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German Pages 464 Year 2015
Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen
Sozialtheorie
Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.)
Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Die Sinnlichkeit des Sozialen Eine Einleitung Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel | 9
I. D ie affek tive M acht der D inge Einleitung | 53
Das Wuchern der Dinge Über Sachuniversen und die vergessenen Teile unseres Sachbesitzes Hans Peter Hahn | 61
Ein Modernismus ohne Modernisierung Lina Bo Bardis künstlerische Forschung im Nordosten Brasiliens Sophia Prinz | 79
Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen Zur Entgrenzung des Sozialen (nicht nur) im Sport Robert Gugutzer | 105
Affekt. Macht. Dinge Die Aufteilung sozialer Sensorien in heterologischen Gesellschaften Dorothy H.B. Kwek und Robert Seyfert | 123
Die Sprache der Dinge Kaja Silverman | 147
II. D ie atmosphärische K omposition von A rchitek turen Einleitung | 169
Eine Architektur der Einfühlung Eileen Grays Wohnhaus E.1027 Christina Threuter | 177
Missionierende Räume? Neue religiöse Räume als Medien religiösen Wandels Stefanie Duttweiler | 195
Die Aussicht Zur Herstellung ästhetischer Wahrnehmungsordnungen von Architektur Hanna Katharina Göbel | 219
Sinnreiche Bewegungen Lars Frers | 243
A Conversation with Jane M. Jacobs Questions by Hanna Katharina Göbel | 267
III. D ie E ntgrenzung künstlerischer P rak tiken Einleitung | 277
Existenzweisen musikalischer Performanz Von Laptops, Lötkolben und anderen Vermittlern Michael Liegl | 285
Sinn als verkörperte Sinnlichkeit Zur Performativität und Medialität des Sinnlichen in Alltag und (Tanz-)Kunst Gabriele Klein | 305
Blinde Flecken vor grauem Putz Künstlerische Praxis und ethnografische Grenzgänge auf den Spuren sinnlicher Wahrnehmung Christiane Schürkmann | 317
Sensible Ethnographien Modernistische Empfindsamkeit als Modus einer ethnographischen Ästhetik Silvy Chakkalakal | 341
A Conversation with Peter Osborne Questions by Sophia Prinz | 363
IV. D ie P rofessionalisierung sinnlicher E xpertisen Einleitung | 375
Zwischen Formalisierbarkeit und Intuition Visuelle Expertise in der Medizin Regula Valérie Burri | 381
Sehen professionell Sehen Die interaktive Konstitution visueller Wahrnehmung durch Optiker und ihre Klienten Dirk vom Lehn, Helena Webb, Christian Heath und Will Gibson | 399
V. H erausforderungen und P otentiale einer S oziologie der S inne Einleitung | 419
Simmels Sinn der Sinne Zum vital turn der Soziologie Joachim Fischer | 423
Sinne und Praktiken Die sinnliche Organisation des Sozialen Andreas Reckwitz | 441
Autorinnen und Autoren | 457
Die Sinnlichkeit des Sozialen Eine Einleitung Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel
1. W ozu eine S oziologie der S inne ? Alle Praktiken basieren auf sinnlichen Erfahrungen. Sei es bei der Arbeit am Computer, der Auswahl von Konsumgütern oder dem Besuch im Museum – die Sinne sind stets an dem situativen Tun beteiligt. Trotz dieser Omnipräsenz des Sinnlichen im sozialen Geschehen hat die Soziologie der basalen sozialen Funktion von Wahrnehmungsprozessen lange Zeit kaum Beachtung geschenkt. Das sinnlich-affektive Erleben galt ihr zumeist als ein rein subjektiver oder physischer Vorgang, der allenfalls von der Wahrnehmungspsychologie und -physiologie zu untersuchen sei, nicht aber von einer Wissenschaft, die sich den »sozialen Tatsachen« (Durkheim) widmet. Der Sammelband hat sich zur Aufgabe gemacht, diesen blinden Fleck der sozialwissenschaftlichen Forschung in den Blick zu nehmen. Das Wahrnehmen, so die zentrale These, lässt sich eben nicht auf einen rein physischen oder neuronalen Prozess reduzieren, sondern wird immer auch durch Praktiken und kulturelle Wahrnehmungsschemata geformt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in professionelle Felder, Systeme, Klassen und Lebensstilmilieus mit einer Pluralisierung sinnlicher Ordnungen korrespondiert. Die Angehörigen einer sozialen Gruppe teilen also nicht nur dieselbe strukturelle Position innerhalb der Gesellschaft; in ihren Praktiken und Interaktionen bilden sie zudem kollektive Wahrnehmungsschemata aus, die sie für bestimmte Details und Zusammenhänge sensibilisieren, während ihnen andere potentiell ebenso wahrnehmbare Aspekte entgehen. Die »Sinnlichkeit des Sozialen« lässt sich somit als das kollektiv geteilte Repertoire praktisch erworbener Fertigkeiten des Wahrnehmens verstehen. Neben der basalen Einsicht in die soziale Bedingtheit sinnlicher Erfahrungen liegt ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt der hier zusammengetragenen Beiträge auf der Annahme, dass die Ausbildung von Wahrnehmungsschemata und -praktiken zu einem wesentlichen Teil von den materiellen Daseinsbedin-
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Die Sinnlichkeit des Sozialen
gungen einer Kultur beeinflusst wird. Durch den wiederholten Umgang mit räumlich-architektonischen Ordnungen, alltäglichen Gebrauchsgegenständen, wissenschaftlichen und künstlerischen Objekten oder technologischen Apparaturen erwerben die sozialen Akteure ein synästhetisches, senso-motorisches Vermögen, das sie in ihren alltäglichen Interaktionen intuitiv einsetzen. Jedes dieser genannten Dinge erfordert aufgrund seiner Gestalt und Materialität und seiner je spezifischen sozialen, kulturellen und praktischen Funktion eine eigene Wahrnehmungsexpertise. Aus diesem Grund stellen fremde oder neuartige Dinge und Raumkonstellationen nicht nur eine immer wiederkehrende Herausforderung für das intellektuelle Sinnverstehen oder die praktisch-funktionelle Handhabe dar, sondern stellen auch das eingeübte Wahrnehmungsrepertoire auf die Probe. In dieser Hinsicht ist die Begegnung mit ungewohnten kultureller Phänomenen mit der Funktionsweise des Ästhetischen verwandt. Denn wie von verschiedenen philosophischen Schulen aufgezeigt wurde, zeichnet sich die ästhetische Erfahrung gerade dadurch aus, dass in ihr die üblichen sinnlichen Schemata ausgehebelt oder »befremdet« werden und der soziale Akteur beginnt, seine eigenen unhinterfragten Wahrnehmungsmodi zu reflektieren. Klassischerweise geschieht diese Irritation in den Feldern der Kunst, jedoch kann das ästhetische Wahrnehmen auch in anderen Kontexten zu einem Bestandteil von Praxis werden.
1.1 Ästhetisierung, Medialisierung, Transkulturalisierung Mit diesem skizzierten dreifachen Programm einer »Soziologie der Sinne«, der »Materialität« und der »Ästhetik« steht der Sammelband in gesellschafts- und modernetheoretischer Hinsicht am Schnittpunkt einiger aktueller Debatten. So wird erstens in verschiedenen kultur-, kunst- und stadtsoziologischen Kontexten diskutiert, inwiefern die klassische soziologische Modernetheorie, die seit Max Weber von dem Paradigma der »Rationalisierung« bestimmt wird, um den Aspekt des »Ästhetischen« ergänzt werden müsse (Jameson 1991; Featherstone 1992; Reckwitz 2006).1 Dieser Argumentation folgend zeichnet sich beispielsweise bereits die moderne Metropole um 1900 nicht nur durch eine zunehmende Technologisierung aus, sondern leistet mit ihren wuchernden Warenwelten, vielfältigen Ausstellungsformaten und elektrischen Lichtern ebenso einem Sinn für das Ästhetische Vorschub.2 Die medialisierte, spätmoderne Gesellschaft, so eine weit verbreitete Diagnose, würde diese allgemeine Tendenz zur »Ästhetisierung« noch weiter steigern und konsequent auf alle Lebensbereiche ausdehnen 1 | Zur Debatte der Ästhetisierung siehe auch Reckwitz, Klein und Osborne in diesem Band. 2 | Dieser Zusammenhang wird insbesondere von den interdisziplinären Urban Studies und den Urban Visual Studies untersucht. Siehe dazu auch Unterkapitel 4.5 dieser Einleitung.
Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel — Eine Einleitung
(Reckwitz 2012).3 Als Beispiele für diese Transformation werden unter anderem die zunehmende Entgrenzung künstlerischer Arbeitsformen und Subjektivierungsweisen, der Aufstieg der Creative Industries, sowie die neuen stadtplanerischen Leitbilder der Creative City (Florida 2005) oder der Sense City (Zardini 2005) herangezogen.4 Im Bereich der Medien- und Techniktheorie wird zweitens untersucht, wie neuartige, insbesondere digitale, Medien und Technologien zu einer allgemeinen Transformation von Wahrnehmungsgewohnheiten und -praktiken beitragen. Während sich etwa Georg Simmel zur Jahrhundertwende noch darüber gewundert hatte, dass sich die Passagiere in der Straßenbahn stundenlang gegenseitig anzublicken vermögen ohne miteinander zu reden (Simmel 1992: 727), hat sich diese »blasierte« Haltung in Zeiten des Smartphones in eine ausdifferenzierte Interaktion zwischen an- und abwesenden Personen, sicht- und unsichtbaren Dingen, analogen und medialisierten sinnlichen Eindrücken transformiert. So zeigen etwa neuere Forschungen, dass sich der moderne Großstädter seine räumliche und dingliche Umgebung erst durch die mediale Vermittlung via Google Maps oder Handykamera zu eigen machen kann (Sheller/Urry 2006; Gebelein 2015) und sich in seinen Bewegungen durch den Stadtraum von der Musik in seinem iPod leiten lässt (Bull 2011). Aber nicht nur Smartphones, auch andere technologische Objekte wie Transportmittel (Dant 2004; Sheller 2004), Körperprothesen, robotisierte Maschinen und Arbeitswerkzeuge verändern die sinnliche Interaktion des Subjekts mit seiner materiellen Umwelt (Nelson 2001; Blackman 2010; Ihde 2010; Sobchack 2010; Morana u.a. 2011). Während Karl Marx noch kritisch angemerkt hatte, dass die monotone Maschinenarbeit zu einer allgemeinen Verarmung der sinnlichen Erfahrung führe (Marx 1968: 510ff.), geht die gegenwärtige Forschung davon aus, dass in der enorm ausdifferenzierten Arbeitswelt der Spätmoderne jede Tätigkeit – sei sie produktions- oder serviceorientiert – einer spezifischen interobjektiven Wahrnehmungskompetenz oder »sinnlichen Expertise« bedarf. Im Unterschied zur klassischen Medientheorie von McLuhan, die die technischen Medien als bloße Erweiterungen oder Verlängerungen des 3 | Damit knüpft die gegenwärtige Diskussion an ältere soziologische Diagnosen – wie die Kulturindustrie-These von Horkheimer und Adorno (1969) oder Guy Debords Gesellschaft des Spektakels (1996) – an, jedoch ohne die ästhetischen Alltagspraktiken als bloß maskierte Varianten der kapitalistischen Zweckrationalität zu entlarven. Siehe dazu auch Osborne in diesem Band. 4 | In solchen Kontexten ist eine stetige Vervielfältigung von solchen Dingwelten und Kulturtechniken zu beobachten, die darauf ausgelegt sind, das sinnlich-körperliche Wohlbefinden zu steigern oder ungewöhnliche, »authentische« Erfahrungen zu evozieren – man denke etwa an den globalen Aufschwung von Biennalen und Messen für zeitgenössische Kunst, die Ausrichtung von Streetfoodfestivals oder die Vermarktung von jungen Designlabels in concept malls. Siehe dazu auch Buchteil III Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken.
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menschlichen Sensoriums interpretiert, wird dabei angenommen, dass sich der gesamte Körper durch die Interaktion mit der Technik verändert.5 Parallel zu dem Ästhetisierungs- und Medialisierungsargument wird in verschiedenen Kontexten zudem drittens vermehrt darüber diskutiert, ob und inwiefern sich die globale Migration von Menschen, Dingen und körperlichen Praktiken auf die kulturelle »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière) auswirken. Eine solche transkulturelle Neukonfiguration von sinnlichen Ordnungen und ästhetischen Wahrnehmungsformen, die sich gegenwärtig beispielsweise an der wachsenden Popularität von Yoga (Hauser 2013) und anderen fernöstlichen Wellnessprogrammen, der Adaption von »exotischen« Gewürzen und Kochtechniken in der heimischen Küche oder der globalen Verbreitung von Hip Hop zeigt, ist keineswegs ein völlig neues Phänomen. Die moderne westliche Formensprache der Architektur, der Malerei, des Designs oder des Tanzes hat sich immer schon an nicht-westlichen Ästhetiken, wie etwa der indischen, japanischen oder der (nord-) afrikanischen, geschult und in der Folge von Kolonialisierung und ökonomischer Globalisierung ihrerseits Spuren auf der ganzen Welt hinterlassen (King 2004; Belting 2008; Jacobs/Cairns 2008; Klein 2009; Brosius/Wenzlhuemer 2011; Mirzoeff 2011; Werbner/Fumanti 2012). Ziel des Sammelbandes ist, diese gesellschaftstheoretischen Diagnosen – wie etwa die der Ästhetisierung, der Medialisierung und der Transkulturalisierung – in den einzelnen Buchteilen und Beiträgen sowohl kritisch zu hinterfragen als auch die Diskussion durch neue theoretische Überlegungen und empirische Analysen weiter voranzutreiben.
1.2 Sozio-materielle Ordnungen des Sinnlichen Neben diesen gesellschaftstheoretischen Anknüpfungspunkten liefert der Sammelband zudem einen wichtigen Beitrag zur aktuellen sozialtheoretischen Debatte. Indem er das Sinnliche als ein fundamentales, sozio-materielles Phänomen thematisiert, knüpft er unmittelbar an den material turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften an, der in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere von der Körpersoziologie, der Praxistheorie, den Science and Technology-Studies (STS) und ebenso der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) vorangetrieben worden ist.6 Diese Perspektiven grenzen sich sowohl von den klassischen soziologischen Theorien ab, die das Soziale entweder von den übergeordneten gesellschaftlichen Strukturen oder von dem individuellen Sinnverstehen her denken, als auch von dem linguistic turn, dem zufolge eine Kultur im Wesentlichen durch Diskurse und Zeichensysteme konstituiert wird. Gegenüber diesen objektivistischen, subjek5 | Siehe dazu das Unterkapitel 3 dieser Einleitung und den Buchteil IV Die Professionalisierung sinnlicher Expertisen. 6 | Für einen Überblick siehe etwa Reckwitz 2003, 2008; Gugutzer 2004; Belliger/Krieger 2006; Gugutzer 2006 sowie Hillebrandt 2014.
Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel — Eine Einleitung
tiv-mentalistischen und textualistischen Ansätzen sprechen sie sich vielmehr für eine stärkere theoretische Berücksichtigung der »Materialität« von Kultur und Gesellschaft aus. Neben den sozialen Regeln und Wissensordnungen spielt ihnen zufolge auch die Art und Weise eine Rolle, wie sich das Subjekt mithilfe seines Körpers in die soziale Umwelt einfügt. Dabei lernt der Körper, mit den kollektiv geteilten (künstlerischen) Artefakten der Hoch- und Populärkultur, wissenschaftlich geformten (technischen) Objekten sowie Alltagsdingen und Architekturen umzugehen. Das Subjekt wird mit anderen Worten also auch dadurch sozialisiert, dass es sich die mechanische und praktische Funktionsweise der jeweiligen kulturellen Dingwelt körperlich zu eigen macht. Wie diese soziale »Handlungsträgerschaft« der nicht-belebten Materie gefasst wird, unterscheidet sich jedoch je nach theoretischer Position. Während die Körpersoziologen und diejenigen Praxistheoretiker, die sich an Bourdieu und Foucault orientieren, den Subjektbegriff nicht aufgeben und ganz klar zwischen menschlichem Akteur und Artefakt unterscheiden, haben sich etwa die Vertreter der ANT im Anschluss an Heidegger und Deleuze zum Ziel gesetzt, die Subjekt-Objekt-Dichotomie gänzlich hinter sich zu lassen und die Handlung stattdessen im Dazwischen von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten zu verorten. Trotz dieser Betonung des Körpers auf der einen und der Materialität der Artefakte auf der anderen Seite wurde die Frage der Wahrnehmung, d.h. der unmittelbar sinnlichen Interaktion mit den Dingen in der soziologischen Theoriebildung bisher kaum systematisch berücksichtigt. Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an dem Verhältnis von Wahrnehmung und Materialität deutlich gestiegen. Allerdings stehen – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – nur bedingt theoretische und methodologische Instrumentarien zur Verfügung, um die sinnliche Ordnung der sozio-materiellen Phänomene zu analysieren. Dieser Mangel an Systematik liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die schwer greif bare Thematik der sinnlichen Wahrnehmung oftmals zu einer recht impressionistischen Herangehensweise verleitet, die letztlich ihren Gegenstand eher vernebelt als wissenschaftlich zugänglich macht. Der Sammelband macht es sich dementsprechend zur Aufgabe, einige Ansätze zur theoretischen Reflexion und empirischen Analyse der »Sinnlichkeit des Sozialen« exemplarisch vorzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Ziel ist dabei, die perzeptive Modulation von körperlichen Praktiken sowie die jeweilige Handlungsmacht von gegenwärtigen Ding- und Wahrnehmungskulturen offenzulegen. Wie jede Auswahl erhebt auch diese dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Weder konnten alle relevanten sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorie- und Forschungskontexte angemessen berücksichtigt noch alle Sinnesfelder gleichermaßen bedacht werden. Der Sammelband versteht sich vielmehr als ein erster Schritt in Richtung Systematisierung, der einen Fragehorizont aufspannt aber nicht alle entsprechenden Antworten parat hat. An dieser Stelle seien daher
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die Geschichte der »Soziologie der Sinne« und die daran anknüpfenden gegenwärtigen Diskussionen knapp rekapituliert.
2. W ahrnehmen als philosophisches P roblem Das Problemfeld der »Sinne« und der »Wahrnehmung« gehört seit jeher zu den zentralen Gegenständen der philosophischen Epistemologie, Ethik und Ästhetik.7 Erste Überlegungen zur Arbeitsteilung der fünf Sinne und zum Verhältnis zwischen dem »äußeren« Sinnesempfinden auf der einen und den intellektuellen Verstandesleistungen auf der anderen Seite finden sich bereits bei den Vorsokratikern sowie in der antiken chinesischen und indischen Philosophie. In der abendländischen Epistemologie wurde den Sinnen von Anfang an misstraut. Wie Platon in seinem Höhlengleichnis eindrücklich beschreibt, hat es die sinnliche Wahrnehmung mit bloßen Schatten, nicht aber mit den wahren Ideen zu tun. Bestimmte Sinne, wie etwa das Sehen oder das Tasten, werden jedoch von vornherein als »höher« eingestuft, da sie der Erkenntnis näher zu stehen scheinen als beispielsweise das Schmecken oder Riechen – eine Hierarchisierung, die sich im modernen Okularzentrismus fortgesetzt hat.8 Die latente Geringschätzung der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis) gegenüber der Vernunft (logos) manifestiert sich in der Neuzeit noch einmal mit allem Nachdruck in René Descartes Trennung des vernunftbegabten Geistes (res cogitans) von dem täuschungsanfälligen Körper (res extensa), die letztlich zu einer Aufspaltung in eine rationalistische und eine empiristische Theorietradition führt. Fortan gehört es zu den zentralen Problemen der modernen Epistemologie, diese grundlegende, epistemologische Spaltung wieder zu überwinden. Einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung leistet Immanuel Kants transzendentalphilosophische Kritik der reinen Vernunft, der zufolge eine »wahre Erkenntnis« – mit Ausnahme der Mathematik – nur durch ein Zusammenspiel von empirischen Sinnen und Vernunft möglich sei.9 Allerdings ist auch er davon überzeugt, dass die Sinne die »Dinge an sich« nicht erfassen können, sondern nur nach Maßgabe der bewusstseinsimmanenten Anschauungsformen wiedergeben. Eine deutlichere theoretische Aufwertung erfährt das sinnliche Erleben mit der philosophischen Ästhetik von Alexander Baumgarten. In seiner 1750/58 erschienenen 7 | Für eine ausführliche Übersicht siehe Naumann-Beyer 2003; Schürmann 2008 sowie Diaconu 2013. 8 | Zur Entwicklung des westlichen Okularzentrismus siehe etwa Jay 1993 sowie Jenks 1995. 9 | In diesem Sinne heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (Kant: KrV A48/B75, hier: Kant 1998: 130)
Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel — Eine Einleitung
Hauptschrift Aesthetica (Baumgarten 2007) spricht er sich für die Existenz einer eigenständigen »sinnlichen Wahrheit« aus, die nicht mit intellektuellen Denkbemühungen, sondern allein vermittelt durch die Künste augenscheinlich werden könne. Baumgarten wie auch andere Ästhetiker seiner Zeit interpretieren das sinnliche Empfinden jedoch in erster Linie als einen mentalen Akt. Erst mit der Krise des Idealismus und dem Aufstieg der empirischen Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert – insbesondere der Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie – gewinnt das körperliche Empfinden an erkenntnistheoretischer Bedeutung. Vor allem die Lebensphilosophie, die Phänomenologie, die philosophische Anthropologie, der US-amerikanische Pragmatismus und die Psychoanalyse haben zu einer Rehabilitierung des Körpers, der Wahrnehmung und der Affektivität als philosophische Gegenstände beigetragen. Die Lebensphilosophie, zu denen so unterschiedliche Denker wie Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und Georg Simmel gezählt werden, zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Anschluss an Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches Kritik des idealistischen Vernunftbegriffs das Leben, oder wie es bei Bergson heißt: den »elan vital«, als die eigentliche treibende Kraft der Geschichte herausstellen. Das vorbegriffliche Empfinden und intuitive Verstehen des Menschen wird hierbei als die ursprünglichere Form des Weltzugangs verstanden und dem begrifflichen Denken vorgeordnet. So vertritt Bergson in seinem Hauptwerk Materie und Gedächtnis (1908) die These, dass die Wahrnehmung nicht primär einer kognitiven Erkenntnis, sondern der praktischen Orientierung in der Welt diene. Der lebende Körper ist demzufolge ständig äußeren Reizen und Affektionen ausgesetzt, die ihn entweder dazu animieren, sich zu bewegen, oder ihm bedeuten, besser stillzuhalten (Delitz 2015: 187ff.). Dieser immanenzontologische Ansatz, der weder idealistisch noch empiristisch argumentiert, sondern von affektiven Relationen zwischen den Körpern ausgeht, wurde im 20. Jahrhundert insbesondere von Gilles Deleuze, aber auch von Gilbert Simondon und anderen aufgegriffen und erlebt im Zuge des kultur- und sozialwissenschaftlichen affective turn gegenwärtig eine neue Renaissance.10 Ähnlich wie die Lebensphilosophie beruht auch die Phänomenologie auf der Annahme, dass vorprädikative Erfahrungsakte dem expliziten Wissen und bewussten Handeln vorgelagert sind. So führt der späte Husserl die Art und Weise wie oder »als was« die Welt dem Subjekt erscheint, auf dessen primordiale Lebenswelt zurück – also auf ein historisch und kulturell spezifisches »Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten« dessen Sinn- und Bedeutungssysteme von den Subjekten fraglos hingenommen und in ihren alltäglichen Praktiken angewandt werden (Husserl 1976: 183). Während sich der Soziologe Alfred Schütz Husserls Konzept der Lebenswelt zu einer allgemeinen Wissenssoziologie ausweitet, um das gesellschaftlich geprägte, alltägliche Sinnverstehen des Individuums zu analysieren, und damit ein Stück weit dem Mentalismus der Bewusstseinsphilosophie 10 | Siehe dazu auch den Buchteil I Die affektive Macht der Dinge.
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verhaftet bleibt, interessiert sich der französische Leibphänomenologe Maurice Merleau-Ponty in erster Linie für die sinnlich-perzeptiven Erfahrungsweisen des Subjekts (Merleau-Ponty 1966). Wie er im Anschluss an Husserls Körperleib- und Heideggers Daseins-Begriff bemerkt, ist der sinnlich empfindende Leib bereits »in der Welt« (etre-au-monde) noch bevor das Bewusstsein zwischen den Dingen, Mitmenschen und Raumordnungen begrifflich zu unterscheiden lernt. Der Leib kann mit anderen Worten schon dann mit der sozialen und materiellen Welt intuitiv umgehen ohne dass das Subjekt explizit weiß, was es da eigentlich tut. Dabei hängt die Art und Weise, wie der Leib wahrnimmt, von dem »Körperschema« ab, das er durch die permanente Auseinandersetzung mit den perzeptiven und praktischen Anforderungen, die »seine« soziale und materielle Welt an ihn stellt, erworben hat. Dieser theoretische Ansatz hat nicht nur deutliche Spuren in Pierre Bourdieus soziologischer Praxistheorie hinterlassen (Bongaerts 2003; Crossley 2008), sondern wurde in jüngerer Zeit zudem von der anglo-amerikanischen Körpersoziologie aufgegriffen (Crossley 1994).11 Die deutschsprachige Diskussion orientiert sich demgegenüber stärker an der Leibphänomenologie oder »Neuen Phänomenologie« von Hermann Schmitz (1990, 2011), der anders als Merleau-Ponty nicht den außerweltlichen Bezug, sondern das innerleibliche »Spüren« und das leiblich-affektive Betroffensein zu dem Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie macht (Lindemann 1992; Gugutzer 2012). Eines seiner Konzepte, das in den Kultur- und Sozialwissenschaften an besonderer Popularität gewonnen hat, ist der Begriff der »Atmosphäre«, dem zufolge sich überindividuelle Sinnzusammenhänge über die spezifische Gestimmtheit einer (sozialen) Situation mitteilen können.12 Helmuth Plessner, einer der Begründer der philosophischen Anthropologie, hat ebenfalls betont, dass der Mensch aufgrund seines Leibseins unwillkürlichen affektiven Empfindungen ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist er jedoch – anders als alle anderen Lebewesen – dazu in der Lage, sich von seinen leiblichen Erfahrungen zu distanzieren, er hat mit anderen Worten einen Körper, den er zu einem gewissen Grad verstehen und steuern kann (Plessner 2003: 329). Plessner bezeichnet dieses Zusammenspiel von Leibsein und Körperhaben auch als »exzentrische Positionalität«: Der Mensch setzt sich als Leib vorbewusst-intuitiv in Relation zu seiner angrenzenden Umwelt, ist aber insofern nicht vollends an diese Leibposition gebunden, als er sie gedanklich übersteigen kann. Die Möglichkeit zur Distanznahme ist dabei an die spezifische kooperative Einheit der sinnlichen Wahrnehmungsmodi und motorischen Körperbewegungen, den humanen »Sinn der
11 | Für eine praxistheoretische Rekapitulation von Merleau-Pontys Wahrnehmungsbegriff siehe auch Prinz 2014: 169ff. sowie Prinz in diesem Band. 12 | In der Architekturtheorie wurde der Begriff erstmals von Böhme (1995, 2006) aufgegriffen, siehe dazu auch Buchteil II Die atmosphärische Komposition von Architekturen.
Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel — Eine Einleitung
Sinne« (Plessner 2003: 371) gebunden.13 So sind das Sehen und Greifen aufgrund des aufrechten Gangs nicht mehr notwendigerweise in die unmittelbare Umgebung eingebunden und können sich daher auf die Ferne hin entwerfen. Trotzdem sind Leib und Körper nicht immer vollkommen aufeinander abgestimmt. Unvorhergesehene, affektiv-leibliche Empfindungen können das eigene Selbstbild und Körperwissen durchkreuzen, während umgekehrt der Leib mit Lachen oder Weinen auf Sinnzusammenbrüche reagiert. Zu den Philosophien, die im Zuge der soziologischen Entdeckung des Körpers und des sinnlichen Empfindens an theoretischer Konjunktur gewinnen, gehört auch der US-amerikanische Pragmatismus, dessen Vertreter ähnlich wie die Phänomenologen davon ausgehen, dass das Erkennen in erster Linie von dem vorprädikativen, praktischen Tätigsein geleitet wird. Die sprachlichen und theoretischen Begriffe sind demnach keine »objektiven« Repräsentationen der äußeren Realität, sondern dienen eher als Werkzeuge oder »Problemlösungen«, um sich in der Welt zurecht zu finden. Dass dieser praktische Weltzugang auf sinnlichen Wahrnehmungen beruht, gehört zu den grundlegenden Einsichten des Pragmatismus. So hatte George Herbert Mead in seinen wahrnehmungspsychologischerkenntnistheoretischen Schriften die These vertreten, dass das Individuum die materiellen Gegenstände, mit denen es hantiert, in seinen funktionalen Wahrnehmungsakten allererst konstituiert. Der Wahrnehmende unterstellt dabei dem jeweiligen Gegenstand ein substantielles »Inneres«, in das er sich mithilfe der Technik der Rollenübernahme einfühlen muss (Mead 1969).14 John Dewey macht demgegenüber in Kunst als Erfahrung (Dewey 1980) deutlich, dass sich nicht nur die klassische Kunstbetrachtung, sondern auch ganz alltägliche Wahrnehmungen unter bestimmten Voraussetzungen zu ästhetischen Erfahrungen steigern können. Jede Tätigkeit – so Deweys These –, die »eine Entwicklung bis hin zur Vollendung durchläuft« (Dewey 1980: 47), d.h. nicht automatisch oder beiläufig durchgeführt wird, kann potentiell eine ästhetische Qualität entfalten.15 Wenn es um die soziale Bedeutung von Sinnlichkeit und Affektivität geht, darf schließlich auch die Psychoanalyse und ihre Entdeckung des Unbewussten nicht unerwähnt bleiben. Bereits Sigmund Freud weist darauf hin, dass die Affekte, die durch die Begegnung mit der äußeren Welt hervorgerufen werden – seien sie positiv-lustbetont oder aber negativ-destruktiv – von dem Subjekt nicht gesteuert werden können. Für das Subjekt seien zudem einige Wahrnehmungs13 | Für eine instruktive Einführung in Plessners Theorie der »exzentrischen Positionalität« und »Ästhesiologie« siehe Fischer 2000 sowie zur anthropologischen Ästhesiologie im Allgemeinen auch Fischer in diesem Band. 14 | Siehe dazu auch Joas 1989: 143ff sowie Göbel in diesem Band. 15 | In diesem Sinne heißt es an anderer Stelle: »Die Ästhetik [dringt] nicht von außen in die Erfahrung ein, weder über eitlen Luxus noch über eine transzendentale Idealität, sondern [ist] die geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften […], die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind.« (Dewey 1980: 59)
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erlebnisse derart schockierend oder abstoßend, dass sie in das Unbewusste verdrängt werden müssen, wo sie sich ungehindert mit anderen (Traum-)Bildern verbinden können. Zu diesen abstoßenden Wahrnehmungserfahrungen gehört Julia Kristeva zufolge auch die Konfrontation mit dem »Abjekten«. Darunter versteht Kristeva solche »Nicht-Objekte«, die einmal zu dem eigenen Ich gehört haben, deren Existenz aber von dem Subjekt verdrängt werden muss, um die eigene Integrität bewahren zu können. Der Ekel, so Kristeva, ist demnach eine affektive Reaktion auf etwas, das die eigenen Ich-Grenzen in Frage stellt (Kristeva 1982). Jacques Lacan, der als der strukturalistische Erbe von Freud gilt, entwirft Ende der 1960er Jahre eine allgemeine psychoanalytische Blicktheorie, die nicht nur begründet, warum jedes Sehen immer auch ein Nicht-Sehen und damit ein unstillbares Begehren beinhaltet, mehr oder alles sehen zu können. Lacan macht zudem deutlich, dass jedes Subjekt danach strebt, in das visuelle »Tableau« seiner sozialen Umwelt zu passen, was ihm jedoch aufgrund seiner eigenen genuinen Mangelhaftigkeit nicht ohne weiteres gelingt (Lacan 1987: 97ff.). Dieses konstitutive Zusammenspiel von Mangel, Begehren und dem unstillbaren Wunsch nach Anerkennung arbeitet Kaja Silverman in ihren Büchern The Threshold of the Visible World und World Spectators zu einer allgemeinen Ethik des Sehens aus (Silverman 1996, 2000).16 Bevor näher darauf eingegangen wird, wie diese Ansätze in der jüngeren sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion um Ästhetisierung, Affektivität und Sinnlichkeit aufgegriffen worden sind, soll hier noch einmal ein Rückblick auf die Theorieentwicklung in der Soziologie geworfen werden. Der Schwerpunkt der hier getroffenen Auswahl liegt dabei auf solchen Theorien, die sich – zumindest peripher – mit der konkreten Relation zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und der wahrgenommenen Welt beschäftigen. Solche Ansätze, die vornehmlich um einen Bild- oder Zeichenbegriff kreisen und dabei stillschweigend die Bilder und Gegenstände auf Repräsentationen einer dahinterliegenden Bedeutung und den Wahrnehmungsakt auf einen kognitiven Dekodierungsvorgang reduzieren, wie es beispielsweise in der Semiotik und den Bildwissenschaften der Fall ist,17 werden hier weitgehend ausgeklammert. Es geht also im Folgenden nicht um den Zeichencharakter von materieller und visueller Kultur, sondern um die »nicht-repräsentationale«, körperliche Dimension des interobjektiven Wahr-
16 | Siehe dazu auch Silverman in diesem Band. 17 | Die interdisziplinären Visual Culture Studies, die sich in den 1990er Jahren formiert haben, konzentrieren sich in erster Linie darauf, die Wissens- und Machteffekte bildlicher Repräsentationen zu bestimmen. Dabei geht es weniger um die sinnliche Erfahrung des Betrachtens als vielmehr um Kodierungs- und Dekodierungsprozesse von piktoralen Zeichenträgern. Eine Ausnahme bilden solche Ansätze, die demgegenüber bei Foucaults Panoptismusanalyse ansetzen. Für einen Überblick über das Forschungsfeld siehe etwa Rose 2001; Sturken/Cartwright 2001 sowie Mirzoeff 2009.
Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel — Eine Einleitung
nehmungsprozesses – auch wenn sich diese nur heuristisch von der semiotischen Dimension der Dinge trennen lässt.
3. D ie S oziologie der S inne — ein R ückblick Auch wenn der Themenbereich »Sinne« und »Wahrnehmung« nicht zu den Kerngebieten der Soziologie gehört, gibt es bei den Klassikern der Soziologie erste Ansätze für eine »Soziologie der Sinne«. So interpretieren sowohl Max Weber als auch Emile Durkheim – wenn auch mit je unterschiedlichen theoretischen Prämissen – die Modernisierung als einen Prozess der Entsinnlichung. Während Weber in allen Bereichen der modernen Gesellschaft eine zunehmende »Rationalisierung« am Werk sieht, die auch vor der Kunst nicht halt macht18, beobachtet Durkheim in seinen Studien zur Religionssoziologie, dass das gemeinschaftsstiftende und -stabilisierende Moment der ritualisierten »kollektiven Efferveszenz« (Durkheim 1981: 283ff.), d.h. der gemeinsam durchlebten sinnlich-affektiven Erregung, in den modernen säkularen Gesellschaften an relativer Bedeutung verliert. Erst Georges Bataille und andere Mitglieder des Collège de Sociologie sowie später der von Bataille beeinflusste Soziologe Michel Maffesoli haben diesen Formen der ästhetisch-ekstatischen Vergemeinschaftung auch in den modernen Gesellschaft nachgespürt (Maffesoli 1988; Moebius 2006; Falasca-Zamponi 2011: 67ff.). Neben diesen eher impliziten Verweisen finden sich bei den soziologischen Klassikern aber auch einige wenige Positionen, die sich ganz ausdrücklich mit dem Sinnlichen beschäftigen. Am ausführlichsten hat sich wohl Georg Simmel mit der sozialen Funktion der Sinne auseinandergesetzt.19 So betont er in seinem kurzen, aber prägnanten »Exkurs über die Soziologie der Sinne«, der auch heute noch immer wieder zu Rate gezogen wird, dass alle sozialen Wechselwirkungen letztlich auf gegenseitigen sinnlichen Wahrnehmungen beruhen, die sowohl intuitive Erkenntnisse vom Gegenüber vermitteln als auch Gefühle auslösen. Dabei nehmen die verschiedenen Sinne jeweils andere Aspekte der Interaktion wahr: Während etwa der Sehsinn die soziale Prägung in einem Gesicht bemerkt, konzentriert sich das Hören auf das Momentane und Individuelle einer Person (Simmel 1992: 726ff.). Den Geruchsinn bezeichnet Simmel hingegen als einen latent »dissoziierenden« Sinn, da er aufgrund der mangelnden Möglichkeit zur Abstraktion auch dann eine intime Nähe zum fremden Gegenüber herstellt, wenn sie gar nicht erwünscht ist. Besonders virulent wird dieses Problem in dem dichten Gedränge der modernen Großstadt: Der bürgerliche Großstädter, der seine eige18 | In seiner posthum erschienenen unvollendeten Abhandlung Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (1921) versucht Weber nachzuweisen, dass auch die moderne okzidentale Musik einem »Rationalisierungsprozess« unterliegt. 19 | Für eine systematische Analyse von Simmels »Soziologie der Sinne« siehe auch Fischer in diesem Band.
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ne persönliche Atmosphäre mit Parfüm zu überdecken sucht, wird durch den »ehrwürdigen Schweiß der Arbeit« immer wieder in einen regelrechten Schockzustand versetzt. »Die soziale Frage« ist für Simmel also »nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage« (Simmel 1992: 734).20 Eine ganz ähnliche These vertritt Simmel auch in »Die Großstädte und das Geistesleben«. Die »rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize« des modernen Stadtraums hätten nicht nur zur Folge, dass sich das Individuum von seiner Umwelt zunehmend abkapselt und ihr gegenüber eine »blasierte Haltung« einnimmt, sondern dass es gleichzeitig versucht, durch modische Selbststilisierungen Aufmerksamkeit zu erregen, um nicht in der anonymen Masse unterzugehen (Simmel 1995). Simmels grundlegendes Interesse an der Frage des Sinnlichen schlägt sich schließlich auch in seiner »ästhetischen« Methodologie nieder (Simmel 1998).21 Denn anders als beispielsweise Durkheim oder Weber glaubt Simmel nicht, dass sich die Gesellschaft mit einer einzigen, in sich geschlossen Theorie erfassen lässt, vielmehr setzt er – ähnlich wie ein Maler – bei einem einzelnen Oberflächenphänomen oder Fragment an, um »in dem Einzelnen den Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Äußerlichen und Flüchtigen das Wesen« zu finden.22 Doch Simmel war nicht der erste Soziologe, der die »Sinnlichkeit des Sozialen« im Blick hatte. Bereits Karl Marx und Friedrich Engels betonten in ihren Frühschriften, dass das gesellschaftliche Dasein auch in seiner sinnlich-körperlichen Dimension zu untersuchen sei. In diesem Sinne spricht sich Karl Marx in seinen »Thesen über Feuerbach« dafür aus, dass ein wahrer Materialismus bei der Praxis als einer »sinnlich menschliche[n] Tätigkeit« (Marx 1969: 5) ansetzen müsse und definiert in den »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« die »sinnliche Außenwelt«, als den Stoff, an dem sich die Arbeit vollzieht (Marx 1968: 512). Die vom Industriekapitalismus verursachte Entfremdung des Fabrikarbeiters von seinem Werk sei folglich mit einem Verlust der ursprünglichen Ganzheitlichkeit sinnlicher Erfahrungen verknüpft. Diese humanistischen Überlegungen haben in der orthodoxen Marx-Rezeption und der Kritischen Theorie allerdings kaum eine Rolle gespielt. Eine Ausnahme bildet Herbert Marcuse, der rund ein Jahrhundert später die These vertritt, dass eine revolutionäre Transformation von Gesellschaft auch den sinnlich-affektiven Bedürfnissen der Menschen Rechnung
20 | An Simmel und Erving Goffman anknüpfend hat Jürgen Raab eine »Soziologie des Geruchs« ausgearbeitet (Raab 2001). 21 | Siehe dazu insbesondere Frisby 1989. 22 | Ganz ähnlich schreibt er in Philosophie des Geldes, dass der Sinn der Kunst darin läge, aus einem »zufälligen Bruchstück der Wirklichkeit, dessen Unselbständigkeit durch tausende Fäden mit dieser verbunden ist, eine in sich ruhende Totalität« zu gestalten (Simmel 1989: 691).
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tragen müsse.23 In Frankreich war es unter anderem der Raumsoziologe Henri Lefebvre, der im Rekurs auf Marx’ frühe Praxistheorie und Merleau-Pontys marxistische Schriften den Registern der Wahrnehmung eine zentrale Rolle für die praktische Erschließung und Konstitution des sozialen Raums beimaß (Lefebvre 1991). Lefebvre zufolge würde sich der »gelebte«, praktisch erfahrene Raum von den repräsentierten und repräsentierenden Räumen dadurch unterscheiden, dass hier die konkrete Wahrnehmung der Alltagswirklichkeit und nicht die wissenschaftlichen und ideologischen Überformungen des Raums im Vordergrund stünden. In seinem Spätwerk zur Rhythmusanalyse vertieft er diesen Aspekt der körperlich-affektiven Raumproduktion noch weiter (Lefebvre/Elden 2004). Die deutsche neomarxistische Diskussion im Umfeld der Frankfurter Schule orientiert sich demgegenüber stärker an Marx’ Kapitalismustheorie und Lukacs’ Verdinglichungstheorie. So verbindet etwa der studierte Architekt Siegfried Kracauer Georg Simmels empirische Vorliebe für das Fragmentarische mit dem Grundgedanken des historischen Materialismus, um die Gesellschaft zur Zeit der Weimarer Republik zu untersuchen. In seinen scharfsinnigen Analysen des modernen Großstadtlebens setzt er oftmals bei einem »materiellen« oder architektonischen Phänomen an – seien es Hotelhallen, Arbeitsämter oder Vergnügungslokale –, um von hier aus Rückschlüsse auf den allgemeinen gesellschaftlichen Zustand zu ziehen. Am bekanntesten ist wohl sein Essay »Das Ornament der Masse« von 1927, in dem er die These aufstellt, dass die symmetrische Choreographie anonymisierter Körper, wie sie sich beispielsweise in den modernen Revuen, Sportveranstaltungen oder Paraden beobachten lassen, als ästhetischer Ausdruck einer umfassenden Rationalisierung und allgemeinen Remythologisierung der Gesellschaft gelten könne (Kracauer 1963). Wie Walter Benjamin in seinem einflussreichen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1936) im Anschluss an Kracauer proklamiert, kann diese »Ästhetisierung der Politik« nur mit einer konsequenten »Politisierung der Kunst« bekämpft werden (Benjamin 1991: 508). Insbesondere das Medium Film, so Benjamin, würde dem Betrachter dazu verhelfen, eine kritische Haltung gegenüber der Realität auszubilden. Als historischer Materialist führt er diese transformatorische Wirkung des Films allein auf dessen technischmaterielle Eigenschaften zurück: Während das klassisch-bürgerliche Kunstwerk letztlich das individualistisch-»asoziale« Ritual der kontemplativen Versenkung befördere, unterläuft die filmische Reproduktionstechnik nicht nur den »Kult des Originals«. Die durch Vergrößerungs-, Verzögerungs- und Montagetechniken 23 | In Triebstruktur und Gesellschaft fordert er dementsprechend dazu auf, die Sexualität von den bestehenden repressiven Moralkontrollen zu befreien, damit sie sich in Richtung einer prägenitalen, polymorphen »Erotik« entwickeln könne (Marcuse 1965). Demgegenüber hat jedoch bereits Marcuses Zeitgenosse Michel Foucault angemerkt, dass der Topos Sexualität selbst nur ein machttechnologisches Konstrukt sei, das von den psychoanalytischen Befreiungsphantasien lediglich weiter gefestigt werde (Foucault 1987).
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ausgelösten »Schockeffekte« zwingen den Zuschauer zudem dazu, die dargestellte soziale Wirklichkeit zu hinterfragen.24 Weniger optimistisch sind hingegen die beiden »Köpfe« des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die mit Kracauer und Benjamin zwar die allgemeine theoretische und kritische Stoßrichtung teilen, aber zum Teil andere Schlüsse ziehen. So greifen sie in der Dialektik der Auf klärung Kracauers Kritik der modernen Ästhetisierung und Remythologisierung aus »Das Ornament der Masse« wieder auf, teilen aber nicht Benjamins Einschätzung, dass der Film per se ein emanzipatorisches Potential in sich berge. In dem »Kulturindustrie«-Kapitel vertreten sie im Gegenteil die These, dass alle massenkulturellen Erzeugnisse die kapitalistische Warenlogik im Sinne einer »ewigen Wiederkehr des Neuen«25 reproduzieren und somit – anders als das wahre, »nicht-identische« Kunstwerk – die geistige und emotionale Verarmung des Publikums nur noch vorantreiben (Horkheimer/Adorno 1969: 128ff.). In Abgrenzung von diesen rein kulturkritischen Gegenwartsdiagnosen vertreten die Cultural Studies die Auffassung, dass die Pop- oder Massenkultur von den Rezipientengruppen unterschiedlich gelesen werden kann und durchaus ein widerständiges Potential in sich berge. Für sie geht es dabei jedoch weniger um den Wahrnehmungsakt als solchen als um das widerständige Potential zur oppositionellen Dekodierung medialer Zeichenträger (Hall 1999). Neben den neomarxistischen Analysen spätkapitalistischer Ästhetisierungsprozesse, finden sich auch im Umfeld des soziologischen Pragmatismus, der Sozialphänomenologie und des Symbolischen Interaktionismus Hinweise auf die soziale Bedeutung des Wahrnehmens. Allerdings stehen hier weniger die ideologischen und politischen Effekte der modernen Ästhetiken im Zentrum des analytischen Interesses, als vielmehr die interobjektiven und intersubjektiven Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozesse in alltäglichen sozialen Situationen. Bereits Alfred Schütz hatte im Anschluss an Edmund Husserl und George Herbert Mead darauf hingewiesen, dass das Subjekt seine konkrete Umwelt, d.h. die Dinge und Menschen in seiner unmittelbaren Reichweite, auf der Basis eines kulturell spezifischen Alltagswissens wahrnimmt, deutet und gegebenenfalls manipuliert (Schütz/Luckmann 2003: 77ff.). Dabei stellt der sichtbare Körper des Gegenüber insofern ein wichtiges Medium der sozialen Interaktion dar, als er dem verstehenden Subjekt nicht nur eine typisierte Handlung anzeigt, sondern es gleichzeitig dazu anhält, sich selbst dazu handelnd in Beziehung zu setzen 24 | Allerdings muss Benjamin einräumen, dass es auch Filme gibt, die im Gegensatz dazu die »Aura« des bürgerlichen Kunstwerks reproduzieren. Rein materialistisch gedacht, ist also Benjamins These nicht vollständig haltbar, sondern scheint allein auf die kollektiv produzierten, sowjetischen Arbeiterfilme zuzutreffen. 25 | In »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus« hatte Walter Benjamin die Mode als eine paradoxe »ewige Wiederkehr des Neuen« beschrieben (Benjamin 1991: 677).
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(Schütz/Luckmann 2003: 101ff.). Auch Erving Goffman interessiert sich für den wahrnehmbaren Körper als Vermittler von Zeichen und Symbolen, sein theoretisches und analytisches Hauptaugenmerk liegt dabei jedoch weniger auf dem Wissensvorrat, der in die jeweilige Situation hineingetragen wird, als auf den tatsächlich vollzogenen non-verbalen Aushandlungs- und Kommunikationsprozessen zwischen den körperlich ko-präsenten Akteuren. So besagt eine seiner zentralen Thesen aus The Presentation of Self in Everyday Life (Goffman 1959), dass die sich gegenseitig beobachtenden Akteure ein permanentes »impression-management« betreiben, um die eigene soziale Rolle glaubwürdig rüberzubringen, dabei aber gleichzeitig auf die Selbstdarstellung des Gegenübers Rücksicht nehmen müssen, um nicht die gesamte Interaktion zu gefährden. Goffmans Interesse an der Fragilität und Performativität von sozialer Identität trifft sich ein Stück weit mit Harold Garfinkels Ethnomethodologie, die davon ausgeht, dass soziale Ordnungen und Sinnsysteme nicht an sich stabil sind, sondern immer wieder aufs Neue »aufgeführt« und intersubjektiv kommuniziert werden müssen. Wie er insbesondere in seinen späteren Analysen von Arbeitszusammenhängen darstellt, spielen dabei die »embodied practices« – also das gegenseitige (An-)zeigen von (Arbeits-) techniken und Wissensformen – die entscheidende Rolle (Garfinkel 1986, 1996).26 In diesem Sinne beruht etwa die Klassifikation der Menschen in zwei Geschlechter nicht auf einer »natürlichen« Basis, sondern wird in den situativen Praktiken erst performativ hergestellt. Wie Kessler und McKenna im Anschluss an Garfinkels Agnes-Studie (Garfinkel 1967) herausheben, ist dabei das »Doing Gender« schon im Wahrnehmungsvollzug selbst angelegt. Im ersten Augenblick einer Begegnung würden die Interaktionspartner die sichtbaren Körpermerkmale des jeweiligen Gegenüber ganz automatisch entweder dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuordnen und damit den Grundstein für alle weiteren Attributionen legen (Kessler/MacKenna 1978).27 Das Konzept der Praxis als Basiseinheit von sozialer Ordnung findet sich – unter anderen theoretischen Vorzeichen – auch bei denjenigen Vertretern des französischen (Post-)Strukturalismus, die sich nicht nur an der strukturalistischen Sprachtheorie und Anthropologie, sondern mindestens genauso stark an Merleau-Pontys Leibphänomenologie und Heideggers Daseinsanalytik orientieren. Dabei wird teilweise auch die historische und kulturelle Bedingtheit des Wahrnehmungsaktes als Aspekt von Praxis berücksichtigt. So hat zum einen Pierre Bourdieu in seiner praxeologischen Habitustheorie betont, dass der soziale 26 | Zur Rolle des wahrnehmbaren Körpers in sozialen Interaktionen siehe auch Hirschauer 2008. 27 | In eine ähnliche Richtung weist auch die poststrukturalistische Performativitätstheorie von Judith Butler, die die Sichtbarkeit des vergeschlechtlichten Körpers und die intersubjektive Wahrnehmung jedoch nicht zentral behandelt (Butler 1990, 1993). Diese Aspekte wurde demgegenüber sehr ausführlich in der psychoanalytisch informierten feministischen Filmtheorie der 1970er bis 1990er Jahre untersucht (Chaudhuri 2006).
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Akteur durch die unmittelbare Auseinandersetzung mit den sozialen Strukturen seiner Umwelt bestimmte, d.h. klassen- und feldspezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata ausbildet, die er in verschiedenen sozialen Situationen ganz automatisch, abrufen kann. Dabei geht Bourdieu ganz ähnlich wie Merleau-Ponty davon aus, dass diese Schemata nicht rein kognitiv ausgeführt werden, sondern dem Körper sowie seinen Bewegungen und Empfindungen eingeschrieben sind. Sein Begriff »Wahrnehmungsschemata« bleibt jedoch insofern unterbestimmt, als er weder darlegt, was er unter Wahrnehmung eigentlich versteht, noch näher erläutert, wie sich die Wahrnehmungsschemata in dem tätigen Umgang mit der Welt ausbilden. Allein in seinen Arbeiten zum Lebensstil und zum Kunstfeld beschäftigt er sich etwas eingehender mit einer besonderen Form der Wahrnehmung, dem ästhetischen Blick, um gegenüber der philosophischen Ästhetik das soziale Gewordensein ästhetischer Empfindungen und Geschmacksurteile zu behaupten (Bourdieu 1982: 17ff.). Während er in seinen früheren Schriften noch dazu tendiert, das Vermögen zum legitimen ästhetischen Urteil auf ein intersubjektiv erlerntes, kunsthistorisches Fachwissen zurückzuführen (Bourdieu/Darbel 2006: 72ff.), räumt er in Die Regeln zur Kunst ein, dass »eine Theorie von der Wahrnehmung des Kunstwerks eine Theorie der ursprünglichen Wahrnehmung als einer theorie- und begriffslosen Praxis aufnehmen« müsse (Bourdieu 1999: 492). Bourdieu selbst hat dieses analytische Vorhaben jedoch nie systematisch umgesetzt.28 Auch Michel Foucault, der in den Sozialwissenschaften vor allem als ein Theoretiker des Diskurses und der Macht bekannt geworden ist, hat sich gerade zu Beginn seiner wissenschaftlichen Lauf bahn intensiv mit Fragen der Ästhetik und der Wahrnehmung auseinandergesetzt. So geht er in seinen frühen diskursanalytischen Arbeiten nicht nur davon aus, dass die jeweils gültigen wissenschaftlichen »Wahrnehmungsräume« und Beobachtungstechniken von den historisch spezifischen Diskursen vorgezeichnet werden (Foucault 1981: 78ff.), sondern versucht zudem nachzuweisen, dass ein Gemälde allein aufgrund seiner kompositorischen Struktur ebenfalls solche wahrnehmungs- und wissenskonstitutiven Effekte evozieren kann (Foucault 1974: 31ff., 1999). Insbesondere diese bild-diskursiven Analysen haben die Visual Culture Studies maßgeblich beeinflusst. In seinen späteren machttheoretischen Schriften erweitert Foucault seine analytische Perspektive schließlich noch um Überlegungen zum konstitutiven Zusammenhang von architektonischen Dispositiven, asymmetrischen Blickverhältnissen und der körperlichen Zurichtung des Subjekts. Wie er am Beispiel des Panoptismus eindrücklich vorführt, können also auch Architekturen und Artefakte selbst zu Agenten einer disziplinarischen Überwachungsmaschinerie werden (Foucault 1977: 269ff.) – allerdings hat er im Gegensatz zu Karl Marx nicht
28 | Siehe dazu auch Prinz 2014: 283ff.
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weiter herausgearbeitet, inwiefern nicht nur das körperliche Verhalten, sondern auch das sinnliche Wahrnehmen von den Fabrikmaschinen diszipliniert wird.29 Jacques Rancières politische Ästhetiktheorie lässt sich als eine entsprechende Erweiterung des Foucault’schen Denkens verstehen. Rancière zufolge ist die »polizeiliche Ordnung« einer Gesellschaft mit einer korrespondierenden »Aufteilung des Sinnlichen« verknüpft, die steuert, ob und wie etwas wahrgenommen werden kann (Rancière 2002: 48). In expliziter Abgrenzung von Bourdieus »Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft« weist er dabei dem »ästhetischen« Regime der Künste insofern ein egalisierendes Potential zu, als es im Unterschied zum ethischen und repräsentationalen Regime eine heterologische Gleichheit aller befördere (Rancière 2006: 36ff.).30 Foucaults Dispositivbegriff weist zudem einige Gemeinsamkeiten mit Gilles Deleuzes lebensphilosophischem Begriff des »Gefüges« auf (Delitz 2015: 342ff.). Auch Deleuze verabschiedet sich von der klassischen Subjekt-Objekt-Dichotomie, um stattdessen in dem relationalen Gefüge heterogener Entitäten die Genese des Sozialen zu verorten, nimmt dabei jedoch eine vitalistische Perspektive ein. In den Gefügen, so Deleuzes und Guattaris These in Tausend Plateaus (Deleuze/Guattari 1992), würden je nach Zusammensetzung überindividuelle »Affekte« und »Perzepte« entstehen, die die Bewegungsimpulse und Empfindungsweisen der darin eingegliederten Körper allererst erzeugen. Diese konsequent anti-anthropozentrische Reformulierung affektiver Zustände hat in jüngerer Zeit den affective turn maßgeblich beeinflusst. Foucaults und Deleuzes Intuition, dass Vergesellschaftung weniger von den Menschen selbst als von der Eigenlogik ihrer materiellen Daseinsbedingungen geformt wird, wurde später von Bruno Latour, John Law und anderen aufgegriffen und in der letzten Dekade zu einer eigenen ethnographischen Methodologie ausgebaut. Ähnlich wie Deleuze verabschiedet sich auch die ANT, die im Umfeld der Science and Technology Studies (STS) entstanden ist, von dem Subjektbegriff, um sich stattdessen ausschließlich auf das Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen »Aktanten« zu konzentrieren. Wie dieser Neologismus schon andeutet, schreiben Latour und andere Vertreter der ANT also auch den unbelebten, materiellen Artefakten, wissenschaftlichen und technischen Objekten sowie Architekturen eine gewisse Handlungsträgerschaft zu, die sich jedoch nur in dem Prozess der Interaktion entfalten kann. Der Verzicht auf den Subjektund damit auch den Körperbegriff hat jedoch zur Folge, dass sich die sinnliche Wahrnehmung, die notwendigerweise jede interobjektive Tätigkeit begleitet, mit dem ANT-Vokabular nicht ohne weiteres beschreiben lässt. Mit den von der Wahrnehmungspsychologie entlehnten Begriffen des »attachments« und der »affor29 | Für eine umfassende Rekapitulation von Foucaults visualitätstheoretischer Position siehe Prinz 2014. 30 | Für eine Diskussion von Bourdieus und Rancières ästhetischen Positionen siehe Kastner 2012, 2014.
