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German Pages [257] Year 2019
S TÄ D T E F O R S C H U N G Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind (Hg.)
DIE MATERIELLE KULTUR DER STADT IN SPÄTMITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT
STÄDTEFORSCHUNG Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster begründet von Heinz Stoob
in Verbindung mit
U. Braasch-Schwersmann, M. Kintzinger, B. Krug-Richter, A. Lampen, E. Mühle, J. Oberste, M. Scheutz, G. Schwerhoff und C. Zimmermann
herausgegeben von
Werner Freitag Reihe A: Darstellungen Band 100
DIE MATERIELLE KULTUR DER STADT IN SPÄTMITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT
herausgegeben von
Sabine von Heusinger & Susanne Wittekind
2019 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Bahrtuchschild für die Passauer Salzschiffer, Ausschnitt, Passau 1574–1575. © München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. T 6870
© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Ria Hänisch Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Layout und Satz: Ria Hänisch, Münster Bildbearbeitung: T. Kniep, Münster
Gesetzt aus Stempel Garamond LT Pro 10pt.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51614-7
INHALT
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sabine von Heusinger / Susanne Wittekind Die materielle Kultur der mittelalterlichen Stadt – zur Einführung . . . . . . . .
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Julia A. Schmidt-Funke Die Stadt von den Dingen her denken. Zur Materialität des Urbanen . . . . . .
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Elisabeth Gruber Umb ain polsterziechen in das rathaus darauf der burgermaister sitzet. Dinge und Objekte in der städtischen Rechnungsüberlieferung . . . . . . . . . . .
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Susanne Wittekind Wappen in der Stadt – als Medien der Kommunikation von Adeligen, Patriziern und Gilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kirsten Lee Bierbaum Goslarer Ratsherren zwischen Kaisern und Sibyllen. Chronikalische Geschichte und Heilserwartung um 1500 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Olivier Richard Objekte bei städtischen Eidesleistungen im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Farbtafeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Julia Bruch aber es haben fil leÿtt drin glesen, das es sich schier will anfahen zerreÿssen, dan es ist nitt einbu͑ nden gwesen. Zur Materialität städtischer Chroniken des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Birgitt Borkopp-Restle Schätze auf Erden, das Jenseits im Blick – Städtische Gruppen und textile Repräsentation im Kirchenraum am Beispiel der Marienkirche zu Danzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anna Pawlik Der ritterliche Spitzenahn – Die Genealogie des Nürnberger Patriziats als bildliche Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Regula Schmid Der Harnisch im Haushalt. Waffen als Indikatoren und als Triebkräfte sozialen Wandels in der mittelalterlichen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jan Keupp Die Stadt dingfest machen. Resümierende Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur in Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VORWORT
Der vorliegende Band besteht aus Beiträgen, die erstmals beim 45. Frühjahrskolloquium des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster im März 2017 vorgetragen worden sind, das unter dem Thema „Die materielle Kultur der Stadt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“ stand. Wir danken allen Autoren und Autorinnen dafür, dass sie ihre Ideen mit uns auf der Tagung in Münster geteilt und anschließend hier verschriftlicht haben. Wissenschaft lebt vom Austausch: Und so danken wir auch allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung für Diskussionen und weiterführende Anmerkungen. Die Idee zur Tagung entsprang unserem gemeinsamen Interesse für Objekte aus dem Mittelalter; im interdisziplinären Dialog von Geschichte und Kunstgeschichte wollten wir „Dinge“ in den Mittelpunkt stellen, um mehr über die Stadt des Mittelalters zu erfahren. In den Beiträgen zeigt sich, wie notwendig das Überschreiten von Fächergrenzen für einen angestrebten „material turn“ ist. Bei unserem Vorhaben wurden wir tatkräftig vom Institut für vergleichende Städtegeschichte unterstützt: Unser Dank gilt besonders Prof. Dr. Werner Freitag und seinem Team sowie Ria Hänisch, die äußerst professionell das Lektorat des vorliegenden Bandes übernommen hat. Von Verlagsseite unterstützte uns kontinuierlich Johannes van Ooyen. Prof. Dr. Jan Keupp danken wir für eine Zusammenfassung der Ergebnisse, die den Band abrundet. Ihnen allen gilt unser großer Dank! Köln im Mai 2019
Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind
ADRESSEN
Dr. Kirsten Lee Bierbaum Kunsthistorisches Institut der Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln [email protected] Dr. Julia Bruch Historisches Institut der Universität zu Köln Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln [email protected] Prof. Dr. Birgitt Borkopp-Restle Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern Mittelstrasse 43 CH-3012 Bern [email protected] Dr. Elisabeth Gruber Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit an der Universität Salzburg Körnermarkt 13 A-3500 Krems an der Donau [email protected] Prof. Dr. Jan Keupp Historisches Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Lehrstuhl für Mittelalterl. Geschichte III Domplatz 20-22 D-48143 Münster [email protected] Dr. Anna Pawlik Generalvikariat des Erzbistums Köln Stabsstelle Erzdiözesanbaumeister Marzellenstr. 32 D-50668 Köln [email protected]
Prof. Dr. Olivier Richard Université de Strasbourg Faculté des Sciences Historiques Palais Universitaire 9 place de l’Université F-67084 Strasbourg Cedex [email protected] Prof. Dr. Regula Schmid Keeling Historisches Institut der Universität Bern Geschichte des Mittelalters Länggassstrasse 49 CH-3000 Bern 9 [email protected] PD Dr. Julia A. Schmidt-Funke Sammlungs- u. Forschungsverbund Gotha Schloss Friedenstein D-99867 Gotha [email protected] Prof. Dr. Sabine von Heusinger Historisches Institut der Universität zu Köln Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln [email protected] Prof. Dr. Susanne Wittekind Kunsthistorisches Institut der Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln [email protected]
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN
AM Apk AVES BGB BSB DHM Dn Ez FreibGbll FT Gen GNM HLS HRR Hs. HZ JbVGWien JbWirtschG Jes Joh KBR LexMA Lk Mal MGH MIÖG Mt MVGN NF Num PfA Ps QW RhVjbll RhWestfZVkd
Archives Municipales Apokryphen Archives de la ville et de l’Eurométropole de Strasbourg Bebilderte Geschlechterbücher Bayerische Staatsbibliothek Deutsches Historisches Museum Daniel Ezechiel Freiburger Geschichtsblätter Farbtafel Genesis Germanisches Nationalmuseum Historisches Lexikon der Schweiz Heiliges Römisches Reich Handschrift Historische Zeitschrift Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jesaja Johannes Bibliothèque royale de Belgique Lexikon des Mittelalters Lukas Malachias Monumenta Germaniae Historica Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Matthäus Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Neue Folge Numeri Pfarrarchiv Psalmen Quellenwerk (siehe auch Literaturverzeichnis) Rheinische Vierteljahrsblätter Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde
10 So SSRQ LU StaatsA StaatsABS StadtAN Taf. UAF UB VD 16 WienGbll WStLA HA Urk Za ZAK ZHF ZVkd
Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen
Sophonias Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern Staatsarchiv Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt Stadtarchiv Nürnberg Tafel/Tafeln Universitätsarchiv Freiburg i. Br. Universitätsbibliothek Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts Wiener Geschichtsblätter Wiener Stadt- und Landesarchiv, Hauptarchiv Urkunden Zacharias Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte Zeitschrift für historische Forschung Zeitschrift für Volkskunde
DIE MATERIELLE KULTUR DER MITTELALTERLICHEN STADT – ZUR EINFÜHRUNG Sabine von Heusinger & Susanne Wittekind
Der „material turn“ ist inzwischen auch in der Stadtgeschichtsforschung angelangt – und damit eröffnet sich ein neuer Blick auf vormoderne Objekte wie Alltagsgegenstände, Bücher oder Waffen und Werkzeuge. All diese Dinge wurden auch schon in der älteren Forschung untersucht, neu ist jedoch die Hinwendung zum Artefakt samt seinen Entstehungs- und Nutzungsbedingungen. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung im März 2017 zurück, bei der Kunsthistoriker*innen und Historiker*innen in den Dialog traten und sich, vom jeweils eigenen Fach ausgehend, Objekten zuwandten.1 Für Historiker*innen ist die Hinwendung zum „Ding“ immer noch gewöhnungsbedürftig, da sie traditionell mit Schriftzeugnissen arbeiten und den Umgang mit Realien gerne den vormals sogenannten „Hilfswissenschaften“ überließen. Kunsthistoriker*innen setzen sich hingegen schon immer mit Artefakten auseinander, insbesondere mit künstlerisch gestalteten Werken für Eliten. Dabei legten sie häufig den Fokus auf die Kreation und spezifische Gestaltung des Objektes und damit auf seine ästhetischen Qualitäten. Erst in jüngerer Zeit werden verstärkt die Materialien, die Nutzung der Objekte und ihre späteren Veränderungen thematisiert.2 Auch andere Disziplinen wie die Ethnologie oder Archäologie haben sich schon immer primär mit Materiellem beschäftigt – sie tun sich aber häufig mit der historischen Kontextualisierung der Objekte schwer oder vermeiden sie kom-
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Leider konnten nicht alle Beiträge der Tagung verschriftlicht werden und so mussten wir auf Beiträge zu profanen Wandmalereien, Münzen, Universitätszeptern sowie zu Objekten von Führungsfamilien verzichten. 2 Georg Ulrich Grossmann, The Challenge of the Object, in: Ders. (Hg.), Die Herausforderung des Objekts. 33rd Congress of the International Committee of the History of Art, Nuremberg, 15th – 20th July 2012, Nürnberg 2013, S. 26–31. Aktuelle Tagungen aus dem Jahr 2018 zeigen ebenfalls dieses neue Interesse am Objekt, siehe die von Philippe Cordez organisierte Tagung des Deutschen Forums Kunstgeschichte in Paris „L’histoire de l’art et les objets“ und den Workshop der Universität Tübingen „Zur Sache! Objektwissenschaftliche Ansätze der Sammlungsforschung aus disziplinärer, wissenschaftsgeschichtlicher und überfachlicher Perspektive“ von Ernst Seidl; selbst der 35. Deutsche Kunsthistorikertag 2019 steht unter dem Titel „Zu den Dingen“: https://kunsthistorikertag.de/ [19.01.2019].
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Sabine von Heusinger & Susanne Wittekind
plett.3 Die Hinwendung zu Objekten im kulturwissenschaftlichen Sinn fand in der angelsächsischen Forschung bereits Ende der 1990er Jahre unter dem Schlagwort material culture studies statt; 4 seit rund 15 Jahren ist sie auch in der deutschsprachigen Forschung erfolgt.5 Neuere Beiträge der Sozialanthropologie bzw. Soziologie machen sich stark dafür, dass materiellen Objekten sogar Handlungsmacht (agency) innewohnen kann, wenn sie in Beziehung zum Menschen treten.6 Aus dieser Beziehung zwischen Mensch und Ding in seiner jeweiligen Umwelt entwickelt sich demnach ein Prozess, bei dem agency entsteht. Weder Menschen noch Dinge verfügen von sich aus über 3
Grundlegend dazu Hans-Peter Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin ²2014; er spricht sich hier vehement für eine Hinwendung zu Alltagsgegenständen als Untersuchungsobjekte aus, z.B. S. 18f.: „Gerade die Dinge des Alltags, die oft übersehen werden, die geringen Dinge [...] zeigen mitunter mehr über die Komplexität des Themas materielle Kultur als die wenigen hoch signifikanten, mit Bedeutung aufgeladenen Dinge.“ Siehe auch: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, hg. v. Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans-Peter Hahn, Stuttgart 2014; siehe dort besonders die Beiträge von Andreas Ludwig zur Geschichtswissenschaft, S. 287–292; sowie von Haidy Geismar u.a. zu material culture studies, S. 309–315, die jedoch z.T. den Stand von 1996 wiedergeben. Immer noch von Interesse: Ruth-E. Mohrmann, Methoden der Stadtgeschichtsforschung aus volkskundlicher Sicht, in: Fritz Mayrhofer (Hg.), Stadtgeschichtsforschung – Aspekte, Tendenzen, Perspektiven, Linz/Donau 1993, S. 197–213; sowie ihre Abschiedsvorlesung: Können Dinge sprechen?, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 56 (2011), S. 9–24. 4 Hier sei nur kurz auf einen der ersten Sammelbände in diesem neuen Feld hingewiesen, der noch stark von der Archäologie bestimmt war: W. David Kingery (Hg.), Learning from Things. Method and Theory of Material Culture Studies, Washington, DC 1996. 5 Das aktuelle Interesse am „material turn“ ist auch in Forschungsverbünden greifbar, so beispielsweise im Heidelberger SFB 933 zu „Materialen Textkulturen“, der seit 2011 von der DFG gefördert wird und einen Schwerpunkt auf Gesellschaften ohne massenhafte Textproduktion legt; bereits erschienen ist der Band von Thomas Meier/Michael R. Ott/Rebecca Sauer (Hg.), Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken; Einleitung und Gebrauchsanweisung, Berlin 2015; korrespondierend wurde die gleichnamige Buchreihe „Materiale Textkulturen“ mit open access gegründet. Zeugnis legt auch eine Sektion auf dem 50. Historikertag in Göttingen 2014 ab, die hier dokumentiert wurde: Marian Füssel/Rebekka Habermas (Hg.), Thema: Die Materialität der Geschichte, Köln 2015. Fassbar ist das Interesse an Materialität auch in den Doppeltagungen der Forschungszentren der Universitäten Erfurt und Gießen mit einem Schwerpunkt auf Früher Neuzeit und Neuzeit, aus dem der Sammelband hervorging: Annette C. Cremer/Martin Mulsow (Hg.), Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln 2017; hier wird die Hinwendung zu Objekten vor allem als „Materielle Kulturforschung“ verstanden, die dem „cultural turn“ hinzugerechnet wird, vgl. ebd. die Einleitung von Cremer, Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland, S. 9–21; zum Verhältnis zwischen Materialität und „cultural history“ siehe auch Richard Grassby, Material Culture and Cultural History, in: Journal of Interdisciplinary History 35 (2005), S. 591–603. Einen umfangreichen Forschungsüberblick zur internationalen Forschung bietet Dan Hicks, The Material-Cultural Turn. Event and Effect, in: Dan Hicks/Mary C. Beaudry (Hg.), Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010, DOI: 10.1093/oxfordhb/9780199218714.013.0002. Ablesbar ist dieser methodische Wandel auch am neuen Forschungsprofil des 1969 begründeten, interdisziplinären Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit – vgl. http://www.imareal.sbg.ac.at/home/institut/leitbild/ [Stand: 19.01.2019]. 6 Siehe dazu Angeliki Karagianni/Jürgen Paul Schwindt/Christina Tsouparopoulou, Materialität, in: Rebecca Sauer/Michael R. Ott/Thomas Meier (Hg.), Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin 2015, S. 33–46, z.B. S. 36f. Vgl. auch den Sammelband von Carl Knappett/ Lambros Malafouris (Hg.), Material Agency – Towards a Non-Anthropocentric Approach, New York 2008, darin besonders den Beitrag von Carl Knappett, The Neglected Networks of Material Agency. Artefacts, Pictures and Texts, S. 139–158.
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agency, sondern erst durch die Verbindung zwischen beiden formt sie sich – wenn beispielsweise bei einem ritualen Umgang ein Reliquienschrein unter einem Baldachin von den städtischen Eliten durch den Stadtraum getragen wird. Alfred Gell betonte bereits Ende der 1990er Jahre die social agency, wenn ein Objekt den Betrachter oder Nutzer emotional berührt und ihn zu Handlungen inspiriert.7 Der „material turn“ bietet zudem die Möglichkeit der Erforschung von historischen Gesellschaften, die kein oder nur ein eingeschränktes Schriftgedächtnis hinterlassen haben. Dies kann in der Gesellschaftsform begründet sein, die schriftlos war; dies kann auch die Folge von Krieg sein, so beispielsweise die Zerstörung der Stadtbibliothek in Straßburg im Deutsch-Französischen Krieg 1870, oder die Konsequenz einer zivilen Katastrophe wie jüngst der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im Jahr 2009.8 Die mittelalterliche Gesellschaft war eine Mangelgesellschaft, die nichts ungenutzt entsorgte – ganz anders als industrielle Gesellschaften mit ihrem Massenkonsum. Dies erklärt auch, warum bestimmte Objekte so selten überliefert sind: So wurden gebrauchte Textilien, seien es Kleidung oder Paramente, in der Regel aufgearbeitet, umgearbeitet, verschenkt, vererbt – bis schließlich das gesamte Textil aufgebraucht war und uns heute als überliefertes Objekt fehlt.9 Mittelalterliche Testamente bezeugen, über wie wenig Besitz die Zeitgenossen verfügten – selbst die Angehörigen der Führungseliten.10 Materielle Dauerhaftigkeit macht Artefakte zu Wissensspeichern, die durch ihre langjährige Nutzung und Sichtbarkeit auch von kulturellen Praktiken wie Traditionen oder Riten berichten können. Sie sind Veränderungen, Umnutzungen und Umdeutungen ausgesetzt und können damit eine neue Funktion erhalten. Diese „Meta7
Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998, bes. S. 17f.: Social agency can be exercised relative to ‚things‘ and social agency can be exercised by ‚things‘ (and also animals). Im Folgenden geht er auf die Beziehung zu Puppen bei Kindern, zu Skulpturen von Michelangelo bei Erwachsenen und zu Autos bei Männern ein und untersucht, welche Emotionen dabei im Spiel sind. 8 Siehe exemplarisch die Überlegungen zum Archiv als Gedächtnisort bei Bettina Schmidt-Czaia/ Ulrich S. Soénius, (Hg.), Gedächtnisort. Das Historische Archiv der Stadt Köln, Köln 2010. Zum Verlust in Straßburg siehe Jean Rott, Les Sources et grandes lignes de l’histoire des bibliothèques publiques de Strasbourg détruites en 1870, in: Cahiers alsaciens d’archéologie, d’art et d’histoire 15 (1971), S. 145–180. 9 Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240 (1985), S. 529–579. 10 Siehe beispielsweise Uta Reinhardt (Bearb.), Lüneburger Testamente des Mittelalters 1323 bis 1500, Hannover 1996. Zu den Vorbehalten gegenüber der Edition wie auch der Einleitung siehe die Rezension dieses Bandes von Gabriela Signori in: ZHF 26 (1999), S. 413f. Vgl. dagegen Katherine Anne Wilson, ‚In the Chamber, in the Garde Robe, in the Chapel, in a Chest‘. The Possession and Uses of Luxury Textiles. The Case of Later Medieval Dijon, in: Bert Lambert/Dies. (Hg.), Europe’s Rich Fabric. The Consumption, Commercialisation, and Production of Luxury Textiles in Italy, the Low Countries and Neighbouring Territories (Fourteenth-Sixteenth Centuries), London 2016, S. 11–34. Am Beispiel von Juwelen konnte Kim Siebenhüner jüngst zeigen, wie eine zunehmende Globalisierung in der frühneuzeitlichen Welt auch den Umgang mit Dingen und ihre kulturelle Bedeutung veränderte, siehe dies., Die Spur der Juwelen. Materielle Kultur und transnationale Verbindungen zwischen Indien und Europa in der Frühen Neuzeit, Köln 2017.
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morphosen“ können zu einer geänderten Bedeutung führen.11 Objekte können auch von Umbrüchen und Innovationen berichten – wenn etwa im Handwerk plötzlich Produkte seriell angefertigt werden und nicht mehr auf individuelle Bestellung entstehen – seien es Pilgerzeichen, Kölner Borten oder Bodenkacheln.12 So sinnvoll eine Konzentration auf Objekte auch sein mag – erst die historische Kontextualisierung in die vormoderne Gesellschaft führt zu weiteren Erkenntnissen für die Stadtgeschichtsforschung. Idealerweise bezieht sich ein geschichtswissenschaftlicher Beitrag zum „material turn“ auf ein existierendes und überliefertes „Ding“ – häufig müssen wir aber mit Textquellen vorliebnehmen, da die Objeke nicht überliefert sind.13 Gleiches gilt für realienkundliche Auswertungen von Bildzeugnissen, die sich nur auf abgebildete Dinge beziehen können, da die Objekte selbst gar nicht erhalten sind. Was auch wir schuldig bleiben müssen, ist die materielle Analyse der Objekte – und so zeigt auch unser Beitrag, dass der „material turn“ methodisch noch weiterentwickelt werden muss.
Überblick über die Beiträge Dinge sind immer Zeichen und Zeugen einer vergangenen Kultur – so das Diktum von Gudrun König.14 Unser Anliegen war es, den Blick auf bisher weniger beachtete Dinge innerhalb der mittelalterlichen Stadt zu legen und nach deren kultureller Funktion, Repräsentation und sozialen Praxis zu fragen. Artefakte können, wie schriftliche oder bildliche Quellen, Auskunft zur Wirtschafts- und Technikgeschichte geben, aber auch zu „abstrakten Konzepten“ wie Herrschaft, Recht, Re-
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So zeigt Christina Normore, A Feast for the Eyes: Art, Performance and the Late Medieval Banquet, Chicago/Ill. 2015, wie eine säkulare burgundische Tafelzier zum Ursula-Reliquiar umgearbeitet und schließlich im Krönungszeremoniell eingesetzt wurde. 12 Z.B. Hartmut Kühne (Hg.), Das Zeichen am Hut im Mittelalter. Europäische Reisemarkierungen, Symposion in memoriam Kurt Köster (1912–1986) und Katalog der Pilgerzeichen im Kunstgewerbe museum und im Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin, Frankfurt a. M. 2008; Marita Bombek/Gudrun Stracke-Sporbeck, Kölner Bortenweberei im Mittelalter. Corpus Kölner Borten. Mit einem Beitrag und textiltechnischen Analysen von Monika Nürnberg, Regensburg 2012; zur spätmittelalterlichen (Massen-)Produktion von Bodenkacheln siehe Elizabeth S. Eames, Catalogue of Medieval Lead-Glazed Earthenware Tiles in the Department of Medieval and Later Antiquities, 2 Bde., London 1980. 13 Überzeugende Beispiele bieten: Jan Keupp/Romedio Schmitz-Esser (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern 2015; idealtypisch löst diese Forderung der Beitrag zur Männerunterhose (bruoch) ein, dazu Beatrix Nutz/Harald Stadler, Gebrauchsgegenstand und Symbol. Die Unterhose (Bruoch) aus der Gewölbezwickelfüllung von Schloss Lengberg, Osttirol, in: ebd., S. 221–250. 14 Gudrun König, Auf dem Rücken der Dinge. Materielle Kultur und Kulturwissenschaft, in: Kaspar Maase/Bernd J. Warneken (Hg.), Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Köln 2003, S. 95–118, hier S. 96.
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präsentation oder Frömmigkeit. Selbst Fragen nach sozialer Gruppenzugehörigkeit, nach Geschlecht oder nach institutioneller Identität können anhand von Kleidung, Wappen, Grabsteinen oder Kriegswerkzeug ausgelotet werden. Im Folgenden wollen wir nur knapp die Themen des Bandes benennen, da am Ende eine Zusammenfassung von Jan Keupp steht: Julia Schmidt-Funke wendet sich den mobilen Dingen in der Stadt zu. Ihre methodischen Überlegungen gelten einerseits der Rolle und Bedeutung mobiler Dinge in den Prozessen städtischer Vergemeinschaftung und hinsichtlich der Formierung und Abgrenzung von Gruppen in der Stadt. Sie betrachtet somit Dinge als „Requisiten auf der Bühne des Sozialen“. Doch fordert sie andererseits auf, Dinge nicht nur als Bedeutungsträger, sondern auch als Komponenten sozialer Praktiken wahrzunehmen. Den Fokus richtet sie dabei auf das spezifisch Städtische dieser Dingkulturen, das sie u.a. durch die Verfügbarkeit von Konsumgütern wie kulturellen Kapitals in Form von Bibliotheken, Kunst und Sammlungen geprägt sieht. Die durch Dinge markierte Absetzung von ländlichen wie höfisch-ritterlichen Lebensformen zeigt sie exemplarisch anhand der Ratsherrentracht im Augsburger Monatsbild auf. Als Beispiel für das Zusammenspiel typisch städtischer Dinge, Praktiken und (schriftlicher) Organisationsformen zieht sie Bestimmungen des Frankfurter Stadtrechts zu bürgerlichem Harnisch- und Waffenbesitz (und Schießübungen) heran, die städtische Wehrhaftigkeit und Selbstbewusstsein demonstrieren. Da gerade die mobilen Dinge der Stadt nur selten (vor Ort) erhalten sind, ruft sie dazu auf, die schriftlichen städtischen Quellen mit Blick auf die Dinge (in) der Stadt neu zu lesen. Elisabeth Gruber macht auf die städtischen Rechnungsbücher als Quelle für die materielle Kultur der Stadt aufmerksam, insbesondere mit Blick auf die Rolle der Objekte in der städtischen Kommunikation und deren Repräsentation. Die Kosten einträge des Wiener Kammeramtsschreibers dienen nicht nur der Ausgabenkontrolle des Amtsträgers, sondern sie geben darüber hinaus auch vielfältige Auskünfte über die Innenausstattung von Ratskapelle, Rats- und Amtsstuben. So lassen die Angaben zu Wert, Material und Farben neuer Polster für den Ratssaal die Sitzordnung des Rates erkennen. Hierarchien werden durch Materialität visuali siert. Die verschiedenen darin verzeichneten Maßnahmen infolge der Besserung des Stadtwappens 1461 – d.h. die Erneuerung der Wappen tragenden Tartschen, Glasfenster und Schlusssteine im Versammlungsraum, eine neue Büchse für das große Majestätssiegel, aber auch die Anschaffung glasierter Kachelöfen – zeigen den in diesen Dingen öffentlich präsentierten Anspruch des Rats. Die vorausgegangenen konzeptionellen Überlegungen werden im Beitrag von Susanne Wittekind am Thema Wappen erprobt. Diese identitätsstiftenden Zeichen finden sich im gesamten Stadtraum. Unterschiedliche soziale Gruppen werden dafür in verschiedenen ‚case studies‘ untersucht: Die Herren von Ysenburg als adlige Stadtherren von Büdingen; die Zeichen der Patrizier an der Durchfahrt zum Nürnberger Hof in der Reichsstadt Frankfurt und die Versammlungsräume der Kauf leute in der St. Mary’s Guildhall in Coventry, deren Räume auch vom Rat der Stadt genutzt wurden. Das Beispiel dieser Guildhall steht im Zentrum des Beitrags. Hier
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wird gezeigt, wie mithilfe von Heraldik der eigene Platz in der englischen Geschichte und Gesellschaft konstruiert wird, den sowohl der Rat von Coventry als auch die Trinity-Gilde für sich beanspruchen. Bemerkenswert ist, dass die Trinity-Gilde weder eigene Wappen oder Bildzeichen benutzt, um ihre Eigentümerschaft in der Guildhall an Wänden, Decken oder Glasfenstern zu betonen: Die Mitglieder der Gilde ziehen es vielmehr vor, auf hochadlige „Wappenträger“ zu verweisen, um sich dort einzureihen. Kirsten Lee Bierbaum untersucht den „Huldigungssaal“ des Goslarer Rathauses als begeh- und wandelbaren Bilder- und Handlungsraum. In ihm werden die Ratsherren, die im Gestühl unterhalb der lebensgroßen Kaiser und Sibyllen Platz nehmen, zum Teil dieser zeitlosen Versammlung von Herrschern und weisen Frauen. Deren inschriftliche Prophezeiungen deuten die auf der Saaldecke dargestellte Geburt Christi, verweisen jedoch auch auf seine Wiederkunft. Diese tritt erst in Erscheinung, wenn die bemalten Kapellentüren geöffnet werden. Auf deren Innen seiten treten Schmerzensmann und Schmerzensmadonna vor die Ratsherren und mahnen sie zur compassio, mit Blick auf das hinter ihnen erscheinende Weltgericht auch zur Reflexion ihrer Taten und Urteile. Olivier Richard stellt die Frage nach den Objekten bei Eidesleistungen und kommt zu einer Fülle völlig neuer Beobachtungen und Resultate. In den Eiden sieht er den Ursprung der mittelalterlichen Stadt als politische Einheit, die schließlich in den Quellen conjurationes genannt werden. Die älteren Studien zum Eid ignorierten die materielle Seite der Eidesleistung ebenso wie die Ritualforschung. Er kann am Beispiel des Eides zeigen, dass die Kraft des Wortes nicht genügte: Beim Eid musste es von Gegenständen oder Gesten begleitet sein, damit ihm seine bindende Kraft zukam. Im 14. Jahrhundert wurden in den Städten noch res sacrae bei den Eidesleistungen eingesetzt; im 15. Jahrhundert wollte die städtische Obrigkeit jedoch Objekte verwenden, die sie selbst kontrollieren konnte. Die Gebrauchsspuren an städtischen Schriftstücken – seien es mittelalterliche Statutenbücher, Schwörbriefe oder Urkunden – legen bis heute eindrücklich Zeugnis davon ab, welche Rolle Objekte bei der Eidesleistung spielten. Julia Bruch wendet den Ansatz der material philology auf städtische Handwerkerchroniken an: (literatur-)historische Einordnungen der Texte und ihrer Autoren werden mit einer materialwissenschaftlichen Untersuchung der Manuskripte kombiniert. Der Ulmer Schuhmachermeister Sebastian Fischer († 1554) verfasste eine städtische Chronik, die eine Mischung aus Weltchronistik und Geschichte seiner Zeit liefert und die er mit eigenen Zeichnungen ausschmückte und mit Flugblättern ergänzte. Der Handwerksmeister Dionysius Dreytwein († 1576) verfasste eine Esslinger Chronik, die vor allem das Zeitgeschehen kommentierte und ebenfalls mit Zeichnungen versehen wurde. Erst die Kombination aus exakter Auswertung des Inhalts mit einer genauen materiellen Untersuchung von Buch, Bindung, Schrift, Tinte samt den Zeichnungen ermöglicht Aussagen zur Textgenese sowie der Verfasserintention und möglichen Lesern. In diesem Beitrag wird deutlich, dass die Un-
Die materielle Kultur der mittelalterlichen Stadt – zur Einführung
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tersuchung von Originalhandschriften in Bezug auf grundsätzliche Fragen zu vormoderner Schriftlichkeit zweifelsfrei ihren Erkenntnismehrwert im Vergleich zur Arbeit mit Digitalisaten behalten wird. Den textilen Schatz der Marienkirche in Danzig erschließt Birgitt Borkopp-Restle als Zeugnis der Wohlhabenheit und der weitreichenden Verbindungen der Danziger Fernkaufleute, die ihre Kirche so reich beschenkten. Denn der Schatz enthält Paramente, die aus kostbaren Stoffbahnen goldgemusterter Seidenstoffe aus Zentralasien gefertigt sind, andere stammen aus italienischen Seidenmanufakturen. Figürlich bestickte Kaselstäbe und Chormantelbesätze richten einzelne Paramente motivisch auf bestimmte Festtage des Kirchenjahres aus; sie zeigen durch ihre Herkunft aus renommierten Werkstätten zugleich das Prestige der Auftraggeber. Diese sind oft durch gestickte Wappen angegeben, so beispielsweise die Georgenbruderschaft der Fernkaufleute, aber auch einzelne Bürgermeister und Ratsherren haben sich hier verewigt. Die von ihnen gestifteten liturgischen Gewänder blieben auch nach Einführung der Reformation in Danzig noch lange in Gebrauch und wurden schließlich als Teil des historischen Erbes der Stadt bewahrt. Anna Pawlik fragt nach der Rolle von Objekten in der Konstruktion alten Herkommens und ritterlicher Abkunft bei Nürnberger Patrizierfamilien. So rekurrieren deren frühneuzeitliche Familien- und Geschlechterbücher immer wieder auf die in den Nürnberger Kirchen erhaltenen Totenschilde als historische Sachzeugen; die historiographische Erzählung nimmt bei diesen von einem (legendarischen) Nürnberger Turnier 1198 ihren Ausgang. Doch auch Bildformeln haben Anteil an der Legitimation und Überhöhung familiärer Abkunft, wie Pawlik anhand der Adaption des Wurzel-Jesse-Motivs für die Darstellung von Nürnberger Familienstammbäumen mit dem schlafenden Urahn zeigt, die für genealogische Tafeln, aber auch auf Epitaphien und Willkommpokale genutzt wird. Die Objekte dienen hier der retrospektiven Ahnenschaffung und Korrektur bzw. Besserung der familiären Abstammung, d.h. der Vergewisserung der eigenen Abkunft, zugleich deren Repräsentation und der Demonstration des Ranges der Familie innerhalb der städtischen Gesellschaft. Der städtische Waffenbesitz steht im Zentrum von Regula Schmids Beitrag. Sie betont, dass die Besitzer der Waffen – Männer, Frauen und Kinder – nicht identisch mit den Nutzern waren: Der Einsatz von Waffen war ausschließlich Männern vorbehalten. Der Besitz dieser Objekte im Haushalt verortete den Bürger im rechtlichen, sozialen und politischen Gefüge der Stadt: In den armen Haushalten waren die Waffen häufig unvollständig oder gar unbrauchbar; bei den führenden Familien standen sie hingegen vollständig und gut gepflegt zum Einsatz bereit. Im Kriegsfall wurden diese individuellen Ausrüstungsteile durch Waffen ergänzt, die kommunale Sammlungen zur Verfügung stellten. So zeigt Schmid Waffen als Indikatoren für den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse, die eine männlich dominierte Kriegergesellschaft entstehen lassen. In diesem Beitrag wird deutlich, dass selbst im Militärwesen, zu dem es eine so reiche Überlieferung an Gegenständen gibt, längst nicht alle Objekte überlebt haben, die für die Studie eines bestimmten geograpischen Raumes nötig wären, sondern schlussendlich Texte zentrale Quellen sind, die herangezogen werden müssen.
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Sabine von Heusinger & Susanne Wittekind
Der Band wird durch eine Zusammenfassung von Jan Keupp beschlossen. Die vorliegenden Beiträge sollen zu einer objektbasierten Kulturanalyse beitragen, die anhand von Objekten und Artefakten die Verflechtung von materiellen, kulturellen, religiösen, sozio-politischen und wirtschaftlichen Aspekten einer Zeit und eines Ortes erschließt und damit für die Stadtgeschichte der Vormoderne neue Forschungsfelder eröffnet.
DIE STADT VON DEN DINGEN HER DENKEN. ZUR MATERIALITÄT DES URBANEN Julia A. Schmidt-Funke
1. Die Materialität des Urbanen Gibt es eine spezifische Materialität des Urbanen? Zuerst denkt man bei dieser Frage sicherlich an die den urbanen Raum konstituierende bauliche Gestalt einer Stadt, an Häuser, Plätze und Mauern. Die Beschäftigung mit der städtischen Architektur – sei es in situ oder in historischen Repräsentationen von Stadt – ist daher auch mit Recht ein zentraler Ansatz stadthistorischer Forschung, der dank der jüngeren raumsoziologischen Theoriebildung noch einmal an Erkenntnispotenzial gewonnen hat. Der im Folgenden zu unternehmende Versuch, die Stadt von den Dingen her zu denken, setzt jedoch einen etwas anderen Akzent und geht damit über die gebaute Stadt hinaus. Auch wenn sich Gebäude im weitesten Sinn als Dinge bezeichnen lassen, sind es doch eher kleinere, bewegliche Objekte, die mit dem Begriff des Dings assoziiert werden oder die zumindest hier als solche in den Blick genommen werden sollen.1 Der Fokus richtet sich also auf Mobilien anstatt auf Immobilien, um eine für die Vormoderne zentrale und für die heutige Analyse relevante Rechtskategorie aufzugreifen.2 Gleichwohl bildet der gebaute bzw. umbaute Raum als Ort, an dem Dinge aufbewahrt, arrangiert und gebraucht werden, einen unbedingt zu berücksichtigenden Faktor,3 zumal sich bei niet- und nagelfesten Raumausstattungen wie einer Stubenvertäfelung die Grenzen ohnehin verwischen.4
1
Eine klare Definition besteht nicht, und andere Begriffe wie Gegenstand und Objekt werden in der Forschung synonym verwendet. Vgl. Ruth-E. Mohrmann, Können Dinge sprechen?, in: RhWestfZVkd 56 (2011), S. 9–24, hier S. 13. 2 Vgl. Mobilien, Mobilia, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 21, Leipzig/Halle 1739, Sp. 678. 3 Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Städtische Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit, in: Das Haus in der Geschichte Europas. Sozialer Raum, Identitätsort, Ordnungskonzept. Ein Handbuch, hg. v. Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges, München 2015, S. 215–231. 4 Vgl. dazu den Beitrag von Kirsten Lee Bierbaum zum Goslarer Huldigungssaal in diesem Band.
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Julia A. Schmidt-Funke
Die Beschäftigung mit den Dingen hat innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften einen enormen Aufschwung erlebt, indem sich in den letzten Jahren auch solche Disziplinen der Analyse materieller Kultur zugewandt haben, die sich lange Zeit kaum dafür interessierten, weil sie sich traditionell mit Texten befassten.5 In der Geschichtswissenschaft ist aus dieser Hinwendung zu den Dingen ein produktives Forschungsfeld entstanden, das alle Epochen umfasst.6 Im Sinne Doris Bachmann-Medicks lässt sich dies durchaus als eine kulturelle Wende,7 eben als ein „material turn“ begreifen, denn mit dem gestiegenen Interesse geht ein Perspektivwechsel einher, der dem Materiellen bzw. der Materialität eine grundsätzliche Relevanz für die Analyse des Sozialen zubilligt: Menschliches Handeln ist durch die Dinge und ihre unhintergehbare Stofflichkeit immer materiell präfiguriert.8 Gudrun König hat bereits 2003 dafür plädiert, Materialität und materielle Kultur als „eine spezifische Art und Weise der Kulturanalyse“ zu verstehen, „die Gegenstände, Objekte, Dinge als Primärquellen ebenso nutzt wie ihre symbolischen Bedeutungsfelder.“9 Nehme man den Begriff der materiellen Kultur ernst, müsse die Analyse über die Rekonstruktion von Sachuniversen und Dingwelten hinausgehen, denn der Terminus biete den Vorteil, dass er mitführe, worauf er verweise: „nämlich den Handlungsrahmen und das Handlungsgefüge der Kultur.“10 Materielle Kultur definiert demnach keinen Untersuchungsgegenstand im Sinne einer klar zu fassenden Menge oder Art von Dingen, sondern stellt in erster Linie eine Perspektive dar, die dank einer methodisch-theoretischen Erweiterung einen alternativen Blick öffnet. Für die Konzeption einer ‚materialisierten Kulturgeschichte‘ der Stadt11 ergibt sich daraus die Frage, was sich mithilfe der materiellen Kultur Neues über die Stadt und das Städtische herausfinden lässt. Gerd Schwerhoff hat kürzlich für eine stadtgeschichtliche Forschung plädiert, die nicht mehr oder weniger zufällig ihren Untersuchungsgegenstand in der Stadt findet (und ihn fast genauso gut in anderen Zusammenhängen aufsuchen könnte), sondern sich stattdessen darum bemüht, etwas über 5
Zum interdisziplinären Forschungsstand vgl. Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen, hg. v. Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans Peter Hahn, Stuttgart 2014. 6 Inzwischen liegt eine Reihe von Neuerscheinungen vor. An deutschsprachigen Forschungsüberblicken vgl. u.a. Jan Keupp/Romedio Schmitz-Esser, Einführung in die „Neue alte Sachlichkeit“: Ein Plädoyer für eine Realienkunde des Mittelalters in kulturhistorischer Perspektive, in: Dies. (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern 2015, S. 9–46; Andreas Ludwig, Geschichtswissenschaft, in: Handbuch Materielle Kultur, S. 287–292; Kim Siebenhüner, Things that matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: ZHF 42 (2015), S. 373–409. 7 Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 52014. 8 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, in: Friederike Elias/Albrecht Franz/Henning Murmann/Ulrich Wilhelm Weiser (Hg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin 2014, S. 13–25. 9 Gudrun König, Auf dem Rücken der Dinge. Materielle Kultur und Kulturwissenschaft, in: Kaspar Maase/Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 95–118, hier S. 116. 10 Ebd., S. 116. 11 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, in: Elias/Franz/Murmann/Weiser (Hg.), Praxeologie, S. 13–25.
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das Wesen der Stadt bzw. einer konkreten Stadt herauszufinden.12 Daraus lässt sich für die materielle Kultur der Stadt die erkenntnisleitende Unterscheidung ableiten, inwiefern es sich bei den jeweils untersuchten Objekten um Dinge in der Stadt oder um Dinge der Stadt handelt. Was heißt es unter diesen Bedingungen, die historische Stadt von den Dingen her zu denken? Es heißt zum Beispiel, die Bedeutung von Dingen in Prozessen städtischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu analysieren.13 Anhand der materiellen Kultur lässt sich genauer beleuchten, wie sich einzelne Gruppen in der Stadt formierten, seien es Familienverbände wie das Patriziat, Korporationen wie Zünfte oder Schützengesellschaften, Glaubensgemeinschaften oder Jugendcliquen, oder auch die Gesamtheit der verbürgerten Bevölkerung oder sogar aller in einer Stadt lebenden Menschen. In dieser Perspektive geht es also wesentlich um Identitäten der Stadtbevölkerung, um verschiedene Rollen und Zugehörigkeiten, um das Zusammenspiel von Distinktion und Kohäsion. Geradezu zwangsläufig sind solche Dynamiken anhand materieller Hervorbringungen zu analysieren, weil soziale Positionen und soziale Ordnungen nichts Festgelegtes sind und insbesondere in der auf Anwesenheit ausgerichteten Vormoderne mit Dingen und Handlungen immer wieder bekräftigt bzw. infrage gestellt wurden. Rudolf Schlögl zufolge stellten der „Körper und die Dinge in ihrem Arrangement, der Raum und die Zeit“ die „zentralen Medien“ der „Interaktionskommunikation“ dar, aus der „die frühneuzeitliche Stadt sich als sozialer Körper formte.“14 Im Anschluss an Erving Goffmann lässt sich alternativ formulieren: Dinge waren Requisiten auf der Bühne des Sozialen.15 Die Stadt von den Dingen her zu denken, kann aber auch heißen, über die Existenz spezifisch städtischer Dingkulturen nachzudenken oder danach zu fragen, inwiefern Urbanität an die Verfügbarkeit und den Gebrauch bestimmter Dinge gekoppelt ist. Die Stadt kommt damit als Ort in den Blick, der gerade deshalb als Stadt wahrgenommen wird, weil hier eine vom Land abweichende Verfügbarkeit von Dingen besteht.16 Urbanität muss dabei als eine relationale Kategorie verstanden werden, die erst in der Abgrenzung des Städtischen vom Ländlichen greifbar wird und die stets eine zweifache Beobachtungsebene erfordert.17 Denn die vormoderne Stadt lässt sich erstens trotz einiger Sonder- und Zwischenformen als ein distinkter 12
Vgl. Gerd Schwerhoff, Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung, in: Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018, S. 11–40, hier S. 25. 13 Vgl. bspw. Patrick Schmidt, Wandelbare Traditionen – tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit, Köln 2009; Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800, Darmstadt 2006. 14 Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden in der frühneuzeitlichen Stadt und ihre politische Öffentlichkeit, in: Gerd Schwerhoff (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 29–37, hier S. 33. 15 Vgl. Keupp/Schmitz-Esser, Einführung, S. 34–35. 16 Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Die Stadt als Konsumgemeinschaft. Urbaner Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, in: Schmidt-Funke/Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n), S. 331–365. 17 Vgl. Dominik Kleinen/Cornelia Kühn, Urbane Aushandlungen. Die Stadt als Aktionsraum, in: Wolfgang Kaschuba/ Dominik Kleinen/Cornelia Kühn (Hg.), Urbane Aushandlungen. Die Stadt als Aktionsraum, Berlin 2016, S. 7–12, hier S. 8.
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Rechts- und Wirtschaftsraum fassen, in dem andere sozio-ökonomische Bedingungen bestanden als auf dem Land (und an diesem Befund ändert auch die Tatsache nichts, dass die Grenze zwischen Stadt und Land durchlässiger war, als dies lange Zeit angenommen wurde). Zweitens war die Stadt das Ergebnis eines Sinnbildungsprozesses, in welchem das Städtische als eine spezifische Lebensform konstruiert wurde. Urbanität wird „fassbar in den Mustern der Diskurse über die Stadt, mit kollektiven Sinnbildern und Zuschreibungen an das Gemeinwesen, seien diese vor Ort produziert oder aus dem Blickwinkel von Fremden entwickelt.“18 In diesem Sinn war die vormoderne Stadt in doppelter Hinsicht ein Ort der verfügbaren Dinge: sie bot aufgrund von Konsum und Besitz eine andere Dingverfügbarkeit und sie wurde über diese vom Land abweichende Dingverfügbarkeit als Stadt wahrgenommen. Bevor die hier benannten zwei Perspektiven unter der Überschrift „Dinge der Stadt“ bzw. „Stadt der Dinge“ weiter ausgeführt werden, soll zunächst noch ein kurzer Blick auf das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Materieller-Kultur-Forschung geworfen werden. Mit einem Fazit und Ausblick schließen die Ausführungen dann ab.
2. „Material turn“ und Geschichtswissenschaft Dinge als Gegenstände historischer Forschung ernst zu nehmen, ist keineswegs ein neuer Gedanke. Als Sachüberreste fanden Artefakte bereits in Droysens Systematik einen Platz, und geschichtswissenschaftliche Analysen, die Dinge als Marker des sozialen Status untersuchen, haben dank der soziologischen Klassiker von Veblen, Sombart oder Bourdieu bereits eine längere Tradition. Dennoch ist es eine jüngere Entwicklung, Geschichte dezidiert als material culture history zu schreiben.19 Was ist damit gemeint? Erstens stehen nun Dinge im Mittelpunkt der Untersuchung, d.h. sie werden nicht nebenbei thematisiert oder illustrativ verwendet, sondern zum Ausgangspunkt der Analyse bzw. Narration gemacht. Methodisch kann dies bedeuten, dass Dinge untersucht werden, die bis heute überliefert sind, es kann aber auch heißen, dass mithilfe schriftlicher oder bildlicher Quellen über Gegenstände geforscht wird, die heute nicht mehr erhalten sind. Für einige Fragestellungen hat sich zudem die Methode der Nachschöpfung bzw. der Arbeit mit Repliken etabliert.20
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Martina Stercken/Ute Schneider, Urbanität. Formen der Inszenierung, in: Dies. (Hg.), Urbanität. Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 11–20, hier S. 14. 19 Vgl. Leora Auslander, Beyond Words, in: The American Historical Review 110 (2005), S. 1015– 1045; Anne Gerritsen/Giorgio Riello (Hg.), Material Culture History, London/New York 2015; Karen Harvey (Hg.), History and Material Culture. A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources, London 2009; Laurel Thatcher Ulrich/Ivan Gaskell/Sara J. Schechner/ Sarah Anne Carter (Hg.), Tangible Things. Making History through Objects, Oxford 2015. 20 Zu den unterschiedlichen methodischen Zugriffen vgl. Annette C. Cremer, Vier Zugänge zu (frühneuzeitlicher) materieller Kultur: Text, Bild, Objekt, Re-enactment, in: dies./Martin Mulsow (Hg.),
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Zweitens interessieren Dinge nicht mehr nur als Zeichen für etwas, beispielsweise für den Machtanspruch sozialer Eliten, sondern es wird verstärkt danach gefragt, wie sie im Kontext der mit ihnen verbundenen Handlungen Wirkung entfalten. So ist von der jüngeren Forschung betont worden, dass Dinge keine passiven Zeichenträger sind. Die Bedeutung materieller Kultur sei, so der Ethnologe Hans Peter Hahn, „nichts für sich allein oder selbständig Vorhandenes, sondern eine Dimension der Dinge, die sich aus bestimmten Kontexten, also aus dem Umgang mit den Dingen erschließt.“21 In ähnlicher Weise spricht sich auch der Kultursoziologe Andreas Reckwitz dafür aus, Dinge als „notwendige Komponenten sozialer Praktiken“ zu denken: „Ihre soziale Relevanz besteht nicht allein darin, dass sie in spezifischer Weise interpretiert, sondern dass sie ‚gehandhabt‘ werden und damit die Gestalt einer jeweiligen sozialen Praktik erst möglich machen.“22 Den Dingen und der Materialität größeres Gewicht einzuräumen und Handeln als ein komplexes Gefüge von Menschen und materieller Kultur zu verstehen, ist am radikalsten von Bruno Latour eingefordert worden.23 Latour plädierte dafür, Dinge als den Menschen gleichgeordnete Entitäten innerhalb eines Netzwerks zu denken. Dieser durchaus als Provokation zu wertende Vorstoß war allerdings nicht vorrangig an die Materielle-Kultur-Forschung, sondern an die Wissenssoziologie und Technikforschung adressiert. Die daraus hervorgegangene Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bricht grundlegend mit der etablierten Vorstellung einer Subjekt-Objekt-Unterscheidung, und das macht es schwer, ihr mit dem gewohnten Vokabular zu folgen. Dass sich dies in der Geschichtswissenschaft durchsetzen kann, scheint fraglich, zumal sich schon die interdisziplinäre Materielle-Kultur-Forschung schwer mit der Akteur-Netzwerk-Theorie tut.24 So schreiben die Herausgeber des 2014 erschienenen „Handbuchs Materielle Kultur“: „Bezogen auf die Materielle Kultur besteht allerdings keinerlei Anlass, die Welt der Dinge – wie es in der Perspektive der ANT der Fall ist – nunmehr auf eine Handlungsebene mit dem Menschen zu platzieren.“25 Anschlussfähiger ist da der ebenfalls von Latour entwickelte Gedanke des Scripts, demzufolge Dingen Gebrauchsweisen eingeschrieben werden;26 neuerdings werden die sich aus der Materialität ergebenden Handlungsanweisungen auch mit dem BeObjekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 63–90. 21 Hans-Peter Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005, S. 11. 22 Andreas Reckwitz, Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: Ders. (Hg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 131–156, hier S. 151. 23 Vgl. ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. v. Andrea Belliger/David J. Krieger, Bielefeld 2006. 24 Barbara Stollberg-Rilinger hat diese Frage in ihrem Beitrag zum Handbuch Materielle Kultur bis auf weiteres offengelassen. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Macht und Dinge, in: Handbuch Materielle Kultur, S. 85–88, hier S. 88. 25 Hans Peter Hahn/Manfred K. H. Eggert/Stefanie Samida, Einleitung: Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Handbuch Materielle Kultur, S. 1–12, hier S. 9. 26 Vgl. Madeleine Akrich/Bruno Latour, Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen, in: ANThology, S. 399–405, hier S. 400.
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griff der Affordanz bezeichnet.27 Ob man mit diesen Begrifflichkeiten arbeiten will, sei dahingestellt. Letztlich reicht es aus, sich auf die eigentlich triviale Feststellung zu besinnen, dass Objekte materiell bedingte Anforderungen an die sie betrachtenden, benutzenden oder verbrauchenden Menschen stellen und damit soziale Praktiken präformieren. Zugleich erhalten sie selbst erst im Gebrauch einen spezifischen, kontextgebundenen Sinn, wobei ihre Materialität einige Gebrauchsweisen nahelegt, andere abseitig erscheinen lässt und wieder andere verhindert.28 Um einzelne Nutzungsformen aus diesem Spektrum als üblich und sinnvoll auszuwählen, bedarf es eines kulturell bedingten Wissens, das implizit oder explizit sein kann. Auch wenn im Einzelnen unterschiedlichen Theorieansätzen gefolgt wird, befördert der mit dem „material turn“ verbundene Perspektivwechsel zweifellos einen interdisziplinären Dialog. Dies stellen auch die Beiträge des vorliegenden Bandes unter Beweis. Gleichwohl bleiben unterschiedliche disziplinäre Erkenntnisinteressen bestehen. So ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu betonen, dass es nicht die Dinge an sich sind, die erforscht werden, sondern dass sich die Wissbegierde von Historikerinnen und Historikern letztlich auf die mit den Dingen umgehenden Menschen richtet. […] ce sont les hommes que l’histoire veut saisir, hat Marc Bloch formuliert, und an diese Feststellung sein berühmtes Bonmot vom Historiker als Menschenfresser angeschlossen.29 Insofern scheint mir die Analyse der Handhabungen und Verwendungsweisen ein guter Weg zu sein, damit die anthropophage Disziplin der Geschichtswissenschaft ihre Beute nicht aus den Augen verliert.
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Vgl. Richard Fox/Diamantis Panagiotopoulos/Christina Tsouparopoulou, Affordanz, in: Thomas Meier/Michael R. Ott/Rebecca Sauer (Hg.), Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin 2015, S. 63–70; Keupp/Schmitz-Esser, Einführung, S. 26. 28 Vgl. Hermann Heidrich, Dinge verstehen. Materielle Kultur aus Sicht der Europäischen Ethnologie, in: ZVkd 103 (2007), S. 223–236, hier S. 225–226. 29 Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris 21952, S. 4: Le bon historien, lui, ressemble à l’ogre de la légende. Là où il flaire la chair humaine, il sait que là est son gibier.
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3. Dinge der Stadt Im Folgenden soll das bislang Gesagte zunächst an einem stadtgeschichtlich relevanten Beispiel verdeutlicht werden, welches zugleich auf ein zentrales Forschungs gebiet der material culture history verweist: der Geschichte der Kleidung.30 Richten wir den Blick also auf das pelzbesetzte, mantelartige Obergewand eines renaissance zeitlichen Ratsherrn, das in den Quellen als Rock, Schaube oder Husecke auftaucht.31 Selbstverständlich lässt es sich kurzerhand als kostspieliges Prestigeobjekt und Distinktionsmerkmal bezeichnen.32 Aber es lohnt sich, bei dieser Charakterisierung nicht stehenzubleiben, sondern genauer darauf zu schauen, wie das Kleidungsstück eigentlich funktionierte. Aufgrund welcher Eigenschaften eignete es sich zur Demonstration politischen und sozialen Vorrangs, zu welchen Gelegenheiten und an welchen Orten wurde es getragen, welche Ressourcen, welche Körperhaltung und welches Wissen erforderte es von seinem Träger und inwiefern verband es sich mit der Persönlichkeit seines Trägers (siehe Abb. 1)? Auf dem Herbstbild der Augsburger Monatsbilder, einem berühmten Jahreszeitenzyklus des 16. Jahrhunderts,33 ist zu sehen, wie sich die Ratsherren mit ihren materialreichen Gewändern in gedeckten Farben von den anderen Menschen in der Stadt unterscheiden. Zugleich lässt sich erkennen, dass das Schreiten aufgrund der Stofffülle eine bestimmte Haltung erzwang. Auch wenn sich aus der materiellen Gestalt eines solchen Obergewands sicherlich leicht erschloss, dass man es anzuziehen hatte, bedurfte es einer speziellen Technik, sich darin zu bewegen. Da eine Hand mit dem Zusammenhalten des Gewands beschäftigt war, wird es nicht einfach gewesen sein, mehr zu tragen als den Rosenkranz, den einer der Ratsherren in der Hand hält – insofern war diese Form des Mantels das passende Kleidungsstück für die von ihren Renten lebenden ratsfähigen Familien, die sich in manchen oberdeutschen Städten selbst als „Müßiggänger“ bezeichneten.34 Zugleich war das materialreiche Obergewand ein Gegenentwurf zum Mobilität ermöglichenden kurzen Waffenrock, 30
Aus der Fülle der Literatur vgl. bspw. Ulinka Rublack, Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe, New York 2010; Jan Keupp, Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters, Stuttgart 2010. 31 Zu Erscheinungsformen und Begrifflichkeit vgl. Lieselotte Constanze Eisenbart, Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums, Göttingen 1962, S. 138; August Fink, Die Schwarzschen Trachtenbücher, Berlin 1963, S. 79– 80; Jutta Zander-Seidel, Textiler Hausrat: Kleidung und Haustextilien in Nürnberg von 1500–1650, München 1990, S. 159–167. 32 Vgl. Rublack, Dressing Up, S. 139–140. 33 Jörg Breu (Umkreis), Monatsbilder: Oktober, November, Dezember (1531/1550), Öl auf Leinwand, DHM Berlin, Inv.-Nr. 1990/185, https://www.dhm.de/datenbank/dhm?seite=5&fld_0=K1000533 [Stand: 01.01.2019]. Vgl. Hartmut Boockmann (Hg.), Kurzweil viel ohn‘ Maß und Ziel. Alltag und Festtag auf den Augsburger Monatsbildern der Renaissance, Berlin 1994. 34 Vgl. Ingrid Bátori, Das Patriziat der deutschen Stadt. Zu den Forschungsergebnissen über das Patriziat besonders der süddeutschen Städte, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 2 (1975), S. 1–30, hier S. 1; Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln 2 2014, S. 761.
Quelle: Jörg Breu (Umkreis), Monatsbilder: Oktober, November, Dezember, 1531/1550, DHM Berlin, Inv.-Nr. 1990/185
Abb.1: Herbstbild der Augsburger Monatsbilder mit Auszug der Ratsherren (siehe auch FT1, S. 121)
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der militärischen Ursprungs war.35 „Reuterisch“, also reiterisch, durfte die Ratskleidung keinesfalls ausfallen, wie aus einer entsprechenden Ermahnung der Frankfurter Ratsherren aus dem Jahr 1579 zu entnehmen ist:36 Die Bekleidung sollte ehrbar/ und nicht reuterisch oder leichtfertig seyn.37 In den Büchern der Ratswahlen und Ämterbestellungen dieser Jahre klingt an, dass sich die Ratsherren an anderen modischen Vorbildern orientierten als an den Mänteln ihrer Väter. Der Vorwurf, die Ratsherren seien ganz Pluderisch, ungemess und hoffmannisch gekleidet,38 macht klar, dass die als distinkt wahrgenommene militärisch konnotierte Pluderhosenmode39 sowie die adlige Hofkleidung für die politischen Repräsentanten der Stadt als unangemessen angesehen wurde. Die ehrbaren Obergewänder der Ratsherren bestanden in der Regel aus Wolltuch oder aus Schamlott, einem ursprünglich im Osmanischen Reich aus Mohair oder Kamelhaar gefertigten Woll- oder Wollseidenstoff, der durch ein aufwendiges Fertigungsverfahren ein changierendes Moiré erhielt.40 Der Stoff Schamlott zeichnete sich folglich durch eine besondere optische Eigenschaft aus, die auf Porträts meist sehr genau wiedergegeben wurde41 (siehe Abb. 2) und die auch in der Druckgrafik eine eindeutige Darstellungsweise in Form von Wellenlinien fand,42 d.h. die Zeitgenossen wiesen der Stoffeigenschaft eine besondere Relevanz zu und wollten sie, ähnlich wie bei heraldischen Darstellungen, selbst in der Grafik wiedergegeben wissen (siehe Abb. 3). Ein pelzbesetzter Rock aus Schamlott generierte Respektabilität, aber er tat dies nicht allein aufgrund seines pekuniären Werts, sondern dadurch, dass er ein mate-
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Vgl. Fink, Die Schwarzschen Trachtenbücher, S. 67–68; Zander-Seidel, Textiler Hausrat, S. 169–174. Vgl. Inke Worgitzki, Samthauben und Sendherren. Kleiderordnungen im frühneuzeitlichen Frankfurt, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 68 (2002), S. 167–199, hier S. 190–191. 37 Achilles August Lersner, Der Weit-beruhmten Freyen Reichs-Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am Mayn Chronica, oder Ordentliche Beschreibung der Stadt Franckfurt. Bd. 1.1, Frankfurt a. M. 1706, S. 314. 38 Vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Ratswahlen und Ämterbestellungen, Nr. 3, fol. 153r, 158r. 39 Die Pluderhosenmode der Landsknechte ist schon mehrfach untersucht worden. Vgl. zuletzt Rublack, Dressing Up, S. 140–144. 40 Vgl. Jutta Zander-Seidel, Kleidergesetzgebung und städtische Ordnung. Inhalte, Überwachung und Akzeptanz frühneuzeitlicher Kleiderordnungen, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1993), S. 176–188, hier S. 180. 41 Beispielsweise im Stifterporträt des Jakob Heller auf dem von Dürer gemalten Altar. Vgl. Albrecht Dürer, Jakob Heller als Stifter, 1507–1509, Mischtechnik auf Tannenholz, 56 x 53 cm, Historisches Museum Frankfurt am Main, Inv.-Nr. B 267, https://www.bildindex.de/document/obj20178470?medium=hmB0267_001&part=13 [Stand: 08.01.2019]. 42 Beispielsweise in Hans Weigels Trachtenbuch, das den moirierten Stoff von Mäntelchen des patrizischen Männerkostüms im Bild „Sponsa Patricia Nurenbergensis quae à duobus Senatoribus iunioribus in templum deducitur“ zeigt. Hans Weigel, Habitus praecipuorum populorum, tam virorum quam foeminarum singulari arte depicti. Trachtenbuch: Darin fast allerley vnd der fuernembsten Nationen die heutigs tags bekandt sein Kleidungen beyde wie es bey Manns vnd Weibspersonen gebreuchlich […], Nürnberg 1577, Tafel IX, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00019F8C00000029 [Stand: 08.01.2019]. Vgl. Zander-Seidel, Kleidergesetzgebung, S. 180. 36
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rielles Arrangement schuf, das die Herstellung von ratsherrlicher Würde ermöglichte. Man könnte in Anspielung auf Latour auch vom Ratsherrn als einem Mensch-Mantel-Hybrid sprechen.
Abb. 2: Moirierter Rock des Jakob Heller Quelle: Albrecht Dürer, Stifterbildnis des Jakob Heller, 1507–1509, Historisches Museum Frankfurt a. M., Inv.-Nr. B 267
Dabei waren es jeweils individuelle Gewänder, die einzelne Personen würdevoll machten. Wie das Augsburger Monatsbild erkennen lässt, tragen zwar alle Ratsherren Gewänder vom gleichen Typ, doch unterscheidet sich die Kleidung im Detail, nämlich in ihrer Farbgebung und ihrer Verbrämung mit Rauchwaren. Marder war der übliche Besatz solcher Mäntel, aber es konnten auch Felle exotischer Tiere verwendet werden, die aufwendig zu beschaffen gewesen sein dürften. Die Fellzeichnung solcher Pelze wurde ähnlich wie beim Moiré des Schamlotts in der bildenden Kunst exakt wiedergegeben. Besonders in der Bildniskunst galt es, reale Kleidungsund Schmuckstücke genauso wiedererkennbar zu gestalten wie die Haar- und Barttracht oder wie besondere physiognomische Merkmale des Porträtierten. Kleidung war nicht auswechselbar, sondern untrennbar mit der Person ihres Trägers und der jeweils von ihm verkörperten Rolle verknüpft.43 43
Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Haben und Sein. Materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Habilitationsschrift Jena 2016 (unveröffentl. Manuskript), S. 385–387.
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Abb. 3: Graphische Darstellung eines moirierten Stoffes in Weigels Trachtenbuch Quelle: Hans Weigel, Trachtenbuch, 1577, Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur 2“ Pn 3100
Handelte es sich bei den ratsherrlichen Gewändern um Dinge der Stadt, d.h. um Gegenstände einer spezifisch städtischen materiellen Kultur? Ja und nein. Das Kleidungsstück wurde in der Renaissance auch von Fürsten und Gelehrten getragen. Städtisch wurde es nur insofern, als es nach den zeitgenössischen Kleiderordnungen in Abgrenzung zum Adel eine klar definierte Materialität haben sollte, nämlich weder aus Brokat oder Samt gefertigt und auf bestimmte Pelzarten beschränkt sein sollte. Und städtisch war es auch insofern, als diese Obergewänder innerhalb der Stadt auf eine soziale Differenzierung verwiesen, die zumindest anfänglich für die Städte als selbstverständlicher angenommen wurde als für das Land. Item nach dem inn stetten gemeynlich dreierley burger und innwoner seind/ als gemeyn burger und
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handtwercker/ kauff und gewerbs leut/ und andere/ so im Radt von geschlechten oder sunst ehrlichen herkommen/ und ihrer zinß und renthen sich erneren […]44 – so beginnt der entsprechende Passus in der Reichspoliceyordnung von 1530, die einem undifferenzierten ländlichen Konsum einen differenzierten urbanen Konsum gegenüberstellte. Das dem untersten städtischen Stand Zugebilligte überstieg dabei im Hinblick auf erlaubte Stoffe, Pelze und Schmuck deutlich das den Bauersleuten Gestattete. Zumindest nach den Normen der Kleiderordnung machte Kleidung Menschen also zu Stadtmenschen, und zwar zu Stadtmenschen unterschiedlichen Rangs. Inwiefern lässt sich in diese Richtung weiterdenken? Gibt es andere Dinge, welche die Menschen in einer Stadt zu Stadtmenschen machten? Vor ein paar Jahren hat Ann Tlusty am Beispiel des frühneuzeitlichen Augsburg Waffen und Rüstungen als Dinge beschrieben, die in enger Verbindung zum städtischen Gemeinwesen standen bzw. sie hat das städtische Gemeinwesen selbst als eine culture of arms sowie das 16. und 17. Jahrhundert als ein Zeitalter des Schwertes bezeichnet.45 In der deutschen Frühneuzeitforschung, die Bellizität traditionell mit dem frühmodernen Staat verbindet,46 gehören Waffen nicht unbedingt zu denjenigen Objekten, die man auf Anhieb der Stadt zuordnen würde. Aber waffenfern war das Leben in der Stadt – oder zumindest in der Reichsstadt, auf die sich die bislang vorliegenden Untersuchungen beziehen – keineswegs. Rapiere gehörten selbstverständlich zum stadtbürgerlichen Männerkostüm, und die Verpflichtung, Harnisch und Wehr zu besitzen, richtete sich an jeden einzelnen Bürgerhaushalt.47 Außer im Kriegs- und Verteidigungsfall kam den bürgerlichen Waffen bei Geleit und Herrschereinzügen sowie im interstädtischen Agon der Schützenfeste Bedeutung zu.48 Die von Tlusty herausgearbeitete Relevanz der Waffen für die Stadt lässt sich mit Befunden aus dem frühneuzeitlichen Frankfurt weiter untermauern. Wenngleich es aus heutiger Perspektive so erscheint, als besäße Frankfurt keine bedeutende mili-
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Matthias Weber, Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition, Frankfurt a. M. 2002, S. 141. 45 B. Ann Tlusty, The Martial Ethic in Early Modern Germany. Civic Duty and the Right of Arms, Basingstoke 2011. Vgl. dazu auch den Beitrag von Regula Schmid in diesem Band sowie dies., The Armour of the Common Soldier in the Late Middle Ages. „Harnischrödel“ as Sources for the History of Urban Martial Culture, in: Acta Periodica Duellatorum 5 (2017), S. 7–24, https://doi.org/10.1515/ apd-2017-0006 [Stand: 01.01.2019]. 46 Vgl. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der frühen Neuzeit: Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 4 (1997), S. 509–574; Johannes Kunisch, Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln/Weimar/Wien 1992. 47 Vgl. Tlusty, Martial Ethic, bes. S. 133–145. Mehrere Beispiele für Matthäus Schwarz’ Bewaffnung im Verteidigungsfall und bei einer Feuersbrunst sowie für das Tragen des Rapiers unter dem Rock bei Fink, Die Schwarzschen Trachtenbücher, bes. S. 170–171. 48 Vgl. Jean-Dominique Delle Luche, Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb. Schützenfeste als Ausdruck der Konkurrenz im Heiligen Römischen Reich, in: Schmidt-Funke/Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n), S. 369–398; Harriet Rudolph, Heer und Herrschaftsrepräsentation. Militärische Dimensionen der Selbstinszenierung bei Herrscherbesuchen (1550–1800), in: Matthias Müller/Peter-Michael Hahn (Hg.), Zeichen und Medien des Militärischen am Fürstenhof im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 2017, S. 53–72, hier S. 56–60.
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Abb. 4: Philip Uffenbach in kriegerischer Ausrüstung Quelle: Valentin Wagner, Reiseskizzenbuch, 1632, Zeichnung, 13,8 x 9,9 cm, Albertina Wien, Inv.-Nr. 3431r
tärische Tradition,49 waren die Waffen fester Bestandteil des städtischen Alltags. Es oblag in Frankfurt zunächst den Zünften und Trinkstuben, die Wehrpflicht ihrer Genossen zu organisieren;50 später, d.h. seit der Zerschlagung der Zünfte im frühen
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Die Militaria-Sammlung des Historischen Museums in Frankfurt wird auf der Homepage des Museums folgendermaßen eingeführt: „Frankfurt ist eine Stadt nahezu ohne bedeutende militärische Traditionen. Hier wurde immer mehr Wert auf Frieden und Wohlstand durch Handel gelegt.“ Historisches Museum Frankfurt, Sammlung – Militaria, URL: https://historisches-museum-frankfurt.de/de/ sammlungen/militaria [Stand: 01.01.2019]. 50 Vgl. Frankfurter Zunfturkunden bis zum Jahr 1612, hg. v. Benno Schmidt, Frankfurt a. M. 1914, Bd. 1, S. 2–4; Sabine von Heusinger, Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg, Stuttgart 2009, S. 329–331.
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17. Jahrhundert, unternahmen dies die städtischen Quartiere.51 Dass ein Frankfurter Bürger wie der Maler Philip Uffenbach tatsächlich in Kriegszeiten zur Waffe griff, verdeutlicht die erhaltene Zeichnung seines Malerkollegen Valentin Wagner aus dem Jahr 1632, die Uffenbach während der Zeit der schwedischen Besatzung in kriegerischer Ausrüstung zeigt (siehe Abb. 4).52 Da sich die Waffen kaum ungeübt verwenden ließen, müssen Männer bzw. Jungen eine Einweisung erhalten oder ein Training absolviert haben. Entsprechende Körpertechniken wurden in der Stadt in Schützengesellschaften und Fechtschulen vermittelt.53 Der Augsburger Jüngling Veit Schwarz lernte beispielsweise 1561 bei einem fahrenden Fechtmeister aus Köln.54 Das Frankfurter Stadtrecht spiegelt die Bedeutung von Waffen wider, indem es Harnisch und Wehr der Zirkulation des Gebrauchten entzog. So sollten sie nicht zur Besitzkategorie des Hausrats gehören, ihre Pfändung sollte nur ausnahmsweise erfolgen dürfen und ihre Verpfändung in der sogenannten Judengasse, d.h. im jüdischen Ghetto, war ausdrücklich verboten.55 Waffen tauchen regelmäßig in den frühneuzeitlichen Frankfurter Inventaren auf, auch wenn sie nicht in jedem Haushalt vorhanden waren. In patrizischem Besitz lassen sich teils größere Waffensammlungen und zuweilen sogar eigene Räumlichkeiten zu ihrer Aufbewahrung nachweisen. Dies trifft beispielsweise für den 1524 verstorbenen Blasius von Holzhausen zu, der – da er keinen legitimen Erben besaß – seine Waffen testamentarisch seinem Neffen vermachte.56 Auch zum Erbe des 1538 gestorbenen Schöffen Philip Weis gehörte reichlich Waffenbesitz. Ein ganzes Arsenal von Hieb-, Stich- und Schusswaffen einschließlich eines fewerbuxlin wurde unter seinen vier Kindern verteilt,57 einer der Söhne erhielt zudem deß vatters seligen harnisch.58 Vermutlich befanden 51
Vgl. Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit 1705 bis 1732 und die kaiserlichen Kommissionen, Frankfurt a. M. 1920, S. 9–12. 52 Valentin Wagner, Reiseskizzenbuch: Der Maler Philip Uffenbach in kriegerischer Ausrüstung und ein Harkebusier (1632), Zeichnung, 13,8 x 9,9 cm, Albertina Wien, Inv.-Nr. 3431r, http://sammlungenonline.albertina.at/?query=Inventarnummer=[3431r]&showtype=record [Stand: 01.01.2019]. Vgl. dazu Holger Th. Gräf/Helga Meise (Hg.), Valentin Wagner (um 1610–1655). Ein Zeichner im Dreißigjährigen Krieg. Aufsätze und Werkkatalog, Darmstadt 2003, Nr. 110. 53 Vgl. Tlusty, Martial Ethic, S. 189–222. In Frankfurt gab es die Fechtschule der Marxbrüder, die auf den Messen ihre Fechtkunst vorführten. Vgl. Ein Discurß Von der Franckfurter Meße/ vnd jhrer vnderschiedlichen Kaufftleuten gut und böß. Den Guten zu Lob/ den Bösen zur Warnung/ zur Meß verehrt, Frankfurt a. M. 1615, S. 8. Zum Frankfurter Schützenwesen vgl. neben Delle Luche, Sportliches Engagement, auch die ausführliche Beschreibung eines 1671 in Frankfurt veranstalteten Schützenfestes bei Wilhelm Serlin, Ein Ehrliches Frey-Kunst- und Ritterliches Haupt-Schissen In der Muszquet und Bürscht-Büchse, Frankfurt a. M. 1671. 54 Vgl. Fink, Die Schwarzschen Trachtenbücher, S. 258. 55 Vgl. Der Statt Franckenfurt am Mayn erneuwerte Reformation, Frankfurt a. M. 1578, I 45 § 12, II 12 § 10, IV 6 § 11. 56 Vgl. Testament des Blasius von Holzhausen, Frankfurt a. M., 04.09.1524, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Holzhausen Urkunden Nachträge 1524; Nachlassinventar des Blasius von Holzhausen, Frankfurt a. M., 02.10.1524, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Holzhausen Urkunden Nachträge 1524/3, fol. 17v–18r. 57 Vgl. Losbuch über das Erbe des Schöffen und Ratsherrn Philips Weis, Frankfurt a. M., 18.07.1543, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Holzhausen Urkunden 928. 58 Vgl. ebd.
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sich unter diesen Waffen auch kostbare, handwerklich anspruchsvolle und technisch eindrucksvolle Stücke der Renaissancezeit, wie sie andernorts ebenfalls gesammelt wurden.59 Solche patrizischen Waffensammlungen, zu denen neben Kriegsgerät auch Turnier- und Jagdwaffen zählten, waren einerseits Bekenntnis zu städtischer Wehrhaftigkeit und transzendierten andererseits bürgerschaftliche Identität, weil sich mit ihnen der Anspruch der sogenannten Geschlechter verband, von adelsgleicher Stellung zu sein. Der städtische Waffenbesitz und -gebrauch ist also durchaus ein komplexer Gegenstand, der selbstverständlich historischem Wandel unterliegt. Aber genau dies macht es so fruchtbar, ihn in den Mittelpunkt einer Analyse zu stellen. Die Stadt von den Dingen her zu denken, kann also beispielsweise bedeuten, eine Geschichte der Stadt von ihren Waffen her zu schreiben. Gerade für eine epochenübergreifende Erzählung, die sich von spätmittelalterlichen Harnischen bis zu den Revolvern des 20. Jahrhunderts zöge, hätte ein solcher Ansatz einigen Charme, weil er den Konnex von Bürgerlichkeit, Wehrhaftigkeit und Männlichkeit nachverfolgen und damit Wesentliches zum Selbstverständnis der Stadt und ihrer Bürger herausfinden könnte.
4. Stadt der Dinge Peter Schuster hat 2003 den anregenden Aufsatz „Die mittelalterliche Stadtgesellschaft vom Eigentum her denken“ veröffentlicht,60 der für den Titel des vorliegenden Beitrags Pate stand. Schuster argumentierte, dass es weniger die Gewaltdelinquenz gewesen sei, die in spätmittelalterlichen Städten als bedrohlich wahrgenommen wurde, sondern dass es der Diebstahl gewesen sei, der „als das Verbrechen mit dem höchsten Bedrohungspotenzial angesehen“61 wurde. Städte gingen deshalb rigoros gegen Eigentumsdelikte vor, zudem sicherten sie durch Nacht- und Feuerwachen den materiellen Besitz ihrer Einwohner. Zugleich versuchten sich Hausväter und Hausmütter mit Schlössern an Truhen, Kästen und Tischen gegen Entwendungen vonseiten des Gesindes oder durch Auswärtige zu schützen; nicht zufällig symbolisierte der Schlüsselbund am Gürtel der Hausmutter ihre Verfügungsgewalt über das Innere des Hauses (siehe Abb. 5).62 Diese städtische Sorge um den Eigentumsschutz Beispiele u.a. bei Marina Belozerskaya, Luxury Arts of the Renaissance, London 2005, S. 135–185; Kim Siebenhüner, Entwerfen, Modelle bauen, ausstellen. Joseph Furttenbach und seine Rüst- und Kunstkammer, in: Kaspar von Greyerz/Roberto Zaugg/Dies. (Hg.), Joseph Furttenbach. Lebenslauff 1652–1664, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 45–65. 60 Peter Schuster, Die mittelalterliche Stadtgesellschaft vom Eigentum her denken. Gerichtsquellen und Mentalitäten im späten Mittelalter, in: Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Stadt und Recht im Mittelalter/La ville et le Droit au Moyen Âge, Göttingen 2003, S. 167–180. 61 Ebd., S. 171. 62 So war bspw. auf einem Medaillon des Deckengemäldes im Goldenen Saal in Augsburg, das Johann Matthias Kager zwischen 1619 und 1622 ausführte, eine Hausmutter mit Schlüsselbund als Allegorie des Wohlstands abgebildet. Das Deckengemälde verbrannte im Zweiten Weltkrieg; der heutige 59
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lässt sich gut zusammenbringen mit einer erhöhten städtischen Dingverfügbarkeit, mit vom Land abweichenden Konsummöglichkeiten, mit städtischer Wohlhabenheit und Verfeinerung, welche die zeitgenössischen Wahrnehmungen von Stadt prägten und zugleich das Gegenbild rustikaler Einfachheit hervorbrachten. Kaum nötig zu sagen, dass beide Sichtweisen von Stadt bzw. Land positiv oder negativ besetzt sein konnten.63 Obwohl der außerstädtische Raum nachweislich weder rein agrarisch geprägt noch autark war, waren es Städte, die als Orte erhöhter Dingverfügbarkeit imaginiert wurden.64 Auch wenn dies das Ergebnis einer diskursiven Vereindeutigung des Städtischen war, ruhte eine solche Wahrnehmung durchaus auf einem ökonomischen und rechtlichen Fundament, denn mit dem Status der Städte als Marktorte war untrennbar die Ordnung von Handel und Handwerk im Sinne des Gemeinwohls verbunden. Für eine große Handels- und Messestadt wie etwa Frankfurt am Main lässt sich die Verbindung von Urbanität und Dingverfügbarkeit erwartungsgemäß vielfach zeigen.65 Aber selbst kleinere Orte verfügten aufgrund der Anwesenheit eines Marktes über eine vom umgebenden Land abweichende Dingverfügbarkeit, und dies unterschied sie in den Augen der Zeitgenossen vom Dorf.66 Die Stadt in der hier skizzierten Form von den Dingen her zu denken, ist nichts anderes, als die alte Frage nach der ökonomischen Funktion von Städten kulturgeschichtlich zu wenden, und dies scheint mir – wie schon die zuerst ausgeführte Perspektive – für eine epochenübergreifende Beschäftigung mit dem Städtischen fruchtbar zu sein. Städtische Dingverfügbarkeit kann nicht nur im Verhältnis zum Land, sondern auch zum Hof ausgeleuchtet werden, sie kann auf ihr Konfliktpotenzial zwischen Arm und Reich, zwischen Städtern und Nichtstädtern hin befragt werden, und es können die mit ihr verbundenen Praktiken, z.B. das Anpreisen und Auswählen, das Veräußern und Bewahren, das Verbergen und Ausstellen, daraufhin untersucht werden, inwiefern sie eine spezifisch städtische Ausgestaltung erfuhren. Die städtische Dingfülle war auch für Bereiche relevant, die gewöhnlich nicht mit der Sphäre des Kommerziellen verbunden werden, weil sie – um mit Bourdieu zu sprechen – der Akkumulation kulturellen Kapitals dienten.67 Gemeint ist das Anlegen von Bibliotheken und Kabinetten als geordnete Ansammlung von Dingen. Sammlungsgegenstände wie Bücher, Kunstwerke, technische Instrumente und Naturalien sowie Sammlungsmöbel, Behältnisse und Präparationsmaterialien waren in erster Linie in den Städten verfügbar, und besonders die großen florierenden Handelsstädte waren deshalb organische Orte des Sammelns und des Wissens. Ein Goldene Saal ist eine Rekonstruktion. Eine historische Aufnahme des Medaillons ist im Bildarchiv Foto Marburg verfügbar: https://www.bildindex.de/document/obj20461464?medium=fmlac3339_18 [Stand: 01.01.2019]. 63 Vgl. Schmidt-Funke, Die Stadt als Konsumgemeinschaft, S. 331–334. 64 Vgl. Evelyn S. Welch, Shopping in the Renaissance. Consumer Cultures in Italy 1400–1600, New Haven/Conn. 2005, S. 23–24. 65 Vgl. Schmidt-Funke, Die Stadt als Konsumgemeinschaft, S. 336–341. 66 Vgl. ebd., S. 353–354. 67 Vgl. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198.
