich anonym. Dieser Umstand ist ein Beleg mehr dafür, daß der Schritt in die Öffentlichkeit als problematisch, und zwar als moralisch problematisch empfunden wurde: »Allein Bedenklichkeiten, welche dem Frauenzimmer besonders ankleben, erlauben mir nicht, dieses Vergnügen [der öffentlichen Zitierung - M. S.] in seiner ganzen Annehmlichkeit zu empfinden.« zit.nach: D. Albrecht: Zwei Dichterinnen des »Adligen Klosters« zu Bergen. In: Rügensche Heimat Nr. 12 (1929), o. S. Johann Friedrich Zöllner: Reise durch Pommern nach der Insel Rügen im Jahre 1795. In Briefen. Berlin 1797, S. 215. Streifzüge durch das Rügenland. In Briefen von Indigena [d. i. Johann Jakob Grümbke], Altona 1805, S. 290. Laurette von der Oehe: Lieder-Kranz. Herausgegeben zum Besten der Armen-Kinder-Stube in Bergen. Stralsund 1855. Die einzigen ausführlicheren biographischen Hinweise mit Quellentexten und Wertungsansätzen sind bei E. Wiedemann aus Garz und D.(?) Albrecht aus Bergen in ihren Aufsätzen in der »Rügenschen Heimat« zu finden (1934 bzw. 1929). Die Beschäftigung mit religiösen Ideen, Texten und Zeremonien war für die Frauen eine entscheidende Voraussetzung und Schule, sich schriftlich zu äußern. Barbara Becker-Cantarino sieht im religiösen Leben den möglichen »Schlüssel zur Individuation, zur beginnenden >Mündigkeit