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dance« (J.J. Gibson), denen zufolge die Artefakte einen sinnlich-affektiven »Aufforderungscharakter« besitzen, versuchen die ANTler dennoch das Moment der Wahrnehmung als ein von den Aktant-Netzwerken vorstrukturiertes Geschehen in ihre Analysen zu integrieren (Latour 1999; Benschop 2009).31 Foucaults Dispositivkonzept, Deleuzes/Guattaris Gefügebegriff sowie die ANT weisen zudem Berührungspunkte mit den kulturwissenschaftlichen (Medien-)Techniktheorien auf, die zwar nicht im engeren Sinne zu den soziologischen Positionen gezählt werden können, aber aufgrund ihrer sozial- und gesellschaftstheoretischen Relevanz zunehmend auch in sozialwissenschaftlichen Kontexten aufgegriffen werden. Den Medientechniktheorien ist gemein, dass sie anstelle der bildlichen oder textlichen Botschaften und ihrer semiotischen Codes die technisch-medialen Bedingungen ihrer Vermittlung und Rezeption in den Blick nehmen. Neben dem bereits erwähnten Kunstwerk-Aufsatz von Walter Benjamin, dem zufolge der Film aufgrund seiner technischen Eigenschaften einen kritischen Blick auf die Gegenwart ermöglicht, werden u.a. die Schriften von Marshall McLuhan oder Friedrich Kittler zu dieser materialistischen Theorierichtung gezählt. So stellte McLuhan in expliziter Abgrenzung von der marxistischen Medienkritik die These auf, dass es keine präexistente Bedeutung jenseits des Mediums geben könne. Vielmehr müsse man umgekehrt davon ausgehen, dass die Medientechnik als »Erweiterungen unserer Sinnesorgane« (McLuhan 2015: 209) angesehen werden muss und somit entscheidend prägt, was der Mensch überhaupt wahrnehmen und denken kann. In diesem Sinne sei die Dominanz des visuellen Sinns in der bürgerlichen Kultur auf die Erfindung des Buchdrucks zurückzuführen (McLuhan 1962), während die elektronische Revolution des 20. Jahrhunderts – allen voran das Fernsehen – die anderen Sinneswahrnehmungen wieder rehabilitiert (McLuhan 1964). Mit seiner »Medienarchäologie« (Kittler 1986, 2002) setzt Friedrich Kittler demgegenüber an Foucaults Diskkursbegriff an, den er auf die audiovisuellen Medien überträgt. Demnach sei das Denk- und Sagbare nicht nur von den Aussageformationen vorgezeichnet, sondern ebenso von dem historisch spezifischen »medialen Apriori« (Kittler 1986: 167) einer Zeit.32 Neben diesen im engeren Sinne medientheoretischen Ansätzen werden in der Soziologie in jüngerer Zeit auch einige technikphilosophische Positionen rezipiert, die sich für das Wechselverhältnis von Sinnlichkeit und Materialität interessieren. Dazu zählen etwa die Post-Phänomenologie von Don Ihde, der im Anschluss an Merleau-Ponty die technologische und digitale Erweiterung des körperlichen Wahrnehmungsvermögen untersucht hat (Ihde 1990), sowie die lebensphilosophische Techniktheorie von Gilbert Simondon, der gegenüber der klassischen Materie-Form-Trennung den konstitutiven Zusammenhang zwi31 | Für eine Analyse von ästhetischen Atmosphären aus ANT-Perspektive siehe Göbel 2015 sowie Göbel in diesem Band. 32 | Ganz ähnlich argumentiert auch Jonathan Crary in Techniken des Betrachters (1996).
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schen materieller Konsistenz und der Formwerdung eines Gegenstandes betont (Simondon 2012). In eine ähnliche Richtung weisen auch die ebenfalls von Bergson beeinflussten Überlegungen von André Leroi-Gourhan, dem zufolge die technische Evolution der Werkzeuge gewissermaßen in der Materie selbst angelegt sei (Leroi-Gourhan 1945).33 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Wahrnehmen in der Vergangenheit je nach theoretischer Richtung und Erkenntnisinteresse unterschiedlich gefasst und thematisiert wurde. So lassen sich zunächst latent mentalistische und textualistische Ansätze – wie etwa die Schütz’sche Wissenssoziologie oder Foucaults archäologische Bilddiskurstheorie – von solchen Theorien abgrenzen, die demgegenüber ganz gezielt die Materialität des sinnlich empfindenden und sichtbaren Körpers in den Blick nehmen – wie etwa der humanistisch ausgerichtete Frühmarxismus, Goffmans Ritualtheorie, die Ethnomethodologien, die von Deleuze inspirierte Lebenssoziologie sowie die (post-)strukturalistischen Praxistheorien von Bourdieu und Foucault. Neben der unterschiedlichen Konzeption des wahrnehmenden Subjekts lässt sich zudem eine Differenz hinsichtlich der untersuchten Wahrnehmungsbeziehung ausmachen. Während die sozialphänomenologischen Richtungen in erster Linie die intersubjektive Begegnung zwischen menschlichen Akteuren im Blick haben, interessieren sich viele der (post-) marxistischen, poststrukturalistischen und praxistheoretischen Ansätze zudem für das Wechselverhältnis zwischen dem Körper und Materialität: seien es Architekturen, Maschinen, mediale Apparaturen, Alltagsgegenstände, Kunstwerke oder andere ästhetische Konstellationen. Vor allem letztere Ansätze bieten erste Anknüpfungspunkte, um der eingangs gestellten Frage nach dem Wechselverhältnis von Wahrnehmung und materieller Kultur sowohl theoretisch als auch methodologisch auf den Grund zu gehen.
4. G egenwärtige D ebat ten in der S oziologie In den letzten Jahren ist in der Soziologie nicht nur das analytische Interesse an der Materialität von Kultur sprunghaft angestiegen. Auch so ephemere Phänomene wie Ästhetik, Affektivität und sinnliche Wahrnehmung werden zunehmend diskutiert. Dabei zeichnen sich gegenwärtig eine Reihe von Theoriesträngen und methodischen Ansätzen ab, die sich dem Thema mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung nähern.
33 | Für eine ausführliche Rekapitulation der lebensphilosophischen Techniktheorien siehe auch Delitz 2015.
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4.1 Praxistheorie Die wohl breiteste soziologische Richtung, die sich gegenwärtig der Frage der Wahrnehmung zuwendet, ist die Theoriefamilie der Praxistheorie. Diese zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie weder induktiv von dem subjektiven Sinnverstehen noch deduktiv von einer übergeordneten Struktur her das Soziale erklärt, sondern in dem unbewusst ausgeführten, körperlichen Routinehandeln die Basiseinheit der gesellschaftlichen Reproduktion erkennt. Von den hier bereits vorgestellten »klassischen« soziologischen Ansätzen werden etwa die Praxistheorie des frühen Marx, Garfinkels Ethnomethodologie, der (Post-)Struktualismus von Bourdieu und Foucault sowie Latours Akteur-Network-Theorie zu den Vorläufern und Vertretern der Praxistheorie gezählt, genauso wie Judith Butlers Performativitätstheorie und die Arbeiten der Cultural Studies.34 Um auch die sinnliche Wahrnehmung als Teil von (interobjektiver) Praxis denken zu können, werden diese Ansätze oftmals durch pragmatistische, wahrnehmungspsychologische und (post-)phänomenologische Theoriefiguren ergänzt.35 Eine solchermaßen erweiterte Praxistheorie lässt sich dabei keinem einzigen empirischen Forschungsgegenstand zuordnen, sondern findet in so unterschiedlichen Feldern wie der Körper- und Sportsoziologie, der Kunst- und Musiksoziologie, der Wissenschafts-, Technik- und Professionssoziologie oder der Raum- und Stadtsoziologie Anwendung. Neben einigen allgemeineren sozialtheoretischen Abhandlungen, die sich ausgehend von Merleau-Ponty, Bourdieu oder Foucault mit dem »Sehen als Praxis« beschäftigen – sei es hinsichtlich der epistemologischen, ästhetischen und ethischen Dimensionen des Sehaktes (Schürmann 2008) oder des konstitutiven Wechselverhältnisses zwischen der sinnlichen Ordnung der Dinge und den kulturellen Wahrnehmungsschemata (Prinz 2014) –, sind es vor allem eine Reihe von empirischen Arbeiten, die den Zusammenhang von Praxis und Wahrnehmung näher beleuchtet haben. So sind im Umfeld der Science and Technology Studies (STS) und der Work Place Studies, die sich vor allem der methodologischen Instrumentarien der Ethnomethodologie und der ANT bedienen, einige Analysen zur Wahrnehmung als konstitutiven Teil verschiedener Arbeits- und Wissenspraktiken entstanden. Zu den zentralen Problemen, die in diesem Kontext diskutiert werden, gehört die Frage, wie in professionellen Arbeitszusammenhängen ein sinnliches, insbesondere visuelles Wissen sowohl durch Bilder, Techniken und Instrumentarien erworben als auch durch kommunikativen Austausch vermittelt wird. Anders als in den Visual Culture Studies, die den repräsentationalen Sinngehalt von Bildern oder Bild34 | Für einen Überblick über das Feld der Praxistheorien siehe etwa Reckwitz 2003; Hörning/Reuter 2004; Schmidt 2012; Schäfer 2013 sowie Hillebrandt 2014. 35 | Für eine allgemeine praxistheoretische Perspektive auf die Frage der Sinne siehe auch Reckwitz in diesem Band.
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gruppen oftmals unabhängig von ihrem sozio-materiellen Kontext analysieren, werden hier Bildschirme, bildliche Visualisierung und andere mediale Technologien als soziale »Aktanten« verstanden, die erst durch ihren praktischen Gebrauch und den damit verbundenen Interpretationsroutinen ihre eigentliche Handlungsmacht und Bedeutung entfalten (Latour 1990; Lynch/Woolgar 1990; Goodwin 1994, 2001; Knorr Cetina 2001; Burri 2008; Burri/Dumit 2008; Dant 2010; Röhl 2013; Thielmann u.a. 2013; Wansleben 2013).36 Insbesondere in den Studien, die sich an der ANT orientieren, werden die Sinne dabei als Teil von »powerful hybrid forms« (Urry 1999: 103) verstanden, die sich erst durch den Zusammenschluss von menschlichen Körpern und Technologien herausbilden. In eine ganz ähnliche Richtung weisen auch die neueren ethnographischen Studien aus dem Bereich der Kunst- und Musiksoziologie. In Abgrenzung von den rein feld- und lebensstiltheoretisch argumentierenden Arbeiten konzentrieren sich diese Ansätze auf die konkreten, sinnlichen Interaktionen zwischen dem Wahrnehmenden, dem wahrgenommenen ästhetischen Phänomen und dem räumlichen Kontext – sei es die Interaktion zwischen dem Künstler und dem unfertigen Kunstwerk als »epistemisches Ding« (Rheinberger) im Atelier, die Beziehung zwischen Betrachter und fertigem Exponat innerhalb eines Ausstellungskontexts (Albertsen/Diken 2004; Heath/vom Lehn 2004, 2008; de la Fuente 2007; Born 2010; Prinz/Schäfer 2014) oder im Falle der Musik das Zusammenspiel zwischen dem Instrument, das der Musiker bedient, dem Sound und dem Konzertraum (Hennion 2001, 2003).37 Das Kunstwerk oder Musikstück wird hier also nicht nur als Gegenstand einer sozialen Zuschreibung gedacht, das in dem Kampf um soziale Distinktion als Einsatz eingebracht werden kann, sondern als eine eigenständige Entität, die aufgrund ihrer sinnlichen Qualitäten spezifische, mitunter ästhetische Erfahrungen ermöglicht. Aber nicht nur die Gegenstände mit einem besonderen epistemologischen und ontologischen Status – wie wissenschaftliche Objekte, Arbeitstechnologien und Kunstwerke – nehmen auf die Praktiken und Wahrnehmungsweisen der sozialen Akteure Einfluss. Wie die praxistheoretische Design- und Architektursoziologie aufgezeigt hat, besitzen auch ganz alltägliche Dinggestalten, Architekturen und urbane Infrastrukturen aufgrund ihrer materiellen Widerständigkeit und ihrer nach außen hin wahrnehmbaren »Affordanzen« und »Atmosphären« eine soziale Handlungsträgerschaft. Die sinnliche Gestaltung der jeweiligen materiellen Umgebung – d.h. ihre Formen, Farben und Oberflächentexturen sowie ihr Geruch und ihr »Sound« – zeigt also nicht nur ihre möglichen Gebrauchsweisen an, sondern legt dem Akteur zudem bestimmte Wahrnehmungs- und Körperhaltungen nahe (Hirschauer 1999; Dant 2004; Shove u.a. 2007; Jacobs/ Cairns 2008, 2011; Yaneva 2009; Krämer 2012; Prinz 2013; Göbel 2015).38 Die pra36 | Siehe dazu auch die Beiträge von Burri und vom Lehn u.a. in diesem Band. 37 | Siehe dazu auch die Beiträge von Schürkmann sowie Liegl in diesem Band. 38 | Siehe dazu auch die Beiträge von Prinz, Göbel und Jacobs in diesem Band.
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xistheoretische Perspektive auf Design und Architektur überschneidet sich mit der weiter unten (siehe 4.4) aufgeführten vitalistischen Architektursoziologie, die stattdessen mit dem Deuleuzianischen Affekt- und Gefügebegriff arbeitet (Cache u.a. 2010; Delitz 2010), der phänomenologischen Raumsoziologie (Frers 2007)39 sowie mit einigen Studien aus dem Bereich der Urban Studies, der Material Culture Studies und der Design Studies (siehe 4.5).
4.2 Körpersoziologie Neben der praxistheoretisch orientierten Körper- und Sportsoziologie (Alkemeyer 2013; Klein 2014) haben sich im deutschsprachigen Raum noch andere körpersoziologische Perspektiven herausgebildet, die den Körper nicht nur als einen äußerlich »disziplinierten« konzipieren, sondern darüber hinaus dessen sinnlich empfindende Seite zu berücksichtigen suchen. Dazu gehören erstens die neophänomenologischen Körpertheorien, die im Ausgang von Hermann Schmitz das leibliche Spüren in die Analyse von sozialen Interaktionen mit Menschen und nicht-menschlichen Entitäten und Phänomenen miteinbeziehen (Gugutzer 2006, 2012; Uzarewicz 2011). Mit dem Begriff des »Spürens« ist eine Form der Selbsterfahrung des Leibes gemeint, die unmittelbar affiziert oder »betroffen« macht – wie etwa das Spüren von Schmerz, Hunger oder auch Erleichterung und Entspannung – und somit auf einer Ebene von Sozialität anzusiedeln ist, die jenseits oder unterhalb des bewussten Sinnverstehens liegt. In diesem Sinne »spürt« etwa der Leib die spezifische Gestimmtheit einer sozialen Situation, fühlt sich in einen anderen Leib ein, sensibilisiert sich für die Handhabe eines Gegenstands oder ist in der Lage ein spezifisches Bewegungswissen abzurufen, ohne dass der Akteur genau benennen könnte, was da eigentlich genau vor sich geht.40 Darüber hinaus bietet zweitens Helmuth Plessners Differenz von Leibsein und Körperhaben theoretische Ansatzpunkte, um das affektive Betroffensein des Leibes in die körpersoziologische Konzeption von Subjektivität und Gesellschaft miteinzubeziehen. So plädiert etwa Gesa Lindemann in Abgrenzung von den rein diskurstheoretisch oder interaktionistisch argumentierenden Gendertheorien dafür, die Analyse der sozialen Konstruktion von Geschlechtlichkeit auf das Spannungsverhältnis zwischen kulturellen Sinnmustern und der affektiv-sinnlichen Leiberfahrung auszudehnen (Lindemann 1992).
4.3 Visuelle Wissenssoziologie Die sozialphänomenologische Wissenssoziologie ist ein weiteres Forschungsfeld, in dem die sinnliche Wahrnehmung, vornehmlich das Sehen, untersucht wird. Um die »historischen, kulturellen und sozialen Bedingungen und Bedingt39 | Siehe dazu auch den Beitrag von Frers in diesem Band. 40 | Siehe dazu die Beiträge von Gugutzer und Klein in diesem Band.
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heiten der Wahrnehmung, der Darstellung und Deutung von sozialer Wirklichkeit« (Raab 2008: 7) zu bestimmen, werden in diesem Kontext die Ansätze von Berger/Luckmann mit den kunstwissenschaftlichen Methodologien von Erwin Panofksy und Max Imdahl kombiniert. Im Zentrum des analytischen Interesses steht dabei das Bildverstehen, das hier nicht allein auf das kunst- oder kulturhistorische Vorwissen des Betrachters zurückgeführt wird, wie es etwa Panofksy und im Anschluss daran auch Bourdieu getan haben. Mit Verweis auf Imdahl werden zudem die formal-ästhetischen Kompositionen von Gemälden und das konkret-anschauliche Sehen als konstitutive Faktoren des bildlichen Sinnverstehens berücksichtigt (Bohnsack 2001; Raab 2007, 2008; Schnettler 2007). Zu den methodologischen Grundbausteinen der wissenssoziologische Bildhermeneutik gehört unter anderem die Sequenzanalyse (Raab 2008: 156ff.).
4.4 Neuer Vitalismus und Affektivität In der lebensphilosophischen Tradition im Anschluss an Spinoza, Bergson sowie Deleuze/Guattari hat sich in der vergangenen Dekade der sogenannte »Neue Vitalismus«, »Neue Materialismus« oder affective turn in vielerlei sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen etabliert (Massumi 2002; Clough u.a. 2007; Bennett 2010; Gregg/Seigworth 2010; Seyfert 2011, Blackman 2012).41 Die Diskussion konzentriert sich hierbei auf das Problem des Lebens als »vitalen« Kern sozialer Prozesse. Demnach wird Gesellschaft nicht durch die intentionalen Handlungen von sozialen Akteuren zusammengehalten, sondern durch Assoziationen von nicht-menschlichen Dingen und/oder technischen Objekten, Architekturen und anderen Artefakten mit dem menschlichen Körper. Diese im Anschluss an Deleuze/Guattari auch als »Assemblage« oder »Gefüge« bezeichneten Zusammenschlüsse bilden und reproduzieren sich durch das Potential der Elemente, andere zu affizieren oder selbst affiziert zu werden, und unterliegen somit einem stetigen »Anders-Werden«. Die vitalistische Assemblage-Theorie wurde insbesondere in den Urban Studies (Farias/Bender 2009; Färber 2014), Gender Studies (Schadler 2013) sowie den Media Studies (Liegl/Schindler 2013; Gerlitz/Lury 2014) aufgegriffen und als eine ethnographische Methodologie (Marcus/Saka 2006) weitergeführt. Zu dem Umfeld des neuen Vitalismus gehören zudem die Philosophische Anthropologie, die ebenfalls von dem Leben als zentraler Instanz der Menschund Gesellschaftsbildung ausgeht,42 sowie einige körpersoziologische Ansätze.
41 | Siehe dazu auch den Beitrag von Kwek/Seyfert in diesem Band. 42 | Siehe dazu auch den Beitrag von Fischer in diesem Band.
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4.5 Anthropologische und interdisziplinäre Ansätze der Kultur wissenschaften Während sich die Visual Culture Studies in erster Linie für den repräsentationalen Gehalt von Bildmedien interessieren und dabei sowohl den Akt der Wahrnehmung als auch die Materialität von Kultur weitgehend ausgeklammern, sind in den angrenzenden, kulturwissenschaftlichen »Studies« (Moebius 2012) und den anthropologisch geprägten Forschungsfeldern einige Ansätze entstanden, die sich explizit mit »the ways in which different sensory domains are invested with social value« (Classen 1997: 401) auseinandersetzen. (a) Sense Studies: Zu nennen wären hier zuallererst die Sense Studies, die sich in den 1980er Jahren in der US-amerikanischen Anthropologie und im Kontext der post-kolonialen Theoriebildung etablieren konnten (Howes 1991, 2003).43 Den Vertretern dieser Forschungsrichtung geht es nicht darum, eine enzyklopädisch orientierte Bestandsaufnahme der Aktivitäten einzelner Sinneskanäle zu präsentieren, sondern die modalen Verschränkungen und Überlappungen sinnlicher Aktivitäten, die Etablierung von Sinnesfeldern und hierarchischen Ordnungen von Wahrnehmungsmustern sowie die sinnlichen Fertigkeiten sozialer Akteure hinsichtlich ihrer geographisch und historisch44 spezifischen Ausgestaltung zu erforschen. In Anlehnung an die körperbezogene Tanz- und Bewegungsforschung wird beispielsweise an einer Notation der multi-modalen Sinnesaktivitäten im Alltag und in architektonischen Umgebungen gearbeitet (Howes 2005; Lucas 2009) oder die transkulturelle Hybridisierung von Sinnesfeldern in postkolonialen Dingwelten durchleuchtet (Edwards u.a. 2006). Die entsprechenden Weiterentwicklungen ethnographischer Herangehensweisen und Methoden, die im Feld der Sense Studies entstanden sind (Pink 2009), werden zum Teil auch für praxeologische und körpersoziologische Analysen genutzt. In jüngster Zeit haben sich zudem eigene Forschungsfelder für die verschiedenen Sinnesfelder herausgebildet, wie etwa die Sound Studies (Bull/Back 2003), die Smell Studies (Drobnick 2006), und die Touch Studies (Classen 2005; Manning 2007), die sich u.a. mit den Performance Studies (siehe unten) überlappen. In all diesen verschiedenen Diskussionszusammenhängen werden oftmals auch kultursoziologische, philosophische und STS-geprägte Interessen verfolgt, da mit den sinnlichen Aktivitäten immer auch das moralische Investment einer Kultur zur Debatte steht. Dies zeigt sich insbesondere in den Food Studies im Anschluss an Mary Douglas (Douglas 1984), in denen etwa die spätkapitalistische Gestaltung von Nahrungsmitteln und sozio-materielle Konfigurationen des »guten« Essens und Schmeckens in den Blick genommen werden (Roe 2006; Guthman 2008; Heuts/Mol 2013).
43 | Als historische Vorläufer dieses Trends können u.a. Margret Mead und Gregory Bateson gelten. Siehe dazu auch den Beitrag von Chakkalakal in diesem Band. 44 | Siehe dazu etwa Taussig 1993.
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(b) Material Culture Studies: Die Material Culture Studies, in denen neben anthropologischen gleichermaßen archäologische, wie religions-, konsum- und lebensstilsoziologische Ansätze eingegangen sind,45 konzentrieren sich auf die soziale Bedeutung von Dingwelten. Dabei geht es sowohl um die herausragenden, affektiv aufgeladenen »heiligen Dinge«, die u.a. im Anschluss an Durkheim und Mauss in ihrem gesellschafts- und identitätskonstitutiven Potential untersucht werden (Miller 2008; Bosch 2010) als auch um die »profanen« Gebrauchsdinge, die in den alltäglichen Praxiskontexten kaum noch wahrgenommen werden (Selle/Boehe 1986; Highmore 2010).46 Neben der Analyse von milieuspezifischen Konsumpräferenzen oder transkulturell migrierenden Objekten wird in diesem Forschungskontext auch die genderspezifische Codierung von Dingkulturen kritisch hinterfragt (Sparke 1995; Bischoff/Threuter 1999; Nierhaus 1999).47 Dabei stellt die Rekonstruktion von individuellen Dingbiographien eine der wichtigsten methodologischen Strategien dar (Appadurai 1986; Kopytoff 1986; Hoskins 1998; Buchli 1999; Gosden/Marshall 1999; Kwint 1999; Arnold/Sofaer 2008).48 In das nähere Umfeld der Material Culture Studies gehören zudem die Arbeiten aus dem Bereich der Design Studies, die die Gestaltung der Dinge auf ihre sozialen Bedingungen und kulturellen Effekte hin untersuchen (Norman 1990; Malnar/Vodvarka 2004; Verbeek 2005, 2011; Attfield 2007; Julier 2008; Brandes u.a. 2009; Clarke 2011; Mareis 2011; Moebius/Prinz 2012; Milev 2013), wie auch die Museum Studies, die u.a. in Rekurs auf Foucaults Panoptismusmodell die Machtwissensregime in Ausstellungsdispositiven analysieren (Hooper-Greenhill 1992; Bennett 1995; Duncan 1995). (c) Urban Studies: Einen wesentlichen Beitrag zur Debatte liefern darüber hinaus Ansätze, die sich mit dem Verhältnis von Urbanität und Sinnlichkeit auseinandersetzen. Dazu gehören zum einen die kulturwissenschaftlich orientierten Urban Visual Culture Studies, die im Anschluss an die frühen Großstadtstudien von Georg Simmel, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin die spezifische Ästhetik der modernen Warenwelt und der elektrifizierten und technologisierten Metropolen untersuchen (Asendorf 1984, 1997; Ward 2001; Crary 2002; MacPhee 2002; Schwartz/Przyblyski 2004). In stärker ethnographisch ausgerichteten Studien wird zudem Kevin Lynchs’ Mapping-Methode aus The Image of the City (Lynch 1960) aufgegriffen, um das visuelle Erscheinungsbild von Stadtlandschaften zu untersuchen.
45 | Für einen Überblick siehe etwa Hahn 2005; Hicks 2010 sowie Samida u.a. 2014. 46 | Zu dem Spannungsverhältnis von »herausragenden« Einzeldingen und dem gesamten Dinguniversum siehe auch Hahn in diesem Band. Zu den »heiligen Dingen« siehe auch den Beitrag von Duttweiler. 47 | Siehe dazu den Beitrag von Threuter in diesem Band. 48 | Zu der Analyse von Dingbiographien in der historischen Wissenschaftsforschung siehe Daston 2000; in der Kunstgeschichte siehe Kubler 2008.
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Jedoch deckt die Analyse der Sichtbarkeit und visuellen Repräsentation des Urbanen nur einen Teilaspekt der sinnlichen Ordnung von städtischen Räumen ab. So haben bereits ältere soziologische Perspektiven die genuine Materialität der Stadt und ihr historisches Verhältnis zur Körperlichkeit untersucht (Sennett 2001), während einige jüngere kulturgeographische und anthropologischen Ansätze die affektive Aufladung des urbanen Alltags (Thrift 2007), das praktisch erworbene Wahrnehmungswissen der spätmodernen Stadtbewohner sowie ihre sozialen Fertigkeiten zur Ausgestaltung und Improvisation des Wohnens, Lebens und Arbeitens in den Blick nehmen (Ingold 2000). Hieran anschließend wurden im Feld des Urban Design kulturgeographische Perspektiven entwickelt, die sich ebenfalls der Frage des Wahrnehmens widmen, dabei aber auch störende oder unangenehme Eindrücke wie Gestank, Lärm und Schmutz miteinbeziehen (Rodaway 1994; Campkin/Cox 2007; Cowan/Steward 2007; Paterson 2009). Neben dem alltägliche Gebrauchscharakter der Sinne (Degen u.a. 2008) stehen hier die ästhetischen Strategien des urbanen Designs im Vordergrund, die im Zuge von Gentrifizierungsprozessen zum Einsatz kommen (Degen 2008). Die anthropologisch und kulturgeographisch geprägte Assemblage-Forschung, die sich demgegenüber an Deleuzes und Guattaris Begriffsinstrumentarium orientiert, interessiert sich schließlich für die sozio-materielle Konstitution von urbanen Atmosphären und Affekten.49 (d) Performance Studies: Hier steht explizit der sich bewegende Körper als Medium und Reproduzent künstlerischer oder alltäglicher Praktiken im Zentrum des Interesses. Neben den Körpersoziologien sowie den Ritual- und Theatralitätstheorien von Victor Turner (1989), Erving Goffman (1969) oder Richard Schechner (2003) sind es vor allem die Sprechakttheorie von J.L. Austin (1971, 1975) und ihre poststrukturalistische Erweiterung durch Judith Butler (1990), die die Theorien der Performativität geprägt haben. Der Performancebegriff selbst umfasst nicht nur die Aufführungspraxis im Theater und im Tanz, sondern thematisiert zudem die Theatralität des Alltags (Klein/Sting 2005; Cvejic/Vujanovic 2012). Dabei geht es unter anderem um die kulturelle Formung des Körpers und die Art und Weise wie sich diese in der theatralischen Inszenierung von Geschlechterrollen und ethnischen Zugehörigkeiten, der technischen Unterstützung von Alterungsprozessen und körperlichen disabilities sowie anderen Normierungen, die die sinnliche Expertise sozialer Akteure beeinflussen und gestalten, manifestiert.50 Im Kontext der Performance Studies entwickeln sich zudem experimentelle Zugänge an der Grenze zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis (Klein/Brandstetter 2013), die das Verhältnis von körperlich-sinnlicher Wahrnehmung und der materiellen Umwelt (Alltagsgegenstände, technische Objekte, Architekturen) mit sowohl analytisch-theoretischen als auch ästhetischen Mitteln befragen (Lepecki/Banes 2007). Dieser Trend zur künstlerischen Forschung oder
49 | Siehe dazu ausführlich Buchteil II. Die atmosphärische Komposition von Architekturen. 50 | Siehe dazu auch Buchteil IV. Die Professionalisierung sinnlicher Expertisen.