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Abb. 5: Hausmutter mit Schlüsselbund als Allegorie des Wohlstands Quelle: Johann Matthias Kager, Deckengemälde des Goldenen Saals in Augsburg, 1619–1622, Bildarchiv Foto Marburg, Bilddatei-Nr. fmlac3339_18
Frankfurter Kaufmannssohn wie der Arzt und Naturforscher Johann Georg Kissner konnte deshalb 1714 an seinen Danziger Korrespondenzpartner Johann Philipp Breyne schreiben, ob sich in Dantzig mehr curiose Liebhaber von dergleichen sachen finden, woran fast nicht zu zweiflen ist, weil die Stadt sehr groß und durch ihr florisantes commercium viel gelegenhait hat, dergleichen anschaffen zu können.68
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Johann Georg Kissner an Johann Philip Breyne, Frankfurt, 21.04.1714, Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B787, fol. 13v–14r.
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Das Anlegen von Kunst- und Naturaliensammlungen war alles andere als eine ausschließlich höfische oder akademische Praxis, denn es empfing zahlreiche Impulse von den gewerblichen Tätigkeiten der Stadt. Städtischem Sammeln lässt sich daher nicht gerecht werden, wenn man es nur als bürgerliche Imitation des Adels versteht. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass es sich um ein traditionelles stadtbürgerliches Betätigungsfeld handelt, das originär mit der Stadt verbunden war. Nicht zufällig waren es städtische Kaufleute und Agenten wie Hans Jakob Fugger, Philip Hainhofer, Michel Le Blon oder Matthäus Merian der Jüngere, die die höfischen Sammlungen mit ihrer Expertise und ihren kommerziellen Verbindungen wesentlich prägten.69 Die Bedeutung dieser kommerziellen Sammlungsspezialisten ist kaum hoch genug zu veranschlagen: Als mercator sapiens70 verfügte der Kaufmann neben seinen Handelsnetzen und dem notwendigen Kapital über dingbezogenes Wissen, das er für den Einkauf benötigte und in den Verkauf einbrachte. Warenkunde, Konservierungs-, Magazinierungs- und Präsentationstechniken waren für seinen Geschäftserfolg zentral. Noch bevor am Hof eines Fürsten eine Sammlung entstand, stellte der Kaufmann eine Auswahl von Objekten zusammen, ordnete sie in seinem Magazin, verzeichnete sie in seinen Büchern und stellte sie in seinen Verkaufsräumen aus.71 Der Kaufmann nahm damit zentrale Sammlungspraktiken vorweg. Es überrascht daher nicht, dass Kaufleute wie Hans Jakob Fugger bereits im 16. Jahrhundert bedeutende Sammlungen anlegten, die den fürstlichen nicht nur in nichts nachstanden, sondern diese sogar an Exklusivität oder Innovation übertreffen konnten. Dies zeigt, dass frühneuzeitliches Sammeln von einer parallelen, miteinander in Verbindung stehenden Entwicklung am Hof und in der Stadt ausging, die beständigen Austausch erforderte: the activity of collecting provided a social nexus, in which noble, scholar, tradesman, and even craftsman, could participate in the same realm.72 Die gelehrte Beschäftigung mit den Sammlungen besaß im Kontrast zum gewerblichen Leben der Stadt das Potenzial, soziale Distinktion zu schaffen. Es entsprach dem ehrenhaften Müßiggang oder ozio honesto,73 sich eigenhändig in gelehrten Studien und schönen Künsten zu üben sowie sich in Gemeinschaft darüber auszutau69
Zu Fugger vgl. Mark Meadow, Merchant and Marvels. Hans Jacob Fugger and the Origins of the Wunderkammer, in: Pamela H. Smith/Paula Findlen (Hg.), Merchants & Marvels. Commerce, Science, and Art in Early Modern Europe, New York/London 2002, S. 182–200; zu Hainhofer vgl. Michael Wenzel, Akteur zwischen Hof und Stadt: Philipp Hainhofers vielgestaltige Karrieren – Eine Einführung, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 41 (2014), S. 1–14; zu Le Blon vgl. Badeloch Vera Noldus, A Spider in its Web. Agent and Artist Michel Le Blon and his Northern European Network, in: Marika Keblusek/Badeloch Vera Noldus (Hg.), Double Agents. Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe, Leiden 2011, S. 161–191; zu Merian vgl. Arne Losman, Carl Gustaf Wrangel och Europa. Studier i kulturförbindelser kring en 1600-talsmagnat, Stockholm 1980, S. 126–129. 70 Marika Keblusek, Mercator Sapiens. Merchants As Cultural Entrepreneurs, in: Keblusek/Noldus, Double Agents, S. 95–109. 71 Zum Ausstellen von Naturalien in den Läden der Frankfurter Spezerei- und Materialwarenhändler vgl. Schmidt-Funke, Haben und Sein, S. 189. 72 Meadow, Merchants and Marvels, S. 184. 73 Vgl. Peter Burke, The Invention of Leisure in Early Modern Europa, in: Past & Present 146 (1995), S. 136–150, hier S. 144.
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schen und auf diese Weise das tempus recreationis mit nützlichen Beschäftigungen zu füllen.74 Entscheidend war es, über entsprechende zeitliche, räumliche, finanzielle und intellektuelle Ressourcen zu verfügen. Es ging um eine – im frühneuzeitlichen Wortsinn – interesselose Tätigkeit, die vom negotium dadurch unterschieden war, dass sie keinem kommerziellen Nutzen folgte. Vermögende Städter konnten sich damit von den labouring poor in ihrer Nachbarschaft abgrenzen.75 Zum Wesen der Stadt gehörte es allerdings auch, dass städtische Sammlungen vielfach nicht an ihren Entstehungsorten erhalten blieben. Oft musste das in den Sammlungen gebundene Kapitel wieder in den ökonomischen Kreislauf eingespeist werden. Dafür war nicht zuletzt das in vielen Städten geltende Erbrecht der Realteilung verantwortlich,76 und die Stadt mit ihren institutionalisierten Versteigerungen und Gebrauchtmärkten war darauf eingestellt, dass dinglicher Besitz wieder zu Geld gemacht wurde.77 Gerade der dingliche Charakter der Sammlungen verschlang Ressourcen, die in der Stadt nicht unbegrenzt zur Verfügung standen: sie brauchten Zeit, benötigten Platz und kosteten Geld. Nicht selten fanden deshalb stadtbürgerliche Sammlungen aufgrund von Veräußerung oder Stiftung an Höfen und Universitäten eine neue Bleibe, weil dort in materieller wie immaterieller Hinsicht günstigere Bedingungen einer dauerhaften Bewahrung bestanden.78 Der ehemals städtische Entstehungszusammenhang der Sammlungen geriet dann über kurz oder lang in Vergessenheit.
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Vgl. Hans-Jörg Gilomen, Freizeitgestaltung vom Mittelalter bis zum Ende des Ancien Régime. Einleitung, in: Ders. (Hg.), Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert = Temps libre et loisirs du 14e au 20e siècles, Zürich 2005, S. 25–32, hier S. 25. 75 Zum Begriff des Vermögens vgl. Simone Derix, Die Thyssens. Familie und Vermögen, Paderborn 2016, S. 14–20. Zum Begriff der labouring poor vgl. Laurence Fontaine/Jürgen Schlumbohm, Household Strategies for Survival: An Introduction, in: International Review of Social History 45 (2000), S. 1–17, hier S. 1. 76 Vgl. Isenmann, Die deutsche Stadt, S. 786. 77 Zum Gebrauchtwarenhandel vgl. Laurence Fontaine, Die Zirkulation des Gebrauchten im vorindustriellen Europa, in: JbWirtschG 45 (2004), Heft 2, S. 39–52; Georg Stöger, Weiternutzen, Reparieren, Wiederverwerten. Der „Umgang mit den Dingen“ in der Vormoderne, in: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.), Von Amtsgärten und Vogelkojen. Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2011–2012, Göttingen 2014, S. 147–171. 78 Hans Jakob Fugger musste 1571 an Albrecht V. von Bayern verkaufen. Die Sammlungen der oben erwähnten Korrespondenzpartner Johann Georg Kissner und Johann Philipp Breyne gelangten nach Meiningen, Gotha und St. Petersburg.
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5. Fazit und Ausblick Die vorangegangenen Ausführungen haben verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, die aktuelle Hinwendung der Geistes- und Sozialwissenschaften zu den Dingen für die Stadtgeschichte fruchtbar zu machen. Das Forschungsfeld ist weit und kann interdisziplinär bestellt werden. Gerade deshalb zwingt es aber dazu, das eigene Erkenntnisinteresse zu reflektieren. Eine ‚materialisierte Kulturgeschichte‘ der Stadt besteht in einem methodisch-theoretisch erweiterten Zugriff auf die historische Stadt, bei der materielle Kultur dazu dient, etwas über die Stadt und das Städtische herauszufinden. Sowohl im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs als auch in der geschichtswissenschaftlichen Konzentration auf die Menschen gilt das Erkenntnis interesse dabei nicht den Dingen an sich, sondern der menschlichen Interaktion mit ihnen. Diese wiederum stellt ein Wechselspiel zwischen der dinglichen Materialität einerseits und den menschlichen „Sinnbildungsleistungen“79 andererseits dar. In methodischer Hinsicht erfordert dies, neue stadtgeschichtliche Quellencorpora zu erschließen bzw. bereits bekannte anders zu lesen. Die dingliche Überlieferung ist, sofern sie überhaupt noch vorhanden ist, nicht selten außerhalb ihres städtischen Entstehungsorts zu suchen, denn anders als für die textliche Überlieferung, für die in den Städten schon früh die institutionalisierten Speicher der Ratsarchive und Ratsbibliotheken entstanden, hatte der dingliche Besitz einen flüchtigeren Charakter. Dies ist vor dem Hintergrund von Rudolf Schlögls These, dass Schrift in der frühneuzeitlichen Stadt in erster Linie „Aufbewahrungs- und Verbreitungsfunktion“80 zukam, während die Dinge an der performativen Herstellung von Stadt wesentlich beteiligt waren, ein interessanter Befund. Gerade in der Stadt waren Mobilien bewegliche Güter im Wortsinn, und ihre institutionalisierte antiquarische Bewahrung hatte, verglichen mit den Schriftzeugnissen, untergeordnete Relevanz. Dies lag sicherlich zum Teil in der Materialität der Dinge begründet, die in ökonomischer und konservatorischer Hinsicht eine Aufbewahrung erschwerte, aber anders als bei Papier und Pergament wurden eben auch keine verstärkten obrigkeitlichen Anstrengungen unternommen, Dinge wie beispielsweise die Amtskleidung der Ratsdiener ebenso sorgfältig zu bewahren wie die geschriebenen Listen der Ämterbestellungen. Insofern lässt sich für vormoderne Städte eine Dingvergessenheit konstatieren, die mit der immensen Bedeutung der Dinge in allen Bereichen des städtischen Lebens kontrastierte – und die einer der Gründe dafür ist, warum die Forschungen zur materiellen Kultur der Stadt noch am Anfang stehen.
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Jörn Rüsen, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte, in: Gudrun Kühne-Bertram/Hans-Ulrich Lessing/Volker Steenblock (Hg.), Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, Würzburg 2003, S. 119–127, hier S. 120. 80 Schlögl, Vergesellschaftung, S. 33.
Umb ain polsterziechen in das rathaus darauf der burgermaister sitzet DINGE UND OBJEKTE IN DER STÄDTISCHEN RECHNUNGSÜBERLIEFERUNG Elisabeth Gruber
Im Jahr 1476 notierte der Schreiber der Wiener Kammeramtsrechnung die getätigte Ausgabe von einem und einem halben Pfund Wiener Pfennige für einen auf den ersten Blick gewöhnlichen Gegenstand mit der Bemerkung: Um ain polsterziechen in das rathaus darauf der burgermaister sitzet.1 Auch wenn weder Farbe noch Material dieses Polsterüberzuges näher beschrieben und daher auch nicht bekannt sind, so ist doch die Höhe der Ausgabe nicht zu vernachlässigen. Für den gleichen Betrag kaufte man zeitgleich beispielsweise 4,5 Ellen Zendal, einen kostbaren Seidenstoff, der als Futterstoff oder für die Herstellung von Fahnen und Wimpeln gerne verwendet wurde.2 Der Einkauf eines wie auch immer gearteten, dem Preis nach jedenfalls hochwertigen Polsterüberzuges bedingte ein (möglicherweise bereits vorhandenen) Polster, dem ein Überzug zugedacht wurde. Ausdrücklich benennt der Eintrag den konkreten Verwendungszweck dieser Hülle mitsamt seiner (zumindest angenommenen) Füllung. Überzug und Inhalt dienten dazu, den Sitz des Bürgermeisters im Rathaus mit einer entsprechenden Auflage auszustatten, ihn auszupolstern und wahrscheinlich auch zu kennzeichnen. Für die Ratsherren standen ebenfalls Polster zur Verfügung, wie ein Eintrag des Jahres 1462 vermerkt. Dass mit deren Herstellung ein Kürschner beauftragt wurde, legt die Verarbeitung von Fellen nahe. Als 1538 wiederum Polster für die Ratsherren angeschafft wurden, kaufte man rote und weiße Felle an – wohl um die Wappenfarben der Stadt Wien rot und weiß zu reprä1
Otto Brunner, Die Finanzen der Stadt Wien von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert, Wien 1929, S. 187–188, hier S. 188, Anm. 3. 2 Karl Uhlirz, Urkunden und Regesten aus dem Archive der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien II (1440–1619), in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses. Bd. 18, Wien 1897, S. I–CCXXXIV, Reg. Nr. 15341 (1462); vgl. dazu Herrman Heimpel, Seide aus Regensburg, in: MIÖG 62 (1954), S. 270–298, mit Belegstellen zur Nennung vor allem des von Regensburger Kaufleuten gelieferten Zendal.
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sentieren.3 Auch wenn die Informationen, die die jeweiligen Schreiber des Wiener Kammeramtes zu den ausgegebenen Geldbeträgen vermerkten, spärlich sind, so geben Sie doch Anlass, Überlegungen hinsichtlich der Ausstattung der Sitzgelegenheit des Stadtrates anzustellen. Die Angaben zu Wert, Material und Gestalt der Polster in den Buchungszeilen verweisen explizit auf eine Sitzordnung des Ratsgremiums, die offensichtlich durch die Zuweisung unterschiedlich gestalteter Sitzunterlagen explizit sichtbar und erfahrbar gemacht wurde. Was auf den ersten Blick als pragmatische Ausgabenposition erscheint, wird bei näherer Betrachtung zur deutlichen Hierarchisierung durch die Auswahl des Materials und damit verbunden der Gestaltung des Preises. Mit der differenzierten Ausstattung der Sitzgelegenheiten des Bürgermeisters und der Ratsherren werden Objekte des alltäglichen Gebrauchs im Rahmen der Ratsstube zu einem augenfälligen Distinktionszeichen der Ratselite. Die Sichtbarkeit ist dabei ein wichtiger Aspekt. Sobald die Polster besetzt wurden, verschwand auch die Differenzierung. Die Plätze waren belegt und die Rangfolge eingenommen. Hatte der Rat jedoch noch nicht Platz genommen – etwa beim Betreten oder Verlassen der Ratsstube – erschien die Zuteilung der Plätze durch die Sitzpolster markiert. Das Objekt „Sitzpolster“ repräsentierte damit im halböffentlichen Rahmen des Versammlungsraumes der städtischen Funktionselite eine hierarchische Ordnung, die für jeden sichtbar und erschließbar war. Gleichzeitig wurde damit zumindest theoretisch auch die Möglichkeit eröffnet, diese offensiv – durch veränderte Belegung der Sitzpolster – zu durchbrechen. Ein konkreter Quellenbeleg dafür kann an dieser Stelle leider nicht angeführt werden.
1. Dinge und Objekte
Gudrun Gleba hat schon vor längerer Zeit in einem Beitrag zu Repräsentation und Kommunikation im öffentlichen Raum mit Bezug auf die Ausführungen Gerd Alt hoffs darauf hingewiesen, dass für die Frage nach den Dingen und Objekten der Stadt sämtliche Formen erzählender Quellen – historiografische Texte ebenso wie fiktionale – Aussagen über Kommunikationsprozesse und Repräsentation in geeigneter Weise zulassen.4 Sie informieren über „Ereignisentwicklung und Gesche3
Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15341 (1462); Brunner, Finanzen, S. 188, Anm. 3. Gleba bezieht sich hier auf die zu diesem Zeitpunkt neu erschienene Studie Gerd Althoffs über Spielregeln etc., und weist darauf hin, dass bislang das Frageinteresse nur dem Zusammenspiel adeliger und monarchischer Herrschaftsträger galt: Gudrun Gleba, Repräsentation, Kommunikation und öffentlicher Raum. Innerstädtische Herrschaftsbildung und Selbstdarstellung in Hoch- und Spätmittelalter, in: Bremisches Jahrbuch 77 (1998), S. 125–152, hier S. 125, Anm. 1; Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1996. Inzwischen wurde im Rahmen der Ritual-Forschung ein breites Spektrum von Formen von Repräsentation und Machtausübung auch am Beispiel (spät-)mittelalterlicher Städte eingehend untersucht, vgl. dazu etwa Dietrich W. Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.–18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2003.
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hensabläufe […], so daß die dort getroffene Auswahl und die Art der Darstellung Hinweise auf die zeitgenössische Sichtweise liefern“.5 Darüber hinaus wäre jedoch auch nach real überlieferten Objekten ebenso wie den „Objektzeichen“ zu fragen, so Gleba, deren kontinuierliche Auseinandersetzung mit Objekten bald auch die Rechnungsbücher in den Blick nahm.6 Diesem Frageinteresse wurde im Besonderen für Formen städtischer Repräsentation und Öffentlichkeit seither immer wieder Aufmerksamkeit geschenkt. Im Fokus blieben meist die Formen und Varianten der Handlungen, Praktiken, Rituale, die Ausdruck städtischen Selbstverständnisses darstellten und für deren Durchführung fast ausnahmslos auch Objekte benötigt wurden. Damit rückten zunehmend auch die Dinge der Stadt im Allgemeinen in den Mittelpunkt des Interesses: real überlieferte oder zumindest in den erzählenden und normativen Texten angesprochene Dinge und Objekte. Kürzlich hat Dorothee Rippmann in einem Beitrag zu Leben, Arbeit und materieller Kultur im Kontext pragmatischer Schriftlichkeit an Schweizer Beispielen erneut deutlich gemacht, dass auch Rechnungsbücher als Texte zu verstehen seien und demnach hinsichtlich des Umgangs mit materieller Kultur befragt werden können.7 Als serielle Quellen sind diese in den Kontext und Kommunikationszusammenhang sprachlichen Handelns einzuordnen und zählen damit zu jenen Formen des „Gebrauchs von Schrift und Texten, die unmittelbar zweckhaftem Handeln dienen oder menschliches Tun und Verhalten durch die Bereitstellung von Wissen und Verhaltensnormen anleiten wollen“.8 Geht man nun der Frage nach den Dingen in der Stadt nach, von denen die schriftliche Überlieferung berichtet, scheinen Rechnungsbücher nicht nur einen Fundus von Ding-Nennungen zu enthalten und aufgrund der Auszeichnung der dafür ausgelegten Geldbeträge auch einigermaßen einschätzbar, welcher Gegenwert dafür entrichtet werden musste – oder zumindest welchen man bereit war zu entrichten. Sie erlauben es auch, Objekte „nach ihrer symbolischen Aufladung und der sich wandelnden Wertigkeit“ hin zu befragen.9 Doch schon Rechnungsbuchführung an sich kann als Praxis verstanden werden, die den Gebrauch von Dingen und Objekten fordert. Eine der Hauptfragen, die sich im Zusammenhang mit der Analyse 5
Gleba, Repräsentation, S. 129. Zusammenfassend vgl. Gudrun Gleba, Rechnungsbücher des Mittelalters. Einnahmen, Ausgaben und Mehr. Annäherungen aus verschiedenen Disziplinen, in: Stephan Selzer (Hg.), Die Konsumentenstadt. Konsumenten in der Stadt des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2018, S. 263–280; sowie den Sammelband: Gudrun Gleba/Niels Petersen (Hg.), Wirtschafts- und Rechnungsbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Formen und Methoden der Rechnungslegung: Städte, Klöster, Kaufleute, Göttingen 2015. 7 Dorothee Rippmann, Leben, Arbeit und materielle Kultur im Lichte pragmatischer Schriftlichkeit in der Schweiz, in: Gleba/Petersen, Wirtschafts- und Rechnungsbücher, S. 210–254, hier S. 210. 8 Aus der umfangreichen Forschung zum Thema pragmatische Schriftlichkeit vgl. den auf städtische Residenzen zugeschnittenen Lexikoneintrag der Residenzenkommission von Kurt Andermann, Pragmatische Schriftlichkeit, in: Werner Paravicini (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich 3: Hof und Schrift, Ostfildern 2007, S. 37–60. 9 Gleba, Rechnungsbücher, S. 268; die Medialität von öffentlichen Orten als wichtiges Element vgl. Gerd Schwerhoff, Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit. Perspektiven der Forschung, in: Gerd Schwerhoff (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 1–28, hier S. 15. 6
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der Rechnungsbücher ergeben, liegt in der Gestaltung der städtischen Rechnungsführung begründet. Das mittelalterliche Rechnungswesen diente weder der Planung des Haushalts noch verfolgte es statistische oder finanzpolitische Zwecke.10 Seine Hauptaufgabe war es, die rechnungsführenden Amtsträger zu kontrollieren und gegenüber demjenigen, dessen Vermögen er verwaltete, zu entlasten.11 Das Grundprinzip der mittelalterlichen Rechnungsführung ist nicht das schriftliche Rechnen, sondern die Verwendung einer Rechentafel oder eines Rechentuchs, auf der ein System von Linien Einer, Zehner und Hunderter darstellt. Die Zahlen kommen durch auf und zwischen die Linien gelegte Rechensteine zur Darstellung. Dieser Rechentisch ermöglicht anstelle der abstrakten Rechenoperation einen anschaulichen Rechenvorgang, der vor den Augen einer größeren Anzahl kontrollierender Zuschauer durchgeführt werden konnte.12 Was an der Textsorte Rechnungsbuch auch deutlich wird, ist die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Dingen und Objekten. Die einförmige und vielfach lapidare Auflistung von Dingen und den damit verbundenen Geldwerten mag zunächst wenig über Praktiken und Dinggebrauch aussagen. Auf den ersten Blick wäre es naheliegender, die Buchführung selber als die durch den Akt des Aufschreibens und Aufbewahrens materialisierte Form des Verwaltungshandelns zu charakterisieren. Die Materialität des Schriftstücks bestünde dabei aus einem zwei- bzw. dreidimensionalen Raum, der ebenso wie die grafische Gestaltung der Seite oder die Art der Kennzeichnung von Abschnitten ein die Praxis des Verwaltungshandelns
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Dies hat neuerdings Gabriel Zeilinger am Beispiel der Windsheimer Rechnungsbücher eindrücklich dargestellt: Gabriel Zeilinger, Rechnung – Schrift – Serie. Der Überlieferungsbeginn der Windsheimer Stadtrechnungen 1393/94 und Möglichkeiten ihrer Analyse, in: Michael Rothmann/Helge Wittmann (Hg.), Reichsstadt und Geld. 5. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen 27. Februar bis 1. März 2017, Petersberg 2018, S. 269–280. 11 Gerhard Fouquet, Zur öffentlichen Finanzverwaltung im späten Mittelalter, in: Christian Hesse/ Klaus Oschema/Manuela Gloor (Hg.), Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in der Gesellschaft der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, S. 69–86, hier S. 71 sowie S. 73–77. Erste schriftliche Jahresabrechnungen lassen sich bereits im 12. Jh. in den italienischen Kommunen nachweisen. Seit dem 13. Jh. sind auch im Raum nördlich der Alpen städtische Rechnungen überliefert. Anfänglich handelte es sich dabei um einfache Einnahmen- und Ausgabenrechnungen, die jedoch im Laufe der Zeit immer differenzierter und umfangreicher ausfielen. Mit durchgehenden Reihen kann man jedoch erst ab dem Ende des 14. Jahrhunderts rechnen. Grundlegend zur städtischen Rechnungslegung W. Jappe Alberts, Mittelalterliche Stadtrechnungen als Geschichtsquellen, in: RhVjbll 23 (1958) S. 75–96; Johannes Hohlfeld, Stadtrechnungen als historische Quellen. Ein Beitrag zur Quellenkunde des ausgehenden Mittelalters, Leipzig 1912. Einen ersten Überblick zum österreichischen Kontext bieten Wilhelm Rausch, Das Rechnungswesen der österreichischen Städte von den Anfängen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Bericht über den achten österreichischen Historikertag in St. Pölten, Wien 1965, S. 119–131; Thomas Just, Österreichische Rechnungen und Rechnungsbücher, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hg. v. Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer, Wien/München 2004, S. 457–467. 12 Wolfgang Hess, Rechnung Legen auf Linien. Rechenbrett und Zahltisch in der Verwaltungspraxis in Spätmittelalter und Neuzeit, in: Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hg.), Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen, Sigmaringen 1977, S. 69–82; Keith F. Sudgen (Hg.), A History of the Abacus. The Accounting Historians Journal 8/2 (1981) S. 1–22.
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unterstützendes Objekt darstellen würde.13 Auch das Prozedere der Rechnung selber – das Legen der Beträge mithilfe von Rechensteinen und Abacus – ist Teil des Zusammenspiels zwischen Akteuren, deren Praktiken und den dabei benötigten Objekten. Doch wie gehen wir mit den gelisteten Informationen an sich um? Was unterscheidet die in den Rechnungsbüchern aufgelisteten Dinge von möglicherweise dort ebenfalls benannten Objekten? Der überlieferte Rechnungsbestand einer städtischen Verwaltung ist vorwiegend von der internen Organisation dieser Verwaltung abhängig. Rechnungen entstanden oft in Form von Privataufzeichnungen von Amtsinhabern in deren Funktion als kommunaler Verantwortungsträger.14 Nebenrechnungen und städtische Hauptrechnung kommunizierten über die einfache Buchführung, bei der nur die Saldi der Amtsrechnungen netto in das Hauptbuch der Kämmerei übertragen wurden. In vielen untersuchten Städten besteht keine Zentralkasse im modernen Sinn der fiskalischen Kasseneinheit.15 Daraus ergeben sich einige methodische Schwierigkeiten bei der Auswertung dieser Quellengattung. Die Endabrechnungen geben die einzelnen Einträge nicht unbedingt in der Reihenfolge der Ausführung der Arbeiten wieder, sondern entstanden aus der Auflistung einer Fülle von Einzelbelegen, die sich im Laufe eines Rechnungsjahres angesammelt hatten. Bei zentraler Kämmereirechnung wurde eine derartige Sonderrechnung stark gekürzt in das Hauptkassenbuch übernommen, der Belegcharakter ging dabei weitgehend verloren. Nach Eintragung in das Abrechnungsbuch waren die Einzelbelege zumeist überflüssig, wurden skartiert und stehen somit in vielen Fällen für eine systematische Auswertung nicht zur Verfügung.16 Was bedeutet dies nun für unsere Frage nach der Unterscheidung zwischen Dingen und Objekten? Während Dinge sich dadurch auszeichnen, dass sie einfach vorhanden sind und Teil einer nicht näher charakterisierten Masse an Dingen sind, sind Objekte Dinge, die wahrgenommen werden und denen eine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Oder wie es Carl Knappett formuliert: we are habitually surrounded in our everyday lives by things. Yet, in certain circumstances, individual items may be singled out and displayed […] and such items may
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Vgl. dazu Rippmann, Arbeit und materielle Kultur, S. 210. Hans Patze weist darauf hin, dass neben der Kirche die Städte in der Ausbildung einer schriftlichen Verwaltung richtungsweisend gewesen sind: Hans Patze, Neue Typen des Geschäftsschriftgutes im 14. Jahrhundert, in: Hans Patze (Hg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert 1, Sigmaringen 1970, S. 9–64, hier S. 54. Die österreichischen Städte zählen bereits zu den Nutznießern dieser Entwicklung. Zur kommunalen Buchführung vgl. Claudia Becker, Beiträge zur kommunalen Buchführung und Rechnungslegung, in: Hagen Keller/Thomas Behrmann (Hg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung, München 1995, S. 117–148. 15 Ein zusammenfassender Überblick mit Literatur bei Elisabeth Gruber, „Raittung und außgab zum gepew“. Kommunale Rechnungspraxis im oberösterreichischen Freistadt. Edition und Kommentar der Stadtgrabenrechnung (1389–1392), Wien/Köln/Weimar 2014, bes. S. 31–37. 16 Antje Sander-Berke, Zettelwirtschaft. Vorrechnungen, Quittungen und Lieferscheine in der spätmittelalterlichen Rechnungslegung norddeutscher Städte, in: Ellen Widder/Mark Mersiowsky/Peter Johanek (Hg.), Vestigia monasteriensia. Festschrift für Wilhelm Janssen, Bielefeld 1995, S. 351–364. 14
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qualify as objects.17 Man wird daher nicht falsch liegen anzunehmen, dass mit der gezielten Auswahl dessen, worüber berichtet oder Rechnung gelegt wird, gleichzeitig Stellung bezogen wird, Intentionen und Absichten fassbar werden – immer auch unter Berücksichtigung von überlieferungsbedingten Fehlstellen und Verkürzungen. Oder wie Gudrun Gleba und Nils Petersen in ihrem einleitenden Kommentar zu Formen und Methoden von Rechnungslegung formuliert haben: „Das sprachliche Abbild von Realien/Sachgütern – seien es Nahrungsmittel, Rohstoffe, Baumaterialien, Werkzeuge, handwerkliche Erzeugnisse oder andere kleinere und größere Dinge des täglichen Bedarfs oder des festlichen Luxusaufwandes – erscheint uns in bekannten und fremden Nutzungsund Funktionszusammenhängen und verweisen gleichzeitig weit über die einzelne Realie hinaus.“18
2. Objekte der Wiener Ratselite
Um diese Überlegungen zu konkretisieren, möchte ich auf die städtische Verwaltung Wiens zurückkommen und am Beispiel der Ratselite und ihres Versammlungsortes, dem Rathaus – dort, wo das Sitzkissen des Bürgermeisters Verwendung fand – exemplarisch ausgewählte Objekte in den Blick nehmen.19 Gerd Schwerhoff verweist in seinem einleitenden Beitrag zu Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit darauf, dass im Vergleich zu Kirchenräumen die Rathäuser eher „traditionelle und unspezifische Herrschaftssymbolik bargen“. Ob diese Feststellung auch für das Wiener Beispiel gelten kann, oder ob doch ein Blick in die Rechnungsbücher manche Hinweise auf sehr spezifische Symbole des individuellen Ratsverständnisses bergen, soll im Folgenden genauer betrachtet werden.20 Ich frage danach, wie Objekte eingesetzt, gebraucht oder wahrgenommen werden, um funktionale oder soziale Differenzierung auszudrücken, um Zuständigkeitsbereiche abzubilden oder um Bedeutungskontexte zu übermitteln. Ich frage auch danach, welche Wirkungen sich aus dem Objektgebrauch ergeben: Als politisches Gremium erfüllte der Stadtrat wesentliche Funktionen im Rahmen der städtischen Gemeinschaft. Er vertritt deren 17
Carl Knappett, Communites of Things and Objects. A Spatial Perspective, in: Lambros Malafouris/Colin Renfrew (Hg.), The Cognitive Life of Things. Recasting the Boundaries of the Mind, Oxford 2010, S. 81–89, hier S. 82. 18 Gleba/Petersen, Zur Einleitung, in: Gleba/Petersen, Wirtschafts- und Rechnungsbücher, S. 7–11, hier S. 9. 19 Zur Wiener Ratselite vgl. im Überblick: Klaus Lohrmann, Das Werden von Stadt und städtischer Gesellschaft, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 1: Von den Anfängen bis zur Ersten Wiener Türkenbelagerung (1529), Wien/Köln/Weimar 2001, S. 247–290; exemplarisch zur Wiener Ratselite vgl. Elisabeth Gruber, Wer regiert hier wen? Handlungsspielräume in der spätmittelalterlichen Residenzstadt Wien, in: Elisabeth Gruber/Susanne Pils/Sven Rabeler/Martin Scheutz/Herwig Weigl (Hg.), Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktionsund Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas, Wien 2013, S. 9–48. 20 Schwerhoff, Stadt und Öffentlichkeit, S. 15.
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Interessen nach innen und nach außen, sorgt für soziale Stabilität, kümmert sich um die Herstellung und Aufrechterhaltung von Infrastruktur. Als repräsentatives Organ kennzeichnet seine Mitglieder das Bedürfnis an Präsentation sowohl im Rahmen ihrer institutionalisierten Amtsausübung als auch hinsichtlich der sozialen Positionierung der eigenen Person und Familie. In all diesen Bedeutungs- und Funktionskontexten spielen Objekte eine wichtige Rolle. Als integraler Bestandteil des täglichen Lebens prägen sie Alltagsroutinen, Praktiken und Wahrnehmungen und sind konstitutiv für die Formung von kulturellen Ordnungsmustern. Der Wert von Dingen ist somit auch von den sozialen Beziehungen der involvierten Personen abhängig.21 Dies wird beispielsweise beim ersten namentlich genannten Bürgermeister Konrad Poll ersichtlich, dessen Familienmitglieder durch das gesamte 14. Jahrhundert in städtischen Leitungsfunktionen als Ratsmitglied, Bürgermeister oder Stadtrichter agierten und im Lauf der Zeit erheblichen Einfluss auf die städtische Gemeinschaft ausübten.22 Konrads Sohn Niklas konnte ebenso wie sein Vater in städtischen Leitungsfunktionen Fuß fassen. Als Bürgermeister, Ratsherr und Stadtrichter ist er urkundlich in den Jahren 1310 bis 1329 nachweisbar. Konrads dritter Sohn, Stephan, nahm schließlich nicht nur städtische, sondern auch landesfürstliche Agenden wahr: Mitte des 14. Jahrhunderts kontrollierte er zunächst als herzoglicher Vertrauter den Münzmeister in Wien, anschließend übte er Funktionen als Ratsherr und schließlich als Steuerherr aus. Durch Konrads Heirat mit der Tochter eines wahrscheinlich aus dem oberdeutschen Raum stammenden Kaufmanns kam die Familie in den Besitz eines später als Kölner Hof bezeichneten Gebäudekomplexes, der wie eine Reihe anderer öffentlicher Gebäude oder Bürgerhäuser auch eine Kapelle enthielt.23 Diese bereits durch den Vorbesitzer gestiftete Kapelle war den Heiligen Philip und Jakob geweiht und wurde von den Mitgliedern der Familie Poll weiter ausgebaut und umfangreich ausgestattet. Das Amt des Kaplans übte Konrads Sohn Seifried aus und verwaltete damit das umfangreiche Stiftungsvermögen, das dem Erhalt dieser Kapelle und der Seelsorge zugutekam. Mit zunehmendem Einfluss der Familie auf die städtischen Führungsämter rückte eine weitere Einrichtung in das karitative Interesse der Poll: die Rathauskapelle. Das Rathaus in der heutigen Wipplingerstraße im ersten Wiener Gemeindebezirk wird etwa zeitgleich mit den Nennungen der Rathauskapelle als Versammlungsort des Stadtrates bezeichnet. Das aus dem Besitz der im Zuge der Konflikte um den Herrschaftsantritt der Habsburger im Herzogtum Österreich verbannten Familie der Haimonen stammende Gebäude wurde 1316 der Bürgerschaft übergeben und mit einiger Verzögerung als solches genutzt, vielleicht um mögliche Rückforderungen abzuwarten.24 Besser informiert sind wir 21
Monika Eisenhauer, Quantitative Analyse mittelalterlicher Daten – ein methodischer Ansatz, in: Gleba/Petersen, Wirtschafts- und Rechnungsbücher, S. 293–306, hier S. 299. 22 Leopold Sailer, Die Wiener Ratsbürger des 14. Jahrhunderts, Wien 1931, S. 15, mit Belegen; Gruber, Handlungsspielräume, S. 30. 23 Richard Perger/Walther Brauneis, Die mittelalterlichen Kirchen und Klöster Wiens, Wien 1977, S. 270. 24 Felix Czeike, Wien und sein altes Rathaus, in: WienGbll 25–27 (1970–1972), S. 446–457; Walter Braun eis, Die baugeschichtliche Entwicklung des alten Rathauses im Spätmittelalter, in: WienGbll 25–27 (1970–1972), S. 457–465; Ferdinand Opll, Das älteste Wiener Rathaus, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 46 (1990), S. 107–122; zum Rathaus als multifunktionalem Raum mit diversen
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für das 14. Jahrhundert über die in diesem Gebäudekomplex eingerichtete Familienkapelle. Die Kapelle – in Anlehnung an ihre Stifter Otto II. und Haimo III. aus der Familie der Haimonen als „Ottenhaim“-Kapelle bezeichnet – war dem Patrozinium der heiligen Maria geweiht. Mit der Nutzung des Gebäudes als Rathaus wurde auch die Kapelle zur Rathauskapelle, deren Patronat der Stadtrat ausübte und die durch zahlreiche Stiftungen insbesondere der Familie Poll weiter ausgestattet wurde. 1360 erweiterte der Kaplan Jakob Poll die Kapelle durch Zukauf eines Nachbarhauses und der dazugehörigen Hofeinfahrt zu einem zweistöckigen Kapellenraum.25 Ein dem Einkünfteverzeichnis der Kapelle angeschlossenes Inventar aus dem Jahr 1367 listet eine Reihe von Reliquien, liturgischen Gegenständen und Messgewändern auf. Einige Objekte werden durch die Bezugnahme auf deren Verwendungszweck besonders augenfällig: aufwendig gestaltete Ornate, die zur Verwendung während der Gedenkgottesdienste von Seifried Reicholf und Ortolf Petziech bestimmt waren. Item est et alter ornatus integer varii coloris, cum libro missali et calice ad missam Ortolfi Pettziech supradicti specialiter pertinens. Item est quidam ornatus diversi coloris cum gallorum imaginibus filis aureis intextis, spectans ad missam Seifridi dicti Reicholfi praenominati.26
Qualität und Farbgestaltung der für die liturgischen Gewänder verarbeiteten Textilien verweisen auf die Position jener Personen, für deren Gedenkfeiern sie bestimmt wurden. Sowohl Seifried Reicholf als auch Ortolf Petziech als Mitglieder ratsfähiger Familien blieben durch die für die liturgische Feier bestimmten Objekte im ratsherrlichen Gedenken präsent. Im Rahmen der Seelenmessen wurde dieser Personen nicht nur namentlich gedacht, sondern mit jeder Verwendung der ihnen zugeschriebenen Objekte wurde auch deren Gedenken visuell vor Augen geführt. Während die vielen anderen im Inventar aufgelisteten und beschriebenen Dinge beinahe gleichförmig aneinandergereiht erscheinen, werden einzelne durch die Zuordnung zu namentlich benannten Akteuren der Ratselite hervorgehoben und ihr Stellenwert im Rahmen des Objektgebrauchs bestimmt. Ähnlich verhält es sich auch mit jenen Objekten, die für die praktische Durchführung der Amtsgeschäfte und das ratsherrliche Selbstverständnis von Bedeutung waren. Auch wenn über die Ausstattung des Rathauses nur wenig bekannt ist, so gibt doch die Rechnungsüberlieferung des 15. Jahrhunderts manchen Einblick in die getätigten Ausgaben, die sowohl umfassende bauliche Veränderungen als auch die Inneneinrichtung der Ratsstube und weiterer Räumlichkeiten betrafen. Zahlreiche Einträge betreffen die Innenausstattung der Rats- und Amtsstuben sowie eine Reihe äußerer Zeichen der Ratsherrschaft. Man ließ für die Ratsstube sowie für die Stube des Stadtschreibers die Kreuzfenster neu verglasen; insgesamt wurden 2.404 Scheiben eingesetzt, darunter auch die alten Glasscheiben der Ratsstube, die in den neuen Beispielen vgl. Susanne Pils/Christoph Sonnlechner/Martin Scheutz/Stefan Spevak (Hg.), Rathäuser als multifunktionale Räume der Repräsentation, der Parteiung und des Geheimnisses, Wien 2012. 25 Perger/Brauneis, Kirchen, S. 275; Die Salvatorkirche, in: WienGbll 28 (1974), Sonderheft 1. 26 WStLA HA Urk 706 (1376 98 27): Inventar der Rathauskapelle des Jakob Poll. online: http://monasterium.net/mom/AT-WStLA/HAUrk/706/charter [Stand: 02.11.2018].
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Versammlungsraum übertragen wurden. Die Erneuerung des Wappens im ratsherrlichen Versammlungsraum, die Ausgaben für die Anfertigung einer Fahne mit dem neuen, 1461 verliehenen Stadtwappen mit goldenem Adler, die Anfertigung einer neuen gedrechselten Büchse für das große majestatsigl sowie die Anschaffung von neuen Polstern für die Sitze der Ratsherren lassen auf eine grundlegende Neuausstattung der Räumlichkeiten im Zuge dieser Wappenbesserung schließen.27 Den Schlussstein des Gewölbes im Ratssaal zierte ebenso ein goldener Adler wie die im Bestand der Stadt befindlichen Tartschen, die mit dem neuen Wappen ausgestattet wurden.28 Die Anschaffung von Tischen, Kästen, Sitzbänken und weiteren Aufbewahrungsmöbeln für Ratsstube, Schreibstube und Steuerstube sind mehrfach dokumentiert.29 Der Einbau eines grün glasierten und eines unglasierten grauen Kachelofens in die beiden neu ausgestatteten Stuben unterstreicht das Selbstverständnis der Ratsherren, das die Wappenbesserung mit sich brachte.30 Der Kachelofen in seiner glasierten Variante ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil spätmittelalterlichen Wohnkomforts, sondern auch als repräsentatives Element städtischen Selbstverständnisses von Bedeutung.31 Der Einbau eines erhöhten Schreibpultes, das dem Stadtschreiber als Arbeitsplatz während der Ratssitzungen diente, unterstreicht dieses Selbstverständnis ebenso wie die für die Hilfskräfte des Stadtschreibers neu tapezierte Nebenkammer, oder die Ausstattung der als Librei bezeichneten Bücherkammer mit einem neuen Schloss und Schlüssel.32 In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass gerade für diese Zeit auch eine Systematisierung der städtischen Schriftlichkeit greifbar wird. Die Rechnungsbücher erscheinen strukturierter und um die Differenzierung der Agenden der inneren Verwaltung erweitert. Die Neubindung der städtischen Rechtssammlung fand ebenfalls im Rathaus statt, denn man wollte die für die 27
Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15341 (1462); Item an Freitag nach Basii dem Proko, kürsner, von den polstern ze machen, da die herren in der ratstuben auf siczen; Item von den glesern ze pessern in der ratstuben und in dem schreibstüblein; Nr. 15322 (1459): Umb ain gedrete püchsen zu dem grossen maiestatsigl. 28 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15296 (1456): Item umb ainen slosstain unden an das gewelb mit aim gulden adler; Nr. 15267 (1453): Von der stat schilten in die tartschen ze maln. 29 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15307 (1457): Item fur 1 tisch in das clain stubel; Item für die almar in dem gewelbl daselbs; Item fur die anhangund panke im stubl und schubladen; Item fur ain grosse almar in der obern kamer; Item fur ain swarzen tisch im turn; 15312 (1458): Auf das Rathaus im neuen sal penk und ander notdurft ze machen und zu pessern; 15341 (1462): Von erst in der ratstuben den stand und glender da der statschreiber stet. 30 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15296 (1456): Item umb ain grün ofen und umb ain graben ofen in paid neu stuben. 31 Für den österreichischen Raum immer noch grundlegend zur Bedeutung des Kachelofens ist Rosemarie Franz, Der Kachelofen. Entstehung und kunstgeschichtliche Entwicklung vom Mittelalter bis zum Ausgang des Klassizismus, Graz 1969; zur Keramik in Wien vgl. Felgenhauer-Schmied, Mittelalterliche Keramik aus Wien, in: Wien im Mittelalter, 41. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 18. Dezember 1975 bis 18. April 1975, hg. v. Historischen Museum der Stadt Wien, Wien o. J., S. 68–71, hier S. 70; zu grünen und grauen Kacheln in Wien vgl. Ingeborg Gaisbauer, Eine herzerwärmende Geschichte, online: https://stadtarchaeologie.at/eine-herzerwaermende-geschichte/ [Stand: 02.11.2018]. 32 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15369 (1466): Von dem sloss an der librei ze pessern und darzu umb ain slüssl.
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Sicherung der Rechte grundlegende Handschrift nicht außer Haus bringen lassen.33 Zu den sichtbaren Zeichen stadtherrlichen Selbstverständnisses gehörte auch die Anfertigung einer neuen Ratsglocke. Auf Vermittlung der Kaufleute (und späteren Ratsbürger) Andreas Kelhaimer34 und Simon Pötl35 wurden Kupfer und Zinn angekauft. Für das Joch der Glocke transportierte man Eichenholz aus den Besitzungen des Bürgerspitals zur Kirche St. Stephan, wo im Nordturm die 26,5 Zentner schwere Rathausglocke platziert werden sollte. In der Zwischenzeit wurde das benötigte Holz auf dem die Kirche umgebenden Friedhof gelagert. Die Anbringung der Inschriften auf Glocke und Glockenjoch oblag dem Kirchschreiber, der ut cedula eine eigene Rechnung vorlegte.36 Was auf den ersten Blick wie eine Aneinanderreihung an zeittypischen Maßnahmen hinsichtlich der Erneuerung und Ausstattung der repräsentativen Räumlichkeiten von Ratsherrschaft und den damit verbundenen Ausgaben erscheint, erfährt noch weitere Deutungsmöglichkeiten, nimmt man die Objekte in den Blick. Aus der langen Reihe von Dingen, die in den Rechnungsbüchern unter den Ausgabeposten auf das pau im rathaus oder auf das rathaus gelistet sind, werden – ähnlich wie beim Inventar der Rathauskapelle – einzelne durch ihre nähere Beschreibung, Zweckverwendung oder Begründung der Anschaffung hervorgehoben. Formulierungen wie dem Proko, kürsner, von den polstern ze machen, da die herren in der ratstuben auf siczen37, oder umb 12 ellen zendal von der stat zu dem vann des guldeinn adlers, so unser genedigister herr, der Römisch kaiser etc., gemainer stat geben hat38, machen deutlich, dass es hier nicht nur um die Auflistung getätigter Ausgaben geht. Auch bei dieser verkürzten Form des erzählenden Textes, der den Rechnungsbüchern immanent ist, werden zuweilen die Beziehungen zwischen den Menschen und den 33
Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15506 (1487): herrn Wendlaben, dem briester, von neuem davon inzepinten zu lon […] und fur das essen im Rathaus, wenn man im das puech nit hat wellen lassen haimtragen. Zum Stadtbuch vgl. Ferdinand Opll (Hg.), Das große Wiener Stadtbuch, genannt „Eisenbuch“. Inhaltliche Erschließung, Wien 1999; […] daz si ein recht puech solten haben [...]: Ferdinand Opll (Hg.), Kodikologische, kunsthistorische, paläographische und restauratorische Analysen zum Wiener Eisenbuch (14.–19. Jahrhundert), Innsbruck u.a. 2010. 34 Andre Kelhaimer, gest. um 1458–1462, Kaufmann. Urkundlich in Judenburg zwischen 1439–1447 und ab 1448 in Wien nachweisbar, 1453 Ratsherr, vgl. Richard Perger, Die Wiener Ratsbürger 1396–1526. Ein Handbuch, Wien 1988, S. 177. 35 Perger, Ratsbürger, S. 171; Richard Perger, Simon Pötel und seine Handelsgesellschaft, in: JbVGWien 40 (1984), S. 7–88. 36 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15260 (1451): Ausgeben auf die neu ratgloken um kupher, zin und ander notdurft maister Thoman Kren, der stat puchsenmaister. Die Bedeutung der Ratsglocke für das Ratszeremoniell beschreibt Poeck, Rituale der Ratswahl, S. 61–62; Mark Mersiowsky, Wege zur Öffentlichkeit. Kommunikation und Medieneinsatz in der spätmittelalterlichen Stadt, in: Stephan Albrecht (Hg.), Stadtgestalt und Öffentlichkeit. Die Entstehung politischer Räume in der Stadt der Vormoderne, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 13–57. Zur Verwendung von Eichenholz für Glockenstühle und deren Konstruktion vgl. etwa Iris Engelmann, Intentionale Verwendung von Eichen-Krummholz in Glockenstühlen des 15. und 16. Jahrhunderts am Beispiel von Beobachtungen in Thüringen, in MEMO 1 (2017): Holz in der Vormoderne, S. 60–72. Pdf-Format, doi: 10.25536/20170105 [Stand: 02.11.2018]. 37 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15341 (1462). 38 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15367 (1463).
Dinge und Objekte in der städtischen Rechnungsüberlieferung
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Objekten in den Blick genommen. Auf dieser Grundlage kann die Bedeutung dieser Objekte aus dem konkreten Umgang damit erschlossen werden. Hans Peter Hahn folgend können Dinge nie als etwas Isoliertes, Abgetrenntes begriffen werden.39 Immer ist es notwendig, den Kontext ihrer Nennung, ihres Gebrauchs und ihrer Bedeutung zu hinterfragen. Abschließend möchte ich noch auf einen Aspekt verweisen, der aus der Per spektive der Rechnungsbücher, wenn überhaupt, dann meist nur indirekt und nur in seltenen Fällen direkt augenfällig wird. Es sind jene Personen und Personengruppen, die auf der Beschaffungsseite der Geschäftstätigkeit des Stadtrates stehen, die zahllosen Handwerke und Gewerbe mit ihren Meistern, Gesellen und Lehrlingen, die an den Bau- und Ausstattungsarbeiten beteiligt waren, die Händler und Kaufleute, die Material und Waren angeliefert haben oder die Tagelöhner, deren Arbeitsleistung an vielen Stellen vonnöten war. Ihre Perspektive – und damit auch auf die dem ratsherrlichen Repräsentationsbedürfnis zur Verfügung stehenden Markt – bleibt zunächst verschlossen; namentliche Nennungen erfolgten nur bei im Kontext der städtischen Elite bemerkenswerten Persönlichkeiten, wie dem bereits genannten Simon Pötl, Geschäftsmann und Gründer einer Handelsgesellschaft, Financier und Dienstleister der Herzöge wie auch Ratsmitglied.40 Bemerkungen wie jene anlässlich getätigter Ausgaben nehmen gelegentlich auch spezifische Fertigkeiten in den Blick: zwei zwar nicht namentlich, jedoch hinsichtlich ihres Geschlechts benannte Dienstleister, nämlich Frauen, entlohnte man dafür, das gekauftes Material wie Port- und Sprengseide zu Kordeln, Dolden und anderen Verzierungen für die Fahnen der Trompeter zu verarbeiten.41 3. Schluss
Das Interesse an Städten als komplementär und integrativ organisierte soziale und reale Räume nimmt im Rahmen der vergleichenden und interdisziplinär arbeitenden Städtegeschichte kontinuierlich zu. In der Stadt als eng verbautem Raum treffen Einflussbereiche aufeinander, die von einem variablen Mix aus Akteuren, deren Praktiken und Handlungsmöglichkeiten geprägt sind, und die in einem baulich, topografisch und sozial definierten Raum unter Nutzung verschiedener für sie zugänglichen Ressourcen agieren. Städte als Raum für Praktiken zu begreifen, die durch performative Akte, durch Ereignisse und Handlungen konstituiert wurden, ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Rolle von Dingen in der Stadt wie von Dingen der Stadt. Dinge als Objekte materieller Kultur stellen in dieser Struktur ein wesentliches Element dar.42 Im Rahmen von Interaktion und Praktiken wird Dingen 39
Hans Peter Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin ²2014, S. 11. Perger, Simon Pötel. 41 Uhlirz, Urkunden und Regesten II, Nr. 15322 (1459). 42 Axel Christophersen, Performing Towns. Steps towards an Understanding of Medieval Urban Communities as Social Practice, in: Archaeological Dialogues 22 (2015), S. 109–132, doi: 10.1017/ S1380203815000161 [Stand: 02.11.2018]. 40
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eine jeweils bestimmte Funktion zugemessen. Martin Knoll hat aus neuzeit- und umwelthistorischer Perspektive die Eignung von Städten als Untersuchungsgegenstand für Fragen nach materieller Kultur treffend skizziert: „Städte bieten in ihrer Konzentration von Gebäuden und Infrastrukturen, als Knotenpunkte von Netzwerken der Mobilität, der Ver- und Entsorgung, von Material- und Energieströmen einen naheliegenden Ansatzpunkt materialistischer Forschungsperspektiven.“43 Bedeutung und Gebrauch von materiellen Objekten haben Einfluss auf die Zufälligkeit der Überlieferung, denn Vorstellungen von Wert oder Wertlosigkeit werden für die Entscheidung des Aufhebens oder Wegwerfens genauso wirksam wie äußere Umstände, etwa Kriege, Katastrophen oder die Haltbarkeit von Dingen, die durch ihre Materialität bestimmt ist. Davon sind Dinge genauso betroffen wie die schriftlichen Aufzeichnungen, die von den Dingen berichten. Rechnungsbücher, Inventare oder anlassbezogen entstandene Auflistungen von Gegenständen wie etwa in Testamenten, Inventaren oder Rechnungsbüchern bieten Grundlagen für einen ersten Zugang zur Frage nach Gebrauch und Anordnung von Dingen in der Stadt.44 Ihre Form der Aufzeichnung enthält Hinweise auf Nutzungszusammenhänge und Ordnungsprinzipien. Die Objekte und Objektgruppen, die in der schriftlichen Überlieferung „greifbar“ werden, sind vielfältig: Im Rahmen der städtischen Rechtsausübung werden beispielsweise Siegel, Siegelwachs und Typar ebenso gebraucht wie der Pranger oder Strafwerkzeuge, Objekte der Stadtwaage, des Mautwesens oder des Richteramtes; der Systematisierung von Verwaltungshandeln dienen Rechenbrett und Rechensteine ebenso wie Glocke und Versammlungsraum. Ein Großteil jener Objekte, die mit der Aufrechterhaltung städtischer Infrastruktur, mit Repräsentationsbedürfnissen und der Notwendigkeit der Selbstvergewisserung in Zusammenhang stehen, sind im Kontext dieser pragmatischen Schriftlichkeit überliefert. Gleichermaßen ist diesen auf den ersten Blick glaubwürdigen Informationen ein gewisses Maß an Vorsicht entgegenzubringen: nicht jede Rechnung gibt selbstredend Aufschluss über den Gebrauch der enthaltenen Objekte, und nicht jedes aufgelistete Objekt kann mit einer Gebrauchsfunktion in Verbindung gebracht werden45. Dennoch scheint es lohnenswert zu sein, die Dinge und Objekte in den Blick zu nehmen und zumindest deren räumliche Kontexte auszuloten.46
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Martin Knoll, Nil sub sole novum oder neue Bodenhaftung? Der material turn und die Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 59 (2014), S. 191–207, hier S. 203. 44 Vgl. dazu die grundlegende Studie von Katharina Simon-Muscheid, die am Beispiel vor allem schweizerischer Inventare der Frage nach den Dingen als Schnittpunkte sozialer Beziehungsnetze nachgeht: Katharina Simon-Muscheid, Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag (Oberrhein, 14. bis 16. Jahrhundert), Göttingen 2004. 45 Giorgio Riello, “Things Seen and Unseen”. The Material Culture of Early Modern Inventories and Their Representation of Domestic Interiors, in: Paula Findlen (Hg.), Early Modern Things. Objects and their Histories, 1500–1800, London 2013, S. 125–150. 46 Carl Knappett, Communities of Things and Objects. A Spatial Perspective, in: Lambros Malafouris/Colin Renfrew (Hg.), The Cognitive Life of Things. Recasting the Boundaries of the Mind, Cambridge 2010, S. 81–89, hier S. 81.
WAPPEN IN DER STADT – ALS MEDIEN DER KOMMUNIKATION VON ADELIGEN, PATRIZIERN UND GILDEN Susanne Wittekind
Wappen gelten bis heute vor allem als Identitätszeichen der adeligen, höfisch-ritterlichen Gesellschaft des hohen und späten Mittelalters. Lange bestimmte die Frage nach der Ausbildung bestimmter Wappenformen und Motive sowie die Identifikation der Wappenführer die Heraldik als historische Hilfs- oder Grundwissenschaft.1 Michel Pastoureau machte auf ihre Bedeutung als code social und Medium symbolischer Kommunikation aufmerksam.2 Doch erst Werner Paravicini zeigte – anhand einer fiktionalen und doch quellenbasierten Schilderung des Besuchs eines Herrn von Fleckenstein in einer oberdeutschen Stadt im Jahr 1480 –, wie sehr die hinsichtlich ihrer Materialien und Medien vielfältige und zugleich dichte Präsenz von Wappen gerade den städtischen Alltag prägte.3 Denn Wappen begegneten in der Stadt gleichsam überall: Das Stadtwappen am Stadttor, an städtischen Gebäuden und in der Tracht städtischer Büttel oder Musiker, sogar noch als Marke städtisch registrierter Bettler. Durch das Wappen auswärtiger Herren an Portalen oder in Repräsentationsräumen ihrer Stadthäuser demonstrierten Adlige und Bürger ihre Gefolgschaft oder Einbindung in ein politisches Netzwerk.4 Kaufmanns-Verbünde anderer Städte markierten ihre Höfe durch das Wappen ihrer Heimatstadt.5 Patrizier zierten nicht 1
Georg Scheibelreiter, Wappen im Mittelalter, Darmstadt 2014, S. 7f. Michel Pastoureau, Traité d’héraldique, Paris ³1997. 3 Werner Paravicini, Gruppe und Person. Repräsentation durch Wappen im späteren Mittelalter, in: Otto Gerhard Oexle/Andrea von Hülsen-Esch (Hg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, Göttingen 1998, S. 327–389. 4 Thorsten Huthwelker, Die Darstellung des Rangs in Wappen und Wappenrollen des späten Mittelalters, Ostfildern 2013, S. 96 u. S. 118 zu gemalten Wappenfolgen in oberrheinischen Stadthäusern (Basel, Schönes Haus von Nadelberg ca. 1270; Zürich, Haus zum Loch ca. 1306); zu diesen sowie zur ca. 1310 datierten Wappenwand aus dem Haus zum Langen Keller in Zürich (Zürich, Landesmuseum) siehe Christoph Winterer, Leere Gesichter und Wappen. Zur Welt der Zeichen in Kaiser Heinrichs Romfahrt, in: Wolfgang Achnitz (Hg.), Wappen als Zeichen, in: Das Mittelalter 11 (2006), S. 71–97, hier S. 86; Hans-Rudolf Meier/Sabine Sommerer, Von der kollektiven Identität zur individuellen Ahnenprobe. Heraldik in der Spätmittelalterlichen Profanraumdekoration, in: Dominique Rigaux/Eckart Conrad Lutz (Hg.), Paroles des Murs, Grenoble, Fribourg 2007, S. 167–182. 5 Zu Wappen an Häusern, auf Fahnen oder Bannern als politische Gefolgschaftszeichen siehe Christoph Friedrich Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs. Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2011. 2
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nur Portale ihrer Stadthäuser mit ihren Familien- bzw. Ahnen-Wappen, sondern auch Deckenbalken, Schränke, Kamine und Glasfenster ihrer Festsäle, ebenso Willkomm-Pokale. Ihre Wappen kehrten in den Räumen des Rats wieder, aber auch in den Kirchen der Stadt – hier natürlich auf Grabmälern, vielfach auf gestifteten Glasfenstern, Skulpturen und Altären.6 Gerade in den Kirchen, je nach Stadtverfassung auch in den Räumen des Rats, schrieben sich ebenso Bruderschaften und Zünfte mit ihren Wappen in den öffentlichen Raum und das kommunale Gedächtnis ein.7 Die Rolle der Wappen als Medien der symbolischen Kommunikation – als Vergegenwärtigung und Erinnerung der Person, die sie zeichenhaft vertreten, als Zeichen von Verwandtschaft oder Gefolgschaft, von Gruppenzugehörigkeit und sozialem Status, als Ausdruck politischer Bestrebungen und Ansprüche –,8 kommt mithin, so die These, sogar in besonderer Weise in Städten zum Tragen. Denn Städte bieten in ihrer Konzentration von repräsentativen Gebäuden, die im Besitz oder Zugriff verschiedener Familien, Gruppen und Institutionen sind, als Knotenpunkte von Verkehrswegen und als Zentren des Güteraustauschs und des produzierenden Gewerbes nicht nur eine besondere Dichte materieller Kultur. Der Stadtraum bildete auch eine „Bühne, auf der sich die Repräsentation ereignete. Ihn galt es zu markieren, wenn möglich zu beherrschen.“9 Und in ebendiesem städtischen Kontext wirken auch die handwerklichen Produzenten der Wappen tragenden Objekte, Maler und Glasmaler, Goldschmiede, Sattler, Bildschnitzer und Steinmetze, Töpfer und Glasbläser, Schneider und Bortenweber.10 6
Oft nutzten zur Ratsfähigkeit strebende Familien sowie patrizische Ratsfamilien das Amt des Kirchenmeisters an ihrer Pfarrkirche, um durch Stiftung von Kapellen und Kunstwerken ihr Wappen im Raum zu platzieren und damit ihre Familie ins Gedächtnis der Gemeinde einzuschreiben. Vgl. Corinne Schleif, Donatio et memoria. Stifter, Stiftungen und Motivationen an Beispielen aus der Lorenzkirche in Nürnberg, München 1990; Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen, ihre Verwaltung und die herrschenden Geschlechter der Stadt im späten Mittelalter, in: Sigrid Schmitt/Sabine Klapp (Hg.), Städtische Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter, Stuttgart 2008, S. 81–92. 7 Zur spätmittelalterlichen Repräsentation von Zünften in Kirchen liegen bisher nur lokale Fallstudien vor, so von Martin Papenbrock, Die Zunftfenster im Freiburger Münster. Zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Glasmalerei, in: Kristin Marek/Martin Schulz (Hg.), Kanon Kunstgeschichte. Einführung in Werke, Methoden und Epochen. Mittelalter Bd. 1, Paderborn 2015, S. 325–342; Stefan Bürger, Hinweise auf Bruderschaften und Zünfte als Akteure in spätgotischen Kirchen Sachsens und angrenzender Regionen, in: Andreas Tacke/Birgit Ulrike Münch/Wolfgang Augustyn (Hg.), Material Culture. Präsenz und Sichtbarkeit von Künstlern, Zünften und Bruderschaften in der Vormoderne, Petersberg 2018, S. 175–149; Vera Henkelmann, Das Beleuchtungswesen der Bruderschaften und Zünfte im Spätmittelalter. Gestaltung und Funktionen im Spiegel der Sachkultur und Schriftüberlieferung, in: ebd., S. 331–358. Siehe dazu auch den Beitrag von Kirsten Lee Bierbaum in diesem Band. 8 Torsten Hiltmann, Arms and Art in the Middle Ages, in: Ders./Laurent Hablot (Hg.), Heraldic Artists and Painters in the Middle Ages and Early Modern Times, Ostfildern 2018, S. 11–23, hier S. 12. 9 Werner Paravicini, Krieg der Zeichen, in: Jan Hirschbiegel/Ders. (Hg.), In der Residenzstadt. Funktionen, Medien, Formen bürgerlicher und höfischer Repräsentation, Ostfildern 2014, S. 11–34, hier S. 31f. 10 Marc Gil, Peinture d‘armoiries, une activité parmi d‘autres du peintre médiéval? in: Hiltmann/ Hablot, Heraldic Artists, S. 43–55, hier S. 47–50: zur Herleitung der Bezeichnung der Maler als ‚Schilderer‘ aus ihrem heraldischen Tätigkeitsfeld; vgl. Matteo Ferrari, Au service de la Commune. Identité et culture des peintres héraldistes dans les villes italiennes aux XIIIème–XIVème siècles, in: ebd., S. 56–94.
Wappen in der Stadt
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Für Kunsthistoriker*innen bilden in der Regel erhaltene Objekte den Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Sie beziehen neben dem Bildmotiv auch Material und künstlerische Darstellungsweise ein, verorten Werke im räumlichen Kontext, fragen nach ihrem Zusammenwirken mit anderen Objekten, ihrer Sichtbarkeit und Zugänglichkeit für verschiedene Betrachter. Wappen fanden bislang, trotz ihrer Bedeutung als jahrhundertelang populäres Bildmedium, aufgrund ihrer formalen Zeichenhaftigkeit und stereotypen Gestaltung in der Kunstgeschichte wenig Aufmerksamkeit. Vonseiten der Kunstgeschichte hat zuerst Kilian Heck auf die Bedeutung des Bildmediums Wappen im spätmittelalterlichen Stadtraum aufmerksam gemacht. Im folgenden rekurriere ich auf seine Beobachtungen zur heraldischen Markierung des Stadt- und Kirchenraumes durch den Ysenburgischen Stadtherrn im hessischen Büdingen.11 Hinsichtlich der selbstbewussten heraldischen Einschreibung von Patriziern in den öffentlichen Verkehrsraum ziehe ich die Studien von Wolfgang Kemp und Kilian Heck zur Hausdurchfahrt der Frankfurter Patrizierfamilie Glauburg heran.12 Als Beispiel für die heraldische Selbstverortung von Bruderschaften stelle ich dann St. Mary’s Gildhall in Coventry vor. Anhand dieser Werke möchte ich exemplarisch auf die Bedeutung von Wappen als Objekte im Stadtraum aufmerksam machen – auf die Rolle ihrer materiellen Träger für die Dauerhaftigkeit der Erinnerung, auf die Verknüpfung verschiedener Orte, Räume und Objekte mittels des Wappenzeichens, sowie auf die Wirkung des Anbringungsortes des Wappens mit Blick auf dessen Adressaten im städtischen Raum.
1. Markierung des Stadt- und Sakralraumes durch den adeligen Stadtherrn in Büdingen Seit dem Hochmittelalter waren die Herren von Ysenburg, die 1442 in den Grafenstand erhoben wurden, Stadtherren von Büdingen.13 Nach Beendigung der Mainzer Stiftsfehde erhielt die Stadt ab 1503 eine Befestigung mit 30 Türmen und drei wichtigen Torbauten, die das Wappen der Stadtherren zeigen, d.h. zwei schwarze Querbalken vor Silbergrund. Jeweils benachbart zu diesen Toren findet man repräsentative Gebäude, die ebenfalls mit dem Wappen der Ysenburger gekennzeichnet sind, so
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Kilian Heck, Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit, Berlin 2002; zur heraldischen Topographie von Büdingen: ebd., S. 85–132. 12 Wolfgang Kemp, Genealogie und Gewölbe. Zu zwei Gewölben Madern Gertheners in Frankfurt am Main, in: Kilian Heck/Bernhard Jahn (Hg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit, Tübingen 2000, S. 177–197; Kilian Heck, Die Ahnen formen den Raum. Genealogische Dispositive in der Architektur im 15. Jahrhundert, in: Dietrich Boschung/Julian Jachmann (Hg.), Diagrammatik der Architektur, München/Paderborn 2013, S. 286–306, hier S. 286–293. 13 Heck, Genealogie, S. 86; zu Ysenburger Wappen in der Stadttopographie: ebd., S. 95–106.
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das Steinerne Haus und der Witwenhof im Oberhof. So treten die Ysenburger insbesondere an der Schwelle zur Stadt als Stadtherren hervor. Doch auch das Rathaus im Zentrum trägt ihr Wappen.
Abb. 1: Wappen des Stadtherrn von Ysenburg am Rathaus in Büdingen Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Sven Teschke 2006
An Häusern der Neu- und Altstadt findet man hingegen vereinzelt bürgerliche Hausmarken. In verdichteter Form und mit genealogischer Tiefenperspektive entfaltet sich das familiäre Netzwerk der Ysenburger jedoch in der Marienkirche. Sie wurde 1476 zur Stifts- und Pfarrkirche erhoben und durch einen durchlichteten Langchor auf Kosten der Ysenburger erweitert, während die alte Pfarrkirche St. Remigius vor den Mauern der Stadt ihre Pfarrrechte verlor und ihrer ehemaligen Kapelle inkorporiert wurde. Das Gewölbe der Marienkirche wird durch die Wappen der Ahnenreihe der Ysenburgischen Dynastie geziert. In den Seitenschiffen werden diese flankiert von den Wappen verwandter Familien und Dienstmannen; erst ganz im Westen folgen die Wappen einiger Büdinger Amtmänner. Die Herrschaft der Ysenburger über die Stadt wird hier für Jahrhunderte in die städtische Pfarrkirche eingeschrieben. Zugleich erfährt sie durch die Wahl des Wappenortes eine Sakralisierung, denn das Kirchengewölbe wird traditionell mit dem Himmelszelt assoziiert.
Wappen in der Stadt
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Abb. 2: Chorgewölbe der Marienkirche in Büdingen (siehe FT 2, S. 122) Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Sven Teschke 2006
So zierten Sterne und nimbierte Heiligenfiguren die Anfang des 13. Jahrhunderts eingezogene Querhaus-Wölbung der Halberstädter Liebfrauenkirche. Im 14. Jahrhundert zeigen dann die Schlusssteine der gotischen Rippengewölbe oft wichtige Szenen der Heilsgeschichte. So ist in der Pfarrkirche Santa María del Mar in Barcelona (1329–83) die Marienkrönung passend zum Altarpatrozinium über dem Hochaltar platziert; es folgen Schlusssteine mit der Verkündigung und der Geburt Christi sowie im Westen das Reiter-Siegelbild der Krone Aragón – vermutlich als Erinnerung an die Förderung des Baus durch König Alfons IV. (reg. 1327–1336).14 In der 1121 gegründeten, 1340 im decorated style eingewölbten Benediktinerabteikirche Tewkesbury zeigen 15 Schlusssteine Szenen des Lebens Jesu, hier von West nach Ost folgend; sie werden von musizierenden Engeln begleitet, die die seitlichen Rippenkreuzungspunkte zieren. Die Wappen der adligen Förderer der Kirche (von deren Gründung bis zum Chorneubau 1340) nimmt in Tewkesbury hingegen die Sockelzone der Chorfenster auf, die darüber Christi Auferstehung und Jüngstes Gericht darstellen sowie Propheten, Apostel und Heilige.15 Auch in der Stadtpfarrkirche in 14
Núria de Dalmases/Antoni José i Pitarch, L’art gòtic s. XIV–XV, Barcelona 1984, S. 66f. Richard K. Morris/Ron Shoesmith, Tewkesbury Abbey. History, Art and Architecture, Almeley 2003. Vgl. das Wappenbuch der Förderer und Wohltäter der Abtei Tewkesbury, ca. 1525 (Oxford, Bodleian Library, ms. Top. Glouc. d. 2): http://www.bodley.ox.ac.uk/dept/scwmss/wmss/medieval/ mss/top/glouc/d/002.htm. [Stand: 19.01.2019]. Ein frühes Beispiel für die Wappenpräsenz der Stifterfamilie und deren Ahnen in Glasfenstern ist die Kirche des Prämonstratenserinnenklosters Altenberg ca. 1290 – vgl. Stefanie Seeberg, Textile Bildwerke im Kirchenraum. Leinenstickereien im Kontext mittelalterlicher Raumausstattungen aus dem Prämonstratenserinnenkloster Altenberg/ Lahn, Petersberg 2014, S. 128–132. Die im Kurtrierer Lehenbesitz Partenheim ansässigen Freiherren von Wallbrunn und Freiherren von Wambold sicherten sich ihre memoria ebenfalls durch Fensterstiftungen, hier in der nach dem Brand von 1435 erneuerten Pfarrkirche St. Peter; siehe Suzanne Beeh-Lustenberger, Glasmalerei um 800–1900 im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt, Hanau 1973, Textband S. 130–150, Nr. 180–205, Abbildungsteil Nr. 106–127.
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Büdingen zeigt der zentrale Schlussstein des Chorpolygons die Kirchenpatronin Maria mit dem Kind, umgeben von fünf musizierenden Engeln. Auf ihn folgen die Schlusssteine mit dem Ysenburger und dem Nassauer Wappen, die somit über dem Hochaltar als dem wichtigsten liturgischen Memorialort platziert sind. Die übrigen Wappenschilde im Netzgewölbe des Chores ergeben die Ahnenprobe mit je acht Vorfahren des Stifterpaares Ludwig II. von Ysenburg-Büdingen (reg. 1461–1511) und seiner Gattin Maria von Nassau-Wiesbaden († 1480).16 Die Grafen nutzen den von ihnen finanzierten Bau der Marienkirche zur Sicherung ihrer memoria, vor Gott und den Bürgern ihrer Stadt.
2. Patrizische Einschreibung in den öffentlichen Verkehrsraum in Frankfurt Doch nicht nur der Adel, sondern auch die Städte und ihre Bürger nutzten im Spätmittelalter Wappen zur Demonstration ihrer Geschichte, ihrer Bedeutung und ihrer weitreichenden Verbindungen. Dies zeigt ein weiteres, von Heck und Kemp behandeltes Beispiel in der Messe- und Reichsstadt Frankfurt am Main, hier die Durchfahrt zum Nürnberger Hof. Das gestalterisch reizvolle, architektonisch avancierte Sterngewölbe wird von der Frankfurter Patrizierfamilie Glauburg benutzt, um sich und ihre Vorfahren im (halb-)öffentlichen Raum einzuschreiben. Von Torbögen zur Straße abgegrenzt, führten Durchfahrten von der Schnurgasse und der neben dem Markt gelegenen Straße „Hinter dem Lämmchen“ zu ihrem Sitz. Zugleich diente diese Durchfahrt dem Zugang zum Sitz der Nürnberger Kaufleute in Frankfurt – daher der Name Nürnberger Hof. Dort residierten hohe Gäste wie Friedrich III. (1452) oder Maximilian I. (1493) während ihres Aufenthalts. Der allein erhaltene südliche Durchgang zum inneren Hof präsentiert die väterlichen Ahnen der durch Heirat 1406 verbundenen Familien Glauburg und von Knoblauch an den Wappenkonsolen, die ein kunstvolles Sterngewölbe des Architekten Madern Gerthener († 1430) tragen.17 Der zentrale, dem Lastenaufzug zum darüberliegenden Speicher dienende Sprengring im Zentrum des Gewölbes wird flankiert von Schlusssteinen mit den Stadtwappen Frankfurts und Nürnbergs. Somit präsentieren sich die beiden 16
Heck, Genealogie, S. 109, nach Karl Dielmann, Bemerkungen zur Baugeschichte der Marienkirche in Büdingen, in: Büdinger Geschichtsblätter 1 (1957), S. 103–118, sowie Peter Fleck, Die Gewölbeabschluß- und Wappensteine, in: Ev. Kirchengemeinde Büdingen (Hg.), 1491–1991. 500 Jahre Marien kirche Büdingen, Büdingen 1991, S. 88–103. Heck, Genealogie, S. 91f., zieht das Netzgewölbe mit Wappenschlusssteinen des 1449–1454 errichteten Neubaus der Marienkirche und Grafengrablege im nahegelegenen Hanau als Vorbild für das der Büdinger Marienkirche heran. 17 Gerhard Ringshausen, Madern Gerthener. Frankfurts großer Architekt und Bildhauer der Spätgotik, Frankfurt 2015, S. 61–63. Weitere Literatur s. Anm. 12. Ein silberner, feuervergoldeter Deckelpokal aus dem Besitz der Familie von Glauburg (Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum), der stilistisch 1400–1425 datiert wird, zeigt das Wappen der Familie von Glauburg mit den Wappen weiterer Mitglieder der Frankfurter Ganerbschaft Alten-Limpurg am Mauerkranz der bekrönenden Architektur, hier als Zeichen gemeinschaftlicher Macht und Wehrhaftigkeit. Zum Pokal s. Sotheby’s Catalogue: European Silver, Tuesday 13 May 1986, Genf 1986, Nr. 48. Für diesen Hinweis danke ich Jana Thies/Köln.
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Abb. 3: Netzgewölbe in der Durchfahrt zum Nürnberger und Glauburger Hof in Frankfurt, von Madern Gerthener Wappenkonsolen der Familien Glauburg und von Knoblauch, Schlusssteine mit dem Frankfurter und dem Nürnberger Stadtwappen Quelle/Foto: Susanne Wittekind 2019
Patrizierfamilien als wichtige Stadt, Handel und Reich tragende Kräfte. Und dies in einem Raum, der nicht nur Zugang zu ihrem und dem Nürnberger Hof bot, sondern wohl damals wie heute als kurze Verbindung zwischen Schnurgasse (heute Berliner Straße) und dem Markt genutzt wurde und damit von einem breiten Publikum rezipiert wurde. Wappenkonsolen im Zusammenspiel mit Wappenschlusssteinen erweisen sich hier als langfristig wirksame Medien der politischen Repräsentation und patrizischen Selbstdarstellung im städtischen Verkehrsraum.
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3. Visuelle Vernetzung von Gilde und Stadtrat in Coventry Auch städtische Korporationen bedienten sich in ihren repräsentativen Versammlungsräumen der Wappen als Medium der Darstellung von Geschichte, als Ausweis ihres Netzwerks und zur Demonstration des sozialen Status ihrer Gemeinschaft, wie das Beispiel der St. Mary’s Guildhall in Coventry zeigt.18 Coventry war, dank königlicher Privilegien für Wollexport (1273) und Zollfreiheit (1334), im Spätmittelalter eine der größten Handelsstädte des englischen Königreichs und wichtiger Kreditgeber der Könige. Edward III. (reg. 1327–1377) erlaubte 1340 Coventry die Gründung von Gilden. Im gleichen Jahr noch wurde die St. Mary’s Gilde der Kaufleute gegründet, der die Handelsaufsicht in Coventry mit oblag. 1342 erfolgte die Gründung der St. John the Baptist Gilde der Tuchhändler (mercers), 1343 die St. Katherine’s Gilde der Stoffhändler (drapers). Anders als im Reich bedurfte in England die Gründung einer jeden Gilde der Erlaubnis des Königs. Der Zusammenschluss der meist einem bestimmten Gewerbe zugehörigen Mitglieder beinhaltete die Wahl des Gildenmeisters (master), festliche Zusammenkünfte an Festtagen ihres Patrons, das gemeinschaftliche Totengedenken für das Seelenheil der Mitglieder und soziale Fürsorge.19 Die Gilden finanzierten Priester zur täglichen Feier der Messe, die Ausstattung von Kapellen und Altären ihres Patrons, sogar den Bau von Kirchen oder Kapellen. Doch wurden die Priester nicht nur zur Fürbitte für das Seelenheil der Gildenmitglieder verpflichtet, sondern auch für das des Königs und seiner Familie. Die Gründungsurkunde der St. Katherine’s Gilde verpflichtete diese 1343, drei Priester zum täglichen Singen von Messen zugunsten des Seelenheils König Edwards III. und Königin Philippas von Hennegau (reg. 1328–1369), für Edwards Mutter Isabel (reg. 1326–30, † 1358) und weitere Angehörige in der Katharinenkapelle der Hospitalkirche St. John the Baptist zu unterhalten.20 Die St. John’s Gilde garantierte in ihrer Gründungsurkunde 1342 den Unterhalt von sechs Priestern, die täglich die Messe in St. Michaels und der Trinity-Kirche lesen sollten. Königin Isabel unterstützte die Gilde 1344 durch eine Schenkung zur Errichtung der Kirche St. John Bablake, an der zwei Priester täglich die Messe singen
18
William Brewer Stephens, The City of Coventry: Buildings, Public Buildings, in: A History of the County of Warwick. Bd. 8: The City of Coventry and Borough of Warwick, London 1969, S. 141– 146; ders., The City of Coventry. Social history to 1700, in: ebd., S. 208–221; Anthony Emery, Greater Medieval Houses of England and Wales 1300–1500. Bd. 2 East Anglia, Central England, and Wales, Cambridge 2000, S. 372–377; Illustrative Papers on the History and Antiquities of the City of Coventry […] by Thomas Sharp, hg. v. William George Fretton, Birmingham 1871, zu St. Michael’s church: S. 1–70, zu St. Mary’s Hall: S. 210–227. 19 Sabine von Heusinger, Von ‚Antwerk‘ bis ‚Zunft‘. Methodische Überlegungen zu den Zünften im Mittelalter, in: ZHF 37 (2010), Heft 1, S. 37–71, hier zu den bruderschaftlichen Elementen der Zunft S. 44–48. Die Gründungsurkunde der St. Mary’s Gilde 1340 sieht ein jährliches Treffen des Masters, der Brüder und Schwestern der Gilde am Festtag Mariae Himmelfahrt (15.8.) im Saal von St. Mary’s Guildhall vor; Illustrative Papers, S. 210. 20 Illustrative Papers, S. 159: aus dem Kartular von St. Mary’s. Das Hospital wurde auf Initiative des Archidiakons Edmund von Coventry (1160–1176) gegründet (ebd., S. 155).