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Artistic Research lässt sich gegenwärtig auch in anderen Forschungskontexten und Kunstsparten beobachten.51
5. Z ur A nl age des B uches : ästhe tische und sinnliche D imensionen von P r a xis Ziel des Sammelbandes ist, vor dem Hintergrund dieser jüngsten Entwicklungen die Auseinandersetzung zwischen dem sozialen Akteur und seiner materiellen Umgebung genauer in den Blick zu nehmen und dabei sowohl die sinnliche »Handlungsträgerschaft« von materieller Kultur als auch die kulturelle Bedingtheit von Wahrnehmung, Affektivität und ästhetischer Erfahrung aus theoretischer sowie empirischer Perspektive zu beleuchten. Die Beitragsauswahl konzentriert sich dabei auf praxistheoretische und (post-)phänomenologische Zugänge, da diese aufgrund ihrer Theoriearchitektur besonders geeignet erscheinen, das Zusammenspiel von körperlicher Sozialisation, inkorporierten Wahrnehmungsschemata und sinnlich erfahrbaren Artefakten begrifflich und analytisch zu fassen. Je nach Fragestellung und Gegenstand schlagen die Autorinnen und Autoren dabei unterschiedliche Richtungen ein. Während einige das empirische Phänomen in das Zentrum ihrer Betrachtung rücken und sich dementsprechend um die Erarbeitung einer tragfähigen praxistheoretischen Methodologie bemühen, liegt der Schwerpunkt von anderen Beiträgen eher auf der theoriesystematischen Frage, wie sich der Aspekt des Sinnlichen in den bestehenden praxistheoretischen bzw. körpersoziologischen Theorierahmen integrieren lässt. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie die sinnliche Wahrnehmung als einen notwendigen Bestandteil von jeglicher Praxis verstehen, dessen Ausmaß und Bedeutung je nach Kontext und Ausrichtung des Tuns variieren kann. So gibt es Praktiken, in denen die sinnliche Auseinandersetzung mit der Umwelt nur beiläufig geschieht, während andere Tätigkeiten im Wesentlichen auf dem Wahrnehmungsakt selbst beruhen – wie etwa bei der eingehenden Betrachtung eines Kunstwerks, dem Interpretieren von Röntgenaufnahmen oder der gemeinsamen musikalischen Improvisation. Ergänzt wird diese Auswahl um einige Einblicke in gegenwärtige anthropologische, kulturwissenschaftliche und theoriehistorische Diskussionszusammenhänge, die sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen. Inhaltlich orientiert sich die Gliederung des Buches an vier Formen der interobjektiven, sinnlichen Praxis: erstens der konkreten Handhabung und affektiven Besetzung von einzelnen, herausragenden Dingen oder ganzen Dingkonstellationen – wie häusliche Gebrauchsgegenstände, Sportgeräte oder gesondert hervortretende »heilige Dinge« (Durkheim); zweitens die situative Herstellung von räumlichen Atmosphären durch das Ineinandergreifen von architektonischer Ge51 | Siehe dazu auch Buchteil III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken.
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staltung, den Bewegungen des Akteurs und seinen Wohn- und Verortungspraktiken; drittens der Arbeit an einem ontologisch noch offenen Kunstwerk und dessen (ästhetischen) Grenzen – sei es eine Skulptur, ein Musikstück, ein Tanz oder ein literarischer Text; sowie viertens die spätmoderne Ausdifferenzierung von spezifischen »sinnlichen Expertisen« in medialisierten und technisierten Arbeitskontexten. Der Sammelband schließt fünftens mit zwei Beiträgen, in denen die Grundfragen und Herausforderungen einer Soziologie der Sinne noch einmal gebündelt behandelt werden.52 Wie sich in der Zusammenschau der Beiträge herausstellt, kann auf all diesen Ebenen interobjektiver Praxis ein Moment des Ästhetischen auf blitzen – nämlich immer dann, wenn der Akteur in seinem routinierten, zweckgerichteten Tun innehält oder irritiert wird, um die sinnliche Qualität eines Gegenstands, einer Bewegung oder einer räumlichen Konstellation zu studieren. Die »ästhetische Erfahrung« lässt sich demnach weder einem einzigen gesellschaftlichen Bereich zuordnen – wie etwa den künstlerischen Feldern – noch kann sie als das neue normative Prinzip des Spätkapitalismus gelten, das die »rationalistischen« Ordnungsmodi der Moderne mittlerweile überholt hätte. Vielmehr scheint das Ästhetische in dem Zurücktreten von einer etablierten Wahrnehmungsordnung – sei sie nun rational oder ästhetizistisch – zu liegen, das die kulturelle »Aufteilung des Sinnlichen« selbst einsichtig macht. Dass die künstlerische Praxis ein herausragendes Mittel sein kann, um eine solche Distanznahme zu provozieren, sei dabei keineswegs in Abrede gestellt.53 Gedankt sei an dieser Stelle vor allem Lisa Schubert, die uns bei dem Lektorat und der Zusammenstellung der Beiträge tatkräftig unterstützt hat. Unser Dank gilt zudem Gabriele Klein sowie Andreas Reckwitz, die den Buchdruck mit Mitteln des Arbeitsbereiches Kultur, Medien, Gesellschaft an der Universität Hamburg resp. des Lehrstuhls für Vergleichende Kultursoziologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) bezuschusst haben. Dem transcript Verlag danken wir für die Möglichkeit, diesen Band zu realisieren sowie die kooperative Zusammenarbeit.
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52 | Siehe dazu Buchteil V. Herausforderungen einer Soziologie der Sinne. 53 | Zur kritischen Rolle und Potentiale von Kunst in der gegenwärtigen Welt siehe auch Osborne 2013 sowie Osborne in diesem Band.
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I. Die affektive Macht der Dinge
Einleitung Sophia Prinz
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I. Die affektive Macht der Dinge
Während all diese Studien auf die ein oder andere Weise die Materialität und ästhetische Erscheinung der materiellen Kultur thematisieren, haben im Verlauf des linguistic turn solche Perspektiven an Einfluss gewonnen, die demgegenüber stärker auf den distinktiven Zeichencharakter von Konsum- und Kulturgütern abheben. Dazu zählen etwa Roland Barthes’ und Jean Baudrillards Dingsemiotik (Barthes 1964; Baudrillard 1991), Pierre Bourdieus Lebensstilsoziologie (Bourdieu 1982), die Populärkulturanalysen aus dem Kontext der Cultural Studies (Hebdige 1990; Willis 1990) sowie die kulturanthropologischen Studien zur identitätsstiftenden Funktion von Alltagsdingen (Douglas/Isherwood 1979). Auch die jüngeren Material Culture Studies, die sich Ende der 1980er im Schnittfeld von Archäologie und Anthropologie etablieren konnten, waren zunächst dem semiotischen Paradigma verpflichtet, öffnen sich aber zunehmend auch für die Ansätze der ANT und des New Materialism (Miller 1987; Bennett 2010; Hicks 2010; Hodder 2012). In der letzten Zeit haben zudem die Mobility Studies und die Globalization Studies, die sich mit der Zirkulation von Menschen und Artefakten beschäftigen, neue Impulse für die Dingforschung setzen können. Von besonderem Interesse sind hier etwa die Studien zur globalen Verbreitung von Konsumgütern – sei es durch ökonomischen Handel oder durch die Migration von Menschen –, deren Bedeutung, Gestalt und Funktion je nach kulturellem Kontext variieren kann (Appadurai 1986; Howes 1996; Jackson 1999; Turner 2003; Hahn/Weiss 2012). Schließlich sollte in diesem Zusammenhang auch das interdisziplinäre Forschungsfeld der Design Studies nicht unerwähnt bleiben, das sich mit den Wechselwirkung zwischen der Gestaltung der Gesellschaft und dem Design der Dingkultur, wie sie sich besonders augenscheinlich im »gendered« design3 manifestiert, auseinandersetzt (Forty 1986; Norman 1990; Selle 1994; Attfield 2000; Verbeek 2005; Julier 2008; Brandes u.a. 2009; Clarke 2011; Moebius/Prinz 2012). Während die meisten dieser Perspektiven die sinnliche Dimension der Dingkultur wenn überhaupt, dann nur beiläufig behandeln, werden in dieser Sektion neuere Ansätze vorgestellt, die ganz gezielt die senso-motorischen Interaktionen zwischen dem wahrnehmenden Körper und den Dingen des Alltags in den Blick nehmen. Das praktisch »Zuhandene«, so die gemeinsame These aller Beiträger, »Die Bombenflugzeuge rufen uns die Erwartungen ins Gedächtnis, die Leonardo da Vinci im Hinblick auf den Flug des Menschen hegte: der Mensch sollte sich in die Luft erheben, um auf den Berggipfeln nach Schnee zu suchen und ihn dann bei der Rückkehr über den in der Sommerhitze glänzenden Straßen der Stadt auszustreuen.« (Benjamin 1991: 609) Mit diesem dialektischen Bild, das die Bombenflugzeuge des ersten und zweiten Weltkriegs mit da Vincis utopischen Flugmaschinen assoziiert, wird nicht nur das utopische Potential der industriellen Natur schlagartig sichtbar, sondern auch der Verrat, der an diesem Potential begangen wurde (vgl. Buck-Morss 1993: 298). 3 | Siehe dazu Sparke 1995; Bischoff/Threuter 1999; Nierhaus 1999; McKellar/Sparke 2004 sowie den Beitrag von Threuter in Buchteil II Die atmosphärische Komposition von Architekturen.
Sophia Prinz — Einleitung
wird weder allein »gedeutet« oder »gelesen«, wie es die Dingsemiotik annimmt, noch beschränkt sich seine Handlungsträgerschaft auf ein in der Materie eingelassenes »Aktionsprogramm« (Latour 1996: 47). Die Dinge müssen vielmehr zuallererst sinnlich »erfasst« und »begriffen« werden, um überhaupt als soziales Gegenüber erkannt zu werden. Dieses sinnliche Erfassen − und das ist eine weitere gemeinsame Beobachtung der Beiträge − birgt dabei nicht selten eine affektive Dimension: Der soziale Akteur beherrscht die Dinge nicht, sondern wird durch deren Erscheinung oder sinnliche Qualität gleichfalls aktiv angezogen oder abgestoßen. Wie diese »affektive Macht der Dinge« gefasst wird, hängt dabei von der jeweiligen analytischen und theoretischen Perspektive ab: Während in den Material Culture Studies und konsum- resp. lebensstilsoziologisch ausgerichteten Studien oftmals die emotionale Bedeutung besonderer Dinge oder Dinggruppen im Zentrum des Interesses stehen (Hahn),4 untersuchen praxistheoretische sowie leib-, post- und neophänomenologischen Ansätze, wie sich in der unmittelbaren interobjektiven Interaktion eine affektive Verbindung zwischen dem jeweiligen (Gebrauchs-)Gegenstand und dem wahrnehmenden Leib herstellt (Gugutzer, Prinz).5 In eine ähnliche Richtung weisen auch die Überlegungen aus dem Kontext des New Materialism6 , des New Vitalism und dem affective turn,7 allerdings wird hier im Anschluss an Deleuze konsequent auf jegliche Subjekt-ObjektTrennung verzichtet und das vitalistische Moment des Affizierens zwischen den menschlichen und nicht-menschlichen Elementen eines Gefüges verortet (Kwek/ Seyfert). Die psychoanalytische Theorie geht hingegen davon aus, dass die unwiderstehliche Anziehungskraft, die manche Dinge ausüben, aus den unbewussten Begehrensmustern der Subjekte resultieren, die ihrerseits von der überindividuellen »symbolischen Ordnung« einer Kultur abhängen (Silverman).8 Der Buchteil I wird mit einem Beitrag von Hans Peter Hahn eingeleitet, der einige theoretische und analytische Aporien der Material Culture Studies einer grundsätzlichen Kritik unterzieht. Dazu gehört etwa die Tendenz in der kulturund sozialwissenschaftlichen Dingforschung, das alltägliche »Sachuniversum« nicht in seiner relationalen Gesamtheit zu erforschen, sondern sich auf die semiotische Decodierung einzelner, besonders wertgeschätzter Gegenstände zu beschränken. Diese methodologische Vereinzelung erweist sich jedoch insofern 4 | Siehe etwa Miller 2008 und Bosch 2010. 5 | Siehe dazu etwa Ihde 1990; Dant 2004; Dant 2005; Gugutzer 2012; Röhl 2013 sowie Prinz 2014. Für eine philosophische Aufarbeitung dieser Thematik siehe auch Därmann 2014. 6 | Siehe hierzu beispielsweise Ansätze aus der politischen Theorie (Bennett 2007; Bennett 2010) oder der feministischen Theorie (Barad 2003). 7 | Siehe zu dem proklamierten affective turn exemplarische Ansätze aus der Soziologie, der Kulturgeografie sowie der feministischen Theorie (Brennan 2004; Clough 2007; Thrift 2008; Clough 2010; Gregg/Seigworth 2010; Seyfert 2011). 8 | Siehe auch Silverman 2000.
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als Fallstrick, als sie weder die Mehrdeutigkeit und -dimensionalität von Dingen im Gebrauch noch das unintendierte Wuchern des »Überflüssigen«, »Wertlosen« oder »Veralteten« zu denken vermag. Die Annahme, dass sich die Dinge nicht auf ihren semiotischen Gehalt reduzieren lassen, wird auch von den anderen Beiträgen geteilt. So macht Robert Gugutzer anhand einer ethnographischen Analyse des Geräte- und Ballsports deutlich, dass der Mensch nicht nur von anderen Menschen, sondern ebenso von nicht-belebten »Sachen«, d.h. künstlich hergestellten Gegenständen, leiblich affiziert werden kann. In Abgrenzung von der Praxistheorie hebt er hervor, dass insbesondere die Neophänomenologie von Hermann Schmitz dazu geeignet sei, diese dinglich induzierte »Betroffenheit« des Leibes zu erfassen, da sie im Unterschied zu ersterer ihren Schwerpunkt auf das leibliche »Spüren« legt und darüber hinaus auch »Halbdinge« – wie etwa räumliche Atmosphären – in ihre Betrachtung miteinbezieht.9 Dorothy Kwek und Robert Seyfert sowie Sophia Prinz stimmen zudem mit Hahns Beobachtung überein, dass sich Dinge niemals isoliert, sondern nur im Verbund mit anderen Dingen, Körpern und Praktiken analysieren lassen. Beide Beiträge nähern sich – mit jeweils anderem Erkenntnisinteresse – der Frage der »modernen« Dingkultur und ihrer Herausforderung durch nicht-westliche Lebensweisen. So zeigt Prinz am Beispiel der künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeiten10 der italo-brasilianischen Designerin und Architektin Lina Bo Bardi auf, dass sich die modernistischen Gestaltungsformen, die sich vor dem Hintergrund der modernen westlichen Gesellschaften etabliert haben, nicht ohne weiteres auf vor-industrielle, nicht-westliche Lebenswelten übertragen lassen. Denn wie im Rekurs auf die Praxistheorien von Foucault, Merleau-Ponty und Gramsci, einem der wichtigsten theoretischen Anknüpfungspunkte von Bo Bardi, deutlich gemacht wird, steht die formal-ästhetische Ordnung der materiellen Kultur mit der sinnlichen Ordnung der kollektiv geteilten Praktiken in einem engen Wechselverhältnis. Während Prinz den Themenkomplex »Moderne, Transkulturalität und Design« im Blick hat, setzen Kwek/Seyfert bei dem epistemologischen Problem der Subjekt-Objekt-Dichotomie an. Im Anschluss an die Diskussionen des New Materialism und der aktuellen Affekttheorien kritisieren sie die anthropozentrische Haltung westlichen Denkens und sprechen sich demgegenüber für das »heterologische« Gesellschaftsmodell des Totemismus aus, in dem nicht nur die Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen und Artefakte als gleichwertige Mitglieder des sozialen Gefüges anerkannt werden. Ein solchermaßen erweitertes 9 | Der Begriff der »Atmosphäre« wird im Buchteil II Die atmosphärische Komposition von Architekturen noch ausführlicher diskutiert. 10 | Die Frage, ob und inwiefern künstlerische Arbeitsweisen die empirische Forschung und Theoriebildung in der Soziologie befruchten können, wird auch in Buchteil III Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken näher diskutiert.
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gesellschaftliches Spektrum ließe sich jedoch nur dann realisieren, wenn der Radius des affektiven Sensoriums, das die soziale Bezugnahme allererst ermöglicht, auch auf nicht-menschliche Entitäten ausgedehnt wird. Im abschließenden Beitrag11 der US-amerikanischen Film- und Kulturtheoretikerin Kaja Silverman, die unter anderem für ihre Arbeiten zum »Blickregime« bekannt geworden ist (Silverman 1996, 2015), steht zu guter Letzt der psychoanalytische Affekt- und Dingbegriff zur Diskussion, der im soziologischen Kontext bisher kaum berücksichtigt worden ist.12 Ähnlich wie Kwek und Seyfert interessiert sich auch Silverman für das »affektive« Potential der belebten und unbelebten Dinge, geht jedoch mit Heidegger, Merleau-Ponty und Lacan davon aus, dass die verschiedenen Gestalten der Welt immer schon um den anerkennenden Blick des Subjekts buhlen. Die Dinge, so ihre zentrale These, können erst in Erscheinung treten und somit als etwas anerkannt werden, wenn sie von den Menschen als solche wahrgenommen werden. Diese Affizierung ist jedoch nur deshalb möglich, weil umgekehrt die menschlichen Subjekte selbst unter einem genuinen Seinsmangel leiden, der sie für die Umwelt empfänglich macht.
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11 | Bei dem Text handelt es sich um eine Übersetzung des Abschlusskapitels aus World Spectators (Silverman 2000: 127-146), die erstmals in dem Katalog zur Ausstellung Dinge, die wir nicht verstehen von Roger M. Buergel und Ruth Noack erschienen ist (Buergel/ Noack 2000: 33-49). 12 | Erste Ansätze, Freud mit Marx zu verbinden gab es bereits in der Frankfurter Schule (Marcuse 1965). Judith Butler hat hingegen auf Lacan rekurriert, um die Frage der Kritk und des Widerstandes zu schärfen (Butler 1997). Für einen Versuch, die Lacan’sche Psychoanalyse mit der Praxistheorie zu verbinden, siehe auch Prinz 2014: 225.
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Das Wuchern der Dinge Über Sachuniversen und die vergessenen Teile unseres Sachbesitzes Hans Peter Hahn
1. E inleitung : D inge und D ingensembles als O bjek t der B e tr achtung Es gibt Dinge, die eine besondere Faszination auf ihre Betrachter ausüben. Man könnte es als einzigartige und außerordentliche Fähigkeiten des Menschen beschreiben, Beziehungen zu Dingen aufzubauen und aus der Gegenwart bestimmter Gegenstände Sinn und Kraft für das eigene Leben zu schöpfen. Zu dieser Einsicht passt die Beobachtung, dass in allen Gesellschaften weltweit Männer, Frauen und Kinder bereit sind, Lebenszeit, Energie und andere Ressourcen zu opfern, um in den Besitz bestimmter Dinge zu gelangen. Die »Gier« nach dem Materiellen, sei dies nun in den gesellschaftlich anerkannten Formen des Konsums oder in anderen Aneignungsweisen, ist mithin ein genuin menschlicher Zug, auch wenn damit über die Natur der Dinge und über den Zeitpunkt, an dem ein solches Verlangen übermächtig wird, noch nichts ausgesagt ist. Die hohe Wertschätzung, die einzelnen Dingen entgegengebracht wird, ist ein Aspekt, der auch in der aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit materieller Kultur eine zentrale Rolle spielt. Der analytische Zugriff auf materielle Kultur besteht dabei oftmals in einer exemplarischen Betrachtung auserwählter Objekte. Dabei werden die Dinge gewissermaßen aus dem Alltag ausgesondert, um dann, im Zustand dieser artifiziellen Isolation, einer genauen Durchmusterung ihrer Eigenschaften unterzogen zu werden. Die Brücke zwischen der geistigen Welt und der Welt der Dinge wird oftmals anhand einiger weniger, sehr genau beschriebener Objekte hergestellt. Beispielsweise hat Roland Barthes diese Strategie mit besonderer schriftstellerischer Eleganz eingesetzt, indem er etwa ein berühmtes Automodell beschreibt, den »Citroen DS« (Barthes 1957), oder aber auch den Eiffelturm (Barthes 1964). Andere Beispiele sind in der Studie von Gottfried Korff mit dem Titel 13 Dinge zu finden (1992).
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Im Rückblick auf die neuere Geschichte der Material Culture Studies erweist sich die Aussonderung eines einzelnen Objektes oder einer eng umgrenzten Objektgruppe als der Königsweg, um eine vertiefte Perspektive in die zahlreichen Bedeutungen, in die Kulturgeschichte sowie in alltägliche Umgangsweisen mit dem Materiellen zu gewinnen. In gewisser Weise trifft dies auch für Studien zum Lebensstil zu. Bei Pierre Bourdieu und Mary Douglas sind es zwar nicht einzelne Objekte, aber eben doch kleine, klar umgrenzte und bedeutungsmäßig hoch aufgeladene Gruppen von Dingen, mit denen – wie in einem Prisma – bestimmte Relevanzen artikuliert werden. Es scheint als würden sich Sinnbezüge und affirmative Objektbeziehungen nur in einigen wenigen Objekten aus dem Sachbesitz »kristallisieren« (Miklautz 1996). Das Argument dieses Beitrags besteht zunächst in einer Kritik an diesem Verfahren der »selektiven Analyse«. Die Herauslösung einzelner oder einiger weniger Objekte aus dem Zusammenhang des Sachbesitzes steht nämlich im krassen Widerspruch zu ihrer tatsächlichen Einbettung in eine vielschichtige Lebenswelt. Diese zunächst methodologisch orientierte Kritik soll in einem zweiten Schritt auch als eine Verkürzung und problematische Vereinfachung auf der Ebene der Konzeptualisierung von materieller Kultur herausgestellt werden. Ein drittes Anliegen dieses Beitrags ist es schließlich, für die Entwicklung eines neuen theoretischen Modells zu plädieren; ein Modell, das stärker der Komplexität des Materiellen in alltäglichen Situationen gerecht wird. Die eigentliche Herausforderung von Studien zur materiellen Kultur, so die Abschlussthese, betrifft die Fülle der Sachen, die uns alltäglich umgeben. Die Assemblage, die Plethora, oder die Anhäufung von Dingen besteht gerade nicht nur aus den wenigen hochgeschätzten, sinnhaft aus der Masse der Sachen heraus lösbaren Objekten. Vielmehr geht es hier auch um die vielen halb vergessenen oder nur halb erinnerten Dinge, dem alltäglichen Zeug, mit dessen Anwesenheit der Besitzer und Benutzer aber rechnet, die für ihn zur selbstverständlichen und Sicherheit verschaffenden Grundlage seines Daseins gehören. Am Ende dieses Beitrags wird daher die Frage stehen, wie die große Zahl an Dingen und ihr sehr unterschiedlicher Relevanzstatus methodisch und konzeptionell zu fassen sein könnte. Damit zielt der Beitrag auf eine Weiterentwicklung der Zugänge zur materiellen Kultur, jenseits von Ansätzen, die sich nur auf die bedeutungsgeladenen Objekte stützen.
2. E ine K ritik der hochgeschät z ten D inge Dinge wecken Emotionen. Was man hat, kann man lieben oder hassen. Es ist dem Konsum stets förderlich, wenn dem Menschen hauptsächlich die mit positiven Emotionen besetzten Dinge vor Augen gehalten werden, wie dem Esel die Möhre. Der frühneuzeitliche Philosoph Blaise Pascal hat diesen Zusammenhang mit der Parabel des Jägers anschaulich gemacht. Es ist das Schicksal des Jägers, nicht mit
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dem Besitz zufrieden zu sein, sondern nach dem Moment des Glücks während der Jagd zu streben. In ähnlicher Weise häuft der moderne Mensch Güter an, nicht wirklich, um sich am Besitz zu erfreuen, sondern weil er den Moment des Erwerbs als Glück empfindet (Bauman 2001; Grasskamp 2009). Nicht die inerten, passiven Dinge, die den Menschen umgeben, motivieren ihn zum Besitz, sondern die Vorstellung, seinen Besitz um eben das zu erweitern, was er noch nicht hat und was zumindest verspricht, sein Leben zu verändern oder gar zu bereichern. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Theorien bauen auf diesem Prinzip auf oder argumentieren zumindest gleichsinnig. So fordert die schon erwähnte Mary Douglas, nicht so sehr auf den praktischen Gebrauch der Dinge zu achten, sondern vielmehr die Bedeutung, also die Beurteilung einer Sache, in den Mittelpunkt des Verstehens zu rücken (Douglas/Isherwood 1978: 82). Eine graduelle Erweiterung bringt der ebenfalls bereits erwähnte Ansatz von Bourdieu (1979). Über Douglas hinausgehend bezieht er zudem den richtigen Umgang mit den Dingen, das Vorzeigen im richtigen Moment, die richtige Haltung und die angemessene Kombination der Dinge als Statusabzeichen mit in die Betrachtung ein. Im Grunde ist den Theorien der beiden genannten Autoren noch ein berühmter Vorläufer zuzuordnen: die Theorie der feinen Leute des amerikanischen Philosophen Thorstein Veblen aus dem Jahr 1899 (Veblen 1986). Was bei Veblen in polemischer Überspitzung zu einer Orgie der Verschwendung und zur Sucht nach Neuigkeiten wird, trifft sich mit Bourdieus und Douglas’ Beobachtung, dass nämlich jeder Gebrauch eines Dings zugleich ein soziales Handeln darstellt. Die Güter werden dieser Logik zufolge zu Zeichen, die Botschaften über Statusähnlichkeit oder Abgrenzung senden. Eigenschaften der Dinge spielen weniger auf der Ebene der sinnlichen und alltäglichen Wahrnehmung eine Rolle, sondern vielmehr hinsichtlich der sozialen Distinktion. Nur das zählt, was neu ist und was andere beeindruckt. Dieser Theoriestrang gehört zu den großen Narrativen der Forschungen zur materiellen Kultur und spielt bis in die Gegenwart eine entscheidende Rolle. Ganz offensichtlich gilt das auch für Colin Campbells wichtiges Buch mit dem Titel The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism (1987). Die darin entwickelte Vorstellung, dem modernen Individuum sei der Konsum gewissermaßen zur Grundbedingung der Existenz geworden, eine Individualität sei überhaupt nicht mehr erfahrbar ohne das direkte Erleben von Konsumakten, entspricht ziemlich genau dem, was Pascal mit seiner Jäger-Parabel meinte. Dennoch ist hier als besondere Leistung der Studie von Campbell eine elementare Erweiterung herauszustellen: In seiner Perspektive ist die Frage des Sozialen in der Einbettung nachrangig geworden. Die Relevanz des Sachbesitzes liegt vielmehr in der Befriedigung individueller seelischer Bedürfnisse, in der inneren Balance, die das moderne Individuum permanent als gefährdet wahrnimmt. Die Dinge, die man hat und schätzt, bedürfen diesem Modell zufolge auf sozialer Ebene keiner spezifischen Akzeptanz mehr. Ihre Botschaften können
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durchaus im Nebel des Nichtverstandenen und der Ignoranz verschwinden. Dennoch bleibt die subjektive Wertschätzung erhalten, weil die Leistung des Erwerbs eines begehrten Objektes ihre erste Wirkung auf den Besitzer selbst hat. In diesem Sinne argumentiert auch die Theorie von Hartmut Böhme (2006), wenn sie die »Fetischisierung« von Dingen als Grundmuster der Generierung von Objektbeziehungen herausstellt. Anstelle der kollektiven Anerkennung durch die Gruppe und anstelle der Bestätigung des Selbst vermittels der Spiegelung durch die soziale Umwelt tritt die eigene Imagination als entscheidende Ressource zum Aufbau von Objektbeziehungen. Die bislang geschilderten Theorien materieller Kultur stehen für eine viel größere Anzahl an Autoren und Vertretern verschiedener Fächer, von der Gesellschaftsgeschichte bis hin zur Psychologie, die im Grunde ähnlich argumentieren (Hahn 2005: 60f., 2014). Dinge werden stets als hochgeschätzte Objekte behandelt. Die materielle Kultur erscheint nur dann theoriefähig, wenn den ihr zugeordneten Dingen ein besonderer Status zukommt, der eine analytische Herauslösung und Einzelbetrachtung rechtfertigt. Dies stellt jedoch eine seltsame Verkürzung dar, die letztlich die Plausibilität der betreffenden Zugänge in Frage stellt. Denn diese Theorien erklären überhaupt nicht die Welt der materiellen Dinge insgesamt, sondern lediglich die soziale Rolle überdurchschnittlich wichtiger Einzeldinge. Sie entwerfen mithin ein fremdes, unähnliches Bild der Lebenswelten und verfehlen damit ihren zentralen Anspruch, die gesellschaftliche Relevanz der dinglichen Welt zu erfassen. So attraktiv und erhellend es auf den ersten Blick erscheinen mag, durch die Analyse einzelner Dinge endlich einen verstehenden Zugang zur materiellen Kultur zu erhalten, so wurde doch auch schon früh ein Unbehagen damit artikuliert. Bei gründlicher Prüfung wird unweigerlich klar, dass diese Theorien eine Vorstellung vom Mensch-Ding-Bezug enthalten, die weit vom gelebten Alltag entfernt ist. Drei Kritiken sollen hier angeführt werden, die diesen Mangel deutlich machen. Zwei davon stammen von wichtigen Denkern des 20. Jahrhunderts, die dritte Kritik basiert auf eine Zahl an neueren Veröffentlichungen zur materiellen Kultur und reflektiert damit die jüngste Entwicklung in diesem Forschungsfeld. Schon im Jahr 1941 hat sich Theodor W. Adorno mit einer heftigen Kritik gegen die Theorie der feinen Leute von Veblen gewandt. Wie er betont, folgt aus dieser Theorie die Vorstellung eines permanenten hektischen Umgehens mit Dingen, die andauernd vorzuzeigen wären. Das soziale Verhalten der Menschen auf ihren Hang zur »Protzerei« zu reduzieren, stellt im Grunde eine unrealistische Überinterpretation dar. In diesem Modell erscheinen die Menschen nur noch als willenlose Marionetten des Konsums. Eine solche hemmungslose Orientierung an den immer neuen Dingen würde jede andere Dimension von Kultur auslöschen (Adorno 1941). Die zweite Kritik ist eng mit Colin Campbell verbunden und bezieht sich auf die genauere Betrachtung der Formen von Interaktion, durch die angeblich Botschaften über soziale Zugehörigkeit und Abgrenzung übermittelt werden.