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und weitere liturgische Dienste verrichten sollten, dies zu ihrem und ihres Sohnes König Edwards III. Seelenheil sowie für weitere Angehörige, doch auch für die Gildenmitglieder sowie deren verstorbene Mitglieder.21 Die älteste und wichtigste Gilde in Coventry war die St. Mary’s Gilde. Anders als in gewerblich bestimmten Zünften gehörten zu ihren Mitgliedern auch Angehörige der Königsfamilie, hohe Adlige und Geistliche.22 Sie bezahlte zwei Priester, die in der Marienkapelle an der Nordseite der Stadtpfarrkirche St. Michael Matutin-Vesper und weitere liturgische Feiern abhielten.23 Direkt gegenüber dem Südportal dieser großen Stadtpfarrkirche errichtete sie 1342 eine Versammlungshalle: St. Mary’s Guildhall.24 MINSTRELGRLLERXJ
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Abb. 4: Grundrisse der St. Mary’s Guildhall in Coventry Quelle: : Illustrative Papers (1871), Abb. zwischen S. 210 und 211
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Illustrative Papers, S. 130: zur Gründung der 1350 geweihten Kirche. Das Gildeninventar von 1346 nennt neben Paramenten auch Kelch, Missale und Fahnen (ebd., S. 145). 22 William Dugdale, Antiquities of Warwickshire Illustrated, London 1654, zu Coventry: S. 85–128, hier S. 122–123; die Wiedergabe der Gilde-Statuten, der Mitglieds-Eidformel und Mitgliederliste (14. Jahrhundert): https://archive.org/details/antiquitiesofwar00dugd/page/122 [Stand: 26.01.2019] 23 Illustrative Papers, S. 24, zitiert eine Urkunde von 1350. 24 George Demidowicz, The Development of St Mary’s Hall, Coventry. A Short History, in: Linda Monckton/Richard K. Morris (Hg.), Coventry. Medieval Art, Architecture and Archaeology in the City and its Vicinity, Leeds 2011, S. 164–181, zeigt S. 170, dass anfangs noch eine Reihe kleinerer Häuser zwischen St. Mary’s Hall und St. Michael’s stand.
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Abb. 5: Nordfassade der St. Marys Guildhall in Coventry
Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Snowmanradio 2008
St. Mary‘s Guildhall hat ein zweischiffiges, kreuzrippengewölbtes und durch je vier Fenster an den Langseiten beleuchtetes Untergeschoss (undercroft), das als Lagerhalle diente. Darüber erhob sich anfangs ein Fachwerkbau. Diesen nutzte auch der Rat der Stadt als Versammlungs- und Festraum, nachdem der König 1345 Coventry Stadtrechte und Stadtverfassung mit freier Wahl des Bürgermeisters (mayor) und der Amtmänner (bailiffs) durch den Rat (council) zuerkannt hatte.25 1392 schlossen sich die St. Mary’s Gilde, die St. John’s und die St. Katherine’s Gilde zur Trinity-Gilde zusammen. Die Feste der alten Gildenpatrone wurden nun von der Trinity-Gilde zusammen begangen, so das Katharinenfest in der Katharinen-Chantry in St. Michael. Täglich wurde im Auftrag der Trinity-Gilde eine Marienmesse in der Marienkapelle von St. Michael gelesen, nach der Vesper dort die Salve Regina-Antiphon gesungen und der Bußpsalm De profundis (Psalm 129) für die Seelen der Gründer der Trinity-Gilde gebetet. Zudem wurde ein allgemeines Totengedenken für Mitglieder der Trinity Gilde am Festtag Mariae Verkündigung in St. Michaels eingeführt.26 25
Illustrative Papers, S. 211, berichtet von einem Streit der Bäcker mit dem Mayor in St. Mary’s Hall 1387. Illustrative Papers, S. 43. Darüber hinaus feierten die gewerblichen Zünfte das Totengedenken ihrer Mitglieder in ihren Kapellen, so die Tuchhändler in der Marienkapelle von St. Michael, die ‚mercers‘ dort in der Katharinenkapelle (ebd., S. 38). Alle Zünfte Coventrys beteiligten sich an den zwischen 1348 und 1392 dort eingeführten ‚pageant plays‘. Bei diesen wurde in der Stadt an Fronleichnam auf Wagenbühnen, die von den Zünften gestaltet wurden, Szenen der Heilsgeschichte gespielt;
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Abb. 6: St. Marys Guildhall in Coventry, Marienkrönung auf dem Schlussstein im Gewölbe der Tordurchfahrt Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Lauren Kennedy 2013
Auf Initiative des Bürgermeisters John Crosse, Mitglied der mercers company, sowie des Masters der Trinity-Gilde, John Onley, und Robert Shipleys wurde laut Auskunft der Stadtannalen 1394 eine Erweiterung der Guildhall beschlossen und 1414 fertiggestellt. Das Untergeschoss wurde um ein Joch nach Norden verlängert und erhielt ein Portal sowie fünf schmale Fenster zur Bayley Lane. Darüber erhebt sich ein steinerner Festsaal, dessen zu St. Michaels gerichtete Nordwand durch neun Nischen sowie durch ein großes, neunachsiges Fenster geziert wird. Der Zugang zu diesem Festsaal im Obergeschoss erfolgt durch den Tordurchgang, dessen Schluss-
die Schneider und Tuchscherer (tailors und shearers) waren verantwortlich für die Verkündigung Mariae, Geburt Christi, Anbetung der Könige und den Kindermord, die Weber (weavers) für die Darbringung Christi und die Lehre des zwölfjährigen Jesus im Tempel, die Schmiede für die Verurteilung und Kreuzigung Christi, die mercers für die Himmelfahrt Mariens, die drapers für das Jüngste Gericht – vgl. Stephens, City of Coventry, sowie Thomas Sharp, A Dissertation on the Pageants or Dramatic Mysteries Anciently Performed at Coventry, by the Trading Companies of that City: to which are Added, the Pageant of the Shearmen & Taylors‘ Company, and Other Municipal Entertainment of a Public Nature, Coventry 1825, http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver. pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10686353-5 [Stand: 19.01.2019].
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stein eine Marienkrönung ziert. Dieses Marienmotiv weist den Bau als ursprünglichen Besitz der St. Mary’s Gilde aus, es zeigt deren Vorrang an und hält die Geschichte des Ortes in Erinnerung.27 Durch den Tordurchgang kommt man in einen Innenhof, an den sich im Süden große Küchenräume mit vier Herdstellen anschließen, die für Gilden- und Rats-Festessen sowie bei Empfängen für hohe, auch königliche Besucher benötigt wurden.28 Durch den Innenhof gelangt man über eine (ursprünglich offene) Treppe und eine Galerie im Süden in die 21 m x 9 m große Festhalle im Obergeschoss.29 Sie ist durch je drei hohe Fenster auf beiden Langseiten sowie durch eine offene Balkendecke in fünf Joche gegliedert. Hinsichtlich Zugangsweg, Größe und Durchfensterung ist diese Guildhall zeitgenössischen Festsälen des Hochadels vergleichbar, insbesondere dem 1373 bis 1380 unter John of Gaunt errichteten Festsaalbau im nahegelegenen Castle Kenilworth.30 Die auf St. Michaels ausgerichtete Stirnseite von St. Mary’s Guildhall wird durch das große neunachsige Fenster betont, vor dem der Boden für die Ehrentafel um drei Stufen erhöht ist. Östlich schließt an die Nordseite der Halle das Empfangszimmer (parlour) des Bürgermeisters mit einem verzierten Kamin an. Diesem gegenüber befindet sich auf der Westseite der Halle der Zugang zu einem Erker (oriel), von dem aus zur Bayley Lane hin Proklamationen verlesen wurden.31 Auf der Südseite der Halle liegen zwei kleinere Beratungsräume.32 Zwischen diesen befindet sich eine Treppe, über welche die darüberliegende Waffenkammer (armory)33 mit Zugang zum Turm erreichbar ist sowie die Sängertribüne des Festsaales. 27
Den östlich an den Durchgang anschließenden Raum nutzten die mercers zeitweise als Versammlungs raum, wie in Illustrative Papers, S. 216, aufgrund ihres Wappens an einer der Wände geschlossen wird. 28 Illustrative Papers, S. 228: Bericht über den Empfang von Heinrich VI. 1455; ebd., S. 214: zum Besuch von Prinzessin Elizabeth 1603; ebd., S. 212: zum Diebstahl von Silberbechern, Silbergefäßen mit vergoldeten Silberdeckeln, silbernen Salz- und Gewürzbehältern, Silberschüsseln, 24 Silberlöffeln etc. und einer silbernen Trompete der Trinity-Gilde aus St. Mary’s Gildhall 1446. 29 Demidowicz, Development, S. 176. 30 Kenilworth Castle liegt nur 9 km von Coventry entfernt; John of Gaunt, Sohn König Edwards III., war von 1362 bis 1399 Duke of Lancaster und Mitglied der Trinity-Gilde, vgl. Emery, Medieval Houses, S. 373; Abb. siehe https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Kenilworth_Castle_ great_hall?uselang=de#/media/File:Kenilworth_Castle_Great_Hall_from_the_east_2016.jpg [Stand: 26.01.19]. 31 Bernhard Rackham, The Glass-Paintings of Coventry and its Neighbourhood, in: The Volume of the Walpole Society 19 (1930/31), S. 89–110, hier S. 94; Emery, Medieval Houses, S. 373; Illustrative Papers, S. 223: Im Zuge eines Aufstands (bludgeon fight) 1780 wurden der Erker und die Fenster auf der Westseite der Guildhall zerstört, 1826 anhand der Beschreibung von William Dugdale, Antiquities of Warwickshire Illustrated, London 1654, die mit Wappen- und Figuren-Stichen Wenzel Hollars illustriert ist (ebd., S. 120–121), erneuert; https://archive.org/details/antiquitiesofwar00dugd/page/120, https://hollar.library.utoronto.ca/islandora/search/catch_all_fields_mt%3A%28coventry%29 [Stand: 26.01.2019]. 32 Demidowicz, Development, S. 173, vermutet, dass diese ursprünglich als Anrichte (pantry) und Vorratskammer (buttery) dienten. 33 Die Waffenkammer, die dendrochronologisch auf ca. 1420 datiert ist (Demidowicz, Development, S. 175), weist auf die militärischen Aufgaben der Trinity-Gilde, die vermutlich auch ihre Zuständigkeit für die Gefangennahme Christi beim Fronleichnamsspiel begründen; vgl. Sharp, Pageants, S. 191, sowie zur militärischen Rolle der Zunft von Heusinger, Antwerk, S. 52–55. Zu Waffen in der Stadt siehe auch den Beitrag von Regula Schmid in diesem Band.
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Der Raumeindruck der Festhalle wird wesentlich durch ihre großen, farbigen Glasfenster bestimmt, die stehende Figuren unter Baldachinen und deren Wappen zeigen.34 Schon Dugdale schrieb (1654): the windows whereof are adorn’d with fundry beautifull portraitures and Arms.35 Zur Gestaltung dieser Fenster wurde der berühmteste Glasmaler der Zeit, John Thornton, herangezogen, der 1405 bis 1408 die Verglasung des riesigen Ostfensters des Yorker Minsters leitete.36 Das große Fenster der Nordseite von St. Mary’s Hall zeigt in Dreiergruppen gegliedert neun Herrscher. Es sind jedoch nicht die neun alttestamentlichen, antiken und mittelalterlichen Helden, die den Kölner Rathaus-Hansesaal (1320) und die Glasfenster des Lüneburger Ratssaals (1410) als Tugendvorbilder zieren.37 Stattdessen sind hier neun für die englische Geschichte und für Coventry wichtige Herrscher dargestellt. Alle sind gekrönt, halten in der Rechten aufrecht das blanke Schwert und tragen unter dem Hermelin gefütterten Mantel einen Wappenrock (surcoat). Anhand ihrer Wappen und Inschriften sind sie zu identifizieren. Ganz rechts steht Kaiser Konstantin (Constantinus Anglus Imperator christianissimus), der sich in York zum Kaiser ausrufen ließ, hier mit schwarzem Adler als Zeichen der römischen Reichsherrschaft. Er trägt statt eines Reichsapfels ein Kreuz, das Kreuzzeichen mit drei Nägeln auf dem Wappenrock dient als Hinweis auf das wahre Kreuz.38 Ihm gegenüber tritt links der legendarische König Arthur auf, gefolgt von den Eroberern Wilhelm I. (reg. 1066–1087) und Richard Löwenherz (reg. 1189–1199) jeweils mit Löwen-Wappen. Die mittlere Gruppe bilden Henry III. (reg. 1216–1272), Henry VI. (reg. 1422–1471) und Edward III. (reg. 1327–1377), rechts folgen Henry IV. (reg. 1399–1413) und Henry V. (reg. 1413–1422). Die Versammlungen der Trinity-Gilde und des Rats der Stadt Coventry werden durch diese Fenster im Horizont der englischen Geschichte verortet. Zugleich lässt sich daraus der Anspruch ableiten, dass ihre Versammlungen von Bedeutung für das Wohl des Königreichs bzw. der englischen Monarchie sind. Indem diejenigen Könige im Zentrum des Nordfensters platziert sind, die Anteil an der Gründung der Gil34
Rackham, The Glass-Paintings; Andrew Rudebeck, John Thornton and the Stained Glass of St. Mary’s Guildhall, Coventry, in: Journal of Stained Glass 31 (2007), S. 14–34; Heather Gilderdale Scott, John Thornton of Coventry: A Reassessment of the Role of a Late Medieval Glazier, in: Linda Monckton/Richard K. Morris (Hg.), Coventry. Medieval Art, Architecture and Archaeology in the City and its Vicinity, Leeds 2011, S. 223–239. Thornton war auch in Great Malvern Priory ca. 1440 tätig, siehe John A. Knowles, John Thornton of Coventry and the East Window of Great Malvern Priory, in: The Antiquaries Journal 39 (1959), S. 274–282, sowie Ann Darracott, Great Malvern Priory. Rebuilding of the Quire in the 15th Century, Maidenhead 2005, S. 4–7. 35 Dugdale, Antiquities, S. 120. 36 Christopher Norton, Sacred Space and Sacred History. The Glazing of the Eastern Arm of York Minster, in: Rüdiger Becksmann (Hg.), Glasmalerei im Kontext. Bildprogramme und Raumfunktion, Nürnberg 2005, S. 167–182. 37 Walter Geis, Die Neun guten Helden, der Kaiser und die Privilegien, in: Ders./Ulrich Krings (Hg.), Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung, Köln 2000, S. 387–413; Rüdiger Becksmann/ Ulf-Dietrich Korn, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Lüneburg und den Heideklöstern, Berlin 1992, S. 80–118. 38 Rackham, Glass-Paintings, S. 106. Er plädiert, S. 109f., mit Verweis auf die Glasfenster von Great Malvern Priory für eine spätere Datierung des Nordfensters ins Ende des 15. Jahrhunderts; doch die zentrale Platzierung von Henry VI. spricht für eine Entstehung in seiner Regentschaft.
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Abb. 7: Nordfenster der St. Mary’s Guildhall in Coventry (siehe FT 3, S. 122)
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Peter 2016
de hatten oder Mitglieder derselben waren, wird der hohe soziale Status der Gildengemeinschaft demonstriert. Zugleich wird durch die Herrscherfolge von Henry IV. bis Henry VI. über den Dynastiewechsel hinweg die Kontinuität der königlichen Protektion proklamiert und eingefordert. Im Maßwerk über den Figuren sind Wappen hoher Adliger sowie befreundeter Städte wie London und York zu erkennen.39 So wird mittels der Heraldik ein Beziehungsnetz gespannt, in dem sich der Rat von Coventry und die Trinity-Gilde verorten. Auf der West- und der Ostseite des Saales befinden sich jeweils drei Fenster. Das nördliche ist zweibahnig und präsentiert entsprechend zwei Personen unter Baldachinen oben, die zugehörigen Wappen im hell verglasten unteren Feld. Die folgenden breiteren Fenster zeigen jeweils vier Personen mit ihren Wappen. Es handelt sich bei jenen der Ostseite, also zum Innen- und Eingang gerichteten, um besonders hochstehende adlige Mitglieder der Gilde, so die Brüder von König Henry V., Humphrey Duke of Gloucester († 1447) und John Duke of Bedford († 1435), um John Duke of Norfolk († 1432) und Earl Humphrey of Stafford († 1460).40 Doch findet sich in ihrer Reihe auch der Jurist Sir William Babington († 1455), Mitglied der Common Bench und Chief Justice. Besonderes Gewicht erhält Richard Beauchamp, 39
Rackham, Glass-Paintings, S. 103f., identifiziert u.a. die Wappen der Earls of Lancaster, Cornwall, Hereford und Chester, der Dukes of Normandy und Aquitanien, sowie das Wappen der City of London und Yorks; die Wappen Coventrys und Herefords wurden erneuert. 40 Rackham, Glass-Paintings, S. 95–96.
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Abb. 8: Fenster der Ostseite der Mary’s Guildhall in Coventry (siehe FT 4, S. 123) Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Peter 2016
Earl of Warwick († 1440), da er mit seiner Gattin Isabel Despencer († 1439) und seinen Eltern Lord William Beauchamp († 1411) und Lady Joanna († 1435) dargestellt wird.41 Gegenüber auf der Westseite sind im südlichen Fenster vier Bürgermeister (mayors) von Coventry versammelt, im folgenden Fenster vier geistliche Würdenträger: der Erzbischof von Canterbury, Thomas Arundel († 1414), der Bischof von London, Roger de Waiden († 1404), und der Bischof von Lichfield und Coventry, John Burghill († 1404), sowie der Prior von Coventry, Richard Crosby († 1436). Wie eine Liste von lebenden und verstorbenen Gildemitgliedern zeigt, wird für die Fenster eine rigide Personenauswahl getroffen, fokussiert auf die königliche Familie, Repräsentanten des Hochadels, der Geistlichkeit und der Stadt Coventry.42 In den Statuten der Trinity-Gilde wird zur memoria aller Mitglieder und zum besonderen Totengedenken für Wohltäter der Gilde aufgerufen. Die dauerhafte Vergegenwärtigung dieser ausgewählten Personen mit ihren Wappen und Namen in den Glasfenstern der Guildhall, des Versammlungsraums der Gilde und des Rats, leistet diese memoria in besonderer Weise. Denn mittels der Wappen sind auch ihre 41
Einige der Wappen sind in Dugdale, Antiquities, S. 107, auch für die Glasfenster von St. Michaels graphisch dokumentiert, so diejenigen der englischen Könige, des Earls of Stafford, Babingtons, Burghills, sowie Williams und Richards Beauchamp. Zu letzteren s. J. Anthony Tuck, Beauchamp, in: LexMA Bd. 1, München/Zürich 1980, Sp. 1749–1751. 42 Dugdale, Antiquities, S. 123.
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Abb. 9: Holzdecke mit bosses in der St. Mary’s Guildhall in Coventry (siehe FT5, S. 123) Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Peter
Nachkommen und Verwandten aufgerufen. Titel und Kleidung der Dargestellten kennzeichnen sie als Vertreter verschiedener Statusgruppen, die in der Trinity-Gilde zusammenkommen. Die religiöse Ausrichtung der Trinity-Gilde, die in den Gilde-Statuten43 niedergelegt ist, tritt in der Dekoration der Guildhall kaum in Erscheinung. Sie wurde offenbar in die anliegende Pfarrkirche St. Michael ausgelagert, in der die Gilde ihre Festmessen und das Totengedenken beging.44 Denn die (seit dem Bombenangriff 1940 nur noch fragmentarisch erhaltene) Glasmalerei im Ostfenster von St. Michael war der Verehrung der Trinität gewidmet. Zahlreiche Cherubim und Engel aus Scheiben des Maßwerks sind erhalten; unter deren Inschriften findet sich auch die Vesper-Antiphon Gloria tibi Trinitas für den Trinitatis-Sonntag, den Namensfesttag der Gilde.45 Andere Glasfragmente zitieren die Mariensequenz Gaude virgo mater Christi, die zum Fest Mariä Verkündigung gehört, an dem die Trinity-Gilde das Totengedächtnis in St. Michael feierte.46 Erhalten sind zudem Glasfragmente von Fi-
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Transkription bei Dugdale, Antiquities, S. 122–123. Aus stilistischen Gründen werden die Glasfenster von St. Michael ebenfalls John Thornton zugeschrieben, vgl. Gilderdale Scott, John Thornton, S. 225–228. 45 Rackham, Glass-Paintings, S. 98. 46 Illustrative Papers, S. 43. 44
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guren der alten Gildenpatrone Katharina und Johannes des Täufers.47 Mittels ihrer Patrone und Feste ergreift die Trinity-Gilde im Medium des Bildes von der Hauptpfarrkirche St. Michael Besitz. Engel zieren auch die Mittelachse der Holzdecke der Guildhall; sie spielen Instrumente oder erheben betend die Hände, ähnlich wie auf den Schlusssteinen der Kirchen in Tewkesbury oder Büdingen. Hier sind sie jedoch in ein Netz königlicher Bilddevisen auf den Rippenschnittpunkten (bosse) eingespannt, die im Wechsel den silbernen Hirsch Richards II., den silbernen Schwan mit goldener Kette Henrys IV. und die silberne Antilope Henrys VI. zeigen. Die Engel stimmen mit ihrer himmlischen Musik in die Feierlichkeiten im Festsaal ein. Gewohnt an Engel-Schlusssteine in Kirchenräumen, kann der Betrachter die Saaldecke mit dem Himmelsgewölbe assoziieren, an dem die Bilddevisen der Könige wie Sterne erscheinen. Der Festsaal der Gilde wird so unter himmlischen wie königlichen Schutz (dar)gestellt.
4. Schluss Auffällig ist, dass die Trinity-Gilde, obwohl Eigentümerin der Guildhall, diese nicht durch ein markantes, wiederkehrendes Bildzeichen oder Wappen als ihren Besitz markiert. Stattdessen schreibt sie in die Fenster und Decke die Wappen und Zeichen derjenigen hohen Personen ein, mit denen sie – durch Geschichte, Handel oder Bruderschaft – verbunden ist. Diese werden somit bildlich und zeichenhaft präsent gehalten; sie bilden eine Art prächtigen Rahmen für das Handeln der überwiegend bürgerlichen Gilden- und Ratsmitglieder im Innenraum der Guildhall. Je nach Beleuchtung ändert sich die Wirkung der Glasfenster: Tagsüber fällt das Licht von außen in die Halle und bringt die in den Fenstern dargestellten, lebensgroßen Figuren und ihre Wappen für den Betachter im Raum zum Leuchten. Es verleiht ihnen eine hohe Präsenz, gleich ob es mythische Figuren der Vergangenheit oder fast noch Zeitgenossen sind; denn sie scheinen in den Raum herunterzublicken und Zeugen des Geschehens im Saal zu sein. Dennoch bleiben die Könige und hohen Herrschaften der Glasfenster durch ihre erhöhte Anbringung distanziert. Wird die Halle hingegen bei abendlichen Festen von innen beleuchtet, so treten die Figuren der Glasfenster ins Dunkel zurück, konzentriert sich der Blick der agierenden Gildenmitglieder im Innern aufeinander. Für Außenstehende auf der Straße hingegen zeigen die von innen erhellten Glasfenster nun die Reihe königlicher Herrscher und die hochrangigsten Mitglieder der Gilde, unwirklich schwebend im Dunkel; die im Festsaal agierenden Gilden- und Ratsmitglieder bleiben unsichtbar hinter diesen hohen Repräsentanten. Glasfenster sind somit ein kostspieliges und exklusives, zugleich aber auch sehr effektvolles und dauerhaftes Bildmedium. Denn nach dem Versatz eines genau ins Maßwerk eingepassten Glasfensters ist das Auswechseln ganzer Figuren schwierig. 47
Rackham, Glass-Paintings, S. 101.
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Der Austausch insbesondere einzelner Wappenscheiben aber ist gleichwohl möglich, wie Rechnungsbücher belegen. So wurde 1471 im Konflikt mit Henry VI. dessen Wappen durch das seines Gegners und Nachfolgers Edward IV. († 1483) ersetzt. Als letzterer die städtischen Rechte Coventrys widerrief, verwandelte man das Wappen und somit die Figur wieder zurück in Henry VI.48 Als Repräsentanten der Macht von Gilde und Stadtrat konnten die Figuren der Glasfenster jedoch auch stellvertretend für deren Mitglieder angegriffen und zerstört werden, wie es während des Aufstands in Coventry 1780 den westlichen Fenstern der Guildhall widerfuhr. Die östlichen Glasfenster waren hingegen durch den vorgelagerten, zur Straße durch schwere Türen gesicherten Hof geschützt und blieben deshalb (besser) erhalten. Neben Glasfenstern werden auch Konsolen, Schlusssteine und Rippenschnittpunkte (bosses) von Gewölben und Holzdecken gern für die zeichenhafte, heraldische Repräsentation benutzt. Denn hier wird die Semantik dieser Bauglieder aufgerufen und für die Bedeutungsaufladung der Wappen genutzt, deren Träger somit als Stützen oder Zentren eines (Personen-)Netzwerks interpretiert werden. Da Gewölbe und Decken traditionell als Zeichen des Himmels ausgelegt wurden, bietet sich die Platzierung von Wappen oder Bilddevisen auf Schluss- und Rippensteinen als Mittel der Erhöhung und Sakralisierung ihrer Träger an, sei es wie im Fall der Guildhall zur Überhöhung der englischen Könige oder wie in Büdingen zur Sakralisierung der Familie des Stadtherrn. In Verbindung mit den Engeln erscheinen ihre Wappenzeichen in der Höhe gleichsam als Schutzzeichen für die darunter agierenden Personen, Stadt- oder Pfarrgemeinde. Aufgrund ihrer engen architektonischen Verbindung mit dem Baukörper sind Schlusssteine wie Bosses hervorragend vor späteren Eingriffen geschützt und somit oftmals der einzige aus der Bauzeit erhaltene Schmuck von Bauten. Werden sie zur Anbringung von Wappen genutzt, bieten sie eine dauerhafte memoria an die bezeichneten Personen und die mit ihnen verbundene Errichtung des Baus. Das heraldische Wissen gehörte aufgrund der Allgegenwart von Wappen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt zum populären Bildwissen. Und solange dies vorhanden war, wirkten die Wappen als Erinnerungs- und Herrschaftszeichen. Erst mit dem Verlust dieses heraldischen Wissens in der bürgerlichen Moderne (und aufgrund eines gewissen kunsthistorischen Desinteresses an repetitiven Zeichen) gerieten die Wappen im Stadtraum aus dem Blick. Doch lohnt es sich, diesen unscheinbaren Objekten und Bedeutungsträgern, die verschiedene Personen, Objekte und Räume in der Stadt miteinander verknüpfen, mehr Beachtung zu schenken.
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Illustrative Papers, S. 218; vgl. den Beitrag von Elisabeth Gruber zur Auswechslung von Wappenscheiben im Wiener Ratssaal infolge einer Wappenbesserung in diesem Band.
GOSLARER RATSHERREN ZWISCHEN KAISERN UND SIBYLLEN. CHRONIKALISCHE GESCHICHTE UND HEILSERWARTUNG UM 1500* Kirsten Lee Bierbaum
Wenn von der materiellen Kultur der Stadt die Rede ist, werden zuerst solche „Dinge“ assoziiert, die unmittelbar greifbar sind. Sich in diesem Zusammenhang mit Bildern (als Vertreter einer die eigene Materialität zumeist negierenden Gattung) zu befassen, bedarf der Rechtfertigung. Ich möchte den Begriff der „materiellen Kultur“ hier auf alle den Menschen umgebenden Artefakte erweitert auffassen, sodass auch das isometrische „Relief“ der städtischen Bebauung, die darin enthaltenen Räume und schließlich deren Möbel- und Ausstattungsstücke in ihrer Objekthaftigkeit miterfasst werden. Im Folgenden sollen einige Beobachtungen und Überlegungen zur Ausmalung der Goslarer Ratsstube vorgestellt werden, die nach ihrer Wiederentdeckung 1856 hinter Archivregalen als sogenannter „Huldigungssaal“ Eingang in die Kunstgeschichtsschreibung fand.1 Dabei wird es darum gehen zu fragen, in welcher Form Bilder, Personen und materielle Ausstattung zusammenwirken, wo die ersteren die letztere überschreiben oder erweitern oder wo möglicherweise Dissonanzen zwischen beidem auftreten. Erst dieses Beziehungsgeflecht kann Aufschluss über das Selbstverständnis der Goslarer Ratsherren zwischen den gemalten „Kaisern und Sibyllen“ geben.
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Der vorliegende Beitrag wurde nach dem Vortrag modifiziert. Für Ergebnisse, die die Rathausarchitektur, die topographische Lage der Ratsstube und weitergehende Deutungen der Trinitatiskapelle betreffen, wird auf eine geplante Publikation im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt der Autorin „Vier Augen sehen mehr als zwei. Kollektive Bildwahrnehmung und Gemeinschaftsidentität im 15. Jahrhundert“ verwiesen. 1 Die Entdeckung machte der Hildesheimer Stadtbibliothekar Dr. J. M. Krâtz, Goslarsche Zeitung 18.06.1862 (StadtA Goslar).
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1. Rathaus und Geschichte Das historische Rathaus befindet sich im Zentrum der Goslarer Altstadt zwischen Markt und Marktkirche.2 Der Pfalzbezirk mit der heute nicht mehr erhaltenen Stiftskirche SS. Simon und Judas lag nur wenige Gehminuten entfernt. Beide Kirchen bildeten wichtige Referenzpunkte für den Rat der Stadt sowohl während des Ratswahlprozederes als auch innerhalb des Prozessionswesens und der Stiftungspolitik des Rates. Als Marktsiedlung neben der Pfalz entwickelte sich Goslar schon in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und genoss durch die Nähe zum Kaiser von Beginn an Vorteile in Handel und Recht, die 1219 als sogenanntes „großes Privileg“ Friedrichs II. erstmals umfassend niedergelegt wurden und zwar sicut etiam antecessores nostri fecerunt.3 In der Folge wurden die kaiserlichen Privilegien wiederholt bestätigt und angepasst und legten nicht nur das rechtliche Fundament für die reichsfreie Stadt, sondern bildeten künftig auch das Herzstück des kaiser- bzw. königsnahen städtischen Selbstbildes.4 Welche Kränkung es für dieses Selbstverständnis bedeutet haben mag, als Kaiser Maximilian I. 1505 in finanzieller Notlage die Bergbaustadt am Harz, zusammen mit Mühlhausen und Nordhausen, an den sächsischen Kurfürsten zu verpfänden suchte, muss nicht weiter ausgeführt werden. Der empfundene Affront zeigte sich deutlich in der strikten Weigerung des Goslarer Rates, dem neuen Herrn zu huldigen. 1506 erreichte die Stadt, die nach einer Phase wirtschaftlicher Prosperität gerade wieder mit einem Rückgang der Erträge aus dem Rammelsbergbau zu kämpfen hatte5, gegen eine hohe Geldzahlung die Restitution all ihrer Privilegien.6 2
Das für eine Publikation derzeit verfügbare Abbildungsmaterial ist leider nicht optimal. Zahlreiche Fotografien und auch Detailaufnahmen des Fotografen Raymond Faure (mit geringer Auflösung) finden sich aber online unter http://www.raymond-faure.com/Goslar/goslar.htm [Stand: 30.08.2018], sowie ein während der aktuellen Umbauten angefertigter 3D-Scan auf der Seite http://b-gis.de/de/ denkmalpflege/360-grad-panorama [Stand: 30.08.2018]. Für den Hinweis auf diesen Link und die freundliche Führung durch die Baustelle danke ich an dieser Stelle ganze herzlich Oliver Heinrich. 3 Sabine Graf, Die Reichsstadt Goslar in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und die Kodifizierung des Goslarer Stadtrechts, in: Dieter Pötschke (Hg.), Stadtrecht, Roland und Pranger. Zur Rechtsgeschichte von Halberstadt, Goslar, Bremen und märkischen Städten, Berlin 2002, S. 55–76; Sabine Graf, Goslar im Mittelalter, in: Carl-Hans Hauptmeyer/Jürgen Rund, Goslar und die Stadtgeschichte. Forschungen und Perspektiven 1399–1999, Bielefeld 2001, S. 75–100, S. 79, Anm. 27. Hier auch weiterführende Literatur zu Goslarer Siedlungs- und Verfassungsgeschichte (S. 79, Anm. 25 und 26); Evamaria Engel, Goslar und die Hanse, in: Hansgeorg Engelke (Hg.), Goslar im Mittelalter. Vorträge beim Geschichtsverein, Bielefeld 2003, S. 215–228. 4 Graf, Goslar im Mittelalter, S. 83–88. 5 Griep spricht von einer „schicksalsschweren Zeit um 1500“, Hans-Günther Griep, Der Goslarer „Huldigungsmeister“, in: Harz-Zeitschrift 11 (1959), S. 113–139, hier S. 116; Stefan Albrecht, Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland, Darmstadt 2004, S. 92–94; Graf, Goslar im Mittelalter, S. 92; Barbara Ehrt, Ein zwölfter Kaiser im Huldigungssaal? Eine ikonografische Deutung der spätgotischen Tafelmalereien im Goslarer Rathaus, in: Kunstgeschichte. Open peer reviewed Journal (2014) http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/370/ [Stand 26.03.2018], S. 7f. 6 Antje Diener-Staeckling, Der Himmel über dem Rat. Zur Symbolik der Ratswahl in mitteldeutschen Städten, Halle 2008, S. 60f. Dass in naher Zukunft die Umwälzungen der Reformation und mit dem Riechenberger Vertrag 1552 der Verlust der Bergbau- und Forstrechte sowie der Gerichtsbarkeit
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Abb. 1: Marktplatz Goslar mit Rathaus, um 1900 Quelle: Carl Wolff, Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover. Regierungsbezirk Hildesheim, 1. und 2. Stadt Goslar, Hannover 1901, S. 283, Abb. 266
Seit den 1260er Jahren, als Goslar Mitglied der Hanse und des Sächsischen Städte bundes war, wird ein domus consulus oder domus communitatis erwähnt, möglicherweise gab es sogar noch früher einen kommunalen Versammlungsbau.7 Über die Form dieses früheren Rathausbaus ist bisher nichts bekannt. 8 Die umfassenden Machtbefugnisse des Goslarer Rates in Bergbau (ab 1356 unterstand der Rammelsberg als Lehengut direkt dem Rat), Gewerbe und Gerichtsbarkeit (1340 wurde die an den Braunschweiger Herzog bevorstanden, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Vgl. den Band des Goslarer Museums: Rammelsberger Bergbaumuseum Goslar (Hg.), Der Riechenberger Vertrag. Vorgeschichte, historisches Umfeld und Folgen, Goslar 2004. 7 Carl Wolff, Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover. Regierungsbezirk Hildesheim, 1. und 2. Stadt Goslar, Hannover 1901, S. 267–304 (Kap. IV. Das Rathaus), hier S. 267f.; Albrecht, Mittelalterliche Rathäuser, S. 277, Anm. 21, macht auf zwei urkundliche Erwähnungen des 12. Jahrhunderts (1186 und 1199) einer Gerichtslaube (lobium fori) beim Marktkirchenfriedhof aufmerksam. Graf, Reichsstadt Goslar. 8 Bei den aktuellen bauhistorischen Untersuchungen am Rathaus ist es gelungen, aufgehende Bauteile ausfindig zu machen, die sich dendrochronologisch auf die Zeit nach 1298 datieren lassen, und damit erstmals materielle Spuren dieses frühen Rathausbaus zu lokalisieren. Diese Auskunft erhielt ich freundlicherweise von der zuständigen Referatsleiterin im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege Cordula Reulecke. Die Publikation der derzeit andauernden Untersuchungen des baulichen Bestandes ist in Planung.
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Reichsvogtei erworben) lassen insbesondere für das 14. Jahrhundert eine größere Versammlungs- und Gerichtsstätte erwarten, deren umfangreicher Bestand an urkundlichen Privilegierungen ab 1399 ein systematisch verwaltetes städtisches Archivregister erforderte.9 Die Bausubstanz des bis heute erhaltenen Rathauses entstand nach und nach im 15. Jahrhundert.10 Die quergelagerte Hauptfassade des Rathauses schließt den Marktplatz nach Westen wie ein Riegel ab, wobei sie von den beiden Westtürmen der unmittelbar dahinter liegenden Marktkirche SS. Cosmas und Damian überragt wird – eine monumentale Artikulation der engen Beziehung zwischen beiden.11 Der längliche Bau beherbergt unter Bodenniveau den Ratsweinkeller, im Erdgeschoss die über fünf Arkaden geöffnete Markthalle und darüber, hinter den sechs von Wimpergen bekrönten Maßwerkfenstern, die Ratsdiele. Zwischen Hauptbau und Marktkirche schließen sich südlich und nördlich zwei ebenfalls zweigeschossige, teilweise unterkellerte Flügel mit kleineren Räumen an, von denen hier nur der deutlich frühere Südflügel interessieren soll, da sich in diesem der „Huldigungssaal“ befindet. Ältester Bauteil des gesamten Komplexes ist der an der Südseite sichtbare Mittelbau mit Tordurchfahrt von ca. 1420.12 Hier befand sich der ursprüngliche Haupt eingang; die an der Südseite in den Hauptbau führende Freitreppe wurde erst 1537 angefügt. An die westliche Wand dieses Torbaus, ursprünglich genau die Grenze zum Immunitätsbezirk des Marktkirchenfriedhofes13, wurde um die Mitte des 15. Jahrhunderts ein doppelgeschossiger Bau giebelständig angeschlossen, der im Kellergeschoss das seit 1449 nachweisbare, möglicherweise ältere Beinhaus und ebenerdig eine Marienkapelle aufnahm.14 In diesem Bau wurde im Obergeschoss die Ratsstube eingerichtet, deren um ca. 1,50 m heraufgesetztes Bodenniveau15 in der Westansicht 9
Graf, Reichsstadt Goslar. Albrecht, Mittelalterliche Rathäuser, S. 92–94. 11 Die Marktkirche als Kirche des Rates überragte mit ihren Türmen sogar das Westwerk der im hohen Mittelalter wichtigsten Kirche der Stadt, der Stiftskirche SS. Simon und Judas. Die Geistlichen der Marktkirche wurden durch den Rat bestimmt; der Rat sorgte auch für den Kirchenbau. Ein Turm der Marktkirche wurde durch den Rat mit einem Turmwächter besetzt, der seit dem 15. Jahrhundert auch die Turmuhr wartete, die als Stadtuhr diente (Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter, Hannover 1998, S. 167 und Anm. 92, 93 und 95). Da unter den Goslarer Willküren der Zeit zwischen 1427 und 1500 nur ein einziges Mal, und zwar 1447, eine Ratsglocke erwähnt wird (am Dinxdage vor Margarete led de Rad vorkundigen myt der klocken […]), wäre denkbar, dass auch hier eine Glocke der Marktkirche verwendet wurde. Vgl. Willkür von 1447 über das Verlassen der Stadt zur Ernte oder Pilgerschaft, Uvo Hölscher, Goslarsche Ratsverordnungen aus dem 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Harzvereins 42 (1909), S. 39–99, S. 118–143 u. S. 229–260, hier S. 53, Digitalisat der Uni Jena http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpvolume_00133176 [Stand: 28.03.2018]. 12 Diese Angabe ist vorläufig zu verstehen, da die Publikation der aktuellen Bauuntersuchung noch aussteht (vgl. Anm. 8). 13 Goldberg hat in den 1960er Jahren die Geschichte dieses Gebäudeteils akribisch in den Quellen verfolgt. Gisela Goldberg, Der Huldigungssaal im Rathaus zu Goslar, o.O. 1960, S. 79–94. 14 Für die im Zusammenhang mit dem Bildprogramm von Ratsstube/Huldigungssaal überaus aufschlussreiche Lokalisierung oberhalb von Beinhaus und Marienkapelle ist auf die geplante Arbeit zu gemeinschaftlicher Bildbetrachtung zu verweisen (vgl. Anm. *). 15 Goldberg, Huldigungssaal, S. 16. 10
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Abb. 2: Südfassade des Goslarer Rathauses während der Umbauarbeiten Quelle: Privatsammlung, Foto: Kirsten Lee Bierbaum 2017
Abb. 3: Graphische Darstellung der Südfassade des Goslarer Rathauses (1901) Quelle: Carl Wolff, Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover. Regierungsbezirk Hildesheim, 1. und 2. Stadt Goslar, Hannover 1901, S. 286, Abb. 269
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Abb. 4: Grundriss des Obergeschosses mit der ursprünglichen Zugangssituation. Der mit “Sparkasse” betitelte Raum wurde nachträglich eingerichtet, bis 1537 befand sich hier die Tordurchfahrt, d.h. der Hauptzugang zum Rathaus. Quelle: Carl Wolff, Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover. Regierungsbezirk Hildesheim, 1. und 2. Stadt Goslar, Hannover 1901, S. 285, Abb. 268; Pfeile ergänzt durch die Autorin
gut durch die höhere Fensterlage zu erkennen ist (siehe Abb. 2). Daneben, mit den niedrigeren Fenstern, befindet sich ein einbruch- und feuersicherer Schatz- und Archivraum mit verschließbaren Wandschränken.16 Der ursprüngliche Zugang zum Rathaus erfolgte bis 1537 zunächst durch diese Tor einfahrt und über eine in einem Lichthof gelegene Außentreppe, die in die große Diele führte (siehe Abb. 4). Von dort gelangte man über eine von innen mit einem Balken zu verriegelnde reliefgeschmückte Tür, über einen hölzernen Steg im Licht hof und schließlich über einige Stufen aufsteigend bis in die Ratsstube (dornse). Wollte man in den erwähnten Archiv- und Tresorraum gelangen, musste man die 16
Oder eine clausuren darinne de Privilegien vorsloten, wie eine Quelle des 1. Viertels des 16. Jahrhunderts beschreibt. Goldberg, Huldigungssaal, S. 86.
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Ratsstube durchqueren und in der südwestlichen Raumecke eine durch die umlaufenden Malereien kaum sichtbare Geheimtür öffnen. Der Raum war dann um einige Stufen vertieft und von der anderen Seite nicht zugänglich. Hier wurden die ältesten städtischen Privilegien, Schriftstücke und vermutlich wertvolle Gegenstände wie das Tafelsilber aufbewahrt. Irgendwann nach 150617 wurde dieser Ratssaal mit einem auf Holztafeln gemalten Bildprogramm ausgestattet, dessen Dreh- und Angelpunkt die durch die Tiburtinische Sibylle gewiesene Erscheinung der Himmelskönigin vor Kaiser Augustus darstellt. Aus dieser Szene entwickelt sich ein den gesamten Raum umspannender Zyklus aus Kaisern und Sibyllen (siehe Abb. 5–8), der an der Saaldecke in vier Szenen der Weihnachtsgeschichte gipfelt, die von Propheten und Evangelisten umgeben sind (siehe Abb. 7). Werden überdies zwei zunächst kaum sichtbare „Tapetentüren“ geöffnet, erscheinen auf den Türrückseiten ein Schmerzensmann und eine Schmerzensmutter sowie der Durchgang zu der erwähnten Trinitatiskapelle, einer kleinen Annexkapelle mit Fresken der Passion Christi (siehe Abb. 9). Die bisherige Deutung des Programms lautete dahingehend, dass die Ankündigungen der Sibyllen auf die Geburt und Wiederkehr eines Friedenskaisers hinweisen und damit der weltlichen Kaiserreihe ein Goldenes Zeitalter folgen lassen.18 Die Prominenz der Augustus-Vision hingegen liefert ein Indiz dafür, dass hier vielleicht die marianischen Aspekte des Programms stärkere Berücksichtigung finden sollten.
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Den terminus post quem bilden Stiftung und Ausstattung der Trinitatiskapelle, für die – im Unterschied zur Tafelausmalung der Ratsstube – Rechnungen überliefert sind. Graf, Niederkirchenwesen, S. 403f. Die Weihe der Kapelle ist durch eine Inschrift bezeugt. Christine Magin, Die Inschriften der Stadt Goslar, Wiesbaden 1997, online: Deutsche Inschriften Online, http://www.inschriften.net/goslar.html [Stand: 30.08.2018], hier Nr. 58 D. Die Umarbeitung des Portalgewändes der Trinitatiskapelle spricht für eine nachträgliche Anpassung an die neuen Gegebenheiten, die sich mit dem Einbau der Vertäfelung ergab. Eine neue Datierung in die Zeit um 1520 schlägt Diener-Staeckling, Himmel, S. 72–74, vor. Allerdings ist ihr Ausgangspunkt die Stiftung einer Tapisserie (heute im Goslarer Museum) als Dorsale für das Ratsherrengestühl im Dom SS. Simon und Judas, die ohne Schwierigkeiten auch später als der Huldigungssaal mit einem an diesem orientierten Programm (Trinität, Strahlenkranzmadonna) gestiftet worden sein könnte. Thematisch zusammenhängende, mehrere Jahre ausein anderliegende Stiftungen sind gerade in Stiftungen von korporativen Verbänden keine Seltenheit, da dort häufig erst auf den Eingang neuer Mittel gewartet werden musste. 18 Gustav Müller-Grote, Die Malereien des Huldigungssaales im Rathaus zu Goslar, Berlin 1892; Wolff, Kunstdenkmäler, S. 280–291; Goldberg, Huldigungssaal; Kirsten Weinig, Der Huldigungssaal im Goslarer Rathaus. Neue Aspekte, Entdeckungen und weiterhin Rätselhaftes, in: Hansgeorg Engelke (Hg.), Goslar im Mittelalter. Vorträge beim Geschichtsverein (Goslarer Fundus 51), Bielefeld 2003, S. 229–259; Diener-Staeckling, Himmel, S. 69–75; Ehrt, Huldigungssaal.
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Abb. 5: Westwand der Ratsstube („Huldigungssaal”) im Goslarer Rathaus, in der Mitte die Erscheinung der Ara coeli-Madonna (siehe FT 6, S. 124) Quelle: : Stadtarchiv Goslar
Abb. 6: Ost- und Südwand der Ratsstube („Huldigungssaal“) im Goslarer Rathaus, links im Bild die geschlossenen Türflügel der Trinitatiskapelle Quelle: Stadtarchiv Goslar
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Abb. 7: Die vier zentralen Paneele der Raumdecke mit der “Geburt Christi”, der “Verkündigung”, der „Darbringung im Tempel” und der “Anbetung der Könige” (von rechts oben nach links unten), Ratsstube („Huldigungssaal“), Rathaus Goslar Quelle: Stadtarchiv Goslar
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Abb. 8: Ostwand mit geöffneten Türflügeln der Trinitatiskapelle, Ratsstube („Huldigungssaal“), Rathaus Goslar Quelle: Stadtarchiv Goslar
Abb. 10: Ecce Homo-Szene in der Trinitatiskapelle, Rathaus Goslar Quelle: Weinig, Huldigungssaal, S. 249, Abb. 7 (Fotograf: T. Trapp)
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Abb. 9: Ausmalungen der Gewölbezone in der Trinitatiskapelle, Rathaus Goslar (siehe FT 7, S. 124) Quelle: Weinig, Huldigungssaal, S. 248, Abb. 6 (Fotograf: T. Trapp)
Abb. 11: Ratsstube („Huldigungssaal“), Blick auf die Westwand bei geöffnetem Wandschrank Quelle: Stadtarchiv Goslar
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2. Bildprogramm Tritt der Betrachter durch den ursprünglichen Eingang an der Nordseite der Ostwand in den vollständig mit Gemälden auf Tannenholz vertäfelten, ca. 7,5 m x 7,5 m großen Raum, blickt er zuerst auf die Westwand, deren Gestaltung den Ausgangspunkt und Kern des Raumprogrammes bildet. Hier ist die Madonnenerscheinung dargestellt, die Kaiser Augustus Octavian durch die Ankündigung der Tiburtinischen Sibylle zuteilwurde. Die „Legenda Aurea“ berichtet von dem Unbehagen des Kaisers, den die römischen Senatoren wie einen Gott verehren wollen. „Nun erkannte der weise Kaiser, dass er ein sterblicher Mensch war, und wollte den Namen eines unsterblichen Gottes nicht an sich nehmen“.19 Er bittet also um den Rat der Sibylle.20 Als beide zur Mittagsstunde in der Kammer des Kaisers weilen, erscheint am Himmel eine Jungfrau mit einem Kind in einem Strahlenkranz und zugleich ist eine Stimme zu vernehmen: „Dies ist ein Altar des Himmels“ (ara coeli). Die Sibylle aber kommentiert das Geschehen mit den Worten: „Dies Kind, Kaiser, ist größer als Du, darum sollst Du es anbeten!“.21 Da sich dieses Ereignis zur Geburtsstunde Jesu zugetragen haben soll, wurde es als eines der Wunder in der Weihnachtsnacht Bestandteil von Predigten, geistlichen Spielen, Legendaren und Weltchroniken, zumal „die Legende in gleicher Weise auf Christus wie auf die besondere Stellung Mariens im Heilsplan verwies“.22 Die Sibyllen, welche bereits von Augustinus als unmissverständliche Künderinnen göttlicher Wahrheit trotz ihrer antiken Herkunft zum ‚Gottesstaat‘ gerechnet wurden, erfreuten sich um die Wende zum 16. Jahrhundert neuer Beliebtheit, diesseits und jenseits der Alpen.23 In Goslar ist die Ara coeli-Legende auf die drei Hauptpersonen reduziert, die auf durch Fenster und einen Wandschrank voneinander separierten Wandsegmenten den größten Teil der Wandfläche füllen: Zentral erscheint die Himmelskönigin mit dem Kind auf dem Arm, auf einer Mondsichel stehend und von Engeln begleitet in 19
Jacobus de Voragine, Legenda Aurea, übers. v. Richard Benz, Bd. 1, Jena 1907, S. 67. Ebd. 21 Thomas Blisniewski, Kaiser Augustus und die Sibylle von Tibur. Ein Bildmotiv des Meisters der Verherrlichung Mariae im Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corbout, in: Kölner Museumsbulletin 3 (2005), S. 13–26. 22 Wolfgang Augustyn, Zur Bildüberlieferung der Sibyllen in Italien zwischen 1450 und 1550, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 365– 435, hier S. 390; Wolfgang Augustyn, Vom Inhalt zum Dekor. Der französische Sibyllenzyklus in Handschriften und Drucken, in: Wolfgang Augustyn/Ulrich Söding (Hg.), Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung, Passau 2010, S. 405–438. 23 Auch in der weiteren Umgebung Goslars waren die Sibyllen zuvor bereits Thema gewesen: Zwei Teppiche aus dem Augustiner-Chorherrenstift Heiningen und dem Benediktinerinnenkloster Lüne, ein geistliches Spiel von Arnold Immessen (um 1480) und die Abhandlung „Sibyllarium et prophetarum de Christo vaticinia“ des Dominikaners Filippo Barbieri (1481) zeigen z.T. Abhängigkeiten untereinander, doch keines dieser Werke ist für den Huldigungssaal aufschlussreich. Goldberg, Huldigungssaal, S. 53f.; Magin, Inschriften, Nr. 59, Anm. 37, 38 und 60. 20
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einer Gloriole. Links, jenseits des Wandschranks, kniet anbetend eine männliche Figur, wohl Kaiser Augustus, der jedoch in einen bürgerlichen Mantel mit Pelzkragen gehüllt ist. Die Sibylle steht rechts, jenseits des Fensters. Sie ist der Mondsichelmadonna in einer gebeugten Körperhaltung zugewandt und teilt über ein lebhaft geschwungenes Spruchband ihre Prophezeiung mit, die jedoch anders lautet als von der „Legenda Aurea“ angegeben: „Christus wird in Bethlehem geboren und in Nazareth verkündet werden, wenn das Sternbild des Stieres, des friedfertigen Ruhestifters, regiert. O glücklich ist jene Mutter usw.“.24 Das Spruchband des Kaisers gegenüber bleibt seltsamerweise vollständig leer. Die hier zur Ausführung gebrachte Visionslegende ist der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Kaisern und Sibyllen, die den Raum – so alle Türen geschlossen sind – vollständig umgeben (siehe Abb. 5 und 6). Dabei sind die lebensgroßen Kaiser und Sibyllen als gegenwärtig konzipiert, insofern sie unter einer die Raumgrenze markierenden plastischen Arkatur zu stehen scheinen, als wäre es eine angrenzende Loggia mit Ausblick in die Landschaft. Hölzerne Spiralsäulchen tragen mit Kreuzblumen gekrönte Kielbögen, deren Bogenfelder reich mit vegetabilem Schleiermaßwerk ausgestaltet sind, das sich auch über den Kielbögen wandfüllend fortsetzt. In dieser Zone sind auch kleine Wappenschilde sichtbar, für deren Bemalung es bisher allerdings keine Hinweise gibt. Während dieses plastische Ornament der Bildoberfläche den Anschein verleiht, es handele sich lediglich um eine offene Arkatur mit Blick in einen angrenzenden halboffenen Raum, charakterisiert die Malerei die Standfläche der Figuren als eine Art Bühnenpodest, das vorn mit Draperien verhüllt ist, die zugleich das Dorsale der darunter an drei Raumseiten aufgestellten Ratsbank bilden. Der die Figur umgebende Raum ist für die Sibyllen als ein von einer Mauer umgebener Garten, für die Kaiser als über eine Brüstung geöffneter und gefliester Bühnenraum charakterisiert. Obwohl die Figuren also unter der Arkatur zusammengefasst sind und miteinander kommunizieren, sind sie doch unterschiedlichen Sphären zugehörig. Insgesamt sind zwölf Sibyllen und zwölf Kaiser abgebildet, wobei die Sibyllen die aktiven, kommunizierenden Figuren darstellen, insofern sie durch bewegte Spruchbänder „sprechen“ und die lebhafteren Körperhaltungen und Gesten aufweisen. Damit entsprechen sie einer bereits in der Antike herrschenden Vorstellung, die Sibylle würde „mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes hinausrufend“ mit ihrer Stimme „Jahrtausende“ durchdringen.25 Eben diese Überzeitlichkeit wird durch die kontinuierliche Reihe der Kaiser zum Ausdruck gebracht, die zwar durch ihre Insignien Krone, Zepter und Reichsapfel als kaiserliche Herrscher, jedoch ohne individuelle Kennzeichnung und ohne Spruchbänder auftreten. Durch die leicht nach oben gerichteten Blicke und eine „offene“ Körperhaltung wirken sie eher zuhörend, den Rat wahrnehmend. Wichtig ist, sich diese zyklische Anlage der Kaiser-Sibyllen-Reihe vor Augen zu führen, die ohne erkennbare Hierarchie oder chronologische Richtung den Raum vollständig um24
Alle Übersetzungen nach Magin, Inschriften, Nr. 59. Bruno Snell (Hg.), Heraklit, Fragmente. Griechisch und deutsch, Zürich/München 1983, S. 29, zit. n. Blisniewski, Kaiser Augustus, S. 13, Anm. 2.
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gibt. An den vier Fenstern, je zwei in Nord- und Westwand, wird zusätzlich eine topographische Komponente hinzugefügt, indem Patrone wichtiger Stadtkirchen die Laibungen zieren. Nur wenn der Betrachter nach dem Rundumblick wieder in Richtung Madonnen erscheinung schaut, kann er die Deckenbilder in der richtigen Perspektive sehen. In diesem Fall befinden sich die beiden „Tapetentüren“ zur Kapelle unmittelbar hinter seinem Rücken. Um sie zu öffnen und anschließend die auf ihren Rückseiten befindlichen Darstellungen betrachten zu können, muss er sich einmal um 180° drehen, gegebenenfalls sogar um ein paar Schritte zurücktreten und dabei die Perspektive vollständig wechseln. Und nun geht eine absolute Veränderung mit dem Raumprogramm vor sich (siehe Abb. 8). Zuvor, wenn alle Türen des Saals geschlossen sind, entfalten die Malereien einen umfassenden, panoramaartigen Effekt, der lediglich durch die Fenster unterbrochen wird, ansonsten einen fast immersiven Charakter und eine festliche bis feierliche Stimmung aufweist. Beim Öffnen der Türen werden die Eritreische Sibylle, die als Prophetin des Endgerichts gilt, und wenigstens zwei Kaiser durch die Kapellenöffnung und die aufgeklappten Türblätter überschnitten. Die Sphäre der weltlichen Geschichte erweist sich als Illusion, als Hülle. Nach dem Öffnen fordern die Darstellungen auf der Rückseite der Kapellentüren die volle Aufmerksamkeit: Christus tritt uns als Schmerzensmann auf ebener Erde entgegen, ihm gegenüber die Schmerzensmutter, ebenfalls auf dem gleichen Bodenniveau wie der Betrachter. Welche Wirkung solche Figuren auf den spätmittelalterlichen Betrachter hatten, ist hinlänglich untersucht worden: In der Kathedralskulptur, in Stundenbüchern und auf Andachtsblättern, auf Altären und Epitaphien ist das Bild des geschundenen, gedemütigten Heilands affektiver Impulsgeber für die andächtige Meditation über die eigene Sündhaftigkeit des Betenden, die den Menschensohn zu seinem Opfer veranlasst hat.26 Aus der vorherigen Situation gänzlich affirmativer Bildrhetorik, in der die unter der Arkatur anwesenden Kaiser als role models für die Ratsherren einen machtbewussten Ton anschlagen, sehen sich dieselben Betrachter nun gleichzeitig mit der Vergänglichkeit ihrer profanen Welt wie auch insbesondere ihrer Sündhaftigkeit und ihrer Unwürdigkeit angesichts des Leidens Christi konfrontiert. Diese Idee steigert sich gewissermaßen noch im Inneren der Kapelle, denn das unmittelbar an den Kapellendurchgang anschließende Fresko zeigt Christus in einer dem lebensgroßen Schmerzensmann vergleichbaren Gestaltung in der Ecce Homo-Szene, in der sogar die Zurufe der Juden Crucifige eum, tolle, tolle (Joh 19, 15) u.a. ergänzt wurden (siehe Abb. 10). Vergleicht man das Fresko in der Kapelle mit der Situation, in der der geschundene Schmerzensmann vor die Ratsherren „tritt“, so wird deutlich, dass sie hier gewissermaßen die Rolle der Juden einnehmen, sie sind die Anklagenden, die die Ermordung des Gottessohnes zu verantworten haben. Der Weg der Bilder verspricht jedoch Hoffnung (siehe Abb. 9). Denn hat der Betrachter sich in einer inneren, meditativen Nachfolge, deren Rahmen compassio und imitatio Christi bilden, durch die Bilderfolge bewegt, erwartet ihn als Be26
Bruno Boerner, Bildwirkungen. Die kommunikative Funktion mittelalterlicher Skulpturen, Berlin 2008, bes. S. 52–62.
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lohnung zunächst eine erneute Vision der Gottesmutter in Form des Glasfensters, welches wieder die auf der Mondsichel stehende Himmelskönigin mit dem Kind darstellt. Obwohl die Parallele zur Augustusvision offensichtlich ist, scheint hier die apokalyptische Madonna gemeint zu sein, was die Augustusvision als vorläufig, zur diesseitigen Welt gehörig charakterisieren würde, während wir uns nun in der Sphäre der Endzeit befinden. Die Inszenierung im Medium der Glasmalerei, gekennzeichnet durch leuchtende Farben und Gegenlicht, scheint dabei eine neue Dimension der visionären Schau aufzurufen, ein belohnender und tröstlicher Vorgeschmack auf die apokalyptische Schau der Mediatrix, der wichtigsten Fürsprecherin vor Gott. Schließlich folgen die Bilder des Gnadenstuhls und des Weltenrichters, beide in Wolkenkränzen anstelle der bei den Passionsszenen bevorzugten fingierten Rankenarkaden, womit diese Darstellungen wiederum als visionär im Kontrast zu den biblischen Historien anzusehen sind. Der Weltenrichter ist mit den Worten ite/venite (Mt 25, 34 und 41) versehen, und spricht damit die Betrachter direkt als Verdammte bzw. Selige an. Mit der geöffneten Kapelle ist von zyklischer Struktur nichts mehr zu spüren, hier gibt es nur die eine zielgerichtete Perspektive, die von der Augustusvision auf die Endzeit gerichtet ist. Als die Malereien Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt wurden, identifizierte Krâtz in seiner Euphorie den Maler mit dem Lehrer Dürers, Michael Wolgemuth27. Dass er mit dieser Zuschreibung über das Ziel hinausschoss, ist längst Konsens – man hat sich auf einen Anonymus geeinigt.28 Woher sich aber die unmittelbare Assoziation der Malereien mit Wolgemuth erklärt, ist im Grunde nachvollziehbar, wurde jedoch in der Forschung kaum beachtet: Es ist die formale Struktur des Saalprogramms, die große Ähnlichkeiten mit dem strukturellen Aufbau der „Schedelschen Weltchronik“ aufweist. Allein die Tatsache einer Kaiserreihe lässt, außer an dynastische Programme, an die in der Regel durch Kaiser- und Papstreihen gegliederten und im späten 15. Jahrhundert äußerst populären Weltchroniken denken.29 Wenn nun noch die Vision des Kaisers Augustus, die die Initialzündung für das Programm darstellt, als Hinweis verstanden wird, so ist die Parallele noch offensichtlicher, denn mit ihr vollendet sich in der Chronica das fünfte Zeitalter, während mit Verkündigung und Geburt Christi das sechste Weltalter beginnt. Auch die Sibyllen finden sich in der Weltchronik des Hartmann Schedel, doch sind sie nicht zwischen die Kaiser, sondern z. T. in den Zeitenlauf, z. T. in eine Gruppe von Sibyllen auf Blatt 35v eingeordnet, zudem sind sie dort allesamt als Halbfiguren wiedergegeben.30 27
Goslarsche Zeitung 18.06.1862 (StadtA Goslar). Die unlösbare Aufgabe einer definitiven Zuschreibung wird in der Literatur immer wieder betont. Ausdrücklich mit der Zuschreibungsfrage haben sich befasst: Griep, Huldigungsmeister (mit Zusammenfassung der früheren Literatur) sowie Weinig, Huldigungssaal und Ehrt, Huldigungssaal. 29 Heike Johanna Mierau, Die lateinischen Papst-Kaiser-Chroniken des Spätmittelalters, sowie Tobias Tannenberger, Visualisierte Genealogie. Zur Wirkmächtigkeit und Plausibilität genealogischer Argumentation, beide in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. v. Gerhard Wolf/Norbert H. Ott, Berlin 2016, S. 105–126 (Mierau) und S. 521–540 (Tannenberger). 30 Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493, kommentiert von Stephan Füssel, Köln 2001. Weitere Sibyllendarstellungen ebd., auf den Blättern XLVIIr (Erithrea), LXVr (Hellespotica), LXXr (Cumana), LXXIXr (Chimica) und schließlich XCIIIr (Augustusvision). 28
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Während die Kaiserreihe also Kontinuität suggeriert, wird durch die Visions szene und die Deckenbilder das Thema der Zeitenwende evident. Hier ist nochmals die zyklische Auffassung des Programms zu unterstreichen, der bei gleichbleibenden Insignien (Krone, Zepter und Reichsapfel) auch die sehr unterschiedlich gestalteten Kostüme der Kaiser zu verdanken sind: es handelt sich wohl um den Versuch, fiktiv historisierende Kleidung für Kaiser verschiedener Epochen wiederzugeben, ohne dabei jedoch zu konkret in der epochalen Zuordnung zu werden. Die Augustus vision bildet hier einen ambivalenten Ausgangspunkt: Zeitgleich mit Christi Geburt ist Augustus der erste Kaiser des sechsten Zeitalters. Doch im zyklischen Aufbau des Programms ist es möglich, die in der Reihe vor ihm stehenden Kaiser als Kaiser des fünften, jüdischen Zeitalters zu begreifen, ja sogar noch weiter zurück bis in die griechische Zeit zu gehen, der ja die Sibyllen entstammen. Umgekehrt verhält es sich, wenn man von Augustus chronologisch aufwärts denkt, denn dann würden die römischen Kaiser bis auf die Gegenwart folgen, bis man schließlich wieder bei der Madonnenvision anlangt, die ja in der Figur des Knienden noch ganz besondere Eigenschaften zeigt – dazu später mehr. Eine weitere Ähnlichkeit zur „Schedelschen Weltchronik“ ist in der durch die Fenster und die auf Stadtkirchen bezogenen Heiligen in den Laibungen insofern gegeben, als dass auch in der Chronik die vertikale Zeitachse immer wieder mit gewissermaßen horizontalen Städtebildern ergänzt wird. Anstelle einer Stadtansicht hätte man hier den Blick aus dem Fenster mit den topographischen Verweisen durch die Stadtheiligen in den Fensterlaibungen. Je nach Verglasung und damit „Durchblick“ nach draußen könnte man sogar an einen visuellen Verweis auf die beiden wichtigsten Tätigkeitsfelder des Rates im Sinne einer Sorge um die res publica denken, denn aus den Westfenstern blickt man direkt auf den Chor der Marktkirche und damit den wichtigsten Ort der religiösen Ratsaktivitäten sowie auf den Marktplatz des Schuhhofes, womit auf den Handel als zweites wichtiges Tätigkeitsfeld verwiesen wäre. Die alternierende Reihe von eleganten Damen und Herren jedoch, stehend und lebensgroß, hinter einer auf die Landschaft geöffneten Arkatur und abgesehen von dieser architektonisch verschliffenen Bildgrenze quasi im Raum gegenwärtig, ist auf andere Vorbilder zurückzuführen. Hier sind Festsäle wie die Sala Baronale auf dem Castello di Manta mit den „neun guten Helden bzw. neun guten Heldinnen“ (1411–1416) oder zeitlich und geographisch näher der Fürstensaal im Lüneburger Rathaus (1450) zu nennen, die im Grunde auf den aus Italien stammenden Gedanken der uomini illustri bzw. donne famose zurückgehen und tatsächliche oder fingierte Ahnenreihen als exempla den im Raum Anwesenden gegenüberstellten.31 Ein solcher italienischer uomini illustri-Zyklus war nachweislich mit Sibyllen ausgemalt und, obwohl schon im 15. Jahrhundert zerstört, durch ungewöhnlich zahlreiche Beschreibungen und Nachzeichnungen auch in Nordeuropa bekannt: der des Palazzo 31
Zum Fürstenssaal vgl. Barbarba Uppenkamp, Politische Ikonographie im Rathaus zu Lüneburg, in: Joachim Ganzert (Hg.), Das Lüneburger Rathaus. Ergebnisse der Untersuchungen 2008 bis 2011. Bd. 2, Petersberg 2014, S. 247–353; zur Sala Baronale des Kastells von Manta vgl. Steffi Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Bd. 1: Anfänge und Entfaltung 1400–1470, München 1996, S. 42–59.
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Orsini in Rom.32 Es ist gut möglich, dass die Beschreibung eines solchen Raumschemas auch einem Goslarer Ratsherrn bekannt geworden war, bedenkt man beispielsweise, dass Hans Geismar im Kontext eines Goslarer Münzskandals zum Prozess nach Rom geladen war.33 Solche Dekorationen waren in der Regel Festsälen vorbehalten, spiegelten doch die stehenden, lebensgroßen Figuren in gewisser Weise das Geschehen im Raum. Und auch in Goslar mag die Tatsache, dass die Sibyllen sich den offenbar eher passiv lauschenden Kaisern in reger Kommunikation zuneigen, ein Reflex auf die intensiven Beratungen und Debatten der Ratsherren gewesen sein. Schließlich ist das Thema des Ratens, Beratens und Rat Hörens eine der wichtigsten Konstanten von Rathausausstattungen des Spätmittelalters.34 Und damit erklärt sich auch die Tatsache, dass die Sibyllen nicht, wie in anderen Sibyllenzyklen, den Propheten zugeordnet sind, sondern ausdrücklich als Ratgeberinnen der Kaiser auftreten. Hier bildet offenbar die Ara coeli-Legende den Anlass, das Thema zu amplifizieren und zwar, für meine Begriffe, kaiserkritisch. Denn in der Legende werden die Berater des Kaisers, die ihm empfahlen, sich wie einen Gott verehren zu lassen, durch die Vision eines Besseren belehrt – allein dem menschgewordenen Gott auf den Armen seiner Mutter gebührt diese Art der Verehrung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Augustus eben deshalb seine besondere Stellung in der Geschichte der Welt hat, weil er die Zweitrangigkeit seines Amtes gegenüber der Gottesherrschaft erkannte. Entsprechend künden die Sibyllen fast einhellig von der neuen „gewaltigen Ordnung der Welt“ (Cumana), vom „Kommen des Herrn“ (Persica), des „friedfertigen Ruhestifters“ (Tiburtina), der vom „Olymp“ (Phrygia und Europaea) herabsteigen werde (siehe Schema, S. 86/87). Nicht zuletzt ist anzumerken, dass die Sprüche der Sibyllenfiguren im Ratssaal einen stärkeren Marienbezug aufweisen als etwa die Sprüche der Propheten und Evangelisten, die vor allem auf die Geschehnisse der Weihnachtsnacht eingehen. Neben der Ankündigung des Himmelsherrschers wird Maria in ihren diversen Eigenschaften geehrt: als Jungfrau, als Mutter und Gottesgebärerin (Theotokos), als Liebkosende und Nährende (Maria lactans), „Thron“ und „Wohnstatt“ Christi (Sedes Sapientiae) und nicht zuletzt als Himmelskönigin. 35 Entsprechende Aussagen finden sich z.B. bei der Sibylla Agrippina („Ein Mutterleib wird es [das unsichtbare Wort] umgeben“); bei der Libica („Die Herrin der Völker wird ihn auf dem Schoß halten“), bei der Persica („Der Schoß einer Jungfrau wird das Heil der Völker sein“ und „Das unsichtbare Wort wird liebkost werden“) und bei der Cimmeria („eine 32
Augustyn, Bildüberlieferung, S. 406f. Heinrich Rüthing, Zur Geschichte des Mariengroschens, in: Andrea Löther/Ulrich Meier/Norbert Schnitzler/Gerd Schwerhoff/Gabriela Signori (Hg.), Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, S. 35–59. 34 Vgl. hierzu etwa die Kölner Prophetenzyklen aus dem Hansasaal. Nicole Buchmann, Die Malerei fragmente aus dem Hansasaal sowie Walter Geis, Die Propheten als Rechtssymbole, beide in: Walter Geis/Ulrich Krings, Köln. Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung, Köln 2000, S. 415–438 und S. 439–458. 35 Zu „Maria als Erwählte, Geliebte und Wohnstätte der Trinität“ vgl. das gleichnamige Kapitel in Peter Kern, Trinität, Maria, Inkarnation. Studien zur Thematik der deutschen Dichtung des späteren Mittelalters, Berlin 1971, S. 128–138. 33
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Abb. 8: Schema: Raumschema mit den Inschriften der Wände und der Decke (Übersetzung nach Magin, Inschriften, Nr. 59). Die Darstellung ist nicht maßstabsgetreu und dient nur einer ungefähren Lokalisierung der Spruchbandinhalte im Verhältnis zu den Darstellungen und Raumzonen. Quelle: Schema erstellt durch die Autorin
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junge Frau […], mit schönem Antlitz und langem Haar, sitzend auf einem gepolsterten Thron“, „das Kind nährend“, „sie gibt ihm zu essen seinen [Gottes] eigenen Saft, die vom Himmel gesandte Milch“; siehe Schema).36 Das insgesamt festzustellende Übergewicht der sprachlichen Bilder für die Gottesmutter entspricht in etwa der malerischen Prominenz der Marienfigur gegenüber dem visuell weniger stark akzentuierten Christkind. Die Programmaussage ist, gegen die bisherigen Deutungen, nicht so sehr auf die Verherrlichung des Kaisers gerichtet, sondern vielmehr auf die Anbetung Mariens.
3. Raumnutzung und rituelle Bezüge Solche Marienbezüge lassen sich auch im rituellen Bereich feststellen. So fiel es in die Zuständigkeit des Rates, die Prozessionen an Marienfesten mit auszurichten, insbesondere zu Purificatio Mariae (2.2.), Pfingsten, Visitatio Mariae (2.7.) und Mariae Himmelfahrt (15.8.). Zudem fand die Vereidigung des Rates an einem Termin nahe Mariae Empfängnis statt. Dass Maria als Mondsichelmadonna seit 1505 auf den Goslarer Mariengroschen geprägt wurde, erscheint da nur folgerichtig.37 Im Jahr 1508, als die Annales die wichtigsten Abläufe der Ratswahl fixierten, bestand der Rat in Goslar aus zwei Gremien à 19 Personen, die je das aus den Berg bauvertretern zusammengesetzte Kollegium der Sechsmannen sowie Vertreter unterschiedlicher Gilden, d.h. vier Vertreter der Kaufleute, je zwei der Münzer, der Bäcker, der Schuhmacher und der Knochenhauer sowie einen Vertreter der Krämergilde umfassten. Gewählt wurde auf Lebenszeit, jedes Jahr wurden lediglich verstorbene Ratsherren durch Kooptation ersetzt. Diese beiden Gremien wechselten sich als alter und neuer Rat jährlich in der Regierungsführung ab. Die jährliche Ratsumsetzung begann mit einem Wahlverfahren für die zu ergänzenden Ratsstühle Verstorbener am Abend der Andreasnacht, d.h. am 30. November. Am Freitag nach unser leven fruwen dage vor winachten38 (gemeint ist der 8.12., d.h. Mariae unbefleckte Empfängnis) stimmten alter und neuer Rat über die neuen Kandidaten ab und luden sie vor. Ihren Eid mussten sie vor dem alten Bürgermeister leisten, wobei der alte Rat dem neuen seine Unterstützung versprach. Anschließend wurden die Tafelherren und dann alle anderen Amtsträger vereidigt.39 Möglich ist auch, dass an diesem Tag der Bürgereid stattfand.40 Am Dienstag vor Santa Lucia (13.12.) legte zunächst der alte Rat seine Rechenschaft ab. Dann wurde der neue Bürgermeister gewählt. Zu diesem Zweck nahm der neue Rat up der dornsen seinen Platz ein, der 36
Eine detailliertere Besprechung der Inschriften und die ausführliche Deutung der marianischen Bezüge sind für eine spätere Publikation geplant. 37 Zu den Hintergründen: Rüthing, Mariengroschen. 38 Karl Fröhlich, Verfassung und Verwaltung der Stadt Goslar im späteren Mittelalter, Goslar 1921, S. 54. 39 Ebd., S. 68. 40 Fröhlich, Verfassung, S. 30, Anm. 6.
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alte hingegen up de scriverie. Ratsdiener vermittelten das Ergebnis zwischen den Räten und holten die Zustimmung beider Seiten ein. Schließlich bat der Kämmerer Her bormester, komet sitten.41 Im Anschluss bat dieser dann die weiteren Ratsmitglieder sich zu setzten: unde biddet sine heren sitten secundum ordinem up beyde halve.42 Das Regierungsgeschäft wurde dann kurz nach Weihnachten durch den neuen Rat wieder aufgenommen. Da für die Trinitatiskapelle überliefert ist, dass hier wöchentlich vier Messen stattfanden, ist von vier Ratssitzungen pro Woche auszugehen. Der Eid, der in den Annales von 1508 überliefert ist, zeigt auf bezeichnende Weise, dass das Regierungsjahr als an Weihnachten beginnend begriffen wurde: „Dass wir für die Stadt Goslar wollen raten von Weihnachten fort über ein Jahr nach unseren fünf Sinnen so gut wir es können und mögen, dem Reich zu Ehren und der Stadt zum Gute, für den Armen wie den Reichen und das nicht lassen weder durch Liebe noch Leid und heilen, was zu heilen steht, Dass uns Gott helfe und die Heiligen.“43
Die Annales liefern also einen Hinweis auf die Sitzordnung in der Ratsstube (secundum ordinem up beyde halve). Bei einem Ratskollegium von 19 Personen, davon ein Bürgermeister, würde das bedeuten, dass zu beiden Seiten je neun Personen sitzen sollten. Für den Bürgermeister ergäbe sich bei drei Bankseiten ein Sitzplatz in der Mitte der Westwand gegenüber der Trinitatiskapelle. Nimmt man an, dass die Madonnenerscheinung nicht durch eine sitzende Person überschnitten werden sollte, bleiben noch das Bildfeld des Knienden oder der Platz vor dem Wandschrank, was jedoch Schwierigkeiten beim Öffnen desselben verursacht haben könnte. Es ist also relativ wahrscheinlich, dass der Bürgermeister vor der knienden Figur saß.
4. Materielle Dimensionen Versucht man, die Bilder auf die Handlungen und Gegenstände im Raum zu beziehen, wird man am ehesten im viefältigen Bezugssystem des Deckenprogramms fündig (siehe Schema). Sowohl innerhalb der Bildtafeln als auch im Hinblick auf die räumlichen Gegebenheiten gibt es Verweise. Zentral sind wie gesagt die vier Szenen der Weihnachtsgeschichte ausgeführt: Die „Verkündigung an Maria“, die „Geburt Christi“ mit anbetenden Hirten, die „Ankunft der Heiligen Drei Könige“ und die „Darbringung im Tempel“. Die ursprüngliche Reihenfolge der letzten beiden dieser Szenen ist unklar, da ältere und neue 41
Fröhlich, Verfassung, S. 55. Ebd. 43 Dat wy vor de stadt Goslar willen raden van wynachten vordt over eyn jar na unsen vyff synnen, also wy best kunnen unde mogen, dem rike to eren unde der stadt to gude, dem armen alse dem riken, unde laten des nicht dorch leyff noch dorch leyt unde helen, dat to helen steyt. Dat uns godt to helpe unde de hilgen. Fröhlich, Verfassung, S. 30, Anm. 5. 42
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Fotografien unterschiedliche Positionen für die „Darbringung“ und die „Anbetung der Könige“ aufweisen. Der heute diagonal neben der „Darbringung“ befindliche Evangelist Matthäus („Als Jesus in Bethlehem geboren war, siehe, da kamen die Weisen aus dem Morgenland“, Mt 2,1) lässt sich nämlich eher auf die „Anbetung der Könige“ beziehen. Der schräg neben der „Anbetung der Könige“ eingefügte Evangelist Markus („Als die Eltern ihren Sohn Jesus in den Tempel führten“, Lk 2,27) verweist eher auf die „Darbringung“. Doch wäre es auch möglich, dass bei einer Restaurierung die Bildtafeln der beiden Evangelisten Matthäus und Markus vertauscht worden sind. Abgesehen von den Evangelisten sind die biblischen Historien von zwölf auf Bänken sitzenden Propheten umgeben, deren Spruchbänder sich häufig auf die unmittelbar benachbarte Szene der Weihnachtsgeschichte beziehen. Einige dieser Verweise bemerkte schon Weinig, namentlich die drei auf Verkündigung und Geburt verweisenden Inschriften von Lukas, Isa (Jesaja) und Johannes.44 Dem ist hinzuzufügen, dass sich die Aussagen von David45, Jesaja46 und Bileam47 auf der anderen Raumseite ebenfalls auf die Anbetung der Könige beziehen lassen und damit die heutige Reihenfolge der Anbetungs- und der Darbringungsszene unterstützen. Micha und Habakuk wiederum sind räumlich der Geburt zugeordnet und verweisen auch in ihren Spruchbändern auf diese. Die Aussage von Ezechiel, „Diese Tür wird verschlossen sein und der Herr, der Gott Israels, ist durch sie eingetreten“ (Ez 44,2), lässt sich interessanterweise sowohl auf die Marienverkündigung wie auch auf die zur Kapelle führende Tür an dieser Stelle beziehen. Eine Sonderstellung nehmen in dieser Hinsicht die drei Spruchbänder ein von Sophonias („Der König Israels, der Herr in deiner Mitte“, So 3, 15), Zacharias („Siehe, ich komme und werde in Eurer Mitte wohnen“, Za 2,10) und Malachias („Der Herrscher, den ihr sucht, wird zu seinem heiligen Tempel kommen“, Mal 3,1). Sie alle weisen auf die Ankunft eines neuen Herrschers, zwei davon verorten diese sogar unmittelbar „in der Mitte“ der Anwesenden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Sprüche auf der Seite des Bürgermeistersitzes angeordnet sind, genau gegenüber den Kapellentüren, aus denen bei jeder Messe der Heiland „mitten“ unter die Ratsherren tritt. Oberhalb des verborgenen Durchgangs zum Archiv ist Daniel mit folgendem Ausspruch installiert: „Ein kantiger Stein ist ohne Hände vom Berg abgespalten worden“ (Dn 2, 34). Das Zitat ist der berühmten Traumdeutung des Propheten entnommen: König Nebukadnezar träumte von einem gewaltigen Standbild aus Gold, Silber, Erz, Eisen und Ton, das durch einen Stein zerstört wird – Daniel las das Standbild als Symbol zukünftiger Königreiche, die Zerstörung durch den Stein aber als Zeichen der Vergänglichkeit dieser und Beginn der ewigen Gottesherrschaft.48 44
Einige dieser Verweise bemerkte schon Weinig, Huldigungssaal, S. 234, namentlich die drei auf Verkündigung und Geburt verweisenden Inschriften von Lukas (bei Magin, Inschriften, Nr. 59, C 9), Jesaja (C10) und Johannes (C13). 45 David: Die Könige von Tharsus und von der Insel bringen Geschenke. Ps 71,10. 46 Jesaja: Alle aus Saba kommen und bringen Gold und Weihrauch. Jes 7,14. 47 Bileam: Ein Stern wird aufgehen aus Jakob. Num 24, 17. 48 Buch Daniel, Kap. 2, 32–45: „Du, König, hattest eine Vision: Du sahst ein gewaltiges Standbild. Es war groß und von außergewöhnlichem Glanz; es stand vor dir und war furchtbar anzusehen. An diesem Standbild war das Haupt aus reinem Gold; Brust und Arme waren aus Silber, Rumpf und Hüften aus
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Ist mit diesen Hinweisen auf die Vergänglichkeit irdischer Herrschaft vielleicht eine Mahnung an den Kaiser artikuliert, der Goslar Anfang des 16. Jahrhunderts in eine so missliche Lage gebracht hatte? Der in der Herrscherreihe inhärente Verweis auf die bisher kontinuierliche und damit althergebrachte Schutzrolle der Könige und Kaiser für Goslar bietet Raum für eine ambivalente Auslegung. Einerseits könnte es eine stolze Repräsentation der lange tradierten Reichsunmittelbarkeit der Stadt sein. Doch in Kombination mit den Sibyllen wird auch die nur temporäre Rolle der sich über die Zeit ablösenden Kaiser und Könige deutlich, umso mehr als die finale Herrschaft Gottes angekündigt und von den vorbildhaften Herrschern Augustus und Nebukadnezar demütig anerkannt wird. Kommen wir noch einmal zu der knienden Figur. Seit den ersten kunsthistorischen Beiträgen zu diesem Thema war gerätselt worden, ob es sich hier um den zeitgenössischen Stifter des Programms, einen Bürgermeister oder das Portrait eines zeitgenössischen Kaisers handeln könnte.49 Der seinerzeit amtierende Bürgermeister Johann Papen war dabei von Anfang an im Gespräch.50 Auf der anderen Seite machte die Einbindung der Figur in die Visionsszene eine Identifikation mit einem Kaiser unerlässlich. War hier der Bürgermeister als Augustus portraitiert worden oder stellte die Figur sogar den 1493 vertorbenen Kaiser Friedrich III. dar? Ich möchte mich hier nachdrücklich dafür aussprechen, der Figur ihre ganz offensichtliche Ambivalenz nicht zugunsten einer eine historische Persönlichkeit fixierenden Deutung zu nehmen. Es ist offenbar erwünscht, dass diese Figur Identifikationspotenzial für die zeitgenössischen Betrachter bietet. Sie kann als Kaiser angesehen werden, aber auch als Ratsmitglied, schließlich lässt der dunkle Mantel mit Pelzbesatz auf die Kleidung eines Ratsherrn schließen.51 Bronze. Die Beine waren aus Eisen, die Füße aber zum Teil aus Eisen, zum Teil aus Ton. Du sahst, wie ohne Zutun von Menschenhand sich ein Stein von einem Berg löste, gegen die eisernen und tönernen Füße des Standbildes schlug und sie zermalmte. Da wurden Eisen und Ton, Bronze, Silber und Gold mit einem Mal zu Staub. Sie wurden wie Spreu auf dem Dreschplatz im Sommer. Der Wind trug sie fort und keine Spur war mehr von ihnen zu finden. Der Stein aber, der das Standbild getroffen hatte, wurde zu einem großen Berg und erfüllte die ganze Erde. Das war der Traum. Nun wollen wir dem König sagen, was er bedeutet. […] Du bist das goldene Haupt. Nach dir kommt ein anderes Reich, geringer als deines; dann ein drittes Reich, von Bronze, das die ganze Erde beherrschen wird. Ein viertes endlich wird hart wie Eisen sein; Eisen zerschlägt und zermalmt ja alles; und wie Eisen alles zerschmettert, so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern. Die Füße und Zehen waren, wie du gesehen hast, teils aus Töpferton, teils aus Eisen; das bedeutet: Das Reich wird geteilt sein; […] Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen. Du hast ja gesehen, dass ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Eisen, Bronze und Ton, Silber und Gold zermalmte.“ 49 Für ein Portrait Kaiser Maximilians I. sprachen sich aus: Krâtz (Goslarsche Zeitung 18.06.1862), sowie Goldberg, Huldigungssaal, S. 64. Neuerdings plädiert Ehrt für Friedrich III. (Ehrt, Huldigungssaal, S. 10–15, S. 18 u. S. 22f.). 50 H. W. H. Mithoff, Archiv für Niedersächsische Kunstgeschichte. Abteilung 3: Mittelalterliche Kunstwerke in Goslar, Hannover 1862, S. 34; Griep, Huldigungsmeister, S. 116; Weinig, Huldigungssaal, S. 238. Dagegen wendet sich Diener-Staeckling, Himmel, S. 72. 51 Hierzu der Vergleich mit Darstellungen von Ratsleuten auf Miniaturen: etwa von Lyon (1519), Regensburg (1536) oder dem Monatsbild Dezember des Jörg Breu, 1531 (Augsburg, 1531), alle abgebil-
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Nicht umsonst ist hier das Spruchband leer belassen: Eine Leerstelle, in die der jeweilige Betrachter seine eigenen an die Madonnenerscheinung gerichteten Worte gedanklich hineinsetzen kann. Oder eine Leerstelle, in die ein Ratsherr stellvertretend für das städtische Kollektiv eine Anrufung platzieren kann. Dem entspricht auch die Darstellung der Himmelskönigin. In ihrer ikonischen Frontalität wird deutlich, dass die Erscheinung auf den Betrachter ausgerichtet ist und nicht oder nicht ausschließlich auf den Kaiser. Die Vision ist nicht auf Augustus beschränkt, nicht ausschließlich als historisches Ereignis charakterisiert, sie ereignet sich gewissermaßen in der Ratsstube wie einst in der Kammer des römischen Kaisers, sie ist zeitlos und ebenso an den Betrachter gerichtet. Eine solche zwischen Augustus und zeitgenössischem Betrachter changierende Figur entspricht der zyklischen Anlage der Kaiserreihe, die einen Fixpunkt der Heilsgeschichte immer wieder (d.h. vielleicht im Jahresturnus des Ratsamtes gedacht) zur Aufführung bringen kann. Eine weitere Eigenschaft der Inszenierung von Kniendem, Wandschrank und Madonna kommt hier außerdem zum Tragen – ein Aspekt, der die beiden Figuren nochmals enger zusammenbindet: Wie ein Arrangement des frühen 20. Jahrhunderts zeigt (siehe Abb. 11), könnte im Schrank das Ratssilber und/oder das Stadtrecht eingestellt gewesen sein. Sieht man die Tür geöffnet, wirken die kostbaren Gegenstände wie eine Gabe an die Marienerscheinung. Dies könnte einerseits für einen bestimmten Stifter sprechen, andererseits – und unter Berücksichtigung des Ortes, an dem die Stellvertreter der städtischen Gemeinschaft für das Gemeinwohl der Bürger regieren – spricht Vieles dafür, dass hier eine Stellvertreterfigur gemeint ist, die eigentlich ein Kollektiv repräsentiert. Denkbar wäre, dass hier der Bürgermeister gemeint ist, der sich zum Wohle der Stadt einsetzt und im Namen aller Ratsmitglieder oder auch der gesamten Bürgerschaft ihr kostbarstes Gut (das auf kaiserlichen Privilegien beruhende Stadtrecht) präsentiert beziehungsweise als Unterpfand für ihren Schutz der Madonna weiht. Ähnliche Rechtshandlungen, wie die Übergabe der Stadtschlüssel an ein Madonnenbildnis 1260 in Siena, sind aus der Geschichte der städtischen Kommunebildung hinlänglich bekannt.52 Dass das Stadtrecht tatsächlich im Wandschrank gelegen haben könnte, dafür spricht ein Passus in eben diesem Stadtrecht.53 In § 223 wird vermerkt, dass, sollte eine Partei mit dem Richtspruch des Rates nicht zufrieden sein, diese Partei dafür plädieren konnte, das Statutenbuch hervorzuholen (dat men in der stat boke lese, of it dar inne stunde dat scholde men don). Herrsche Uneinigkeit über die Auslegung der Textpassage, so sei nach Stimmenmehrheit zu entscheiden (§ 224: dat men lese ut dem boke, dat en partye anders vor stunde denne de andere […] wat de merere del des rades spreke da scholde men sik ane gehe noghen late). Auch ließe sich über das Stadtrecht ein Bezug auf die Szene der „Darbringung im Tempel“ herstellen, da dort die ersten Bestimmungen det bei Dietrich W. Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.–18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2003, Abb. 2, 15 und 17. 52 Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 2003, S. 341–350. 53 Maik Lemberg, Der Goslarer Ratskodex. Das Stadtrecht um 1350. Edition, Übersetzung und begleitende Beiträge, hg. im Auftrag des Geschichtsvereins Goslar e. V., Bielefeld 2013, S. 519–521; Graf, Reichstadt Goslar, S. 75.
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des mosaischen Gesetzes auf die Altartafel geschrieben sind („Glaube an einen Gott und schwöre nichts Falsches bei seinem Namen, heilige den Sabbat, ehre die Eltern, sei kein Mörder, Dieb, Ehebrecher, falscher Zeuge und begehre nicht die Ehefrau eines anderen“54). Der Rat in seiner Rechtsauffassung und seiner Befugnis, Recht zu sprechen, würde sich so in eine bis auf die zehn Gebote zurückreichenden Rechtstradition präsentieren und zugleich das eigene Stadtrecht in zwei Bildern als unter dem Schutz der Madonna stehend begreifen. Nimmt man das Ratssilber im Wandschrank an, so ließe sich über die durch den Knienden evozierte „Stiftungsszene“ auch eine Beziehung zur „Anbetung der Könige“ an der Saaldecke herstellen. Der Rat würde sich damit gewissermaßen mit den heidnischen Königen vergleichen, die die ersten Herrscher waren, die den wahren König erkannten und ihm huldigten. Dies entspräche in etwa dem ikonographischen Kontext, den auch die Schenkschieve von 1521 in der Lüneburger Ratsdörnse aufruft, wo ein Schleierbrett im obersten Bereich des Schrankes die Schnitzerei der Anbetung der Könige zeigt, während auf der waagerecht geöffneten Klappe das Ratssilber in Analogie zu den Gaben der Könige präsentiert wird.55 Und noch eine räumliche Korrelation lässt sich feststellen. Betrachtet man die Madonnenerscheinung als Vergegenwärtigung Mariens, fällt auf, dass das Zitat aus dem Lukas-Evangelium zur Ankunft des Engels Gabriel unmittelbar über der Eingangstür in den Ratssaal angebracht ist. Der Eintritt in den Saal wird so mit dem Beginn der in den Deckentafeln erzählten Geschichte parallelisiert, zumal beim Aufstieg über die Treppe ein Blick nach oben wahrscheinlich ist und die Verkündigung damit als erstes in den Blick gerät.56 In der Darstellung fällt die außerordentliche Dynamik auf, mit der sich der Engel Maria nähert – sie entspricht der Bewegung des ankommenden Besuchers und liefert diesem gewissermaßen ein Handlungsvorbild: Das vom Engel artikulierte „Ave Maria“ wird damit auch dem Eintretenden als Gruß nahegelegt, wenn er nun die Schwelle überschreitet und sich der Madon nenerscheinung auf der anderen Raumseite nähert. Auch hier wird deutlich, wie eng Bilder und Betrachterhandlung im Huldigungssaal aufeinander bezogen sind.
5. Schluss Auffällig am Bildprogramm des „Huldigungssaals“ ist, dass der Rat sich offenbar nur noch zum Teil über die Privilegierung durch den Kaiser legitimierte, sondern vielmehr über seine unmittelbare Beziehung zu Gott. Ohne die Reichsunmittelbarkeit der Stadt infrage zu stellen, ermöglicht die spezielle Gestaltung des Ratssaales 54
Übers. nach: Magin, Inschriften, Nr. 59 (C19). Joachim Ganzert/Bernd Adam u.a. (Hg.), Das Lüneburger Rathaus. Bd. 2: Ergebnisse der Untersuchungen 2008 bis 2011, Petersberg 2014, S. 252–254, Abb. 4. 56 Auf den durch den Aufstieg nach oben gerichteten Blick wies mich Roland Krischel hin, dem ich für diese Ergänzung danken möchte. 55
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durch Verweis auf eine jahrhundertealte Tradition in besonders raffinierter Weise, über die diesseitige Bezugsgröße der Kaiserherrschaft hinaus eine überzeitliche Dimension zu eröffnen. Sind die Kapellentüren aufgeklappt, wird der Rat zum Gegenüber Gottes, der im Schmerzensmann als Opfer, im Kapellengewölbe als Richter gegenwärtig ist, und hat allein ihm Rechenschaft abzulegen. Maria als Vermittlerin und Verbindung der Menschenwelt mit der göttlichen Sphäre kommt dabei eine besondere Rolle zu. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Kaiser stehend dargestellt sind, die Ratsleute auf ihren Bänken jedoch sitzen, ja das Sitzen sogar in besonderem Maße das „im Eide sein“ unterstreicht.57 In der hierarchischen Bedeutung beider Körperhaltungen müsste es eigentlich genau umgekehrt sein: in der Regel thront der Herrscher, während der Untertan steht. Stellt man sich die sitzenden Ratsherren vor den Bildern vor, so erinnert die Situation an Heilige, die ihre Stifter empfehlen – mit dem Unterschied, dass die Stifter in der Regel knien. Damit würden die früheren Kaiser gewissermaßen zu „Schutzpatronen“ der anwesenden Ratsherren werden, doch bleibt diese Eigenart des Bildprogramms eine offene Frage. Eindeutig ist hingegen die Bedeutung Mariae für den Goslarer Rat – wohl eine verlässlichere Patronin als Maximilian I.
57
Vgl. zum Ratsstuhl und seiner zeremoniellen Bedeutung: Poeck, Rituale der Ratswahl, S. 155–284, hier S. 283.
OBJEKTE BEI STÄDTISCHEN EIDESLEISTUNGEN IM SPÄTMITTELALTER* Olivier Richard
Die mittelalterliche Stadt ist durch die Allgegenwart des Eides gekennzeichnet. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass der Eid den Ursprung der mittelalterlichen Städte als politische Entitäten konstituierte: Sie werden bekanntlich als conjurationes bezeichnet. Was ist der Eid? Er ist die Äußerung eines Wortes oder einer Wortfolge, deren Wahrheit durch die Anrufung Gottes garantiert wird, wobei der Schwörende seine Seele als Pfand gibt. Aber der Eid ist nicht nur Wort, sondern auch Geste. Er ist nur dann gültig, wenn das Wort unter besonderen Umständen ausgesprochen wird, vor allem in Begleitung von besonderen Gebärden: Er hat – anders gesagt – eine rituelle Dimension, wobei Ritual definiert werden kann als „die durch ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen vollzogene Ausführung einer Sequenz von Gesten und Riten, die eine Veränderung hervorbringt, eine Wirkung hat“1 und „bei der die Emotion, die Dramatisierung, die Intensivierung der individuellen und öffentlichen Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle spielen“.2 Wenn dem so ist, muss die Frage nach den Gesten, also nach dem Körper bei der Eidesleistung, gestellt werden, und ebenso die Frage nach den räumlichen und auch den materiellen Arrangements, in denen Eide in spätmittelalterlichen Städten *
Die Forschungen, die u.a. zu diesem Aufsatz führten, wurden durch ein „Stipendium für erfahrene Wissenschaftler“ am Historischen Institut der Universität Köln (Lehrstuhl Prof. Dr. Sabine von Heusinger) ermöglicht, das mir dankenswerterweise die Alexander-von-Humboldt-Stiftung für das akademische Jahr 2014–2015 gewährte. 1 Jean-Marie Moeglin, Les bourgeois de Calais. Essai sur un mythe historique, Paris 2002, S. 325. Ritual und Zeremonie werden hier, wie in der Ritualforschung üblich, unterschieden; bei der Zeremonie ist die Funktion der Veränderung weniger präsent als die der Repräsentation. Siehe ebenfalls: Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 27 (2000), S. 389–405, hier S. 397. 2 Nicolas Offenstadt, Le rite et l’histoire. Remarques introductives, in: Hypothèses (1998), S. 9–14, hier S. 10. Diese Definition ist freilich nur eine unter sehr vielen. Siehe Jörg Rogges Verweis auf die „babylonische Meinungsverschiedenheit“ in dieser Frage: Jörg Rogge, Stadtverfassung, städtische Gesetzgebung und ihre Darstellung in Zeremoniell und Ritual in deutschen Städten vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Giorgio Chittolini/Peter Johanek (Hg.), Aspekte und Komponenten der städtischen Identität in Italien und Deutschland (14.–16. Jahrhundert), Bologna 2003, S. 193–226, hier S. 203.
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geschworen wurden. Gewisse Objekte kommen bei Eidesleistungen regelmäßig vor. Nun aber setzen sich die letzten großen Studien zum Eid im Mittelalter, die aus den 1990er Jahren stammen – vor dem „material turn“ –, wenig mit Materialität auseinander.3 Darüber hinaus befassen sich die „ritual studies“ selten mit der materiellen Dimension des Rituals, es sei denn, es fehlen Texte, wenn beispielsweise Anthropologen Rituale in schriftarmen oder schriftlosen Gesellschaften untersuchen und sich auf Objekte beschränken müssen.4 Dafür behandeln neuerdings Arbeiten zur Rechtsikonografie die Materialität von Ritualen bzw. von Eidpraktiken, allerdings in noch überschaubarer Zahl.5 Die wichtigsten und umfassendsten Studien zu den großen städtischen Ritualen im Mittelalter, in denen kollektive Eidesleistungen eine große Rolle spielen – wenn sich beispielsweise bei der Ratserneuerung Gemeinde und Ratsherren gegenseitig Eide schworen – setzen sich oft mit dem Moment bzw. mit dem Ort des Schwurs, oder sogar mit dessen Inszenierung auseinander.6 Darum werden diese Aspekte hier beiseitegelassen, obwohl vor allem die räumlichen Anordnungen eminent wichtig sind. Aber diese Studien beschäftigten sich bisher kaum mit den Objekten, auf die die verschiedenen Akteure für die Eidesleistung rekurrierten. Darum möchte ich mich heute mit den Objekten auseinandersetzen, d. h. mit den Artefakten, die die Akteure – Eidleistende, Eidnehmende und Zuschauer – berühren, halten oder anschauen. Den Körper der Akteure werde ich nur dann berücksichtigen, wenn er mit Objekten interagiert.7 Wie uns die Literatur zum „material turn“ aus den Sozialwissenschaften ermuntert,8 möchte ich verschiedene Perspektiven oder Ebenen einbeziehen: Zum einen die Perspektive einer Phänomenologie der Objekte und der Sinneserfahrung, die 3
André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800– 1800), Stuttgart 1991 und Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, Berlin 1997, verfolgen ganz andere Fragestellungen. Dagegen befasst sich Lothar Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter, Kallmünz 1989, S. 233–241, mit Eidobjekten. Siehe auch Nicolas Offenstadt, Faire la paix au Moyen Âge, Paris 2007, S. 270–273. 4 Thomas Meier/Astrid Zotter, Ritualgegenstände und Materialität, in: Christiane Brosius/Axel Michaels/Paula Schrode (Hg.), Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen, Göttingen 2013, S. 135–143, hier S. 140. 5 Gernot Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie, München 1992; Wolfgang Schild, Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln 1995; Klaus F. Röhl, Bilder in historischen Rechtshandschriften. Bausteine für das Projekt „Visuelle Rechtskommunikation“, Ruhr-Universität Bochum, siehe: http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/daten/pdf/visuelle_rk/Roehl%20 -%20VRK%20-%20II05%20-%20Bilder%20in%20historischen%20Rechtsbuechern.pdf [Stand: 21.12.2017]; Robert Jacob, Images de la justice: essai sur l’iconographie judiciaire du Moyen Âge à l’âge classique, Paris 1994, bes. S. 81–91 (Richtereid) und S. 136–142 (Zeugeneid). 6 Dietrich Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.– 18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2003; Antje Diener-Staeckling, Der Himmel über dem Rat. Zur Symbolik der Ratswahl in mitteldeutschen Städten, Halle (Saale) 2008. 7 Siehe meine Habilitationsschrift: Olivier Richard, Serment et gouvernement dans les villes du Rhin supérieur à la fin du Moyen Âge, Université Paris-Sorbonne, Paris 2015, S. 71–80 und S. 236–238 (zur Verstümmelung der Schwurfinger bei Meineid). 8 Meier/Zotter, Ritualgegenstände und Materialität, S. 136–137; Jan Keupp/Romedio Schmitz-Esser, Einführung in die „Neue alte Sachlichkeit“: Ein Plädoyer für eine Realienkunde des Mittelalters in kulturhistorischer Perspektive, in: Dies. (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des
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mittelalterliche Städter mit ihnen erlebten; dann die Perspektive der Semiotik der Objekte, also der Bedeutungen, die ihnen die verschiedenen Akteure zuschrieben, und die je nach Eidtypus und Situation variieren konnten. Schließlich die Perspektive der Handlungen. Das heißt, dass ich drei Fragen stellen möchte: Was waren die Objekte, die bei städtischen Eidesleistungen herangezogen wurden, damit der Eid gültig und wirksam sein konnte? Welche Bedeutungen hatten diese Objekte für die verschiedenen Akteure in verschiedenen Kontexten? Was wurde mit bzw. aus diesen Objekten gemacht? Letztendlich gilt es zu prüfen – weil es ja der Sinn des „material turn“ ist, vom Ding zur Geschichte zu gehen – ob uns diese Auseinandersetzung mit der materiellen Dimension des Eides überhaupt etwas Neues lehrt. Selbstverständlich soll zwischen unterschiedlichen Eidtypen differenziert werden: Auf der materiellen Ebene konnten die großen kollektiven Eidesleistungen wie der sogenannte Schwörtag, an dem der Rat erneuert und die Gemeinde auch vereidigt wurde, nicht gleich gestaltet werden wie ein individueller Neubürgereid oder ein Amtseid.9 Promissorische Eide und assertorische, namentlich vor dem Gericht geschworene Eide, konnten auch auf der materiellen Ebene unterschiedlichen Traditionen verpflichtet sein. Außerdem muss einerseits zwischen in der Stadt geleisteten Eiden und andererseits Eiden, die der Stadt bzw. dem Stadtrat geschworen wurden, unterschieden werden. Mein Untersuchungsraum ist die Region des Hoch- und Oberrheins zwischen Bodensee und Straßburg, mit Städten, die unterschiedliche Profile aufweisen, in der Zeit des Spätmittelalters10 (siehe Abb. 1, Seite 98). Diese Region empfiehlt sich wegen ihrer historischen Entwicklung (Städtebünde, Reichsreform, Humanismus, Reformation), aber auch wegen der sehr günstigen Quellenlage, mit Textquellen verschiedener Gattungen (Statuten- und Eidbücher, Schwörbriefe, Korrespondenzen, Gerichtsakten, aber auch Chroniken) und vielen Bildquellen. Dazu zählen zum einen die berühmten Bilderchroniken aus Bern und Luzern, zum anderen die zahlreichen Bilderhandschriften (Rechtshandschriften, Historienbibeln usw.), die in städtischen Werkstätten produziert wurden, zum Beispiel bei Diebold Lauber in Hagenau.11
Mittelalters, Ostfildern 2015, S. 9–46, mit dem Triptychon „Geschichte des Objekts“, „Geschichte im Objekt“ und „Geschichte aus dem Objekt“, S. 25–33. 9 Siehe die Typologien des Eides in: Kolmer, Promissorische Eide, S. 72–215, sowie Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 18–40. 10 Zu diesem Forschungsgebiet, das auch meine Habilitationsschrift behandelte, siehe die Zusammenfassung: Olivier Richard, Position d’habilitation: Serment et gouvernement dans les villes du Rhin supérieur à la fin du Moyen Âge, in: Revue d’Alsace 142 (2016), S. 391–397. 11 Lieselotte Saurma-Jeltsch, Zur Entwicklung der illustrierten Handschrift im Milieu der spätmittelalterlichen Stadt, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 7 (1992–1993), S. 305–342, hier S. 332; Pierre Monnet, Images et cultures urbaines, in: Jérôme Baschet/Pierre-Olivier Dittmar (Hg.), Les images dans l’Occident médiéval, Turnhout 2015, S. 457–470, hier S. 457–458. Zu Diebold Lauber siehe: Gérard Cames, Lauber (Louber) Diebold, in: Jean-Pierre Kintz (Hg.), Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne, Fasz. 23, Strasbourg 1994, S. 2231; und v. a. Lieselotte SaurmaJeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung: Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, Wiesbaden 2001.
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Abb. 1: Karte der behandelten Städte Quelle/Entwurf: O. Richard, Kartographie: J. P. Droux
Objekte bei städtischen Eidesleistungen im Spätmittelalter
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In einem ersten Schritt sollen diejenigen Objekte untersucht werden, die die Gültigkeit des Eides verstärken sollten. Dann wird auf die Materialität der in den Städten geschworenen Texte eingegangen, weil die städtische sozialpolitische Ordnung auf Schriftlichkeit gründete. Im dritten und letzten Teil sollen die Objekte behandelt werden, die als Requisiten der Eidesleistungen bezeichnet werden können, die also die Inszenierung des Schwuraktes verbesserten.
1. Objekte als Garantie der Gültigkeit des Eides: die res sacrae Es geht hier darum zu untersuchen, auf welche Objekte rekurriert wurde, damit der Eid in seiner religiösen Funktion von Selbstverpflichtung, ja bedingter Selbstverfluchung, in den Augen der Betrachter bzw. der Eidnehmer glaubwürdiger sein konnte. Im Frühmittelalter wurde nämlich der Meineid mehr oder wenig hart bestraft, je nachdem, auf welchen Objekten er geleistet worden war.12 Hier geht es also nicht nur um Handlungen mit Objekten, sondern durch die Objekte.13 Denn diese Objekte trugen maßgeblich zur Ausgestaltung des Schwurrituals bei.14
1.1 Reliquiare Wenn von Objekten bei Eidesleistungen die Rede ist, fallen Mediävisten sicherlich zunächst Reliquiare und Evangelien ein. Die Forschung ist sich weitgehend darüber einig, dass profane Objekte wie Schwerter, die bei heidnischen Eiden herangezogen wurden, mit der Christianisierung zunächst in der Karolingerzeit durch Reliquien ersetzt wurden, im Hochmittelalter dann durch Evangelien.15
12
Philippe Depreux, La prestation de serment dans le monde franc: formes et fonctions (VIe–IXe siècles), in: Françoise Laurent (Hg.), Serment, promesse et engagement. Rituels et modalités au Moyen Âge, Montpellier 2008, S. 517–532. 13 Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl, Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft, in: Dies. (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016, S. 11–41, hier S. 12. 14 Offenstadt, Faire la paix, S. 268. 15 Kolmer, Promissorische Eide, S. 233–241; Philipp Hofmeister, Die Eidesformen nach dem Dekret Gratians, in: Studia Gratiana 2 (1954), S. 349–360, betrachtet den Reliquieneid als Christianisierung des Eides auf profanen Objekten, der später vom Evangelieneid ersetzt wurde. Auch Jacob, Images de la justice, S. 138, sieht den (Zeugen-)Reliquieneid als die ältere, in der Karolingerzeit verbreitete Form, welche im Zuge einer Rationalisierung („die zu einer abstrakteren Form des Verhältnisses zwischen dem Schwörenden und dem Sakralen zielte“) vom Evangelieneid verdrängt wurde. Zu dieser Frage siehe Hélène Débax, Le serrement des mains. Éléments pour une analyse du rituel des serments féodaux en Languedoc et en Provence (XIe–XIIe siècles), in: Le Moyen Âge 113/1 (2007), S. 9–23, bes.
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Reliquieneide treffen wir in der mittelalterlichen Ikonografie sehr häufig. Am berühmtesten ist wohl der Treueid Harolds, den er Wilhelm dem Eroberer gemäß dem sogenannten Teppich von Bayeux (um 1070–1080) geschworen haben soll.16 Auch später sind Reliquiare in der Ikonografie geradezu omnipräsent, etwa in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels.17 Die Eidleistenden berühren die Reliquien mit der Hand, meistens mit der rechten, wenn sie schwören. Die Reliquien befinden sich dabei in Reliquienschreinen, deren Form sich an Kirchenbauten orientierte. Auch in frühen städtischen Quellen, wie dem Mühlhäuser Rechtsbuch aus Thüringen vom Anfang des 13. Jahrhunderts, sind Reliquieneide zu finden.18 In der städtischen Ikonografie begegnen uns Reliquienschreine bis zum Ende des Mittelalters, so im Rechtsbuch der Stadt Herford in Westfalen (um 1375)19 oder auch auf der Titelseite des Hamburger Stadtrechtsbuchs aus dem Jahr 1497. Der Rat tagt im Gericht, und der Bürgermeister schwört mit der linken Hand, die auf einem Reliquienschrein liegt, während die rechte in die Höhe gestreckt ist.20 Diese Schreine entsprechen dem, was Lothar Kolmer Schwurkästchen nennt und namentS. 17–19 (im Languedoc und in der Provence habe der Evangelieneid den Reliquieneid im 12. Jahrhundert verdrängt). Siehe auch Offenstadt, Faire la paix, S. 267 und S. 270. 16 Jean-Luc Chassel, Le serment de Harold dans la tapisserie de Bayeux et dans les sources pro-normandes des xie et xiie siècles, in: Raymond Verdier (Hg.), Le serment. Bd. 1, Paris 1991, S. 43–53. 17 Etwa UB Heidelberg, Cod. pal. germ. 164, fol. 29r. Die ganze Handschrift ist digitalisiert einsehbar auf http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg164 [Stand: 22.12.2017]. Zu den Illuminationen des Sachsenspiegels siehe u.a.: Karl von Amira, Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, in: Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 31/3 (1905), S. 161–263; Ruth Schmidt-Wiegand/Dagmar Hupper/Ulrike Lade (Hg.), Text-Bild-Interpretation: Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, München 1986; Ruth Schmidt-Wiegand, Mit Finger und Zunge. Formen des Schwörens in Text und Bild des Sachsenspiegels, in: Eva Schmitsdorf/Nina Hartl/Barbara Meurer (Hg.), Lingua Germanica: Studien zur deutschen Philologie, Jochen Splett zum 60. Geburtstag, Münster 1998, S. 255–262; Walter Koschorreck, Die Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1970, hier Bd. 2, S. 26. Siehe ferner Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel: die Heidelberger Bilderhandschrift Cod. Pal. Germ. 164, hg. v. Walter Koschorreck, Frankfurt a. M. 1989, mit denselben Kommentaren; Der Sachsenspiegel: die Heidelberger Bilderhandschrift. Faksimile, Transkription, Übersetzung, Bildbeschreibung, 3 Bde., hg. v. Gernot Kocher/Dietlinde Munzel-Everling, Graz 2009–2010; Dietlinde Munzel-Everling, Die Verwendung von Rechtssymbolen in der Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, in: Signa Iuris 2 (2008), S. 81–120; Dies., Die Besonderheiten der Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, in: Signa Iuris 11 (2013), S. 267–309. Die Dresdner Handschrift des Sachsenspiegels ist ebenfalls digitalisiert, http://digital.slub-dresden. de/werkansicht/dlf/6439/1/cache.off [Stand: 22.12.2017]. Darüber hinaus sind Faksimile-Ausgaben der Handschriften aus Oldenburg, Dresden und Wolfenbüttel vorhanden, siehe die Angaben in: Schmidt-Wiegand, Formen des Schwörens, S. 256. 18 Herbert Meyer (Hg.), Das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch, Weimar 1936, S. 161 (Bürgereid). 19 Im Zentrum vor dem Tisch befiehlt der Richter, mit der Sitzung zu beginnen. In der Achse befinden sich der Reliquienschrein, ein Schwert und ein Schreiber, der gerade etwas in ein Buch notiert. Die Handbewegungen der Gerichtsbeisitzer sind keine Eidgesten, siehe Ulrike Lade-Messerschmied, Die Miniaturen des Rechtsbuches der Stadt Herford, in: Rechtsbuch der Stadt Herford. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Original-Format der illuminierten Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, hg. v. Theodor Helmet-Corvey, Bielefeld 1989, S. 198–207, hier S. 201–203. 20 Beate Binder, Illustriertes Recht. Die Miniaturen des Hamburger Stadtrechts von 1497, Hamburg 1988, S. 111.
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lich bei den Gilden in Gebrauch sieht.21 Sie waren Reliquiaren ähnlich, enthielten aber nicht unbedingt wirkliche Reliquien, so als ob die Bedeutung des Objekts – die Sakralität – hauptsächlich in seiner äußeren Erscheinung gelegen hätte.22 Es gab solche Schwurkästchen tatsächlich, beispielsweise im Rathaus von Tangermünde an der Elbe.23 Nach der Reformation wurde darauf bei der Ratserneuerung der Eid geleistet – obwohl der neue Glaube Reliquien ja keine Bedeutung mehr beimaß. Aus ober rheinischen Text- oder Bildquellen sind mir aber keine derartigen Reliquienschreine bekannt, die bei städtischen Eiden benutzt worden wären. Die Reliquiare konnten aber auch andere Formen haben. Harald Derschka stellt vorsichtig die These auf, die Gürteltasche, die auf einer Miniaturmalerei in einer Schwabenspiegelhandschrift aus der Werkstatt des Hagenauer Diebold Lauber zu sehen ist, beinhalte „wohl die Reliquien“, auf die der Eidleistende schwören musste.24 Vor allem konnte vor einem Altar „auf den Heiligen“ geschworen werden, indem eventuell die Hand auf den Altar gelegt wurde. So schwören in derselben Schwabenspiegelhandschrift die Kurfürsten, bevor sie den König erwählen – der Text des Schwabenspiegels erwähnt auch den Eid „auf den Heiligen“.25 Auch in verschiedenen Städten des Reichs sind Eidesleistungen, beispielsweise des Rats, belegt, die vor dem Altar der Hauptkirche der Stadt vorgenommen wurden, so in Naumburg an der Saale in der Wenzelskirche.26 So oder so gab es zwar auch am Oberrhein und
21
Kolmer, Promissorische Eide, S. 352. Binder, Illustriertes Recht, S. 82. 23 Siehe zum Beispiel das Schwurkästchen im Rathaus von Tangermünde (Sachsen-Anhalt) u.a. in dem Aufsatz von Benjamin Sommer, Der Stendaler Marienaltar: eine funktionsgeschichtliche Annäherung, in: Ernst Badstübner (Hg.), Die Kunst des Mittelalters in der Mark Brandenburg, Berlin 2008, S. 377–386, hier S. 383 (siehe auch die Abbildung auf http://www.museum-digital.de/san/?t=objekt&oges=604&navlang=it [Stand: 22.12.2017]. Vgl. auch das Lüneburger Schwurkästchen aus dem Jahr 1597, das nach dem Vorbild des sogenannten Bürgereidkristalls (1443) gestaltet wurde, welches vor der Reformation in dieser Stadt in Gebrauch war. Siehe die Notiz von Dietrich Poeck in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Spektakel der Macht: Rituale im Alten Europa 800–1800, Darmstadt 2008, S. 121–122 (mit Abbildung). 24 Manschaft muß der man uff den heilgen beheben. Der künige buch – Schwabenspiegel, ca. 1430, Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique (fortan KBR), Ms. 14689–91, fol. 283v, online: https://uurl.kbr. be/1065739 [Stand: 02.07.2019]. Harald Rainer Derschka, Der Schwabenspiegel, übertragen in heutiges Deutsch. Mit Illustrationen aus alten Handschriften, München 2002, S. 382. 25 Der künige buch – Schwabenspiegel, ca. 1430, Brüssel, KBR, Ms. 14689–91, fol. 150r, https://uurl.kbr. be/1065739 [Stand: 02.07.2019]. 26 Antje Diener-Staeckling, „Verbriefte Teilhabe der Bürger“ – Schwörbriefe als Verfassungsdokumente im Norden und Osten des Reiches, in: Olivier Richard/Gabriel Zeilinger (Hg.), Politische Partizipation in spätmittelalterlichen Städten am Oberrhein, Berlin 2017, S. 149–173, hier S. 153; Dies., Himmel, S. 101. Der Neubürgereid in Mühlhausen (Thüringen) wurde auch „auf den Heiligen“ geleistet, siehe Herbert Meyer (Hg.), Das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, Weimar 1934, S. 159–163, wobei es sich hier um eine sehr frühe Quelle handelt. Herzlichen Dank an Dr. Helge Wittmann für diesen Hinweis. 22
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im Gebiet der alten Eidgenossenschaft Schwörtage, die in einer Kirche stattfanden, beispielsweise in Freiburg im Üechtland oder in Zürich,27 aber ohne dass die Quellen auf die Bedeutung von Reliquien hinweisen würden.28 Überhaupt sind in meinem Corpus die textuellen Hinweise auf städtische Eide „auf den Heiligen“ sehr selten. Sie betreffen die Verpflichtung des elsässischen Landvogts, die Freiheiten der Reichsstädte zu schützen.29 Ansonsten wird nicht uf den heiligen, sondern zů den heiligen geschworen, wobei oft mit ufgehepten henden hinzugefügt wird.30 Dass es am Oberrhein aber auch anders sein könnte, zeigen einerseits kirchliche Quellen. In einem 1459 gehaltenen Straßburger Prozess vor dem Offizial mussten etwa die Zeuginnen auf Reliquien schwören, die Wahrheit zu sagen.31 Andererseits scheint die Stadt Hagenau wohl noch Ende des 15. Jahrhunderts – aber nicht bei allen Amtleuten – Reliquieneide gepflegt zu haben.32 Abgesehen von diesen Ausnahmen ist in oberrheinischen Städten der Eid auf Reliquien tatsächlich eher, wenn überhaupt, als eine Reminiszenz an alte Zeiten zu sehen. Anders sieht die Situation in Bezug auf Evangeliare aus.
27
Christian Sieber, Eidesleistungen und Schwörtage im spätmittelalterlichen Zürich, in: Jean-Pierre Bodmer/Otto Sigg (Hg.), Zürich 650 Jahre eidgenössisch, Zürich 2001, S. 19–58, hier S. 22. Im Großmünster, wo der Schwörtag stattfand, wurden die Reliquien der Stadtpatrone Felix und Regula aufbewahrt. 28 Kathrin Utz Tremp, 600 Jahre Vennerbrief. 24. Juni 1404 – 24. Juni 2004, in: FreibGbll 82 (2005), S. 39–82. 29 Franz-Josef Mone, Die Fehde der von Lichtenberg und Straßburg gegen Hagenau von 1359 und 1360, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 5 (1854), S. 175–188, hier S. 169–170 (24. November 1400): das ich gesworn han einen gestabeten eit uff den heiligen. 30 Paul Willem Finsterwalder (Hg.), Colmarer Stadtrechte, Heidelberg 1938, Nr.°68, S. 78 (27. Mai 1331): gesworn zen heiligen stete ze hande und enander mit uf gehebten henden und mit gestabten worten; Archives de la ville et de l’Eurométropole de Strasbourg (fortan AVES) CH 4294 (Straßburger Schwörbrief, 1433): daz sù swerent liplich zů got und den heilgen mit ufgehepten handen und gelerten worten; Joseph Gény (Hg.), Schlettstadter Stadtrechte, Heidelberg 1902, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 272: mit ufgehebten henden und gestabten worten zů den heiligen (Anfang des 15. Jahrhunderts). 31 Archives Départementales du Bas-Rhin 2B61, 2. Heft, fol. 1r: Quequidem testes postquam per nos admisse fuerant mox in nostris manibus et ad mandatum nostrum tactis per eas et earum quamlibet [fol. 1v] sanctorum reliquiis juraverunt. 32 Siehe den Bericht über die Huldigung der Stadt Hagenau vor dem neuen Oberlandvogt, Philipp, Pfalzgrafen bei Rhein, im Jahr 1486. Der neu ernannte Schultheiß Jakob von Fleck[en]stein schwört mit uffgehabener hant und nit uff den heilligen, während der ihm unterstellte Gerichtschreiber Johannes Waldeck auf den Heiligen schwören musste: den hieß man als ein geriecht schriber uff den heilligen sweren (Archives Municipales (fortan AM) Haguenau AA 214/7, letzter Absatz). Die Gerichtsbüttel sollen 1486 ihren Eid uff den heiligen in sitzendem rot schwören (AM Haguenau FF 122, Frontseite [Gerichtsordnung 1486], und der Zöllner soll laut der 1494 erlassenen Zollordnung ebenfalls uff den heyllygen schwören (AM Haguenau CC 122, fol. 3r). Im 1567 angelegten Eidbuch steht jedoch nichts mehr von den Umständen der Eidesleistung (AM Haguenau BB 5, z.B. fol. 26r, Eid des Zöllners).
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1.2 Evangeliare Wie bereits erwähnt sollen Evangelien im Laufe des Mittelalters Reliquien als res sacrae bei Eidesleistungen ersetzt haben.33 Die Goldene Bulle von 1356 weist darauf hin, dass die Kurfürsten sich zum Altar der Bartholomäuskirche in Frankfurt begeben sollen, um dort einen Eid auf dem Johannes-Evangelium zu schwören. Dabei sollen die weltlichen Kurfürsten das Evangelium berühren, die geistlichen Kurfürsten die Arme vor ihre Brust verschränken: ubi principes electores ecclesiastici coram ewangelio beati Iohannis „In principio erat verbum“, quod illic ante ipsos poni debebit, manus suas pectori cum reverentia superponant, seculares vero principes electores dictum ewangelium corporaliter manibus suis tangant […].34
So wird es auch auf einem Holzschnitt in einer 1485 erschienenen Straßburger Edition der deutschen Übersetzung der Goldenen Bulle dargestellt (siehe Abb. 2, S. 104).35 Wurden auch am Oberrhein auf diese Weise Eide geschworen? Zunächst zur Materialität des Evangeliums. Wie man weiß, war es nicht nötig, ein Buch zu benutzen, welches das gesamte Evangelium enthielt: Einige Sätze genügten für die Eidesleistung. Die oberrheinischen Universitäten Freiburg und Basel, beide um 1460 gegründet, benutzten beispielsweise für die Immatrikulationseide einfach den Immatrikulationskodex, wo kurze Zitate aus den Evangelien eingefügt wurden. Im Statutenbuch des Collegium Sapientiae der Universität Freiburg, um 1495 angelegt, wird eine Immatrikulationsszene dargestellt, bei welcher der neue Student kurz vor dem Eid steht: Das Buch liegt vor ihm aufgeschlagen.36 Tatsächlich schworen die neuen Studenten der Freiburger Artistenfakultät mit der Hand auf der Innenseite des Vorderdeckels des Immatrikulationskodex (1460–1517), auf dem die ersten Sätze des Johannes-Evangeliums abgeschrieben waren (In principio erat verbum – besonders geeignet für den Eid, der ein feierliches Wort ist).37 Die Schweiß- bzw. Dreck spuren zeigen deutlich, wie die Schwurhand – eindeutig die rechte – auf die Seite
33
Siehe oben und Kolmer, Promissorische Eide, S. 238–239, der ihren Gebrauch bei den Klerikern hervorhebt. 34 Wolfgang D. Fritz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung: 1354–1356 (MGH Legum sectio IV – Bd. 11), Weimar 1978–1992, S. 576–577. 35 Die güldin bulle. vnd künigclich reformacion, Straßburg 1485, fol. 5r, digitalisiert auf: http://daten. digitale-sammlungen.de/bsb00029630/image_14 [Stand: 22.12.2017]. 36 Universitätsarchiv Freiburg i. Br. (fortan UAF) A 105/8141, fol. 10r, ca. 1500 ; online: https://www. uniarchiv.uni-freiburg.de/postkartensiegel/postkarten/immatrikulation10/view [Stand: 22.12.2017]. 37 UAF A 66 1, fol. 1r. Siehe die Edition von Hermann Mayer (Hg.), Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. 1460–1656, Freiburg i. Br. 1907, S. 1. (Universitätsbibliothek (UB) Basel AN II 3, fol. 1rv, digitalisiert auf http://www.e-codices.unifr.ch/fr/ubb/AN-II-0003 [Stand: 21.12.2017]). An der Universität Paris wurde auf Kopialbüchern der Fakultäten bzw. Nationen geschworen, in welchen Zitate der Evangelien kopiert oder auch bildliche Darstellungen gemalt wurden, siehe Laurent Tournier, Serments et pratiques juratoires à l’université de Paris au Moyen Âge, in: Laurent, Serment, S. 455– 468, hier S. 467.
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Abb. 2: Holzschnitt mit Vereidigung der Kurfürsten in der Frankfurter Bartholomäuskirche vor der Königswahl Quelle: Die güldin bulle. vnd künigclich reformacion, Druck bei Johannes Prüss, Straßburg, 1485, fol. 5r; Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Sammlungen
gelegt war.38 Die Matrikel der Basler Universität (1460) sind ähnlich angelegt, mit der Eidesformel der Studenten auf der ersten Seite, gefolgt vom Anfang der Evangelien des Johannes und des Matthäus.39
38
Herzlichen Dank an Prof. Dr. Dieter Speck, Direktor des Universitätsarchivs Freiburg i. Br., der mich auf dieses Dokument aufmerksam gemacht und mir eine Abbildung geschenkt hat. 39 UB Basel AN II, 3, erste Universitätsmatrikel (1460–1567), fol. 1r. Fol. 1v und 3r, wiederum Eidformel mit Anfang des Johannes-, Lukas- bzw. Matthäusevangeliums. Online: http://www.e-codices.unifr. ch/en/ubb/AN-II-0003/1r/0/Sequence-1072 [Stand: 22.12.2017].
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Abb. 3: Anfang des Johannes-Evangeliums, vordere Rückseite des ersten Matrikelbuchs der Artistenfakultät der Universität Freiburg (1460). Quelle: Universitätsarchiv Freiburg, B 38 Nr. 5
Im bürgerlich-städtischen Kontext sind auch Fälle solcher Eide auf Privilegienbüchern bekannt, die dank Einfügung einzelner Sätze aus der Heiligen Schrift selbst geradezu sakralen Charakter übernahmen, etwa in Herzogenbusch im Herzogtum Brabant oder in südwestfranzösischen Städten. Auch dort zeugen, wie im Freiburger Matrikelbuch, die materiellen Spuren der Schwurhände davon, dass auf dem Buch geschworen wurde.40
40
Henri Gilles, Les livres juratoires des consulats languedociens, in: Livres et bibliothèques (xiiie–xve siècle), Toulouse 1996, S. 333–354, hier S. 345 (Privilegienbuch aus Narbonne); Jos Koldeweij, Gezworen op het kruis of op relieken, in: Johann-Christian Klamt/Keeds Veelenturf (Hg.), Representatie: Kunsthistorische bijdragen over vorst, staatsmacht en beeldende kunst, opgedragen aan Robert W. Scheller, Nijmegen 2004, S. 158–179, hier S. 159–160 (Seite aus einem Privilegienbuch aus Herzogenbusch, mit Kreuzigungsszene und Anfang des Johannes-Evangeliums (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts), auf der die Miniatur von den Schwurhänden stark beschädigt ist.
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Dennoch scheinen solche Eide auf dem Evangelium am Oberrhein sehr selten gewesen zu sein. Aus Textquellen sind mir nur zwei Fälle bekannt. Der erste ist der Eid der beiden an der Ratswahl teilnehmenden Basler Domkanoniker, die mit der Hand das goldene Plenarium des Münsters berührten – während die anderen, bürgerlichen Wähler das große Kreuz des Münsters berührten.41 Man hat es hier also mit einem Ritual zu tun, das der Basler Bischof zu kontrollieren suchte. Der andere Fall wird im sogenannten „Vennerbrief“ der Stadt Freiburg im Üechtland aus dem Jahr 1404 überliefert. Danach sollten die Ratswähler am 24. Juni auf dem Evangelium schwören (devent jureir incontinant sus les sains evvangielles, so die französische e Originalfassung / ze stunde swerren sollent uff dem heiligen euvangelio), was umso bemerkenswerter war, als sie 144 an der Zahl waren.42 Man darf daran zweifeln, dass tatsächlich alle das Buch berühren konnten. Allerdings weiß man von einem Eid des Basler Bischofs, dass er das Evangelium beim Schwören nur anzuschauen brauchte, ohne dass die Gültigkeit des Eides davon verletzt gewesen wäre – ganz im Sinne des Eides inspectis sacris.43 In oberrheinischen städtischen Gerichten war, den Textquellen nach zu urteilen, weder Reliquiar noch Evangelium für die Eidesleistung in Gebrauch. Die Basler Urfehdebücher sagen Ende des 14. Jahrhunderts nur aus, dass der Eid corporaliter geschworen wurde.44 Die Kundschaften des Basler Schultheißengerichts, ein Jahrhundert später, erwähnen genauso wenig res sacrae für die Eidesleistung.45 Wie bei Reliquieneiden könnte es aber sein, dass Evangelieneide am Oberrhein, abgesehen von den Universitäten, in kirchlichen Einrichtungen auch im ausgehenden Mittelalter verbreiteter blieben als im bürgerlich-städtischen Kontext. In der noch im 16. Jahrhundert abgeschriebenen Eidformelsammlung des Straßburger Offizialats ist im Eid des lator zu lesen, dass er das Evangelium mit seiner rechten Hand berühren soll.46
41
Christoph Friedrich Weber, Vom Herrschaftsverband zum Traditionsverband? Schriftdenkmäler in öffentlichen Begegnungen von bischöflichen Stadtherren und Rat im spätmittelalterlichen Basel, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 449–491, hier S. 464. 42 Utz Tremp, Vennerbrief, S. 40, Zitat S. 66 bzw. S. 74 (zeitgenössische deutsche Übersetzung). 43 Joseph Trouillat (Hg.), Monuments de l’histoire de l’ancien évêché de Bâle, Porrentruy, Victor Michel, 1852–1867, 5 Bde., hier Bd. 4, Nr. 324 (5. November 1400), S. 632–635, wo der Basler Bischof manu nostra dextra pectori nostro supposita, inspiciendo sacra Dei ewangelia schwört. 44 Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt (fortan StaatsABS) Ratsbücher O 1, Urfehdenbuch 1, 1397–1443, z.B. S. 2. Meistens wird nur der geleistete Eid ohne weitere Angaben erwähnt (per juramentum prestitum). 45 Zum Beispiel StaatsABS Schultheissengericht Kundschaften D 17, fol. 9v: bÿ dem eid, so sÿ liplich zů gott unnd den heiligen geschworen; ebd., fol. 32r (1498): sonnders harumb mit uff gehepten vingeren e e unnd gelertten wortten zu gott < und > den heiligen gesworen haben unnd des zu urkund etc. Herzlichen Dank an Claudius Sieber-Lehmann, der mir seine Transkription zur Verfügung gestellt hat. 46 Pierre Levresse, L’officialité épiscopale de Strasbourg. De ses origines à son transfert à Molsheim (1248– 1597), Straßburg, Diss. (Kirchenrecht) masch., Strasbourg 1973, S. 425: Ego N. iuro ad hec sancta Dei ewangelia, manu mea dextera corporaliter tacta, quod de cetero ero fidelis in execucione officii […].
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1.3 Kein Objekt? Natürlich besteht immer die Gefahr, dass die Quellen schweigen, weil res sacrae für den Eid selbstverständlich waren. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, einerseits, weil die Bilder das Fehlen der res sacrae bestätigen, andererseits, weil Bilder wie auch Texte die Geste der erhobenen Hand betonen: mit ufgehepten fingern, elevata manu, steht sehr oft in Eidesformeln oder anderen Texten: Die Quellen schweigen also nicht generell, würden es sogar nur bezüglich der res sacrae tun. Die Ikonografie – die allerdings etwas spät einsetzt – bietet vornehmlich Darstellungen von kollektiven Vereidigungen, so bei Diebold Schilling dem Älteren aus Bern oder seinem gleichnamigen Neffen aus Luzern.47 In diesen Fällen kann argumentiert werden, dass aus praktischen Gründen auf res sacrae verzichtet wurde. Beim Straßburger Schwörtag beispielsweise schworen im 15. Jahrhundert mehrere Tausend Bürger; es wäre schlicht unmöglich gewesen, sie alle ein Reliquiar berühren zu lassen. Der Eid elevata manu hätte sich also aus praktischen Gründen durchgesetzt.48 Am Oberrhein wurden aber, nach dem Schweigen der Texte zu urteilen, auch individuelle Eide ohne res sacrae geschworen. Auch auf den wenigen vorhandenen Bildern, wie der Darstellung des Bürgereides des Ritters Richard Puller von Hohenburg in Zürich 1480, in der Luzerner Chronik des Diebold Schilling (1513), vermisst man Evangelium bzw. Reliquien.49 Kann daraus geschlossen werden, dass solche Objekte nicht mehr nötig waren? Die Geste der erhobenen Hand soll eine solche Entwicklung erfahren haben. In der älteren Form berührte die Hand das Objekt, dann zeigte sie auf das Objekt, bevor sie sich von ihm löste, indem sie in den Himmel ragte, also vertikal wurde, so Karl von Amira.50 Auch die Geste der Kleriker beim Eid, die meistens die Arme auf der
47
Die Handschriften des Berner Diebold Schilling († 1486) und seines Luzerner Neffen († 1515) sind mittlerweile alle digilitalisiert und online einzusehen auf www.e-codices.unifr.ch [Stand: 22.12.2017]. Zur Einführung und für Literaturangaben siehe Regula Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt: Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter, Zürich 2009, S. 94–102 sowie dies., Turm, Tor und Reiterbild: Ansichten der Stadt in Bilderchroniken des Spätmittelalters, in: Bernd Roeck (Hg.), Stadtbilder der Neuzeit. Die europäische Stadtansicht von den Anfängen bis zum Photo, Ostfildern 2006, S. 65–81. 48 Kolmer, Promissorische Eide, S. 242–243. 49 Die Schweizer Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling 1513. Faksimile der Handschrift S 23 fol. in der Zentralbibliothek Luzern, hg. v. Alfred A. Schmid, Luzern 1977–1981: Luzern, Korporation Luzern S 23 fol., S. 280, digitalisiert und online einsehbar auf: http://www.e-codices.unifr.ch/de/ kol/S0023-2/280 [Stand: 22.12.2017]. Dabei könnte es sein, dass der Neubürgereid in Zürich auf den Heiligen bzw. auf das Evangelium geleistet wurde (freundlicher Hinweis von Regula Schmid); Bruno Koch, Neubürger in Zürich. Migration und Integration im Spätmittelalter, Weimar 2002, erwähnt dies nicht, und nach einem (vielleicht zu schnellen) Blick auf die Quellen konnte ich keinen Beleg dafür finden. 50 Amira, Handgebärden, S. 227 und S. 257; siehe die Kritik in Kolmer, Promissorische Eide, S. 244–246.
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Brust verschränkten, könne als eine „verinnerlichte Form des Sakralen“ gedeutet werden.51 Allerdings ist sie auch einfach als Antwort auf das seit dem 9. Jahrhundert erlassene kirchliche Verbot des Eides super sacra zu sehen.52 Aber aus anderen Kontexten und Regionen sind selbst im Spätmittelalter horizontale Gesten bekannt53 oder auch Eide super sacra;54 die vertikale Geste ist übrigens bereits im 9. Jahrhundert belegt.55 Es ist also schwierig, nur mit der allgemeinen Entwicklung der Eidgesten zu argumentieren,56 zumal die erhobenen Finger auch einfach eine Redegeste sein können, die sowohl auf das Ergreifen des Worts in einem Gespräch als auch auf die Segnung hinweisen können – ohne Bezug auf Objekte.57 Vielmehr würde ich dazu tendieren, das weitgehende Fehlen der res sacrae bei städtischen Vereidigungen am Oberrhein mit dem Willen der Stadtobrigkeiten zu erklären, keine Objekte hinzuzuziehen, deren Besitz und Gebrauch nicht von der Stadt selbst kontrolliert wurden, sondern von anderen, kirchlichen, Institutionen. Dabei hat man es aber nicht mit der oft heraufbeschworenen Säkularisierung der Eidrituale zu tun, denn die Städte schrieben ab dem 15. Jahrhundert Texte ab, die die Schwörenden an die Folgen des Meineids erinnern sollten, nämlich die Verdammung; die beim Schwur erhobenen drei Finger wurden dabei als Symbole für die Dreifaltigkeit gedeutet.58 Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden solche Texte, samt Bild der Schwurhand, auf sogenannten Eidtafeln aufgeschrieben oder auch den Bürgern in Flugblattform ausgeteilt: Objekte wurden also durchaus benutzt, um die religiöse Dimension des Eides hervorzuheben.59 Vor allem aber rekurrierten die Stadtobrigkeiten bei den Eidesleistungen auf andere Objekte, welche die von ihnen entwickelte politische Ordnung manifestierten, nämlich Schriftstücke.
51
Jacob, Images de la justice, S. 82–83. Offenstadt, Faire la paix, S. 273, Anm. 154 (anstatt super sacra sollte inspectis sacris geschworen werden). 53 Siehe im Volkacher Salbuch (1504): Klaus Arnold/Ute Feuerbach (Hg.), Das Volkacher Salbuch, Volkach 2009, 2 Bde. Viele Illuminationen daraus sind online zu sehen: http://www.hdbg.de/fra-mitt/ german/salbuch/ [Stand: 22.12.2017]. 54 Offenstadt, Faire la paix, S. 270–273 (Frankreich im 15. Jahrhundert); Jacoba Van Leeuwen, Un rituel de transmission du pouvoir: le renouvellement de la Loi à Gand, Bruges et Ypres (1379–1493), in: Revue du Nord 362/4 (2005), S. 763–789, hier S. 774. 55 Jean-Claude Schmitt, La raison des gestes dans l’Occident médiéval, Paris 1990, S. 98. 56 Kolmer, Promissorische Eide, S. 245. 57 Zur Verwandtschaft zwischen Schwur- und Segnungsgeste siehe Claude Gauvard, Introduction, in: Laurent, Serment, S. 13–27, hier S. 17; zur Anredegeste Marcello Angheben, Le geste d’allocution. Une représentation polysémique de la parole (ve–xiie siècles), in: Iconographica 12 (2013), S. 22–34. 58 Eberhard von Künssberg, Schwurgebärde und Schwurfingerdeutung, Freiburg i. Br. 1941, S. 4; Konrad Wanner, Schwören im alten Luzern, in: Der Geschichtsfreund 164 (2011), S. 181–240, hier S. 206. Zur Säkularisierung des Eides siehe beispielsweise Henri Lévy-Bruhl, Réflexions sur le serment, in: Études d’histoire du droit privé, offertes à Pierre Petot, Paris 1959, S. 385–396. 59 Heiner Lück, Eidtafel, in: Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte, hg. v. Albrecht Cordes, Bd. 1, Berlin 2004, Sp. 1264–1265, und die Abbildungen in: Olivier Christin, Les yeux pour le croire. Les Dix Commandements en images (XVe–XVIIe siècle), Paris 2003 (Tafelteil). 52
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2. Geschworene Texte: die Materialität der „Verfassung“ 2.1 Statutenbücher Es ist bekannt, dass in gewissen norditalienischen Städten, während der contio, also der dem Schwörtag ähnlichen Bürgerversammlung, der podestà bei seinem Amtseid die Hand auf das geschlossene Statutenbuch legte, um zu zeigen, dass er alle für die Stadt wichtigen Statuten befolgen würde.60 Auch die bereits erwähnten livres juratoires aus dem französischen Südwesten61, die Statutenbücher der Stadt Marseille oder die Usatges aus Barcelona waren Schwurobjekte, auf denen geschworen wurde.62 In Städten wie Colmar, Schlettstadt, Oberehnheim oder Freiburg im Üechtland wurden die wichtigsten Gesetze oder Statuten der versammelten Bürgerschaft vorgelesen. In einigen Fällen kann bewiesen werden, dass dabei die Statutenbücher selbst benutzt wurden, und nicht etwa Papierhefte mit Abschriften der Ordnungen. Solche Statutenbücher sind mitunter relativ aufwendig gestaltet, aus Pergament oder mit Rubriken; sie sind jedoch nie bebildert.63 Es lässt sich m. W. aber nicht beweisen, dass am Oberrhein irgendwo auf diesen Büchern geschworen wurde64 bzw. dass die Statutenbücher bei der Eidesleistung den Bürgern gezeigt worden wären. In anderen deutschsprachigen Regionen des Reichs konnten durchaus andere Zustände herrschen, beispielsweise in Köln, wo die sogenannten Eidbücher des 14. und 15. Jahrhunderts in der Regel nicht wie am Oberrhein Register waren, wo die Eidformeln aller bzw. vieler städtischer Amtleute, Bediensteter oder Bürger verzeichnet 60
Christoph Dartmann, Schrift im Ritual. Der Amtseid des Podestà auf den geschlossenen Statutencodex der italienischen Stadtkommune, in: ZHF 31 (2004), S. 169–204; Ders./Hagen Keller, Inszenierungen von Ordnung und Konsens. Privileg und Statutenbuch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften, in: Gerd Althoff (Hg.), Zeichen – Rituale – Werte, Münster 2004, S. 201–223. 61 Gilles, Les livres juratoires, S. 345–346. 62 François Otchakovsky-Laurens, La construction de l’autorité municipale à Marseille à la faveur des crises du XIVe siècle (1348–1385), Aix-Marseille, masch. Diss. 2014. Hier werden auf S. 639–641 die incipit der Evangelien in den Statutenbüchern aus Marseille (jeweils 1317 bzw. nach 1385) und Arles wiedergegeben. Vgl. ferner Ders., S’assembler, délibérer, enregistrer au xive siècle: quand Marseille se constitue en institution, Mélanges de l’École française de Rome, in: Moyen Âge 127/1 (2015), online: http://mefrm.revues.org/2556 [Stand: 22.12.2017]; siehe insbesondere die Eidesleistungsszenen des Königs von Sizilien und Graf der Provence sowie eines königlichen Amtmanns, die im Statutenbuch von Marseille aus dem Jahr 1317 stehen. Susanne Wittekind, Lex und iuramentum. Gott als Wahrheitszeuge und Rechtsgarant in spanischen Gesetzescodices, in: Andreas Speer/Guy Guldentops (Hg.), Das Gesetz – The Law – La Loi, Berlin 2014, S. 691–710. Hier, auf S. 696, werden die Evangelienzitate in verschiedenen Bänden der usatges von Barcelona zwischen 1320 und 1350 behandelt. 63 Siehe beispielsweise die sogenannten Schlettstadter Statutenbücher wie Archives Municipales (AM) Sélestat BB 3, S. 66, mit folgender Angabe: Dis ist das ander bůch und liset man das nit vor der gemeynden so man swertt; ferner AM Sélestat BB 2, S. 62, mit der Randbemerkung va(cat) bzw. lege. 64 Klara Hübner, Im Dienste ihrer Stadt. Boten- und Nachrichtenorganisationen in den schweizerisch-oberdeutschen Städten des späten Mittelalters, Ostfildern 2010, S. 49, erwähnt diesen Gebrauch, ohne jedoch Quellen zu nennen. Ich konnte keine ausfindig machen.
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waren, sondern eher Statutenbücher, auf denen geschworen wurde; so ist verständlich, dass das zweite Kölner Eidbuch (1398–1400) eine schöne Kreuzigungsszene enthielt, die dem Buch Sakralität verlieh: Es war eine res sacra.65
2.2 Die Eidbücher Wenn auch Statutenbücher bei Eidesleistungen keine Rolle spielten, wurden am Oberrhein regelmäßig für Schwurzwecke spezifische Bücher, sogenannte Eidbücher, angelegt, die hier nur kurz behandelt werden sollen.66 Sie enthielten die Eidformeln der gewählten Amtleute, der Bürger und der städtischen Bediensteten vom Stadtschreiber bis hin zum städtischen Bordellbetreiber. In manchen Städten dienten sie als Eidessammlungen ohne Anwendung bei Ritualen; in anderen Städten wie in Freiburg im Üechtland steht dagegen fest, dass sie bei der Vereidigung herangezogen wurden: Die Formeln wurden direkt aus dem Eidbuch vorgelesen.67 Ob und wie sie in solchen Fällen im Verlauf des Schwurrituals in Szene gesetzt wurden, bleibt aber offen.
2.3 Die Schwörbriefe: Verfassungstexte oder Medien der Macht? Wenn auch am Oberrhein die Eide auf den Statutenbüchern unbekannt waren, so wurden dennoch wichtige Texte bei den kollektiven Eidesleistungen geschworen, aber in der Form von Urkunden. In drei Städten spielten solche sogenannten „Schwörbriefe“ bzw. „Geschworene Briefe“ beim Schwörtag eine zentrale Rolle,
65
Siehe die Abbildung in Christoph Friedrich Weber/Christoph Dartmann, Rituale und Schriftlichkeit, in: Stollberg-Rilinger (Hg.), Spektakel der Macht, S. 51–55, hier S. 52 und im selben Band wieder S. 118. Im dritten Eidbuch der Stadt (um 1450) ist ebenfalls eine Kreuzigungsszene mit dem Anfang des Johannesevangeliums zu sehen, Historisches Archiv Köln Verfassung und Verwaltung V 10, fol. 1r (Digitalisat auf historischesarchivkoeln.de [Stand: 22.12.2017]). 66 Laurence Buchholzer-Remy/Olivier Richard, Die städtischen Eidbücher im spätmittelalterlichen Elsass. Erste Erschließung der Quellen, in: Dies./Sabine von Heusinger/Sigrid Hirbodian/Thomas Zotz (Hg.), Neue Forschungen zur elsässischen Geschichte im Mittelalter, Freiburg/München 2012, S. 177–196. 67 Zu Freiburg i. Ü., siehe Olivier Richard, „All gůt ordnungenn unnd stattlich pollicyenn durch den eyd bevestnet mogenn beharret werdenn“. Schwören und Regieren in Freiburg im langen 15. Jahrhun dert, in: FreibGbll 94 (2017), S. 101–134, hier S. 129.
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nämlich in Straßburg, Zürich und Luzern;68 in Basel spielte die Handfeste eine ähnliche Rolle.69 Allerdings konnten anderswo Schwörtage sehr wohl ohne Schwörbriefe veranstaltet werden.70 Diese Schwörbriefe werden oft als Verfassungstexte angesehen, die im Rahmen der coniuratio reiterata, der jährlich wieder geschworenen Einung, den Bürgern verlesen wurden, bevor sie dem Rat Treue und Gehorsam schworen.71 Tatsächlich kann in allen drei Städten beobachtet werden, wie nach jeder Änderung der städtischen Verfassung die Schwörbriefe / Geschworenen Briefe angepasst und neue Urkunden erstellt wurden. Dennoch waren die Schwörbriefe kein getreues Abbild der politischen Verfassung der Stadt. 1503 konnten sich Basler Stadtrat und Bischof nicht über eine neue Handfeste einigen, die dem Basler Beitritt zur Eidgenossenschaft im Jahr 1501 Rechnung getragen hätte, sodass sie beschlossen, beim Schwörtag eine aus dem 13. Jahrhundert stammende Fassung öffentlich zu verlesen, obwohl sie keine Rechtsgültigkeit mehr hatte.72 Vor allem fehlten beispielsweise in den Straßburger Schwörbriefen zentrale politische Institutionen. Liest man die Schwörbriefe, versteht man etwa nicht, dass die Ausschüsse der Fünfzehner oder der Einundzwanziger allmählich viele Kompetenzen des Stadtrates übernommen hatten; so wurde eine politische Ordnung beschworen, die der politischen Wirklichkeit nicht entsprach.73 Außerdem wurde beim Schwörtag nicht der gesamte Text der Urkunde – schon weil er viel zu lang war – sondern nur Auszüge vorgelesen. Dafür wurde er in Straßburg in voller Länge zwei Tage vorher in den einzelnen Zunftstuben verlesen. Am Schwörtag ging es auf dem Münsterplatz eigentlich um etwas anderes, nämlich eher darum, das Originaldokument zu sehen als es zu hören.74
68
Konrad Wanner (Hg.), Stadt und Territorialstaat Luzern. Bd. 1 (SSRQ Luzern I/1), Basel 1998, S. XXI–XXXVII sowie Nr. 3–6, S. 6–14, und vor allem Jeannette Rauschert, Herrschaft und Schrift. Strategien der Inszenierung und Funktionalisierung von Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters, Berlin/New York 2006, S. 27–49; zu Zürich: Stefan Geyer, Zweiter Geschworener Brief, in: Christian Kiening/Martina Stercken (Hg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, S. 236–237, sowie Meinrad Suter/Agnes Hohl, Kleine Zürcher Verfassungsgeschichte. 1218–2000, Zürich 2000, S. 20; zu Straßburg: Olivier Richard/Benoît-Michel Tock, Des chartes ornées urbaines. Les „Schwörbriefe“ de Strasbourg (XIVe–XVe siècles), in: Bibliothèque de l’École des chartes 169 (2011), S. 109–128. 69 Weber, Vom Herrschaftsverband zum Traditionsverband? 70 Laurence Buchholzer-Remy, Schwörtage sans Schwörbriefe? Le serment collectif à Colmar (XIIIe siècle – époque moderne), in: Revue d’Alsace 140 (2014), S. 9–37. 71 Rauschert, Herrschaft und Schrift, S. 27; Diener-Staeckling, Verbriefte Teilhabe. 72 Weber, Vom Herrschaftsverband zum Traditionsverband?, S. 482. 73 Für eine kurze Darstellung der politischen Entwicklung im spätmittelalterlichen Straßburg siehe: Sabine von Heusinger, Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg, Stuttgart 2009, S. 34–45; Philippe Dollinger, La ville libre à la fin du Moyen Âge, in: Georges Livet/Francis Rapp (Hg.), Histoire de Strasbourg des origines à nos jours. Bd. 2: Strasbourg des Grandes Invasions au XVIe siècle, Straßburg 1981, S. 99–175, hier S. 111; Martin Ali oth, Gruppen an der Macht. Zünfte und Patriziat in Straßburg im 14. und 15. Jahrhundert. Untersuchungen zu Verfassung, Wirtschaftsgefüge und Sozialstruktur, Basel 1988, S. 148 –150. 74 Zum Straßburger Schwörtag siehe Dietrich Poeck, Rituale der Ratswahl, S. 19–27.
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Denn diese Urkunden hatten, was Lena Rohrbach Aura nennt,75 während Joseph Morsel von ihrer virtus spricht, also eine Wirkung, die „aus dem Verhältnis zwischen einem gewissen Typus von Dokument und einem gewissen Typus von Macht entstand“, so Morsel.76 Dieser Aura lagen die Schönheit der Urkunde und deren Authentifizierungsmerkmale zugrunde. Das heißt, die Urkunde als Objekt vermittelte Informationen über den Text, deren Träger sie war. Es kann hier nach Peter Rück von „visueller Rhetorik“ gesprochen werden. Die Schwörbriefe wurden nicht nur gelesen, sondern auch und vor allem gesehen.77 Deswegen war es wichtig, dass sie groß und schön waren (siehe auch FT 8, Seite 125). Einige Straßburger und Zürcher Schwörbriefe zählen zu den ganz seltenen illuminierten städtischen Urkunden.78 Auf dem zweiten Zürcher Geschworenen Brief ist in der Initiale eine Frauenfigur zu sehen, die trotz des gewagten Dekolletés wohl die Heilige Jungfrau darstellt, die Patronin des Fraumünsters, welches noch Rechte in der Stadt ausübte.79 Kleine nackte Gestalten sowie Vögel zieren, wiederum in der Initiale, den fünften Zürcher Geschworenen Brief (1498).80 Auf mehreren Straßburger Schwörbriefen sind etwa Stadtbanner und Bannerträger in ihrer Rüstung zu sehen.81 Vor allem aber waren die Schwörbriefe besiegelt: In Straßburg im 15. Jahrhundert mit Dutzenden Siegeln, von Vertretern aller Gruppen, welche im Stadtrat saßen, Constofler, also Adlige und Patrizier, sowie Zunftleute.82 Die Einheit bzw. die Eintracht der Stadt wurde somit perfekt inszeniert.83 Die Forschung benutzt in diesem Zusammenhang gerne Begriffe wie „Repräsentation“; kürzlich wurde die schöne Formulierung „Medien der Macht“ eingeführt.84 War es den Zeitgenossen wirklich so wichtig, schöne und authentifizierte Urkunden zu sehen, welche die Macht der Stadtobrigkeiten widerspiegelten? Ja, das zeigen die Luzerner Ratsprotokolle ganz klar. 1382 und 1384 verweigerten Bewohner der Dörfer Vitznau und Weggis den Gehorsamseid, weil der Luzerner 75
Lena Rohrbach, Aura. Einleitung, in: Kiening/Stercken, SchriftRäume, S. 199–206. Joseph Morsel, Ce qu’écrire veut dire au Moyen Âge. Observations préliminaires à une étude de la scripturalité médiévale, in: Memini. Travaux et documents 4 (2000), S. 3–43, hier S. 33 (der Begriff der visuellen Rhetorik stammt von Peter Rück). 77 Im Folgenden werden die Beispiele Zürich und Straßburg erörtert. Zu Luzern siehe die umfassende Studie von: Rauschert, Herrschaft und Schrift, S. 27–49. 78 Zu den Straßburger Schwörbriefen siehe: Richard/Tock, Les „Schwörbriefe“ de Strasbourg, mit zahlreichen Abbildungen. 79 Stefan Geyer, Zweiter Geschworener Brief, in: Kiening/Stercken, SchriftRäume, S. 236–237. 80 Staatsarchiv des Kantons Zürich C I 543, 20. Januar 1498. 81 Siehe die Abbildungen in: Richard/Tock, Les „Schwörbriefe“ de Strasbourg. 82 Ebd. 83 Der Schwörbrief von 1349 wurde vom Ammeister, dann vier Rittern und Edelknechten, vier burgeren und vier Zunftleuten besiegelt; diese Parität entsprach aber keineswegs der Ratszusammensetzung, siehe Alioth, Gruppen an der Macht, S. 141. 84 Jan Marco Sawilla/Rudolf Schlögl (Hg.), Medien der Macht und des Entscheidens: Schrift und Druck im politischen Raum der europäischen Vormoderne (14.–17. Jahrhundert), Hannover 2014; Kerstin Seidel, Vorzeigen und nachschlagen: zur Medialität und Materialität mittelalterlicher Rechtsbücher, in: Frühmittelalterliche Studien 42 (2008), S. 306–328, bes. S. 311. 76
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Abb. 4: Fünfter Straßburger Schwörbrief, 14. Januar 1413 (siehe FT 8, S. 125) Quelle: AVES CH 3263
Geschworene Brief Löcher hatte.85 Beim Schwörtag zu Weihnachten 1431 benutzte der Luzerner Rat nicht die besiegelte Urkunde, sondern eine Abschrift in Heftform, was scharf kritisiert wurde, wie den Ratsprotokollen zu entnehmen ist: Das Antoni S[chilling] hett gesprochen, er welle nit mer swerrenn, und, wir swerren ein kunkelbermit und haben nienant versigelten brieff. Ein anderer Bürger sagte gar:
85
Wanner, Stadt und Territorialstaat Luzern. Bd. 1, S. XXXVI und Rauschert, Herrschaft und Schrift, S. 142.
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Abb. 5: Gemain burger ayde Quelle: Tengler, Layenspiegel, fol. 15v
Hetten wir gewùst die brieff, die ùns ùnser herren hetn vor gelesen, wir hetten ùns unbillich gewert, jn der Cappell ze schweren. Do sprach Welti Meyer: Es sint schelmen brieff, wir söllen ùns nùtz dar an keren.86
Solche Schriftobjekte waren also sehr wichtig für Eidesleistungen. In der Ikonografie um die Wende zum 16. Jahrhundert werden sie tatsächlich überaus häufig dargestellt, fast immer mit Siegeln, als ob solche Schriftstücke integraler Bestandteil einer kollektiven Eidesleistung gewesen wären.87 Es waren nicht wie die res sacrae Objek86
Konrad Wanner, Stadt und Territorialstaat Luzern. Bd. 2 (SSRQ Luzern I/2), Basel 2004, S. 206, Anm. 7, S. 179. Kunkelbermit heißt so viel wie „Spinnrockenpergament“; Chunkle ist in schweizerischen Dialekten im Sinne von „Spinnrocken“ belegt, siehe: Schweizerisches Idiotikon. Bd. 3. J–L, hg. v. Friedrich Staub, Frauenfeld 1895, Sp. 364. Offensichtlich handelt es sich hier um eine abschätzige Formulierung für „Papier“ (Pergament aus Stoff). Tatsächlich waren in Luzern Papierhefte im Umgang, auf denen der ‚Geschworene Brief‘ abgeschrieben war, und die beim Schwörtag benutzt wurden, siehe Wanner, Stadt und Territorialstaat Luzern. Bd. 1, Nr. 79, S. 174, Anm. 2. 87 Abgesehen von Abbildung 5 siehe etwa die Vereidigungsszenen bei Schilling d. J., Luzerner Chronik, S. 25, 64, 251, wo besiegelte Urkunden zu sehen sind. Ferner Christoph Friedrich Weber, Urkunden
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Abb. 6: Beitritt Zürichs zur Eidgenossenschaft 1351 Quelle: Schilling d. J., Luzerner Chronik S 23, S. 25
te, durch welche gehandelt wurde, sondern mit denen gehandelt wurde. Hier war die Materialität des Schriftstückes, aber auch seine Medialität – etwa der Kontext, in dem es vorgezeigt wurde – grundlegend. Es ging um die Sichtbarmachung der städtischen Ordnung, die wirklich auf diesen Schriftstücken beruhte. Bei anderen Objekten könnte man eher sagen, dass sie Accessoires der städtischen Ordnung waren.
auf Bildquellen des Mittelalters, in: Werner Maleczek (Hg.), Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt, Wien 2014, S. 161–205, hier S. 171–172.
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3. Macht zeigen, Zusammenhalt manifestieren: die Requisiten der Eidesleistung Zuerst wurden in diesem Beitrag die res sacrae behandelt, deren Zweck es war, die Wirksamkeit des Eides zu verstärken; anscheinend waren sie aber nicht notwendig. Dann wurden die zu schwörenden Texte untersucht, deren Materialität bei kollektiven Eidesleistungen genauso wichtig war wie deren Inhalt. Jetzt sollen andere Objekte in den Blick genommen werden, die im Gegensatz zu den res sacrae bzw. zu den Schwörbriefen nicht primär mit Eidesleistungen assoziiert werden: Sie wurden als Accessoires der Eidesleistungen benutzt und dienten der Sichtbarmachung der Autorität oder der Gemeinde.
3.1 Waffen In den Textquellen kommen bei städtischen Eidesleistungen keine Waffen vor. Höchstens beim Kurfürsteneid in Frankfurt heißt es, die Kurfürsten sollten alle anwesend sein, aber unbewaffnet erscheinen: principes electores […] omnes cum tota ipsorum familia tunc ibi debebunt inermes assistere.88 Die Texte aus städtischen Quellenbeständen erwähnen Waffen nicht. Dafür werden Waffen in der Ikonografie ab und zu dargestellt, namentlich Schwerter oder Hellebarden der Stadtknechte, so beim Luzerner Schilling anlässlich des Beitritts Zürichs zur Eidgenossenschaft 135189 (siehe Abb. 6, S. 115). Während der Stadtschreiber – falls er das ist – die Bündnisurkunde verliest, wird er von mehreren bewaffneten Männern begleitet. Vermutlich handelt es sich bei ihnen um Vertreter der vier Waldstätte. Auch beim individuellen Neubürgereid des Ritters Richard Puller von Hohenburg in Zürich 1480 wird in der Darstellung des Diebold Schilling d. J. der Schwörende vom Stadtbüttel und seinem Diener umrahmt, die beide ein Schwert tragen (siehe Abb. 7).90 Wozu dienen diese Waffen? Bei Treueidszenen auf dem Land stellen sie eine Bedrohung dar. Sie dienen dazu, nach der militärischen Eroberung die Landbewohner zu zwingen, ihren Siegern Gehorsam zu schwören.91 In der Stadt dagegen sollen die Waffen nur die Macht der Stadtobrigkeit veranschaulichen – etwa die Autorität des Zürcher Rates beim Neubürgereid des Richard Puller von Hohenburg – bzw. im Falle von Bündnisbeschwörungen den militärischen Charakter beispielsweise der 88
Wolfgang D. Fritz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung: 1354–1356 (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, 11), Weimar 1978–1992, S. 576. 89 Schilling d. J., Luzerner Chronik, S. 25, http://e-codices.unifr.ch/de/kol/S0023-2/25/ [Stand: 22.12.2017]. 90 Ebd., S. 280. 91 Ebd., S. 79 (Die Bewohner der March – in der heutigen Ostschweiz – müssen 1437 den siegreichen Schwyzern Treue schwören).