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Nimmt man diesen funktionalen Zusammenhang ernst, so bedeutet jeder Besitz und jeder Gebrauch einer Sache zugleich ein soziales Handeln. Aber Campbell (1996a, 1996b) wendet sich, nur zehn Jahre nach der schon erwähnten Publikation über den »Geist des Konsumismus«, gegen die Gleichsetzung vom Gebrauch einer Sache mit sozialem Handeln. Die Welt der Dinge werde gründlich missverstanden, wenn jeder Umgang mit materieller Kultur automatisch »soziales Handeln« darstellen soll. Wäre nicht realistischer Weise auch damit zu rechnen, dass ganz andere Faktoren für den Besitz und den Gebrauch von Gütern eine Rolle spielen? Auch der Soziologe Alan Warde (2005) warnt vor einer Reduktion des Konsumenten auf einen sozialen Akteur. Die Summe dieser Kritik kann in einem Satz zusammengefasst werden: Konsum darf nicht per se mit sozialem Handeln gleichgesetzt werden. Die dritte Kritik bezieht sich auf einen Trend in den Studien zur materiellen Kultur, der sich erst seit etwa 2004 bemerkbar macht. Seitdem hat die Zahl der Studien beträchtlich zugenommen, die Dinge nicht nur im Moment des Erwerbs zu betrachten, sondern auch andere Momente ihrer vielfältig verflochtenen Lebensgeschichten mit einzubeziehen. Es geht dabei um die Frage, wann und wie aus den Dingen Müll wird, und welche Herausforderungen eine solche »Entwertung« mit sich bringt. Wichtige Vorarbeiten für dieses Forschungsfeld waren die Arbeiten aus dem Umfeld der sogenannten »Garbage«-Archäologie der US-amerikanischen Archäologen Michael Schiffer (2001), Wilhelm Rathje und Gullen Murphy (Rathje/Murphy 1992). Diese Studien basieren einerseits auf der behavioristischen Annahme, dass die Struktur des Haushaltmülls empirisch und objektiv Konsumpraktiken offenlegt. Andererseits haben sie sich von der Vorstellung befreit, dass diese Konsumpraktiken notwendigerweise soziale Botschaften enthalten. Die Archäologie des Mülls ist eine implizite Kritik an bedeutungsorientierten Forschungen, da sie den praktischen Umgang fokussiert, ohne damit unmittelbar eine Aussage über die Bedeutungen der Dinge treffen zu wollen. Es geht nicht mehr darum, was Menschen kommunizieren, sondern nur um Konsum als Tatsache. In neueren Studien wird ein nochmals erweiterter Ansatz präsentiert. So thematisiert etwa Sonja Windmüller (2004) nicht nur die Tatsache der permanenten Entstehung von Müll, sondern geht auch der Frage der Wertveränderungen nach. Die Kontrolle und Begrenzung der Müllentstehung sind mittlerweile zu wichtigen normativen Fragen in vielen Gesellschaften der Gegenwart geworden. Wie Müll zu vermeiden wäre, welcher Weg der Beseitigung richtig ist, konstituiert ein Feld politischer Aushandlungen, greift aber auch in jeden Haushalt ein. Nach Windmüller ist Müll eben nicht nur »Matter out of Place« (Douglas 1966: 35), sondern, für sich genommen, ein ambivalentes Phänomen. Die Unsicherheit in der wertmäßigen Zuordnung kommt auch in der neuen Semantik des Begriffes »Wertstoff« zum Ausdruck, der im Zusammenhang mit der gesellschaftlich wünschenswerten Aufwertung von Müll geprägt wurde. Sozialgeschichtlich lässt sich diese Perspektive übrigens gut in die Vergangenheit zurückverfolgen. Müll
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war schon immer auch eine wertvolle Ressource, allerdings zugleich auch eine Herausforderung für die soziale Ordnung: Auch wenn die Müllsammler fast immer ganz unten in der sozialen Hierarchie zu finden sind, ist nicht von der Hand zu weisen, dass die weiter oben Stehenden Müll produzieren und deshalb auf erstere angewiesen sind (Strasser 1999; Oldenziel/Weber 2013). Auch im Bereich der Entsorgung und des Mülls sind Bewertungen der Dinge mit Wahrnehmungs- und Gebrauchsmustern ihrer Besitzer und Benutzer verknüpft. Lucy Norris (2004, 2010) hat dies in einer eindrucksvollen Studie über die Entsorgung von Kleidern herausgearbeitet. Dabei geht es insbesondere um die Peinlichkeit, sich eine »Weiternutzung« von Kleidung vorzustellen. Die Verwendung nach »Gebrauchsende« scheint nur akzeptabel, weil dieser Aspekt der Objektbiografie ausgeblendet ist. Die Frage, welche Teile der Kleidung man zum Beispiel Familienangehörigen oder auch Kollegen verschenken kann, zeigt die Ambivalenz des Gebrauchsendes im Detail. Dabei handelt es sich nicht um ein marginales Phänomen, wie Studien zum Inhalt von Kleiderschränken gezeigt haben (Corrigan 1989; Gregson/Beale 2004): Oft haben junge Leuten wenigstens die Hälfte ihrer Kleidung durch Überlassen, Schenken und Tausch erworben. Diese Dinge tragen gewissermaßen eine »Spur« des früheren Besitzers in sich; der abwesende Vorbesitzer ist in diesen Kleidungsstücken durch die materielle Kontinuität des Objekts präsent. Auf der Grundlage solcher und ähnlicher Beobachtungen hat sich ein neues Studienfeld entwickelt, das sich mit den spezifischen Bedingungen von »SecondHand Kulturen« auseinandersetzt (Hetherington 2004; Palmer 2005; Clarke 2011). Sicherlich gibt es hier einen Schwerpunkt auf Bekleidung, da diese den schwankenden Moden unterworfen ist und zudem gut transportiert werden kann. Aber auch Mobiltelefone und Autos wurden in jüngster Zeit im Hinblick auf die Frage untersucht, welche Bedeutungsverschiebung das Weitergeben nach sich zieht (Beuving 2004). Nicht zuletzt gehören in diesen Kontext auch Flohmärkte und sogenannte »Garage-sales« (Straw 2009). All dies sind Orte und Momente, zu denen sich Besitzerwechsel in einer halbanonymen Umgebung vollziehen. In der Summe ergeben die neuen Studien ein ganz anderes Bild von den Objekten der Lebenswelt: Die Dinge, die den Menschen umgeben, befinden sich in verschiedenen Stadien oder Stufen ihres Alters und ihrer Nutzbarkeit. Sie unterscheiden sich durch das Wissen um Vorbesitzer, hinsichtlich ihrer Funktionalität und nicht zuletzt durch die sich unbemerkt einschleichende Sorge darum, wie man sie wieder loswird. Im deutlichen Kontrast zu dem starren und verengten Blick auf die Dinge als Einzelobjekte sind die Güter im Sachbesitz immer Teil von Assemblagen, die sich aus Dingen mit unterschiedlichen Lebenswegen und Halbwertszeiten zusammensetzen. Dabei zählen durchaus nicht nur die wohlerhaltenen, geschätzten Dinge, sondern auch die vielen marginalen Objekte, die aufgrund von Alter oder Herkunft nur eingeschränkt genutzt werden. Die Gleichsetzung von Konsummustern mit dem Erwerb und Besitz von neuen oder neuwertigen Gütern ist
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ein Fehlschluss vieler bisheriger Studien zur materiellen Kultur. Wie damit klar wird, entsprechen die öffentlich präsentierten Bilder des Konsums nur zum Teil dem, was in Haushalten und im Sachbesitz tatsächlich an Gütern vorhanden ist (Williams/Windebank 2003). Eine nähere Untersuchung des Sachbesitzes insgesamt ergibt sich als notwendige Ergänzung der dargestellten Studien.
3. D inge in H aushalten Der Haushalt ist ein schwieriger Ort für empirische Studien. Bei der Betrachtung dieser räumlichen und sozialen Einheit ergeben sich unweigerlich eine ganze Reihe methodischer Probleme. Richard Wilk (1989, 1991) unterstreicht im Ergebnis seiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Forschungsfeld dessen außerordentliche Flexibilität: Ein Haushalt ist zu jedem Zeitpunkt ein anderer. Wahrscheinlich liegt gerade in der Möglichkeit, sich selbst immer wieder neu zu definieren, seine besondere Überlebensfähigkeit. Sich selbst neu zu definieren betrifft dabei nicht nur die Frage der Zugehörigkeit, sondern wenigstens in gleichem Maße die Aufgaben, die in einem Haushalt gemeinschaftlich oder separat geregelt werden. Unter den zahlreichen Sozialwissenschaftlern, die sich mit Definitionen des Haushalts befasst haben, wird Wilk hier auch deshalb herausgegriffen, weil er sehr früh den Zusammenhang von Haushalt und Konsumentscheidungen thematisiert hat (Wilk 1990). Im Rahmen dieses Beitrags können Haushalte nicht in ihrer Komplexität von sozialer Struktur, Aushandlungen über Ressourcenallokation und räumlicher Ordnung insgesamt behandelt werden (Hahn 2005: 108ff.); hier soll es lediglich um Haushalt als den Ort gehen, an dem Sachbesitz »in Überfülle« anzutreffen ist, und an dem Menschen in lebensweltlichen Kontexten regelmäßig mit Dingen umgehen. Sachbesitz in Haushalten ist bereits in verschiedenen Disziplinen untersucht worden. Die in der Soziologie durchgeführten Lebensstilstudien wurden bereits erwähnt (Pappi/Pappi 1978; Sociovision 2009). Aber auch in der Sozialgeschichte wurden Haushalte und die dort verfügbaren Güter mehrfach thematisiert. Das gilt zunächst für die sogenannten »Sozialstatistischen Untersuchungen«. Schon im 19. Jahrhundert haben unter diesem Methodenbegriff Frederic Le Play (1871) und Gottlieb Schnapper-Arndt (1883, 1906) herausragende, empirisch präzise Studien durchgeführt, bei denen die genaue Beschreibung einzelner Haushalte, die Ausstattung der Räume mit Dingen genauso eine Rolle spielten wie Angaben zur Ernährung, Familiengröße und zum Einkommen. Diese beispielhaften Studien sind allerdings ohne Nachfolger geblieben, abgesehen von den neueren Arbeiten von Hans Teuteberg über das Wohnen und den Alltag im 19. Jahrhundert und seiner Bielefelder Arbeitsgruppe (Teuteberg/Wischermann 1985). Als dritten fachlichen Zugang seien hier die Forschungen zur sogenannten »historischen Sachkultur« angeführt, die insbesondere von der Europäischen
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Ethnologie betrieben wurden. Die wichtigste Quelle für diese Studien sind Nachlassverzeichnisse, die für bestimmte Epochen und Regionen, z.B. Süddeutschland vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, systematisch und umfassend angelegt wurden. Die Auswertung dieser Inventare ergibt ein klares Bild darüber, welche beweglichen Güter die Menschen zu jener Zeit besaßen (Hauser 1994). Dies gilt wenigstens für den Moment, in dem aus dem Sachbesitz ein Erbe geworden ist. Solche Studien haben mit zwei methodischen Problemen zu kämpfen: Erstens berichten Sie über den Sachbesitz immer nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich dem Ende des Lebens, weshalb auch vermutet werden darf, dass Inventare von jüngeren Menschen unterrepräsentiert sind. Zweitens verraten diese Listen nur wenig über die Rolle, die die Dinge im Alltag gespielt haben. Ein Nachlassinventar gibt schlichtweg keine Auskunft darüber, ob die Menschen die Dinge geschätzt haben, ob sie ihnen gleichgültig gegenüberstanden, oder ob sie gar den Grund für eine Sorge darstellten. Eine Ergänzung, die sich genau mit dieser Frage auseinandersetzt, stellen die Studien aus dem Feld der Kulturpsychologie dar, soweit sie den Zusammenhang von Sachgüterausstattung, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen untersuchen. Ein populäres Konzept in diesem Zusammenhang wird unter dem Begriff des flow subsumiert. Mihaly Csikszentmihalyi und Eugène Rochberg-Halton (1981) beschreiben damit Synergieeffekte zwischen den Bewohnern und den Objekten in der Wohnung. Diese Ideen erscheinen auf den ersten Blick plausibel und haben zum Beispiel in der Form von »Feng Shui« zu einer Vorstellung darüber geführt, welche Art von Einrichtung für die Erzeugung einer guten und das Selbstvertrauen stärkenden Atmosphäre sinnvoll sein könnte. In theoriegeschichtlicher Hinsicht sind diese Studien als eine Ergänzung zu Bourdieus Lebensstilforschung zu verstehen (Bourdieu 1983). Trotz der hervorragenden Resonanz in einer weiteren Öffentlichkeit und einiger überzeugender empirischer Fallstudien (Cooper 1974), bleibt jedoch die Frage offen, wie eigentlich ein solcher Flow-Effekt im Feld des Umgangs mit Dingen zustande kommt. In verschiedenen Publikationen hat Helga Dittmar eine Antwort auf diese Frage vorgelegt, die allerdings fast schon banal ist (Dittmar 1991, 1992; Dittmar u.a. 1996). Selbstbild und Sachbesitz sind demzufolge durch affektive Bindungen miteinander verbunden. Diese Bindungen wirken auf den Menschen zurück, indem sie sein Selbstbewusstsein stärken. Man könnte das ergänzen und sagen, ja, es gibt auch einen Zusammenhang von Identität und Sachbesitz, insofern die Dinge für die Artikulation des selbst gegebenen Platzes in der Welt stehen (Gößwald 2011; Carter/Gilovich 2012). Aber auch hier bleibt ungeklärt, ob eine solche positive Rückkoppelung regelmäßig auftritt, wann dies der Fall ist, und warum bei vielen Dingen die Funktion der Bestätigung nicht gegeben ist. Das Kleeblatt der vier hier knapp skizzierten Forschungsrichtungen zu Haushalt und Sachbesitz aus Soziologie, Sozialgeschichte, Europäischer Ethnologie und Kulturpsychologie zeigt ein erstes Bild des engen Zusammenhanges zwischen Subjektivität und Dingwelt. Wie schon angedeutet, gibt es jedoch ein klares
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Defizit im Hinblick auf die notwendige Differenzierung in der Bewertung. Wenn in diesen Ansätzen überhaupt von Emotionen und Bewertungen die Rede ist, so handelt es sich durchweg um positive Emotionen gegenüber Gegenständen, die geliebt oder geschätzt werden. Auch hier scheint sich die schon im letzten Absatz kritisierte »Überschätzung der Dinge« bemerkbar zu machen. Damit vernachlässigen sie die Ambivalenz und die alltägliche Erfahrung des Vergessens und der Distanzierung. Die Menschen erscheinen somit als bedingungslose Materialisten, die aus den Dingen nur eines schöpfen: nämlich Kraft, Selbstvertrauen und Selbstbestätigung. Der Erörterung des Verhältnisses von Haushalten und dem zugehörigen Sachbesitz wurde in diesem Abschnitt ein gewisser Raum gegeben, um den bias der Vereinzelung und der Fokussierung auf die hochgeschätzten Güter zu überwinden. Sollten sich nicht auch Positionen finden lassen, die mehr Komplexität und möglicherweise auch eine Ambivalenz gegenüber den Dingen zulassen? Diese Hoffnung hat sich zunächst nicht erfüllt: Die Menschen scheinen mühelos die sie umgebende Welt der Dinge als Artikulation ihres Selbst und ihrer Identität anzunehmen. Für Dissonanzen und Zurückweisungen ist dabei so wenig Platz wie für die Unentschiedenheit, in der so viele Dinge verharren, weil sie doch lediglich der Ausdruck eines Moments im Leben oder für einen Lebensabschnitt waren. Nicht einmal die Erkenntnis, dass die Bewertung von Dingen sich wandeln kann, findet hier einen spürbaren Niederschlag. Im Grunde ist hier ein Rückfall hinter die Einsichten von Roland Barthes (1988) im Hinblick auf die Polysemie des materiellen Objektes zu konstatieren. Die Mehrdeutigkeit eines Objekts und damit auch die Dynamik einer schwankenden Bewertung zwischen »Wertschätzung«, »Gleichgültigkeit« und »Verachtung« kommt in den bislang vorgestellten Modellen nicht vor. Dennoch gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Dinge in Haushalten immer wieder Prozessen der Auf- und Abwertung ausgesetzt sind (Hahn 2006). Der Mangel an Komplexität ist auch ein Kennzeichen der aktuellen Studie von Daniel Miller (2010) mit dem bezeichnenden Titel »Der Trost der Dinge«. Hier werden Menschen in ihren Haushalten vorgestellt, wobei die emotionale und kognitive Bindung zwischen den Bewohnern und ihrem Besitz im Mittelpunkt der einzelnen Fallstudien steht. Dabei rücken jedoch niemals Desinteresse oder Ablehnung in den Vordergrund; durchweg dominieren positive Beziehungen. Man könnte meinen, die Studie von Miller sei der wissenschaftliche Nachvollzug eines ca. 15 Jahre älteren Fotobandes von Peter Menzel mit dem Titel »So lebt der Mensch« (Gaede/Menzel 1996). Menzel hat in diesem Buch Familien in über 20 Ländern der Welt zwischen Mali und den USA gebeten, ihren Sachbesitz für ein Foto zu arrangieren. Auch wenn dieses Buch einen großartigen ersten Eindruck von den signifikanten Unterschieden im Sachbesitz gibt, stellt es doch gerade nicht das dar, was der Titel behauptet. Diese Portraits von Menschen mit ihren Dingen sind nicht Abbilder davon »wie Menschen leben«, sondern kunstvolle Arrangements, die zeigen, wie Menschen glauben, sie könnten ihren Sachbesitz stilisieren, um das zu zeigen, was der Fotograf sehen soll. Das Zufällige und das
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Chaotische, das Ungeplante des Alltags und die innere Komplexität einer Ordnung, die immer wieder neue Gestalt annimmt, all das ist ausgeblendet.
4. V on der V ielfalt der O rdnungen im S achbesit z Es gibt einige wenige Beispiele, die den Haushalt als Ort der Dinge ernst nehmen und es als eine Herausforderung annehmen, die halbvergessenen oder halberinnerten Seiten des Sachbesitzes in angemessener Weise mit darzustellen. So hat Jeanne Arnold mit einer Gruppe von Fachkollegen eine nüchterne Bestandsaufnahme von zeitgenössischen Haushalten in Los Angeles veröffentlicht (Arnold u.a. 2012). Die Botschaft dieser Studie ist differenziert: Einerseits gibt es sehr gut aufgeräumte Wohnzimmer, die ganz offensichtlich als Präsentierräume fungieren. Daneben gibt es aber auch rein funktionale Orte, zum Beispiel Teile der Küche, an denen die Ordnung immer wieder entgleitet. Dort sammeln sich sofort erkennbar die Dinge unkontrolliert an, bis sie schließlich überhandnehmen, und damit ihre Funktionalität in Frage stellen. Die Bilder in diesem Buch sind Ausdruck eines labilen Gleichgewichts zwischen der nicht mehr zu bewältigenden Masse von Dingen und ihrem intensiven Gebrauch. Während bestimmte Arrangements (das überfüllte Regal) die graduell zunehmende Unbrauchbarkeit deutlich werden lassen, ist an anderen Orten (die Küche, der Essplatz) die Priorität des Gebrauchens ganz klar gegeben. Vielfach ist das Schlafzimmer weniger überfüllt als der Hobbykeller, und die klare Gestaltung des Wohnzimmers steht im deutlichen Kontrast zur (fehlenden) Ordnung der Dinge in der Garage. Diese visuellen Eindrücke werden ergänzt durch knappe statistische Angaben, etwa zur Aufenthaltsdauer in den einzelnen Räumen oder zur Zuordnung der Objekte zu Männern, Frauen oder Kindern. Die Texte verbinden die statistischen Daten mit den Bildern durch weitergehende Interpretationen. Dabei wird keine Aussage über eine angenommene »normale« oder optimale Struktur des Haushalts gemacht. Vielmehr werden häufige Handlungen im Tagesablauf in Bezug zu den Dingen gestellt und so die Beziehungen auf der Ebene des alltäglichen Umgangs mit Dingen sichtbar gemacht. An die Stelle der kunstvollen Inszenierungen, die genauso der Darstellung von Peter Menzel zugrunde liegen, wie den Studien zum Flow-Effekt, erscheint in den Studien von Arnold der eingefrorene Moment als das effektivste Mittel, um Komplexität und Widersprüchlichkeit in den Anordnungen der Dinge sichtbar zu machen. Was hier an die Oberfläche tritt, muss skeptisch machen gegenüber der Annahme, dass die Dingwelten stets eine bestimmte sinnstiftende Ordnung aufweisen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Haushalte eine Vielfalt verschiedener Ordnungen umfassen, die erstens auf die am Haushaltsgeschehen beteiligten Personen zurückgehen und zweitens auf die unterschiedliche Intensität des Umgangs mit den Dingen: Orte unübersehbarer Nachlässigkeit befinden sich direkt neben Orten sorgfältiger Präsentation. Sacharrangements, die vielleicht zu einem
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früheren Zeitpunkt einmal als Repräsentation eingerichtet wurden, tendieren im Moment der Dokumentation eher zum Vergessen-Werden (Prinz 2013). Diese Übergänge wie auch das Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Interpretationen einzelner Dinge und Sachensembles im Haushalt werden besonders eindringlich von Gert Selle und Jutta Boehe (1986) thematisiert. Ihr Buch ist im Grunde nicht so sehr die Beschreibung eines Haushalts, sondern vielmehr die Wiedergabe von Gesprächen über die Wege von Dingen. Wie die Zwiebel in Schichten zerlegt werden kann, so werden im Austausch von Bewertungen und Erinnerungen der Bewohner die verschiedenen Lesarten zu einzelnen Objekten (z.B. Möbelstücken) aber auch zur Anordnung von Dingen in Räumen immer wieder neu definiert. Die Autoren nennen es im Untertitel »Anpassung und Eigensinn«, wobei der letzte Begriff durchaus auch mit Widerstand gleichgesetzt werden darf. In den untersuchten Haushalten gibt es nicht eine kohärente Ordnung der Dinge, sondern eine Vielzahl von fragmentierten An-Ordnungen, die im besten Fall als partielle, miteinander konkurrierende Ordnungen gelesen werden können. Gerd Selle hat an anderer Stelle seine Rolle als Fragender im Prozess der Dokumentation einmal pointiert ausgedrückt, und damit eine methodische Problematik offengelegt, die für die neueren Material Culture Studies insgesamt zutrifft: Wie er sagt, ist das Schweigen der Dinge für die wissenschaftliche Erschließung frustrierend (Selle 2012: 131). Der Drang danach, die Dinge zum Sprechen zu bringen, führt zur artifiziellen Herausstellung falscher Eindeutigkeiten. Anstelle eines solchen »falsch-objektivierenden Zugangs«, so Selle, sollte sich die Erschließung besser am Leitbild der Mehrdeutigkeit orientieren. Dinge, die nur eine Geschichte erzählen, ist ihr polysemischer Charakter oftmals durch den Prozess der Interpretation schon genommen; die im Alltag hingenommenen Mehrdeutigkeiten wurden zugunsten einer eher fragwürdigen Aussagekraft des Eindeutigen ausgelöscht. Eine letzte Studie sei hier als Modell angeführt, welche Relevanz Mehrdeutigkeit und das Nebeneinander für die Entstehung verschiedener Prinzipien der Ordnung bei Dingen hat. Es geht dabei um eine langfristige Untersuchung, die schon vor knapp 50 Jahren begonnen wurde und in einem Zeitraum von über 10 Jahren eine Reihe von Haushalten in dem ungarischen Dorf Atany zum Gegenstand hatte (Fél/Hofer 1974). Den beiden ethnografisch arbeitenden Volkskundlern Edit Fél und Tamas Hofer war aufgefallen, dass unterschiedliche Inventare sich häufig durch das mehrfache Vorhandensein gleichartiger Objekte unterscheiden. Ältere, abgenutzte und schadhafte Stücke wurden auf bewahrt als Reserve. Ihre Wertschätzung beruht auf der Erwartung, dass das neue und hauptsächlich gebrauchte Stück einmal plötzlich nicht mehr nutzbar sein sollte (Fél/Hofer 1965: 86). Befragung und Beobachtung ergaben noch mehr Informationen, die es möglich machten, die Ordnung der Dinge, die Intensität der Nutzung und die unterschiedlichen Formen der Wertschätzung genauer zu beschreiben. So spielt die Zeitlichkeit eine besondere Rolle: Dinge werden aufbewahrt, weil sie zu einem
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früheren Zeitpunkt sich als nützlich erwiesen hatten. Zu den Sachensembles von außerordentlich langer Lebensdauer, die praktisch Generationen überdauern und sich zugleich doch immer wieder verändern, gehören zum Beispiel die von Fél und Hofer (1969) ausführlicher erläuterte Brautausstattung. Bereits mit der Geburt eines Mädchens beginnen Mütter Dinge für deren zukünftige Brautausstattung zur Seite zu legen. Ist es herangewachsen, wandert die vervollständigte Brautausstattung zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit in den neuen Haushalt und wird dort zum Teil in den alltäglichen Gebrauch überführt. Sobald die Frau Mutter einer Tochter wird, legt sie aus ihrer Ausstattung wiederum Dinge zur Seite als deren zukünftige Brautausstattung. Die generationenübergreifende Kontinuität der Brautausstattung steht in der Dokumentation von Fél und Hofer im krassen Kontrast zu ganz kurzlebigen Objekten, die im alltäglichen Gebrauch durch hohen Verschleiß kaum je länger als eine Feldbausaison überdauern. Die Einsicht in unterschiedliche Zeitlichkeit, hier veranschaulicht anhand der beiden extremen Beispiele Brautausstattung und Feldbaugeräte, ist aber nur ein Aspekt von Komplexität und sich verändernder Bewertung (Antonietti 2002). Fél und Hofer (1969: 382-384) entfalten eine Systematik verschiedener Ordnungsprinzipien, die in den Haushalten nebeneinander zum Tragen kommen. Vektoren, entlang derer sich Ordnungen entfalten, können sein: die Zeitlichkeit, Formen der Wiederbeschaffung, Möglichkeiten der Weitergabe, das Herausheben von wichtigen (»unverzichtbaren«) Dingen, die räumliche Zuordnung und nicht zuletzt die Hierarchien von Dingen. Jeder dieser Aspekte trägt ein Teil dazu bei, von einem Sachuniversum (Hofer 1979: 115) zu sprechen. Die Idee einer »Welt der Dinge« führen die Autoren auf George Kubler und dessen Werk Die Form der Zeit zurück. So wie Kubler (1961) in einer eher kunsthistorischen Perspektive die Öffnung und Schließung von Gruppen künstlerischer Ausdrucksformen beschreibt, so erkennen Fél und Hofer in den unterschiedlichen Kriterien für Dinge in den Haushalten des Dorfes Atany jeweils andere Sinnhorizonte. Die drei zuletzt vorgestellten Studien (Arnold, Selle/Boehe, sowie Fél/Hofer) zeichnen sich gegenüber den zuvor genannten dadurch aus, dass sie sich weigern, auf problematische oder gar falsche Eindeutigkeiten zu rekurrieren. Sie erkennen in den Dingen nicht eine Funktion, sondern vielmehr ein Problem. Komplexität von Objektensembles bedeutet in diesen drei Fällen, die Mehrdeutigkeit, Ambivalenz oder gar widerstreitende Bewertungen von Dingen zuzulassen. Die Dinge, von denen der Mensch umgeben ist, können nicht in ein System gepresst werden. Sie einer bestimmten Funktion zuzuordnen bedeutet unweigerlich, ein falsches, vereinfachendes Bild der Lebenswelt zu präsentieren.
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5. S chluss : P l ädoyer für mehr K omple xität Der im Titel dieses Beitrags gewählte Ausdruck »Sachuniversen« ist der Studie von Fél und Hofer (1969) entliehen. Diese Metapher hat den unabweisbaren Charme auf das Nebeneinander von mehr und weniger geschätzten Objekten zu verweisen. So wie jedes Sonnensystem hell leuchtende Sonnen, und mehr oder weniger sichtbare Trabanten (Planeten und Monde) hat, so stehen im Alltag auch die hochgeschätzten Dinge neben den eher vergessenen oder gering geschätzten Objekten. Die eigentliche Herausforderung lautet dieses Nebeneinander zu erkennen und zu verstehen. Diese Anerkennung der oftmals marginalen Rolle ist die eigentliche Grundlage für ein angemessenes Modell materieller Kultur. Was ist der Beitrag der Material Culture Studies zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen des Menschen? Es ist in jedem Fall mehr als das, was zu Beginn dieses Beitrags als eine Möglichkeit herausgestellt wurde. Der Blick auf die uns umgebenden Dinge vermittelt keinesfalls nur das den Menschen faszinierende Materielle. Es geht nicht nur um Hinwendung oder gar Begeisterung. Wie die Metapher des Sachuniversums plausibel macht, gibt es ganz unterschiedliche Empfindungen von Nähe und Distanz zu den Dingen. Die materielle Umwelt zeigt sich in einem breiten Spektrum, das sowohl Anziehung wie auch Gleichgültigkeit umfasst, und natürlich auch negative Emotionen. Es ist nicht nur darum, diese Emotionen zu erkennen, sondern auch darum, mit deren Veränderung im zeitlichen Verlauf zu rechnen. Die Sachinventare der Haushalte, die in diesem Plädoyer für mehr Komplexität als empirisches Feld herangezogen wurden, machen das Nebeneinander von Intentionalität und Beiläufigkeit offensichtlich. Bezieht man die mit den Dingen verbundenen (und oft nur halb erinnerten) Geschichten mit ein, so wird auch der fortlaufende Wandel von Relevanzen augenscheinlich. Dinge, die zu einem früheren Zeitpunkt wichtig oder attraktiv erschienen, sind es später nicht mehr. Umgekehrt kann ein Objekt, das zunächst keine große Bedeutung hat, aufgrund der langen Zeitspanne seiner Präsenz, oder aufgrund von intensivem Gebrauch, oder wegen damit verknüpfter Erinnerungen oder aus einem bestimmten anderen Grunde zu einem hoch geschätzten Gegenstand werden. Vor dem Hintergrund ähnlicher Überlegungen fordert Bjørnar Olsen (2007), die Dinge in einer gewissen Distanz, »auf Armeslänge« zu halten. Nicht die Nähe des Materiellen ist die wichtigste zu erklärende Beobachtung, sondern die Anerkennung einer eigenen Dynamik der Veränderung, Distanzierung (vom Menschen als Beobachter) und natürlich auch Bindung gegenüber der Dingwelt. All diese Aspekte können mit dem Begriff des Sachuniversums sehr gut erfasst werden, drückt sich doch darin auch eine räumliche Differenzierung aus: Bindung bedeutet in diesem Sprachbild nicht unbedingt Nähe! Dieser Beitrag plädiert gegen die zentrale Stellung semiotischer Ansätze in der konzeptuellen Annäherung an materielle Kultur und auch gegen die Vorstellung, man könnte die Beziehungen der Dinge untereinander und zum Menschen
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mit der Metapher des Netzwerks fassen. Anstelle dessen steht im Mittelpunkt dieses Beitrags das Plädoyer für eine phänomenologische Perspektive. Wird die materielle Umwelt als »Lebenswelt« betrachtet, so bleibt »implizites Wissen« und die Wahrnehmung im Umgang mit den Dingen im Fokus. Materielle Kultur als Sachbesitz ist stets von einer gewissen »Unentzifferbarkeit« geprägt. Das »Lesen« der Objekte, also der semiotische Ansatz, hat nur eine beschränkte Aussagekraft. Was bei Aleida Assmann (1988) als »wilde Semiose« erläutert wird, muss als wichtigste Aufgabe der Material Culture Studies präsent bleiben: Bedeutungen der Dinge sollten nicht auf eine falsche Eindeutigkeit heruntergebrochen werden. Eine Aufklärung über ihre Inhalte kann im besten Fall nur in einem konkreten Kontext gelingen. So verschieden die Formen der Einbettung sind, so zahlreich sind die Sachuniversen. Die Unentzifferbarkeit der Welt beruht wesentlich auf der Vielfalt unterschiedlicher Umgangsweisen und Bedeutungen, die den Dingen immer wieder neu zugeschrieben werden. Von den Dingen geht etwas Unheimliches aus, könnte man sagen, letztlich steckt in den Dingen ein Überschuss an Geschichten, verglichen mit dem was den Menschen gegenwärtig ist. Diese Unheimlichkeit, das nicht ausgelotete Potential ist keinesfalls über eine Diskursanalyse einzuholen. Man könnte auch sagen, in den Dingen steckt neben diskursiv auflösbaren Aspekten immer auch ein Rest des Nicht-diskursiven. Die Gegenwart der Dinge geht weit über das Sagbare hinaus. Diese Herausforderung anzunehmen, ist ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Theorie materieller Kultur.
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Ein Modernismus ohne Modernisierung Lina Bo Bardis künstlerische Forschung im Nordosten Brasiliens Sophia Prinz
1. D ie G estaltung der M oderne Maniokwurzeln, getrocknete Meeresfrüchte, abgehangenes Fleisch, Flechtkörbe, Keramikschalen oder auch religiöse Utensilien wie Ex-Votos1 und Opfertiere für Condomblé-Zeremonien2 – das alles kann man in den engen, gewundenen Gassen der Feira de São Joaquim in Salvador da Bahia erstehen (Abb. 1). Abbildung 1: Feira de São Joaquim, 2013
1 | Ex-Votos werden als symbolische Opfer in Kirchen oder anderen geweihten Orten dargebracht. Die Gliedmaßen stehen dabei für den erkrankten Körperteil, um dessen Genesung gebeten wird. 2 | Bei dem Condomblé handelt es sich um eine synkretistische Religion, die sich während der Kolonialzeit, in der die Ausübung afrikanischer Religionen verboten war und Zwangstaufungen vorgenommen wurden, herausgebildet hat. Für einen Überblick über die religiöse und kulturelle Entwicklung in Bahia im 20. Jahrhundert siehe auch Sansi 2007.
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Der gänzlich untouristische Markt, nicht fern vom Zentrum der einstigen kolonialen Hauptstadt Brasiliens gelegen, versammelt all die Dinge, die das Leben im Nordosten prägen und zugleich von der Armut und Geschichte der Region zeugen. So finden sich unter blechernen Töpfen, Holzmessern und tönernen Sparschweinen auch kleinen Öllämpchen, die lamparinas, die, aus alten Konservendosen und ausgebrannten Glühbirnen gefertigt, mit Petroleum abgefüllt und einem Docht bestückt werden – eine Technik, die beispielsweise auch in Westafrika verbreitet ist (Abb. 2). Abbildung 2: Lamparinas, Fotografien aus Lina Bo Bardis Forschungsarchiv
Diese lamparina wirft Licht auf zwei aktuelle Debatten, die noch zu selten zusammengebracht worden sind: erstens die Diskussion über den Zusammenhang zwischen der ästhetischen Gestaltung der Dinge und den Lebensformen und -bedingungen einer Gesellschaft und zweitens die Forschungen zur transnationalen Moderne und ihrer brasilianischen Variante – angefangen beim transatlantischen Sklavenhandel bis hin zur ungleichen ökonomischen Entwicklung zwischen dem reichen »europäisierten« Süden der weißen Elite und dem verarmten, afrobrasilianischen Norden. Zwar gibt es bereits eine Reihe von Perspektiven, die sich mit der globalen Verflechtung von westlichen und nicht-westlichen Praktiken auseinandersetzen,3 3 | Zu nennen wären hier das Konzept der »Multiple Modernities« (Eisenstadt 2000) bzw. der »Varieties of Modernity« (Schmidt 2006), der »Scapes«-Begriff von Arjun Appadurai
Sophia Prinz — Ein Modernismus ohne Modernisierung
sowie einige zentrale Studien zur Adaption und Transformation von globalen Konsumgütern.4 Doch die Frage, wie sich die »Migration der Form« (Buergel 2007) auf lokale Dingkulturen auswirkt, spielt dabei, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.5 Um sich dem komplexen Themenfeld der globalen »Hybridisierung« und »Transkulturalisierung« von Design und Ästhetik zu nähern, wird im Folgenden die wegweisende künstlerische Forschung der italo-brasilianischen Architektin und Designerin Lina Bo Bardi genauer vorgestellt. Bo Bardi hatte in den 1960er Jahren in Salvador den Versuch unternommen, auf der Grundlage der Formensprache der afrobrasilianischen Dingkultur ein modernes Industriedesign zu entwickeln. Ihre ethnographische und gestalterische Arbeit, die u.a. auf die marxistische Praxistheorie von Antonio Gramsci rekurriert, soll hier nicht nur historisch verortet und in ihrer theoretischen Dimension entfaltet werden, sondern auch auf ihre zukunftsweisenden methodologischen Potentiale hin befragt werden. Nach einem kurzen Überblick über Bo Bardis Werdegang sollen zunächst ihre theoretischen Inspirationen offengelegt und mithilfe von Maurice MerleauPontys Leibphänomenologie im Hinblick auf die Ästhetik der Dingwelten zugespitzt werden. Die formale und sinnliche Ordnung der materiellen Kultur, so die leitende These, ist untrennbar mit dem »impliziten« Praxis- und Wahrnehmungswissen einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe verknüpft.6 Somit bemisst sich die Modernität einer Gesellschaft nicht allein an sozialstrukturellen Faktoren, sondern schlägt sich auch in jenen ästhetischen Formen nieder, die diese Strukturen stützen oder unterlaufen. Unter Hinweis auf das Konzept der »Multiple Modernities« 7 ist davon auszugehen, dass diese »modernen Formen« (1996), oder die »Hybriditäts«-Konzepte von Homi Bhabha, Néstor García Canclini und Jan Niederversen Pieterse (Bhabha 1994; García Canclini 1995; Nederveen Pieterse 2009). 4 | Siehe dazu etwa Pendergrast 1993; Howes 1996; Jackson 1999; Turner 2003 und Hahn/Weiss 2012. 5 | In der Kunst-, Architektur- und Kulturgeschichte sowie den Material Culture Studies und Design Studies bilden sich jedoch zunehmend Diskussionszusammenhänge heraus, in denen die Transkulturalisierung und Hybridisierung von Ästhetiken verhandelt wird. Siehe dazu etwa Brosius/Wenzlhuemer 2011; Werbner/Fumanti 2012; Savaş 2014; King 2004; Edwards et al. 2006; Jacobs/Cairns 2008 oder Bello 2010. 6 | Für eine praxistheoretische Perspektive auf Design siehe etwa Shove et al. 2007; Julier 2008 und Yaneva 2009. 7 | Im Unterschied sowohl zur konvergenztheoretischen Perspektive, der zufolge die Globalisierung zu einer stetigen Angleichung bzw. »Verwestlichung« der Welt führe, als auch zu Samuel Huntingtons »clash of civilizations«-These, die demgegenüber eine genuine Frontstellung verschiedener Kulturräume unterstellt, geht der »Multiple Modernities«-Ansatz nach Shmuel N. Eisenstadt (2000) davon aus, dass der Prozess der Modernisierung trotz einiger grundlegender, struktureller und institutioneller Übereinstimmungen in verschiedenen kulturellen und geographischen Kontexten je unterschiedlich verläuft. Die Moderne
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nicht überall und jederzeit gleichartig sind, sondern ihre Gestalt in Abhängigkeit vom jeweiligen kulturellen, ökonomischen und institutionellen Hintergrund sowie dem historischen Verlauf des Modernisierungsprozesses annehmen. Im Anschluss an diese sozial- und modernetheoretischen Überlegungen werden die quasi-ethnographischen Forschungsmethoden, mit denen Bo Bardi die materielle Kultur Brasiliens untersuchte, näher beleuchtet und mithilfe von Michel Foucaults Archäologie weiter ausgebaut. Diese theoretischen und methodologischen Überlegungen bilden die Grundlage für eine abschließende Interpretation der programmatischen Nordeste-Ausstellung, mit der Bo Bardi die top-down-Modernisierung der Kubitschek-Regierung offen angriff.
2. E ine italienische A rchitek tin in B r asilien Lina Bo Bardi, geboren 1914 in Rom, war 1946 als junge Architektin zusammen mit ihrem Ehemann, dem etablierten Architekturkritiker und Galeristen Pietro Maria Bardi nach Rio übergesiedelt. Bardi, der aufgrund seiner zeitweiligen Nähe zu Mussolini im Nachkriegsitalien vermutlich einen schwierigen Stand gehabt hätte,8 war dem Ruf des brasilianischen Medientycoons Assis Chateaubriand gefolgt, der ihn mit der Konzeption eines Kunstmuseums für die brasilianische Industriemetropole betraut hatte. Das Museo de Arte São Paolo (MASP) war ein Prestigeprojekt, mit dem die Oberschicht demonstrieren wollte, dass sie mit dem Westen sowohl ökonomisch als auch kulturell Schritt halten kann. Dabei spielte es keine Rolle, dass Bardi einen Großteil der Gemälde unter zum Teil haarsträubenden Umständen im vom Krieg zerrütteten Europa zusammenkaufte.9 Während die stattliche Sammlung, die neben Schlüsselwerken der europäischen Kunstgeschichte auch Fotografie, Mode und Design sowie brasilianische Volkskunst umfasste, stetig wuchs, wurde kann somit zwar als ein globales Phänomen betrachtet werden, muss jedoch auch hinsichtlich ihrer jeweiligen kulturellen Ausprägungen untersucht werden. Während Eisenstadt im Rekurs auf Karl Jaspers und Max Weber diese verschiedenen Ausprägungen der Moderne auf die Kulturdifferenzen zurückführt, die sich in der Achsenzeit herausgebildet haben, wurde in jüngerer Zeit diskutiert, inwiefern auch andere Faktoren – wie z.B. ökonomische und politische Strukturen – dabei eine Rolle spielen (Schmidt 2006). 8 | Als enger Freund und Berater Mussolinis hatte er diesen Anfang der 1930er Jahre davon überzeugen wollen, dass die rationalistische Architektur der einzig wahre architektonische Ausdruck der faschistischen Prinzipien sei (Bardi 1931). Später distanzierte er sich jedoch ausdrücklich von Mussolini und der faschistischen Partei. 9 | Eines der Aushängeschilder der MASP-Sammlung ist Auguste Renoirs Rose et Bleue (1881), ein Porträt der Töchter Alice und Elisbabeth des wohlhabenden jüdischen Bänkers und Mäzens Louis Cahen d’Anvers. Die ältere der beiden Schwestern, Elisabeth, starb 1944 auf dem Weg in das Konzentrationslager Auschwitz.
Sophia Prinz — Ein Modernismus ohne Modernisierung
Bo Bardi mit der Aufgabe betraut, ein repräsentatives Museumsgebäude zu entwerfen. Wegen politischer und ökonomischer Schwierigkeiten sollte es allerdings noch rund 20 Jahre dauern, bis das imposante modernistische Gebäude schließlich 1969 in zentraler Lage an der Avenida Paulista eröffnet werden konnte. Während dieser zwei Jahrzehnte hatte Bo Bardi ihre neue Heimat bereist und sich dabei mit »einem anderen Brasilien, als dem der europäischen Einwanderer« vertraut gemacht (Bo Bardi zit.n. de Oliveira 2006: 323). Dieses »andere Brasilien« war der arme, kolonial ausgepresste, heruntergekommene nordöstliche Landesteil. Nach einer Professurvertretung an der Universidade Federal de Bahia erhielt Bo Bardi 1959 eine Einladung vom Gouverneur von Bahia, in Salvador ebenfalls ein repräsentatives Museum für moderne Kunst im Stile des MASP aufzubauen. Angesichts der offensichtlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Benachteiligung der lokalen afrobrasilianischen Bevölkerung konnte sie sich jedoch nicht mit dem Gedanken anfreunden, der bahianischen Elite, die genauso weiß war wie die in São Paulo, zu einem kulturellen Statusgewinn zu verhelfen. Bo Bardi sah ihre Aufgabe nicht darin, westliche Kulturmodelle zu kopieren, sondern ausgehend von den bestehenden sozialen Ordnungen, kulturellen Praktiken und ästhetischen Vorstellungen der breiten Bevölkerung eine eigene, genuin »brasilianische« Form von Moderne voranzutreiben. Dieser entschieden politische Ansatz verdankte sich zum Teil Bo Bardis italienischer Herkunft. Während ihres Architektur- und Designstudiums in Rom sowie ihrer Tätigkeit für die Zeitschrift Domus in Mailand erlebte sie nicht nur den Aufstieg und Fall des faschistischen Regimes, sondern auch die Versuche linker Intellektueller, Architekten und Künstler, ausgehend von den Trümmern und gebrochenen politischen Versprechen eine Vorstellung von Wahrhaftigkeit und Würde zu etablieren. Zu diesen post-faschistischen Artikulationsversuchen gehörten sowohl die Filme der Neorealismo als auch die Debatten um eine moderne Architektur jenseits rationalistischer Planbarkeitsmythen. Im Umfeld von Giò Ponti und dem aus der Emigration zurückgekehrten Bruno Zevi lernte Bo Bardi, dass moderne Architektur mit dem italienischen Handwerk und den ländlichen Wohn- und Lebensformen keinesfalls brechen muss, sondern diese gelebten Traditionen im Gegenteil in sich aufnehmen und »organisch« weiterentwickeln kann.10 Eine ähnliche Position hatte auch der marxistische Intellektuelle und Mitbegründer der KPI (Kommunistischen Partei Italien) Antonio Gramsci vertreten, dessen Schriften in den intellektuellen Zirkeln der Nachkriegszeit intensiv studiert wurden. Bevor Gramsci als Führer der Kommunisten 1926 von Mussolini verhaftet und eingesperrt wurde, hatte er sich für die politische und soziale Stärkung des vom Norden ausgebeuteten, verarmten italienischen Südens eingesetzt. Während die Faschisten den Problemen des Südens mit zentralistischen Industrialisierungsprogrammen beizukommen suchten, hatte Gramsci dafür plädiert, das Wissen und die kreativen Ressourcen der südlichen Landbevölke10 | Vgl. dazu etwa Lamonaca 1997 sowie Lima 2007, 2013: 19, 29.
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rung in die politischen, ökonomischen und kulturellen Umstrukturierungsprozesse miteinzubeziehen.11 So schreibt er in seinen Gefängnisheften über das Entwicklungspotential der modernen Literatur in Italien: »Die Voraussetzung der neuen Literatur kann nicht anders sein als politisch-geschichtlich, popular; sie muß bestrebt sein, schon Vorhandenes auszuarbeiten […]; worauf es ankommt, ist, daß sie ihre Wurzeln schlägt im Humus der Volkskultur, so wie sie ist, mit ihren Vorlieben, ihren Bestrebungen usw., mit ihrer moralischen und intellektuellen Welt, auch wenn diese rückständig und konventionell ist.« (Gramsci 2012a: 27f.)
Gut zehn Jahre später traf Bo Bardi in Bahia auf ein vergleichbares sozialstrukturelles und ökonomisches Gefälle sowie auf Debatten, die um ähnliche Fragen kreisten. In Salvador, Recife und Fortalezza hatten sich in den 1950er Jahren verschiedene Zirkel von Künstlern, Filmemachern und Intellektuellen zusammengeschlossen, die sich für eine angemessene, d.h. weder primitivistisch noch paternalistisch motivierte Repräsentation der afrobrasilianischen Kultur engagierten. Zu diesen Initiativen gehörten sowohl das Cinema Nôvo, das später mit Glauber Rochers »Ästhetik des Hungers« internationale Erfolge verbuchen sollte,12 als auch die Theaterproduktionen13, Ausstellungen und Workshops des Movimento de Cultura Popular (Bewegung für Volkskultur). Erklärtes Ziel dieser verschiedenen Gruppierungen war, mit der lokalen Bevölkerung zu arbeiten, anstatt ihr vorgefertigte Bildungsprogramme aufzuoktroyieren. Intellektuell wurde diese Bewegung u.a. von Paulo Freires Idee einer »Pädagogik der Unterdrückten« (Freire 1979) getragen, die ganz ähnlich wie Gramscis Erziehungs- und Bildungsmodell auf die Stärkung des lokalen Wissens und die Selbstemanzipation der Armen setzte.14
11 | Zu Gramscis Auseinandersetzung mit der »süditalienischen Frage« siehe etwa Gramsci 1955. 12 | Glauber Rocha stellte sein Manifest Eztétyka da fome 1965 auf dem von Pier Paolo Pasolini und Bernardo Bertolucci organisierten Pesaro Film Festival in Genua vor. Ausgehend von einer Kritik an dem sentimentalen Hang des europäischen Primitivismus beschreibt er den Hunger, der den Sertão beherrscht, als eine eigenwillige, dynamische Kraft des Volkes, die sich notwendigerweise in revolutionärer Gewalt äußern wird. Aufgabe des Cinema Nôvo sei, sich in den Dienst dieser anti-kolonialen Bewegung zu stellen (Rocha 1995). 13 | Zu nennen ist hier insbesondere der Theatermacher Martim Gonçalves, mit dem Lina Bo Bardi bereits 1959 die Ausstellung Bahia no Ibirapuera parallel zur 5. São Paulo-Biennale ausgerichtet hatte. 14 | Im Rahmen des MCP entwickelte Freire auch seine erfolgreiche Methode zur Erwachsenenalphabethisierung (Funke 2010: 38). Für theoretische Parallelen zwischen Gramsci und Freire sowie die brasiliansiche Rezeptionsgeschichte von Gramsci siehe auch Mayo 1999; Coutinho 2012: 163ff. sowie Freeland 2014.
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Von dieser Auf bruchstimmung inspiriert, beschloss Bo Bardi Anfang der 1960er Jahre ein Kulturzentrum in Salvador zu gründen. Dieses sollte neben einem Museo de Arte Popular auch Werkstätten und Schulungsräume umfassen, in denen Designstudenten die lokalen Produktions- und Gestaltungstechniken erlernen konnten. Über die dürftige Qualität der Artefakte machte sie sich keine Illusionen. Die verwendeten Materialien und Produktionsformen hatten nichts mit dem Raffinement der kostbaren italienischen Handwerkskunst gemein, wie es Ponti in das moderne Industriedesign zu integrieren suchte. Im Gegenteil, in Bahia wurde weiterverarbeitet, was die Industriegesellschaft als Abfall ausgespuckt hatte: ausgebrannte Glühlampen, Konservendosen, Stofffetzen und alte Zeitungen. Diese »Objekte des verzweifelten Überlebens«, so Bo Bardi, stünden am »Rand des Nichts« (Bo Bardi 1995: 3, 4), zeugten aber gerade deswegen vom unbedingten Willen der Menschen, das eigene Leben gestaltend in die Hand zu nehmen. Und genau dieses schöpferische Vermögen, etwas aus nichts zu machen, d.h. sich der eigenen Nichtexistenz und gesellschaftlichen Unsichtbarkeit zu verweigern, suchte Bo Bardi durch ihr »lebendiges Museum« (Bo Bardi 2013: 67) zu kultivieren. Bevor auf dieses Experiment, das mit dem Militärputsch von 1964 ein jähes Ende finden sollte, näher eingegangen wird, sollen im Folgenden die theoretischen und methodologischen Grundlagen von Bo Bardis Ansatz rekapituliert und im Hinblick auf die Frage der »sinnlichen Ordnung« des Sozialen ausgebaut werden.