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Abb. 7: Neubürgereid des Ritters Richard Puller von Hohenburg in Zürich, 1480 Quelle: Schilling d. J., Luzerner Chronik S 23, S. 280
Eidgenossenschaft sichtbar machen. In diese Kategorie der Sichtbarmachung der Autorität könnte auch das Podest fallen, das bei Schwörtagen oder in der Luzerner Bilderchronik beim Beitritt Basels zur Eidgenossenschaft aufgestellt wurde, um die Machtposition des Rates gegenüber den Bürgern zu zeigen.92
3.2 Türen Ein anderes Accessoire der Eidesleistung ist die Tür. Die städtische Politik war von der Dialektik zwischen Öffentlichkeit, die von den Bürgern lauthals verlangt wurde und Vertraulichkeit, die von den Obrigkeiten gefordert wurde, geprägt.93 In vielen Eidformeln sollen die Amtleute schwören, keine geheimen Sachen außerhalb des 92
Ebd., S. 427; http://www.e-codices.unifr.ch/de/kol/S0023-2/427 [Stand: 22.12.2017]. Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke: Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000, S. 47; Hans-Rudolf Hagemann, Basler Rechtsleben im Mittelalter, 2 Bde., Basel/Frankfurt a. M. 1981/1987, hier Bd. 1, S. 276–278.
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Rates weiter zu erzählen; diese Forderung findet sich immer häufiger und dringender im Laufe des 15. Jahrhunderts.94 In diesem Zusammenhang wird in Oberehnheim (ca. 35 km südlich von Straßburg) die Tür des Raumes, in dem geschworen wurde, in Szene gesetzt. Im dortigen Statutenbuch wurde die neue Ordnung der Ratserneuerung 1459 verzeichnet. Nachdem die Ratsherren und die beiden Stadtmeister der kleinen Reichsstadt erwählt worden sind, soll der Landvogt als Vertreter des Kaisers herbeigerufen werden: und sol dann der stettschriber den meistern und ouch den reten fürlesen ir eyde, als die in der stette buche geschriben stant wie das von alter harkomen ist die sollent sie ouch offentlichen mit offener thüren zù Got und den heiligen sweren.
Die offene Tür manifestiert die Transparenz des Geschehens, hier der beschworenen Eidformel, wie die folgenden Sätze des Textes zeigen: alles in bywesen solicher vorgenanten personen aller die dann meister und rate gesatzte hant. Und gelanget yemant von der menige soliche eyde zù sehen und zů hören, zů tůnde der moge wol zů hören.95
Diese Transparenz gilt nicht nur für Ratsherren und stettmeister. Selbst der Unterlandvogt, der anstelle des Landvogts die jährliche Huldigung der elsässischen Reichsstädte entgegennahm, sollte auch öffentlich schwören, die Freiheiten der Stadt zu schützen, wie man im selben Stadtbuch liest: Und [der Unterlandvogt soll] ouch domit an der selben stat in offenem rate stan und den selben brieff mit der offenen ratstubthuren lypliche zu got und den heiligen schweren zu halten getrüweliche und ungeverliche allerdinge.96
Erst dann huldigte die Stadt dem Unterlandvogt. Hier wurde also demonstrativ Transparenz vorgelebt. In Freiburg im Üechtland wurde dagegen für die Ratswahl angeordnet, dass die Tür der Kirche, wo die Wahl vorgenommen wurde, geschlossen werden sollte.97
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Richard, Serment et gouvernement (Habilitationsschrift), S. 358. AM Obernai BB 14, fol. 16r. Ebd., fol. 60r. Utz Tremp, Vennerbrief, S. 75: Darnach wellen wir und ordenen, das uff den tag, so die erber lüt in die vorgenant kilchen koment und das tor beschlossen wirt […].
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3.3 Birnen Als letztes Beispiel der Accessoires der Eidesleistung sollen Birnen erwähnt werden. Zugegeben, es ist ein Grenzfall und es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass Birnen an mehreren Orten eine wesentliche Rolle gespielt hätten. Sie werden aber in den städtischen Rechnungen der Stadt Basel mehrfach erwähnt, so 1471: Item x ß ze ruffen uber Ryn und umb byren als man schwure uber Ryn.98 Es handelt sich einerseits um die Summe, die dem Stadtknecht ausbezahlt werden sollte, weil er den Schwörtag im Kleinbasel, auf dem rechten Rheinufer (Großbasel liegt auf dem linken Ufer), angekündigt hatte, andererseits um Birnen, die den Kleinbasler Kindern ausgeteilt wurden.99 Was sollen diese Birnen? Sie zeigen, dass der Schwörtag nicht nur ein institutioneller Akt war, sondern auch ein Fest darstellte, bei dem Emotionen geschürt wurden, und es wurde schon vor langer Zeit von der Forschung erkannt, welche Rolle Emotionen für die Wirksamkeit von Ritualen zukam.100 Wie bei der Ankunft eines Herrschers wurde die Stadt geputzt, die Straßen gefegt bzw. Heu ausgestreut.101 In Straßburg wurde das Stadtbanner, und nur dieses, am Münsterplatz gezeigt. Musik spielte ebenfalls eine Rolle, da neben dem Glockengeläut die Obrigkeiten eigens für den Schwörtag Musiker anstellten.102 Dass auch die Kleinbasler Kinder am Schwörtag teilhaben durften, indem sie Birnen geschenkt bekamen, passt gut in dieses Bild einer gesamtstädtischen, gemeinschaftsstiftenden Veranstaltung. Übrigens konnten auch Äpfel ausgeteilt werden, wie den Stadtrechnungen zu entnehmen ist.103 In beiden Fällen ist aber die Materialität tückisch: Juli ist keine gute Jahreszeit, um Äpfel oder Birnen auszuteilen, die ja im Spätsommer geerntet werden, es sei denn, es waren getrocknete Früchte. In Luzern wurde im 16. Jahrhundert ein amman gewählt, dessen Funktion darin bestand, den Kindern Brötchen bzw. Kuchen zu verteilen, während die Bürgerschaft in der Peterskapelle den halbjährlichen Treueid schwor.104
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StaatsABS Finanz G 5 Wochenausgabenbücher Nr. 10, S. 498. Zum getrennten Schwörtag in Kleinbasel siehe Rudolf Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, 3 Bde., Basel 1907–1924, hier Bd. 2.1, S. 227. 100 Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997, S. 2: in that emotional evocation lies the work of the ritual. 101 Siehe die Rechnungen der Stadt Basel u. a. im Jahr 1470, wo am Tag der Wahl und der Vereidigung des Rats Musiker (pfiffer) und das Streuen von Gras bezahlt werden, StaatsABS Finanz G 5 Wochenausgabenbücher Nr. 10, S. 439. 102 Jacoba van Leeuwen, Geluid, muziek en entertainment: Het gebruik van auditieve communicatiemiddelen tijdens het ritueel van de wetsvernieuwing in Gent, Brugge en Ieper, 1379–1493, in: Revue belge de philologie et d’histoire 83 (2005), S. 1029–1057. Zu den Bannern siehe die (undatierte) Straßburger Ordnung, welche den Zünften verbietet, sich mit ihrem Banner vor das Münster zu begeben, AVES 1 MR 30, S. 168. 103 StaatsABS Finanz G 5 Wochenausgabenbücher Nr. 10, S. 273 (1466): Sabato post Margrete virginis / Item v ß umb eppfel den knaben uber Ryn als man bott zu schweren. 104 Wanner, Schwören im alten Luzern, S. 214. 99
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Olivier Richard
4. Schluss Objekte spielen bei Ritualen eine bedeutende Rolle, indem sie zu ihrer Wirksamkeit beitragen. In oberrheinischen Städten am Ende des Mittelalters scheinen die res sacrae zwar keine gewichtige Rolle mehr gespielt zu haben, zumindest bei individuellen wie auch kollektiven Eiden, die der Stadt galten. Dagegen erlangten in mehreren Städten wie Zürich oder Straßburg einzelne Urkunden eine zentrale Bedeutung; diese Urkunden waren nicht nur Instrumente des Eides, sondern wurden selber geschworen oder beschworen. Dabei war ihre Materialität oder Medialität genauso wichtig wie ihr Inhalt. Außerdem wurden andere Objekte als Accessoires der Eidesleistung herangezogen, um die Macht der Stadtobrigkeiten sichtbar zu machen, oder auch die Kontrolle der Bürger auf die politische Ordnung oder, indem sie positive Emotionen erzeugten, um den Zusammenhalt der Stadtgemeinschaft zu inszenieren. In diesem Beitrag ging es nicht nur darum, zu untersuchen, welche Objekte welche Rolle bei den städtischen Eidesleistungen spielen konnten, sondern auch Geschichtsforschung aus dem Objekt heraus zu betreiben, d. h. zu prüfen, was das Interesse an der materiellen Kultur bringen kann, um unsere Kenntnis der städtischen Eideskultur und damit der städtischen politischen Kultur zu schärfen. Es ging um das Verhältnis zwischen Religion, sozialen Beziehungen und Politik. Die Frage ist, wie zwischen Regierenden und Regierten stabile Beziehungen, welche Vertrauen schufen, entstehen konnten. Wie kam dieses Vertrauen zustande? Mir scheint, dass die beim Eid benutzten Objekte zeigen, dass der städtische Eid nicht primär eine durch die Anrufung Gottes garantierte Verpflichtung war, sondern ein Instrument, das soziale Bindungen schuf. Die res sacrae, also die Objekte, die eher das erste Element darstellen, die durch die Anrufung Gottes garantierte Verpflichtung, verloren in der spätmittelalterlichen Stadt am Oberrhein immer mehr an Bedeutung. Dafür erhielten diejenigen Objekte, auf denen sich eine Beziehung zwischen den Akteuren begründete, umso mehr Gewicht – konkret vor allem zwischen den Schwörenden und dem Stadtrat, wie beispielsweise durch die Schwörbriefe. Sie manifestierten den vertraglichen Charakter der städtischen Regierung, den schriftlich fixierten Vertrag zwischen Obrigkeiten und Bürgerschaft. Die politische Ordnung wurde aber weder säkularer, noch rationaler, unpersönlicher oder immaterieller, sondern sie war weiterhin von Ritualen geprägt, bei denen die materielle Dimension, aber auch Emotionen und sinnliche Erfahrungen miteinander verknüpft waren.
Quelle: Jörg Breu (Umkreis), Monatsbilder: Oktober, November, Dezember, 1531/1550, DHM Berlin, Inv.-Nr. 1990/185
Farbtafel 1: Ausschnitt aus dem Herbstbild der Augsburger Monatsbilder mit Auszug der Ratsherren
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Farbtafel 2: Chorgewölbe der Marienkirche in Büdingen Quelle: Wikimedia Commons, Foto von Sven Teschke 2006
Farbtafel 3: Nordfenster der St. Mary’s Guildhall in Coventry
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Peter
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Farbtafel 4: Fenster der Ostseite der St. Mary’s Guildhall in Coventry Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Peter
Farbtafel 5: Holzdecke mit bosses in der St. Mary’s Guildhall in Coventry Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Peter
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Farbtafel 6: Westwand der Ratsstube („Huldigungssaal”) im Goslarer Rathaus, in der Mitte die Erscheinung der Ara coeli-Madonna Quelle: : Goslar Marketing GmbH
Farbtafel 7: Ausmalungen der Gewölbezone in der Trinitatiskapelle, Rathaus Goslar Quelle: Weinig, Huldigungssaal, S. 248, Abb. 6, Foto von T. Trapp
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Farbtafel 8: Fünfter Straßburger Schwörbrief, 14. Januar 1413
Quelle: AVES CH 3263
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Farbtafel 9: Kolorierte Zeichnung der Berner Zeituhr von Sebastian Fischer Quelle: Ulmer Chronik, fol. 153r
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Farbtafel 10: Dalmatika aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig/Gdańsk, Seide: Zentralasien, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts Quelle: Foto von Walter Haberland
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Farbtafel 11: Dalmatika aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig/Gdańsk, Goldsamt: Italien, 3. Viertel des 15. Jahrhunderts Quelle: Foto von Walter Haberland
Quelle: Foto von Walter Haberland
Farbtafel 12: Sargdecke der Georgenbruderschaft der Fernkaufleute aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig/Gdańsk
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Farbtafel 13: Chormantelschild mit Darstellung des hl. Georg aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig/Gdańsk Quelle: Foto von Walter Haberland
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Farbtafel 14: Kasel aus rotgrundiger Seide mit gesticktem Dorsalkreuz und Wappen der Familie von Bock Quelle: Foto von Walter Haberland
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Farbtafel 15: Kasel aus weißer Seide mit gesticktem Dorsalkreuz (Böhmen, um 1425) für den Hochaltar der Marienkirche, Danzig/Gdańsk Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Inv.-Nr. Kg 1331, Foto von Jürgen Musolf
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Farbtafel 16: Geschlechterbuch der Tetzel, um 1550, fol. 1r: Stammbaum der Familie Tetzel Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Farbtafel 17: Stammbaum der Pfinzing, um 1568/69 Detail des schlafenden Ritters (Ausschnitt) Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Foto von Georg Janßen
Quelle: Foto von Anna Pawlik
Farbtafel 18: Behaim-Totentafel in St. Sebald (Nürnberg) von Johann Philipp Kreutzfelder, Nürnberg, 1603
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Farbtafel 19: Pokal des Veit Holzschuher von Elias Lencker, Nürnberg, 1565/70 Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Foto von Monika Runge
aber es haben fil leÿtt drin glesen, das es sich schier will anfahen zerreÿssen, dan es ist nitt einbu͑ nden gwesen. ZUR MATERIALITÄT STÄDTISCHER CHRONIKEN DES 16. JAHRHUNDERTS
Julia Bruch
Der sogenannte „material turn“ wird von Historiker*innen als Chance gesehen, sich neben anderen ‚Artefakten‘ (wieder) intensiv mit Manuskripten auseinanderzusetzen.1 An diese Quellenart können auf der einen Seite viele Fragen der Materialitätsforschung gestellt werden, auf der anderen Seite kann auf die Forschungstradition der Kodikologie zurückgegriffen werden. Die durch die Analyse der materiellen Aspekte von Handschriften gewonnenen Erkenntnisse bringen darüber hinaus die Geschichtswissenschaft in aktuellen Forschungsfragen voran. Hier sei beispielhaft hingewiesen auf den Fragenkomplex2 um die Verbreitung und Verarbeitung von In1
Zur Materialität von Handschriften in Kombination mit kulturhistorischen Forschungsansätzen siehe Michael Robert Johnston/Michael van Dussen, Introduction: Manuscripts and Cultural History, in: Dies. (Hg.), The Medieval Manuscript Book. Cultural Approaches, Cambridge 2015, S. 1–16. Allgemeiner zum Verhältnis von Materialität und Geschichtswissenschaft: Marian Füssel, Die Materialität der frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: ZHF 42 (2015), S. 433–463. 2 Angestoßen von Peter Burke, Papier und Marktgeschrei: die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2014 (zuerst im Englischen erschienen unter dem Titel: A Social History of Knowledge 1997). Aktueller und fundierter Überblick bei Helmut Zedelmaier, Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen 2015; mit dem Fokus auf Chronistik: Pia Eckhart/Birgit Studt, Das Konzil im Gedächtnis der Stadt. Die Verhandlung von Wissen über die Vergangenheit in der städtischen Geschichtsschreibung am Oberrhein im 15. und 16. Jahrhundert, in: Martina Stercken/ Ute Schneider (Hg.), Urbanität: Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern, Köln/Weimar/ Wien 2016, S. 83–103; Bernhard Jahn, Die Chronik als Umschlagplatz von Wissen. Zur Heterogenität des Wissens und seiner Ordnungen in sächsischen Chroniken des 16. Jahrhunderts, in: Frank Gru nert/Anette Syndikus (Hg.), Wissensspeicher der Frühen Neuzeit: Formen und Funktionen, Berlin/ Boston 2015, S. 3–20 und Silvia S. Tschopp, Wie aus Nachrichten Geschichte wird: Die Bedeutung publizistischer Quellen für die Augsburger Chronik des Georg Kölderer, in: Daphnis. Zeitschrift für mittlere deutsche Literatur 37 (2008), S. 33–78.
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Julia Bruch
formationen, um den Umgang, das Ordnen und Aufbereiten dieser Daten sowie deren Nutzbarmachung und Weiterverwendung. Damit eng verbunden sind die Fragen nach dem Zugang zu Wissen und Bildung und den Vermittlungsmedien. In dieser Studie wird am Beispiel zweier städtischer Chroniken des 16. Jahrhunderts eine Analysemethode von mir in die Diskussion gebracht, bei der es sich um eine Kombination von (literatur-)historischer Einordnung der Texte und ihrer Verfasser mit einer materialwissenschaftlichen Untersuchung der Manuskripte handelt. Ich gehe dabei folgendermaßen vor. Ich behandle die beiden Autoren und ihre Texte nacheinander: Zuerst stelle ich Sebastian Fischer und seine Ulmer Chronik vor,3 der im Titel des Aufsatzes bereits zu Wort kam,4 danach Dionysius Dreytwein und seine Esslingische Chronik.5 Nach einer kontextuellen Einbettung der Verfasser untersuche ich das Manuskript und gehe Fragen nach dem Material, der Art und dem Zeitpunkt der Bindung sowie nach dem Umgang des Verfassers mit seinem Buch nach. Außerdem frage ich danach, wie der Schreiber sein Buch wahrnahm und wie er den Entstehungsprozess beschrieb, reflektierte und kommentierte. Im Schlussteil bündele ich die Ergebnisse der beiden Analysen unter der Ausgangsfragestellung nach dem Sammeln, Ordnen, Deuten und der Nutzbarmachung von Informationen in Chroniken des 16. Jahrhunderts.
1. Der Schuhmachermeister Sebastian Fischer aus Ulm Die Aufzeichnungen des Ulmer Schuhmachermeisters Sebastian Fischer 6, die er selbst als bu͑ ch oder gschrÿfft (343r) bezeichnete und die einen hybriden7 Charakter aufweisen, können als städtische Chronik8 gelesen werden: zum einen ordnete Fischer seine Einträge in ein weltchronistisches Schema ein, zum anderen ist ein Fokus auf die Stadt Ulm erkennbar. 3
Sebastian Fischers Chronik, besonders von Ulmischen Sachen 1548–1554, München, Bayerische Staatsbibliothek (BSB), Cgm. 3091. Edition: Sebastian Fischers Chronik, besonders von Ulmischen Sachen, hg. v. Karl G. Veesenmeyer, in: Mitteilungen des Vereins für Kunst und Alterthum für Ulm und Oberschwaben 5–8 (1896), S. 1–278. Im Folgenden Ulmer Chronik genannt und durch Blattzahl zitiert. Die aus der Edition entnommenen Textstellen wurden am Original geprüft und korrigiert. 4 Ulmer Chronik, fol. 75v. 5 Dionysius Dreytwein, Esslingische Chronik. 1549–1562, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. hist. f. 679. Im Folgenden Esslingische Chronik genannt und durch Blattzahl zitiert. Die aus der Edition (siehe Anm. 48) entnommenen Textstellen wurden wie bei dem Ulmer Beispiel am Original geprüft und korrigiert. 6 Siehe Julia Bruch, Sammeln und Ordnen von Wissen in der städtischen Chronistik des 16. Jahrhunderts. Die chronikalischen Aufzeichnungen des Ulmer Handwerksmeisters Sebastian Fischer, in: Stadt und Geschichtsschreibung: Geschichtsschreibung über Städte und Geschichtsschreibung in Städten, hg. v. Archiv der Hauptstadt Prag (Archiv hl. mesta Prahy) (Documenta Pragensia) mit ausführlichem Forschungsüberblick [seit 2017 im Druck]. 7 Zum Begriff siehe Oliver Plessow, Die umgeschriebene Geschichte: spätmittelalterliche Historiographie in Münster zwischen Bistum und Stadt, Köln 2006, S. 53–106. 8 Zur Gattungsdiskussion siehe Regula Schmid, Town Chronicles, in: The Encyclopedia of the Medieval Chronicle. Bd. 2, hg. v. Raymond Graeme Dunphy, Leiden/Boston 2010, S. 1432–1438, und
Zur Materialität städtischer Chroniken des 16. Jahrhunderts
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Der Verfasser wurde am 16. Oktober 1513 in Ulm geboren (41r), sein Todestag ist nicht überliefert, allerdings bricht die Chronik mitten in einem Eintrag zum 2. April 1554 ab (449v) und es ist plausibel anzunehmen, dass Fischer bald darauf mit ca. 40 Jahren verstarb.9 Er war Sohn eines Ulmer Schuhmacher- und Zunftmeisters gleichen Namens (†1541). Über Fischers Schulbildung und Lehre ist nur bekannt, dass er mit zwölf Jahren seine Ausbildung zum Schuhmacher begann, diese erfolgreich abschloss und im Anschluss mit 20 Jahren für drei Jahre auf Wanderschaft ging (44v). Während seiner Wanderschaft hielt er sich in der Schweiz, im Breisgau, im Elsass und an Rhein und Neckar auf und erkrankte zur selben Zeit an einem Ohrleiden, das ihn im weiteren Verlauf nahezu taub werden ließ (62r–79v).10 1541 heiratete er nun als in Ulm ansässiger Handwerksmeister Hiltgart Kleße (†1547), mit der er einen Sohn und drei Töchter hatte, die bis auf Tochter Katharina (*1543) alle früh verstarben (42r–44r). Seine zweite, kinderlose Ehe wurde 1548 mit der 50-jährigen Witwe Anna Speyerin geschlossen (44v, 45r). Fischer war ein städtischer Bürger, Handwerksmeister und stammte aus einer gut situierten Familie. Sein Vater war als Zunftmeister Mitglied im Kleinen Rat, einem der Führungsgremien der Stadt.11 Für Sebastian Fischer selbst stand diese Möglichkeit, an politischen Entscheidungen der Stadt zu partizipieren, nicht mehr offen. Kaiser Karl V. hatte 1548 die Zunftverfassung in Ulm aufgehoben. Diese Verfassungsänderung, die sich 1548 bis 1549 in Ulm vollzog, schilderte Fischer sehr dramatisch (267r–273r). Er nannte zudem diesen Wandel in Ulm als einen der Gründe, warum er 1548 sein Buch begann.12 Fast zeitgleich, nämlich im Jahre 1547, überlebte der vorher schon körperlich beeinträchtigte Fischer nur knapp eine Seuche (75v–76r), die fast seine gesamte Familie auslöschte (42v–43v),13 sah die Reformation, der er sich persönlich verbunden fühlte, durch den Sieg Kaiser Karls V. und die Ausrufung des zuletzt in Bezug auf Familienbücher: Marco Tomaszewski, Familienbücher als Medien städtischer Kommunikation. Untersuchungen zur Basler Geschichtsschreibung im 16. Jahrhundert, Tübingen 2017, S. 7–24. 9 Bruch, Wissen. 10 Der Krankheitsverlauf sowie die beschriebenen Behandlungen wurden sehr gut aufgearbeitet von Bianca Frohne, Leben mit „kranckhait“: der gebrechliche Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne, Affalterbach 2014, S. 81–90. 11 Hier und im Folgenden: Gottfried Geiger, Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation. Städtisches und kirchliches Leben am Ausgang des Mittelalters, Ulm 1971, S. 21–37. 12 Des dings wiertt nu͑ n firohin fil sein, das man vns also vff das rathau͑ ß wiert erfordern, dieweÿl kain
zau͑ nfft mee ist, daru͑ m ich von meim schreÿben ablassen will, vnd nichts sollichs mee beschreÿben, ich wu͑ rd sonst das bu͑ ch du͑ rau͑ ß mit solchen dingen beschreÿben, da nitt vil wu͑ nder, oder seltzams darinn wu͑ rd gefu͑ nden, vnd aber ich das bu͑ ch nu͑ n daru͑ m hab angefangen, was sich fir seltzam hendel zu͑ tragen, daselb fleÿssig zu͑ beschreÿben, vff welchen tag vnd zeÿt sich ain ding hab verloffen, mir zu͑ ainer gedechtnu͑ s, deselbigen gleÿchen denen nach mir, welchem dan nach meim absterben, diß bu͑ ch, als mein gschrÿfft zu͑ ku͑ mpt. Dieweÿl ich die große verenderu͑ ng jn diser statt Vlm, so fleÿssig hau͑ n beschrÿben, so hau͑ n ich dannocht miessen au͑ ch beschreÿben vnd benamsen die verenderu͑ ng vnser zau͑ nfft, welches vnsere ersten oberer vff vnser zau͑ nfft seÿen gewesen (fol. 343r). 13 […] also stat mein sach ÿetz vff diesen heütigen tag, welches ist sant Johannes tag jn weÿenechtfeÿren hab ich es au͑ ffgschrÿben jm 1548 jar. Nu͑ n sech ain ÿettlich chrÿsten mensch, was grosser pein vnd schmertzen, kreu͑ tz vnd leÿden, ich ÿberstanden vnd erlÿtten hab, vnd noch, dan ich weder tag noch nacht ru͑ w jn meim kopf hau͑ n. Gott der allmechtig erbarm sich mein, vns ku͑ me mier ain mal zu͑ hilff seÿ es sein gettlicher will vnd meiner seel heÿl, wa aber nitt so gebe mier gott gedu͑ lt, vnd seÿ mier gnedig an meinem letsten end vnd absterben, damitt ich mige erlangen die frewd ewiger seligkait, das verleÿche
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Interims 1548 bedroht (259r–264r). Diese Bündelung an Schreibanlässen aus den Jahren 1547/48 sowie der Beginn der Niederschrift des Buches am 25. Juli 154814 lassen es plausibel erscheinen, dass Fischer gegen die Veränderungen seiner Zeit anschrieb.15 Gestützt wird diese Vermutung dadurch, dass er während des Zweiten Markgrafenkrieges, der für Ulm und seine Bürger eine starke Bedrohung darstellte, tagebuchähnliche Aufzeichnungen anfertigte (433r–449v).
1.1 Kodikologische Untersuchung der Ulmer Chronik Fischers Autograph16 ist eine aus 407 Blättern im Quartformat bestehende Papierhandschrift. Verfasst wurden die Einträge in deutscher Sprache. Der Chronist besaß eine gleichmäßig geübte und dadurch sehr gut lesbare Handschrift (siehe Abb. 1–4, ab S. 145).17 Sebastian Fischer selbst hat das Buch binden lassen (1r). Neben zwei eingebundenen Drucken (1r–26v und 251r–258v), einer eingeklebten Federzeichnung (147r) und einer eingeklebten Seite aus einem Druck (404v), sind einige Federzeichnungen vermischten Inhalts aus der Hand Fischers, entweder aus Drucken abgezeichnet18 oder freihändig angefertigt19 (siehe Abb. 5 und Farbtafel 9, S. 126), zu finden. Fischer zeigte sich als ein guter, wenn auch nach eigenen Angaben nicht geschulter Zeichner.20 Dem Haupttext wurde ein aus 26 Blättern bestehendes Register vorgebunden, das nachträglich mit Bleistift foliiert wurde.
gott mir vnd allen krÿsten mentschen jn ewigkaÿt du͑ rch seinen lieben su͑ n vnd heren Jesu͑ m Christu͑ m. Amen. (fol. 77r–v). 14 Sollichs alles hab ich anfahen zu͑ schreÿben, vff sant Jacobs tag, der 25 tag hewmonat, jm 1548 jar, aber folendt vnd ÿberal geschrÿben vff sant Matheu͑ s tag, der 21 tag herpstmonat, ist freÿtag gwesen, jm 1548 jar. Gott der almechtig seÿ mit vns allen jn ewigkait. Amen (fol. 275r). 15
Gerhard Fouquet kann eine ähnliche Schreibintention für Burkard Zinks Augsburger Chronik nachweisen. Gerhard Fouquet, Familie, Haus und Armut in spätmittelalterlichen Städten. Das Beispiel des Augsburger Ehepaares Elisabeth Störkler und Burkard Zink, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.), Inklusion-Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. [u.a.] ²2008, S. 283–307, hier: S. 284. 16 Zur Beschreibung der Handschrift siehe auch Bruch, Wissen. 17 „Seine Handschrift ist sehr deutlich, ja sogar schön, darf man sagen; jeder einzelne Buchstabe ist zu erkennen, er schrieb wie gedruckt.“ Karl G. Veesenmeyer, Vorwort, in: Sebastian Fischers Chronik, besonders von Ulmischen Sachen, hg. v. dems. (= Mitteilungen des Vereins für Kunst und Alterthum für Ulm und Oberschwaben 5–8 (1896), S. I–X, hier: S. II). 18 Auf fol. 147r, 251r, 350r, 351r, 370r, 400v, 401r, 401v, 402r, 402v, 404r, 405v, 429r und 439r. 19 Auf fol. 62r, 152v, 153v, 424r, 425r und 432r. 20 Siehe auch Veesenmeyer, Vorwort, S. II. […] das ichs aber haben kinden ku͑ nterfehen wie ain geschick-
ter maler, ist mir nitt miglich, dan ich bin ain schu͑ chmacher, vnd hat mich das malen mein lebenlang nie niemant gelert, sünder ich habs von mir selbs gelert, au͑ ß liebe das ich allweg zu͑ m malen gehabt hab etc. (fol. 423v).
Zur Materialität städtischer Chroniken des 16. Jahrhunderts
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Der Schreiber nutzte braune, stellenweise dunkel- und schwarzbraune bzw. rote Tinte. In der Regel sind die Aufzeichnungen in Absätze gegliedert und häufig mit Überschriften versehen.21 Interne Verweise und Verweise auf das Register sind zahlreich. Meine Analyse der Chronik hat ergeben, dass Fischer in seinem Buch Informationen zu verschiedenen Themen vereinte, die seiner persönlichen Auswahl und Ordnung unterlagen.22 Er begann mit Adam und Eva und endete mit dem Jahr 1554. Sein Buch umfasst Berichte über die Vergangenheit (34%),23 Zeitgeschichte24 (25%) und Gegenwart (33%).25 Familiäre Nachrichten nehmen mit 3% eine eher untergeordnete Rolle ein, ebenso die Ausführungen zu seiner Krankheit (7%).26 Zum Vergleich: Einen 7%igen Anteil am Buch hat auch das Register. Sebastian Fischer hatte, bevor er 1548 seine umfangreichen Aufzeichnungen begann, 15 Jahre lang Übung im Schreiben, im Sammeln, Auswählen und Zusammenstellen von Texten.27 Die in der Praxis erworbenen Kompetenzen kamen ihm beim Schreiben seines größeren Werkes zugute. Meiner Analyse zufolge war die Entstehung des Buches ein langwieriger, stetiger und nicht-linearer 6-jähriger Schreibprozess. Inmitten dieses Prozesses ließ Fischer das noch unvollendete Buch binden28 und reflektiert seine Arbeitsweise: da hau͑ n ich die spatziu͑ m gelassen, damitt ich kind hierher beschreÿ̈ben (266r). Ein weiterer Kommentar zeigt, dass er auch nach der Bindung weiterschrieb: da hab ich nÿ̈ma schreÿ̈ben kinden, dan ich hau͑ n kain weÿ̈ß blat me gehabt (359r).
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Siehe auch Frohne, Leben, S. 80. Zu Fischers Sammeltätigkeit und Ordnungsprinzipien siehe Bruch, Wissen; Harald Haferland, Weltzeit, Lebenszeit und das Individuum als Augenzeuge und Gegenstand persönlicher Erfahrung. Ereigniskonzepte in der volkssprachlichen Chronistik des 16. Jahrhunderts am Beispiel der „Chronik“ Sebastian Fischers, in: Nicola McLelland [u.a.] (Hg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2008, S. 183–197. 23 Für diese prozentualen Angaben habe ich die beschriebenen Seiten zu den einzelnen Themen in Bezug zu der Gesamtzahl der beschriebenen Seiten des Codex gesetzt. 24 Zur Unterscheidung historiographischer Darstellungsformen im Mittelalter: „in ihrer spirituellen Bedeutung verdichtete Geschichte auf der einen und detaillierte Aufzeichnung gegenwärtigen Geschehens auf der anderen Seite“ oder in Begriffen ‚Geschichtsexegese‘ und ‚Gegenwartschronistik‘ unlängst Kerstin Schulmeyer-Ahl, Der Anfang vom Ende der Ottonen. Konstitutionsbedingungen historiographischer Nachrichten in der Chronik Thietmars von Merseburg, Berlin 2009, S. 49. Ich schlage vor, die ‚Geschichtsexegese‘ in Vergangenheits- und Zeitgeschichtsschreibung zu unterteilen und von der „detaillierte[n] Aufzeichnung gegenwärtigen Geschehens“ zu unterscheiden. Zeitgeschichtsschreibung unterscheidet sich damit von Gegenwartschronistik durch eine gewisse Abgeschlossenheit des zu berichtenden, was sich in den Chroniken durch eine zielgerichtete Narration ausdrücken kann. 25 Hinzu kommen 1 % Handbuchwissen und 7 % Register. 26 In den 7 % sind die weiteren medizinischen Informationen, wie ein Aderlassbrief und Sammlung von Wundergeburten enthalten, ohne sind es nur 5 %. 27 Nach eigenen Angaben schrieb er bereits seit seiner Wanderschaft (fol. 41v, 154r). 28 Fischer kommentiert die Bindung an mehreren Stellen des Buches. Diese Kommentare entstammen den Jahren 1550/51 nach bereits erfolgter Bindung (siehe unten). 22
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Das Buch umfasst 74 Lagen im Haupttext und vier Lagen im Registerteil, hinzu kommen die beiden eingebundenen Drucke. Die meisten Lagen liegen im Binio, einige in Quaternio und eine in Ternio vor.29 Auf Basis meiner kombinierten Untersuchung des Schriftduktus, des Seitenlayouts, der verwendeten Tinte sowie des Lagenschemas mit inhaltlichen Erwägungen und der Identifikation der Vorlagen kann der Entstehungsprozess des Buchs in vier Phasen gegliedert werden, die sich durch Fischers Kommentare und seine eigenen Datierungen zeitlich schlüssig einordnen lassen.30 Eine ungewöhnlich gleichmäßige und klare Schrift ist das wichtigste Kennzeichen der ersten Phase (1548–1549; siehe Abb. 1). Geschrieben wurde mit brauner Tinte mit vergleichsweise breiter Feder. Außerdem ist das Layout großzügiger gestaltet als in den anderen Zeitschichten des Buchs31 und die Inhalte sind mit Überschriften versehen, die zumindest eingerückt, wenn nicht in Trichterschrift hervorgehoben worden sind. Dieser Textteil hatte von Fischer selbst verfasste Vorlagen und handelt von der Reformation (27r–36v; 53r–59v), familiären Ereignissen (41r–51v), seiner Krankheit (62r–79v), der Ulmer Stadtgeschichte (107r–116r) und von der Geschichte der Eidgenossenschaft (147r–165r), die er aus der Chronik Petermann Etterlins kompilierte.32 Er schrieb kontinuierlich und ließ immer wieder Seiten frei. Die zweite (ab 1550; Abb. 2) und die dritte Bearbeitungsphase (1551; Abb. 3) sind vom materiellen Befund fast nicht zu unterscheiden, weshalb ich vorschlage, zusammenfassend von einer mittleren Phase zu sprechen,33 die sich aufgrund von inhaltlichen Erwägungen in die beiden Phasen (Phase zwei und drei) unterteilen lässt. In der zweiten Phase bekam die Chronik ihr welthistorisches Schema, indem Fischer Teile aus Werken von Sebastian Frank (Zeitbuch,34 Weltbuch,35 und Germaniae Chroni29
Ein ausführliches Lagenschema befindet sich im Anhang. Ins Detail gehende Untersuchungen der Vorlagen sowie der Datierungen werden Bestandteil meiner Habilitationsschrift sein. Siehe vorerst Bruch, Wissen; Hinweise bei Veesenmeyer, Vorwort, S. III und Haferland, Weltzeit, S. 186–188. Im Folgenden können nicht alle Stellen genannt und gegenübergestellt werden. 31 Die Schrift ist vergleichsweise groß, und der Rand ist großzügig bemessen (außen: 2,5–3,0 cm, innen: 1,8–2,0 cm, oben: 1,8–2,0 cm und unten: 2,5–3,0 cm) und es finden sich 22 bis 24 Zeilen pro Seite (Die Schrift und das Layout wurden anhand von Stichproben analysiert; es handelt sich um Durchschnittswerte). 32 Petermann Etterlins Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft, jr harkommen und sust seltzam strittenn und geschichten, Erstdruck 1507 in Basel, ist in zwei Ausgaben überliefert (VD16 E 4110 und VD16 ZV 19913); siehe Ulmer Chronik, fol. 147r–165r). 33 Die Schrift wird in dieser Phase insgesamt kleiner, enger und wirkt gedrängter. Fischer verwendete mit einer dünneren Feder eine schwarzbraune Tinte, die ausblasst; eine noch dünnere Feder nutzt er zusammen mit einer ins schwarze gehenden Tinte bzw. einer braunen Tinte, vergleichbar derjenigen der ersten Phase. Das Layout verliert gleichzeitig mit der Schrift seine Großzügigkeit (außen: 1,5–2,0 cm, innen: 1,8–2,0 cm, oben: 0,3–0,8 cm und unten: 1,5–1,8 cm). Es finden sich 31 bis 33 Zeilen auf jeder Seite. 34 Chronica, Zeÿtbůch vnd geschÿchtbibel von angegyn biß inn diß gegenwertig M.D.XXXJ. jar., Erstdruck 1531 in Straßburg, überliefert in zwei Ausgaben: VD16 F 2064 und F 2065; siehe Ulmer Chronik, fol. 87v–91r. 35 Weltbůch: spiegel vñ bildtniß des gantzen erdbodens, Erstdruck 1534 in Tübingen durch Ulrich Morhart (zahlreich überliefert: VD16 F 2168, VD16 F 2169 und VD16 F 2170; drüber hinaus gibt 30
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con36), Johannes Stumpf37 und aus der Bibel38 entnahm.39 Fischer führte darüber hinaus unter Zuhilfenahme der genannten Autoren Verbesserungen in seinem bereits geschriebenen Text aus bzw. präzisierte zuvor aufgeschriebene Passagen40 und verwies auf Textteile sowie das Register. Die dritte Entstehungsphase umfasst Texte, die aus Flugschriften entnommen worden waren.41 Tagebuchartige Aufzeichnungen, die thematisch an verschiedenen Stellen des Buches nachgetragen wurden, kennzeichnen die vierte Bearbeitungsphase (1549– 1554), die die anderen Phasen überlagern kann (Abb. 4).42 Die meisten Einträge dieser Kategorie sind zwischen 1551 und 1554 entstanden und finden sich am Ende des Buches. Die Schrift ist noch kleiner als in den vorherigen Phasen, was zum Teil daran liegt, dass für Nachträge wenig Platz vorhanden war. Allerdings bleibt die Schrift auch in den Passagen, die am Ende des Buches mit sehr viel Platz angefügt wurden, klein und gedrängt.43 Seit 1552 dominiert der Zweite Markgrafenkrieg als Thema. Fischers Arbeitsweise, so lässt sich das eben ausgeführte zusammenfassen, veränderte sich im Laufe der Jahre: Begonnen hatte er mit dem Abschreiben von Vorlagen, die er zum größten Teil selbst verfasst hatte. Seit der mittleren Phase exzerpiert er (gedruckte) Chroniken und Flugschriften und geht in der letzten Phase zu tagebuchartigem Schreiben, ohne Vorlage über. Meine Analyse ergab, dass Fischer einen Text anlegte (Phase 1), den er gegebenenfalls thematisch mit neuen Ereignissen zu ergänzen dachte (Phase 4). Die Exzerpte der Chroniken (Phase 2) und der Druck-
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es Ulmer Drucke von 1542: VD16 F 2171, VD16 F 2172 und VD16 F 2173); siehe Ulmer Chronik, fol. 170r–172r). Sebastian Francks Germaniae Chronicon. Von des gantzẽ Teutschlands aller Teutschen voͤlcker herkommen […], Erstdruck August 1538 in Frankfurt a. M. bei Christian Egenolff (VD16 F2089), weitere überlieferte Ausgaben: Augsburg 1538 (VD16 F2088), Ulm 1539 (VD16 F 2093), unter leicht verändertem Namen: Germania. Von des gantzen Teütschlands aller Teutschen voͤlcker herkom̃en Frankfurt a. M. 1539 (VD16 F2092) und Bern 1539 (VD16 F2090); siehe Ulmer Chronik, fol. 415v–428v). Johannes Stumpfs Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten Landen vnd Voelckeren Chronick, Erstdruck 1547 in Zürich VD16 S 9863). Fischer benutzte die Ausgabe von 1548, gedruckt in Zürich (VD16 S 9864); siehe Ulmer Chronik, fol. 59v, 351r–354r). Also hab ichs von wort zu͑ wort abgschrÿben vß meiner bibel ist zu͑ Zirich getru͑ ckt (Ulmer Chronik, fol. 98r). Zuerst Johannes Stumpfs Text und dann zum Teil ergänzend Sebastian Frank: also statt es jn meiner grosse kronick jch find noch ettwas weÿtters von disem Philipu͑ s jn der kronick Sebastion [sic!] Francken das will ich gleÿch au͑ ch hieher schreÿben vnd folgt also wie hernach stat (fol. 211v). Als Beispiel sei fol. 150r angeführt: jn welchem jar aber die historÿ mit Wilhalm Tellen seÿ geschehen, kann ich nit wissen dan er hat kain jar zal darzu͑ gschrÿben […]. Von Fischer in roter Tinte unter dem Textblock nachgetragen: Ich hab bald hernach ain gar grosse kronick kau͑ fft zu͑ Zirrich getru͑ ckt kost
mich 6 fl. 5 batzen daselbst stat gschrÿben, das das solche geschicht mit Wilhalm Thell seÿ geschehen jm 1314 jar, jm su͑ mmer [...].
Siehe Ulmer Chronik, fol. 399v–407v; 82r–84r. Abb. 4 zeigt mehrere Phasen auf einer Seite, der Haupttext ist der ersten Phase zuzuordnen, die Ergänzungen und internen Verweise stammen aus der vierten Phase. 43 Seine Schrift verschlechtert sich von Phase zwei zu vier zunehmend, Fischer verwendete in der vierten Arbeitsphase wieder eine hellere braune Tinte und durchsetzte den Text mit roter Schrift, für Wörter oder Passagen, die ihm wichtig erschienen. Die Gliederung erfolgte immer mehr chronologisch, so finden sich keine thematischen Überschriften mehr. Die Seiten wurden dichter beschrieben und der Steg schmolz weiter ein (außen: 1,5–1,8 cm, innen: 1,3–1,5 cm, oben: ≤ 0,3 cm und unten: ≤ 1,5cm). Es sind nicht weniger als 30 und bis zu 45 Zeilen pro Seite zu zählen. 42
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schriften (Phase 3) kamen zusätzlich hinzu. Fehlende Blätter verweisen darauf, dass die Foliierung vor der Bindung erfolgte.44 Hinweise auf den Zeitpunkt der Bindung liefern zwei Inserate, die beide der mittleren Arbeitsphase (ab 1550) zugeordnet werden können: Wie es jm tru͑ ck vßgangen ist vom ku͑ rfirsten vnd vom landgrau͑ ffen wie sÿ gfangen send worden das het ich au͑ ch daher zu͑ binden lassen, so send die bogen zu͑ klain gewesen das sÿ sich daher nitt geschickt haben, vnd hab es also mit der feder verzaÿchnet, wie dan hiervor gschrÿben statt (259r).45
Fischers Äußerungen zur Arbeitsweise des Buchbinders leiten über zur Frage, wie er die Produktion des Buches und das Produkt selbst wahrnahm. Er reflektierte die Arbeitsteilung zwischen dem Schreiber und dem Buchbinder: Als Schreiber bestimmte er nicht nur, was in das Buch hineingeschrieben wurde, sondern auch zu welchem Zeitpunkt und wie es gebunden werden sollte. Fischer war der Ansicht, dass Erfahrungswissen nur Bestand hatte, wenn man es in einem Buch vermerkte: Nu͑ n hab ich sollichs alle daru͑ m beschrÿben, damit man ain andermal wiss wie es seÿ gehandlet worden (60v) oder gern welt ich hetts au͑ ch au͑ ffgschrÿben es ist aber versau͑ mbt (61v). Die Überführung in das Medium Schrift und die buchstäbliche Sichtbarmachung des Geschehenen führt zu dessen Konservierung. Dass diese Konservierung für Fischer nur funktionierte, wenn das Produkt eine bestimmte Form hatte, zeigt die nächste Aussage: ain bu͑ ch […], das hau͑ n ich mit mir heru͑ m getragen so weÿt ich gwandert bin, ist also jm bintel verkrÿpelt worden, da hat mir fir gu͑ t angsehen, dieweÿl ich alle ding jn diß bu͑ ch schreÿb, so hau͑ n ich gleÿch den thu͑ rn auch hierher gemalet (154r).46
Anhand dieser Zitate kann man erkennen, dass für Fischer aus der Erfahrung heraus nur gebundene Bücher von Dauer waren. Der Zeitpunkt der Bindung markiert zweierlei. Erstens wird das Ding als ein (vorläufiger) Abschluss in eine weniger variable Form überführt, zweitens wurde das Geschriebene als würdig erachtet, eine Bindung zu erhalten und somit vor den Widrigkeiten der Umwelt geschützt zu werden.
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Das Buch liegt nicht mehr in originaler Bindung vor, somit kann nicht mehr geklärt werden, wann die Seiten entnommen worden sind. 45 Ähnlich fol. 1r. 46 Siehe auch das Zitat im Titel fol. 75r–v.
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Abb. 1: Sebastian Fischers erste Arbeitsphase Quelle: Ulmer Chronik, fol. 62r
Abb. 2: Sebastian Fischers zweite Arbeitsphase Quelle: Ulmer Chronik, fol. 193v
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Abb. 3: Sebastian Fischers dritte Arbeitsphase Quelle: Ulmer Chronik, fol. 404r
Abb. 4: Sebastian Fischers vierte Arbeitsphase Quelle: Ulmer Chronik, fol. 271r
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Abb. 5: Das Ulmer Münster, gezeichnet von Sebastian Fischer Quelle: Ulmer Chronik, fol. 424r
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2. Der Handwerksmeister Dionysius Dreytwein (Esslingen) Die Esslingische Chronik47 des Handwerksmeisters Dionysius Dreytwein, die der Verfasser selbst als buch (86r, 97v) oder c(o)ronik (138v, 183v) bezeichnete, wurde 1901 ediert48 und fand in der Forschung neben seiner Funktion als Faktenlieferant49 vor allem in Eberhard Nikitschs Arbeit zur „Handwerkermentalität“50 Beachtung. Nikitsch untersuchte neben der Esslingischen Chronik zwei Reimchroniken, 51 die Dreytwein zugeschrieben werden können: Die „Franziskaner-Reimchronik“52 aus Esslingen und die reich bebilderte „Wiener-Reimchronik“53. Ich konzentriere mich auf die Esslingische Chronik, da dieses Buch in seiner Hybridität am besten mit der Ulmer Chronik in Beziehung gesetzt werden kann. Die Esslingische Chronik kann als städtische Chronik interpretiert werden: Dreytweins wichtigster Bezugspunkt war Esslingen und die innerstädtischen Veränderungen. Wie in Ulm wurde erstmals 1552 auf Geheiß Kaiser Karls V. die Zunftverfassung aus- und ein obrigkeitlicher Rat, von den Zeitgenossen spöttisch ‚Hasenrat‘ genannt, eingesetzt.54 Die Streitig47
Siehe Fußnote 5. Dionysius Dreytwein, Esslingische Chronik (1548–1564), hg. v. Adolf Diehl, Tübingen 1901. 49 Für eine detaillierte Liste siehe Eberhard J. Nikitsch, Dionysius Dreytwein – Ein Esslinger Kürschner und Chronist: Studien zur Handwerksmentalität in frühneuzeitlichen Reichsstädten. Mit einer Edition seiner Franziskaner-Reimchronik, in: Esslinger Studien 24 (1985), S. 1210. Zu ergänzen durch Arbeiten von Knut Schulz, Handwerkerwanderungen und Neubürger im Spätmittelalter, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), Berlin 2002, S. 445–477, insbesondere S. 463–472. 50 Nikitsch, Dreytwein. Aufbauend auf Heinrich Schmidt, Die Deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter, Göttingen 1958. Nikitsch nutzt den Ansatz von Schmidt unter Beachtung der Kritik, die sich an diesem entzündete. Nikitsch, Dreytwein, S. 9; siehe auch Schmidts Antwort auf die kritischen Stimmen: Heinrich Schmidt, Bürgerliches Selbstverständnis und städtische Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter. Eine Erinnerung, in: Peter Johanek (Hg.), Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 1–17. 51 Nikitsch, Dreytwein, S. 9f. Klaus Graf nutzte ebenfalls alle drei Chroniken, besonders aber die beiden Reimchroniken in seiner Arbeit zu Thomas Lirer. Klaus Graf, Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers „Schwäbische Chronik“ und die „Gmünder Kaiserchronik“, München 1987. 52 Nikitsch ordnet diese Reimchronik aufgrund paläografischer und inhaltlicher Merkmale zurecht Dreytwein zu, liefert eine umfangreiche Untersuchung und eine Edition. Nikitsch, Dreytwein, S. 31–75. Ein Digitalisat des erhaltenen Autographs ist einsehbar: Franziskaner Reimchronik, Staatsarchiv Ludwigsburg, B 169 U 575; https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/bild_zoom/zoom.php [Stand: 22.01.2018]. 53 Die gereimte Bearbeitung der Schwäbischen Chronik von Thomas Lirer (gedruckt 1485/86) liegt unter dem Titel Carmen rhythmicum germanicum in laudem domus Wirttembergensis und dem Verfassernamen Dionysius Treutwein sive Dreytwein in Wien (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 9109). Auch diese Zuordnung kann aufgrund der Namensnennung des Verfassers, der topografischen Nähe des Themas sowie der Herkunft der Handschrift und der paläografischen Untersuchung als sicher gelten. Nikitsch, Dreytwein, S. 76–103. 54 Zur Einführung kaiserlicher Reformen, den innerstädtischen Auseinandersetzungen und der engen Verflechtung mit den konfessionellen Unruhen siehe grundlegend: Eberhard Naujoks, Obrigkeitsgedanke, Zunftverfassung und Reformation. Studien zur Verfassungsgeschichte von Ulm, Esslingen und Schwäbisch-Gmünd, Stuttgart/Esslingen 1958, S. 135–153, auch im Folgenden. 48
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keiten um die Verfassung hörten damit nicht auf, zwischenzeitlich wurde der alte Rat restituiert und erneut abgesetzt. Die Stimmung in der Esslinger Bürgerschaft – es kam zu Denunziationen und Verhaftungen – war angespannt. Die Esslingische Chronik hat kein weltchronistisches Schema, allerdings begann auch Dreytwein mit einer Anspielung auf die Schöpfung.55 Dreytweins Einträge besitzen weder historische Tiefe noch einen Fluchtpunkt, es handelt sich mit wenigen Ausnahmen um Gegenwartschronistik, die selten über seine Lebensspanne hinausgeht.56 Die beiden Reimchroniken – als Stiftschronik und Fürstenchronik – haben eine historische Tiefe und ein ordnendes Konzept. Die Esslingische Chronik gibt wenig Persönliches über den Verfasser preis, der allerdings vergleichsweise oft im städtischen Verwaltungsschrifttum zu finden ist.57 Dreytwein wurde um 1500 geboren58 und starb über 70-jährig am 21.01.1576. Ähnlich wie Fischer thematisierte Dreytwein weder seine schulische Ausbildung noch seine Lehre, er nannte auch nicht seinen ‚Beruf‘. Allerdings betonte er in einem kleineren Inserat mit der Überschrift Dionissius Dreyttwein von seinem wandernn seine Reisen.59 Er verließ nach eigener Angabe kurz nach dem Tode seines Vaters mit wenig Geld Esslingen und verbrachte drei Jahre in Markgröningen. Die Versuchung liegt nahe zu folgern, Dionysius hätte in Markgröningen eine dreijährige Ausbildung absolviert.60 Eine große Reise schloss sich an, in die Schweiz, ins Elsass, am Rhein entlang, nach Frankfurt, Freiburg und Nürnberg. Ob Dionysius – wie er schrieb – zwölf Jahre unterwegs war, muss offenbleiben. Die Jahreszahlen, die er innerhalb seiner Chronik angab, wiedersprechen sich und lassen sich nicht zu einem
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Fol. 1v–2r gibt den Text von Joh 1, 1–14 wieder. Ausnahmen: Eintrag über das Herkommen der Grafen von Württemberg (bis 1450; Esslingische Chronik, fol. 52r–55r), eine Liste der Gefallenen in der Schlacht von Reutlingen (1374; fol. 55r–56r), die Entstehung des Esslinger Predigerklosters (1221; fol. 70r) und eine Liste mit Ereignissen aus dem 15. Jahrhundert (fol. 194v). 57 Nikitsch hat alle verfügbaren Informationen zusammengetragen: Nikitsch, Dreytwein, S. 11–30 mit genealogischen Tafeln. 58 Das Geburtsdatum lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren (siehe Adolf Diehl, Einleitung, in: Dionysius Dreytwein, Esslingische Chronik (1548–1564), hg. v. dems., Tübingen 1901, S. V–XXI, hier: S. VI; Nikitsch, Dreytwein, S. 11 und die dortige Diskussion). 59 Erstlich als mein lieber vatter sselig starb Jos Dreyttwein, bin ich hinweg zagenn genn Greiningenn und 56
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hab nit me dan 4 ß gehabt, da bin ich 3 jar gewessen. Darnoch au͑ ff Strassbu͑ rg, darnach auff Kolmar, van Kollmar auff Bassell, van Basell auff Ssollittu͑ r. Darnach au͑ ff Mentz und Pingenn, Fra(n)ckfu͑ rtt, darnoch wider au͑ ff Preyssach, Freÿbu͑ rg, Kru͑ tzing, das ich alsso bin heru͑ mgezogenn ee ich bin haÿm kamenn, wall in die zwelff jar, darnoch bin ich inhin weg zagenn ins Bechamer land auff Nyr(n)berg zu͑ , darnach im 29 jar fÿr Weinn, darnoch in die Schlissÿ, au͑ ss der Schlessÿ auff Kossenn, und darnach in die Marktt, darnach in Bamern, au͑ ss Bomer in die Marck und in Meÿxenn, au͑ ss Meÿxenn in Beÿerland und darnach wider haÿm. It[em] Wan ich ssoltt alle stett erzellenn, ich hett wall ein bu͑ ch darzu͑ bederft, es mag wall geschehen (Esslingische Chronik, fol. 188v). Dreytwein ergänzte in einer Randmarginalie weitere Stationen seiner Reisen: Osterland, Mererland, Schlissy, Paln, Massu͑ r, Thiringe[n], Bomer, Mark, Mey͑ xen, Markgraffschaft ze, Schwetzerland, Elsses, Reinstarm, Bey͑ er.
Nikitsch vermutet, dass Dreytwein in dieser Zeit seine Ausbildung zum Kürschner absolvierte. Nikitsch, Dreytwein, S. 12f.
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lückenlosen und chronologisch stimmigen Lebenslauf zusammenbringen.61 Nach einer Unterbrechung der Reise in Esslingen führte ihn sein Weg nach Heidelberg und in den europäischen Osten.62 1534 heiratete Dreytwein Karttreina Wolffin vonn Kannstatt (13r) und ließ sich als Handwerksmeister in Esslingen nieder.63 Das Ehepaar hatte zwölf Kinder, von denen bis 1544 sechs als Säuglinge bzw. Kleinkinder verstarben (13r, 189v, 194r). Dionysius Dreytwein war ein städtischer Bürger und als verheirateter Handwerksmeister so gut situiert, dass er Lehrlinge und Gesellen in seinem Haus beherbergen konnte.64 Er hatte allerdings immer wieder Probleme in Esslingen. Er trat mehrfach in Rechtsstreitigkeit vor den Esslinger Rat – sowohl als Kläger als auch als Angeklagter.65 Des Weiteren fühlte er sich vom ‚Hasenrat‘ schlecht behandelt, der ihn 1555 zum Torschließer bestellte, ein städtisches Amt,66 das er nicht ablehnen konnte und als schmachvoll empfand.67 In den 1560er/70er Jahren wurde Dreytwein zum Vormund verwaister Kinder und als Pfleger einer Almosenstiftung für Aussätzige bestellt.68 Die einstmals angesehene Zunftmeister- und Ratsfamilie69 war in Dionysius Generation von sozialem Abstieg bedroht; die politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten hatte sie bereits eingebüßt. Dreytwein schrieb in einer bewegten Zeit und dokumentierte den gesellschaftlichen und politischen Wandel.70 Aus eigenem Erleben heraus konnte er einige große Ereignisse seiner Zeit beschreiben: Er erlebte die Auswirkung des Bauernkriegs und den Beginn der konfessionellen Unruhen in Straßburg (nach 1525; 3r–3v) und die Türkische Belagerung in Wien (1529; 11v–12v). Zudem spürte er die Auswirkungen des politischen Wandels und der Einführung des Interims in Esslingen (1540er und 1550er Jahre; 22r, 72v–73r) am eigenen Leibe. 61
Schulz, Handwerkerwanderungen, S. 468f.; Nikitisch, Dreytwein, S. 11–14. Nikitsch, Dreytwein, S. 13f. und Schulz, Handwerkerwanderungen, S. 468–70 und S. 465, Abb. 5 (Karte mit den Stationen). 63 Er führt eine Liste Meine gesellenn, die ich hab gehabtt weill ich hauss han gehalttenn, die mir woll bekannt sinnd gewessenn (189v; siehe auch Schulz, Handwerkerwanderung, S. 472, Abb. 6, der die Angaben in einer Karte veranschaulicht). 64 Er führte ein Familienwappen, das er in die „Wiener Reimchronik“ zeichnete, siehe Nikitsch, Dreytwein, S. 177, Abb. 4 und Auswertung auf S. 19f. 65 Ebd., S. 15f. 1546 muss Bernhard Dreytwein vor dem Rat der Stadt Esslingen umb erledigung der gefengnus seines bruders Dionysin bitten. Zitat nach Nikitsch, Dreytwein, S. 15, aus den Ratsprotokollen der Stadt Esslingen. 66 Dieses Amt, wohl vergleichbar mit einem Torwächter, ist nach Eberhard Isenmann zu den „subalternen Dienstämter“ zu rechnen und in den Bereich Verteidigung und Militärwesen einzuordnen. Es handelt sich in der Regel um ein Dienstamt mit vergleichsweise geringer Geld- und/ oder Naturalentlohnung. Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln ²2014, S. 432f. Das Deutsche Rechtswörterbuch führt unter dem Lemma „Schließer“ als Synonym „Torwächter“ auf und betont, dass „Schließer“ zu den unehrlichen Leuten gerechnet werden konnten, was Dreytweins Unmut erklären würde. 67 Im selben jar macht mich der hasenratt zu einem thorschlieser, was dancks sie von mir wartten sind, sollen sie mitt mir nitt theillen, mich duncktt, das mir groser schmach nie seye zugemesen worden, wan auff dieselbenn zeitt. Wils gott bevollen hann (Esslingische Chronik, fol. 107r). 68 Nikitsch, Dreytwein, S. 16f. 69 Dionysius hob seinen Großvater Bernhard Dreytwein, der Zunftmeister und Ratsherr gewesen war, besonders hervor (Esslingische Chronik, fol. 189r). 70 Siehe auch Diehl, Einleitung, S. VI–VIII, der zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt. 62
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Abb. 6: Dreytweins Autograph mit Ergänzungen verschiedener Hände Quelle: Esslingische Chronik, fol. 66r
Abb. 7: Ein Topf für eine Lotterie, gezeichnet von Dionysius Dreytwein Quelle: Esslingische Chronik, fol. 98v
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Abb. 8: Wunderkorn, gezeichnet von Dionysius Dreytwein Quelle: Esslingische Chronik, fol. 99r
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Abb. 9: Unterschiedliches Layout in Dreytweins Chronik Quelle: Esslingische Chronik, fol. 103v
Abb. 10: Dreytweins Gesellenliste mit unterschiedlichen Schreibphasen Quelle: Esslingische Chronik, fol. 190r
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2.1. Kodikologische Untersuchung der Esslingischen Chronik Das Autograph der Esslingischen Chronik71 besteht aus 194 beidseitig beschriebenen Blättern aus kräftigem Papier unterschiedlicher Größe (im Mittel ca. 19 cm x 28,5 cm). Der Textverlust (siehe Abb. 7 und 9) – wohl bedingt durch Mäusefraß – in der oberen äußeren Ecke betrifft fol. 1 bis einschließlich fol. 119 und konnte fast vollständig durch den Editor rekonstruiert werden. In der Lage, auf die das ‚Register‘ geschrieben wurde, fehlt ein rechteckiges Stück der inneren oberen Ecke mit Textverlust.72 Dreytwein schrieb in deutscher Sprache, an wenigen Stellen mit lateinischen Phrasen (meist Anbetungsformeln wie Laus deo (2r, 73r, 194r). Seine Handschrift wirkt geübt und ist vergleichsweise gut lesbar, erreicht allerdings nicht Sebastian Fischers Qualität. Zudem wandelt sich der Schriftduktus innerhalb der Handschrift stark, gegen Ende hin wird die Schrift kursiver und wirkt dadurch flüchtiger. Der vorliegende grüne Pappeinband stammt aus dem 19. Jahrhundert.73 Im 16. Jahrhundert kamen graue Vorsatzblätter (jeweils zwei vorne und hinten) hinzu, auf dem ersten findet sich verso als Tuschezeichnung das Brustbild eines bärtigen Mannes mit Kopfbedeckung. Die Bildunterschrift aus dem 16. Jahrhundert lautet: Bildtnǔss, Dionÿnissii Drey̎tẃeinns, gewesster Bũrger únd Thor = Schreiber in Esslingen 1585.74 Mit Ausnahme dieser später eingebrachten Vorsatzblätter sind augenscheinlich keine Zugaben in die Handschrift eingebunden worden. Es sind mehrere Zeichnungen aus Dreytweins Hand zu finden (siehe Abb. 7 und 8), die nicht die Genauigkeit und Qualität derjenigen Fischers besitzen.75 Seine Künste als Zeichner bewies Dreytwein jedoch in der von ihm illuminierten „Wiener Reimchronik“.76 Er kann in diesen Arbeiten mit Fischer verglichen werden und schloss wohl an die Fähigkeiten seines Großvaters an, der ein kÿnstler gewesenn ein schÿner reissner und ein luttenist (188v) gewesen sei.
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Die Handschriftenbeschreibung bezieht auch die Ergebnisse von Diehl, Einleitung, S. XIXf. und Nikitsch, Dreytwein, S. 107, mit ein, die von mir am Original geprüft, korrigiert und ergänzt wurden. 72 Der Vollständigkeit halber sei noch auf Wurmfraß ohne Textverlust ab fol. 137 unten innen hingewiesen. Fol. 16 fehlt die äußere Ecke ohne Textverlust. 73 Niktisch vermutet, dass die Handschrift vorher ungebunden vorlag, da die erste Seite deutliche Nutzungsspuren aufweist und augenscheinlich verschmutzt und abgenutzt wirkt. 74 Siehe auch Nikitsch, Dreytwein, S. 175, Abb. 1. hier fälschlicherweise 1v genannt. Es handelt sich allerdings um ein Vorsatzblatt. Die Zuordnung ‚Torschreiber‘ ist falsch, er war Torschließer. Unklar ist der Bezug der Jahreszahl 1585. Diehls Vermutung, dass sich dahinter das Todesjahr von Dreytwein verbirgt, konnte Nikitsch widerlegen, der wiederum vorschlägt, darin das Entstehungsjahr der Zeichnung zu sehen. Vgl. Diehl, Einleitung, S. VIII und Nikitsch, Dreytwein, S. 107. 75 Esslingische Chronik, fol. 64r, 98v, 99r, 108r–v und 115r. 76 Siehe Nikitsch, Dreytwein, S. 99 und S. 177–182, Abb. 4–18.
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Dreytwein hing seiner Chronik ebenfalls ein – wie er es nannte – Register (191r–193v) an, was in diesem Fall besser als Inhaltsverzeichnis angesprochen werden sollte. Es eignet sich im Gegensatz zu Fischers Register nicht für einen Schnellzugriff auf den Inhalt der Chronik, außer der Nutzer wusste bereits, an welcher Stelle der Chronik das entsprechende Inserat zu suchen war. Der größte Teil der Einträge wurde mit einer braunschwarzen bzw. dunkelbraunen Tinte angefertigt (siehe Abb. 6, 7 und 8), es gibt allerdings immer wieder Passagen, die mit einer anderen, zum ausbleichen neigenden schwarzen oder mit brauner oder roter Tinte geschrieben wurden. Auffallend sind die unterschiedlichen Stärken der Federn. Die Einträge sind in der Regel durch Absätze strukturiert und mit Überschriften, die teilweise nachgetragen wurden, versehen. Hin und wieder finden sich interne Verweise, wie: wie ir dan zu͑ vor in disem bu͑ ch woll gehert habenn (97v; Rand) oder wie du als der leser in meinem schreiben zu͑ vor bericht bist worden (110v), die aber im Vergleich zu den Verweisen in der Ulmer Chronik eher ungelenk wirken.77 Der paläografische Befund zeigt, dass Dreytwein selbst seine Chronik mit arabischen Ziffern von Blatt 1 bis 21 foliierte, dann ging er über zu einer Paginierung. Auf diese inkonsistente Nummerierung bezog er sich in seinem Inhaltsverzeichnis. Es wurde nachträglich eine durchgängige Blattzählung mit arabischen Ordinalzahlen durchgeführt (nach der Ausbesserung der Blätter),78 auf die sich die Edition stützt und nach der ich auch zitiere. Lässt man das Bibelzitat mit Bezug zur Schöpfung (Joh 1, 1–14 auf fol. 1v–2r) außer Acht, ist das älteste genannte Datum 1221 (Gründung des Esslinger Predigerklosters; 70r); der jüngste Eintrag, datiert auf den 25.07.1564 (Eid auf den ‚Hasenrat‘; 187r). Dieser ist auch der einzige für das gesamte Jahr 1564. Die kontinuierliche Fortschreibung brach also im Juni 1563 ab. Dicht überliefert sind die Jahre von 1548/49 bis 1562/63.79 Die Chronik endete abrupt auf 188r (Eintrag zum 25.06.1563). Auf 188v beginnt der Anhang (Familiengeschichte [188v-189r], Gesellenliste [189v–190v], Inhaltsverzeichnis [191r–193v], Nachträge zur Familiengeschichte [194r], Liste mit Geschehnissen des 15. Jahrhunderts [194v]). Diese Anlage – nach 188r war mitten
77
Lediglich am Ende der Chronik ist zu lesen: als ich dan zu͑ vor au͑ ch geschreiben hab von dem heren
78
und bischoff von Gwisa ein hertzog zu͑ Lutring finstu͑ am 311 blat, au͑ ch am 321 blatt von seiner thiranney (fol. 187v).
Die Vorsatzblätter und fol. 1–8 wurden vor der nachträglichen systematischen Foliierung, auf die sich die Edition bezieht, ausgebessert. So lautet der Terminus ante quem für Ausbesserung und Foliierung das Jahr der Edition 1901. 79 Dagegen geht Nikitsch von einer Abfassungszeit von 1562 bis 1564 aus. Seine Beobachtung, dass die Gegenwartsberichte in diesen Jahren dichter seien und weniger chronologische Brüche aufweisen würden, kann ich nach einer Auszählung der Einträge nicht bestätigen (siehe Anhang, Tabelle 1). Auch das gleichmäßige Lagenschema widerspricht der Annahme, Dreytwein habe die früheren Jahre aus selbstständigen Notizen zusammengebunden. 236 von 310 Einträgen fallen in die Jahre 1548 bis 1563, wobei die meisten auf die Jahre 1552 und 1533 kommen (jeweils 23 Stück). Eine Anomalie stellt das Jahr 1561 dar, für das nur vier Einträge gemacht worden sind.
156
Julia Bruch
in Lage 24 für weitere Einträge kein Platz80 – und das jähe Abbrechen der Einträge erlauben Spekulationen über einen für uns heute verlorenen zweiten Teil der Esslingischen Chronik. Dreytweins geübte Schrift und der Entstehungszeitraum deuten darauf hin, dass er auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen konnte. Zudem weisen die in den 1540er Jahren begonnenen Aufzeichnungen zu seiner Familie (188v) auf eine Affinität zum Schreiben hin. Er dürfte, bevor er seine Chronik begann, Erfahrung im Schreiben und Ordnen von Informationen gehabt haben. Seine in der Esslingischen Chronik gewonnenen Kompetenzen nutzte Dreytwein jedenfalls für seine beiden Reimchroniken in den Folgejahren.81 Die Beschreibung seiner eigenen Gegenwart dominiert Dreytweins Text (89,4%),82 Aufzeichnungen zu seiner Familie (1,3 %), zu seinen Gesellen (0,8 %) sowie Vergangenheits- (2,3 %) und Zeitgeschichtsschreibung (4,1 %) spielen eine deutlich geringere Rolle.83 Dennoch ist Dreytweins Chronik wie Fischers Chronik auch ein hybrider Text, dessen Zusammensetzung Fragen aufwirft und eine Analyse des Entstehungsprozesses und der Arbeitsweise des Schreibers als lohnenswert erscheinen lässt. Beides ist weniger komplex als im Ulmer Beispiel. Der Text wurde, mit Ausnahme des Anhangs,84 kontinuierlich geschrieben, und Dreytwein ließ keinen Platz für Nachträge – so wird seine chronologische Ordnung immer wieder durchbrochen, wenn er später erhaltene Informationen zu früheren Jahren als notierenswert erachtete und nachtrug. Der oben beschriebene paläografische Befund zeigt, dass die Handschrift in einem stetigen, langwierigen, aber linearen Prozess entstanden ist, der durchbrochen wurde, wenn es darum ging, Korrekturen vorzunehmen oder durch nachträgliche Überschriften Ordnung zu schaffen. Dreytwein schrieb ohne Vorausplanung, obwohl er selbst erkannte, dass Vorgänge noch nicht abgeschlossen waren oder dass er Informationen noch nicht kannte.85 Er ließ keinen Raum für Nachträge.86 Das Verhältnis zwischen Textblock und Steg ist vergleichsweise konstant.87 Die häufigen Layoutwechsel deuten darauf hin, dass Dreytwein immer neue Möglichkeiten ausprobierte, den Text zu strukturieren. Seine eigenen Ordnungsstrategien und Orientierungshilfen innerhalb des Textes sind für Leser nicht sehr nützlich. Neben dem 80
Die Einträge auf fol. 188v wurden vor 188r, wahrscheinlich sogar bevor Dreytwein umfangreichere Aufzeichnungen begann, in den 1540er Jahren niedergeschrieben (so auch Nikitsch, Dreytwein, S. 18f. und S. 108). 81 Nikitsch, Dreytwein, S. 16f. 82 Meine statistische Auswertung setzt die beschriebenen Seiten zu den einzelnen Themengebieten in Bezug zur Anzahl der insgesamt beschriebenen Seiten. 83 Prolog: 0,5% und Register: 1,5%. 84 Mitten in Lage 24 (188v) begann Dreytwein Aufzeichnungen zu seiner Familie (wohl bereits in den 1540er Jahren). Diese Einträge begrenzten den Platz der Chronik von Anfang an. 85 Etwa: wa sie sind hinzogen, habe ich nitt gewist, zu der zeitt ichs geschriebenn hab (fol. 124v). 86 Ausnahme: Nachtrag von seiner Hand in Abb. 6. 87 Anfangs außen: ca. 3–3,5 cm, unten: 2,2–2,5, oben: 3 cm, innen fast nicht vorhanden. Die Verso-Seiten sind etwas unregelmäßiger, vor allem der Außensteg. Dieser schwankt zwischen 2,5 (4v) und 4 cm (1v). Ab Lage 5 ist das Layout großzügiger gestaltet: Außensteg: 4 cm. Die Zeilenanzahl schwankt stark (25 bis 35 Zeilen).
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bereits angesprochenen Inhaltsverzeichnis versuchte es Dreytwein mit abgesetzten Überschriften, die er zum Teil in roter Tinte nachtrug. Das Inhaltsverzeichnis – auch das zeigt der paläografische Befund – begann er während des Schreibprozesses und nicht am Anfang, er führte es dann allerdings eine Zeit lang parallel.88 Als Glücksfall für die Untersuchung des Schreibprozesses stellt sich die Gesellenliste (189r–190v) heraus (siehe Abb. 10). Diese führte Dreytwein fortlaufend, und die meisten Tintenwechsel und Veränderungen im Schreibduktus sind auch dort zu finden.89 Dreytweins Chronik weist ein äußerst regelmäßiges Lagenschema90 – bestehend aus 25 Quaternio-Bögen – auf; lediglich an drei Stellen fehlen Blätter. Die fehlende Seite in der Mitte bringt keinen Textverlust mit sich. Fehlende Blätter am Anfang und Ende einer Handschrift sind nicht ungewöhnlich, am Anfang deutet nichts darauf hin, dass etwas verloren gegangen ist – im Gegenteil, die starke Verschmutzung von 1r lässt eher vermuten, dass diese Seite lange ohne Schutz der Umwelt ausgeliefert war. Diese Nutzungsspuren fehlen auf der letzten Seite. Dieser Befund deutet darauf hin, dass am Ende der Handschrift Blätter entfallen sind. Durch inhaltliche Erwägungen – die Liste von Ereignissen aus dem 15. Jahrhundert bricht unvermittelt mit einem Eintrag zum Jahr 1496 ab (194v) – kann diese Deutung gestützt werden. Dreytwein nutzte vergleichsweise wenige Vorlagen, auf die er nur ab und an verwies. Er hatte allerdings eine genaue Vorstellung davon, wie verschiedene Textarten in einem Manuskript auszusehen hatten: Eine Gefallenenliste und Gedichte rückt er beidseitig ein,91 Nahrungsmittelpreise gab er oft in Tabellenform an (siehe Abb. 9). Dreytwein schrieb allgemein zugängliches Wissen, Informationen und Neuigkeiten tagebuchartig auf, verließ sich dabei vor allem auf seine eigene Anschauung, auf Hörensagen, auf offizielle Verlautbarungen und auf aktuelle Druckpublizistik. Er rahmte diese Einträge mit Gebeten und Zeitklagen ein, zudem beklagte er fortlaufend die Unterdrückung durch die Obrigkeit. Dreytwein schrieb Dinge auf, sobald er sie selbst erfahren hatte; hierin liegt die Logik hinter seiner Chronologie, die zu Doppelungen führte und für den Leser auf den ersten Blick unlogisch erscheint.92 Dreytweins Interessenschwerpunkte waren tagespolitische Ereignisse in Esslingen und Württemberg, aber auch übergreifende kriegerische Auseinandersetzungen (Bauernkrieg, konfessionelle Unruhen, Türkenkriege), umherwandelnde Söldner, spektakuläre Verbrechen und Hinrichtungen, Wundererscheinungen, Kurioses, aber auch konfessionelle und religiöse Fragen. Er reflektierte seine Arbeitsweise nicht, in seinem durchaus topischen Prolog kann man allerdings den Zweck seines Schreibens nachlesen:
88
Der häufige Wechsel der Tinte und des Schreibduktus ist auch für die Gesellenliste charakteristisch (siehe Abb. 10). 89 Meine detaillierte Analyse kann demnächst in meiner Habilitationsschrift nachgelesen werden. 90 Siehe Anhang. 91 Fol. 32v–33r oder 55r v. 92 Siehe auch Diehl, Einleitung, S. XIV.
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Julia Bruch
Us nottu͑ rft meins verstands oder gu͑ tt bedu͑ ncken wyrd ich veru͑ rsach der schwerenn und seltzamenn leuff, dy ietz umschwebentt bey meinenn zeÿtten, des ich verzeῐ͑chenenn will, nÿtt vonn wegen mein au͑ ch me wÿrd, veru͑ rsach anderer martyallichenn menschen, die disse geschicht und auffschreybenn lessenn werden, das inn ir sorg ettwas dester ringer möchte werdenn, wa seÿch krÿg tÿrung oder sterbentt leüff zu͑ ttrÿg, das man möchte im tröst oder hoffnu͑ ng enphachenn, das manchem sein sorg dester ringer möchte werden. Widerum gedennck, wan sollichs komen wÿrtt, bedracht es mÿtt grossenn sorgenn und versacht es nÿtt und gedennck ann denn warenn gott, das er sollichs schick zu besserung deynnes lebenns (1r).
Er reihte sein Buch zu denjenigen Chroniken, die den Leser belehren möchten und zugleich Trost spenden.93 Die Möglichkeiten, in einem Buch Informationen zu bewahren, spielten nach dieser Lesart für Dreytwein eine untergeordnete Rolle.
3. Fazit Die Beweggründe zur Abfassung der Chroniken waren bei Dreytwein und bei Fischer ähnlich: Beide dokumentierten den politischen, religiösen und sozialen Wandel, hatten Interesse an Geschichte(n), besaßen die Fähigkeit gut zu schreiben, zu konzipieren und zu zeichnen. Sie wussten, wie Chroniken auszusehen hatten. Beide sahen ihre Familie von sozialem Abstieg bedroht und hatten bereits den Bedeutungsverlust ihrer politischen Vertreter hinnehmen müssen. Das Selbstbewusstsein der beiden Handwerksmeister war dagegen so groß, dass sie sich in der Lage sahen, Informationen für zukünftige Leser zu beschaffen, bereitzustellen, zu bewahren, zu verarbeiten, zu bewerten und zu kommentieren. Bei Fischer lag der Schwerpunkt auf der Bewahrung und Vermittlung von Wissen, bei Dreytwein auf der Möglichkeit, durch Geschichteschreiben den Lesern Trost zu spenden und sie zu einem guten, gottgefälligen wie demütigen Leben anzuregen. Der Sammelschwerpunkt der Informationen oblag den Chronisten. Der Informationsradius beider Schreiber war prinzipiell auf das eigene Umfeld begrenzt, konnte allerdings durch Reisen und Reisende sowie durch Druckschriften erweitert werden. Im Druck verfügbare Chroniken erschließen beispielsweise andere, für den Chronisten interessante Räume, so etwa die Eidgenossenschaft bei Fischer. Beide Chronisten waren in tagespolitischen Dingen auf öffentliche Verlautbarungen und Gerüchte angewiesen, Zugang zu den Führungskreisen ihrer Stadt hatten sie nicht (mehr). Sie interessierten sich für die konfessionellen Streitigkeiten und rangen mit den verschiedenen religiösen Ansichten.
93
Nikitsch sieht darin ein „religiös-pädagogisches Anliegen“, das nach Ursula Moraw typisch für die Gegenwartschronistik des 16. Jahrhunderts gewesen war. Nikitsch, Dreytwein, S. 115; Ursula Moraw, Die Gegenwartschronistik in Deutschland im 15. und 16. Jahrhunderts, Heidelberg 1966.