3. P r a xis als eine » menschlich sinnliche T ätigkeit« Bo Bardi kann keinesfalls als eine systematische Theoretikerin gelten. Dennoch ist ihre gestalterisch-konzeptionelle und publizistische Arbeit für die aktuelle praxistheoretische Debatte insofern von Interesse, als sie ausgehend von Gramscis marxistischem Begriff der Praxis die Beziehung von Moderne, Volkskultur und Design konzeptionell durchdringt. Darüber hinaus hat sie empirische Zugänge und Darstellungsformen entwickelt, die jene Beziehung analytisch und »praktisch« begreif barmachen. Im Weiteren wird es daher um eine Rekonstruktion von Bo Bardis praxistheoretischem »Werkzeugkasten« gehen, die in einem zweiten Schritt um den Aspekt der Wahrnehmung ergänzt und verfeinert wird. In ihrer intellektuellen und gestalterischen Auseinandersetzung mit dem Leben in Bahia setzte Bo Bardi Gramscis Praxistheorie eher intuitiv und assoziativ für ihre Zwecke ein. Dieses Vorgehen ist nicht nur ihrem genuin künstlerischen und konkret politischen Interesse an der afrobrasiliansichen Kultur geschuldet, sondern verdankt sich auch dem fragmentarischen Charakter von Gramscis Schriften. Statt eine kohärente theoretische Position auszuformulieren, finden sich Hinweise zum Begriff der Praxis über verschiedene Textpassagen und Notizen seines Werkes verstreut. Neben den trostlosen Umständen des
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Entstehens seiner Schriften, lässt sich diese relative Inkohärenz auch Gramscis Abneigung gegenüber dem »objektivistischen« Marxismus-Leninismus zuschreiben (Roth 1972: 9). Gramscis eigene Auseinandersetzung mit dem Marxismus steht hingegen in der Tradition der bürgerlich-akademischen Marx-Rezeption des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich insbesondere mit der Frage beschäftigte, ob die theoretische Position, die der junge Marx in den »Thesen über Feuerbach« und den »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« einnimmt, tatsächlich als »materialistisch« bezeichnet werden kann (Roth 1972) 16ff.). Marx hatte hier die These vertreten, dass die Praxis eine »menschlich sinnliche« und »gegenständliche« (Marx 1969: 5), d.h. auf die konkrete, »sinnliche Außenwelt« (Marx 1968: 512) bezogene Tätigkeit darstellt, welche die materiellen Strukturen, unter denen die Menschen handeln, erst erschafft. Wie Marx später in einer Fußnote im ersten Kapital-Band anmerkt, sei die Entwicklung der industriellen Technologie daher nicht auf einen anonymen historischen Fortschrittsprozess, sondern auf das »aktive Verhalten des Menschen zur Natur [und] den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens« zurückzuführen (Marx 1962: 393, Anm. 89). Während die italienischen Marxisten hinter diesem Ansatz einen verkappten Idealismus witterten, der, statt die objektiven materiellen Strukturen zu betonen, die »Intentionen« des handelnden Menschen in den Vordergrund stellt, betrachtete Gramsci die Marxsche »Philosophie der Praxis« als originäre Perspektive, die einen Mittelweg zwischen dem materialistischen Determinismus und dem voluntaristischen Idealismus eröffnet (Gramsci 1967: 185). Ähnlich wie die gegenwärtige soziologische Praxistheorie brachte schon Gramsci den Praxisbegriff mit einer alternativen Konzeption von Intellektualität zusammen. Das Wissen beschränkt sich demnach nicht allein auf geistige Arbeit, sondern steckt auch in der körperlichen Arbeit und den so produzierten Dingen (Gramsci 1967: 409). Im Gegensatz zu den Modernisten betrachtete er die süditalienische »Folklore«, d.h. die volkstümlichen Gebräuche, Kunstgegenstände und literarischen Texte, demnach nicht einfach als »unzeitgemäße« oder »pittoreske« Erscheinungen, sondern als Ausdruck oder Medium einer eigenständigen Weltauffassung der Subalternen, die es politisch und gesellschaftlich zu berücksichtigen gilt. »Man müsste sie [die Folklore, S.P.] hingegen als weitgehend ›implizite Auffassung von der Welt und vom Leben‹ bestimmter (in der Zeit und in Raum bestimmter) Schichten der Gesellschaft studieren im (zumeist auch impliziten, mechanischen, objektiven) Gegensatz zu den ›offiziellen‹ Weltauffassungen (oder im weiterem Sinne zu denen der historisch bestimmten gebildeten Teile der Gesellschaft), die in der geschichtlichen Entwicklung aufeinander folgen. (Daher das enge Verhältnis zwischen Folklore und ›Alltagsverstand‹, der die philosophische Folklore ist). Weltauffassung, die nicht nur nicht ausgearbeitet und systematisiert ist, weil das Volk (das heißt das Ensemble der subalternen und instrumentellen Klassen jeder Gesellschaftsform, die es bisher gegeben hat) per definitionem keine ausgearbeiteten, systematischen und politisch organisierten und zentralisierten Auffassun-
Sophia Prinz — Ein Modernismus ohne Modernisierung gen in ihrer durchaus widersprüchlichen, jedoch vielfältigen Entwicklung […] haben kann, wenn man nicht gar von einem unverdaulichen Gemenge von Bruchstücken aller Welt- und Lebensauffassungen sprechen muss, die in der Geschichte aufeinander folgen, von deren größtem Teil sich sogar nur in der Folklore die verstümmelten und verderbten Dokumente finden.« (Gramsci 2012b: 169)
Auf die Frage der materiellen Kultur zugespitzt, ließe sich also sagen, dass allen Dingen in zweierlei Hinsicht ein spezifisches Praxiswissen innewohnt: Erstens ist in den Prozess der Herstellung der Dinge eine implizite, technische Expertise eingegangen, die für die richtige Handhabung der verwendeten Materialien notwendig ist. Und zweitens legt jedes fertige Ding seiner Materialität und kontextuellen Einbettung wegen bestimmte Formen des Gebrauchs nahe: Es ist seinerseits Teil der »sinnlichen Außenwelt« geworden, an der sich der praktisch tätige Mensch abarbeiten muss. Allerdings geht Gramsci auf diesen Aspekt der Marx’schen Praxistheorie, der auf die sinnliche Dimension der materiellen Kultur zielt, nicht weiter ein. Dabei scheint aber gerade das perzeptive Vermögen ganz wesentlich dazu beizutragen, wie sich der Mensch zu seiner materiellen Umgebung in Beziehung setzt – sei es, weil er von der sichtbaren Oberflächentextur eines Gegenstandes auf dessen haptische Erfahrung schließen kann, von der Farbe einer Frucht auf deren Geschmack oder von der Konstellation verschiedenartiger Dinge auf deren Hierarchie. Umgekehrt schult sich die Wahrnehmung an der visuellen, haptischen, akustischen und olfaktorischen Ordnung der Dinge und nimmt durch die tätige Interaktion mit diesen eine kulturell und historisch spezifische Form an. Kurzum, der Mensch schafft mit seinen »gegenständlichen« Praktiken auch die sinnlichen Bedingungen, unter denen er wahrnimmt. Um diese Wechselverhältnis von materieller Kultur, Praxis und implizitem Wahrnehmungswissen näher bestimmen zu können, soll an dieser Stelle ein Blick auf die Leibphänomenologie von Merleau-Ponty geworfen werden. Merlau-Ponty knüpft in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung und anderen Schriften ebenfalls an den frühen Marx an, bezieht sich aber stärker auf die körperlich-sinnliche Dimension von Praxis. Zwar hat Bo Bardi Merleau-Pontys Arbeiten offenbar nie rezipiert, doch wie sich im Folgenden zeigen wird, unterstreicht die leibphänomenologische Perspektive die soziale Relevanz der formalästhetischen Eigenschaften der Dinge. Ausgehend von Edmund Husserls Lebenswelt- und Leibbegriff sowie Martin Heideggers Konzept des »In-der-Welt-Seins« bestimmt Merleau-Ponty das »ZurWelt-Sein« (»être-au-monde«) des wahrnehmenden Leibes als die Grunddimension menschlicher Existenz (Merleau-Ponty 1966: 10). Der Leib unterscheidet sich insofern von der bloßen physischen Körperlichkeit auf der einen und dem reinen, immateriellen Bewusstsein auf der anderen Seite, als er im »Dazwischen« der Subjekt-Objekt-Dichotomie anzusiedeln ist. Als materielles »Quasi-Objekt« kann er zu einem Teil der Dingwelt werden, ist aber als ein sich verhaltendes »Quasi-
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Subjekt« immer auch aktiv handelnd und verstehend auf seine äußere Umwelt bezogen. Die verschiedenen äußeren Umwelten, mit denen der Leib in seinem Alltag üblicherweise interagiert, bilden zusammengenommen das, was man als die gesellschaftlichen und ökonomischen Daseinsbedingungen des Subjekts bezeichnen kann. In Abgrenzung von der Durkheim-Schule und dem »ökonomistischmaterialistischen« Flügel der marxistischen Theorie begreift Merleau-Ponty diese materiellen Bedingungen jedoch nicht als »objektive« Strukturen, welche die gesellschaftliche Ordnung determinieren (Merleau-Ponty 1976: 256; Merleau-Ponty 2000: 170ff.), sondern als konkrete, am eigenen Leib erfahrene Phänomene, die das Individuum in sich aufnimmt und in die eigenen Praktiken integriert.15 Aus leibphänomenologischer Sicht gelte es daher »auf das Soziale zurückzugehen, so wie wir mit ihm verbunden sind vor aller Objektivierung« (MerleauPonty 1966: 414). Diese primordiale Beziehung zwischen Subjekt und seiner (Sozial-)Welt wird durch die leibliche Wahrnehmung hergestellt, die das sinnliche Rauschen der Umgebung, d.h. das Durcheinander der Töne, Farben und Bewegungen filtert, ordnet und zu sinnhaften »Gestalten«16 zusammensetzt, noch bevor eine bewusste Reflexion über die Welt überhaupt einsetzen kann (MerleauPonty 1966: 174, 176).17 Allerdings ist das dazu notwendige Apperzeptionsvermögen Merleau-Ponty zufolge nicht angeboren, sondern wird vom Leib erst durch die wiederholte Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten seiner sozialen und materiellen Umwelt ausgebildet. Wie die Welt erscheint, also welche Gestalten in den Vordergrund drängen und welche Sinneseindrücke im undifferenzierten Hintergrund verschwinden, hängt somit zu einem Gutteil davon ab, was der Leib wahrzunehmen gewohnt ist. Oder wie es Merleau-Ponty selbst ausdrückt: »Das Sinnliche gibt mir nur wieder, was ich ihm leihe, doch habe ich noch dies selbst von ihm« (Merleau-Ponty 1966: 252). Welche Form das leibliche Wahrnehmungsschema annimmt, hängt dabei von den praktischen Anforderungen ab, die an den Leib herangetragen werden. In Abwandlung von Husserls Begriff des »intentionalen Bewusstseins«18 spricht Merleau-Ponty daher von einer »fungierenden« oder »motorischen« Intentionalität des Leibes (Merleau-Ponty 1966: 15, 165ff., 15 | Merleau-Ponty nimmt hier auf Marx’ »ökonomisch-philosophische Manuskripte« Bezug (Marx 1968: 537). 16 | Merleau-Ponty greift hier die gestaltpsychologischen Erkenntnisse von Wolfgang Köhler und Kurt Koffka auf. 17 | Ganz ähnlich hatte auch Heidegger in Sein und Zeit formuliert: »Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend.« (Heidegger 1927: 149) »Vorprädikativ« meint hier nicht vorsprachlich, sondern im Sinne von vorpropositional, also vor der prädikativen Struktur der Aussage liegend. 18 | Husserl vertrat die These, dass sich das Bewusstsein stets »intentional« auf die von ihm wahrzunehmende Welt richtet und die Art der Gerichtetheit (noesis) des intentionalen Bewusstseins, oder das »Wie« des Denkens, beeinflusst, wie der Inhalt, oder das »Was«
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488), der eben nur solche Aspekte des Wahrnehmungsfeldes erfaßt, die für seine aktuellen oder potentiellen Praktiken von Bedeutung sind. Aus der Annahme, dass der Leib erst in tätiger Interaktion mit seiner unmittelbaren Umwelt, wahrzunehmen und zu handeln lernt, folgt notwendigerweise, dass das implizite Wahrnehmungs- und Praxiswissen des leiblichen Subjekts historisch geprägt ist. Mit seiner gesellschaftlichen Existenz empfängt der Leib also nicht nur »eine Weise zu existieren« (Merleau-Ponty 1966: 517), sondern zugleich eine kulturelle »Wahrnehmungstradition« (Merleau-Ponty 1966: 279). Dieser kollektiv geteilte Existenz- und Wahrnehmungsstil übermittelt sich sowohl über das Körperverhalten und die Sprache der Anderen als auch über all die Artefakte, die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchen. Ähnlich wie Marx und Gramsci behauptet Merleau-Ponty daher: »Der Geist einer Gesellschaft verwirklicht sich, überliefert sich und wird wahrnehmbar in den kulturellen Objekten, die sie sich gibt und mitten unter denen sie lebt. Ihre praktischen Kategorien sedimentieren sich darin, und umgekehrt legen sie den Menschen eine Seinsund Denkweise nahe.« (Merleau-Ponty 2000: 179)
In der materiellen Kultur sind folglich die kollektiven Praktiken einer Gesellschaft – ein spezifisches »man tut« oder »man sieht« – eingelassen. Der wahrnehmende Leib integriert diese Praktiken und Wahrnehmungsmodi in sein Körperschema, sobald er lernt sich der Dinge »zu bedienen, wie andere es tun« (Merleau-Ponty 1966: 405). Die Einführung von neuen oder ungewohnten Gegenständen in eine etablierte gesellschaftliche Ordnung ist demnach nicht einfach nur als bloße Ergänzung oder Erweiterung des Bestehenden zu verstehen. Sie kann eine grundlegende Transformation der Körperschemata und des gesamten »In-der-Welt-Seins« der Subjekte erfordern.
4. M oderne , M odernisierung , M odernismus In Anbetracht dieser existenziellen Dimension der Dingwelt läßt sich Bo Bardis Frontstellung gegen Kubitscheks ehrgeizige Modernisierungs- und Industrialisierungspläne, die einen direkten Import von westlichen Musterlösungen favorisierten, leicht nachvollziehen. Nach Gramsci und Merleau-Ponty verändert sich das ganze Spektrum von Praktiken samt der von ihnen abgeleiteten Bedeutungsordnungen, Selbstverhältnisse und Wahrnehmungsmodi, sobald die materielle Basis dieser Prakti-
(noema) dem Bewusstsein erscheint. Das heißt, das Subjekt nimmt immer »etwas als etwas« wahr (Husserl 1977: 200ff.).
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ken verändert oder gar vernichtet wird.19 In den westlichen Gesellschaften vollzog sich der Wandel von traditionellen zu modernen Ding- und Praxiskulturen über Jahrhunderte hinweg und auf der Grundlage zumeist interner Dynamiken. Demgegenüber werden in kolonial geprägten Kulturen mit stark asymmetrischen Machtverhältnissen tiefgreifende gesellschaftliche Umgestaltungen explizit und in kürzester Frist verordnet. In diesem Sinne hatte bereits Pierre Bourdieu in seiner frühen Ethnologie der »algerischen Übergangsgesellschaft« beobachtet, dass die modernen ökonomischen Produktionsweisen, die von den französischen Kolonisatoren eingeführt wurden, dem inkoporierten Habitus der Bevölkerung nicht entsprachen: »Die Eigenart der Situation ökonomischer Abhängigkeit, deren Extremfall vom Kolonialismus vorgeführt wird, liegt nun darin, daß die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation nicht Endprodukt einer autonomen Entwicklung einer Gesellschaft und deren immanenter Logik der Veränderung ist, sondern Produkt eines exogenen und beschleunigten Wandels, aufgezwungen durch eine imperialistische Macht.« (Bourdieu 2000: 27)
Die »Modernisierung« oder »Hybridisierung« von Dingwelten verläuft also nur dann symmetrisch, wenn der Modernisierungsprozess die lokalen Praktiken und bestehenden Ästhetiken respektiert und davon absieht, Innovationen autoritär zu verordnen.20 So gesehen kann die politisch geförderte Etablierung einer modernistischen Architektur in Brasilien, die sich sinnbildlich im rasanten Bau von Brasìlia als der neuen Hautptstadt niederschlug, als eine »asymmetrische Hybridisierung« gelten. Während sich die funktionalistischen Gestaltungsformen im europäischen Raum mehr oder weniger »organisch« aus den Herausforderungen der urbanen Massengesellschaft, den Organisations- und Produktionsformen des Industriekapitalismus und den künstlerisch-intellektuellen Auseinandersetzungen mit der »Autonomieästhetik« ergeben haben,21 kannte das postkoloniale Brasilien keine vergleichbare, alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen umfassende »Moderni-
19 | In ähnlicher Weise betonen Elizabeth Shove und ihre Ko-Autoren in Dynamics of Practice, dass sich der gesamte sozio-kulturelle Praktikenkomplex transformiert, sobald nur ein Bestandteil von den bereits etablierten Praktiken verschoben oder ausgetauscht wird – seien es die übergeordneten Bedeutungsstrukturen, das implizite (Wahrnehmungs-) Wissen der Subjekte oder die materielle Basis der jeweiligen Tätigkeit (Shove et al. 2012: 21ff.). Für die Frage der »Instabilität« von Praxis siehe auch Schäfer 2013. 20 | Wie Jan Nederveen Pieterse anmerkt, ist jedoch kaum ein Hybridisierungsprozess denkbar, der nicht auf die ein oder andere Weise hierarchisch organisiert ist (Nederveen Pieterse 2009: 118). 21 | Für einen kurzen Überblick über die Sozialgeschichte des Designs siehe etwa Schneider 2005.
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sierung«.22 In den südlich gelegenen Metropolen São Paulo und Rio, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen enormen Industrialisierungs- und Wachstumsschub erlebten, wurde das offizielle kulturelle Leben von einer weißen Mittel- und Oberschicht getragen. Diese setzte sich zu einem Großteil aus europäischen Emigranten und deren Nachfahren zusammen und orientierte sich vornehmlich am Lebensstil der »alten Welt«. Die ökonomischen und sozialen Bedingungen im übrigen Brasilien hatten sich nach Abschaffung der Sklaverei 1888 dagegen nur unwesentlich verändert. Die Wirtschaft basierte weiterhin auf dem Export von Rohstoffen; die Kaffee-, Zucker- und Kakaoplantagen waren immer noch feudal organisiert und das Gros der Landbevölkerung, die sich aus den Nachfahren von Sklaven, Indios und armen portugiesischen Einwanderern zusammensetzte und immerhin zwei Drittel der Gesamtbevölkerung stellte, verfügte über ein lediglich rudimentäres Bildungssystem. Der literarische, künstlerische und architektonische Modernismus, der sich im industrialisierten Süden rasch etablieren und zu einem eigenen Stil weiterentwickeln konnte, hatte mit der vormodernen Realität des Nordostens also nur wenig zu tun. Diese Differenz wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass sich die brasilianische Modernismo-Bewegung in den 1920er Jahren darüber begründete, dass eine Gruppe von »Paulistas« um Mário de Andrade, Oswald de Andrade, Anita Malfatti und Tarsila do Amaral die europäische Primitivismus-Mode auf die eigene Kultur übertrug und in den afrobrasilianischen und indianischen Traditionen nach den eigenen kulturellen »Wurzeln« zu suchen begann (Sansi 2007: 125f.).23 Während sich diese romantisch-sentimentale Imagination einer authentischen »brasilidade« in den folgenden Jahrzehnten dank politischer und wissenschaftlicher Unterstützung als führende, nationalistische Ideologie durchsetzen konnte,24 luden sich in den 1950er Jahren die Auseinandersetzungen um den unterentwickelten Nordosten zuneh22 | Siehe dazu auch die Beiträge aus Kühn/Souza 2006. 23 | Die Semana de Arte Moderne, die vom 11.-18. Februar 1922 in São Paulo stattfand, gilt als der historische Anfang der Modernismo-Bewegung. In den folgenden Jahren gewann vor allem das »Anthropophagie«-Manifest, das Oswald de Andrade 1928 publizierte, an gesellschaftlichem Einfluss. Darin forderte er dazu auf, die »fremde«, d.h. europäische Kulturdominanz zu »kannibalisieren« und zusammen mit den afrobrasilianischen und indianischen Wurzeln in eine eigene, genuin brasilianische Identität zu integrieren. 24 | Um das reformerische Programm des autoritär geführten »Estado Novo« zu stützen und die äußerst heterogenen Bevölkerungsgruppen Brasiliens miteinander zu vereinen, hatte die Vargas-Regierung die vom Modernismo proklamierte »brasildade« zur Basis einer neuen »nationalen Identität« erklärt (Williams 2001). Zu den akademischen Vorreitern der »brasildade« gehörte zudem der aus Recife stammende brasilianische Soziologe Gilberto Freyre, der zwar als Regionalist den São Paulo-Modernismus wegen seiner mangelnenden Authentizität kritisierte, aber grundsätzlich mit deren Gedanken übereinstimmte, dass die nationale Kultur Brasiliens auf seine »ursprünglichen« afrikanischen Wurzeln zurückzuführen sei (Freyre 1965; Freyre 1976).
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mend politisch-marxistisch auf. Wie Bo Bardi und ihre lokalen MitstreiterInnen aus der Movimento de Cultura Popular feststellten, würde ein »Modernismus ohne Modernisierung«25 an den ärmlichen Lebensbedingungen in Salvador nichts ändern, sondern im Gegenteil die historisch gewachsene materielle Kultur und damit auch die alltäglichen Praktiken, ästhetischen Ordnungen und Wahrnehmungsschemata der lokalen Bevölkerung von Grund auf in Frage stellen. Eine entsprechend scharfe Kampfansage gegen den Brasília-Utopismus formulierte Bo Bardi daher bereits in einem der ersten Hefte der Chronicas, einem Wochenblatt, das sie während ihrer Jahre in Salvador herausgab. Hier schrieb sie, dass die unter der Leitung von Lúcio Costa und Oskar Niemeyer geplante neue Hauptstadt »von der monumentalen Aura europäischer Quadrate erstickt« werde und letztlich die Aufgabe verfehle, den Praktiken der Bevölkerung Raum zu geben (Bo Bardi 2013: 57f.).26 Eine solche Entfremdung ließ sich ihrer Ansicht nur verhindern, wenn sich die Designer und Architekten an den lokalen Gestaltungsweisen schulen und zusammen mit Praktikern vor Ort ein neues, angemessenes Design erarbeiten. Es ging Bo Bardi nicht darum, die afrobrasilianische Kultur als »primitivistische« Folklore romantisch zu verklären, sondern die Bevölkerung dabei zu unterstützen, einen eigenen modernistischen Stil zu entwickeln, der ihre praktischen Bedürfnisse und sinnlichen Gewohnheiten aufgreift und weiterträgt: »To carefully search for a cultural basis of a country (whatever they may be: poor, miserable, popular) when they are real, does not mean to preserve the forms and materials, it means to evaluate the original creative possibilities. Modern materials and modern production methods will then replace primitive methods, preserving not the forms, but the underlying structure of those possibilities.« (Bo Bardi 1995: 3)
25 | Nach Néstor Garciá Canclini ist in allen lateinamerikanischen Ländern zu beobachten, dass sich hier ein elitärer literarischer Modernismus unabhängig von einem umfassenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozess entwickeln konnte und dementsprechend wenig Resonanz in der breiteren Bevölkerung fand (García Canclini 1995: 41ff.). 26 | Nur ein paar Jahre zuvor hatte sie in Habitat, der Zeitschrift die sie zusammen mit Bardi zwischen 1950 und 1954 herausgab, den von Le Corbusier uns Max Bill inspirierten brasilianischen Modernismus noch gegen die Kritik verteidigt, er würde zu einem leeren Formalismus neigen (Bo Bardi 2013: 37f.) Ihre spätere Polemik muss zudem insofern relativiert werden, als Lúcio Costa und Oscar Niemeyer selbst daran arbeiteten, ausgehend von der barocken Kolonialarchitektur einen genuin brasilianischen Modernismus zu entwickeln, der sich nicht allein an der funktionalistischen Doxa orientierte (Diniz Moreira 2006; de Campos 2010). Diese neuen modernistischen Formeln wurden teilweise auch im privaten Hausbau aufgegriffen und transformiert (Lara 2008). Für einen Überblick über die Entwicklung des brasilianischen Modernismus siehe auch Andreoli/Forty 2004.
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5. E ine A rchäologie der F ormen Um die kreativen und ästhetischen Vermögen der afrobrasilianischen Kultur für einen Modernismus »von unten« mobilisieren zu können, galt es Bo Bardi zufolge zunächst die bestehenden Dingwelten und ihre inneren Formgesetze genauestens zu studieren. »We need to immediately demystify any romanticism regarding popular art, we must rid ourselves of all paternalistic mythology and look with cold criticism and historic objectivity into the picture of Brazilian culture, where popular art belongs, what its true significance is, what its utilization beyond the ›romantic‹ schemes of dangerous popular folklore is.« (Bo Bardi 1995: 3)
Allein durch eine sorgfältige, archäologische Untersuchung von »small shards, shreds, small chips and small remains«, so Bo Bardi weiter, könne die »Geschichte der Zivilisationen« rekonstruiert werden. Im engen Austausch mit einigen ihrer intellektuellen und politischen Weggefährten, wie Glauber Rocher, Martim Gonçalves oder Pierre Verger27 unternahm sie daher zwischen 1958 und 1964 ausgiebige Forschungsreisen im Hinterland von Bahia und Pernambuco, dem sogenannten »Sertão«. Auf den Märkten rund um den São Francisco River, der Hauptverkehrsader des Sertão, erwarb sie nicht nur zahlreiche Artefakte, die den Grundstock für ihr späteres Volkskunstmuseum bilden sollten. Sie legte auch ein umfangreiches, bisher unveröffentlichtes Fotoarchiv an, das sowohl ihre Reisen als auch die eigene, stetig wachsende Sammlung dokumentierte. An diesen Fotografien ist besonders bemerkenswert, dass sie trotz der Rede von der »kreativen Energie« des einfachen Volkes von einer recht nüchternen, ja geradezu anti-humanistischen Forschungshaltung zeugen. Denn statt beim Subjekt als der zentralen produktiven und sinnstiftenden Instanz anzusetzen, konzentriert sich Bo Bardi darauf, die eigenlogische, relationale Ordnung der materiellen Kultur festzuhalten. Dazu gehörten die aus Holz geschnitzten »Ex-Votos« ebenso wie Haushaltsgegenstände, Bauten oder materiale Texturen (Abb. 2-4).
27 | Pierre Verger war ein französischer Fotograf und ethnologischer Autodidakt, der sich insbesondere für die westafrikanischen Wurzeln der Bahianischen Kultur interessiert hatte. 1989 entwarf Lina Bo Bardi in Salvador ein Ausstellungs- und Tagungsgebäude für die Pierre Verger Stiftung, das Casa do Benin.
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Abbildung 3: Ex-Votos, Fotografien aus Lina Bo Bardis Forschungsarchiv
Im Unterschied zu den brasilianischen Ethnologen und Sozialwissenschaftlern ihrer Zeit, die sich vornehmlich an der französischen Schule orientierten,28 ging es ihr weder um die sozialen Strukturen und Bedeutungen, die sich hinter der materiellen Kultur verbergen, noch um einen wissenschaftlichen »Objektivismus«. Ihr intuitives Interesse galt den »anonymen« Mustern und Regelmäßigkeiten, die sich auf der Oberfläche der Dingwelt abzeichnen. Mit dieser Betonung der formalen Serialität der Volkskunst, die durch die strenge fotografische Inszenierung noch unterstützt wird, schließt Bo Bardi an eine Behauptung an, die sie in einer architekturtheoretischen Propädaeutik bereits 1957 formuliert hatte. Im impliziten Rekurs auf Gramsci und Zevi hatte sie dort argumentiert, dass die einheitliche Gestaltung der materiellen Kultur nicht notwendigerweise auf industrieller Produktion beruht, sondern bereits in der impliziten Systematik der traditionellen oder vormodernen Herstellungspraktiken angelegt ist: »Serial Pro28 | Die erste Ethnologische Gesellschaft Brasiliens wurde Mitte der 1930er Jahre von der Ethnologin Dina Dreyfus, der damaligen Frau von Claude Lévi-Strauss, zusammen mit dem Schriftsteller und späteren Musikethnologen Mário de Andrade, einem der Ko-Organisatoren der Semana de Arte Moderna von 1922, gegründet. Während dieser Zeit unternahmen Dreyfus und Lévi-Strauss erste Forschungsreisen in das Amazonasgebiet, deren Ergebnisse Lévi-Strauss in seinem Buch Traurige Tropen verarbeitete (Lévi-Strauss 1978). 1938 wurde zudem der von Halbwachs inspirierte französische Anthropologe und Soziologe Roger Bastide auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität São Paulo berufen.
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duction, which must now be taken into account as a basis of modern architecture, exists in nature itself, and intuitively, in ›popular work‹« (Bo Bardi 2014: 95). Das methodologische und theoretische Potential von Bardis Archiv erschöpft sich jedoch nicht in dieser Beobachtung. Vielmehr soll hier die These aufgestellt werden, dass ihre formalistische Herangehensweise trotz mangelnder wissenschaftlicher Strenge an eine andere, ungleich bekanntere »Archäologie« erinnert: an die diskursanalytischen Methode, die Michel Foucault ungefähr zur gleichen Zeit im Rahmen seiner historischen Aufarbeitung der Humanwissenschaften ausformulierte. Wie Bo Bardi ging es auch Foucault weniger um das individuelle Sinnverstehen der Subjekte als um jene anonymen Wissensordnungen, die sich in der »topologischen« Verteilung der quasi-materiellen Aussageformationen offenbaren. Abbildung 4: Holzlöffel, Fotografien aus Lina Bo Bardis Forschungsarchiv
Diese Parallelisierung einer künstlerischen und einer philosophischen Arbeitsweise ist nicht ganz so abwegig wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Schließlich läßt sich Foucaults archäologische Diskursanalyse als eine Weiterentwicklung jener materialistischen Praxistheorie verstehen, die auch Bo Bardis Recherche bestimmt hat. Wie Gramsci und Merleau-Ponty, einer seiner Lehrer, geht auch Foucault davon aus, dass die Subjektwerdung von den materiellen Ordnungen der empirischen Welt bedingt wird. Während sich Merleau-Ponty indessen nicht so recht entscheiden wollte, ob er nun dem »synthetisierenden« Leib oder
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der äußeren objektiven Kultur den Vorrang einräumen sollte,29 zeichnet sich Foucaults archäologische Perspektive dadurch aus, dass sie vom »aktiven« Subjekt gänzlich abstrahiert, um ausschließlich in den objektiven Strukturen das »historische apriori« der kollektiven Denk- und Handlungsweisen zu suchen. Diese »dezentrierende« Perspektive hat aus praxistheoretischer Sicht den Vorteil, dass sie noch viel entschiedener als die Leibphänomenologie die sozio-kulturelle Überformung des Subjekts in den Blick zu nehmen erlaubt. Bo Bardis Archiv verweist allerdings auf einen Typus von »objektiven Strukturen« – die formale Ordnung der Dinge –, dem Foucault zumindest in seiner archäologischen Phase keine praxis- und subjektkonstitutive Eigenlogik einräumt. Obwohl er in einigen frühen Texten mit dem Gedanken gespielt hat, eine der Diskursanalyse analoge Perspektive auf den Zusammenhang von Wahrnehmung und Bildlichkeit auszuarbeiten,30 lässt er in der Archäologie des Wissens keinen Zweifel daran, dass allein der sprachliche Diskurs alle Praktiken und Wahrnehmungsweisen – d.h. auch die gestalterischen und künstlerischen – bedingt. So hätte eine archäologische Analyse der Malerei folgendes Ziel: »Sie würde untersuchen, ob der Raum, die Entfernung, die Tiefe, die Farbe das Licht, die Proportionen, die Inhalte, die Umrisse in der betrachteten Epoche nicht in einer diskursiven Praxis benannt, geäußert und in Begriffe gefaßt worden sind; und ob das Wissen, dem diese diskursive Praxis Raum gibt, nicht in Theorien und vielleicht Spekulationen, in Unterrichtsformen und in Verschiebungen, aber auch Verfahren, in Techniken und fast in der Gebärde des Malers angelegt war.« (Foucault 1981: 276)
Eine solche diskurstheoretische Analyse der künstlerischen Produktion kann jedoch nur gelingen, wenn es tatsächlich so etwas wie ein allgemein verbindliches »Curriculum« gibt. Demgegenüber hat Bo Bardi immer wieder betont, dass die afrobrasilianische Volkskunst nicht auf organisierten Zünften oder »Schulen« basiert, wie das etwa im italienischen Handwerk der Fall war, sondern auf rudimentären, sporadischen Produktionsweisen, die eher aus der Not geboren waren, denn aus einer tradierten, kanonischen Ausbildung (Bo Bardi 1995: 4). Aufgrund des verbreiteten Analphabetismus in der Region gab es zudem kaum Texte, die sich zu einem Diskurs hätten verdichten können.