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Die Kombination von materialwissenschaftlicher Analyse mit (literatur-)historischer Untersuchung und der historische Vergleich der beiden Chroniken erwies sich als gewinnbringend. Das untersuchte Material zeigt, dass der Entstehungsprozess vormoderner Chroniken erheblich variieren konnte und daraus folgt, dass jedes Buch gesondert untersucht werden muss. Vom linearen Schreibprozess (Esslingische Chronik) bis zur vorausplanenden Anlage (Ulmer Chronik) sind viele Möglichkeiten denkbar. Editionen94 können allerdings allein durch ihre Anlage einen linearen Prozess der Buchproduktion suggerieren und den Blick auf Alternativen verstellen. Anhand des handschriftlichen Befundes konnte zudem gezeigt werden, dass die Bücher oft während des Schreibprozesses in ihrer Anlage verändert wurden; neue Ordnungsstrategien wurden beispielsweise ausprobiert und wieder verworfen. Auch diesen Betrachtungen sind bei vielen gängigen Editionen eine Grenze gesetzt.95 Überschriften werden dort vielleicht ausgewiesen, aber wie waren diese im Original gestaltet? Wurden sie nachgetragen oder hervorgehoben oder etwa von den Editoren im Nachhinein hinzugefügt? Der Entstehungsprozess war grundsätzlich offen, in bereits geschriebene Passagen konnte ordnend, korrigierend, ergänzend eingegriffen werden, auch wenn eine Bindung bereits einen vorläufigen Abschluss geschaffen hatte. Manche Schreiber waren in der Lage, vorausschauend zu schreiben und eine nicht-lineare Arbeitsweise durchzuhalten. Die Frage nach Ordnungsprinzipien und der Nutzbarmachung von Daten war bereits im 16. Jahrhundert aktuell. Der Vergleich der beiden Chroniken zeigt, dass es unterschiedliche Strategien gab. Für die Chronisten des 16. Jahrhunderts gehörten offenbar ein ‚Register‘ – in unterschiedlicher Gestalt – ganz selbstverständlich dazu. Beide Chroniken sind gelesen und genutzt worden; die Abnutzungsspuren sind eine eigene Auswertung wert und wurden hier ausgeklammert. Sie zeigen, dass spätere Leser die Chroniken gebrauchten, sie weiterschrieben (Ulmer Chronik), mit Ordnungssystemen versahen (Esslingische Chronik) und abschrieben (beide). Die beiden Handwerker treten als Schreiber des 16. Jahrhunderts hervor und die von ihnen geschaffenen Dinge (Bücher) können von der Perspektive der Schriftlichkeit her, aber auch mit einem Blick auf das Materielle und auf den Entstehungsprozess ausgewertet werden. Die Integration des materiellen Befundes in die historische Forschung bringt bei den vorliegenden Beispielen ein tieferes Verständnis dafür, wie Chroniken geschrieben wurden, welche Ordnungsmechanismen und Sammellogiken hinter dem fertigen Ding stehen. So wird unser Verständnis der Gattung ‚städtischer Chronik‘ vertieft und erlaubt womöglich nach weiteren vergleichenden Arbeiten eine neue Definition dieser Gattung.
94
Auf die Probleme der ‚Städtechroniken’ hat unter anderem Carla Meyer, Zur Edition der Nürnberger Chroniken in den „Chroniken der deutschen Städte“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 97 (2010), S. 1–29, hingewiesen. 95 Hier ist die Edition der Esslingischen Chronik besonders defizitär, die Edition der Ulmer Chronik hingegen verweist in der Regel auf solche Gestaltungsmerkmale.
4. Anhang Das Lagenschema der Ulmer Chronik96 Register:97 IV8(=R9)+(IV-4)12(=R13)+(IV-1)19(=R20)+(IV-1)26(=R27) Haupttext:98 Druck50(=24)+2xII58(=34)+(II-2)60(=36)+2xII68(=48)+(II-1)71(=51)+6xII95(=78)+(II-2)97(=82)+ 6xII221(=106)+(IV-4)225(=110)+20xII205(=193)+2xIV221(=207)+11xII255(=250)+Druck275(=258) +II279(=262)+III285(=268)+5xII293(=339)+7xIV348(=395)+(IV-1)355(=402)+(IV-4)359(=407)+ (IV-3)364(=419)+4xIV407(=451)
Esslingische Chronik Lagenschema: (IV-1)7+14xIV119+(IV-1)126+8xIV190+(IV-4)194 Tabelle 1: Die Verteilung der Einträge auf die Jahre
96
Jahr
Einträge
1531
2
1546
8
1555
13
o. J.
17
1534
1
1547
4
1556
16
1517
2
1535
1
1548
14
1557
11
1518
1
1536
1
1549
12
1558
14
1519
3
1540
2
1550
12
1559
18
1522
1
1541
7
1551
18
1560
19
1525
8
1543
1
1552
23
1561
4
1528
2
1544
6
1553
23
1562
17
1529
5
1545
1
1554
13
1563
9
1564
1
Das Schema folgt der Formel von Anton Chroust, wobei die tatsächliche Blattzahl des Codex hochgestellt wurde und die Foliierung als Orientierungshilfe tiefgestellt wurde. 97 Die Nummerierung des Registers stammte nicht von Fischer selbst, sondern von einem Nutzer, der die Seiten mit Bleistift foliierte. Die Nummer R1 gab er einem Vorsatzblatt. Vor das Register sind drei Vorsatzblätter, die jünger als die von Fischer beschriebenen Blätter, aber älter als der Einband von 1977 sind (Vorsatzblatt 2 trägt den Stempel BIBLIOTHECA REGIA MONACENSIS), gebunden worden. Ebenso sind drei Vorsatzblätter am Ende des Codex’ zeitgleich zu den vorderen eingebunden (fol. 352r trägt ebenfalls den Stempel der Münchner Hofbibliothek). 98 Fol. 1–27 wie 251–258 sind zwei eingebundene Drucke, die im Schema nicht mitbestimmt und durch die wiederholten Neubindungen in ihrer ursprünglichen Anlage zerstört wurden. Die Blattnummern 104, 203, 205 und 206 sind doppelt, die Nummern 24+25, 37–40, 52, 80–81, 101, 285–335, 403 und 408–414 fehlen.
SCHÄTZE AUF ERDEN, DAS JENSEITS IM BLICK – STÄDTISCHE GRUPPEN UND TEXTILE REPRÄSENTATION IM KIRCHENRAUM AM BEISPIEL DER MARIENKIRCHE ZU DANZIG Birgitt Borkopp-Restle
Historische Ansichten, wie wir sie zahlreich seit dem 16. Jahrhundert kennen, charakterisieren die Städte, die sie darstellen, vor allem durch die Gestalt und Abfolge ihrer Türme. Namentlich ihre Kirchtürme prägten das Bild einer Stadt und markierten im Wortsinn hervorragende Orte in ihrem Gefüge. Betrachter solcher Bilder konnten eine Stadt aufgrund ihrer Silhouette identifizieren. Als Angebote zur Identifikation wirkten Kirchtürme aber auch innerhalb einer Stadt: Für ihre Gemeindemitglieder waren die Pfarrkirchen, weit über die Gottesdienstzeiten hinaus, Orte der Zugehörigkeit. Soziale Bindungen und Jenseitsvorsorge gewannen hier gleichermaßen sichtbaren Ausdruck.
Abb. 1: Die Altstadt von Danzig mit der Marienkirche Quelle: Hansa-Luftbild, 1929, Bildarchiv des Herder-Instituts, Marburg
162
Birgitt Borkopp-Restle
1. Die Marienkirche zu Danzig und ihre Paramente
Die Marienkirche zu Danzig/Gdańsk bietet ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Beispiel für die Selbstdarstellung sozialer Gruppen im sakralen Raum: Bis heute überragt der mächtige Baukörper der städtischen Hauptpfarrkirche die umliegenden Gebäude. Im Mittelalter war dies der Ort, an dem Repräsentation und memoria der Stadtbürger in ihren diversen Gruppierungen Ausdruck fanden. Ab 1343 war ein erster Bau unweit des Hafens, dem die Stadt ihren Reichtum verdanken sollte, entstanden. Schon ab 1379 aber wurde die erste basilikale Anlage erheblich erweitert und zugleich erhöht. Wirtschaftlicher Erfolg des Handelshafens und Wachstum der Bevölkerung waren Hand in Hand gegangen; die Bürger – und damit sind wohlhabende Familien ebenso gemeint wie Bruderschaften, Gilden und Zünfte, in denen sie sich zusammengeschlossen hatten – verlangten nun nach Kapellen oder zumindest Altären, an denen Seelenmessen gelesen und Segnungen vollzogen werden konnten. Die erweiterte Kirche sollte dafür Räume bieten. Am Ende des 15. Jahrhunderts waren es schließlich 31 Kapellen, die den großen Innenraum umgaben, dazu kamen zahlreiche Altäre an den Pfeilern im Langhaus. Alle verlangten nach einer angemessenen Ausstattung mit Bildwerken, Kelchen und Ziborien, Messkännchen und Leuchtern und natürlich mit den liturgischen Gewändern und Altarparamenten, die zur Messfeier, zu Sakramentspenden und Prozessionen gebraucht wurden. Diese materielle Ausstattung sowie die Vikarien und Pfründen, die die regelmäßige Feier von Messen und Andachten gewährleisteten, verdankte sich den Stiftungen und Schenkungen stadtbürgerlicher Familien, Bruderschaften und Gilden.1 Schriftliche Quellen für solche Stiftungen und Schenkungen sind nur in einigen Fällen überliefert, und selten lässt sich eine Erwähnung mit einem erhaltenen Objekt in Verbindung bringen. In wenigen Paramenten gibt ein gesticktes Wappen einen Auftraggeber zu erkennen. Gleichwohl vermittelt der textile Schatz der Marienkirche – nach Umfang und Qualität einer der bedeutendsten, die sich aus dem Mittelalter erhalten haben – ein Bild von der Wohlhabenheit und den weitreichenden Verbindungen der städtischen Bürger.2 Eine besondere Rolle kam dabei zweifellos den Fernkaufleuten der Hanse zu, deren außerordentlicher Reichtum auch in den profanen Repräsentationsbauten der Stadt sichtbaren Ausdruck fand. Sie konnten nicht allein die Mittel für eine kostbare, mit reichem Bilderschmuck in qualitätvol1
Willi Drost, Die Marienkirche in Danzig und ihre Kunstschätze, Stuttgart 1963. Der Katalog von Walter Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz. Kirchliche Gewänder und Stickereien aus der Marienkirche, 4 Bde., Berlin 1931. Ergänzungsband 5 (1938), verzeichnete insgesamt 25 vollständige Chormäntel, 81 Kaseln und 18 Dalmatiken, dazu Stolen und Manipeln, aber auch Antependien, Korporalienkästchen, Sudarien etc. in großer Zahl; natürlich war der Bestand – wie dies auch ältere Inventare belegen – noch sehr viel umfangreicher. Die ältesten aus dem Danziger Schatz erhaltenen Textilien stammen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, den größten Teil der Paramente erwarb man im weiteren Verlaufe des 14. und 15. Jahrhunderts; nur sehr wenige Stücke wurden offenbar noch in nachreformatorischer Zeit hinzugefügt. Die historische Spanne entspricht damit weitgehend der Zeit, in der die Marienkirche ausgebaut und erweitert wurde, in der also die neuen Kapellen und Altäre auszustatten waren.
2
Städtische Gruppen und textile Repräsentation im Kirchenraum
163
ler Ausführung versehene Ausstattung bereitstellen. Die dazu verwendeten Materialien reflektierten auch ganz unmittelbar ihre Handelswege beziehungsweise die Herkunftsregionen der Waren, mit denen sie umgingen.3 Diese Materialien sollen deshalb im Folgenden untersucht werden.
Abb. 2: Dalmatika aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig, Seide: Zentralasien, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts (siehe FT 10, S. 127) Quelle: Foto von Walter Haberland
3
Thomas Schilp/Barbara Welzel (Hg.), Dortmund und die Hanse: Fernhandel und Kulturtransfer, Bielefeld 2012 mit mehreren Beiträgen zum Thema.
164
Birgitt Borkopp-Restle
1.1. Zentralasiatische Seidenstoffe Zu den bemerkenswertesten Objekten im Paramentenschatz der Danziger Marienkirche gehören die liturgischen Gewänder, die aus zentralasiatischen Seiden mit eingewebten arabischen Inschriften gefertigt sind. Neun solcher Gewänder – ein Chormantel, vier Kaseln und vier Dalmatiken – sind bis heute erhalten,4 und wir haben Grund zu der Annahme, dass die Ornate, zu denen sie gehörten, ursprünglich noch umfangreicher waren: Die genauere Untersuchung der Stoffe ließ erkennen, dass in ihnen sieben verschiedene Varianten eines Mustertyps vorliegen, von denen einige auch in Kombination miteinander verwendet wurden. Berechnet man auch nur für die hier aufgeführten Gewänder – in denen sich aufgrund der erhaltenen Webkanten die ursprüngliche Gewebebreite rekonstruieren lässt – die benötigten Stoffmengen, so ergibt sich, dass von jeder einzelnen Seide mindestens drei Meter, gelegentlich sogar deutlich mehr, nämlich mindestens fünf Meter zur Verfügung gestanden haben müssen.5 Es sei hier noch einmal deutlich hervorgehoben, dass nicht Gewänder als Importe nach Danzig oder in andere Hansestädte gelangten, sondern Seidengewebe – Meterware, wie wir heute sagen würden –, die erst am Ort ihrer Verwendung zugeschnitten und verarbeitet wurden. Für die zentralasiatischen Seidenstoffe lässt sich mit Grund annehmen, dass sie zunächst nicht für den Export produziert worden waren, sondern dem ostentativen Luxus und der Repräsentation eines mamlukischen Herrschers dienen sollten.6 Möglicherweise wurden sie zuerst als diplomatische Geschenke oder im Sinne einer Demonstration materieller und handwerklicher Leistungsfähigkeit in den überregionalen Handelsverkehr eingeführt; für das mittlere und nördliche Europa – und konkret: für die Fernkaufleute der Hanse – mussten sie
4
Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Kat.-Nrn. 3, 30–33 und 111–114, Taf. 5–7, 46–49 und 122–124. Von den hier aufgeführten Objekten werden zwei Kaseln und zwei Dalmatiken heute im Muzeum Narodowe w Gdańsku bewahrt, der Chormantel, zwei weitere Kaseln und zwei Dalmatiken im St. Annen-Museum in Lübeck. Zu den letzteren: Birgitt Borkopp-Restle, Der Schatz der Marienkirche zu Danzig. Liturgische Gewänder und textile Objekte aus dem Mittelalter, Affalterbach 2019, Kat.Nrn. M 3, 31, 32, 111 und 112. 5 Natürlich waren die Maßeinheiten ursprünglich andere; für die hier geführte Diskussion scheint es aber unerheblich, in welchen Maßeinheiten die Produzenten oder auch die Fernkaufleute rechneten beziehungsweise wie sie ihre Maßsysteme zur Deckung brachten. 6 Vgl. Thomas T. Allsen, Commodity and Exchange in the Mongol Empire. A Cultural History of Islamic Textiles (Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge 1997. Dabei stellten die im Danziger Schatz überlieferten Stoffe nicht einmal die qualitätvollsten Leistungen der mamlukischen Seidenweberei dar. Im Vergleich mit diesen offenbar in größeren Mengen produzierten Stoffen mit ihren kurzen, nicht auf einen identifizierbaren Herrscher gemünzten Inschriften und mit geringem Aufwand variierbaren Mustern, die zweifellos in Gewändern oder auch als Ausstattungstextilien für Zeremonialräume vielfältig einsetzbar waren, repräsentieren andere überlieferte Textilien (so etwa das im Dom- und Diözesanmuseum Wien erhaltene Grabgewand des österreichischen Erzherzogs Rudolf IV.) ein noch sehr viel höheres Anspruchsniveau.
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aber sogleich als Luxusgüter von außerordentlichem Wert gelten.7 In ihren Breiten gab es keine Seidenweberei; sollten solche Stoffe in der Repräsentation des wohlhabenden Bürgertums und in der Ausstattung der Kirchen eine Rolle spielen, so war man auf Importe angewiesen. Dabei hielten sich die Möglichkeiten, Gewebearten oder Muster gezielt zu wählen oder auch nur eine größere Menge Seide mit einem bestimmten Dekor zu erhalten, sicher in engen Grenzen. Befunde an mittelalterlichen Paramenten, die immer wieder die Verbindung von zwei oder mehr unterschiedlich gemusterten Geweben zu einem Gewand zeigen, legen davon beredtes Zeugnis ab.8 Zugleich wird hieran deutlich, warum auch Seiden mit arabischen Inschriften und solche mit Darstellungen von Drachen oder anderen Fabeltieren orientalischer Provenienz von einer Verwendung im sakralen Raum durchaus nicht ausgeschlossen waren – die schweren, leuchtend farbigen Gewebe mit ihrem erhabenen Golddekor gehörten zweifellos zu den kostbarsten und auch aus der Fernsicht effektvollsten Stoffen, die im mittelalterlichen Handel überhaupt erhältlich waren. Immer wieder ist in der Forschung die Frage thematisiert worden, ob solche Gewebe, die uns allein aus sakralen Kontexten überliefert sind, wohl auch nur dort Verwendung fanden, oder ob wir uns vorstellen dürfen, dass die Fernkaufleute der Hanse, die sie in den Westen brachten, auch selbst zumindest bei festlichen Anlässen in Gewändern aus goldgemusterter Seide einhergingen.9 Auch hier kann diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden: Der außerordentlich hohe Repräsentationsanspruch der Hansekaufleute, den etwa Gründung und Ausstattung des Danziger Artushofes belegen,10 sollte auch die Verwendung von Seidenstoffen in der Kleidung, zumindest bei festlichen Anlässen, erwarten lassen. Bildquellen dagegen zeigen selbst die Stifter großformatiger und kunstvoll ausgestatteter Altäre, auch solche, die als Mitglieder der wohlhabenden Kaufmannschaft identifizierbar sind, in Gewändern, die sichtlich aus Wollstoffen gefertigt waren.11 7
Juliane von Fircks, „Aus dem Königreich der Tartaren“. Orientalische Luxusgewebe im hansestädtischen Kontext, in: Schilp/Welzel, Fernhandel und Kulturtransfer, S. 139–163. 8 Wenn auch gelegentlich zu beobachten ist, dass man die verschiedenen Teile zu einem optisch gefälligen, soweit möglich symmetrischen Bild zu kombinieren suchte, so ist doch ebenso offensichtlich, dass damit das Fehlen einer ausreichend großen Menge der Gewebe kompensiert werden sollte. 9 Vgl. etwa das Kapitel “Pracht in den Bildern und vor den Bildern“ in: Matthias Ohm/Thomas Schilp/ Barbara Welzel (Hg.), Ferne Welten – Freie Stadt. Dortmund im Mittelalter. Ausstellungskatalog Dortmund, Bielefeld 2006, S. 205– 220 (Birgit Franke/Barbara Welzel, S. 205–207; Annemarie Stauffer, S. 207–210) sowie Annemarie Stauffer, Italienische Seiden in Dortmund im 14. und 15. Jahrhundert, in: Schilp/Welzel, Fernhandel und Kulturtransfer, S. 95–114. 10 Vgl. Stephan Selzer, Artushöfe im Ostseeraum. Ritterlich-höfische Kultur in den Städten des Preußenlandes im 14. und 15. Jahrhundert (Kieler Werkstücke, Reihe D: Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 8), Frankfurt a. M. u.a. 1996. 11 Vgl. etwa die Stifterbildnisse im Passionsaltar (Memling-Altar) des St. Annen-Museums in Lübeck, das ein Mitglied der begüterten und international handelnden Kaufmannsfamilie Greverade zeigt; Uwe Albrecht (Hg.), Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein. Bd. 1: Hansestadt Lübeck, St. Annen-Museum, Kiel 2005, Kat.-Nr. 85. Das gleiche gilt übrigens für den Bankier Angelo Tani, der in Brügge Hans Memling mit dem großen »Jüngsten Gericht« beauftragte, das dann – anders als von seinem Auftraggeber beabsichtigt – in der Georgskapelle der Danziger Marienkirche seinen Platz fand: Barbara Welzel, Memlings Jüngstes Gericht in Danzig, in: Gerhard Eimer/Ernst Gierlich/Matthias Müller (Hg.), Ecclesiae ornatae. Kirchenausstattungen des Mit-
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Die schweren, goldgemusterten zentralasiatischen Seiden dürfen innerhalb des Danziger Schatzes – wegen ihres entlegenen Herkunftsortes und ihres eigentümlichen Dekors – als besonders bemerkenswertes Ensemble gelten. Der größte Teil der Paramente, mit denen die Altäre der Marienkirche ausgestattet waren, wurde allerdings aus anderen, nicht ganz so „exotischen“ Stoffen gefertigt: Die Seidenmanufakturen der oberitalienischen Städte, die im 14. und 15. Jahrhundert weite Teile Europas mit kostbaren, aufwendig gemusterten Stoffen belieferten, standen auch in Danzig in hohem Ansehen; die aus der Marienkirche erhaltenen Paramente konstituieren das umfangreichste Konvolut von Seiden aus diesen Werkstätten, die in ihrer ursprünglichen Verwendung überliefert sind. Dabei sei hier angemerkt, dass präzisere Angaben zu den Herkunftsorten der Gewebe kaum möglich sind: Für zahlreiche italienische Städte – Lucca, Florenz, Genua und Venedig sind hier vorrangig zu nennen, erwähnt werden können aber auch Bologna, Modena und Pisa – ist die Aktivität von Seidenwebereien belegt, und historische Quellen vermitteln durchaus vertiefte Kenntnisse von den Bedingungen, unter denen an diesen Orten Seidenstoffe gefertigt wurden.12 Die Zuordnung überlieferter Gewebemuster zu konkreten Produktionsstätten ist dennoch bis heute kaum möglich: Die Angaben, die mittelalterliche Inventare zu den Darstellungen überliefern, sind zumeist sehr summarisch; Erkennungszeichen wie etwa farblich kodierte Webkanten sind häufig nicht mehr erhalten. Vor allem aber ist davon auszugehen, dass gerade erfolgreiche Muster – unverändert oder mit Variationen – kopiert wurden. Realistisch ist wohl ein Szenario, in dem besonders nachgefragte Stoffe an mehreren Orten und auch über einen längeren Zeitraum hinweg gewebt wurden, während zugleich innovative Manufakturen bereits neue Muster hervorbrachten. Die Herkunftsangabe „Italien“, die in der Literatur und auch im hier vorgelegten Katalog mit diesen Geweben verbunden wird, ist daher als summarische Bezeichnung für die in dieser Zeit aktiven Seidenzentren zu verstehen.13
telalters und der frühen Neuzeit zwischen Denkmalwert und Funktionalität, Bonn 2009, S. 81–100. Auch feine Wolltuche, zumal wenn es sich nicht um naturbraune, sondern um gefärbte Stoffe – etwa dunkelrot oder -blau – handelte, galten als teure Materialien, die nicht für jedermann erschwinglich waren. Nur im Vergleich mit ihnen wird erkennbar, dass die Seiden als Luxusgüter noch einmal einer anderen Kategorie angehörten. 12 Vgl. etwa die Publikationen von Lisa Monnas, Loom Widths and Selvedges Prescribed by Italian Silk Weaving Statutes 1265–1512: A Preliminary Investigation, in: CIETA Bulletin 66 (1988), S. 35–44; Dies., Some Venetian Silk Weaving Statutes from the Thirteenth to the Sixteenth Century, in: CIETA Bulletin 69 (1991), S. 37–56; dies., Merchants, Princes and Painters. Silk Fabrics in Italian and Northern Paintings, 1300–1550, New Haven/London 2008, Taf. 1–3, S. 319–322. 13 Vgl. etwa: Karel Otavský/Anne E. Wardwell, Mittelalterliche Textilien II. Zwischen Europa und China (Die Textilsammlung der Abegg-Stiftung 5), Riggisberg 2011, Kat.-Nrn. 103–124.
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1.2. Italienische Seidenstoffe Die Muster, die während des 14. und frühen 15. Jahrhunderts in diesen Zentren gewebt wurden, sind – seit der großen Überblicksdarstellung, die Otto von Falke 1913 zuerst vorgelegt hatte14 – immer wieder im Sinne einer Entwicklungsreihe beschrieben worden.15 Danach wurde für den Verlauf des 14. Jahrhunderts zunächst eine außerordentliche Erweiterung des Motivrepertoires konstatiert, in dem heimische, aber auch exotische und phantastische Tiere (die letzteren mit erkennbar fernöstlicher Herkunft) eine wesentliche Rolle spielten. Die lebhaft bewegten Szenen, in denen Adler, Hirsche, Drachen und Hunde – um nur einige zu nennen – mitein ander agierten, wurden dabei durch vegetabilische Elemente bereichert, die oft eigentümlich proportioniert und ornamental stilisiert erschienen. Von der Wende zum 15. Jahrhundert an setzte sich dagegen zunehmend ein einziges Ornamentmotiv durch: der Granatapfel.16 In Verbindung mit der Verbreitung dieses Motivs ist mit der Einführung von Wellenranken eine Dynamisierung der Musterstrukturen und zugleich eine markante Vergrößerung der Musterrapporte zu beobachten, die schließlich in den großformatigen Granatapfelranken, welche in den Goldbrokatsamten des späteren 15. Jahrhunderts mit nicht zu übertreffendem Materialaufwand luxuriös in Szene gesetzt wurden, kulminierten.17 Diese Beschreibung eines Entwicklungsprozesses lässt – selbst wenn sie gelegentlich die Entwerfer von Gewebemustern als handelnde Personen benennt – weitgehend außer Acht, dass die Seidenstoffe als Handelsware Gegenstand von Entscheidungen waren, die von unterschiedlichen Akteuren und aus unterschiedlichen Gründen getroffen wurden: Die italienischen Manufakturen produzierten Luxusgüter für den Export in das gesamte mittlere und nördliche Europa bis nach Skandinavien. Dieser Produktion stand ein Kreis von Händlern – dazu gehörten die italienischen Händler mit ihren auswärtigen Niederlassungen, aber natürlich auch die Hansekaufleute – gegenüber, die ihrerseits Abnehmer im Blick haben mussten, von denen sich die meisten an weit entfernten Orten befanden. Einige Aspekte dieses Handels sind gut belegt, so etwa die Preise, die für bestimmte Stoffqualitäten (von leichten, einfarbigen Taften bis zu mehrfarbig gemusterten Geweben und schließlich den schweren Goldsamten) zu zahlen waren.18 Es ist bekannt, dass die italienischen 14
Otto von Falke, Kunstgeschichte der Seidenweberei, 2 Bde., Berlin 1913. Eine gekürzte Ausgabe in einem Band erschien zuerst 1921 und wurde danach bis 1952 noch mehrfach aufgelegt. 15 Vgl. etwa Adèle Coulin Weibel, Two Thousand Years of Textiles. The Figured Textiles of Europe and the Near East, New York 1951, S. 59–61; Barbara Markowsky, Europäische Seidengewebe des 13.–18. Jahrhunderts, Köln 1976, S. 39–56. 16 Schon von Falke hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung »Granatapfelmuster« im 19. Jahrhundert aufgekommen und als Sammelname für eine Reihe von Kompositionen verwendet worden war, in denen bei genauerer Betrachtung eher Distelblüten, Artischocken oder noch andere Pflanzen identifiziert werden konnten; von Falke, Kunstgeschichte der Seidenweberei, S. 40. 17 Weibel, Two Thousand Years, S. 65: The pomegranate pattern of the Renaissance had its beginnings thousands of years earlier [...]. The Renaissance and Baroque brought the long evolution to a triumphant end. 18 Monnas, Merchants, Princes and Painters, S. 1–4 und Taf. 3–5, S. 322–326.
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Händler nicht nur botteghe (Ladenlokale) unterhielten, in denen man ihre Waren erwerben konnte, sondern auch die großen Messen beschickten, während besonders bedeutende Kunden auf individuelle Belieferung rechnen durften.19 Kaum zu fassen sind hingegen die Umstände und die individuellen Vorgänge, die in der Summe schließlich über den Markterfolg eines Stoffes oder vielleicht auch seine Zurückweisung zugunsten eines anderen Produkts entschieden: Unter wie vielen und welchen Seidenmustern konnten Käufer, etwa im Rahmen einer Messe oder auch in den Hansestädten, zu einem jeweils gegebenen Zeitpunkt ihre Wahl treffen? Spielte bei ihren Entscheidungen der vorgesehene Verwendungszweck – der repräsentative Dekor eines Raumes aus festlichem Anlass, die Ausstattung eines sakralen Raumes, ein Gewand mit einem spezifischen Zuschnitt – eine Rolle? Bestand die Möglichkeit, auf die Verfügbarkeit bestimmter Muster Einfluss zu nehmen? Die überlieferten Quellen geben darüber keinen Aufschluss. Von Dokumenten, die etwa die Zusammenstellung von Schiffsladungen, deren Versicherung oder Verzollung begleiten, ist dies auch nicht zu erwarten; aber selbst in Tagebüchern oder Briefen, die ausdrücklich Erwerbung, Besitz und Schaustellung kostbarer Stoffe thematisieren, werden ihre Muster kaum erwähnt. Hervorgehoben werden immer nur die Gewebequalitäten und die Farben – also genau die Eigenarten, die auch konkret für die Preisbildung relevant waren.20 Inventare, wie sie für kirchliche Schatzkammern, fürstliche Garderoben oder auch im Rahmen von Testierungen erstellt wurden, benennen gelegentlich Dekormotive von Stoffen. Diese Angaben sollen aber allein der Identifizierung der betreffenden Objekte dienen; sie geben keinen Aufschluss über Präferenzen oder eine Wertschätzung bestimmter Textilien im Verhältnis zu anderen. Für die italienischen Seiden im Schatz der Marienkirche gilt deshalb, dass wir keine Informationen darüber haben, welchen Anteil sie an den überhaupt in Danzig verfügbaren Stoffen dieser Provenienz hatten und ob sie eine besonderen Kriterien entsprechende Auswahl repräsentieren. Natürlich ist dabei auch zu berücksichtigen, dass die von Walter Mannowsky erfassten (also jedenfalls bis ins 20. Jahrhundert überlieferten) Textilien sicher nicht den Gesamtbestand der im 15. Jahrhundert vorhandenen Ausstattung darstellen. Gründe für partielle Verluste, die ganz bestimmte Textilien betroffen hätten, sind aber auch nicht erkennbar. Allenfalls ist bemerkenswert, dass der Anteil der Seiden, die teilweise oder ganzflächig mit Goldfäden gemustert sind, sehr hoch ist – ob dies dadurch begründet ist, dass sie schon bei der Erwerbung bevorzugt oder wegen ihres hohen Wertes sorgfältiger bewahrt wurden, während die leichteren rein seidenen Stoffe eher Schaden nahmen und dann auch preisgegeben wurden, ist nicht mehr zu entscheiden. Die in den Danziger Paramenten überlieferten Stoffe spiegeln, in der Konstruktion der Muster wie in ihren Einzelmotiven, einen großen Teil des Repertoires dieser Produktion wider: Die meisten von ihnen sind Lampasgewebe; leichte Stoffe sind mehrfarbig allein aus Seide gewebt,21 reicher ausgestattete schließen auch gold- und 19
Ebd., S. 8–13. Ebd., S. 1f. und S. 307. 21 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nr. 16, Taf. 22–23. 20
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Abb. 3: Kasel aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig, Seide: Italien, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts Quelle: Foto von Walter Haberland
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silberbroschierte beziehungsweise -lancierte Motive ein,22 und eine – in die Zeit um 1400 zu datierende – Gruppe zeigt zur Gänze mit Goldfäden gewebte Muster.23 Schließlich sind auch die Samte, namentlich die goldbroschierten Samte mit den großformatigen Granatapfelmustern, zu nennen,24 die die Seidenweberei bis in das 16. Jahrhundert hinein dominierten. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts produzierten die Seidenweber der oberitalienischen Städte außerordentlich phantasievolle und detailreiche Muster. Zwar griffen sie in der Wahl ihrer Motive noch stets auf ein Repertoire zurück, das ihnen ursprünglich aus chinesischen und persischen Quellen vermittelt worden war – Lotosblüten, Fächerpalmetten und Wolkenbänder gehören ebenso dazu wie die Khilins, Fonghoangs und Cheetahs, die im Spiel oder auch im Kampf mit Hunden, Löwen, Adlern und anderen eher in Europa beheimateten Tieren erscheinen. In der Kombination dieser Motive, ihrer Verbindung zu kleinen, oft lebhaft bewegten Szenen und deren Organisation in der Fläche gelangten sie jedoch zu einer unverwechselbaren Eigenständigkeit und einer Variationsbreite, wie sie danach über Jahrhunderte kaum mehr erreicht werden sollten. Aus dem Danziger Schatz haben sich nicht wenige Gewänder erhalten, deren Seidenmuster als hervorragende Leistungen dieser Art des Flächendekors gelten dürfen.25 Durch die Wendungen und Drehungen der Einzelmotive ist hier eine diagonal aufwärts gerichtete Wellenbewegung zu beobachten, die den Mustern eine spezifische Dynamik verleiht. In den großen Flächen der Kaselschauseiten (die in Danzig bevorzugt aus einer ungeteilten, in der Breite ca. 112 bis 114 Zentimeter messenden Gewebebahn gebildet wurden) wie auch in den Chormänteln, die in tiefen Falten den Zelebranten umhüllten, kamen diese bewegten Muster besonders eindrucksvoll zur Geltung. Die Musterkompositionen in den eben genannten Gewändern sind kleinteilig; eine Vielzahl von Einzelmotiven wurde hier dicht ineinandergefügt; die im Rapport sich wiederholenden Einheiten messen jeweils kaum mehr als 10 bis 15 Zentimeter. Mit der Vergrößerung dieser Dimensionen kündigt sich um 1400 ein Wandel in den gewebten Flächendekors an: Seiden, die vor einem einfarbigen Hintergrund ein ganz in Goldfäden gewebtes (lanciertes) Muster zeigen, tradieren weiterhin die lebhaft bewegten und miteinander agierenden Tiere; ein Rasenstück, eine Insel oder auch ein See können die Basis für eine kleine Szene bilden, die von Blütenbäumen oder Blättern eingefasst wird.26 Auch diese Seiden zeigen eine Anordnung in versetzten horizontalen Reihen als übergeordnete Struktur. Die Muster erreichen jedoch nun deutlich größere Rapporthöhen; mit etwa 30 bis 40 Zentimetern für die Muster22
Ebd., Bd. 1, Kat.-Nr. 9, Taf. 13 und 15; Bd. 2, Kat.-Nr. 40–41, Taf. 58–60; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nrn. M 9, 40, 41. 23 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 2, Kat.-Nrn. 42, 44–46, 55–58, 60, Taf. 59–60, 63–65, 72–77; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nrn. 42, 55, 56, 58, 60. 24 Sie sind vornehmlich repräsentiert in den Dalmatiken: Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 3, Kat.-Nrn. 123–126, Tafel 130; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. 125. 25 Dazu gehört etwa eine Kasel mit Löwen: Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.Nr. 42; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 42. 26 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 2, Kat.-Nrn. 55, 56, Taf. 72–74; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nrn. M 55, 56.
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Abb. 4: Kasel aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig, Seide: Italien, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts Quelle: Foto von Walter Haberland
einheit lassen sie eine Rhythmisierung entstehen, die auch aus der Fernsicht wirkungsvoll hervortritt. Werden die Elemente zusätzlich verbunden, so entsteht in der Fläche eine großformatige, machtvolle Wellenbewegung. Zwei Kaseln mit kurzen, kräftigen Rankenstücken und gewölbten Blattwedeln bieten dafür eindrucksvolle Beispiele.27 Zugleich erscheint in ihnen das Repertoire der Einzelmotive reduziert:
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Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nrn. 58 und 59; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nrn. M 58, 59.
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Abb. 5: Kasel aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig, Seide: Italien, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts Quelle: Foto von Walter Haberland
Das „Bestiarium“ von heimischen, exotischen und phantastischen Tieren hat im Gewebe der ersten Kasel noch einen Auftritt; in der Komposition der zweiten fehlt es hingegen; als beherrschendes Motiv zeigt sich hier der Granatapfel. Auch innerhalb des so reichen Schatzes der Marienkirche markieren die Goldbrokatsamte mit den großformatigen Granatapfelranken einen Höhepunkt; es sind die Stoffe, die in zahlreichen Tafelgemälden des 15. Jahrhunderts die Gewänder von Heiligen auszeichnen oder als Baldachin den Thron einer Gottesmutter überfan-
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Abb. 6: Dalmatika aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig, Goldsamt: Italien, 3. Viertel des 15. Jahrhunderts (siehe FT 11, S. 128) Quelle: Foto von Walter Haberland
gen.28 Mit weitem Abstand waren dies die teuersten Gewebe, die aus den italienischen Produktionsstätten beschafft werden konnten. Zweifellos waren sie auch für die Ausstattung der Danziger Altäre besonders begehrt. Bis in das 20. Jahrhundert haben sich aus dem Bestand ein Chormantel, zwei Kaseln und vier Dalmatiken erhalten.29 Die Muster, die in diesen Gewändern vorliegen, sind nicht ganz gleich; sie bildeten nicht einen zusammengehörigen Ornat. Vielmehr ist anzunehmen, dass ursprünglich noch weitere Gewänder aus solchen Stoffen zum Schatz gehörten. In unübertrefflicher Weise konnten und sollten sie wohl die finanzielle Leistungsfähigkeit der Bürger, die ihre Kirche so reich zu beschenken vermochten, den Zeitgenossen
28
Hier sind vor allem die Altartafeln von Hans Memling zu nennen. Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nr. 20, Taf. 25; Bd. 2, Kat.-Nrn. 79 und 80, Taf. 86a–87; Bd. 3, Kat.-Nrn. 123–126, Taf. 130; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.Nrn. M 20, 80, 125.
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und der Nachwelt sichtbar vor Augen führen. Dazu gehört auch, dass der Zuschnitt der Gewänder offenbar darauf angelegt war, die Muster ungestört und – soweit möglich – symmetrisch zur Geltung zu bringen. Wie schon die zentralasiatischen Stoffe, so wurden auch die aus Oberitalien importierten Seiden als Gewebebahnen von mehr oder weniger großer Länge nach Danzig gebracht.30 Erst hier schnitt man sie dem beabsichtigten Verwendungszweck entsprechend zu; dabei kombinierte man die Seiden mit Futterstoffen aus gefärbtem Leinen lokaler oder regionaler Produktion. Zuschnitt und Nähtechnik folgten den am Ort entwickelten Gepflogenheiten.31
1.3. Stickereien Ein Teil der Paramente, darunter alle diejenigen, die aus den zentralasiatischen Seiden gefertigt sind, blieb ohne weiteren Schmuck; offenbar konnten die kostbaren Stoffe allein als angemessene Ausstattung für die Altäre der Marienkirche gelten. Einige liturgische Gewänder, aber auch Antependien und andere textile Objekte wurden dagegen zusätzlich mit gestickten Besätzen versehen.32 Dabei eröffnete die Entscheidung für einen solchen Dekor den Auftraggebern beziehungsweise Donatoren neue Optionen: Zunächst gehört die Stickerei zu den Bildmedien, sie konnte die Paramente nicht nur um ornamentale Motive, sondern um figürliche, ja sogar szenische Darstellungen bereichern. Damit war es möglich, Altarausstattungen und liturgische Gewänder als variable Größen in die Bildprogramme der Kapellen zu integrieren. Kreuzigungsszenen oder die Gottesmutter mit dem Christuskind gehörten – in Danzig wie auch an
30
Seidengarn und Goldfäden waren schon für sich teure Materialien, und es bedurfte hoher Investitionen, bevor ein Stoff gewebt werden konnte. Diese Tatsache und die Beobachtung, dass Gewebeanfangs- und -abschlussborten häufiger, als man es eigentlich erwarten sollte, in erhaltenen textilen Objekten auffindbar sind, haben uns zu der Vorstellung geführt, dass diese Stoffe jeweils nach Fertigstellung weniger Ellen (also etwa in der Länge, wie sie gewöhnlich für ein Gewand erforderlich war) vom Webstuhl getrennt und in den Handel gebracht wurden. Die in Inventaren so häufig erwähnten panni hätten dann solche Gewebeabschnitte bezeichnet. Die Kettfäden konnten mit geringem Aufwand wieder angeknotet und – mit demselben Muster – weiter verwebt werden. Auf diese Weise ließ sich eine langfristige Bindung von Kapital zumindest begrenzen oder – andersherum ausgedrückt – eine Investition rascher rentabel machen. 31 Dazu ausführlich: Birgitt Borkopp-Restle, Materialität und Handwerk in der Textilkunst des Mittelalters. Beobachtungen am Paramentenschatz der Marienkirche zu Danzig/Gdańsk, in: Kristin Böse/ Silke Tammen (Hg.), Beziehungsreiche Gewebe. Textilien im Mittelalter, Beiträge zur Tagung des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Gießen und des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln (2006), Köln 2012, S. 286–300 und S. 432–439 (Abb.). 32 Vgl. Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bde. 1, 3 und 4, Kat.-Nrn. M 22–27 (Chormäntel), M 84–110 (Kaseln), M 285 (Antependium) und M 214–225 (Amiktbesätze); Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nrn. M 22, 24, 25, 26, 84, 85, 90, 96 und 285. Die Leinenstickereien, die – etwa in Pultdecken – aus dem Danziger Schatz ebenfalls in großer Zahl erhalten sind, seien hier nur en passant erwähnt.
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anderen Orten – gleichsam zur Standardausstattung.33 Schon die Auswahl von Heiligen für Kaselstäbe oder Chormantelbesätze erlaubte eine individuelle Ausrichtung auf ein bestimmtes Patrozinium oder auch auf einzelne Feste im Kirchenjahr.34 Außerdem konnten die Stickereien entsprechend der Wahl der verwendeten Materialien und der Qualität der Ausführung auch ein mehr oder weniger nachdrückliches finanzielles Engagement sichtbar machen: Seidengarn in einer Vielzahl unterschiedlich gefärbter Nuancen, Goldfäden und -pailletten sowie Flussperlen repräsentierten schon für sich genommen einen erheblichen Wert; sie stellten zugleich hohe Anforderungen an die handwerklichen Fähigkeiten der Sticker. Die Wahl einer besonders kompetenten Werkstatt oder auch eines der Zentren, die für die hervorragende Qualität ihrer Arbeiten bekannt waren – namentlich Böhmen mit Prag35 oder die südlichen Niederlande36 – gehörte zweifellos zu den Entscheidungen, die darauf zielten, den Status eines Auftraggebers wirksam hervorzuheben.
2. Die Stifter der Paramente
2.1. Weltliche Bruderschaften Unter den Stiftern von Paramenten für die Marienkirche nahm, wie bereits erwähnt, die Georgenbruderschaft der Fernkaufleute den prominentesten Rang ein. Die überaus reiche Ausgestaltung der textilen Objekte, die in ihrem Auftrag entstanden, bezeugt dies in eindrucksvoller Weise. Zu ihnen gehört etwa das Pluviale aus rotem Samt,37 das neben einem Futter aus Seidenstoffen38 auch einen reichen Stickereibe33
Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 3, Kat.-Nrn. 85, 86, 88, 90, 91, 97, 101–110, Taf. 94–100, 105, 107–109, 114–115, 117–122; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.– Nrn. M 85 u. 90. 34 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 3, Kat.-Nrn. 87, 89, 92–95, Taf. 102–104, 106, 110–112. 35 Evelin Wetter, Böhmische Bildstickerei um 1400. Die Stiftungen in Trient, Brandenburg und Danzig (Diss. Berlin 1999), Berlin 2001. 36 Schilderen met gouddraad en zijde, Ausstellungskatalog Rijksmuseum Het Catarijneconvent, Utrecht 1987; Annemarie Stauffer, Auftragsvergabe und Verarbeitung von »Fertigprodukten« aus flandrischen Stickwerkstätten im 15. und 16. Jahrhundert, in: Uta-Christiane Bergemann/Annemarie Stauffer (Hg.), Reiche Bilder. Aspekte zur Produktion und Funktion von Stickereien im Spätmittelalter (Beiträge zur internationalen Fachtagung des Deutschen Textilmuseums Krefeld und des Zentrums zur Erforschung antiker und mittelalterlicher Textilien an der Fachhochschule Köln, 2008), Regensburg 2010, S. 51–64. 37 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nr. 22, Taf. 27–30; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 22. – Das Inventar des Protonotarius Melchisedek Laubendorn von 1569 (s. auch Anm. 42) erwähnt den Chormantel als „zum Hohen Altar [...] gehörig“. 38 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nr. 22, Taf. 30; von Wilckens, Die textilen Künste, S. 115 und Abb. 124.
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Abb. 7: Sargdecke der Georgenbruderschaft der Fernkaufleute aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig (Detail) (siehe FT 12, S. 129) Quelle: Foto von Walter Haberland
satz trägt: In zwölf Szenen wird auf den Stäben die Passionsgeschichte dargestellt, die sich mit der Himmelfahrt Christi auf dem Schild vollendet und hier zugleich das Heilsversprechen zum Ausdruck bringt. Unterhalb dieser Szene – also in jeder Hinsicht an prominenter Stelle – erscheint das Wappen der Georgenbruderschaft, ein rotes Kreuz auf silbernem Grund. Rauchfassschwingende Engel sind der Fläche des Gewandes in konzentrischen Reihen aufgesetzt. Alle Teile der Stickerei wurden mit einem hohen Anteil von Gold- und Silberfäden ausgeführt. In ähnlicher Gestaltung präsentiert sich die Sargdecke der Georgenbruderschaft (siehe Farbtafel 12),39 ein Objekt, das bei den Totenfeiern, in denen die Zugehörigkeit der Verstorbenen zur Korporation noch einmal bekräftigt wurde, eine wesentliche Rolle spielte. Wie der Chormantel, so ist auch die Sargdecke aus tiefrotem Seidensamt gefertigt. Aufgelegte Silberborten überspannen die gesamte Fläche und bilden ein großes Kreuz, dessen Mitte durch eine goldene Dornenkrone ausgezeichnet wird. Vierpässe mit den Darstellungen der Evangelisten besetzen die Enden der Kreuzarme; an den Schmal seiten erscheint darüber jeweils das Wappen der Georgenbruderschaft mit Helm und Decke; als Helmzier wird hier das rote Kreuz auf silbernem Grund noch einmal wiederholt. Mit dieser Ausgestaltung des Wappens machte die „ritterliche Georgenbruderschaft“ ihren Anspruch auf einen innerhalb der städtischen Gesellschaft herausgehobenen Status mit allem Nachdruck deutlich. Doch war dies noch nicht genug: In den vier Feldern der Sargdecke, die durch das aufgelegte Kreuz gebildet 39
Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 4, Kat.-Nrn. 366, Taf. 176–177; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 366.
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Abb. 8: Chormantelschild mit Darstellung des heiligen Georg aus dem Schatz der Marienkirche, Danzig (siehe FT 13, S. 130) Quelle: Foto von Walter Haberland
werden, erscheinen jeweils zwei kniende Engel, die dem Betrachter wiederum das Wappen der Bruderschaft entgegenhalten. Gold-, Silber- und Seidenfäden wurden auch für diese Stickerei in reichem Maße verwendet. Offensichtlich war die Sargdecke für die Korporation von herausragender Bedeutung; die verwendeten Materialien wie die außerordentliche Qualität der Stickerei sollten den hohen Status der Georgenbruderschaft sichtbar nach außen tragen. Ein weiteres Objekt vermittelt denselben repräsentativen Anspruch: Das Pluvialschild, das den heiligen Georg im Kampf gegen den Drachen zeigt, ist als vollplastische Arbeit ausgeführt.40 Aus textilem Material gearbeitet, scheint es gleichwohl einem Werk der Goldschmiedekunst näher zu stehen als selbst die Arbeiten, die 40
Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nr. 28, Taf. 34; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 28; Birgitt Borkopp-Restle, Local Relations in the Iconography of
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Abb. 9: Sargdecke der Priesterbruderschaft St. Marien (Detail) Quelle: Foto von Walter Haberland
sonst als Reliefstickereien beschrieben werden. Der ganz außerordentliche materielle Aufwand, der dieses Objekt charakterisiert, wurde zweifellos von den Zeitgenossen wahrgenommen. Sie verstanden auch den Verweis auf das große Altarwerk Hans Memlings, „Das Jüngste Gericht“, das sich in der Kapelle der Georgenbruderschaft befand und in dem die Figur des Erzengels in einen Mantel aus dem gleichen kostbaren Stoff gewandet ist, der in dem Pluvialschild die Figur des heiligen Georg hinterfängt.
2.2. Geistliche Bruderschaften Neben den weltlichen Bruderschaften gab es auch drei geistliche, die Priesterbruderschaften St. Marien, St. Dorotheen und St. Katharinen; alle drei unterhielten eigene Kapellen in der Marienkirche. Schriftliche Quellen zu deren Ausstattung haben sich nicht erhalten, doch gibt es jedenfalls ein Objekt, das mit einiger Wahrscheinlichkeit der Priesterbruderschaft St. Marien zugewiesen werden kann: Eine Sargdecke aus rotem Seidensamt zeigt, in zwei Ansichten, die jeweils zu den Längsseiten ausgeLiturgical Vestments in St. Mary’s Church in Gdańsk, in: Evelin Wetter (Hg.), Iconography of Liturgical Textiles in the Middle Ages (Riggisberger Berichte 18), Riggisberg 2010, S. 51–60, bes. S. 58–60.
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richtet sind, eine Gottesmutter mit dem Christuskind auf dem Arm, der sich zwei Geistliche im Gebet zuwenden. Zu beiden Seiten der Szene erscheinen Evangelistensymbole in Vierpass-Medaillons.41 In beiden Stickereien stehen die Figuren auf einer mit blühenden Sträuchern besetzten Rasenbank; die Darstellungen deuten jeweils einen Paradiesgarten an, in dem die beiden Kleriker ihr Gebet unmittelbar an die Gottesmutter richten. Dabei wendet sich in der einen die Marienfigur nach links, den beiden vor ihr knienden Männern zu; der erste hat die Hände zum Gebet erhoben, während der zweite eine Kerze hält. Ein Schriftband, das die beiden kleinen Figuren überfängt, trägt die Zeile sub tuu[m] presidium confugimus (Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir). Die mit großen stilisierten Blüten in die Fläche ausgreifenden Medaillons fassen links den Adler des Johannes, rechts den Menschen für Matthäus. In der zweiten Stickerei rahmt das linke Medaillon den Markuslöwen, das rechte den Stier des heiligen Lukas. Die Anbetungsszene ist hier nach rechts ausgerichtet; das Schriftband trägt die Worte ora pro nobis sancta d[e]i genitrix (bitte für uns, heilige Gottesgebärerin). Entwurf und Ausführung der Stickerei sind von hoher Qualität: Die großen Motive – die Figuren, die Medaillons mit den Evangelistensymbolen und die Schriftbänder – wurden zunächst separat auf einem Leinengrund ausgeführt; dabei folgte man jeweils denselben Vorlagen, die nach Bedarf (als Lochpausen?) auch seitenverkehrt auf den Stickgrund kopiert werden konnten. Blumen und Gräser wurden direkt auf den Samt gestickt. Spaltstiche in farbiger Seide modellieren die Figuren, die mit angelegten Goldfäden konturiert wurden. Krone, Gewandsaum und Mantelschließe Mariens sowie ihr Nimbus und der des Christuskindes sind mit Flussperlen besetzt. Pailletten, Glas- und Korallenperlen wirken als weitere Schmuckelemente. Die Flächen der Heiligenscheine, die Medaillons mit den Evangelistensymbolen und einige Blütenmotive wurden mit Gold- und Silberfäden dargestellt; Überfangstiche in roter Seide sind musterbildend gesetzt. Die Haare der Figuren wurden mit stark gedrehten Fäden und Knötchenstichen plastisch hervorgehoben. Hatte man die Ausführung der Stickereien einer lokalen Werkstatt anvertraut, so war diese jedenfalls imstande, auch anspruchsvolle Aufträge kompetent zu erfüllen.
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Zumindest seit dem 19. Jahrhundert ist das Objekt in zwei Teilen ungleicher Höhe überliefert. Das Inventar, das 1893/95 für den Schatz der Danziger Marienkirche erstellt wurde, verzeichnete die beiden auf rotem Samt ausgeführten Stickereien als separate Gegenstände unter aufeinanderfolgenden Nummern (Inventar des Archidiakonus Arthur Brausewetter. Vgl. Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, S. 5). Walter Mannowsky, der seinen Katalog nach den Formtypen beziehungsweise Funktionen der Objekte gliederte, bezeichnete das größere Stück als „Antependium“, das kleinere dagegen als „Superfrontale, Retrofrontale oder Verkleidung der Kanzelbrüstung“ (Ebd., Bd. 4, Kat.Nrn. 289 und 368). Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 289 und 368.
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2.3. Individuelle Paramentenschenkungen Wie die Georgenbruderschaft und die Priesterbruderschaft St. Marien, so sorgten auch andere Korporationen für eine repräsentative Ausstattung ihrer Kapellen sowie des Hochaltars der Marienkirche; daneben schenkten Einzelpersonen liturgisches Gerät und Paramente, gelegentlich wohl auch eine Stickerei als zusätzlichen Schmuck für ein Messgewand. Nur selten sind die Donatoren namentlich zu fassen, da schriftliche Nachrichten weitgehend fehlen,42 und die Anbringung von Wappen nicht regelmäßig, sondern eher in seltenen Fällen erfolgte. Nur eines der überlieferten Objekte trägt den Namen seiner Schenkerin; möglicherweise hat sie es sogar selbst hergestellt: Ein Cingulum, das als brettchengewebtes Band aus Leinen mit Dekorelementen aus farbiger Seide und Goldfäden gefertigt wurde, zeigt eine in gotischen Minuskeln eingewebte, von Rosetten und kleinen Schachbrettmustern unterbrochene Inschrift: Homo quidam fecit cenam magnam et misit servum suum hora cene dicere invitatis ut venirent quia parata sunt omnia – uenite comedite panem meum et bibite uinum quod miscui uobis – orate pro me katherina de ummen (Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und schickte seinen Knecht aus zur Stunde des Mahls zu sagen den Geladenen: Kommt, denn alles ist bereitet – kommt, esst mein Brot und trinket den Wein, den ich Euch schenke – betet für mich, Katharina von Ummen).43
Mit diesem Gewandstück, mit dem ein Priester seine Albe gürtete, trug die Schenkerin Sorge für ihre memoria, die Jenseitsvorsorge, in der Fürbitten eine zentrale Rolle spielten. Man darf annehmen, dass mit der Gabe auch Zuwendungen für das wiederholte Lesen von Messen zu ihrem Andenken verbunden waren. Katharina von Ummen, die nicht weiter identifiziert werden kann, gehörte wohl einer bekannten Danziger Familie an; eine Gedenktafel aus dem Jahr 1425 erinnerte bei der Jacobuskapelle in der Marienkirche an einen Wilhelm von Ummen.44
42
Siehe dazu Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, S. 5–8. Er hebt hervor, dass, selbst wenn in Urkunden ab dem 15. Jahrhundert Paramentenschenkungen fassbar werden, die darin benannten Textilien mit heute noch erhaltenen Objekten kaum identifiziert werden können. Die (im Zweiten Weltkrieg mit dem Danziger Archiv verbrannten) Inventare von Martin Cromer (1552) und Melchisedek Laubendorn (1569) erwähnen Schenker oder auch Erblasser nur ausnahmsweise (so etwa der letztere zwey Humeralia die Bottschafft Mariae mit Perlen gehafft, die Jacob von Werdenn gegebenn hatt (von diesem Inventar ist eine Abschrift aus dem 18. Jahrhundert erhalten). Mannowsky, der den Eintrag zitiert, identifizierte diese Objekte mit seinen Kat.-Nrn. 223 und 224 (ebd., Bd. 4, Taf. 140), zwei kleinformatigen, aber außerordentlich wertvollen, reich mit Flussperlen besetzten Stücken. 43 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Kat.-Nr. 213; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 213. Der erste Teil der Inschrift stammt aus dem Evangelium nach Lukas (14.16– 17), der zweite aus den Sprüchen Salomonis (9.5). 44 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 4, S. 15.
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Abb. 10: Kasel aus rotgrundiger Seide mit gesticktem Dorsalkreuz und Wappen der Familie von Bock (siehe FT 14, S. 131) Quelle: Foto von Walter Haberland
Man darf wohl annehmen, dass die wohlhabenden Fernkaufleute auch als Individuen Paramente und andere Ausstattungsstücke an die Altäre der Marienkirche schenkten; belegen lässt sich dies jedoch bisher nicht. Wenn sich einzelne Donatoren in ihren Lebensumständen präziser beschreiben lassen, dann deshalb, weil sie entweder als Ratsmitglieder oder als (steuerpflichtige) Grundbesitzer hervorgetreten sind.
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So tragen etwa zwei Kaseln jeweils ein gesticktes Kreuz mit Christus und einer heiligen Anna Selbdritt darunter, das durch ein hinzugefügtes Wappen als Schenkung des Lucas Keting, Ratsherr und Kirchenvorsteher an St. Marien, kenntlich gemacht ist.45 Das Wappen, das die Stickerei einer Kasel aus roter Seide mit Granatapfelmuster auszeichnet, konnte der westfälischen Familie von Bock zugeordnet werden; ein Mitglied dieser Familie war 1470 Bürgermeister von Danzig.46 Zweifellos mussten für die Erwerbung von Seidenstoffen und die Ausführung von Stickereien jeweils beträchtliche Mittel aufgewendet werden; auch dafür fehlen uns jedoch konkretere Angaben. Wenn der Bürger Dirk Knyper und seine Frau Elisabeth der Martinikapelle der Marienkirche im Jahre 1432 eine Schenkung von Paramenten und liturgischen Geräten zuwandten, zu der allein fünf vollständige Ornate gehörten,47 so können wir nur vermuten, dass sich hierin tatsächlich ein besonders bemerkenswertes Engagement zu erkennen gab. Es lässt sich aber mit Grund annehmen, dass diese Schenkung in einem angemessenen Verhältnis zu Besitz und Wohlhabenheit dieses Bürgers stand: Ein Zinsbuch, das sich für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts erhalten hat, nennt ihn gleich viermal;48 offenkundig besaß er mehrere Häuser und die zugehörigen Grundstücke, für die er steuerpflichtig war. Insgesamt hatte er pro Jahr mehr als sieben Mark Zins zu entrichten; selbst im Verhältnis zum Artushof, der halbjährlich zehn Mark zu zahlen hatte, erscheint dies als sehr hohe Summe – offenbar gehörte Dirk Knyper zu den reichsten Bürgern der Stadt. Die in den erhaltenen Gewändern vorliegenden Stickereien bezeugen eine große Bandbreite für die Qualität solcher Arbeiten und – so darf man annehmen – für die finanziellen Mittel, die dazu aufgewendet wurden. Einfache ornamentale Verzierungen, wie etwa ein Band mit applizierten Blüten und Blättern auf der Vorderseite einer Kasel,49 mögen schon für geringe Beträge erhältlich gewesen sein. Das bereits erwähnte Kreuz auf der Schauseite der Kasel der Familie von Bock, auf dem eine Anbetung der Könige dargestellt ist, repräsentiert im Verhältnis dazu einen höheren Aufwand. Noch prestigeträchtiger war zweifellos die Ausstattung eines Ornats mit Stickereien, die aus einem der für die besondere Qualität ihrer Arbeiten bekannten Zentren stammten. Ein Beispiel dafür bietet ein aus einem weißgrundigen Seiden damast gearbeitetes Ensemble,50 das ursprünglich dem Hochaltar der Marienkirche zugeordnet war und dessen Chormantel im Muzeum Narodowe w Gdańsku, die Ka45
Ebd., Bd. 3, Kat.-Nrn. 109 und 110, Tafel 121. Lucas Keting schenkte der Marienkirche im Jahre 1517 das große Triumphkreuz, das ebenfalls sein Wappen trägt. 46 Ebd., Bd. 3, Kat.-Nr. 96, Taf. 111, 113; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 96. 47 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, S. 6. 48 Vgl. Georg Galster, Ein Danziger Wachstafelbuch aus dem 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostforschung. Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa 8 (1959), S. 231–259, bes. S. 241, 244, 246, 250. 49 Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 2, Kat.-Nr. 60, Taf. 77; Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 60. 50 Der Ornat bestand ursprünglich aus einem Chormantel, einer Kasel, zwei Dalmatiken sowie weiterem Zubehör; vgl. Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Bd. 1, Kat.-Nr. 23, Taf. 31–32; Bd. 3, Kat.-Nr. 84, Taf. 89–93 sowie Kat.-Nrn. 115, 116, Taf. 126. Die Kasel befindet sich heute im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg: Borkopp-Restle, Schatz der Marienkirche, Kat.-Nr. M 84.
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Abb. 11: Kasel aus weißer Seide mit gesticktem Dorsalkreuz (Böhmen, um 1425) für den Hochaltar der Marienkirche, Danzig (siehe FT 15, S. 132) Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
sel dagegen im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg bewahrt wird. Sowohl der Chormantel als auch die Kasel sind mit kostbaren Stickereien ausgezeichnet, die jedoch offensichtlich nicht aus derselben Werkstatt stammen; von hervorragender Qualität ist vor allem der Schmuck der Kasel. Sie zeigt auf der Vorderseite einen Stab, in dem die Gottesmutter und Johannes der Evangelist übereinander angeordnet sind. Auf der Schauseite bildet die Auferstehung Christi das Zentrum eines Gabelkreuzes, dessen Arme zwei Engel mit Kreuz und Dornenkrone tragen; auf dem Kreuzstamm stehen Maria Magdalena und der Apostel Petrus. Der Vergleich der Stickereien mit in Budapest und Berlin erhaltenen Fragmenten erwies sie als Serien
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produkte, deren Motive durch Lochpausen vervielfältigt und zu Besätzen zusammengefügt werden konnten, die in den renommierten Prager Werkstätten für den Export angefertigt wurden.51 Im Kontext des Danziger Ornats lassen sie erkennen, dass sich ein solches Ensemble und sein Schmuck aus Komponenten unterschiedlicher Provenienz zusammensetzen konnte, zu dem möglicherweise auch verschiedene Personen als Käufer und Schenker beigetragen hatten. So spiegelt selbst der deutlich reduzierte Bestand, der sich aus dem ursprünglich so viel reicheren textilen Schatz der Danziger Marienkirche erhalten hat, ein außerordentlich ausdifferenziertes Bild der städtischen Bürgerschaft wider. Offenbar suchten und fanden auch weniger begüterte Gemeindemitglieder der städtischen Hauptpfarrkirche Gelegenheit und Mittel, zum Schmuck der Altäre und der Liturgie beizutragen. In den wertvollsten Ausstattungsstücken aber fanden der Reichtum und die internationalen Handelsverbindungen der Fernkaufleute der Hanse repräsentativen Ausdruck.
4. Bewahrung kulturellen Erbes nach der Reformation Erwerbungen für die Ausstattung der Altäre und Kapellen der Marienkirche wurden zweifellos bis zum Einsetzen der Reformation in Danzig getätigt, in einigen Fällen vielleicht auch noch danach. Obwohl es auch hier in den Jahren 1525 und 1526 zu Bilderstürmen kam, blieb doch ein bemerkenswert großer Teil des Bestandes an Paramenten unangetastet. Anders als in den reformierten (etwa calvinistischen) Regionen verfuhr man in den Gegenden, in denen die lutherische Lehre angenommen wurde, zumeist schonend mit den übernommenen Kirchenräumen und den Objekten, die zu ihnen gehörten. Die Tatsache, dass die eigenen Vorfahren noch kurz zuvor erhebliche Mittel für die Ausstattung der Kirche aufgewandt und die Vorsorge für ihr Seelenheil mit diesen Schenkungen und Stiftungen verknüpft hatten, mag zu dieser Haltung auch beigetragen haben. Jedenfalls gehörten hier die liturgischen Gewänder und anderen textilen Objekte noch nachdem in der Marienkirche der evangelische Glaube eingeführt worden war, wie selbstverständlich zur kostbaren Ausstattung der Gottesdienstfeiern.52 Als sie im 17., teils auch erst im 18. Jahrhundert definitiv außer Gebrauch kamen, bewahrte man die erhaltenen Objekte sorgfältig auf; sie waren nun Teil des historischen Erbes und materielle Zeugnisse für die Geschichte der Stadt, ihrer Bürgerschaft und der Kirche.
51
Wetter, Böhmische Bildstickerei, S. 92–109. Krzysztof Niedałtowski, Als Danzig evangelisch wurde: Die Reformation in Danzig, in: Wolfgang Grünberg/Alexander Höner (Hg.), Wie roter Bernstein: Backsteinkirchen von Kiel bis Kaliningrad. Ihre Kraft in Zeiten religiöser und politischer Umbrüche, München 2008, S. 362–374.
52
DER RITTERLICHE SPITZENAHN – DIE GENEALOGIE DES NÜRNBERGER PATRIZIATS ALS BILDLICHE FIKTION* Anna Pawlik
Am Ende des 15. Jahrhunderts geriet das Nürnberger Patriziat in die Krise.1 Nachdem bereits im 14. Jahrhundert einige Ratsgeschlechter ausgestorben waren, erlangten im 15. Jahrhundert 22 aufstrebende Familien in Nürnberg die Ratsfähigkeit, um die erloschenen zu ersetzen. Die traditionsreichen Geschlechter sahen sich nun mit sozialen Aufsteigern konfrontiert, die an Macht und Einfluss gewannen. Dies hatte einen Identifikations- und Selektionsprozess zur Folge, der im sogenannten Tanzstatut von 1521 endete und 42 Familien endgültig sozial abgrenzte. Geburtsstand und Herkunft der Familie erlangten für die Ratsfamilien hohen Status. Einer weiteren Welle des Niedergangs sah sich das Nürnberger Patriziat im 18. Jahrhundert ausgesetzt: Die Anzahl der ratsfähigen Geschlechter in Nürnberg sank rapide, was in relativ kurzer Zeit zu einer massiven Gefährdung des zur Verfügung stehenden Personals im Rat führte. Die verbliebenen Familien standen nun verstärkt unter dem Druck, sich ihrer althergebrachten Rechte und damit der tradi tionsreichen Ratsfähigkeit zu versichern, diese nach innen zu fixieren und nach außen zu legitimieren. Sie bedienten sich hierbei verschiedenster künstlerischer, diplomatischer und genealogisch-historiographischer Mittel. Die Gattung des Geschlechterbuches galt in Nürnberg wie auch anderenorts seit dem 15. Jahrhundert als beliebtes Medium städtischer wie familiärer Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur und erreichte in Nürnberg zwischen 1490 und 1630 ihren repräsentativen Höhepunkt.2 Hier wurden historische Nachrichten zu *
Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen des Leibniz-Forschungsprojektes „Jenseitsvorsorge und ständische Repräsentation. Interdisziplinäre Erschließung der spätmittelalterlichen Totenschilde im Germanischen Nationalmuseum“, am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, 2014–2017. Siehe Frank Matthias Kammel/Katja Putzer/Anna Pawlik/Elisabeth Taube (Hg.): Die Totenschilde des Spätmittelalters im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2019 [im Druck]. 1 Peter Fleischmann, Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Neustadt an der Aisch 2008, S. 260–272. 2 Zu Geschlechterbüchern, teils mit Überblick über die überlieferten Exemplare: Gerhard Hirschmann/Franz Xaver Pröll (Hg.), 600 Jahre Genealogie in Nürnberg, Ausstellungskatalog Stadtbib-
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der jeweiligen Familie versammelt und in Wort sowie teils sehr aufwendig im Bild fixiert. Zur Steigerung der historischen Authentizität wurden verschiedene Schriftund Sachquellen herangezogen, abgeschrieben und in die Geschlechterhistorie integriert. Häufig sind hier auch künstlerisch gestaltete Stammbäume beigeheftet. Die ältesten Exemplare lassen zunächst eine starke Ausrichtung nach innen erkennen; es galt in erster Linie die familieninterne Überlieferung zu sichern und sich damit auch mahnend an die Nachkommen zu wenden. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts lassen sich verstärkt genealogisch-legitimierende Richtungen erkennen. Damit werden die Familienbücher gewissermaßen zur Quelle für eine neue Bildtradition in dieser Zeit, die bei den Nürnberger Familien weite Verbreitung findet und vielfach variiert wird. Neben diesen häufig innerfamiliär angelegten und gepflegten Bänden waren die Totenschilde in Nürnberg seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts an den Kirchenwänden in der fränkischen Reichsstadt ein beliebtes Medium der familiären Selbstdarstellung. Diese Tradition blieb – mit formalen Änderungen – bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in den Kirchenräumen in und um Nürnberg gegenwärtig. Bis an das Ende des 15. Jahrhunderts wurden insbesondere üppig plastisch gearbeitete und verzierte Rundschilde von ca. 100 Zentimetern Durchmesser gearbeitet. Aufgrund einer Regelung des Nürnberger Rates, der die zunehmende Prunkentfaltung und Heraushebung einzelner Familien einzudämmen versuchte, wurden seit 1493/95 mit wenigen Ausnahmen nur noch flache, bemalte Tafeln nach einem einheitlichen Maß gefertigt – die Bewahrung der alten plastischen Schilde blieb jedoch ausdrücklich erwünscht, selbst wenn Familien bereits ausgestorben oder abgewandert waren. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts setzte dann gewissermaßen eine Monumentalisierung und zunehmende Vereinheitlichung der Formen der memorialen Objekte ein: Anstelle der Totenschilde fertigte man nun monumentale Tafeln an, auf denen tabellarisch und platzsparend die verstorbenen Familienmitglieder verzeichnet wurden. Auf den großformatigen, querrechteckigen Tafeln wurden die Namen liothek Nürnberg, Nürnberg 1961; Helmut Haller von Hallerstein, Nürnberger Geschlechterbücher, in: MVGN 65 (1978), S. 212–235; Hartmut Bock, Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance – Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat, Frankfurt a. M. 2001, S. 476–484, Anh. 9; Georg Rohmann, „Eines Erbaren Raths gehorsamer amptmann“. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts, Augsburg 2001; Pierre Monnet, La mémoire des élites urbaines dans l´Empire à la fin du Moyen Âge entre écriture de soi et histoire de la cité, in: Hanno Brand/Pierre Monnet/Martial Staub (Hg.), Memoria, Communitas, Civitas. Mémoire et conscience urbaines en occident à la fin du Moyen Âge, Ostfildern 2003, S. 49–70; Birgit Studt, Erinnerung und Identität. Die Repräsentation städtischer Eliten in spätmittelalterlichen Haus- und Familienbüchern, in: Dies. (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2007; Marc von der Höh, Zwischen religiöser Memoria und Familiengeschichte. Das Familienbuch des Werner Overstolz, in: Studt, Haus- und Familienbücher, S. 33–60; Gregor Rohmann, mit seer grosser muhe vnd schreiben an ferre Ort. Wissensproduktion und Wissensvernetzung in der deutschsprachigen Familienbuchschreibung des 16. Jahrhunderts, in: Studt, Haus- und Familienbücher, S. 87–120; Hartmut Bock, Bebilderte Geschlechterbücher, in: Genealogie. Deutsche Zeitschrift für Familienkunde 31 (2012), S. 124–152; Maria Deiters, Die Familie in der Bibel. Lutherische Bildpraxis und Bibelrezeption am Beispiel der Bibel des Nürnberger Patriziers Martin Pfinzing, in: Maria Deiters/Evelin Wetter (Hg.), Bild und Konfession im östlichen Mitteleuropa, Ostfildern 2013, S. 281–401, hier S. 288f.
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der verstorbenen Familienmitglieder in Kolumnen notiert. Stärker als zuvor bei den Totenschilden, die vor allem in der Menge als Familiengedächtnis dienten, als Objekt jedoch deutlich individualisiert waren, hatten die Tafeln nun deutlich sippenbzw. gruppenbezogenen Charakter. Auf diesen und mithilfe all dieser künstlerisch gestalteten Medien wird das Bild des Ritters als konstruierter Spitzenahn seit dem 16. Jahrhundert im Stadtraum Nürnbergs vielfältig präsent, wobei der Ritter hier als gerüstete Kostümfigur erscheint. Verweise auf die durchaus differenzierten rechtlichen und sozialen Aspekte und Entwicklungen des Rittertums vor dessen Niedergang in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden sich nicht. Die Kunstwerke wurden so zu Medien memo rialer, ständischer Repräsentation und zu Zeugen eines der eigenen Legitimation verpflichteten Standesbewusstseins des gehobenen Nürnberger Bürgertums, welches sich im 16. bis 18. Jahrhundert zunehmend dieser Mittel der Distinktion bediente.
1. Der Urahn als Ritter Der Nürnberger Kaufmann Ulman Stromer (1329–1407) sammelte zwischen 1360 und 1403 familiengeschichtliche Nachrichten aller Art und vereinte sie in seinem Püchel von meim geslecht und von abentewr, welches er über Jahrzehnte pflegte und ergänzte.3 Das Püchel gilt als das älteste überlieferte Familienbuch reichsstädtischer Zeit überhaupt. Stromer gelang es darin, seine Ahnen bis in die Generation seines Ururgroßvaters zurückzuverfolgen, d.h. in die Zeit seines Vorfahren Gebhard von Reichenbach von der Burg Kammerstein bei Schwabach, einem Ritter und Lehnsherrn König Konrads IV. (reg. 1237–1254). Ausdrücklich beruft er sich auf Quellen – alz ich ez gehort vnd ervaren hab –, die seine ritterliche Herkunft bezeugen sollen.
3
Nürnberg, GNM, Hs. 6146; Edition bei Karl Hegel (Hg.), Die Chroniken der fränkischen Städte: Nürnberg. Bd. 1, Leipzig 1862, S. 1–312 (Zitat unten ebd., S. 4); dem folgend Walther Emi Vock, Ulman Stromeir (1329–1407) und sein Buch. Nachträge zur Hegelschen Ausgabe, in: MVGN 29 (1928), S. 85–168; sowie die Teiledition von Lotte Kurras, Ulman Stromer. Püchel von mein geschlecht und von abentewr. Teilfaksimile der Handschrift Hs. 6146 des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 2 Bde., Bonn 1990. Zuletzt mit Literaturüberblick: Studt, Haus- und Familienbücher, S. 6–9.
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Abb. 1: Geschlechterbuch der Holzschuher, 1560er Jahre, fol. 60*v: Lorenz Holzschuher (gest. 1130) im Gebet Quelle: StadtA Nürnberg
Nach Stromer begegnet dieser Versuch des ritterlich-adligen Herkunftsnachweises in den Familienbüchern des 16. Jahrhunderts mehrfach auch im Bild. So legte der Stiftungspfleger Veit Holzschuher d. Ä. (1515–1580) in den 1560er Jahren ein umfangreiches Familienbuch an und bediente sich verschiedener historischer Nachweise seiner Ahnen, darunter auch den Sachzeugnissen an den Nürnberger Kirchenwänden: Der früheste für Holzschuher erkennbare Ahnherr, der 1130 verstorbene Lorenz, kniet hier in ewiger Anbetung mit dem Rosenkranz als älterer Herr vor dem Gekreuzigten (siehe Abb. 1). Er ist aufwendig gerüstet, mit Dolch und Schwert bewaffnet, der Helm des Rennzeugs liegt vor ihm auf dem Boden. Zur Authentizität dieser Darstellung – die sich offensichtlich mithilfe der familieneigenen Quellen nicht untermauern ließ – notierte Veit Holzschuher:
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Lorentz Holtzschuher so billich der Erst vnd A. j. sein soll, welcher gestorben A. 1130. Wie sein Schillt so ich Veijt holtzschuher als man S. Sebolts Kirchen A. 1572 Verneurt gefunden außweist, Vnd ist für gewiß zu achten, das er des Lorentz Holtzschuhers A. j. Vatter geweßt würdt sein. Darumb die Erst Generation bij Ihm seinen Anfang solt gehabt haben. Dieweil man aber sein Erst In erfarung kommen, hab ich Ihn doch auch hieher Verzaichnen Wöllen lassen.4
Veit Holzschuher gab hier den Totenschild des verstorbenen Ahnen an, welchen er in der Rats- und Pfarrkirche St. Sebald gefunden hatte. Der Schild wurde noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Historia genealogica von Johann Christoph Gatterer (1727–1799) in Text und Bild behandelt (siehe Abb. 2). In Ermangelung von schriftlichen Zeugnissen diente hier demnach der Totenschild als Quelle für die Anciennität der Holzschuher im 12. Jahrhundert.
Abb. 2: Totenschild für Lorenz Holzschuher (gest. 1130) dargestellt bei Gatterer 1755 Quelle: Gatterer, Historia 1755, S. 105, Tab. I.
4
Veit Holzschuher, Geschlechterbuch der Familie Holzschuher, 1563–1565, StadtAN, E3, Nr. 48, fol. 60*v, 61*r.
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Abb. 3: Geschlechterbuch der Tetzel, 1550, fol. 11r: Jobst d. Ä. Tetzel (gest. 1340) im Gebet Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Ein vergleichbarer Verweis auf die ritterliche Abstammung findet sich auch im Familienbuch der Familie Tetzel aus dem Jahr 1550. Der erste nachweisbare Ahn, Jobst d. Ä. (gest. 1340), erscheint hier kniend im roten Leibrock und mit aufwendig geziertem Helm gemeinsam mit seiner Ehefrau und beider Wappenallianz (siehe Abb. 3).5 Einen historischen Nachweis für die Existenz von Jobst d. Ä. lässt sich in den Quellen nicht finden; die Überlieferung der Totenschilde in der Familienkapelle an der Benediktinerkirche St. Egidien setzt erst nach seinem Tod ein.6 Eine theologisch erweiterte Variation des Motivs des Ritters findet sich in den Darstellungen des schlafenden bzw. lagernden Ritters als Urahn, aus dessen Körper der Stammbaum emporwächst. Der gerüstete Mann als Wurzel eines Stammbaums 5
Familienbuch der Tetzel, angelegt von Joachim Tetzel, 1550, GNM, Hs 6222a, fol. 11r. Dr. Michael Rötenbeck, Inschriften der Nürnberger Kloster- und Ordenskirchen, 1623, in: GNM, Merkel Hs 4° 491, fol. 6r.
6
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begegnet in der genealogischen Kunst der Frühen Neuzeit in Nürnberg nun wiederholt, in unterschiedlichen Varianten und Medien. Über die bloße Darstellung des historisch bzw. historisierend authentischen Ahnherrn hinaus wird das Motiv nun theologisch erweitert: Seit dem 12. Jahrhundert findet sich in der Buchmalerei wie auch in der plastischen Kunst das Thema der Wurzel Jesse mit dem schlafenden Jesse. Die Illustrationen entsprechen dem bei Jesaja überlieferten Stammbaum Christi (Jes 7,14; 11,1; 53,2) als Sohn aus dem Geschlecht Davids bis zu Adam (Apk 22,16; Lk 3,23–38), der demnach zum Stammvater der Menschheit wurde.7 Der schlafende Jesse ist dabei als Parallele zur Gestalt des schlafenden Adam zu erkennen. Besonders deutlich wird diese Parallele bereits im Lektionar aus Siegburg aus der Zeit vor 1164: Jesse liegt hier tot im Sarg, durch ihn hindurch wächst der Baum aus der Erde empor. In seinen Zweigen sind die sieben Tauben des hl. Geistes zu erkennen.8 Über die Jahrhunderte festigte sich das Bildthema, in der Spätgotik finden sich virtuose, plastische Darstellungen, darunter diejenige am Tympanon des Domkreuzganges in Worms (1488) und in der Predella des Sieben-Schmerzen-Altars von Henrik Douwerman in St. Nicolai in Kalkar (1518/22).9 Für die Herleitung der eigenen Genealogie schöpften die Nürnberger Patrizier nun in bildlicher Form aus diesem bekannten Motiv: Zur Darstellung der Herkunft von Beginn an zeigen sie den Ritter in Adamspose als Spitzenahn ihres Geschlechts. Der gerüstete Schlafende verweist auf ihre ritterliche Herkunft, zugleich wird er zu einer Art Adamsgestalt, aus der das Geschlecht entsprießt. So steht im Sinne einer Einleitung zu den folgenden Illustrationen der einzelnen Familienmitglieder auf fol. 1 des Tetzelschen Geschlechterbuches aus der Mitte des 16. Jahrhunderts der Stammbaum der Familie, ausgehend von Jobst d. Ä. Als Wurzel ist hier ein lagernder Ritter ins Bild gesetzt, der den aus seinem Leib erwachsenden Baum des Geschlechts stützt. An diesem hängen die Wappen der Nachfahren über neun Generationen (siehe Abb. 4, S. 192).10 Zusätzliche Historizität wird dem Stammbaum durch die Form der Wappenschilde verliehen: Diese entwickeln sich, angefangen bei einfachen ‚alten‘ Dreieckschilden in der ersten Generation, bis hinauf zu zeitgenössischen pflug artigen Schilden mit Rollwerk und Gesprenge. 7
Vgl. Arnold Angenendt, Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter, in: Peter Wunderli (Hg.), Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, Sigmaringen 1994, S. 27–52. 8 Lektionar aus der Benediktinerabtei Siegburg, London, The British Library, Harley 2889, fol. 4r. Vgl. Verona, Bronzetür an San Zeno, Bildfeld mit der Wurzel Jesse am rechten Flügel, um 1138, dazu Ursula Mende, Die Bronzetüren des Mittelalters 800–1200, München 1983, bes. S. 146–154, S. 150 u. S. 153, Abb. 89; Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique, Evangelistar aus Groß St. Martin, um 1220/30, Ms. 9222, fol. 25, hier wird Maria an zentraler Stelle symbolisch für den Stamm eingefügt, sie hält ein Spruchband mit Verweis auf das Hohelied 2,1 „EGO FLOS CAMPI“. Zuletzt dazu Adam R. Stead, Seeing Christ: The Groß St. Martin Evangelistary and Monastic Image-Making in Thirteenth-Century Cologne, in: Studies in Iconography 37 (2016), S. 181–228. 9 Siehe Rüdiger Fuchs, Die Inschriften der Stadt Worms, Wiesbaden 1991, Nr. 316, online: http://www. inschriften.net/worms/inschrift/nr/di029-0316.html [Stand: 09.09.2018]; Barbara Rommé, Henrick Douwerman und die niederrheinische Bildschnitzkunst an der Wende zur Neuzeit, Bielefeld 1997; Guido de Werd, St. Nicolaikirche Kalkar, München, Berlin 2002, S. 93–99. 10 Familienbuch der Tetzel, angelegt von Joachim Tetzel, GNM, Hs 6222a, fol. 1r.
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Abb. 4: Geschlechterbuch der Tetzel, um 1550, fol. 1r: Stammbaum der Familie Tetzel (siehe FT 16, S. 133) Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Abb. 5: Stammbaum der Pfinzing, um 1568/69: Detail des schlafenden Ritters (Ausschnitt) (siehe FT 17, S. 134) Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Foto von Georg Janßen
Ein besonders repräsentatives Beispiel für die Verbindung des Urvaters Adam mit der eigenen Genealogie ist, wie Maria Deiters bereits beobachtete, der Stammbaum der Familie Pfinzing aus der Zeit um 1568/69. Die großformatige kolorierte Zeichnung, die im Auftrag Martins II. Pfinzing (1521–1572) von Jost Amman und Georg Mack d. Ä. geschaffen wurde, zeigt den Stammbaum des Geschlechts als üppigen und eng verzweigten Rankenbaum mit mehrheitlich ganzfigurigen Ahnendarstellungen.11 Als Urahn lagert ein schlafender, älterer Ritter in der weiten Landschaft, die hier als Gegend um Henfenfeld, dem Landsitz der Familie, ausgewiesen ist. Aus seinem Bauch entsprießt der Familienstamm, der sich in langen Ästen über zehn Generationen verzweigt. Die in den Zweigen zahlreich gezeichneten Tiere – Vögel, Affen, Fuchs, Eulen, Eichhörner etc. – erinnern an das Motiv des Lebensbaumes und verweisen auf das Paradies als Lagerstätte des Urahns (siehe Abb. 5).12 Das Blatt mit dem aufwendig gearbeiteten Stammbaum war ursprünglich in den Rückdeckel 11
Stammbaum der Familie Pfinzing, um 1568/69, GNM, HB 27084, Leihgabe der Familie Löffelholz. Ausführlich dazu: Deiters, Die Familie in der Bibel, S. 348–358, Abb. 67, 70, 72, 73; Taf. XVIII. 12 Dazu ausführlich: Deiters, Die Familie in der Bibel, S. 354–358.
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der zweibändigen, höchst repräsentativen Pfinzing-Bibel eingelegt. Im ersten Band der Bibel war, hinter den Sprüchen Salomons, das Geschlechterbuch der Familie eingebunden. Deiters hat diese hoch programmatische Vermischung von biblischen Texten und der Familienhistorie der Pfinzing analysiert und die enge Verbindung von Familiengeschichte und den heilsgeschichtlichen Berichten betont. Der schlafende Urahn kehrt im Geschlechterbuch selbst wieder, nun schwingt der Tod in Gestalt eines Skelettes die Sense über ihn. Eine Beischrift identifiziert ihn als eine Art Symbolbild für die bereits entschlafenen, unbekannten Ahnen früher Zeiten und machen ihn so zur Adamsgestalt der eigenen Familie: Dieser Allt so Schlaffen ligt vnnd Ruet bedeut / aller dern Elltern die man nit weis wie dann hieuorn am 7 Plath / weiter dauon geschriben ist, denen der Allmechtige Got gnedig vnnd / Barmbhertzig sein, auch jnen vnnd vnns allen ein fröliche selige auf- / erstehung am jüngsten tag beschern wölle. Amen.13
Im sogenannten Großen Tucherbuch, welches im Jahr 1606 vollendet wurde, findet sich eine Variation dieses Motivs, jedoch ohne Verweis auf die ritterliche Herkunft: Auf einer Doppelseite sind jeweils die Ehepartner der Ahnen dargestellt, in ganzseitigen, aufwendig gekleideten Kostümfiguren. Aus dem Bauch einer jeden Frau entspringt dabei der Ast, an dessen teils engen Windungen die Wappen der nachfolgenden Generation hängen. Die Frauen der Tucher werden so als biologischer Ursprung jeder Sippe ins Bild gesetzt und erhalten – jede für sich – die Rolle der Urmutter.14 Den unmittelbaren Bezug zu Adam als dem Spitzenahn der Menschheit lieferte das von den Brüdern Paul II., Christoph I. und Friedrich Behaim 1603 gestiftete Epitaph, welches sie bei Johann Philipp Kreuzfelder in Auftrag gaben (siehe Abb. 6).15 Im Zentrum der querrechteckigen Tafel erscheint Adam, im Paradies liegend, aus dessen Rippe Gottvater gerade Eva als seine Frau erschafft. Das Paradies erscheint als dicht bewaldeter, mit Blumen gezierter Garten, in dem Löwen, Vögel, Hasen und Rehe friedlich beieinander weiden. Verkleinert sind zu beiden Seiten der zentralen Schöpfung des ersten Menschenpaares die Szenen des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies zu erkennen. Der querovale Mittelteil wird zu beiden 13
Großgründlach, Familienarchiv Haller, sog. Pfinzing-Bibel, fol. 47v. Großes Tucherbuch, nach Vorlage von Dr. Christoph II. Scheurl, 1590–1696, StadtAN, E 29/III, Nr. 258, vgl. fol. 30r, 33r, 39r, 43r, et passim. 15 Vgl. Veit August Holzschuher von Aschbach auf Harrlach, Historische Beschreibung von Ursprung und Erbeuung der Haubt- und Pfarr-Kirche des heil. Sebaldi in Nürnberg, nebst richtiger Anzeige aller darinnen befindlicher Monumenten, Wapen Fenster, Gemählden, Todtenschilder, und Grabsteine derer Nürnbergischen auch anderer Geschlechtern, welche ihr Gedächtniß und Wapen hinein gestiftet haben […], Nürnberg 1739, S. 33. Carl Christian Hirsch/Andreas Würfel, Diptycha Ecclesiae Sebaldinae das ist: Verzeichnis und Lebensbeschreibungen der Herren Prediger, Herren Schaffer und Herren Diaconorum / welche seit der gesegneten Reformation biß hieher, an der Haupt- und Pfarr-Kirche bey St. Sebald in Nürnberg gedienet haben, Nürnberg 1756, S. 25; Christoph Gottlieb von Murr, Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in des H. R. Reichs freyen Stadt Nürnberg und auf der hohen Schule zu Altdorf. Nebst einem chronologischen Verzeichnisse der von Deutschen, insonderheit Nürnbergern, erfundenen Künste, vom XIII Jahrhunderte bis auf jetzige Zeiten, Nürnberg 1778, S. 47; Christoph Gottlieb von Murr, Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in der Reichsstadt Nürnberg, in deren Bezirke, und auf der Universität Altdorf nebst einem Anhange, Nürnberg 1778, Nürnberg ²1801, S. 71–72.
14
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Abb. 6: Behaim-Totentafel in St. Sebald (Nürnberg) von Johann Philipp Kreutzfelder, Nürnberg 1603 (siehe FT 18, S. 135) Quelle: Foto von Anna Pawlik, Nürnberg 2013
Seiten von Baumranken flankiert, an denen in dichter Folge über zwölf Generationen paarweise die Wappen der Behaim und ihrer Ehefrauen hängen, beginnend im Jahr 1187. Links wächst der Baum aus der Figur eines liegenden, schlafenden Ritters empor, aufwendig gerüstet, Helm und Waffen zum Schlaf abgelegt. Die Abkunft der Brüder schien hier über die erste nachweisliche Nennung eines Nürnbergischen Behaims im Jahr 1288 fiktiv zurück bis in das 12. Jahrhundert hergeleitet werden zu können.16 Rechts erhebt er sich aus einer Liegefigur in schwarzer Standeskleidung, ein Wams, Rock und Barett. Er ist damit als Mitglied der Stadtobrigkeit zu erkennen – nachdem der Stamm aus dem Ritter entsprießt, bildet der Patrizier nun in gewisser Weise die zweite Wurzel der Familie.17 Der rechte Stamm endet bei den Wappen der drei Auftraggeber und ihren Ehefrauen im Jahr des Auftrags 1603. Beide Figuren der schlafenden Ahnherren nehmen in ihrer Haltung direkt Bezug auf den lagernden Adam im Mittelteil und verbinden visuell die Abkunft der Menschheit mit der Abkunft der Familie. Der bereits erwähnte Veit Holzschuher gilt unter den Nürnberger Patriziern des 16. Jahrhunderts als einer der umtriebigsten Wahrer und Konstrukteure der eigenen Familienhistorie. Im Sinne dieser „Verbildlichung“ eines Ahnennachweises gab er um 1565/70 bei dem örtlichen Goldschmied Elias Lencker (gest. 1591) einen silbervergoldeten Willkommpokal in Auftrag (siehe Abb. 7, S. 196).18 Den Schaft des Trinkgeräts bildet die gegossene, vergoldete Figur eines knienden, gleichsam mit 16
Fleischmann, Rat und Patriziat, S. 317. Vgl. Jutta Zander-Seidel, Ständische Kleidung in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, in: Harry Kühnel (Hg.), Terminologie und Typologie mittelalterlicher Sachgüter. Das Beispiel der Kleidung, Internationales Round Table-Gespräch, Krems a. d. Donau, 6. Oktober 1986, Wien 1988, S. 59–75. 18 Pokal des Veit Holzschuher, Elias Lencker, Nürnberg, 1565/70, Nürnberg, GNM, Inv.-Nr. HG 5227. Zuletzt Karin Tebbe/Ursula Timann/Thomas Eser (Hg.), Nürnberger Goldschmiedekunst 1541– 1868, Nürnberg 2007, Bd. 1, S. 249–251, hier S. 250, Nr. 514; Bd. 2, Abb. 291; Karin Tebbe (Bearb.), Nürnberger Goldschmiedekunst 1541–1868. Band II: Goldglanz und Silberstrahl, Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2007, S. 273, Nr. 55, mit weiterführender Literatur. 17
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Abb. 7: Pokal des Veit Holzschuher, gefertigt von Elias Lencker, Nürnberg 1565/70 (siehe FT 19, S. 136) Quelle: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Foto von Monika Runge
dem Erdboden verwurzelten Geharnischten mit Holzschuher-Wappen, aus dessen Helmzier drei Spangen erwachsen. Sie tragen die Kuppa, auf deren unterem Profil 15 emaillierte Wappen und Bildnisse der ersten drei Ehefrauen Anna Ölhafen, Clara Grundherr und Clara Tetzel und deren Ahnen aufgebracht sind. Inschriften erläutern die Wappenallianzen. Die Kuppa zieren getriebene Darstellungen weiblicher Allegorien der Tugenden und Wappenschilde der Holzschuher. Weitere heraldische Emaille finden sich auf dem gewölbten Deckelrand in Rollwerkkartuschen, 16 an der Zahl, in Vierergruppen angeordnet und inschriftlich betitelt mit: Meine Vatterliche Annaten […] meine vo[n] der vatterliche anfrawe Annata […] Meiner Muter vo[n] ire vatter ger Annaten sowie Meine vo[n] der muterliche anfrawe Annate.
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Ein gestümmelter (verstümmelter) Mohr auf einem Spangenhelm bildet als Holzschuhersche Helmzier die Bekrönung des Deckels. Die inschriftlich kommentierte Gussmedaille im Deckelinneren zeigt den Stifter im Porträt. Seine Memoria sicherte Holzschuher durch den in seinem Testament verfügten Verbleib des Trinkgefäßes beim jeweils ältesten lebenden Nachkommen: Und nachdem ich ain getriben silbervergults trinkgeschirr mit aim deckel hab, so ungeverlich über funf mark wigt, uf welchem mein, auch meiner dreyen hausfrauen seligen vier, acht und sechzehn wappen und agnaten, auch der Holtzschuher stammen getriben, so ist main will und mainung, daß solches trinkgeschirr allwegen bey dem eltisten meinen sohn als erstlich dem Maximilian Veiten, und dan bey Philipsen, hernacher bey Veit Georgen und forthin, da ich mer eeliche söne bekommen wurde, pleiben solle.19
Der repräsentative Willkomm-Pokal wurde so über Generationen hinweg zum sichtbaren Zeichen der edlen Abkunft seines Stifters und damit der ganzen Familie. Durch die Darstellung der ehelichen Verbindungen band sich dieser zugleich in weitere familiäre Netzwerke ein. Diese blieben durch die testamentarisch verfügte Aufbewahrung beim jeweils ältesten lebenden Sohn auch in den kommenden Generationen sichtbar und im Gebrauch innerfamiliär präsent.
2. Die Manipulation der eigenen Genealogie Die Vergewisserung der eigenen Herkunft mithilfe vielfacher künstlerischer Medien war auch anpassbar, also modifizierbar. Sie boten auch die Möglichkeit, nachträglich gewissermaßen „korrigierend“ in die eigene Familiengeschichte einzugreifen. So eröffnete ein fiktives Turnier aus dem Jahr 1198 in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts für einige Nürnberger Familien die Chance, die eigene Herkunft bis in die Frühzeit der Stadtgeschichte hinzuleiten: 1526 dokumentierte der kaiserliche Herold Georg Rixner im Auftrag des Nürnberger Rates die Teilnahme von 39 Familien aus dem Umfeld des städtischen Patriziats an einem im Jahr 1198 veranstalteten Turnier im Auftrag Kaiser Heinrichs VI. Anschließend seien sie mit dem Regenten weiter nach Donauwörth geritten und dort von ihm geadelt worden. Noch bevor der Erstdruck 1530 erschien, fand der Bericht bald nach einem Aufenthalt Rixners in Nürnberg um 1524 Eingang in die Städtechroniken, wurde abgeschrieben und als historische Fiktion tradiert.20 Als Zeichen der Nobilitierung der eigenen Herkunft und im Sinne einer retrospektiven Erfassung eines historischen Gesche19
Zitiert nach Hans Bosch, Ein Pokal des Nürnberger Goldschmiedes Elias Lenker. In: Mitteilungen aus dem Germanischen Nationalmuseum (1894), S. 3–8, bes. S. 8. 20 StaatsA Nürnberg, Rep. 52a, Nr. 727, fol. 16v. Siehe auch StaatsA Nürnberg, Rep. 2c, Reichsstadt Nürnberg, Siebenfarbiges Alphabet, Akten Nr. 165 (enthält u. a. den Bericht des Georg Rixner über das Nürnberger Turnier des Jahres 1198, 1526).
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hens wurde es zudem in die Familienbücher der genannten Nürnberger Geschlechter aufgenommen und so für 39 Familien gleichermaßen zum Gründungsmythos – das Turnier wurde zum Urereignis der patrizischen Herrschaft in Nürnberg. Über diese Fixierung im Familienbuch hinaus präsentierte man sich an den Wänden der Ratskirche als Teilnehmer des historischen Ereignisses: Mehrere Verzeichnisse der Kirchenausstattung von St. Sebald aus dem 17. und 18. Jahrhundert dokumentieren insgesamt fünf Schilde von Turniervögten aus dem Jahr 1198. So hielt Holzschuher, der 1739 alle Monumente in St. Sebald dokumentierte, die Aufschriften folgender Schilde fest: Friedrich Haller hauptman[n] / Seboldt Waldstromer Zegermeister / Wilhelm koller Vorstmeyster / Niclaus pfinzing / Hanns Ebner / Bilgman Von Eijb / Sebolt Volgkamer / Ernst grunther [Baumeister] / Hennrich Muffel / Hiltprand haller / Wolffgang ducher / Lorentz holtzschueher.21 Die Schilde sind nicht erhalten, auch ihre Gestalt ist nicht überliefert. Bereits im 17. Jahrhundert kamen Zweifel an den Darstellungen Rixners auf: Die Kritik zielte vor allem auf den Mangel an historischer Glaubwürdigkeit, etwa bezüglich der zeitlichen Unstimmigkeit von Turnier und dem im Jahr zuvor überlieferten Tod Heinrichs VI. sowie der auffälligen Nennung der noch blühenden Nürnberger Geschlechter – die eben auch als Ratsherren maßgeblichen Einfluss auf den Auftrag des Berichtes hatten. So urteilte bereits der Nürnberger Ratsschreiber und Historiograph Johannes Müllner (1565–1634) in seinen Annalen der Stadt: Für funfte ist fast augenscheinlich, daß Rixner den Nurnbergischen Geschlechten vor andern hofieren wollen, dieweilen er der Geschlecht in andern Städten nirgends keine Meldung tut.22 Lotte Kurras ordnete den Bericht in die Bemühungen des Patriziats um die Konsolidierung ihres Status als allein herrschaftsfähige Geschlechter ein – hier reihen sich auch die historisch überlieferten Schilde unmittelbar ein. Sie wurden als Denkmale für die legendären Ahnen aufgehängt, jedoch wohl nicht schon im 12. Jahrhundert. Vielmehr lassen die umtriebigen Referenzen auf den Bericht Rixners in den Familienaufzeichnungen vermuten, dass die Schilde erst nach dessen Bericht angefertigt wurden und hier als vermeintlich im Schaukampf getragene Defensivwaffen als Sachquellen ihren Ort gefunden hatten, im Sinne einer genealogisch-legitimierenden Vereinnahmung ritterlicher Sachkultur. Die Familien sahen sich durch den vermeintlich historisch-authentischen Bericht darin bestätigt, dass sie bereits am Ende des 12. Jahrhunderts relevante Ahnen für das Stadtregiment in Nürnberg stellten.23
21
Holzschuher, Historische Beschreibung, S. 62. Vgl. GNM, Hs. 3994s, fol. 83r. Gerhard Hirschmann (Hg.), Johannes Müllner, Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623. Teil I: Von den Anfängen bis 1350, Nürnberg 1972, S. 145. 23 Die Tradierung des Turniers reicht bis ins 19. Jh.: Emil Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg von dem ersten urkundlichen Nachweis ihres Bestehens bis zu ihrem Uebergang an das Königreich Bayern (1806), Nürnberg [Neustadt an der Aisch] 1983 [1896], S. 37–38; Lotte Kurras, Georg Rixner, der Reichsherold ‘Jerusalem’, in: MVGN 69 (1982), S. 341–344; Lotte Kurras, Die Handschriften des Germanischen Nationalmuseums. Bd. 3: Norica. Nürnberger Handschriften der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1983, S. XI–XIII. 22
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Dem vergleichbar ist der Totenschild des Deutschordensritters Julius II. Welser, der 1278 verstorben sein soll, und der erstmals in einem 1618 bis 1625 angelegten Geschlechterbuch und wiederholt in einem 1666 angelegten Wappenstammbaum der Familie Welser begegnet. Demnach wurde er wegen seiner im Heiligen Lanndt gelaisten threwen Mannhafften dienst zu Rittern gemacht, und dann umb seines Ritterlichen wol verhaltens willen, A° p 1243 von herrn Conradten Lanndtgraven zu Hessen und Hochmeistern, des Ritterlichen Teutschen Ordens, zu einem Teutschen Ordensrittern nach Preußen stabulirt.24 Erhalten sind zwei Totenschilde, einer im Heilsbronner Münster, ein weiterer in der ehemaligen Deutschordenskirche St. Jakob in Nürnberg. Beide weisen in ihrer Gestalt und durch die Schriftart auf eine spätere, im 17. Jahrhundert initiierte Fertigung hin, die den legendären Ahnen mit kaiserlichen Verbindungen und Mitglied eines der bedeutendsten Verbindungen des Reiches belegen sollte – noch 1819 verwies man auf die erhaltenen Schilde in Heilsbronn und Nürnberg, um im Königreich Bayern die Freiherrnklasse zu erreichen.25 Totenschilde waren generell ein beliebtes Mittel zur „Korrektur“ der eigenen Genealogie. Im Zuge dieser formalen „Egalisierung“ des familiären Totengedächtnisses ließ die Familie Holzschuher vor der Mitte des 16. Jahrhunderts die alten plastischen, runden Totenschilde entfernen und teilweise durch neue flache Dreieck- oder Rechteckschilde ersetzen. Bei dieser Gelegenheit ergänzte sie wohl zwei Schilde für die vermeintlich frühen Ahnen Lorenz (gen. 1130) und Lorenz (gest. 1201). Initiator dieses formal veränderten Gedächtnisses war der schon erwähnte Veit d. Ä., Spross der noch blühenden (älteren) grünen Hauptlinie; er erweist sich hier erneut als umtriebiger Wahrer einer Familientradition, die er auf den fiktiven Urahn Lorenz im 1. Drittel des 12. Jahrhunderts zurückführte. Der Totenschild gab bereits im Jahr 1700 Anlass für Irritationen in der eigenen Familie: Der Nachfahre Veit Hieronymus Holzschuher betonte in diesem Jahr in einer Neuauflage genealogischer Notizen seine Verwunderung hinsichtlich dieses genannten Vorfahren, da, wie er schrieb: keine ander Urkund ist von Ihme obhanden, alß sein, […] Toden-Schild, vor welcher Zeit mann nichts von Ihme gewußt: dahero fast keinem verwunderlich vorkommen sollte, wo solcher Schild fast 500 Jahr lang gestecket.26 Wenige Jahre später taucht Lorenz nun wie selbstverständlich in den Genealogien der Familie als Stammvater auf.27
24
Zitiert nach Hartmut Bock, Die Familiengeschichtsschreibung der Welser, in: MVGN 95 (2008), S. 93–162, hier S. 148, vgl. S. 110, Anm. 86. 25 Bock, Familiengeschichtsschreibung, S. 150. 26 Veit Hieronymus Holzschuher, Disquisitio in Decem Priores Generationes Stemmatis Holzschueriani. Erläuterung und Geweiß des Neuaufgesetzten Holtzschuherischen Stammbaums, durch seine Erste Zehen Generationes, 1700, StadtAN, E 49/II, Nr. 749, fol. 5r–6r; vgl. Veit Holzschuher, Geschlechterbuch der Familie Holzschuher, 1563–1565, StadtAN, E 3, Nr. 48, fol. 61*r. 27 Johann Christoph Gatterer, Historia Genealogica Dominorvm Holzschvherorvm […], Nürnberg 1755, S. 105, Tab. I.
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In den folgenden Jahrzehnten blieb die Bildung von Memorial-Ensembles wichtige Aufgabe der Holzschuherschen Familienstiftung: Im Mai 1688 beschloss die gleich mehrere Maßnahmen zur Bildung eines solchen, in Weiterentwicklung ihrer Ahnen im Jahrhundert zuvor: 1) das schöne Holzschuherische Stam(m)buch zu continuire(n) und zu erweitern 2) Ein Monumentenbuch auf zurichten, und alle Holtzschuherische Monumenta darin zu verzeignen 3) Anstatt der Verstorbenen Toden Schild, hinfüro eine TodenTaffel, gleich denen Tuchern, Löffelholz, Volkamern etc: machen zu laßen, die Verstorbene daran zu schreiben, und bey S. Sebald auf zu henken.28
Die großformatige Tafel für St. Sebald wurde erst knapp sechs Jahrzehnte nach dem Beschluss der Familienstiftung im südlichen Seitenschiff der Kirche installiert, nach einem Entwurf des Bildhauers Johann Andreas Starcke. Zugleich endete für die Holzschuher die Tradition der Totenschilde; als letzter Schild wurde derjenige für den 1691 verstorbenen Gottfried Engelhardt installiert. Eine nahezu programmatische Steigerung des ergänzend-korrigierenden Prinzips lässt sich in Kalbensteinberg vor den Toren Nürnbergs erkennen, welches sich seit dem frühen 15. Jahrhundert im Besitz der Familie Rieter befand. Im Jahr 1488 wurde die Kirche geweiht.29 Hans VIII. Rieter (1522–1584) und sein gleichnamiger Sohn, in der familiären Zählung der IX. (1564–1626), bemühten sich stets mit großem finanziellem und künstlerischem Engagement um die Ausgestaltung der Patronatskirche. Hans IX. initiierte im Jahr 1610 neben der Abfassung einer kontinuierlichen Familiengeschichte eine historisierende Neuausstattung, maßgeblich unter genealogischen Gesichtspunkten:30 Er ließ die Chorwände mit Porträts der Familienmitglieder bemalen, die in den geistlichen Stand eingetreten waren; die Decke zierte fortan ein Fries mit den Wappen der Ahnen. Zusätzlich ließ er zahlreiche Totenschilde und Wappenepitaphien an den Wänden anbringen: In seinem Rechnungsbuch überliefert er die Zahlung von elf Talern an einen Meister Niklaus Öhler für das Malen von 15 Totenschilden, außerdem bekam ein Teutscher schreiber pro Schild einen Taler für die Ausführung der teils umfänglichen Inschriften.31
28
Memorialbüchlein der Holzschuher, Protokolle der Stiftungsratssitzungen 1570–1695, StadtAN, E 49/II, Nr. 635. – Das Verzeichnis der Holzschuher-Monumenta (Geistliche Stiftungen der Holzschuher, (Monumenta) der Holzschuher, 17./18. Jh., StadtAN, E 49/II, Nr. 614) enthält auch Auszüge aus Urkunden des 14. Jh., betreffend Friedrich Holzschuher, Deutschordensritter und Spitalmeister von St. Elisabeth, sowie Extrakte aus Testamenten einzelner Familienmitglieder aus dem 15./16. Jh. Vgl. Fleischmann, Rat und Patriziat, S. 567–569. 29 Hartmut Scholz, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Mittelfranken und Nürnberg (extra muros), 2 Bde., Berlin 2002; Fleischmann, Rat und Patriziat, S. 859–860. – Die Familie besaß bis 1753 das Patronatsrecht. 30 Michael Schmidt, Reverentia und Magnificientia. Historizität in der Architektur Süddeutschlands, Österreichs und Böhmens vom 14. bis 17. Jahrhundert, Regensburg 1999, S. 166–169 u. S. 274, Abb. 92 u. 110. 31 Kalbensteinberg, PfA, Rechnungen R1, u.a. fol. 58r.
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Die Totenschilde garantierten somit einerseits die historische Existenz der Ahnen, andererseits erzielte Hans IX. damit eine weitgehende Konformität des Kirchen inneren im Zeichen seiner – teils erfundenen – altehrwürdigen Abkunft. Notwendig erschien diese Legitimierung wohl, weil bereits im Mittelalter und der Frühen Neuzeit keine zuverlässigen Informationen über die Ahnen der Familie vorlagen; die Not machte hier entsprechend erfinderisch. Hans IX. ließ auch bereits seinen eigenen Totenschild anfertigen und zunächst mit dem Wappen seiner ersten Ehefrau Maria Imhoff ausstatten. Sie starb im April des Jahres 1609, im Jahr darauf heiratete er Maria Blandina von Eyb und ließ nun ihr Beiwappen auf den Schild setzen, wie aus seinem Rechnungsbuch hervorgeht: Nachdeme ich Hanß Rieter mich anderwerts verheyrattet, hab ich an meinem Thodtenschildt, das höffische Wappen Schilltlein, meiner ersten frawen seligen, herüeber, vnd der andern frawen, als das Eybische, an dieselbige statt sezen lassen […].32
3. Zum Schluss das Vorbild: Der Adel Die angeführten Versuche, die Herkunft der eigenen Familie auf die kaisernahe Ritterschaft des 12. Jahrhunderts zurückzuführen und dies bildlich zu unterstützen, begegnen im Stadtbild Nürnbergs seit dem 16. Jahrhundert vielfach. Neben den Geschlechterbüchern, die eher für den familieninternen Gebrauch und die Vergewisserung nach innen angelegt wurden, wurde nun auch die Gattung des Totenschildes dafür in den Dienst genommen, wie die Beispiele der vermeintlichen Turnierschilde zeigen. Sie sollten als Sachquellen die Teilnahme der Nürnberger Patrizier an dem legendären Turnier belegen und die traditionsreiche Beteiligung an der Stadtherrschaft der genannten Geschlechter authentifizieren – der Ritter wurde im 16. Jahrhundert für das Nürnberger Patriziat zum Prototypen des Spitzenahns. Die Darstellungen des Ritters in den teils hoch repräsentativen Geschlechterbüchern und Stammbäumen nimmt engen Bezug zur Gestalt des Adam als Urahn der Menschheit, was überaus deutlich im Epitaph der Behaim-Brüder zu sehen ist. Diese Übernahme bzw. Indienstnahme des Motivs wurzelt zum einen im Ideal bild des Ritters. Dieses Bild basierte auf allgemeinen Wertvorstellungen, die in dem ritterlichen Ethos des Hochmittelalters gründeten und – ergänzt durch einen christlichen Tugendkanon – die Vorstellungen eines „Ritters“ als Ehrenmann in der (stadt-) adligen Oberschicht prägten. Die aufwendig gerüstete Figur verkörperte demnach im Sinne eines Prototypen diese „ritterlichen“ Wertvorstellungen und soll somit die jeweilige ehrenhafte Herkunft belegen.
32
Kalbensteinberg, PfA, Rechnungen R1, fol. 59v, 1609 Oktober 27.
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Zum anderen weisen die Bezüge zu den fiktiven Ahnen auf eine Adaption hochadeliger Genealogien. Dies zeigte Gert Melville exemplarisch u.a. anhand einer genealogischen Argumentation, die die Herkunft Philipps des Guten (1396–1467) eindrücklich über die Herrscher der Vorzeit bis hin zu Adam herleitete und damit nicht nur seine Herrschaft als solche legitimieren, sondern gewissermaßen eine Garantie für die Qualität derselben liefern sollte. Zugleich wurde das Recht auf Regentschaft eng an die Familie, das Haus der Valois, gebunden und somit eine „Kontinuität des Blutes“ verdeutlicht.33 Der Hochadel schuf somit das Bewusstsein einer genealogisch fundierten Kontinuität, die eine dauerhaft gegebene Potenz zur Herrschaft legitimieren sollte. Gleichermaßen belegt dies auch die 1518 zusammengestellte Genealogie Maximilians I. (1459–1519). Sie entwarf eine agnatische Folge von einem Odpert (erst gfürst graf von Habspurg) zu Chlothar, einem merowingischen Frankenkönig, von dort aus bis hin zum Trojaner Hector.34 Neben Chlodwig wurde in vergleichbaren Genealogien besonders Karl der Große zum üblichen Spitzenahn, der als eine Art Vermittler zur Genealogie der antiken Kaiser, in die Sagenwelt des antiken Griechenlands und von dort zu Noah und Adam führte.35 So fand etwa die hochedle und teils erfundene Abkunft Kaiser Maximilians I. noch im Auftrag für sein Grabmal in der Innsbrucker Hofkirche seinen bildlichen Niederschlag: 23 lebensgroße Bronzefiguren flankieren den Kenotaph des Kaisers, dessen Anspruch u.a. durch Chlodwig I. öffentlich präsentiert wird.36 Mit den Worten Gerd Melvilles lassen sich solche Konstruktionen dynastischer Selbstdarstellung maßstäblich verkleinert37 bis hinein ins Patriziat Nürnbergs verfolgen. In Ermangelung der Möglichkeit, hochadelige Herrscher der Vorzeit als Ahnherren in den Dienst zu nehmen, wurde der Ritter zum Leitbild und Spitzenahn. Die Ritterbilder dienten zum einen der nach innen gerichteten Vergewisserung der eigenen Anciennität, sie konstruierten eine Kontinuität der Teilhabe an der Stadtherrschaft und stifteten so Identität. Zum anderen waren sie – in Gestalt der Totenschilde, auf einem Epitaph oder einem repräsentativen Willkomm-Pokal – auch ein öffentlich formulierter Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft und Mittel der Legitimation von deren Existenz und Qualität.
33
Gerd Melville, Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynamische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter-Johannes Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 203– 309, hier S. 215. Grundsätzlich dazu auch Karl Schmid, Geblüt, Herrschaft, Geschlechtsbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter, Habil.-Schrift masch., Freiburg i. Br. 1961. 34 Siehe Melville, Vorfahren und Vorgänger, S. 264ff. 35 Zum Widerspruch zwischen der Begründung der mittelalterlichen Adelsherrschaft und der biblischen Vorstellung von der Gleichrangigkeit der Menschheit als Nachfahren Adams siehe Angenendt, Der eine Adam, S. 46–49. 36 Karl Schmid, Andacht und Stift. Zur Grabmalplanung Kaiser Maximilians I., in: Karl Schmid/Joachim Wollasch (Hg.), Memoria, München 1984, S. 750–786. 37 Melville, Vorfahren und Vorgänger, S. 211.
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In diesen Zusammenhang gehört auch die Familiengeschichte der Welser. Die ursprünglich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in Augsburg ansässige Familie ist mit Jakob I. Welser (1468–1544), der die örtliche Niederlassung der Familiengesellschaft leitete, erstmals in Nürnberg nachweisbar.38 Sein rascher Aufstieg in den Rat der Stadt war für einen Zugezogenen ungewöhnlich; seine Nachfahren folgten ihm in die politischen Ämter. Am Ende des 16. Jahrhunderts zeichnete sich aufgrund fehlender Nachfolger jedoch eine Zeit für die Familie ab, in der kein Mitglied der Welser im Rat vertreten war. Ab 1601 saß kein Welser mit in der Ratsstube.39 Nachdem bereits Jakob I. sich um Informationen zur Herkunft zum Zwecke einer „Stammesvisierung“ bemüht hatte, fügten seine Nachfahren eigene genealogische Notizen bei,40 die bis in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurückreichten. Ihren Höhepunkt erreichte die Welsersche Geschichtsschreibung – im Angesicht der Abwesenheit der Familie im Rat – auf Initiative von Sebastian IV. (1589 –1634) zwischen 1618 und 1625 mit einer zusammenfassenden, repräsentativ angelegten Genealogie, beruhend auf insgesamt zwölf erfundenen Dokumenten. Als Ahnherr wird erstmals Franciscus Belisarius (gest. 565) angegeben, Feldherr Kaiser Justinians, mit einer Ehefrau Antonia Pompeia.41 Belisar erscheint im bebilderten Geschlechterbuch der Familie, welches Sebastian IV. selbst anlegte, folgerichtig in römischer Feldherrntracht mit goldverziertem Prunkhelm mit Federschmuck in Welserfarben; seine Gattin trägt ein rotes langes, tunikaähnliches Gewand, darüber ein halblanges Überkleid in Blau mit goldenem Gürtel. Die Wappen für Belisar (= „Welser“) und Antonia Pompeia sind frei erfunden. Zur Kontinuierung der Überlieferung soll der – ebenfalls fiktive – Baseler Domherr Emanuel Welser Belisar erstmals in einem Brief aus dem Jahr 1073 erwähnt haben, das Bildnis des Gewährsmannes folgt auf das vorgenannte.42 Die erfundene Familienherkunft wurde am 28. Mai 1621 von Kaiser Ferdinand II. bestätigt – die unbefriedigende Lücke zwischen dem namengebenden Spitzenahn und den gegenwärtigen „Nachfahren“ war geschlossen; die Nobilitierung des Geschlechts nun „amtlich“ und ging weit über diejenige anderer Nürnberger Familien hinaus. Die Welser näherten sich vielmehr adeligen genealogischen Konstruktionen an, indem sie ihre Herkunft nicht allein in die hochmittelalterliche Zeit der kaisernahen Ritterschaft konstruierten, sondern unmittelbar an die Zeit der römischen Kaiser andockten. Diese Reihe wurde kontinuierlich über den erfundenen Ahnen Philipp Walliser bis in die Zeit Karls des Großen und Ottos I. zurückgeführt. Sebastian IV. scheiterte schließlich mit diesem Unternehmen: Der Rat teilte ihm mit, dass Personen, die nicht allein in Ehrgeiz erstickt, sondern auch einig und allein ihren eigenen Nutz und Vorteil, keineswegs aber gemeiner Stat Wohlfahrt suchen zum Regiment nicht tauglich sein können.43 38
Siehe Fleischmann, Rat und Patriziat, S. 1075–1098. Fleischmann, Rat und Patriziat, S. 1084f. 40 Bock, Familiengeschichtsschreibung. 41 Welser-Archiv, Allg. Welserisches Stammbuch (nach Bock, Familiengeschichtsschreibung: BGB, We 1, fol. 4); vgl. Bock, Familiengeschichtsschreibung, S. 124, Anm. 134; Abb. 11. 42 Welser-Archiv, BGB, We 1, fol. 13v; vgl. Bock, Familiengeschichtsschreibung, S. 124 u. S. 126, Abb. 12. 43 Zitiert nach Fleischmann, Rat und Patriziat, S. 1086. 39
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Totenschilde, Totentafeln, Familienbücher, Pokale erscheinen als eine identitätsstiftende, memoriale Gesamtschau innerhalb des öffentlichen wie auch privaten Raumes. Sie dienen so einerseits der repräsentativen, nach außen gerichteten Legitimation, zum anderen der nach innen gerichteten Vergewisserung der eigenen Abkunft. Dabei wird im 16. Jahrhundert auch wiederholt ein stärkeres Bestreben zur „Manipulation des eigenen Herkommens“ feststellbar – die ritterliche Herkunft wird zum Fixpunkt der eigenen Genealogie.
DER HARNISCH IM HAUSHALT – WAFFEN ALS INDIKATOREN UND ALS TRIEBKRÄFTE SOZIALEN WANDELS IN DER MITTELALTERLICHEN STADT Regula Schmid
1. Einleitung: Der Harnisch im Haushalt In den Städten des Spätmittelalters war der Besitz militärischer Waffen alltäglich. Männer, Frauen und selbst Kinder besaßen Panzer, Helm, Armzeug und Handschuhe, Spieß, Halbarte, Mordaxt oder Schwert, als Bürgerinnen und Bürger, Zunftmitglieder, Haushaltsvorstände und Erben. Wenn die Waffen außerhalb des Haushalts ihrer eigentlichen Zweckbestimmung zugeführt wurden, veränderte sich der soziale Kontext ihres Gebrauchs: Nicht Bürgerinnen, sondern Bürger, nicht alte Zünfter, sondern junge, nicht Frauen, sondern Männer, nicht Haushaltsvorstände, sondern Knechte und nicht reiche, sondern arme Männer übernahmen die Waffen, um sich und andere mit ihnen schützen und, wenn es die Umstände verlangten, mit ihnen zu töten. Die Gegenüberstellung von Besitz und Gebrauch allein genügt allerdings nicht, um die sozialen Implikationen des Waffenbesitzes zu erfassen. Vielmehr müssen die Objekte in ihrer Materialität in den Mittelpunkt gerückt werden. Menge, Art, Qualität und Erhaltungszustand bestimmten die praktische und symbolische Bedeutung der Waffen im Kontext des Haushalts wie auch im Krieg. Die folgenden Ausführungen zu Besitz und sozialer Zirkulation von Rüstungen basieren auf ersten Analysen von sogenannten Harnischrödeln, die im 14. und 15. Jahrhundert in Städten im Raum der heutigen Schweiz in verschiedenen Momenten des administrativen Zugriffs auf die Bevölkerung erstellt wurden. Der Raum zwischen Jura und Alpen ist in mehrfacher Weise ein interessantes Experimentierfeld, um die allgemeine Aussagekraft einer vergleichenden Analyse solcher auf die militärische Leistung der Bürgerschaft ausgerichteter Listen – die Teil städtischer Schriftlichkeit weit über diesen Raum hinaus sind – zu überprüfen: Erstens finden sich hier nahe beieinander Städte unterschiedlicher Verfasstheit, die sich für vergleichende Studien anbieten. Zweitens steht die gute kommunale Überlieferung in starkem Gegensatz zur relativ geringen Beachtung militärischer Alltagskultur in der Stadtgeschichtsforschung insgesamt. Drittens ist dies für die Schweiz nicht zuletzt
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deshalb von Relevanz, weil das nach den Burgunderkriegen in großem Maßstab einsetzende Soldwesen die kommunalen und eidgenössischen sozialen und politischen Strukturen grundlegend veränderte. Die Bewertung der Dynamik und des strukturverändernden Charakters der „fremden Dienste“ vor allem seit den 1490er Jahren müsste aber nicht nur in Bezug auf die Nachfrage durch auswärtige Mächte, sondern auch vor dem Hintergrund zu Erkenntnissen zur gesellschaftlichen Wirkung des kommunalen Waffendienstes im 14. und 15. Jahrhundert erfolgen. Ein erster Schritt dazu ist die Frage nach der Präsenz militärischer Waffen in städtischen Haushalten des Spätmittelalters.
2. Militärische Waffen in der historischen Forschung Als Produkte städtischen Handwerks wurden Waffen überregional verhandelt und spielten eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. In ihrer Mehrzahl hauptsächlich aus Eisen gefertigt, band sie ihre Materialität vollständig auch in das lokale Schmiedehandwerk ein – verrostetes, zerhacktes, gebrochenes Eisen wurde genauso wiederverwertet wie Waffenteile einer neuen Funktion zugeführt wurden.1 (siehe Abb. 1a u. 1b). Stadtrecht und Satzungen weisen Waffen als Zeichen der Rechtsstellung der Bürger aus, indem das Recht, Waffen zu tragen mit der Pflicht einherging, Leib und Leben für die Stadt einzusetzen.2 Auf die enge Verbindung von persönlicher Rechtsstellung und Waffen verweisen Konflikte um die Abgabe von Rüstungsbestandteilen im Todesfall des Lehensnehmers an den Herrn („Harnischfall“) und überhaupt die Einbettung des „Harnischs“ ins Erb- und Steuerrecht.3 Als am Körper getragene 1
Der lokale Alteisenhandel und die Wiederverwertung sind quellenmäßig kaum zu fassen. Für das 16.–18. Jh.: Michael Mende, Alteisen zur Innovation von Gießerei und Frischprozess, in: Ferrum: Nachrichten aus der Eisenbibliothek 73 (2001), S. 32–39; Rainer Stahlschmidt, Die Geschichte des eisenverarbeitenden Gewerbes in Nürnberg von den ersten Nachrichten im 12.–13. Jahrhundert bis 1630, Nürnberg 1971, S. 95–96, S. 103–104 u. S. 148; Friedrich Hegi, Geschichte der Zunft zur Schmiden in Zürich 1336–1912, Zürich 1912, S. 132–133. Von den in den Basler Zeughausinventaren des 18. Jhs. aufgeführten über 160 Kettenhemden sind noch fünf Exemplare im Historischen Museum erhalten. „Die anderen waren [zu einem unbekannten Zeitpunkt] aufgetrennt und als ‚Harnischblätze‘ zum Reinigen von Kochgeschirr oder als Einsatz in Spar- und Zollbüchsen verwendet worden.“ Historisches Museum Basel, Basel, 14. Jh., Inv.-Nr. 1874.104, online: http://www.hmb.ch/sammlung/ object/kettenhemd.html [Stand: 06.05.2019]. Zur Bezeichnung und ihren Anwendungen: Schweizerisches Idiotikon digital V, Sp. 276–277, siehe: https://www.idiotikon.ch/ [Stand: 07.05.2019]. Für freundliche Auskünfte zur Problematik danke ich Niklaus Maurer (Schmiede Bümpliz, Ballenberg), Dr. Andreas Heege (Archäologe, Zug), Dr. Gudrun Piller (Historisches Museum Basel) und Prof. Dr. Christian Rohr (Universität Bern). 2 Die bürgerliche Waffenpflicht hat von den hier angesprochenen Aspekten die ausführlichste Behandlung erfahren. Zusammenfassend: Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln ²2014, v.a. S. 145–147 u. S. 449–460. 3 Beide Komplexe sind m. W. nicht aufgearbeitet. Beispiele sind in der Sammlung schweizerischer Rechtsquellen sowie den regionalen Urkundenbüchern publiziert, z. B. Urkundenbuch von Stadt und Amt Zug. Bd. 1, hg. v. Eugen Gruber/A. Iten/Ernst Zambach, Zug 1952 [UB Zug], Nr. 293, 21. Ap-
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Abb. 1: Recycling von Waffen: Geldbüchse mit Einsatz aus einem Stück Kettenhemd. Das Kettengewebe verhindert, dass Geld aus der Büchse herausgeschüttelt werden kann. Quelle: Historisches Museum Basel, Inv. 1904.21, Herstellungsort unbekannt, 1. Viertel 16. Jh. Donatorin: Zunft zu Schmieden, Basel, H. 16,3 cm, Dm. 10 cm, Gewicht 593,1 g. Foto von P. Portner
ril 1398: Harnischbrief von Walchwil: die Waffen gehören zu den Immobilien ([…] dz wir únsern harnesch, so wir han, waz dz ist, es sigen pantzer, huben, kessel huette, harschen armzúg, und waz harnesch ist und harnesch heißet, dz der nit varn[des] guot under úns in únsern hoefen noch twingen sin noch heißen sol […]); Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, III. Abt.: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern, Erster Teil: Stadtrechte. Bd. 2: Stadt- und Territorialstaat Luzern. Satzungen und andere normative Quellen (1426–1460), bearb. v. Konrad Wanner, Basel 2004 (SSRQ LU I/2), Nr. 325, Luzern, um 1445, Januar 11: Harnisch, der den lúten geleit ist oder den si jn miner herren dienst hant muss nicht versteuert werden; Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, III. Abt.: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern, Erster Teil: Stadtrechte. Bd. 1: Stadt und Territorialstaat Luzern. Satzungen und andere normative Quellen (bis 1425), Vorarbeiten v. Guy P. Marchal, bearb. v. Konrad Wanner, Basel 1998 (SSRQ LU I/1), Nr. 185, Luzern, 20. September 1419: Wen ein man harnesch het und stirbt, lát er sin sun, der sol den harnesch erben. Lát er aber kein kind und jnn ein frow erbt, die erbt den harnesch. Weitere Beispiele zum Harnischfall: Schweizerisches Idiotikon digital I, Sp. 741, siehe: https://www.idiotikon.ch/ [Stand: 07.05.2019], sowie der Eintrag „Harnisch“ ebd. 2, Sp. 1609–1612. Vgl.
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Objekte formen Waffen diese Körper, prägen Bewegungen und schaffen Männlichkeit.4 Und schließlich war (und ist) die Verfügungsgewalt über die Männer, welche fähig sind, Waffen zu nutzen, zentraler Ausweis von Herrschaftsverhältnissen. Im Mittelalter zeigen dies die ungezählten Konflikte zwischen Herrschaftsträgern allen Couleurs um das Recht, Truppen auszuheben.5 Die Geschichte militärischer Waffen in städtischen Haushalten ist im Schnittpunkt von Stadtgeschichte (v.a. Rechts- und Verfassungsgeschichte, Handwerks- und Zunftgeschichte), Kriegs- bzw. Militärgeschichte, Waffenkunde sowie Alltagsgeschichte angesiedelt. Jede dieser Zugriffe stellt Erkenntnisse zum hier interessierenden Thema zur Verfügung. Eine integrierte Betrachtungsweise – zentriert um die Waffe und den Umgang damit – steht für die Städte aus. Sie soll hier erstmals skizzenhaft versucht werden. Angeknüpft werden kann aber an die in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichende wehrgeschichtliche Forschung insbesondere auch der Schweiz. Angestoßen von der Herausforderung, aus den kommunalen Milizen eine nationale Armee zu formen, interessierte sich die entsprechende Historiographie für den institutionellen Aufbau des Wehrwesens der alten Eidgenossen und die Kriegstüchtigkeit ihrer Bewohner.6 Fortgeführt wurden diese Zugänge in wehrund waffengeschichtlichen Studien, vor allem im musealen Bereich.7 Vor diesem Hintergrund wurden auch einige der hier zur Sprache kommenden Quellen ediert.
Dubler, Anne-Marie, „Fall [Todfall]“, in: HLS online, Version: 03/07/2008, http://www.hls-dhs-dss. ch/textes/d/D13710.php [Stand: 06.05.2019]. 4 Ann. B. Tlusty, The Martial Ethic in Early Modern Germany. Civic Duty and the Right of Arms, Basingstoke 2011; Daniel Jaquet (Hg.), L’art chevaleresque du combat. Le maniement des armes à travers les livres de combat (XIVe–XVIe siècles), Neuchâtel 2013, u.a.m. 5 Z.B. im sog. „Twingherrenstreit“ (1469–1471), bei dem die Stadt Bern die fünf Gebote der „Fuhrungen“ (Transportleistungen), der „Reisen“ (Aufgebot zum Kriegsdienst), der Harnischschau, des Aufgebots zu den Landgerichten und der Steuererhebung zulasten des lokalen Adels an sich zog. Regula Schmid, Reden, rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreits 1469–1471, Zürich 1995; die rechtshistorische Analyse bei: Peter Liver, Rechtsgeschichtliche Betrachtungen zum Berner Twingherrenstreit 1469/70/71, in: Ernst Walder/Peter Gilg/Ulrich Im Hof/Beatrix Mesmer (Hg.), Festgabe Hans von Greyerz zum sechzigsten Geburtstag, Bern 1967, S. 235–256. 6 Carl von Elgger, Kriegswesen und Kriegskunst der schweizerischen Eidgenossen im 14., 15. und 16. Jahrhundert, Luzern 1873; Ernst von der Nahmer, Die Wehrverfassungen der deutschen Städte in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts, Marburg 1888. Wichtige Einzelstudien zum schweizerischen Raum: Emanuel von Rodt, Geschichte des bernerischen Kriegswesens. Bd. 1, Bern 1831; E[duard] A[chilles] Gessler, Basler Wehr- und Waffenwesen im 16. Jahrhundert, Basel 1938; Johannes Häne, Die Kriegsbereitschaft der alten Eidgenossen, in: Marcus Feldmann/Hans Georg Wirz (Hg.), Schweizer Kriegsgeschichte, Heft 1, Biel 1915, S. 5–34; Otto Hess, Die fremden Büchsenmeister und Söldner in den Diensten der eidgenössischen Orte bis 1515, Zürich 1918; Hugo Schneider, Beiträge zur Geschichte der zürcherischen Bewaffnung im 16. Jahrhundert, Zürich 1942. 7 Waffen als Freiburg in den Bund der Eidgenossen trat / Armes datant de l‘époque de l‘entrée de Fribourg dans la Confédération [Ausstellungskatalog mit Kommentaren], Historisches Museum Murten / Musée Historique Morat, Fribourg 1981; Schneider, Beiträge und unten, Anm. 9.
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3. Die Quellenlage: Objektmangel und Listenführung Die Helme, Kettenhemden, Panzer, Kragen und Armzeuge der städtischen Krieger entsprangen einer Massenproduktion.8 Die Produkte der Plattnerei wurden in großen Stückmengen in spezialisierten Schmieden hergestellt und aus Italien und in späteren Jahrzehnten aus Deutschland in die Städte des schweizerischen Raums eingeführt.9 Die Einzelheiten dieses Waffenhandels, der auch Halbfabrikate umfasste, sind nicht aufgearbeitet. Auswärtige Händler waren wohl ebenso beteiligt wie die lokalen Schmiede.10 Kettenhemden und einfache Helme (Eisenhüte) wurden vermutlich vorwiegend lokal aus importiertem, wohl in geringerem Maß aus dem regional anstehenden Eisen11 produziert, ebenso wie die Stangenwaffen (Langspieß, Halbarte, Mordaxt), welche von den städtischen Fußtruppen bevorzugt genutzt wurden. Die Handfeuerwaffen, möglicherweise auch die Armbrüste, wurden in den Schweizer Städten des Spätmittelalters aus importierten Bestandteilen zusammengesetzt,12 und auch die Klingen für Schwerter und Dolche wurden in der Regel13 aus den bekannten Werkstätten Solingen oder Nürnberg importiert und durch lokale Handwerker montiert. Charakteristika der Massenproduktion der Schutzwaffen der städtischen Fußsoldaten, um die es hier vor allem gehen soll, sind die funktionale und schmucklose Ausführung der Stücke, fehlende Individualität (sie sind nicht auf den Leib geschmiedet, sondern müssen von Individuen unterschiedlicher Statur getragen werden können) und eine relativ traditionelle Form, welche technische Innovationen und modische Ausprägungen nur zögerlich aufnimmt. Diese Eigenheiten stehen der langfristigen Aufbewahrung solcher Stücke entgegen. Die Massenware steht im Gegensatz zu den technisch, ästhetisch und durch ihre Provenienz herausragenden, 8
Erich Egg, Die Innsbrucker Plattnerwerkstätten 1450–1650, in: Ferdinand Opll (Hg.), Stadt und Eisen, Linz/Donau 1992, S. 311–326. 9 Alois Ruhri, Eisenverarbeitendes Gewerbe und Stadtentwicklung in Mitteleuropa in vorindustrieller Zeit, in: Opll, Stadt und Eisen, S. 1–14; zur Schweiz: Hugo Schneider, Schweizerische Waffenproduktion. Mit einem Verzeichnis schweizerischer Waffenschmiede, in: ZAK 16 (1956), S. 235–248, Taf. 99–104; Ders., Harnischproduktion in der Schweiz am Beispiel von Zürich, in: ZAK 28 (1971), S. 175–184. 10 Auch für die Schweizer Städte trifft wohl die Beobachtung zu, dass als Verleger v.a. Handwerksmeister auftraten, der Eisenwarenhandel (im Gegensatz zum Eisenhandel) aber als wenig profitabel galt. Ruhri, Gewerbe, S. 9. 11 Der Mangel an Rohstoffen im schweizerischen Raum ist bei Ausführungen zur Materialität des Krieges stets mitzudenken. Nur Eisen wurde teilweise bis ins 20. Jh. in für die lokale Produktion nützlichen Mengen abgebaut: Ernst H. Berninger/Paul-Louis Pelet/EM, „Eisen“, in: HLS online, Version: 07/04/2006, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D26231.php [Stand: 06.05.2019]; Anne-Marie Dubler, „Metallverarbeitende Handwerke“, in: HLS online, Version: 05/11/2009, http://www.hlsdhs-dss.ch/textes/d/D13980.php [Stand: 06.05.2019] sowie mit wenigen Angaben zum Spätmittelalter: Peter Hug, „Waffenproduktion und Handel“, in: HLS online, Version: 27/12/2014, http://www. hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13982.php [Stand: 06.05.2019]. 12 Schneider, Waffenproduktion, S. 237. 13 1471 wurde der Klingenschmied Kaspar Widenman von Ulm gratis ins Bürgerrecht der Stadt Zürich aufgenommen. Im 17. Jh. importierte Zürich aber alle Klingen. Hegi, Geschichte, S. 149.
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individualisierten Rüstungen hochgestellter Adliger, die in Rüstkammern als Zeugnisse der Handwerkskunst, im Memorialkontext zur Erinnerung an eine bedeutende Persönlichkeit aufbewahrt wurden und endlich als visuell ansprechende Objekte die Aufmerksamkeit erster Touristen und dann der Museumsverantwortlichen fanden.14 Städtische historische Sammlungen, in der Regel die Nachfolger der Zeughäuser, enthalten praktisch keine Stücke, die als Überreste der Bewaffnung des gewöhnlichen Kriegers angesprochen werden können.15 Dies gilt auch für die bedeutenden Sammlungen der Schweiz (Zürich: Schweizerisches Landesmuseum; Bern, Historisches Museum; Solothurn, Museum Altes Zeughaus; Basel, Historisches Museum; Grandson, Waffensammlung Schloss Grandson; Morges, Musée Militaire Vaudois).16 Die Rolle von Waffen und Bewaffnung als konstituierender Teil städtischer Kultur kann über die vorhandenen Objekte selbst also nicht adäquat erfasst werden. Die Annäherung an die Objekte in ihrer Materialität und Massenhaftigkeit erfolgt deshalb, einigermaßen paradox, über Texte.17 Basis der vorliegenden Skizze sind, neben normativen Quellen wie Satzungen und Zunftordnungen, Verzeichnisse, die in den Archiven meist unter dem Schlagwort „Harnischrödel“ firmieren.18 Sie entstanden im 14. und 15. Jahrhundert in verschiedenen Momenten des administrativen Zugriffs auf den Waffenbesitz der städtischen Bevölkerung. Anlass zur Herstellung solcher Listen war häufig eine sogenannte Harnischleite. Dabei handelt es sich um eine Art Sondersteuer, bei der vermögende Personen eine im Verhältnis zu ihrem Besitz stehende Anzahl von „Harnischen“ (Rüstungen) anschaffen mussten, die dann Männern ohne genügende Ausrüstung für den Kriegsdienst zur Verfügung gestellt wurden. Die Harnischleite wurde in der Regel in einer akuten oder antizipierten Bedrohungslage angeordnet. 14
Etwa Tobias Capwell, The Armour of the English Knight, 1400–1450, London 2015; Nicolas Baptiste, Armatus Corpus. Princes et chevaliers (1330–1530), 600 ans du duché de Savoie (Catalogue de l’exposition presentée au Château de Morges du 10 juin au 30 novembre 2016), Château de Morges 2016. 15 Eine wichtige Ausnahme ist die Sammlung des ehem. Bürgerlichen Zeughauses in Wien: Walter Hummelberger, Die Bewaffnung der Bürgerschaft im Spätmittelalter am Beispiel Wiens, in: Das Leben in der Stadt des späten Mittelalters [internationaler Kongress Krems an der Donau 20. bis 23. September 1976], Wien ²1980, S. 191–206, S. 204: „Auch hier dokumentiert sich das merkwürdige Phänomen, dass uns von den Massenwaffen, zu denen die „Hauswehren“ unbedingt gehören, ebenso wie von zahlreichen Gebrauchsgegenständen des Alltags im Spätmittelalter, erstaunlich wenig Exemplare erhalten geblieben sind.“ 16 Die verschiedenen Inventare und Kataloge seien hier nicht angeführt. Der Katalog „Waffen als Freiburg in den Bund der Eidgenossen trat“ (siehe Anm. 7), enthält nur eine geringe Zahl von Schutzwaffen bzw. Fragmenten davon. Ich danke Dr. Erika Hebeisen (Schweizerisches Nationalmuseum, Landesmuseum Zürich), Dr. Claudia Moritzi (Museum Altes Zeughaus Solothurn) und Dr. Gudrun Piller (Historisches Museum Basel) für ihre freundlichen Auskünfte. 17 Die Analyse der Chronikbilder ist einer anderen Untersuchung vorbehalten. Zu den Berner Chroniken des 15. Jhs. als Quellen der Waffenkunde jetzt: Morgane Bon, Enluminer la guerre à la fin du Moyen Âge: les guerres de Bourgogne ou la chute de Charles Téméraire d’après les enluminures de la chronique de Diebold Schilling l’Ancien (1474–1477) Master 2 Histoire, ungedr. Ms., Université de Lille, Juni 2018. 18 Eine ausführliche Diskussion des Quellentyps sowie erste Auswertungen in: Regula Schmid, The Armour of the Common Soldier in the Late Middle Ages. Harnischrödel as Sources for the History of Urban Martial Culture, in: Acta Periodica Duellatorum 5 (2017), Heft 2, S. 7–22, online: DOI 10.1515/apd-2017-006 [Stand: 06.05.2019].
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Die so entstehenden „Soll-Listen“ konnten sich mit „Ist-Listen“ mischen, wenn in jedem Haushalt die persönlichen und die zusätzlichen Waffen überprüft wurden. Auch die Kontrollen wurden vor allem im Bedrohungsfall vorgenommen.19 Zwar sehen städtische Satzungen in Luzern und Zürich schon im 14. Jahrhundert die regelmäßige Durchführung einer „Harnischschau“ vor.20 Belege für jährliche Musterungen finden sich aber erst für das 16. Jahrhundert unter anderen politischen und wehrorganisatorischen Vorzeichen. Die Listenführung vermischt sich dann, so der erste Eindruck, mit derjenigen der Reisrödel (Mannschaftslisten).21 Zu den Listen aus Harnischleite und Kontrolle gesellen sich gelegentlich Ausleihverzeichnisse.22 Sie geben Aufschlüsse über die Zirkulation von Waffen und damit über deren Potenzial, in soziale Verhältnisse einzugreifen. Die ungleiche räumliche und zeitliche Verteilung der Harnischrödel ergibt ein aufschlussreiches Überlieferungsmuster mit Schwerpunkten, die einerseits auf regional übergreifende Ereignisse wie den Alten Zürichkrieg (1437–1445), andererseits auf die verschiedenen Verfassungen der Städte und die Herrschaftsverhältnisse zurückweisen. Beides prägte Zeitpunkt, Art und Weise der Kontrolle der Wehrfähigkeit der städtischen Bewohner und beeinflusste die Herstellung und Aufbewahrung schriftlicher Verzeichnisse. Umfassende Listen, einschließlich einer detaillierten Schilderung über das Ritual der Waffenschau vor dem Stadtherrn (Rudolf IV. von Hochberg, Graf von Neuenburg seit 1447), stammen etwa aus der Kleinstadt Neuenburg (Neuchâtel).23 Dagegen sind in Städten mit Zunftverfassung (Solothurn, Zürich) wohl auch deshalb keine Waffenverzeichnisse erhalten, weil sie im Rahmen der einzelnen Zünfte erstellt wurden. Deren Archivierungstätigkeit hinkte hinter derjenigen der städtischen Kanzlei hinterher. In Zürich etwa stipulierte die Ordnung 19
Dazu bereits von Rodt, Geschichte. Bd. 1, S. 56: „Indessen findet man nicht, dass damals schon gewisse regelmäßige Zeiten zu Abhaltung der Waffenschauen in den verschiedenen Gegenden des Landes festgesetzt worden seyen, sondern gewöhnlich war es bei Anlass eines bevorstehenden Aufgebotes, oder in Folge der Erfahrungen, welche man bei einem stattgefundenen Kriegszuge gemacht, dass solche Maßregeln anbefohlen wurden. Auch in Hinsicht des Verfahrens herrschte dabei Verschiedenheit […]“. 20 Zu Zürich: Schneider, Beiträge; zu Luzern: Peter Xaver Weber, Die Luzerner Waffenverzeichnisse der Jahre 1349 und 1353, in: Der Geschichtsfreund 68 (1913), S. 187–244. 21 Zur Quellengattung Arnold Esch, Das Erlebnis der Mailänderkriege 1510–1515 nach bernischen Akten, in: Ders., Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Bern 1998, S. 249–328. Zentral die vergleichend vorgenommene sozialhistorische Analyse von Bruno Koch, Kronenfresser und deutsche Franzosen. Zur Sozialgeschichte der Reisläuferei aus Bern, Solothurn und Bern zur Zeit der Mailänderkriege, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 46 (1996), S. 151–184. Ein bedeutender Rödel aus Zürich ediert in: Johannes Häne, Der zürcherische Kriegsrodel des ersten Kappelerkriegs, in: Nova Turicensia. Beiträge zur schweizerischen und zürcherischen Geschichte der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, Zürich 1911, S. 165–183. 22 Bislang eruiert: Ausleihliste 1353, StaatsA Luzern, URK 225/3133; 1437, StaatsA Luzern, URK 229/3257; Armbrustverzeichnisse 1497, StaatsA Bern, UP 22, Nr. 8. Die Armbrustlisten werden in diesem Beitrag nicht analysiert. 23 Arthur Piaget, Revues militaires à Neuchâtel au XVme et au XVIme siècle, in: Musée neuchatelois. Recueil d’histoire nationale et d‘archéologie 40 (1903), S. 275–284; ebd., 41 (1904), S. 32–46, S. 81–86, S. 189–190; ebd., 42 (1905), S. 88–94. Die Überprüfung dieser umfassenden Listen am Original konnte für diesen Artikel nicht vorgenommen werden, sie werden deshalb nicht ausgewertet.
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der Zürcher Schmiedezunft vom 31. August 1336, dass der Zunftmeister zusammen mit seinen „Ratgebern“ jedem Zunftmitglied gemäß dessen finanziellen Möglichkeiten (ieglichem nach sinen statten) die Anschaffung von Rüstungsteilen auferlegen solle sowie den Harnischbesitz swenne es nottúrftig ist (im Entwurf dieser Ordnung: zweimal im Jahr) sowie stets vor Aufgabe seines Amts kontrollieren und seinem Nachfolger eine schriftliche Aufstellung übergeben solle, daz man wissen muge, waz sin sy und wer icht habe oder nicht.24 Andere Zürcher Zünfte kannten die gleichen Stipulationen. Trotz dieser deutlichen Verpflichtung des Zunftmeisters, spätestens bei Weitergabe des Amts den Waffenbesitz der Zunftmitglieder schriftlich festzuhalten, ist aber kein einziges solches Verzeichnis überliefert. Die Komplementaritäten von Herrschaftsverhältnissen, städtischer Verfassung, administrativer Schriftlichkeit, Wehrorganisation und Art und Umfang der Bewaffnung der Bürger sind offensichtlich. Eine vergleichende Untersuchung steht auch hier aus; an dieser Stelle soll zunächst die Relevanz dieser Strukturmerkmale für kultur- und sozialgeschichtliche Fragen betont werden.
4. Harnischleite: Die Auflage, Waffen zu besitzen
Jtem unnser herren sint úberein kon und die hundert, das ieklich burger und iederman in unsern gerichten und emptren soellent harnesch han. Und soellent die voegte jnn also legen und gebieten bi v lb. hinannt ze Wiennaht: Welher hundert guldinn wert hat sins eignen guotz úber dz, so er gelten sol, der sol eins gantzen mans harnesch hann. Hat aber einr ccc gl. wert, der sol ein pantzer dartzuo han. Hat aber einr úber ccc gul. wert, vil oder wenig, darnach sol mann eim harnesch legen und gebietenn, alz bescheidenlich ist.25
Angesichts unmittelbarer Bedrohung – im Fall der zitierten Ordnung in Luzern im Vorfeld der Eroberung des Aargau, 1415 – suchten die städtischen Räte, die militärische Ausrüstung ihrer Kämpfer sicherzustellen. Der Schwerpunkt lag auf den Schutzwaffen, für die der Sammelbegriff „Harnisch“ gebraucht wurde.26 Eine Urkunde aus Bern vom 23. April 1444 nennt alle Bestandteile des „Harnischs“. Sie hielt fest, dass die reichste Bürgerin der Stadt, Anna von Krauchthal, aufgrund einer kurz zuvor vorgenommenen „Harnischleite“ ihren bürgerlichen Pflichten durch den Kauf von sechs mann harneschs volkommer werschaft, nemlich pantzer, tschaladen [Schaller/=Helm, von ital. Celata] armzúg und hentschen nach24
StaatsA Zürich, C I, Nr. 557, [dat.] 31.08.1336, Abdruck mit Varianten aus einem Konzept von 1336 (A 73.2) in: Friedrich Hegi, Geschichte der Zunft zur Schmiden in Zürich, Zürich 1912, Beilage I, S. 347–352 und in: Hans Nabholz/Werner Schnyder (Hg.), Quellen zur Zürcher Zunftgeschichte. Bd. 1, Zürich 1936, Nr. 4–10. Zit. nach Hegi, Geschichte, S. 350. 25 SSRQ LU I/1, Nr. 102a, S. 200–201 (Satzung vom 11. November 1414). 26 UB Zug, Nr. 293: 21. April 1398, Harnischbrief von Walchwil: […] harnesch, so wir han, waz dz ist, es sigen pantzer, huben, kessel huette, harschen armzúg, und waz harnesch ist und harnesch heißt.
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Abb. 2: Auszug der Luzerner Truppen. Der Schützenfähnrich ist mit einem ganzen Plattenharnisch ausgerüstet und trägt einen Schaller. Die Büchsenschützen hinter ihm tragen Kettenhemd und Haube bzw. Plattenpanzer und Eisenhut. Quelle: SCHILLING, Amtliche Berner Chronik. Bd. 2, S. 84
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gekommen sei.27 Die Stadt nahm die neu erworbenen Stücke entgegen, um sie an einem Ort zu verstauen, wo sie in unser statt noeten wieder zu finden sein würden. Vor dem Bau eines eigentlichen Zeughauses bot sich das Rathaus mit seiner großen Erdgeschosshalle an. Für dieses Gebäude stellte ebenfalls im ersten Halbjahr 1444 Albrecht Tischmacher Schränke und Truhen her, zuo dem gezúg, also für militärische Ausrüstungsgegenstände.28 Der Mannsharnisch oder „ganze Harnisch“ bezeichnet in den städtischen Quellen stets die Rüstung der Fußsoldaten mit Helm, Schutz von Oberkörper und eventuell Hals, Armschienen und Handschuhen (siehe Abb. 2). Angriffswaffen sind im Begriff nicht enthalten. Die gleiche Sprachregelung liegt Verzeichnissen aus Luzern aus den Jahren 1349 und 135329 und aus Winterthur von 140530 zugrunde. Alle drei gehen auf vorangehende Einschätzungen der Steuerkraft zurück. Die Gründe für die Herstellung des Luzerner Verzeichnisses vom 6. Januar 1349 sind nicht bekannt. Die im gleichen Heft auf die ältere Liste folgende Aufnahme vom 24. Juni 1353 steht dagegen sicher im Zusammenhang mit militärischer Hilfe für das von Herzog Albrecht von Österreich belagerte Zürich und die Besetzung von Glarus und Zug.31 Dafür spricht neben der zeitlichen Koinzidenz auch, dass auf diese Liste unter dem Titel Divisio armorum in Via ein erstes, und unter Arma concessa civibus ein zweites, umfassendes Ausleihverzeichnis der Rüstungen, abschließend dann Besitz- und Ausleihverzeichnisse von Armbrüsten folgen (Habentes ballista, Sagitantes et balistas per se habentes, Divisio balistarum).32 Die Listen sind nach Quartieren geordnet. Neben den Schutzwaffen verzeichneten die Luzerner Harnischleiten auch Armbrüste. Sie sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Neben dem Begriff des ganzen Harnischs enthalten diese ältesten bekannten Rödel Ausrüstungsgegenstände, die mit der Abkürzung .c., gelegentlich ausgeschrieben als currit und einmal currisia bezeichnet sind. Es muss sich dabei nach dem Waffenspezialisten Eduard Gessler um Lentner gehandelt haben, „[…] einen eng auf den Leib geschnittenen Lederrock, der bis gegen die Knie reichte. Er war in 27
StaatsA Bern, F. Burgdorf, 23. April 1444. Friedrich Emil Welti (Hg.), Die Stadtrechnungen von Bern aus den Jahren 1430–1452, Bern 1904, Stadtrechnung von 1444/I, S. 181: Denne Albrecht Tischmacher umb scheft und troeg ze machen in dz rathus zuo dem gezúg, tuot 7 lb. 29 StaatsA Luzern, URK 226/3133. Edition und Interpretation in: Weber, Waffenverzeichnisse, sowie Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Abt. 2: Urbare und Rödel bis zum Jahre 1400. Bd. 3: Rödel von Luzern (Kloster Im Hof und Stadt), Muri und Rathausen und der Herren von Rinach, bearb. v. Paul Kläui, Aarau 1951, S. 246–271. Die beiden Editionen stimmen allerdings in wesentlichen Einzelheiten nicht überein. Die Harnischleite ist im Titel mit Arma posita bezeichnet. 30 StadtA Winterthur, B2/1, F 2–3v (Stadtbuch Winterthur 1), abgedruckt in: Kaspar Hauser, Winterthur zur Zeit des Appenzellerkrieges, Winterthur 1899. Vgl. Peter Niederhäuser, Durch der herschafft willen lip und guot gewagt. Winterthur im Appenzellerkrieg, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 122 (2004), S. 37–58; Ders., „Der größte Trauertag Alt-Winterthurs“? Winterthur und der Appenzellerkrieg, in: Peter Niederhäuser/Alois Niderstätter (Hg.), Die Appenzeller-Kriege – eine Krisenzeit am Bodensee?, Kostanz 2006, S. 129–137. 31 Ein unbefristetes Bündnis mit vor allem militärischer Zweckbestimmung hatten Luzern, Uri, Schwyz und Unterwalden mit Zürich am 1. Mai 1351 geschlossen. 32 Beschreibungen in: Weber, Waffenverzeichnisse, S. 195–197, und QW II/3, S. 246–247. 28
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der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts bis zum Aufkommen des Plattenharnischs im Anfang des XV. Jahrhunderts gebräuchlich und wurde über dem ebenfalls zu den unentbehrlichen Rüstungsstücken des XIV. Jahrhunderts gehörenden Panzerhemd getragen. Der Lentner […] war […] nicht immer aus Leder (corium), er bestand oft nur aus gepolstertem oder dick gestepptem Stoff.“33 Die Anschaffung bzw. der Besitz solcher Trutzwaffen wurde Männern, verheirateten und verwitweten Frauen, Söhnen und Töchtern sowie Minderjährigen (pueri, kint, heredes …) auferlegt, waren aber auch an Häuser (u.a. von Geistlichen) gebunden. Aufnahmeeinheit war wohl der Haushalt.34 Die wenigen Fälle, in denen Personen identifizierbar sind, weisen die Verbindung von Quantität und Vollständigkeit der Waffen mit der sozialen Stellung des Inhabers aus. Zehn currisiae und zwei Armbrüste sind etwa zwei Brüdern von Gundoldingen auferlegt (De Gundeldingen ambo 10 c., 2 balista). Vermutlich handelt es sich um Johannes und Werner von Gundoldingen. Werner war 1352 der reichste Bürger Luzerns und amtete 1360 als Schultheiß, sein Sohn Petermann von 1361 bis 1384.35 Wer der an erster Stelle der Liste aufgeführte Dominus Johannes in Ponte war, der 24 Lentner und sechs Armbrüste vorzuweisen hatte, ließ sich dagegen bislang nicht eruieren.36 Im Gegensatz zur Liste von 1349 enthält diejenige von 1353 Spuren von Kontrollen. Der Vergleich der beiden Verzeichnisse lässt einzelne Bewegungen im sozialen Gefüge der Stadt erkennen.37 Anstelle des Johann Türlimann etwa, der 1349 in der Großstadt wohnte und eine currisia vorzuweisen hatte, erscheint nun seine Ehefrau (die Türlimannin), und neben dem Eintrag 1 c. vermerkte der Schreiber non habet.38 Weitere 28 Pflichtige können die auferlegte Waffe nicht vorweisen. Insgesamt fällt vor allem der Rückgang der Anzahl ausgewiesener „Panzer“ auf, wohl zugunsten „ganzer Harnische“ und currisiae. Es ist anzunehmen, dass dieser Befund eine bessere Bewaffnung der Bürger nach mehreren Jahren Kriegserfahrung reflektiert. Nur 1353 wurden zudem Tartschen (Schilde der Armbrustschützen) verzeichnet, es ist allerdings kaum denkbar, dass sie erst auf diese zweite Waffenleite angeschafft wurden.39
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Weber, Waffenverzeichnisse, S. 197–198. Dies lässt sich aus Einträgen schließen wie: Hanfarter: 2 c./ siner tochterman: sin harnesch / sin knecht: sin ganzer harnesch oder Bonin: 1 ganzer harnesch / filius suus: ein ganzer harnesch, balista / domus: ein ganzer harnesch oder, für 1353, Peter Waltman: 2 c. et balista / Johannes sin bruoder: arma tota, balista / Item uxor eius: de domo in Fallo 1 c.: QW II/3, S. 250, S. 252 u. S. 256. 35 QW II/3, S. 250, Anm.; Peter Hoppe/Kurt Messmer, Luzerner Patriziat. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien zur Entstehung und Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert, Luzern 1976, S. 32–33; Franziska Hälg-Steffen, „Gundoldingen, von“, in: HLS online, Version: 08/03/2006, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D20255.php [Stand: 07.05.2019]. 36 QW II/3, S. 247. 37 Zur quantitativen Veränderung: Weber, Waffenverzeichnisse, S. 204–205. Die Pest erfasste Luzern erst im Sommer 1349; der Anstieg der waffenpflichtigen Stellen bis 1353 ist wohl auf Zuwanderung, allenfalls auch auf veränderte Aufnahmekriterien zurückzuführen. 38 QW II/3, S. 247 u. S. 254. 39 Weber, Waffenverzeichnisse, S. 203–204, stellt Auszählungen der beiden Verzeichnisse gegenüber. Da allerdings die Listen viele Unklarheiten aufweisen und die Editionen von Weber und in QWII/3 vielfach voneinander abweichen, wird hier auf die Wiedergabe absoluter Zahlen und darauf aufbauender Interpretationen weitgehend verzichtet. 34
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Wie in Luzern gibt auch in Winterthur ein in das Stadtbuch eingetragenes Verzeichnis wie harnesch angeleit Einblick in einschneidende Veränderungen für die städtische Bevölkerung.40 Die Aufnahme erfolgte zwei Wochen vor der Schlacht am Stoss (17. Juni 1405), die für Habsburg mit einer vernichtenden Niederlage enden sollte. Im Dezember 1405 überschrieb der Stadtschreiber die Anfang Juni hergestellte Liste der im Dienst der Habsburger waffenpflichtigen Winterthurer. Die Gegenüberstellung der Einträge zeugt von den gravierenden Verlusten an Männern und an Ausrüstung: Während das erste Register 295 Pflichtige (einschließlich 23 Frauen oder Kinder) mit insgesamt 54 Panzern, 328 Harnischen,41 23 Hauben und 50 Handschuhen auflistet, sind 52 Namen von Männern in der zweiten Liste gestrichen bzw. durch die Namen der Ehefrauen (oder Kinder) ersetzt. Zahlreiche Haushalte wurden nun geringer veranschlagt – etwa derjenige von Schultheiß Lorenz von Sal, dem Hauptmann des Auszugs, der als einer der reichsten Winterthurer zur Stellung von vier Harnischen verpflichtet worden war. Von Sal fiel in der Schlacht. An seiner Stelle ist nun die Schultheißin mit nur noch zwei Harnischen verzeichnet.42
5. Harnischschau: Menge und Qualität der Waffen in den städtischen Haushalten Die Verzeichnisse aufgrund einer Harnischleite bieten sich mit ihren generischen Bezeichnungen nur bedingt für Aussagen über Art und Qualität der Waffen in städtischen Haushalten an. Die Winterthurer Liste braucht „Harnisch“ sogar als eigentliche Recheneinheit, sind doch auch halbe Harnische aufgeführt. Detailliertere Angaben zu Art und Qualität der in den Haushalten vorhandenen Waffen enthalten aber Rödel aus den Aargauer Kleinstädten Brugg und Aarburg.43 Auch sie entstanden angesichts einer konkreten Bedrohungslage. Da die Listen große quellenkritische Herausforderungen stellen und die systematische Auswertung noch aussteht, soll an dieser Stelle nur auf eine Brugger Liste von 1437 näher eingegangen werden: 40
StadtA Winterthur, B 2/1, F. 2r: Es hett ein rat vnd iro fünf die von den viertzgen darzuo geben wurdent harnasch angeleit in der wis alz hie nach geschrieben stat […] [3. Juni 1405]. Vnd ist daz ernuwrot in concept. Marie [8. Dezember 1405]. 41 Hauser, Winterthur, S. 21, nimmt an, „Panzer“ entspräche „einer vollen Ausrüstung für einen Reisigen mit Kopfbedeckung“ und „Harnisch“ „einem Kettenhemd mit Kragen und Haube“. Dies wäre aber genau das Gegenteil der sonstigen Bezeichnungen. Die Tatsache, dass die reichsten Bürger für acht bzw. vier bis sechs „Harnische“ aufzukommen haben, zeigt, dass hier offensichtlich ein Irrtum vorliegt. 42 Zu den Verlusten und der Bedeutung der Liste: Hauser, Winterthur, S. 25–28. Winterthur zählte 295 steuerpflichtige Haushaltungen und verlor am Stoß gemäß chronikalischem Bericht 95 redlich lüt die iren harnasch truogent. Der Harnischrödel bestätigt diese hohe Verlustzahl. Ebd. und Niederhäuser, Winterthur. 43 StaatsA Bern UP 22bis (= AV 1380), Nr. 98: Harnischrödel von Stadt und Amt Aarburg, 22. Januar 1393. Das Verzeichnis ist habsburgischer Herkunft und gelangte wohl nach der Eroberung Aarburgs durch die Berner 1415 nach Bern. Gedruckt in: Die Urkunden von Stadt und Amt Aarburg, bearb. v. Georg Boner, Aargau 1965, Nr. 26, S. 24–27; StadtA Brugg, A 156.a (Harnischrödel 1437), A 156.b (Harnischrödel 1442).
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Das Verzeichnis von 1437 listet die vorhandenen sowie die noch anzuschaffenden Waffen dieser bis 1415 habsburgischen und nun unter Berner Herrschaft stehenden Kleinstadt im Aargau auf. Der Auflistung muss eine Harnischleite vorausgegangen
Abb. 3: Harnischrödel 1437. Quelle: StadtA Brugg, Harnisch- und Reisrödel 156a, S. 4–5
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sein. So werden auch hier einzelne Personen mit mehr als einem Harnisch verzeichnet, insbesondere ein Mann aus dem in Brugg ansässigen habsburgischen Ministerialengeschlecht der Effinger44 mit fünf ganzen Harnischen (Efinger sol han 5 mans harnsch). Zudem vermerkte der Schreiber in einigen Fällen X. hát gnúg, als er haben sol oder hát dz, so er haben sol oder führte aus, welche Teile vorhanden waren und bezeichnete sie als genügend (z.B. Alt Awelinan hat 1 pantzer 2 hentschen, hát gnúg). Mehr als deutlich wird aber auch die schlechte Qualität der vorhandenen Rüstungsbestandteile in etwa der Hälfte der Fälle: Heini Dahinden etwa hátt 1 boess pantzer, Ruedy Wagner hát 1 pantzer, ist nút wert, und sol han was im rodel stát. (Dieser Rudolf Wagner folgte der Aufforderung, die verzeichnete Ausrüstung anzuschaffen, zuerst nicht – der Schreiber notierte: hát úberfarn –; erst im zweiten Anlauf heißt es dann hát 1 pantzer koufft.) Auch ein gewisser Wúl kann zwar 1 guet pantzer, 1 brustblech, 1 húben [Beckenhaube] vorweisen, aber seine 2 hentschen sind nitt wert. Ihm wird die Anschaffung eines Armzeugs und eines Eisenhuts befohlen. Die Schaffnerin solt han 1 pantzer, 1 armzúg, 2 hentschen, 1 ysenhuot. Sÿ hat den ysenhuot. Recht zufrieden war schließlich der Begutachter mit Stapfer, der 1 pantzer, 1 huben, 2 hentschen, 2 stösslig (Schutz des Unterarms) hat und nur noch 1 brustblech anschaffen muss oder mit Henssly Túfel, dessen Harnisch nur ein Blech fehlt. Dieses wird ihm aber ein anderer zur Verfügung stellen (Henssly Túfel hát sin harnesch untz an 1 blech, sol nu von Rapel komen angends). Zahlreiche Personen wiesen kaputte Teile vor. Ihnen wird befohlen, sie zu ersetzen oder zu reparieren: Sattler – er ist in der Liste mehrmals aufgeführt und kam der Aufforderung, seine Waffen auf den geforderten Stand zu bringen, offenbar nur unwillig nach (stat vor, hát nit gekoufft als er tun solt) –, hát 1 boess pantzer. Sol 1 guet pantzer kouffen hinatt Pfingsten. Owelmans Helm lässt sich dagegen noch reparieren: Owelman hát 1 harnesch, doch ist die pantzer und die hub nitt gút, sol den houptharnesch [Helm, wörtlich: Kopfrüstung] bessern. Neben dem Kriterium des Vorhandenseins der vorgeschriebenen Waffen und der Vollständigkeit legten die Begutachter ihrer Kontrolle also klare Qualitätsvorstellungen zugrunde. Sie rangieren von bös, nüt wert und nit guot über nit vast guot, bescheiden, bescheidenlich guot und besser zu guot. Das Kriterium „gut“ konnte noch gesteigert werden durch den Verweis auf Material und Typ: Ein gewisser Erhart war angehalten, 1 gút stechlin pantzer und 1 kragen anzuschaffen. Der Panzer sollte also besonders gehärtet sein und ein „Kragen“ zusätzlichen Schutz verleihen. Die Qualität der anzuschaffenden Rüstung wird auch im Fall von Werna Moser betont. Er sollte „noch“ haben 1 stechlin pantzer, 1 brustblech und 1 schaladen, also einen Schaller. In der Regel aus italienischer Produktion stammend, bot diese moderne,45 in den Nacken und über die Augen ausgreifende Helmform besseren Schutz gegen von oben geführte Schläge als der Eisenhut oder die in Brugg als Standardausrüstung angeführte, ältere (Becken-)haube.
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Felix Müller, „Effinger, [von]“, in: HLS online, Version: 07/11/2005, URL: http://www.hls-dhs-dss. ch/textes/d/D20040.php [Stand: 07.05.2019]. 45 Die Entwicklung des Schallers wird etwa auf das Jahr 1420 angesetzt.
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Von den Personen, welche am angesetzten Tag im Haus des verantwortlichen Beamten tatsächlich ihre Waffen vorwiesen (in zahlreichen Fällen musste der Schreiber ist nitt hie gewesen notieren), verfügte zum Zeitpunkt der ersten Kontrolle weniger als die Hälfte über eine ausreichende Ausrüstung. Panzerhemd, Helm, Armzeug und Handschuhe waren die häufigsten Gegenstände. Darüber hinaus wiesen einzelne Personen Trutzwaffen vor – genannt sind ein paar Spieße, Lanzen und Armbrüste und je eine Mordaxt und eine Halbarte. Dieser erratische Befund ist erklärungsbedürftig, finden sich doch auch in anderen Listen, mit Ausnahme der Armbrüste, kaum Trutzwaffen verzeichnet. Im vorliegenden Fall gehe ich davon aus, dass das „Gewehr“ (= Wehre, das übliche Wort für die Trutzwaffe) nur dann verzeichnet ist, wenn die Leute über nichts Anderes verfügten (Reber hát allein ein mordax) bzw. dass das Vorhandensein einer Angriffswaffe als selbstverständlich vorausgesetzt und ihre Wahl den Männern selbst überlassen wurde (Gerster sol han 1 guot gewer). Die in den Haushalten vorhandenen Waffen wiesen teilweise ein beträchtliches Alter auf. Dies lässt sich über Angaben zu früheren Besitzern schließen, die zugleich Hinweise auf die Zirkulation der Waffen zwischen den Generationen und innerhalb der Stadt geben. Für eine Einschätzung ihres Aussagegehalts müssen einige wenige Beispiele genügen: Der Harnischrödel von Stadt und Amt Aarburg verzeichnet unter anderem den Panzer eines gewissen Ruedi, die sins swehers Heintzis Nebikers was oder einen Panzer aus dem Besitz von Heini Lenen und dessen Bruder in Oberwil, der nun der Frau von Klaus Paratti gehöre (dz hett nu Klaus Paratti sin wip). Der Panzer von Uolli Toeri in Oftringen ist bereits an den Sohn übergegangen, und auch das Stück der im Städtchen Aarburg selbst wohnhaften Bremin sond ir erben han. Henseli Nebiker – vielleicht ein Verwandter des oben genannten Heintzi –, zeigte gar einen Panzer vor, der seinem eni, also seinem Großvater (oder sogar Urgroßvater46) gehört hatte. Überhaupt finden sich in den Listen regelmäßig Verweise auf die Erbgänge, durch die gemäß geltendem Recht Rüstungsbestandteile an die nächsten Generationen weitergegeben wurden.47 Gerade die Luzerner Listen nennen explizit Minderjährige unter den Besitzern von Harnischen. In der Ausleihliste von 1437 etwa betonte der Schreiber, dass der stechlin guot pantzer, den der Vormund von Uotzingers kinden einem gewissen Welti Meiger geliehen habe, der kinden sei.48 Dass Rüstungen zu den kostbaren Hinterlassenschaften von Rittern gehören, ist aus Testamenten bekannt.49 Der materielle und gelegentlich sicher 46
„Äni, Enne“, in: Schweizerisches Idiotikon digital I, Sp. 247–249, siehe: https://www.idiotikon.ch/ [Stand: 07.05.2019]. 47 Z.B. SSRQ LU I/1, Nr. 185, (20. September 1419): Wenn ein man harnesch het und der stirbt, laut der sin sun hinder im, der sol den harnesch erben. Laut er aber kein kind und jnn ein frow erbt, die erbt ouch den harnesch. 48 StaatsA Luzern URK 229/3257: Item Hanns Mache, vogt des von Uotzingers kinden, het glichen 1 stechlin guot pantzer Weltin Meiger, die ist der kinden. 49 Aufschlussreich der Ausschnitt zu den Waffen im Testament des Vaters der oben erwähnten Anna von Krauchthal, Peter Buwli, im Jahr 1407: Denne ordenen ich Peterman von Krouchtal dem eltern min liepsten rugg pantzer. […] Denne Oswalt minem sun min offen pantzer so ich von Prúsen bracht, min huben mit dem besten behengk, ein brustblech weders er wil, zweÿ cleini armleder und die schilen da mit. Denne ordenen ich dem jungen Peterman von Krouchtal ein huben ane nasbant. Denen Niclaus Rúdellon minen núwen armtzúg. Denne Henns Rudellen ein brustblech. Denne den úbrigen harnasch
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auch symbolische Wert von Stücken, die bereits ein Vorfahre getragen hatte, auch für breite Schichten der Bevölkerung, ergibt sich entsprechend aus den städtischen Harnischrödeln.
6. Die Kosten des Harnischs Lässt sich der materielle Wert überhaupt beziffern? Die Suche nach genauen Angaben stößt auf zwei grundsätzliche Hindernisse: Erstens hängt der Wert offensichtlich von Ausführung und Qualität des Gegenstandes ab. Qualitative Unterschiede werden, wenn überhaupt, nur bei den Panzern und den Helmen ersichtlich. Zweitens beziehen sich Verweise auf die Beschaffenheit (stechlin) und Form (Tschalade / Schaller), je nach Zeitraum (und möglicherweise auch je nach geographischem Raum und Kanzleitradition), auf typologisch, d.h. in Aussehen und Machart ganz unterschiedliche Stücke.50 Die Klein- und Mittelstädte des (deutsch-)schweizerischen Raums des 14. und 15. Jahrhunderts waren keine Zentren der Waffenproduktion.51 Ihre Verwaltungsschriftlichkeit war vergleichsweise wenig entwickelt. Der Wert von Rüstungs bestandteilen kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur anekdotisch erfasst werden. Mangels entsprechender Forschung beziehen sich die folgenden Bemerkungen auf einzelne aussagekräftige Quellen. Auf den materiellen Wert als solchen nehmen jene kommunalen Satzungen Bezug, welche den Verkauf von privaten Rüstungsbestandteilen regeln. In allen Städten fassbar, häufen sie sich angesichts der militärischen Bedrohung. Ihr Gegenstück ist die Auflage an Bürger, sich gemäß ihrem Stand bzw. an Ratsmitglieder, sich entsprechend ihrer Funktion auszurüsten. Wenn in Bern Mitglieder des Großen Rats einen Harnisch stellen mussten (1441 wurden explizit Blechhandschuhe erwähnt, 1457 war die Anschaffung eines Helms Pflicht),52 die Kleinräte zudem ein Pferd besitzen
ordenen ich minem wibe, also das si ein huben wedre si wil gebe Jacoben von Rúmligen. (StaatsA Bern A I 835: Testamenten-Buch, 1358–1489, fol. 143–17r). Die emotionale Bindung an einzelne Waffen wie auch ihre Funktion im Rahmen familiärer Memoria wird hier besonders deutlich. Weitere Analysen von Testamenten v.a. bezüglich der Bedeutung der Waffen für den Testierer sind in Vorbereitung. 50 Einsichten zur Problematik, konkrete Objekte mit Quellentermini unterschiedlicher Herkunft sowie historischen und modernen Typologien zusammenzubringen, verdanke ich in erster Linie der Lektüre der ungedruckten Dissertation von Nicolas Baptiste, Pour les gantelletz de Monseignieur. Armes, armures et armuriers des Ducs de Savoie, du règne du comte Amédée VI à celui du duc Charles II (1343–1536), d’après les documents comptables, l’iconographie et les collections d’armes, ungedr. Diss., Université Savoie Mont Blanc 2017. 51 Preise der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts für Harnische, Bestandteile und Eisen bei: Egg, Plattnerwerkstätten, S. 312–315. 52 Regula Schmid, Wahlen in Bern. Das Regiment und seine Erneuerung im 15. Jahrhundert, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 58 (1996), S. 233–270.
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mussten, ging es stets grundsätzlich um den materiellen Wert der Ausrüstung. Aus den normativen Quellen nicht ersichtlich werden aber die konkreten Kosten dieser Anschaffungen. Grundlage des Werts von Rüstungsbestandteilen war das Material. Eisen gehört zu den Materialien, die wieder der Verwertung zugeführt werden können. Aus der Brugger Liste von 1437 geht die Möglichkeit des Verkaufs von kaputten Waffen indirekt hervor. So wird Wagner vorm Tor aufgefordert, bis Pfingsten einen guten Panzer und ein Brustblech zu besorgen, dafür mag [er] sin pantzer, so er hat, verkouffen. Geradezu einen Marktpreis suggeriert die Auflage an einen gewissen Hechteregg: Anstelle seiner zwei kaputten Panzer sollte er ein gutes Stück erstehen (umb die 2 [bösen] pantzer sol er 1 gúte kouffen). „Panzer“ werden gerne gestohlen, auch das ein Hinweis nicht nur auf ihre Präsenz in Haushalten, sondern auch auf ihren materiellen Wert. 1412 wurde beispielsweise in Luzern Hensli Verenen aus dem Amt Rothenburg aktenkundig, der auf seinen Diebestouren einen Topf, Mehl, Fleisch, Korn, drei Äxte, eine Schaufel, einen Bienenstock und einen Panzer hatte mitgehen lassen.53 Beim gestohlenen Stück handelt es sich wahrscheinlich um ein Kettenhemd. Dessen flexible Machart und das nicht zu große Gewicht (je nach Größe zwischen 6 und 14 kg54) hätten jedenfalls eine relativ unauffällige Wegnahme begünstigt. Auskünfte über den effektiven Wert eines Panzers lässt sich einer Luzerner Urfehde von 1469 entnehmen. Margareta Henning, Witwe eines Luzerner Schmieds, hatte sich gegen den Vorwurf zur Wehr gesetzt, einen Panzer, der ihr nicht gehörte, für ein Saum Eisen in Zürich verpfändet zu haben.55 Wiederum wird nicht klar ersichtlich, auf welchen Typ Schutzbewaffnung sich die Bezeichnung Panzer bezog. Die Menge Eisen, die als Gegenwert erscheint, weist m.E. eher auf einen Plattenpanzer hin, selbst wenn das moderne Äquivalent der Maßeinheit Saum nur geschätzt werden kann.56 Um eine Ritterrüstung handelte es sich vermutlich im Fall des stählernen „Panzers“, den 1431 der Adlige Ulrich von Sant Johann, ein Lehensmann Graf Friedrichs von Toggenburg,57 erstand. Er verkaufte dafür Eigenleute, nämlich die Frau des Hans Rumelhart von Dürnten, Elsi Bülman, und ihre Kinder an Heinrich Hagnauer, Vogt von Grüningen.58 Der Geldwert dieser Transaktion kann in etwa eingeschätzt werden mit Blick auf ein tags zuvor erfolgtes Geschäft Ulrichs. Am 31. Juli hatte er die Eigenleute Heini Hürlimann den Alten und dessen Frau Adelheid samt Nach-
53
StaatsA Luzern, URK 390/7213, 9. November 1412. Markus Gut, Die Flechttechniken von Kettenhemden, in: Mittelalter. Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins 3 (2009), S. 65–90. 55 StaatsA Luzern, URK 381/6986 (22. März 1469) und URK 381/6987 (23. März 1469). 56 Ursprünglich entsprach das Gewichtmaß Saum der Beladung eines Saumpferds. Veranschlagt wird es mit 3 bis 4 Zentnern (300 bis 400 Pfund). Schweizerisches Idiotikon digital VII, Sp. 944–949, zu Eisen und Stahl Sp. 948, siehe: https://www.idiotikon.ch/ [Stand: 07.05.2019]. 57 Karl Wegelin, Geschichte der Landschaft Toggenburg, 1. Teil, St. Gallen 1830, S. 120–121. 58 StaatsA Zürich, C II 12, Nr. 361, 1. August 1431. Regest: Urkundenregesten des Staatsarchivs Zürich VI, Nr. 7385. 54
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kommen dem Kloster Rüti für 40 Rheinische Goldgulden verkauft.59 Ein Ehepaar mit Nachkommen war wohl mehr wert als eine einzelne Frau mit Kindern. Dennoch stellt eine arbeitsfähige, erwachsene Frau mit Kindern einen eindrücklichen Gegenwert für einen „Panzer“ dar. Der Beleg lässt, in Verbindung mit der Stellung des Verkäufers annehmen, dass sich die Bezeichnung Panzer hier auf eine besonders gehärtete, in Plattnerarbeit gefertigte Ritterrüstung bezieht.
7. Waffenverleih: Die Zirkulation der Waffen in der Stadt Der ganze Harnisch eines voll bewaffneten bürgerlichen Kriegers kostete eine nicht unbeträchtliche Summe, die sich nicht alle leisten konnten. Die Harnischleite war der erste Schritt, um die genügende Ausrüstung sicherzustellen. Die über den Eigengebrauch angeschafften Trutzwaffen wurden im Haushalt der pflichtigen Person aufbewahrt und bei Bedarf einzeln an die städtischen Krieger weiterverliehen. Vom Rat verwaltete Waffensammlungen in öffentlichen Räumen der Stadt gab es vereinzelt schon im ausgehenden 14. Jahrhundert, doch waren ihre Bestände zu klein und zu disparat, um mehr als eine zufällige Sammlung von übriggebliebenen Stücken darzustellen.60 Zeughäuser entstanden in den Schweizer Städten erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts;61 mit Übergangsformen wie die Truhen im Berner Rathaus, in denen wohl die sechs Harnische der Anna von Krauchthal 1444 verstaut waren. Die Luzerner waren im 14. Jahrhundert verpflichtet, ihre Harnische denen zu leihen, die in der burger not zu ihnen gesandt wurden, unter Bußandrohung von 1 Mark Silber.62 1389 bestimmte Luzern, dass sowohl die persönliche, wie auch die zur Ausleihe bestimmte Bewaffnung nicht besteuert würde, und auch 1445 wurde harnisch[,] der den lüten geleit, oder den si in miner herren dienst hant nicht besteuert.63 Aus diesen Vorgaben folgte eine aufwendige (und im Resultat chaotische) Listenführung, die in einzelnen überlieferten Verzeichnissen in Luzern sichtbar wird: In der Ausleihliste von 1353 sind gut 200 Personen als Waffenbesitzer aufgeführt, davon sind 56 eindeutig als Frauen identifizierbar. Diese Personen geben ihre Waffen an über 300 Männer weiter.64 In einer wesentlich kürzeren Ausleihliste vom 12. April 59
StaatsA Zürich, C II 12, Nr. 360, 31. Juli 1431. Regest: Urkundenregesten des Staatsarchivs Zürich VI, Nr. 7386. 60 E[duard] A[chilles] Gessler, Ein Basler Zeughausinventar von 1415, in: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde, NF 12 (2010), S. 229–234. 61 Marco Leutenegger, „Zeughäuser“, in: HLS online, Version: 25/01/2015, URL: http://www.hlsdhs-dss.ch/textes/d/D8600.php [Stand: 07.05.2019]. 62 Weber, Waffenverzeichnisse, S. 191. 63 Zit. nach: Weber, Waffenverzeichnisse, S. 192: Darnach ist gemeinlich vorbehept den lüten ir harneschs, der zuo irem libe gehört, und ouch der, den si in der burger dienst usgelihen hant. 64 QW II/3, 246–271. Ausgezählt wurden die Rubriken Divisio armorum in Via sowie Arma concessa civibus, ebd., S. 261–264. Vollständige Einträge sind wie folgt aufgebaut Trutmannina 4 cur. dat Stafler dicto Nesler und Hartman Schertleib (ebd., S. 262, Z. 36.) Die Edition von Weber stimmt vielerorts
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1437, ebenfalls aus Luzern,65 sind 14 Personen aufgeführt, davon 4 Frauen. Sie leihen ihre 16 Panzer, 4 Paar Armschienen, 2 Paar Handschuhe, 2 Tschaladen, 1 hube und 1 huntzkapp an 17 Männer aus. In der Hälfte der Fälle wird die Qualität bzw. die Machart des Panzers besonders hervorgehoben als stechelin (stählern) und guot stechelin, mit fürwellen ringen bzw. fürwil (wohl von wellen, hämmern, schweißen, also ein feuergehämmerter Ringpanzer?), weschfelin (vielleicht von welsch, also mailändischer Herkunft?) sowie einfach guot. Ein Mann erhielt Rüstungsbestandteile von zwei Ausleihern, eine Frau (die von Hall) lieh einem Mann Harnisch und 1 guot stechlin pantzer, einem anderen einen Schaller, eine Hundsgugel (huntzkapp) und ein Armzeug. Die im jüngeren Luzerner Verzeichnis auffälligen Qualifikationen der ausgeliehenen Rüstungsteile sind vergleichbar mit den in Soldverträgen üblichen Beschreibungen des Aussehens der Pferde, bei deren Verlust eine festgesetzte Entschädigung zu zahlen war. Sie weisen darauf hin, dass die Waffen nach Gebrauch wieder an die Besitzer zurückgehen sollten. Die Identität sowohl der Ausleiher wie der so ausgerüsteten Krieger lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ansatzweise klären. In der jüngeren Luzerner Liste konnte unter den Ausleihern ein Schwager des Schultheißen identifiziert werden,66 ein weiterer Mann, Germann Russ, gehörte in eine reiche Familie, die mehrere Schultheißen und Schreiber stellte und lieh dem Werkmeister, Hans Kissing, 1 stechlin Panzer und ein Armzeug. Die Liste von 1353 lässt sich wegen zahlreicher Streichungen, Überschreibungen und unvollständigen Einträgen nur bedingt statistisch auswerten. Dennoch enthält sie aufschlussreiche Hinweise auf die soziale Stellung der Männer, die schließlich mit den Waffen ausgerüstet wurden. Die Herkunftsbezeichnungen nennen zahlreiche Personen aus den Luzerner Ämtern. Zu ihnen stoßen aber auch Personen aus den Gebieten der mit Luzern Verbündeten; identifizierbar sind Ortschaften in den heutigen Kantonen Schwyz, Obwalden, Bern, Zürich und Thurgau (Bischofszell am Bodensee). Vermutlich handelt es sich aber auch hier um Männer, die bereits in der Stadt wohnhaft waren. Freie Knechte, die sich der Stadt gegen Sold zur Verfügung stellten, wären wohl mit eigener Ausrüstung erschienen. Die Empfänger von Rüstungsbestandteilen waren einesteils kriegspflichtige Stadtbürger ohne genügende Rüstung, die aus den Stücken der Harnischleite ausgerüstet wurden (z.B. der mit 8 currisiae veranlagte Hafner, der Stücke an Welti Smit, Jennin Spengler, Heini Reber und Bürgi von Horw weitergab67). Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass der „ganze Harnisch“ einzelner Personen aus Stücken unterschiedlicher Geber zusammengesetzt wurde. Andernteils finden sich unter den Empfängern auch Stellvertreter von eigentlich pflichtigen Bürgern: In zwei Fällen gehen die Waffen an Diener bzw. Knechte (famuli) der Besitzer: H. Satler gab Hernicht mit derjenigen im QW überein, vgl. z.B. Weber, Waffenverzeichnisse, S. 225: Großreinrü dat Welti von Dierinkon mit QW II/3, S. 261, Z. 31: Goßenreinin dat H. von Kerns [Darüber: Welti von Dierinkon]. 65 StaatsA Luzern, URK 229/3257, 12. April 1437: Diss ist der harnisch so da uss gelichen ist als dis rodell wist. 66 Der Maler Hans Fuchs, der Heini Krepsinger den weschfelin Panzer leiht. Zur Identifikation StaatsA Luzern, URK 357/6457, 9. September 1433. 67 QW II/3, S. 262, Z. 39.
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manno famulo suo einen ganzen Harnisch, und ein gewisser Einerling stellte einen Ausrüstungsgegenstand seinem famulus Uol[rich], einen anderen seinem Knecht Peter Zürcher zur Verfügung.68 In der praktischen Umsetzung bedeutete diese Umlagerung von Waffen von Besitzern zu Benutzern einen großen Verwaltungsaufwand. Die Schreiber versuchten, einzelne herausragende Stücke mit einer etwas genaueren Beschreibung zu kennzeichnen. Vorgesehen war jedenfalls, dass die ausgeliehenen Rüstungsbestandteile wieder an den ursprünglichen Ort gelangten. Dies war nicht immer der Fall: Ein Mann mit dem schönen Namen Klugermuet brachte 1437 in Brugg 1 pantzer in min, des schribers huss, worauf dieser notierte: sol man fragen wes sy sie.69
8. Schluss: Die gesellschaftsverändernde Wirkung von Kriegswaffen in der spätmittelalterlichen Stadt Die städtischen Kontrollen zeigen deutlich, dass sich der Harnisch im Haushalt vom Harnisch im Gebrauch aufgrund materieller Merkmale unterschied: In den Haushalten wurden neben vollständigen und wohl gepflegten auch beschädigte und unvollständige Stücke aufbewahrt. Die Gesamtheit der ihrer kriegerischen Zweckbestimmung zugeführten Waffen setzte sich dagegen zum einen aus dem tauglichen Teil der in den Haushalten aufbewahrten Objekte, andererseits aus solchen zusammen, welche den Kriegern aus der kommunalen Sammlung zur Verfügung gestellt wurden. Die Harnischleite sah die gleichwertige Belastung aller Bürgerinnen und Bürger vor. Die Kontrollen stellten sicher, dass genügend brauchbare Waffen vorhanden waren. Mit der Leihe wechselten die den Ansprüchen genügenden Rüstungsteile die Hand und wurden in der burger dienst gestellt. Im Haushalt reflektierten Art, Qualität und Menge der vorhandenen Schutz- und Trutzwaffen die Stellung der Besitzer im rechtlichen, sozialen und politischen Gefüge der Stadt. Im Gebrauch waren die Waffen dagegen an die rechtliche Pflicht und die physische Befähigung zur Waffenführung im Dienst der Stadt gebunden, und zwar im Rahmen einer für den Kriegszweck neu formierten, männlich dominierten Kriegergesellschaft. Damit sind Waffen als materielle Objekte nicht nur Indikatoren gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern tragen stets das Potenzial in sich, sozialen Wandel generell anzustoßen.
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QW II/3, S. 267, Z. 14: Einerling dat 1 Uol. [darüber, gestrichen: H. Grawen] famulo suo, dat Petro Zúricher famulo suo. 69 StadtA Brugg, Harnisch- und Reisrödel 156 a, S. 8.
DIE STADT DINGFEST MACHEN – RESÜMIERENDE REFLEXIONEN Jan Keupp
Es war eine lebendige, pulsierende Stadt, in die Hans Christian Andersen seinen modenärrischen Märchenkaiser setzte. Insofern verwundert es wenig, dass vermeintlich neue Dinge das soziale Gefüge der kaiserlichen Metropole bereicherten, gesponnen aus Gedankenfäden und doch scheinbar manifest in ihrer Wirkung: „Und dann ging der Kaiser in der Prozession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und an den Fenstern sagten: ‚Gott, wie unvergleichlich des Kaisers neue Kleider sind! Welch schöne Schleppe er an seinem Kleid hat! Wie himmlisch es sitzt!‘“1 So liest man es in der berühmten Märchenerzählung von „des Kaisers neuen Kleidern“, die im April des Jahres 1837 erstmals im Druck erschien.2 Die Geschichte präsentiert sich geradezu als Paradebeispiel vormoderner Performanzkultur, sie exemplifiziert einen Fall symbolischer Kommunikation in reinster Form. Die beteiligten Akteure nämlich werden allein durch die unsichtbaren Bande semiotischer Konventionen in ihrer sozialen Balance gehalten. Sie scheinen so vollkommen verstrickt in „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“3, dass kein vernünftig denkender Mitspieler auf die irrsinnige Idee verfällt, eigenwillig aus der Reihe zu tanzen. Wo fände sich der Sozialwissenschaftler, der ihnen dies verdenken möchte, besteht doch ihr Handlungsrahmen, ihre soziale Wirklichkeit, nach dem bekannten Diktum Emile Durkheims nicht „aus den Dingen, deren sie sich bedienen, [nicht] aus den Bewegungen, die sie ausführen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst“ machen.4 Wer oder vor allem: was also sollte den steten Reigen des 1
Hans Christian Andersen, Gesammelte Märchen, hg. und z.T. neu übers. v. Floriana Storrer-Madelung, 2 Bde., Zürich 1970, hier Bd. 1, S. 157. 2 Zu Tradition und Publikation siehe Annette Madsen, Count Lucanor by Don Juan Manual as Inspiration for Hans Christian Andersen and Other European Writers, in: Johan de Mylius/Aage Jørgensen/Viggo Hjørnager Pedersen (Hg.), Hans Christian Andersen. A Poet in Time. Papers from the Second International Hans Christian Andersen Conference, 24 July to 2 August 1996, Odense 1999, S. 173–176. 3 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders. (Hg.), Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. Brigitte Luchesi/Rolf Bindemann, Frankfurt a. M. 1983, S. 7–43, hier S. 9, unter Rekurs auf Max Weber. 4 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. v. Ludwig Schmidt, Frankfurt a. M. 1981, S. 566.
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im Weberschen Sinne „wechselseitig sinnhaft aufeinander bezogenen Handelns“5 unterbrechen, was die selbstreferenziellen Schleifen des autopoietischen Systems6 stören und dem sorgsam gescripteten ‚sozialen Drama‘7 ein Ende bereiten? Des Kaisers Auftritt musste Adepten des „performative turn“ keineswegs als außerordentliches Ereignis gelten, „denn: menschliche Ordnung ist nicht auf physische Gegebenheiten reduzierbar, sondern beruht auf Sinn, den die Akteure stets aufs neue stiften müssen.“8 Ein nackter Herrscher wäre aus dieser Perspektive qualitativ von einem bekleideten kaum zu unterscheiden. Andersen selbst hat die Möglichkeit erwogen, die physischen Kleider als letztlich entbehrliches Beiwerk zu markieren. In der ursprünglichen, erst kurz vor Drucklegung der revidierten Manuskriptfassung seines Märchens gestand er dem freien Spiel der Zeichen eine ungebrochene Wirkmacht zu: „‚Dieses Gewand sollte ich wirklich jedesmal anhaben, wenn ich in der Prozession gehe oder in der Volksversammlung auftrete!‘ sagte der Kaiser; und die ganze Stadt sprach über seine prächtigen neuen Kleider“, so lauteten zunächst die letzten Zeilen der Erzählung.9 Ein echtes Happy End für Herrscher, Volk und den nun gar nicht mehr wirklich betrügerischen Schneider der unsichtbaren Gewänder. Und doch: „Er hat ja nichts an!“, so möchte man zum Abschluss dieses Bandes den illusionär im Gespinst semiotischer Sinnfäden gefangenen Märchenfiguren gemeinsam mit Andersens vorlautem Kind zurufen.10 Wir würden damit in den lauter werdenden Chor von Kritikern einstimmen, die dem nackten Kaiser der linguistisch gewendeten Kulturgeschichte Paroli bieten. Gefor5
Unter treffender Bezugnahme auf Max Weber: Barbara Stollberg-Rilinger, Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte?, in: Matthias Schnettger (Hg.), Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233–246, hier S. 235; Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 61985, S. 541–581. Ebd., S. 545, wird der Stellenwert des materiellen Dings im sozialen Handeln auf die ihm zugeschriebene Bedeutungsdimension reduziert: „Das Verständliche daran ist also die Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder als ‚Mittel‘ oder als ‚Zweck‘, der dem oder den Handelnden vorschwebte und woran ihr Handeln orientiert wurde.“ 6 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984, S. 427, sieht das Handeln in der Vormoderne freilich noch dingorientiert, diese Bindung habe sich indes seit der Aufklärung gelöst: „Für die Ordnung von Verhaltenserwartungen hat sich die Dingform [...] in zunehmendem Maße als unzulänglich erwiesen. Mit zunehmender Komplexität des Gesellschaftssystems, mit zunehmendem Auflösevermögen der Funktionssysteme, mit zunehmenden Instabilitäten und Änderungsnotwendigkeiten reicht die Orientierung von Verhaltenserwartungen an dinghaft konzipierten Vorstellungen, also auch am Sonderding Mensch, nicht mehr aus.“ 7 Siehe Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, übers. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 95–139. 8 Stollberg-Rilinger, Inszenierung, S. 235f. 9 Übers. nach: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza/ Andreas Krass (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a. M. 2002, S. 20. Das Originalmanuskript siehe unter: http://andersen. museum.odense.dk/manuskripter/visning.asp?inventarnr=HCA/XVIII-58-B&sidetal=7 [Stand: 15.03.2019]. Zu dem am 25. März 1837 erbetenen Änderungswunsch siehe das Schreiben an Edvard Collin unter: http://www2.kb.dk/elib/mss/hcabio/6.htm#brev194 [Stand: 15.03.2019]. 10 Andersen, Gesammelte Märchen, S. 158.
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dert wird auf diese Weise nichts weniger als der Ausbruch aus dem immateriellen „Paradies des Interaktionismus“.11 Denn ein solches, so gibt der Soziologie Bruno Latour zu bedenken, existiere allenfalls in der klassisch verstandenen Primatengesellschaft. Während es den Pavianen möglich sei, soziale Ordnung auf und um ihren Affenfelsen allein in der dynamischen „Interaktion nackter individueller Körper“ zu erzeugen, gelte dies doch keineswegs gleichermaßen für jenes komplexe Gebilde, welches wir ‚menschliche Gesellschaft‘ zu nennen pflegen.12 Der erkenntnisbringende Auszug aus dem Paradies, so belegt es ja bereits die biblische Erzählung, bedeutet demgegenüber gerade das Ende aller unbeschwerten Nacktheit: „Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an“, so heißt es im 1. Buch Moses.13 Das sprichwörtliche Adamskostüm ist seither für einen Kaiser im Wortsinne untragbar, für seine Untertanen aber unerträglich geworden. Erst die stoffliche Bekleidung seines natürlichen Körpers, die Hybridisierung von Mensch und textilem Material, machen den Herrscher politisch handlungsfähig. Ihre Präsenz erst lässt seinen Körper hof- und gesellschaftsfähig, ja staatstragend erscheinen. Wer demnach die faktische Wirkmacht materieller Gegenstände in der Geschichte geringschätzt, der wird sich unweigerlich in den närrischen Hofstaat des nackten Märchenkaisers einreihen.14 Am Schluss eines stadthistorischen Tagungsbandes mag diese offensive Proklamation einer Rückkehr zu den Dingen erstaunen, stand doch die Einsicht in die Macht des Materiellen nachgerade am Beginn sozialwissenschaftlicher Städteforschung. Hat nicht Georg Simmel als einer ihrer Gründungsväter die Großstadt explizit als eine höchst erfolgreiche „Zusammendrängung von Menschen und Dingen“ definiert?15 Das enge Miteinander von Menschenmassen und materiellen Artefakten machte er zum Ausgangspunkt seiner umfassenden Analyse des psychosozialen Wandels an der Wende zum 20. Jahrhundert.16 Den urbanen Modus des Umgangs mit den Dingen, ihre ‚Kultivierung‘, bringt er dabei in einen systematischen Zusammenhang mit der Ausformung des modernen Individuums. Simmel diagnostiziert eine gesteigerte Distanz zwischen den Subjekten und der expandierenden und 11
Bruno Latour, Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), S. 237–252, hier S. 237. Vgl. auch Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, übers. v. Gustav Rossler, Frankfurt a. M. 2007, S. 341ff. 12 Latour, Soziologie ohne Objekt, S. 240. 13 Gen 3,21 (Luther-Bibel 2017). 14 Siehe bereits Jan Keupp, Verselbständigter Sinn. Die Adlerstola, in: Jan Keupp/Romedio Schmitz-Esser (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern 2015, S. 47–76, hier S. 69. 15 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908 (Gesamtausgabe 7), Frankfurt a. M. 1995, S. 116–131, hier S. 122. 16 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (Gesamtausgabe 6), Frankfurt a. M. 1989, 6. Kapitel, S. 591– 716. Vgl. dazu Heike Delitz, Soziologie der gebauten ‚Haut‘ der Gesellschaft. Georg Simmels ‚Architektursoziologie‘, in: Harald A. Mieg/Astrid O. Sundsboe/Majken Bieniok (Hg.), Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung, Wiesbaden 2011, S. 245–267; Karl-Siegbert Rehberg, Kultur, subjektive und objektive, in: Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, hg. v. Hans-Peter Müller/Tilman Reitz, Berlin 2018, S. 328–334.
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entpersonalisierten Dingwelt des Stadtraums, sieht einen „immer weiter klaffenden Abgrund zwischen der Kultur der Dinge und der der Menschen“.17 Bedingt durch eine arbeitsteilige Ausdifferenzierung der Produktionsprozesse auf der einen und die Reduzierung des subjektiven Wertempfindens auf den „Generalnenner“ des Geldes auf der anderen Seite scheint ihm „der moderne Mensch [...] von lauter [...] unpersönlichen Dingen umgeben“.18 Seinem beschränkten Handlungs- und Wahrnehmungshorizont sind Herkunft und Bedeutung seiner Besitztümer unerreichbar entrückt. Daraus entspringe zunächst ein „Gefühl der Unfreiheit den Objekten gegenüber“, die das Einzelwesen als „Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen“ erscheinen lasse.19 Als naheliegende Schutzreaktion gegen die alles erdrückende, „feindliche Macht“20 des Materiellen konstatiert Simmel einerseits eine gesteigerte Akzentuierung des Individuellen. Andererseits unterstellt er dem Stadtbewohner einen blasierten Gleichmut der aggregierten Objektwelt gegenüber, resultierend in einer „Abstumpfung gegen den Unterschied der Dinge“,21 die nun in einer „gleichmäßig matten und grauen Tönung“ ihres stofflichen Eigenwerts beraubt seien.22 Vor solch einem farblosen Hintergrund müssen die „spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins“23 umso greller hervorstechen.
1. Eine Stadt jenseits der Texte? Indem Georg Simmel die Genese der Großstadt als „Erfolg der Zusammendrängung von Menschen und Dingen“24 beschrieb, unternahm er einen frühen Versuch, die urbane Gesellschaft seiner eigenen Gegenwart (auch) „von den Dingen her zu denken“ (Beitrag von Julia Schmidt-Funke in diesem Band, S. 19). Aus wissenschaftshistorischer Sicht liefert der Berliner Philosoph zugleich eine einleuchtende Erklärung dafür, weshalb dieser wundersamen Dingvermehrung im Zeitalter der modernen Konsumgesellschaft ein Verschwinden des Materiellen aus dem Gesichtskreis der Geisteswissenschaften gegenübersteht. Die Distanzierung von den Dingen sieht er im symbolistischen Eskapismus der intellektuellen Eliten am weitesten fortgeschritten. Im selbstgeschaffenen Spannungsfeld zwischen physischer Außenwelt und psychischem Innenleben werde alleine das subjektive Ich als bedeutungstra17
Georg Simmel, Stimmen über Kulturtendenzen und Kulturpolitik (14. April 1909), in: Georg Simmel. Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918 (Gesamtausgabe 17), Frankfurt a. M. 2005, S. 79–83, hier S. 80. 18 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 614 u. S. 638. 19 Ebd., S. 638; Simmel, Großstädte, S. 129. 20 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 638. 21 Simmel, Großstädte, S. 121. 22 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 335. 23 Simmel, Großstädte, S. 128. 24 Ebd., S. 122.
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gende Instanz akzeptiert.25 Die materiellen Gegenstände würde man demgegenüber, so Simmel, allenfalls „mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen“ ertasten und „statt der Dinge nur die Schleier, die um die Dinge sind“, betrachten.26 Geradezu mit prophetischer Gabe scheint hier eine Entwicklungstendenz der Stadtgeschichtsforschung vorweggenommen, die der Historiker Christopher Otter zuletzt in dem Dreiklang von „abstraction, deterritorialization and dematerialization“ zu fassen suchte.27 Als Verursacher der Perspektivenverengung identifiziert er den schematischen Reduktionismus der Stadtsoziologie auf der einen und die Paradigmen einer linguistisch gewendeten Kulturwissenschaft auf der anderen Seite. Letztere habe in Überbetonung semiotischer Arbitrarität und Bedeutungsoffenheit die Erkennbarkeit, ja mitunter die Existenz einer physischen „Realität jenseits der Texte“28 radikal bestritten. Gewiss besitzt die Metapher der „Stadt als Text“29 insofern ihre Berechtigung, als sie die gesellschaftlich unumgängliche Transformation einer stofflichen Wirklichkeit in eine sinnhaft geordnete Daseinswelt markiert. Das Urbane mag mit den Worten des Konstanzer Philologen Karlheinz Stierle tatsächlich „jener semiotische Raum [sein], wo keine Materialität unsemiotisiert bleibt“.30 Die vorliegenden Beiträge haben diese Akte einer symbolischen Aneignung des Materiellen mehrfach überzeugend nachgezeichnet, indem sie Artefakte als stoffliche Manifestationen und Kristallisationspunkte sozialer Sinngebung, als physische Mittel der Repräsentation und Verdinglichung mehr oder weniger elaborierter Denkmodelle konturiert haben. Doch so deutlich sich das Urbane als „Ergebnis eines Sinnbildungsprozesses“ (Beitrag von Julia Schmidt-Funke in diesem Band, S. 22) manifestiert, so wenig erschöpft sich das Phänomen Stadt in der abstrakten Silhouette ihrer gedanklichen (Re-)Konzeptionalisierung.31 Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren, welch 25
Vgl. einführend Heinz Abels, Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden ³2017, S. 153–157. 26 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 660. 27 Christopher Otter, Locating Matter. The Place of Materiality in Urban History, in: Tony Bennett/ Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London 2010, S. 38–59, hier S. 41. 28 Beispielhaft für eine solche Argumentation Tilmann Walter, Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland, Berlin 1998, S. 512: „Mißtrauische Liebhaber sozialgeschichtlicher ‚Fakten‘ werden hier einzuwenden wissen, dass Sprache und Diskurse zwar an der Modellierung sozialer Realität beteiligt seien, daß es eine Realität jenseits der Texte aber doch gebe. Mir liegt hier nicht an dem Versuch einer Missionierung oder Bekehrung hin zu einer radikal konstruktivistischen Historie, es sei aber darauf verwiesen, daß auch ein solcher Satz nicht anders repräsentierbar ist als durch das Medium der Sprache.“ Auch wenn sich den pointierten wissenschaftstheoretischen Ausführungen des Autors viel abgewinnen lässt, zeigt sich hier die paradigmatische Wende des sog. „material turn“ besonders prägnant. 29 Siehe zur Konzeptionalisierung der Formel: Jens Wietschorke, Anthropologie der Stadt. Konzepte und Perspektiven, in: Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Harald A. Mieg/Christoph Heyl, Stuttgart 2013, S. 202–221, hier S. 202–206. 30 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/Wien 1993, S. 14. 31 Zu Recht hat sich jüngst Hans Peter Hahn, Dinge als Herausforderung – Einführung, in: Hans Peter Hahn/Friedemann Neumann (Hg.), Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und
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mannigfache Stofflichkeit diese Sinnformationen stützte, sie physisch und psychisch begreifbar, prozesshaft handhabbar und zugleich historisch dingfest machte. Die materielle Ökologie des Stadtraums lässt sich kaum auf schematisch gehaltene Deutungsschablonen reduzieren; was in der repräsentativen Auslage städtischer Bilderchroniken als einheitliche Fassade bürgerlicher Gleichheit und maskuliner Wehrhaftigkeit erscheint, erweist sich bei Regula Schmids Blick auf die materiellen Gegebenheiten rasch als heterogenes Gefüge aus modernsten Kriegstechnologien und altersmüden Gebrauchtwaren, verteilt über ein Geflecht von Handelsverbindungen, Verwandtschaftsbeziehungen und obrigkeitlichen Fürsorgemaßnahmen. Wer den Beitrag von Birgitt Borkopp-Restle gelesen hat, wird sich künftig schwertun, Textilstiftungen allein als symbolische Repräsentationsakte zu begreifen. Die Lektüre lässt vielmehr Größe, Reichweite und Mobilisierungsgrad eines Netzwerkes aufscheinen, das Danzig über seine Handelsrouten zum globalen Ort machte, das für Lebende und Tote als Erinnerungsspeicher und eschatologische Verheißung diente, dabei irdisches Dasein und ewiges Leben miteinander verband. So eindeutig es sich bei den Textilgaben also um semiotisch codierte Objekte handelt, so unbestreitbar konnte diese Codierung vor allem durch ihre materielle Präsenz ihre „handlungswirksame Effektivität“32 entfalten: Erst das konkret lokalisierte stoffliche Arrangement sinnbehafteter Artefakte verlieh dem Sakralbau der Danziger Marienkirche sein spezifisches Sozialprofil. Es überzog den Kirchenraum mit einem räumlich-relationalen Netz assoziativer Bezugspunkte, schuf damit den Handlungen der Gläubigen einen regulativen Rahmen. Die untersuchten Textilobjekte erweisen sich hierbei als kulturell-materielle Mischgewebe, deren physische Kettfäden kaum vom Gedankengespinst seines semiotischen ‚Schusses‘ gelöst werden können, ohne das sorgsam gestaltete Gesamtgefüge zu zerstören.33 Aus diesen Beobachtungen heraus wäre es verfehlt, das vielschichtig-flexible Zeichengebilde in fundamentale Opposition zu seiner materiellen Bezugsebene zu setzen. Jenes von Aleida Assmann einst in Anlehnung an Umberto Eco postulierte „einfache semiotische Gesetz“, wonach der forschende Blick die „Materialität des Zeichens durchstoßen“ müsse, um von den plumpen Zeichenkörpern zu den eigentlich bedeutungstragenden Sinnschichten vorzustoßen,34 verdient vor dem HinterUmwertungen von Objekten, Bielefeld 2018, S. 10, gegen die Metapher von der materiellen Kultur als passiv reflektierender „Spiegel der Gesellschaft“ gewandt: Sein vehementer Einspruch richtet sich gegen die idealistischer Weltdeutung verhaftete Vorstellung, dass „Denken und Materialität ein [...] asymmetrisches Paar bilden würden, bei dem einem Teil (= dem Denken) die Bestimmung des Seins zukommt, der andere Teil (also das Materielle) hingegen lediglich dessen Niederschlag oder Kristallisation wäre“. 32 Siehe beispielhaft für die wegweisenden Konzepte des SFB 933: Markus Hilgert, Praxeologisch perspektivierte Artefaktanalysen des Geschriebenen. Zum heuristischen Potential der materialen Textkulturforschung, in: Friederike Elias/Albrecht Franz/Henning Murmann/Ulrich Wilhelm Weiser (Hg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften (Materiale Textkulturen 3), Berlin u. a. 2014, S. 149–164, hier S. 159. 33 Vgl. auch Gustav Rossler, Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft. Sozialität – Kognition – Netzwerke, Bielefeld 2016, S. 44. 34 Aleida Assmann, Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988,
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grund der vorliegenden Tagungsbeiträge einmal mehr eine kritische Revision. Im Spätwerk des Stichwortgebers Umberto Eco wäre ohnehin wenig Raum für eine solch ‚substanzlose‘ Grundregel gewesen: Mit zunehmender Vehemenz pochte der prominente Semiotiker auf die Existenz eines „harten Sockel des Seins“.35 Dabei richtete er den Blick auf jene Entitäten, die stets Basis und Bezugspunkt der Semiose sind, auf jenes stoffliche „Etwas, das uns [erst] veranlaßt, Zeichen hervorzubringen“.36 Ein ungehemmt freies Spiel der Signifikate schien Eco in Revision eigener Standpunkte nunmehr als „purer flatus vocis“. Denn wer sich in der Pokerpartie mit dem materiellen „Sein“ schon als Sieger imaginiere, der werde mehr als einmal Situationen erleben, „in denen ‚Etwas‘ mit einem Royal Flush oder einem As-Drilling antwortet“.37 Oder anders formuliert: Wer im Jahr 1494 einen prächtigen Totenschild zu den 157 bereits vorhandenen Exemplaren in der Nürnberger St. Sebaldskirche hängte,38 der musste erleben, wie das intendierte Standes- und Memorialzeichen zum Gegenstand des sittlichen Anstoßes mutierte: Nicht nur unter Verweis auf die prätentiöse Eitelkeit, sondern explizit auch wegen der Verdunkelung des Kirchenraums und der Gefahr des Herabfallens wandte sich der Rat im Folgejahr mit einer Verordnung gegen diese Praxis.39 Die schiere physische Präsenz der bunt bemalten Wappentafeln hatte offenbar ihre ganz eigene Agenda gesetzt, wie der Nürnberger Barbier Hans Folz mit einem Seitenblick auf die Kirchenbesucher bemerkt: So die leut am notigesten petten suln, / So gaffen sie die pfeifferschillt an.40 Ausgerechnet die materiellen Perzeptionseigenschaften der Schilde, ihre optische Affordanz, machte sie anfällig für Kritik. Und wirkt es nicht wie ein Schulbeispiel der von Friedrich Theodor Vischer beschworenen „Tücke des Objekts“41, wenn dessen Namensvetter Sebastian Fischer seine Ausführungen zu Papsttum und Ordensangelegenheiten abrupt abbrechen musste, dan ich haun kain weÿß blat me gehabt? (Beitrag von Julia Bruch in diesem Band, S. 141). Vischers Reisebekanntschaft A. E., der sich schon
S. 237–251, hier S. 238. Der Text legt zwar eine andere „vormoderne“ Lesestrategie nahe, die jedoch im Sinne eines „schizophrenen, ästhetischen, erotischen Blick[s]“ angesiedelt werden muss „zwischen den Polen des Pathologischen und des Kreativen“ (ebd., S. 237). 35 Umberto Eco, Kant und das Schnabeltier. Aus dem Italienischen v. Frank Herrmann, München/ Wien 2000, S. 64. 36 Ebd., S. 23. 37 Ebd., S. 62. 38 Die Zahl nach den Angaben des Kirchenmeisters Sebald Schreyer zitiert bei Kurt Pilz, Der Totenschild in Nürnberg und seine deutschen Vorstufen, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1936/39), S. 57–112, hier S. 69. 39 Joseph Baader, Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, Stuttgart 1861, S. 113: auch sorgveltigkayt des abfallens sollicher schylte, verhynnderung der liecht und anndere ursach angesehen. 40 Hans Folz, Beichtspiegel, in: Hanns Fischer (Hg.), Die Reimpaarsprüche und Prosa, München 1961, S. 188–210, hier S. 205. 41 Vgl. einführend Uwe C. Steiner, Die Tücke des Objekts. Friedrich Theodor Vischers ‚Auch Einer‘, in: Handbuch Literatur & materielle Kultur, hg. v. Susanne Scholz/Ulrike Vedder, Berlin/Boston 2018, S. 248–257.
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vom „fallende[n] Papierblatt [...] verhöhnt“ glaubt, sieht sich zwar in der Lage, das Verhalten von Menschen zu antizipieren und sie dadurch zu beherrschen. Derartiges aber ließe sich „über Objekte – kaum, – nicht – nie“ behaupten.42 Diese „Unberechenbarkeit der Dinge“ lässt sich mit Hans Peter Hahn als Charakteristikum beschreiben, das „eine unüberbrückbare Differenz zwischen ‚Dingsein‘ und menschlich intentioneller Aneignung seiner Umwelt“ markiere.43 Gerade deshalb sollte man ihrem ‚Eigensinn‘44 besondere Aufmerksamkeit schenken, wo (Stadt-)Geschichte als kontingenter, keiner teleologischen Zielperspektive unterworfener Prozess beschrieben wird. Denn auch für den Erkenntnisprozess der historischen Wissenschaften gilt, was Bruno Latour den Dingen an Fähigkeit zuschreibt: Sie können neue Einsichten „ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort.“45
2. Das Urbane dingfest machen Die Titelformulierung dieses Sammelbandes gewinnt an analytischer Schärfe, sofern das Genitivattribut ‚der Stadt‘ einen distinkten Ausschnitt vormoderner Sachkultur markiert. Ließen sich die Lebenssphären von Bürgern und Bauern tatsächlich durch nichts anderes scheiden, als sprichwörtlich durch „Zaun und Mauern“46, so wäre damit immerhin eine erste qualitative Differenz der Dingverfügbarkeit formuliert. Diese scheint indes deutlich stärker ausgeprägt zu sein, wie die Fülle der von Elisabeth Gruber in städtischen Rechnungsquellen aufgespürten Artefakte nahelegt. Lässt sich daraus auf den Spuren Georg Simmels indes die „spezifische Materialität des Urbanen“ (Beitrag von Julia Schmidt-Funke, S. 19) auch in einer quantitativen Verdichtung der Objekte fassen? Schoben sich bereits in der Vormoderne „immer mehr Sachen“47 zwischen die Bewohner der Städte, schufen sie gar ein „relationale[s]
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Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig 1879, Bd. 1, S. 32 u. S. 81. Peter Johanek ist es zu verdanken, dass dieses Werk in die Tagungsdiskussion einfloss. 43 Hans Peter Hahn, Lost in Things. Eine kritische Perspektive auf Konzepte materieller Kultur, in: Philipp Stockhammer/Hans Peter Hahn (Hg.), Lost in Things. Fragen an die Welt des Materiellen, Münster 2015, S. 9–23, hier S. 12. 44 Vgl. dazu Hans Peter Hahn, Der Eigensinn der Dinge – Einleitung, in: Hans Peter Hahn (Hg.), Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin 2015, S. 9–56. 45 Latour, Neue Soziologie, S. 124. 46 Clausdieter Schott, ‚Bürger und Bauer scheidet nichts als ein Zaun und eine Mauer‘. Studie zu einem Rechtssprichwort, in: Signa Iuris 13 (2014), S. 273–292, sowie ergänzend Klaus Graf, Sprichwörtliches. Bürger und Bauer scheidet nichts als ein Zaun und eine Mauer (10.12.2014), https://archivalia. hypotheses.org/2824 [Stand: 15.03.2019]. 47 Delitz, Soziologie der gebauten ‚Haut‘, S. 247.
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Arrangement“48 bzw. eine „Assemblage“49, die den dingkultivierten Stadtmenschen signifikant vom Dörfler und Landmann trennte? Oder war es ganz im Gegenteil der Mangel an materiellen Erzeugnissen, der den Einzeldingen des Mittelalters Geist, Gefühl und subjektiven Gehalt einhauchte? War es dieser geringere Grad an emotionaler Distanz, der Dinge als Identitätsmarker und Memorialobjekt qualifizierte, sie als Stabilisatoren sozialer Gefüge über Generationen hinweg geeignet machte? Konnte die Einzigartigkeit der von Birgitt Borkopp-Restle vorgestellten Textilobjekte ihre verbindende Wirkkraft für Lebende und Tote erhöhen, gerade wenn man die Individualisierung und Personalisierung durch komplexe Fertigungsprozesse, lange Transportwege und zweckmäßige Zuschnitte berücksichtigt? Existierten umgekehrt Enklaven exzessiven Dinggebrauchs, die Effekte der Entfremdung erkennbar machen, wie es im Fall der massenhaft gebrauchten Nürnberger Totenschilde der Fall zu sein scheint? Inwieweit schließlich setzten die Dynamik der textilen Moden, die Praxis obrigkeitlicher Waffenleihe oder der massenmediale Wandel der Buchkultur dieser individuellen Bezüglichkeit und Dauerhaftigkeit der Dinge bereits in vormodernen Zeiten nachweisliche Grenzen? Fragen wie diese markieren ein weithin offenes Forschungsfeld, das sich auch auf die von Julia Schmidt-Funke aufgenommene Suche nach speziellen „Dingen der Stadt“ erstreckt. War das ratsherrliche Gewand aber tatsächlich „städtisch [...] insofern, als es nach den zeitgenössischen Kleiderordnungen in Abgrenzung zum Adel eine klar definierte Materialität haben sollte“? (Beitrag von Julia Schmidt-Funke, S. 29). Das gewählte Beispiel Augsburg weckt Zweifel, notierte doch der sonst so scharfsinnige Beobachter Michel de Montaigne im Oktober 1580 beim Besuch der Reichstadt in sein Reisejournal: „Bei den Männern [...] fällt es sogar schwer, die Adligen zu erkennen, da alle, ganz gleich aus welcher Schicht, einen Degen an der Seite tragen, und auf dem Kopf eine Samtmütze“50. Obrigkeitlicher Ordnungswille und materielle Wirklichkeit klafften hier – wie ja auch bei der von Regula Schmid beleuchteten bürgerlichen Bewaffnung – weit auseinander. Gerade diese Kluft aber belegt einmal mehr den Erkenntniswert eines objektbezogenen Zugriffs, der in struktive Blicke hinter die Fassade normativer Schriftlichkeit gewährt. Die Summe der hier versammelten Beiträge legt nahe, dass städtische Dingwelten weniger durch signifikante Einzelobjekte als vielmehr durch ihr „außerordentlich ausdifferenziertes“ (Beitrag von Birgitt Borkopp-Restle, S. 184) Objektspektrum hervorstachen. Der Stadtraum integrierte ritterlich-heraldische Repräsentationselemente und qualitativ hochwertige Fernhandelswaren, daneben aber auch Erzeugnisse individueller bürgerlicher Frömmigkeit und Sachgüter des täglichen Gebrauchs. Differenzierung als zentrales Merkmal städtischer Materialität zu erfassen bedeutet daher, den Fokus nicht ausschließlich auf die vermeintlich ästhetischeren Zimelien aus Seide und 48
Markus Hilgert, ‚Text-Anthropologie‘. Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie, in: Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft 142 (2010), S. 87–126, hier S. 111. 49 Siehe Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992. 50 Michel de Montaigne, Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581, hg. und übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 2002, S. 75; siehe auch Ders., Œuvres complètes, hg. v. Albert Thibaudet/Maurice Rat, Paris 1962, S. 1155.
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Goldfäden gerichtet zu halten und jenseits „eines gewissen kunsthistorischen Desinteresses an repetitiven Zeichen“ (Beitrag von Susanne Wittekind, S. 68) das Gesamtgefüge materieller Bedeutungsträger im Blick zu behalten. In seiner materiellen Vielgestaltigkeit sollte der vormoderne Stadtraum gleichwohl nicht als gänzlich fragmentiertes Gebilde beschrieben werden, die städtischen Dingarrangements erbrachten in Persistenz und Visualität wesentliche Integrationsleistungen. Die Stadtgesellschaft konstituierte, erlebte und reproduzierte ihre eigene kohärente Ordnung durch Wappenzeichen und Totenschilde, Textilstiftungen und Wandmalereien. Diese gaben „handliche Anhaltspunkte für den Umgang mit Weltbezügen“51, dienten der „sozialen Selbstbehauptung“52 und historischen Selbstvergewisserung ihrer Individuen und Gemeinschaften. Dass diese Objektvielfalt zumeist nur punktuell im Horizont der Schriftquellen aufscheint, sie vielmehr „unterschiedliche Aufmerksamkeitsniveaus“53 aufweist, sollte dabei weniger bedauert denn als Erkenntnismittel produktiv genutzt werden: Die Anstößigkeit von Artefakten mag uns ein Seismograph für gesellschaftliche Spannungen und Konflikte sein, ihre Trivialisierung ein Indiz für die Stabilität sozialer Strukturen. Es zählt zu den paradigmatischen Grundlagen des „material turn“, den Dingen einen aktiven Part an sozialen Praktiken und historischen Entwicklungsprozessen zuzuerkennen. Diese mit theoretischem Esprit entfaltete Sichtweise steht allerdings, wie jeder wissenschaftliche Erklärungsansatz, unter einem empirischen Bewährungsvorbehalt. So sehr wir es gewohnt sein mögen, in der stofflichen Gestalt unserer Untersuchungsgegenstände Reflexe jenes ‚ikonologischen‘ Horizontes historischer Diskurse und Geistesströmungen zu erkennen, so schwer fällt es uns bisweilen umgekehrt, die Wirkmacht des Materiellen auf das Denken und Handeln der Menschen geschichtlich dingfest zu machen. Handelten Goslarer Ratsherren unter den Augen spätgotischer Kaiser und Sibyllen tatsächlich weitsichtiger, korrespondierten räumliche Dispositionen nachweisbar mit kulturellen Dispositiven und vergangenen Praktiken? Lässt sich das 1476 in Wien beschaffte Polsterkissen des Bürgermeisters im Sinne Bruno Latours als Akteur begreifen, „das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht“?54 Einen solchen Unterschied machte, wie Olivier Richard demonstrierte, mitunter selbst ein Mangel an Materialität, wenn etwa die Einwohner von Weggis und Vitznau den Luzerner Gesandten vorhalten konnten, „sie hätten ein Loch im Geschworenen Brief“55. Einer positiven sozialen Erwartungssteuerung entsprach es vermutlich, wenn die Bürger von Coventry 1471 das Wappen des Lancasterkönigs Heinrich VI. entfernten, um es wohlweislich gegen dasjenige seines Rivalen Eduard IV. auszutauschen. War das gläserne Wappenschild bei diesem Vorgang indes lediglich Opfer, oder ‚agierte‘ es aus seiner durchscheinen-
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Luhmann, Soziale Systeme, S. 115. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51972, S. 651, über adelige Luxusanhäufung. 53 Hahn, Lost in Things, S. 10. 54 Latour, Neue Soziologie, S. 123. 55 SSRQ LU I/1, S. XXXVI. 52
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den Materialität heraus vielmehr als eigensinniger Provokateur? Auf welchem Wege lassen sich der sprachlosen Materie unserer Sachüberlieferung verlässliche Aussagen über ihre handlungsleitende Wirksamkeit abgewinnen? Ein Erfolgsrezept mag der Verzicht auf die Simmel’sche Blasiertheit sein. Es erweist sich als kluger Kunstgriff von Herausgeberinnen und Beiträgern dieses Bandes, sich nicht abstrakten Materialaggregationen oder den zahllosen gegenstandslosen Meta-Texten des „material turn“56 verpflichtet zu haben, sondern konsequent historisch greifbare Gegenstände ins Zentrum der Untersuchung zu rücken. Statt sich mit „gleich zurückgezogenen Fingerspitzen“ den Objekten zu nähern, war so ein handfester Zugriff mit konkreten Ergebnissen möglich. Hierbei hat sich einmal mehr erwiesen, wie wenig es angesichts der Vielgestaltigkeit der Untersuchungsobjekte einen einheitlichen Pfad durch das Dickicht der Dingkultur(en) geben kann, wie fruchtbar hingegen der perspektivische Austausch zwischen den beteiligten Disziplinen ist. Der Schritt in Richtung eines „material turn“, der einen echten Paradigmenwechsel darstellt, mag von den Autorinnen und Autoren in unterschiedlicher Konsequenz gegangen worden sein. Der gemeinsame Nenner aller Tagungsbeiträge lässt sich indessen in ein finales Zitat aus der Feder Georg Simmels fassen: „Immer aber gilt es, den Dingen ihre Bedeutung und ihr Geheimnis abzuhören.“57
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Siehe dazu Jan Keupp, Die Gegenstandslosigkeit des Materiellen. Was den material turn zum Abtörner macht, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 26. Juni 2017, https://mittelalter.hypotheses.org/10617 [Stand: 15.03.2019]. 57 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 618.
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INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN
Aarburg Albrecht II. (Herzog von Österreich, 1298–1358) 214 Albrecht V. (Herzog von Bayern, 1528–1579) 37 Alfons IV. (König von Aragón, reg. 1327–1336) 55 Altenberg Prämonstratenserinnenkloster 55 Althoff, Gerd 40 Amira, Karl von 107 Amman, Jost 193 Andersen, Hans Christian 225, 226 Antonia Pompeia 203 Aquitanien (Dukes of) 64 Arles 109 Arundel, Thomas (Erzbischof von Canterbury, 1353–1414) 65 Assmann, Aleida 230 Augsburg 15, 25, 26, 28, 30, 32, 33, 35, 91, 121, 140, 143, 203, 233 Augustus (röm. Kaiser, 63 v. Chr.–14 n. Chr.) 75, 80, 81, 83–85, 91, 92 Babington (Earl of) 65 Babington, William (Jurist) 64 Bachmann-Medick, Doris 20 Barbieri, Filippo 80 Barcelona 55, 109 Santa María del Mar 55 Basel 51, 103, 106, 111, 117, 119, 142, 149, 203, 206, 207, 210 Großbasel 119 Kleinbasel 119 Universität 103, 104 Bayeux 100
Beauchamp, Richard (Earl of Warwick, † 1440) 64, 65 Beauchamp, William (Baron Bergavenny, †1411) 65 Behaim (Fam.) 135, 195, 201 Behaim, Christoph I. 194 Behaim, Friedrich 194 Behaim, Paul II. 194 Belisarius, Franciscus 203 zu Belisar siehe auch unter Welser Berlin 183 DHM 25, 26, 121 Staatsbibliothek 27, 29 Bern 97, 143, 208, 210, 212, 214, 220, 222, 223 Bern (Kanton) 223 Bischofszell 223 Bloch, Marc 24 Bock, von (Fam.) 131, 181, 182 Bologna 166 Bonin 215 Bourdieu, Pierre 22, 34 Bräu siehe Breu Bremin 219 Breu, Jörg 25, 26, 91, 121 Breyne, Johann Philipp 35, 37 Brugg 216–218, 224 Budapest 183 Büdingen 15, 53, 54, 68 Rathaus 54 Steinernes Haus 54 St. Maria 54, 55, 67, 122 St. Remigius 54 Witwenhof 54 Bülman, Elsi 221 Burghill, John (Bischof von Lichfield und Coventry, †1404) 65 Buwli, Peter 219
Index der Orts- und Personennamen
Chester (Earls of) 64 Chlodwig I. (fränkischer König, 466–511) 202 Chroust, Anton 160 Collin, Edvard 226 Colmar 109 Cornwall (Earls of) 64 Coventry 16, 58–60, 62–65, 68, 234 St. John Bablake 58
St. John the Baptist 58 St. Mary’s Guildhall 15, 53, 59, 64–66, 122, 123 St. Michael 59, 60, 66, 67 Trinity-Kirche 58 Coventry, Edmund von 58 Cromer, Martin 180 Crosby, Richard (Prior von Coventry, † 1436) 65 Crosse, John 61 Dahinden, Heini 218 Danzig 17, 161–184, 230 Artushof 182 Marienkirche 17, 127–130, 132 Kapelle der Georgenbruderschaft 178 Derschka, Harald 101 Despencer, Isabel († 1439) 65 Dierinkon, Welti von 223 Douwerman, Henrik 191 Dresden 100 Dreytwein, Bernhard 150 Dreytwein, Dionysius 16, 138, 148–158 Droysen, Johann Gustav 22 Ducher, Wolffgang 198 Dugdale, William 62, 63 Dürer, Albrecht 27, 28, 83 Durkheim, Emile 225 Ebner, Hanns 198 Eco, Umberto 230, 231 Eduard / Edward IV. (König von England, 1442–1483) 68, 234 Eduard / Edward III. (1312–1377; reg. 1327– 1377) 58, 59, 62, 63 Effinger (Fam.) 218 Eijb, Bilgmann von 198
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Einerling 224 Erhart 218 Esslingen 138, 148–154, 156, 157, 159, 160 Predigerkloster 149, 155 Etterlin, Petermann 142 Eyb, Maria Blandina von 201 Faure, Raymond 70 Ferdinand II. (Kaiser des HRR, 1578–1637) 203 Fischer, Sebastian 16, 126, 138–149, 154–156, 158, 160, 231 Fischer, Katharina 139 Fleckenstein, von (Herren) 51 Fleckenstein, Jakob von 102 Florenz 166 Folz, Hans 231 Frank, Sebastian 142, 143 Frankfurt am Main 15, 28, 30–32, 34, 53, 56, 57, 103, 116, 149 Bartholomäuskirche 103, 104 Glauburger Hof 57 Judengasse 32 Markt 56, 57 Nürnberger Hof 15, 56, 57 Schnurgasse 56, 57 Freiburg im Breisgau 10, 103–105, 149 Universität 103, 105 Freiburg im Üechtland 102, 106, 109, 110, 118 Friedrich II. (König und Kaiser des HRR, 1194–1250) 70 Friedrich III. (König und Kaiser des HRR, 1415–1493) 56, 91 Fuchs, Hans 223 Fugger, Hans Jakob 36 Gatterer, Johann Christoph 189 Gdańsk siehe Danzig Gell, Alfred 13 Genua 166 Geismar, Hans 85 Gerster 219 Gerthener, Madern (Stadtbaumeister in Frankfurt a. M.) 53, 56, 57 Gessler, Eduard 214
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Index der Orts- und Personennamen
Glarus 214 Glauburg, von (Patrizierfamilie) 53, 56, 57 Gleba, Gudrun 40, 41, 44 Goffmann, Erving 21 Goslar 16, 19, 69–94, 124, 234 Beinhaus 72 Friedhof 71, 72 Gerichtslaube 71
Marienkapelle 72 Markt(-platz) 70–72, 84 Rathaus 16, 70–79, 124 SS. Cosmas und Damian (Marktkirche) 72, 84 SS. Simon und Judas 70, 75 Grandson 210 Grawen, H. 224 Greverade (Kaufmannsfamilie) 165 Großenreinin/Großreinrü 223 Grundherr, Clara 196 Grunther, Ernst 198 Gundoldingen, von (Fam.) 215 Gundoldingen, Johannes von 215 Gundoldingen, Petermann von 215 Gundoldingen, Werner von 215 Grüningen 221 Haberland, Walter 127–131, 163, 169, 171– 173, 176–178, 181 Habsburg (Haus/Geschlecht) 45, 216, 217, 218 Hagenau 97, 101, 102 Hagnauer, Heinrich 221 Hahn, Hans Peter 23, 49, 232 Haimonen (Fam.) 45, 46 Haimo III. (Bischof von Halberstadt, 778–853) 46 Hainhofer, Philip 36 Halberstadt 55 Liebfrauenkirche 55 Haller, Friedrich 198 Haller, Hiltprand 198 Hamburg 100 Hanfarter 215 Harold (angelsächsischer König, 1022–1066) 100
Hechteregg 221 Heck, Kilian 53, 56 Heidelberg 12, 100, 150 Heilsbronn 199 Münster 199 Heiningen (Augustiner-Chorherrenstift) 80 Heinrich VI. (Kaiser des HRR, 1165–1197) 197 Heinrich VI. (König von England und Lancaster) siehe unter Henry Heller, Jakob 27, 28 Henning, Margareta 221 Henry III. (König von England; reg. 1216– 1272; 1207–1272) 63 Henry IV. (König von England; reg. 1399– 1413; 1366/67–1413) 63, 64, 67 Henry V. (König von England; reg. 1413– 1422; 1387–1413) 63, 64 Henry VI. (König von England; reg. 1422– 1471; 1421–1471) 62–64, 67, 68, 234 Hereford (Earls of) 64 Herford 100 Hermanno (famulo) 223, 224 Holzhausen, Blasius von 32 Holzschuher (Fam.) 188, 189, 196–200 Holzschuher, Friedrich 200 Holzschuher, Gottfried Engelhardt Holzschuher, Lorenz († 1130) 188, 189, 199 Holzschuher, Lorenz († 1201) 199 Holzschuher, Maximilian Veit 197 Holzschuher, Philip 197 Holzschuher, Veit 136, 189, 195 Holzschuher, Veit d. Ä. 188 Holzschuher, Veit Hieronymus 199 Horw, Bürgi von 223 Herzogenbusch 105 Humphrey (Duke of Gloucester, † 1447) 64 Humphrey (Earl of Stafford, † 1460) 64 Hürlimann, Adelheid 221 Hürlimann, Heini 221 Isabella von Frankreich (Königin von England, reg. 1326–30; † 1358) 58 Imhoff, Maria 201 Immessen, Arnold 80
Index der Orts- und Personennamen
Innsbruck 202 Hofkirche 202 Joanna (Baroness Bergavenny, † 1435) 65 Johannes in Ponte 215 John (Duke of Bedford, † 1435) 64 John (Duke of Norfolk, † 1432) 64 John of Gaunt (Duke of Lancaster, 1362–1399) 62 Judenburg 48 Justinian (röm. Kaiser, † 565) 203 Kager, Johann Matthias 33, 35 Kalbensteinberg 200, 201 Kalkar 191 St. Nicolai 191 Karl der Große (König des Fränkischen Reichs) 202, 203 Karl V. (Kaiser des HRR, 1500–1558) 139, 140, 148 Kelhaimer, Andreas 48 Kemp, Wolfgang 53 Kenilworth (Castle) 62 Kerns, H. von 223 Keting, Lucas 182 Kissing, Hans 223 Kissner, Johann Georg 35, 37 Kleße, Hiltgart 139 Klugermuet 224 Knappett, Carl 43 Knoblauch, von (Fam.) 56, 57 Knoll, Martin 50 Knyper, Elisabeth 182 Knyper, Dirk 182 Koller, Wilhelm 198 Kolmer, Lothar 96, 100 Köln 13, 14, 32, 45, 63, 95, 109, 110 Rathaus 63 König, Gudrun 14, 20 Konrad IV. (König des HRR, reg. 1237–1254) 187 Konstantin (röm. Kaiser, reg. 306–337) 63 Krauchthal, Anna von 212, 219, 222 Krauchthal, Oswalt von 219 Krauchthal, Peter von siehe Buwli
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Krâtz, Johann Michael 69, 83, 91 Kren, Thomas 48 Krepsinger, Heini 223 Kreutzfelder, Johann Philipp 135, 195 Lancaster (Earls of) 64 Laubendorn, Melchisedek 175, 180 Lauber, Diebold 97, 101 Latour, Bruno 23, 28, 227, 232, 234 Le Blon, Michel 36 Lencker, Elias 136, 195, 196 Lenen, Heini 219 Lirer, Thomas 148 London 64, 65 City of London 64 Löffelholz (Fam.) 193, 200 Lucca 166 Ludwig II. (Graf von Ysenburg-Büdingen, 1461–1511) 56 Lüne (Benediktinerinnenkloster) 80 Lüneburg 63 Rathaus 84 Ratsdörnse (Gerichtslaube) 93 Ratssaal 63 Luzern 97, 107, 111–113, 115–117, 119, 211–216, 219, 221–223, 234 Peterskapelle 119 Lyon 91 Mache, Hanns 219 Mack d. Ä., Georg 193 Mainz 53 Mannowsky, Walter 168 Manta (Kastell) 84 Marburg 34, 35, 161 March (Bezirk in der Schweiz) 116 Maria von Nassau-Wiesbaden (Gattin Ludwigs II. von Ysenburg-Büdingen) 56 Markgröningen 149 Marseille 109 Maximilian I. (Kaiser des HRR, 1459–1519) 56, 70, 91, 94, 202 Meiger, Welti 219 Memling, Hans 165, 173, 178 Merian d. J., Matthäus 36
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Index der Orts- und Personennamen
Meyer, Welti 114 Modena 166 Montaigne, Michel de 233 Morges 210 Morsel, Joseph 112 Moser, Werna 218 Muffel, Hennrich 198 Mühlhausen 70, 100, 101 Müllner, Johannes 198 Narbonne 105 Naumburg 101 Wenzelskirche 101 Nebiker, Heintzi 219 Nebiker, Henseli 219 Neuenburg / Neuchâtel 211 Nordhausen 70 Normandy (Dukes of) 64 Nürnberg 17, 56, 57, 185–204, 209, 233 Germanisches Nationalmuseum 132–136, 149, 183 St. Egidien 190 St. Jakob 199 St. Sebald 189, 231 Oberehnheim 109, 118 Oberwil 219 Obwalden (Kanton) 223 Odpert zu Chlothar 202 Oftringen 219 Öhler, Niklaus 200 Oldenburg 100 Ölhafen, Anna 196 Onley, John 61 Otter, Christopher 229 Otto I. (Kaiser des HRR, 962–973) 203 Otto II. (Kaiser des HRR, 967–983) 46 Owelman 218 Papen, Johann 91 Paratti, Klaus 219 Passau 4 Paravicini, Werner 51 Partenheim 55 Pastoureau, Michel 51
Petersen, Nils 44 Petziech, Ortolf 46 Pfinzing (Fam.) 134, 193, 194 Pfinzing, Martin II. 193 Pfinzing, Niclaus 198 Philipp I. (Pfalzgraf bei Rhein, 1448–1508) 102 Philipp der Gute (Herzog von Burgund, 1396–1467) 202 Philippa (Gräfin von Holland-Hennegau, reg. 1328–1369) 58 Pisa 166 Poll (Fam.) 45, 56 Poll, Jakob 46 Poll, Konrad 45 Poll, Niklas 45 Poll, Seifried 45 Poll, Stephan 45 Pötl, Simon 48, 49 Prag 138, 175, 184 Puller von Hohenburg, Richard 107, 116, 117 Reber 219 Reber, Heini 223 Reckwitz, Andreas 20, 23 Regensburg 39, 91 Reichenbach, Gebhard von 187 Reicholf, Seifried 46 Reutlingen 149 Richard Löwenherz (König von England, reg. 1189–1199) 63 Richard II. (König von England, reg. 1377–1399) 67 Riechenberg 70 Rieter (Fam.) 200 Rieter, Hans VIII. 200 Rieter, Hans IX. 201 Rippmann, Dorothee 41 Rixner, Georg 197, 198 Rohrbach, Lena 112 Rom 85 Palazzo Orsini 85 Rück, Peter 112 Rudellen, Henns 219 Rúdellon, Niclaus 219 Rudolf IV. von Hochberg (Graf von Neuenburg, 1426/27–1487) 211
Index der Orts- und Personennamen
Rudolf IV. (Erzherzog von Österreich, 1339–1365) 164 Ruedi 219 Rumelhart von Dürnten, Hans 221 Rúmlingen, Jacob von 220 Russ, Germann 223 Sal, Lorenz von 216 Satler, H. 223 Schedel, Hartmann 83, 84 Schertleib, Hartman 222 Scheurl, Christoph II. 194 Schlettstadt 109 Schilling, Anton 113 Schilling d. Ä., Diebold (um 1445–um 1486; Bern) 107, 210, 213 Schilling d. J., Diebold (1460–um1515; Luzern) 107, 114–117 Schlögl, Rudolf 21, 38 Schreyer, Sebald 231 Schuster, Peter 33 Schwabach 187 Schwarz, Matthäus 30 Schwarz, Veit 32 Schwerhoff, Gerd 20, 44 Schwyz (Kanton) 214, 223 Shipleys, Robert 61 Siegburg 191 Siena 92 Simmel, Georg 227–229, 232, 235 Smit, Welti 223 Solothurn 210, 211 Sombart, Werner 22 Spengler, Jennin 223 Speyerin, Anna 139 Stafford (Earls of) 64, 65 Stafler dicto Nesler 222 Stapfer 218 Starcke, Johann Andreas 200 Stierle, Karlheinz 229 Straßburg 13, 97, 102–104, 106, 107, 111–113, 118–120, 125, 142, 150 Stromer, Ulmann 187, 188 Stumpf, Johannes 143
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Tangermünde 101 Tell, Wilhelm 143 Tetzel (Fam.) 133, 190–192 Tetzel, Clara 196 Tetzel d. Ä., Jobst 190 Tewkesbury 55, 67 Benediktinerabteikirche 55 Thornton, John 63, 66 Thurgau (Kanton) 223 Tischmacher, Albrecht 214 Tlusty, Ann 30 Toeri, Uolli 219 Toggenburg, Friedrich von (Graf) 221 Trutmannina 222 Tucher (Fam.) 194, 200 Túfel, Henssly 218 Türlimann, Johann 215 Türlimannin 215 Uffenbach, Philip 31, 32 Ulm 16, 126, 138–140, 142, 143, 145–148, 155, 156, 159, 160, 209 Ulrich von Sant Johann 221 Ummen, Katharina von 180 Ummen, Wilhelm von 180 Uol 224 Uotzinger 219 Valois (Fam.) 202 Veblen, Thorstein 22 Venedig 166 Verenen, Hensli 221 Vischer, Friedrich Theodor 231 Vitznau 112, 234 Volgkamer, Sebolt 198 Volkamer (Fam.) 200 Wagner, Rudolf 218 Wagner, Valentin 31, 32 Wagner vorm Tor 221 Waiden, Roger de (Bischof von London, †1404) 65 Waldeck, Johannes 102 Waldstromer, Seboldt 198 Wallbrunn (Freiherren von) 55
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Index der Orts- und Personennamen
Walliser, Philipp 203 Waltman, Peter 215 Wambold, Freiherren von 55 Weber, Max 225, 226 Weggis 112, 234 Weigel, Hans 27, 29 Weis, Philip 32 Werdenn, Jacob von 180 Welser (Fam.) 199, 203 Welser, Emanuel 203 Welser, Jakob I. 203 Welser, Julius II. 199 Welser, Sebastian IV. 203 Widenman, Kaspar 209 Wien 15, 39, 40, 44, 45, 48, 148, 150, 154, 234 Albertina 31, 32 Rathauskapelle 45 Ratssaal 68 St. Stephan 48 Zeughaus 210 Wilhelm I. / der Eroberer (engl. König, reg. 1066–1087) 63, 100 Windsheim 42 Winterthur 214, 216 Wolfenbüttel 36, 100 Wolffin vonn Kannstatt, Karttreina 150 Wolgemuth, Michael 83 Worms 191 Wúl 218 Württemberg, Grafen von 149 York 63, 64 Ysenburg, Herren von 15, 53, 54, 56 Zink, Burkard 140 Zug 206, 214 Zürcher, Peter 224 Zürich 51, 102, 107, 111, 112, 116, 117, 120, 143, 210, 211, 214, 221 Zürich (Kanton) 223