29 | In diesem Sinne kritisiert etwa Waldenfels, dass Merleau-Ponty dazu tendiert, »die Privilegien des Bewusstseins lediglich an eine andere Instanz, nämlich den Leib« zu deligieren (Waldenfels 1983: 177). 30 | Ansätze für eine »Bild-Diskurs-Analyse« finden sich etwa in dem viel diskutierten Velasquez-Kapitel aus Die Ordnung der Dinge (Foucault 1974: 37ff.), in dem Vortrag Die Malerei von Manet (Foucault 1999) sowie seiner Abhandlung über die Ikonographie von Panofsky Worte und Bilder (Foucault 2001). In allen diesen Texten schreibt Foucault den Formen der bildlichen Darstellung eine gewisse Eigenlogik gegenüber dem Diskurs zu.
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Im Rückgang auf Merleau-Pontys Ausführungen zu den Artefakten als Vermittler einer »Existenzweise« lässt sich aber auch die nicht-diskursive Relation zwischen der Ordnung der Dinge und der Formierung von Subjektivität archäologisch fassen. So wäre davon auszugehen, dass die jeweils vorherrschenden Artefaktordnungen den Leib als wahrnehmende und handelnde Instanz allererst hervorbringen. Die kulturellen Wahrnehmungsschemata wären dementsprechend als Effekt der visuellen und haptischen Häufungen, Verteilungen und Muster zu interpretieren, die sich aus der Topologie oder Formation der empirischen Dingwelten ergeben. Wie unter Hinweis auf Foucaults späteren Kritik- und Merleau-Pontys Freiheitsbegriff im Folgenden näher begründet werden soll, determiniert eine solche »Topologie der Formen« das Wahrnehmungs- und Praxiswissen keinesfalls, sondern eröffnet vielmehr einen dispositiven »Möglichkeitsraum«, der eine ganze Spannbreite von Sicht- und Verhaltensweisen zulässt.31
6. E in lebendiges M useum Mit ihrer umfassenden archäologischen Analyse wollte Bo Bardi sowohl der kulturellen Elite als auch der lokalen Bevölkerung vor Augen führen, dass die ärmlichen Produktions- und Gestaltungspraktiken des Nordostens für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft nicht einfach nur unbedeutend oder gar wertlos sind, sondern ein kreatives und innovatives Potential in sich bergen, das es zu nutzen und zu fördern gilt. Im begleitenden Text zur Ausstellung nimmt sie eine entsprechend kämpferische Haltung ein: »This exhibition is an accusation. An accusation of a world that does not want to renounce its human condition in spite of forgetfulness and indifference. It is not a humble accusation, and counterpoints a desperate effort of culture to the degrading conditions imposed by men.« (Bo Bardi 1995: 5)
Bo Bardi ging es darum der allgemeinen Mißachtung der lokalen Traditionen und Lebensweisen eine widerständige Praxis entgegenzuhalten, die durch die Arbeit am Bestehenden die eigenen gesellschaftlichen Begrenzungen zu transzendieren vermag. Eine solche Vorstellung von Kritik als einer beständigen, auf die konkreten Dispositive bezogenen Selbstaufklärung findet sich in ähnlicher Form sowohl bei Gramsci und Freire32 als auch bei Merleau-Ponty und Foucault. 31 | Für eine ausführliche Herleitung des Arguments und einen kritischen Vergleich von Foucaults und Merleau-Pontys Visualitätstheorien siehe auch Prinz 2014. 32 | Nach Gramsci ist die Selbstaufklärung und Selbsterziehung der Subalternen eine der Grundlagen dafür, dass Kritik an der bürgerlichen Hegemonie geübt werden kann (Merkens 2012). Ebenso ging Paulo Freire davon aus, dass die Armen und Unterdrückten zunächst lernen müssen, das negative Selbstbild, das ihnen von der hegemonialen »Kultur des
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So schreibt etwa Merleau-Ponty im Hinblick auf die revolutionären Kräfte der unterprivilegierten Gesellschaftsschichten: »Dahin wird man gelangen, indem man den Menschen als ›leidendes‹ oder ›sinnliches‹ Sein definiert, das heißt als natürlich und sozial situiert, aber auch als offen, aktiv und fähig, genau auf dem Terrrain seiner Abhängigkeit seine Autonomie zu errichten.« (Merleau-Ponty 2000: 177)
Oder, wie es Foucault in seinem einflussreichen Aufsatz »Was ist Kritik« bündig formuliert: Die Kritik ist eine »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12), was soviel bedeutet wie: nicht zu irgendwelchen Konditionen, die von außen an die Subjekte herangetragen werden. Während Foucault den Begriff der Kunst in diesem Zusammenhang mehr im Sinne von praktischer »Lebenskunst« verwendet, nimmt das »Künstlerische« der Kritik im Falle von Bo Bardi ganz konkrete Formen an. Um einem Publikum, das des Lesens und Schreibens vielleicht nicht mächtig ist, eine solche »Praxis der Freiheit« und der »Selbsterziehung« vermitteln zu können, bedarf es eines ästhetischen Mediums, das eine kritische Reflexion allein mithilfe eines formalen, über die bloße Wahrnehmung erfassbaren Arguments anregen kann. Die Ausstellung, mit der Bo Bardi im Oktober 1963 das Museo de Arte Popular (MAP) in der Solar do Unhão, einer ehemaligen Zuckersiederei an der Küste von Salvador, eröffnete, kann als ein solches ästhetisches Medium der Reflexion gelten. Unter dem programmatischen Titel Nordeste waren hier all die Alltagsdinge der Region, die Bo Bardi auf ihren Forschungsreisen zusammengetragen hatte, auf den beiden lichtdurchfluteten Etagen der Solar do Unhão angeordnet. Nicht in der Weise allerdings, wie man es von den Märkten oder einfachen Behausungen gewohnt war, sondern ganz systematisch in einem modernistischen Display, das die Serialität und implizite Modernität der Objekte betonte (Abb. 5). Eine solche »Befremdung« des Eigenen machte es möglich, hinter die kulturell eingeschliffenen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata zurück zu treten und den Auf bau der Dingwelten sowie die darin implizierte Lebensauffassung mit einem neuen, anerkennenden Blick zu studieren. Das Museum sollte jedoch nicht nur einen Ist-Zustand konservieren, wie es in den klassischen europäischen Institutionen der Fall ist, sondern war zudem als Schulungszentrum für angehende Designer geplant, die in den angrenzenden Werkstätten die lokalen Produktions- und Gestaltungstechniken erlernen und weiterentwickeln würden. Getragen wurde dieses »aktivierende« Moment durch eine breite Wendeltreppe in der Mitte des Raumes, der einzigen architektonischen Intervention, die Bo Bardi in dem ehemaligen Kolonialgebäude vorgenommen hatte. Wie der Architekt Aldo van Eyck bemerkte, vermittelt diese Treppe ihrem Benutzer nicht nur Schweigens« auferlegt wird, kritisch zu hinterfragen und das Eigene zu affirmieren (Freire 1979).
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ein Gefühl der Erhabenheit, sondern setzt ihn auch für die Umstehenden in Szene. Die gesellschaftlich und ökonomisch unterprivilegierten Menschen erhalten hier eine Bühne, auf der sie in Erscheinung treten können (Buergel 2011: 56). Abbildung 5: Installationshot der »Nordeste«-Ausstellung im MAP, 1963
Die ästhetische Funktionsweise von Bo Bardis Ausstellungsdisplay weist, so gesehen, gewisse Ähnlichkeiten zu dem auf, was Merleau-Ponty als die bildhafte »Theorie des Sehens« (Merleau-Ponty 2003: 284, 287) bezeichnet hatte: das Vermögen der modernen Malerei, die kulturellen Sehgewohnheiten »einzuklammern« und zum primordialen »Zur-Welt-Sein« des Blicks vorzudringen. Allerdings ging es in der Nordeste-Ausstellung nicht um ein utopisches, »ursprüngliches Sehen« jenseits aller sozialen und kulturellen Ordnungen, sondern um eine emanzipatorische Praxis, die sich über ihre eigenen Daseinsbedingungen aufklärt und erst auf dieser Grundlage ihre »relative Freiheit« (Foucault 2005: 287) gewinnt.33 Bevor dieses Experiment auch nur hätte Früchte tragen können, wurde das Museo de Arte Popular kurz nach dem Militärputsch 1964, dem eine 20jährige Diktatur folgen sollte, wieder geschlossen. Dennoch lässt sich aus Bo Bardis künstlerischer Forschung für die Zukunft lernen. Ihre quasi-ethnographische Analyse der »formalen« oder »sinnlichen« Ordnung der Dinge weist nicht nur auf theoretische Leerstellen innerhalb der praxistheoretischen Debatte hin, die 33 | Merleau-Ponty spricht analog dazu von »bedingter Freiheit« (Merleau-Ponty 1966: 514).
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bis dato weder die soziale und politische Dimension der ästhetischen Form noch die Frage der »Hybridisierung« und »Transkulturalisierung« von interobjektiven Praktiken systematisch berücksichtigt hat. Bo Bardis fotografische Methode deutet zudem an, dass sich diese Aspekte als »archäologische« Bestandsaufnahme von formalen »Häufungen« in die empirische Analyse von Dispositiven methodisch einbinden lassen. Als die zentrale Errungenschaft muss aber Bo Bardis Museumsdisplay gelten, das deutlich macht, was die »Ausstellung« als alternatives Medium der Wissensvermittlung leisten kann: die Begrenzungen und Potentiale der bestehenden materiellen Daseinsbedingung mithilfe eines formalen Arguments analytisch zu durchdringen und buchstäblich einsichtig zu machen. Die Recherchen zu diesem Beitrag sind im Rahmen eines mehrjährigen Ausstellungs- und Forschungsprojekts des Johann Jacobs Museum (Zürich) entstanden. Mein Dank gilt insbesondere Silvana Rubino, Zeuler R. M. De A. Lima, Marcelo Rezende sowie Roger M. Buergel für Anregungen und Hinweise sowie dem Instituto Lina Bo e P.M. Bardi (São Paulo) für die Bereitstellung des Archivmaterials.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: Feira de São Joaquim (1936) © Sophia Prinz Abbildung 2: Lamparinas, Fotografien aus Lina Bo Bardis Forschungsarchiv, 1950/60er Jahre © Instituto Lina Bo e P.M. Bardi Abbildung 3: Ex-Votos, Fotografien aus Lina Bo Bardis Forschungsarchiv, 1950/60er Jahre © Instituto Lina Bo e P.M. Bardi Abbildung 4: Holzlöffel, Fotografien aus Lina Bo Bardis Forschungsarchiv, 1950/50er Jahre © Instituto Lina Bo e P.M. Bardi Abbildung 5: Installationshot der »Nordeste«-Ausstellung im MAP, 1963 © Insti-
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1. W ider die S oziologie als M enschenwissenschaf t Soziologie ist, wie ihr Name sagt, die Wissenschaft vom Sozialen. »Sozial«, vom Lateinischen »socius« abstammend, bedeutet »gemeinsam«, »gemeinschaftlich«, »verbunden« beziehungsweise »Gefährte«, »Verbündeter«, »Kamerad«. Nimmt man diese Definition ernst, ist es offenkundig, dass sich die Soziologie nicht nur mit Menschen und menschlichem Zusammenleben auseinander setzen kann. Gemeinsame, verbindende Situationen werden keineswegs nur mit anderen Menschen erlebt, wie auch der Gefährte, Kamerad oder Verbündete keineswegs immer ein anderer Mensch sein muss. Tiere, Pflanzen, Engel, Geister und Götter sind für viele genauso Sozialpartner wie auch Dinge und Objekte aller Art, erkennbar etwa am Fetischismus. Würde die Soziologie sich also selbst beim Wort nehmen, hätte sie die soziale Relevanz nichtmenschlicher Entitäten immer schon anerkennen und sich als eine »transhumane Soziologie« (Uzarewicz 2011) entwerfen müssen. Stattdessen aber versteht sich die Soziologie traditionell als Humanwissenschaft, konkret als jene Wissenschaft, die sich mit dem sozialen Handeln von Menschen und den von Menschen geschaffenen Institutionen befasst. Ausnahmen dieses Selbstverständnisses der Soziologie als einer Menschenwissenschaft gibt es gleichwohl. Dazu zählt beispielsweise die soziologische Systemtheorie, in deren Theoriegebäude überhaupt keine Menschen existieren, sondern organische und psychische Systeme, die zu den Umwelten sozialer Systeme gehören (Luhmann 1984). Spätestens seit Thomas Luckmanns Überlegungen zu den »Grenzen der Sozialwelt« (1980) wird auch in manchen soziologischen Handlungs- und Akteurstheorien die Beschränkung des Sozialen auf Menschen in Frage gestellt. Im Hinblick auf die Integration von Dingen und Artefakten in Konzepte des Sozialen hat sich dabei in der jüngeren Vergangenheit
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insbesondere die Praxissoziologie, einschließlich der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), als Kritikerin eines anthropologisch reduzierten Verständnisses von Sozialität hervorgetan.1 So begreift beispielsweise die ANT menschliche und nicht-menschliche Akteure als gleichwertige »Aktanten«, die zusammen Gesellschaft im Sinne eines netzwerkartig organisierten »Kollektivs« bilden (Latour 2010). Dinge und Artefakte sind für die ANT nicht nur Vermittler oder Bindeglieder zwischen den Handlungen von Menschen oder »die glücklosen Träger symbolischer Projektionen« (Latour 2010: 25), sondern im Verhältnis zu Menschen »symmetrische« Akteure (Latour 1995). In der »symmetrischen Anthropologie« Latours bleibt allerdings die entscheidende Frage unbeantwortet, wie die Beziehung und der Kontakt zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren konkret aussieht (Uzarewicz 2011: 144). Offen bleibt bei der ANT genauer gesagt, was das Kriterium dafür ist, dass die Beziehung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren eine soziale und nicht zum Beispiel eine physikalische oder chemische ist. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage liefern auch jene Ansätze der Praxissoziologie nicht, welche Artefakte primär unter dem Gesichtspunkt der Trägerschaft »sozialen Wissens, sozialer Fähigkeiten und Zweckmäßigkeiten« (Schmidt 2012: 63) betrachten. Robert Schmidt beispielsweise versteht Dinge und Artefakte als »materielle Partizipanden des Tuns« (Hirschauer 2004), die gegenüber menschlichen Akteuren nachrangige Partizipanden des Sozialen seien, weil sie »ihre Mitwirkung an Praktiken nicht selbst formulieren« und »den übrigen Teilnehmern in diesem Sinne nicht zugleich Verstehenshilfen mit auf den Weg« geben können (Schmidt 2012: 69).2 Das ist erstens eine recht konventionelle Auffassung, wird hier doch offenkundig die Bewusstseins- und Sprachfähigkeit des Menschen als Kriterium herangezogen, um die soziale Vorrangigkeit menschlicher Akteure zu begründen. Zweitens bleibt zudem unklar, wie oder wodurch die Dinge und Artefakte zu echten Akteuren des Sozialen werden anstatt bloße Randoder Rahmenbedingung sozialer Prozesse zu bleiben. Das der Wahrnehmungspsychologie entlehnte Konzept der »affordances« (Gibson 1979) deutet zwar an, wie nicht-menschliche Objekte zu sozialen Mitspielern werden können. Doch zum einen sind auf dieses Konzept bezogene Aussagen wie jene, dass Objekte »praxisspezifische Gebrauchsgewährleistungen« seien (Schmidt 2012: 66) und den menschlichen Akteuren Handlungs-»Angebote« machten (Schmidt 2012: 1 | Zur ANT vgl. auch Belliger/Krieger 2006; Latour 1995, 2010; zur Praxissoziologie Reckwitz 2003 sowie Schmidt 2012. Davor hatte beispielsweise schon Hans Linde (1972) auf die Bedeutung von »Sachen« für soziale Beziehungen und Verhältnisse hingewiesen. Auch Durkheim und Mead hatten zumindest über die soziale bzw. sozialisatorische Relevanz von Dingen nachgedacht (Uzarewicz 2011: 135f.). 2 | Aus dem Grund vertritt die Praxissoziologie im Gegensatz zur ANT nicht deren Symmetriethese. Das Verhältnis von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren gilt ihr als ein asymmetrisches.
Rober t Gugut zer — Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen
67), begrifflich unscharf bzw. empirisch ungenau. Zum anderen wird nicht ersichtlich, wie die Praxeologie dem Angebots-, Auf- und Anforderungscharakter von Objekten auf die Spur kommen will, sofern ihr zentrales methodologisches Gebot darin besteht, soziale Prozesse auf der Grundlage von Beobachtungen zu analysieren (Schmidt 2012: 44ff.). Das Angebot einer Türklinke, sie mit der Hand zu ergreifen und nach unten zu drücken, ist jedenfalls nicht beobachtbar; beobachtbar sind nur die Türklinke und die Hand, die nach ihr greift und sie bewegt. So verdienstvoll die soziologische Aufwertung von Dingen und Artefakten durch die ANT und Praxissoziologie ist, so diffus bleibt also ihr Nachweis, wie oder wodurch genau menschliche und nicht-menschliche Akteure füreinander soziale Akteure werden. Zur Kennzeichnung des sozialen Charakters einer Beziehung aber braucht es ein Kriterium. Meine These lautet: Das empirische Kriterium für eine soziale Beziehung zwischen Menschen und Dingen (wie auch zwischen Menschen und Tieren) ist der Leib, genauer gesagt das leiblich-affektive Betroffensein. Eine soziale Beziehung liegt vor, wenn einer der Akteure von dem oder den Anderen leiblich affiziert ist. Alter ist für Ego ein soziales Gegenüber, sofern Ego Alter am eigenen Leib spürt, wobei Alter eben kein Lebewesen sein muss, sondern auch ein Ding sein kann. Fehlt das leiblich-affektive Betroffensein, handelt es sich um eine Situation, in der zwar Körper (menschliche und/ oder nicht-menschliche) anwesend sein mögen (oder auch nur imaginiert werden), allerdings ohne damit bereits in einer sozialen Beziehung zu stehen. Mit Hermann Schmitz, dessen Neue Phänomenologie dieser Argumentation zugrunde liegt, heißt das: Dinge und Sachen werden erst durch »leibliche Kommunikation« für Menschen zu sozialen Interaktionspartnern (Schmitz 1978: 75-109, 2007: 135-153, 2011: 29-53). Die These soll im Folgenden anhand von Beispielen aus dem Sport erläutert werden.3 Der Sport ist hierfür ein prädestiniertes Handlungsfeld, weil Dinge im Sport von konstitutiver Bedeutung sind. Tennis ohne Tennisschläger, Bälle, Netz, Linien etc. wäre irgend eine Art von Körperpraxis, aber kein Tennis; Radsport ohne Fahrräder existierte so wenig wie der Speerwurf ohne Speer oder der Hürdenlauf ohne Hürden. Im Unterschied zum Sport und seinen diversen Sportarten scheinen andere Handlungsfelder eine größere Ding- und Sachtoleranz aufzuweisen.4 Vorab eine terminologische Differenzierung: Im Sinne der Neuen Phänomenologie unterscheide ich im Weiteren Dinge, Sachen und Halbdinge. Mit Dingen sind natürliche Gegenstände wie Felsen, Bäume oder Wasser gemeint, mit Sachen 3 | Empirische Datengrundlage der folgenden Ausführungen sind schriftlich ausformulierte Erfahrungsberichte von Studentinnen und Studenten der Sportwissenschaft, die sie im Rahmen eines von mir geleiteten Seminars an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. im Sommersemester 2011 angefertigt hatten. Die folgenden Zitate sind anonymisiert. 4 | So sind zum Beispiel für die Wissenschaft und ihre einzelnen Disziplinen Dinge wie Mikroskope, Fernrohre, Computer, Beamer oder Mikrofone nicht konstitutiv, sie erleichtern lediglich die wissenschaftliche Arbeit.
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artifizielle Gegenstände wie Bälle, Schläger oder Hallen (Uzarewicz 2011: 296), und »Halbdinge« (Schmitz 2003: 14ff., 22ff.) sind Phänomene, die zwischen Dingen und bloßen Sinnesqualitäten liegen.5 Beispiele für Halbdinge sind die Stimme, der Blick, der Wind, die Nacht, die Zeit, Melodien oder Gefühle im Sinne leiblich ergreifender Atmosphären. Ich beginne mit der Beschreibung der leiblichen Dimension von Sportgeräten und Sportelementen (2.), erläutere die Sachzwänge, die Sportgeräte und -elemente auf Sportlerinnen und Sportler ausüben (3.), setze mich im Besonderen mit der »Sachdominanz« (Linde 1972) qua Bewegungssuggestion auseinander (4.) und gehe schließlich auf den leiblichen Aneignungsprozess von Sportsachen ein (5.). Das Fazit verallgemeinert die empirischen Ausführungen und plädiert dafür, leibliche Kommunikation als grundlegende Quelle des Sozialen anzuerkennen (6.).
2. L eibqualitäten von S portger äten und S portelementen Dinge und Sachen sind keine leblosen Objekte in der Hinsicht, dass Menschen sie neutral wahrnähmen und unpersönlich mit ihnen umgingen. Es gibt Pullover, die auf der Haut kratzen, Hemden, die zu eng oder zu weit sitzen, Schuhe, die drücken, Stühle, die wackeln, Tapetenmuster und Wandfarben, die abstoßend oder erfrischend wirken, stickige Wohnungen und solche, die ein Gefühl der Freiheit vermitteln, Autos und Motorräder, die schnurren usw. Zu manchen Gegenständen entwickeln Menschen richtiggehend emotionale Bindungen (Habermas 1999, Kap. V), ohne dass sie selbst Gründe dafür benennen könnten, warum ausgerechnet diese und nicht jene Tasse ihre Lieblingstasse ist. Dinge und Sachen haben mithin eine leiblich-affektive Qualität, die den Umgang mit ihnen prägt. Entsprechend haben auch Sportgeräte (Sachen) und Sportelemente (Dinge) einen leiblichen Charakter, der subjektiv bedeutsam und damit auch für das sportliche Handeln und Interagieren relevant ist. So beschreibt Timo die leibliche Qualität eines Basketballs wie folgt: »Dabei ist es von großer Bedeutung, welches Gefühl man für den Ball entwickelt, denn nicht jeder Ball ist gleich zu dribbeln, werfen oder fangen. Unterschiede gibt es vor allem an der äußeren Spielfläche, ob diese zum Beispiel eher ›glatt‹ oder eher ›griffig‹ ist. Da der Basketball viele kleine Noppen auf seiner Außenseite besitzt, sollte man annehmen, dass sich so ein Unterschied eigentlich erst gar nicht entwickelt, doch in der Praxis ist er vorhanden. […] Auch macht es einen Unterschied, ob der Ball durch schwitzige Hände nass und somit eher ›glatt‹ wird, oder ob dieser ›trocken‹ gespielt wird und somit natürlich mehr ›Gripp‹ aufweist.« 5 | »Halbdinge kommen und gehen, wo sie in der Zwischenzeit waren, ist irrelevant (inkonsistente Dauer), und sie weisen eine zweigliedrige Kausalität auf, das heißt, Ursache und Einwirkung fallen zusammen (kausale Unmittelbarkeit).« (Gugutzer 2012: 37; vgl. dazu auch Schmitz 2003: 14)
Rober t Gugut zer — Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen
Menschen entwickeln Sachen gegenüber ein »Gefühl«, wie Timo hinsichtlich des Basketballs sagt, wobei dieses Gefühl unter anderem von deren Oberflächenbeschaffenheit abhängt. Je nach Art der Beschaffenheit variiert die Interaktion mit dem Gegenstand. Ist die Oberfläche des Basketballs »nass« und »glatt«, muss man mit dem Ball anders umgehen als wenn er »trocken« und »griffig« ist und seine Noppen deutlicher spürbar sind. »Nass«, »glatt«, »trocken«, »griffig« sind leiblich wahrnehmbare Qualitäten des Basketballs. Diese leiblich gespürten Qualitäten des Basketballs sind alles andere als nebensächlich, wie das Zitat belegt, sie sind vielmehr die Haupt-Sache. Eine traditionelle soziologische Interpretation der Beschreibung Timos liefe vermutlich darauf hinaus, den Basketball als Medium zu bezeichnen, das eine Verbindung zwischen den Spielern herstellt. Die neophänomenologische Interpretation hebt hingegen hervor, dass der Ball nicht bloß Medium, sondern Akteur ist, mit dem der Spieler eine zeitlich begrenzte soziale Beziehung eingeht, eben weil der Spieler vom Ball leiblich affiziert wird. Die Interaktion von Spieler und Ball ist die primäre, während die Interaktionen mit den Mitspielern – etwa in Gestalt von Spielzügen – sekundär sind, da diese von jenen abhängen. Wer den Ball nicht fangen kann, weil er rutschig ist, kann auch keinen Pass spielen. Mit einem Ausdruck von Schmitz handelt es sich bei den leiblichen Qualitäten von Dingen und Sachen um »synästhetische Charaktere«. Synästhetische Charaktere sind die »so genannten intermodalen, die verschiedenen Sinnesgebiete […] quer verbindenden Qualitäten« (Schmitz 2005: 176ff.), wie zum Beispiel hell und dunkel, warm und kalt, glatt und rau, zäh und flüssig, hart und weich. Hart oder weich kann nicht nur ein Ball sein, sondern auch eine Stimme, ein Kissen, Musik, Licht oder Wasser. Synästhetische Charaktere stellen Schmitz zufolge »Brücken leiblicher Kommunikation« dar, da sie es sind, die zwischen den Interaktionspartnern vermitteln. So ist beispielsweise warmes, weiches, zähes Wasser für einen Schwimmer ein anderer Interaktionspartner als kaltes, hartes oder geschmeidiges Wasser. Als dieser je spezifische leibliche Interaktionspartner kann das Wasser Einfluss nehmen auf die sportliche Leistung, wie die Ausführungen von Mihalyi nahe legen: »Schwimme ich beispielsweise im ›Name des Schwimmbades‹ in ›Stadtteilname‹, wirkt Bewegung relativ weich (›weiches Wasser‹) jedoch aber gleichzeitig dickflüssig (das Wasser). 6 Ich empfinde zu keiner Zeit den Ansporn Höchstleistungen zu erbringen. Ist es jedoch ein wohltemperiertes Bad, mit Temperaturen zwischen 20 und 25 Grad, erscheint mir das Wasser auch noch weich, aber etwas durchlässiger, was sich auch positiv auf die Motivation auswirken kann.«
Mihalyi empfindet das Wasser in dem städtischen Freizeit- und Erlebnisbad als »dickflüssig« aufgrund seiner relativ hohen Temperatur: Es ist zu warm. Dickflüssiges Wasser ist für ihn augenscheinlich ein zäher Interaktionspartner, der schwieriger zu bezwingen ist als ein weniger warmes (»wohltemperiertes«) und 6 | Gemeint ist: Die Bewegung ist weich, weil das Wasser weich ist.
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damit »durchlässigeres« Wasser. Die sportliche Leistung beim Schwimmen hängt für Mihalyi somit primär mit der leiblich spürbaren Qualität des Wassers zusammen. Die psychologische Komponente »Motivation« scheint demgegenüber sekundär, der leiblichen Wahrnehmung des Sportelements nachgeordnet.
3. S achz wänge oder die leibliche M acht der S portsachen Dinge und Sachen werden zu leiblichen Interaktionspartnern7 aufgrund ihrer von menschlichen Akteuren wahrgenommenen Leibqualitäten. Sie werden das im Besonderen, wenn ihr leiblicher Charakter von einer Autorität ist, der man sich schlechterdings nicht entziehen kann, wie zum Beispiel der Leitplanke, die den Autofahrer zwingt, nicht zu weit von der Fahrbahn abzukommen. Der Autoritätsgrad von Dingen, Sachen und Halbdingen (z.B. des Windes oder dem Ton der Autohupe) variiert selbstredend und mag sich auf einem Spannungsbogen von minimaler leiblich-affektiver Auf- oder Anforderung über eine mehr oder minder starke Nötigung8 hin zu maximalem Zwang verteilen – die Leitplanke zwingt stärker zum Einhalten der Spur als die farbliche Fahrbahnbegrenzung. Wie groß die leibliche Macht der Dinge, Halbdinge und Sachen auch sein mag, sie reicht im Alltag und Sport regelmäßig dafür aus, dass sich Menschen auf eine bestimmte Weise verhalten, auf die sie sich bei ihrer Abwesenheit nicht verhalten würden. Ohne die Sieben-Meter-Linie im Handball würden sowohl die Verteidiger näher am eigenen Tor stehen als auch die Angreifer der gegnerischen Mannschaft näher ans Tor heranrücken. Den Anmutungen, Aufforderungen und Nötigungen der Dinge, Halbdinge und Sachen wird man sich vor allem dann nicht entziehen können (und wollen), wenn man sich absichtsvoll auf sie eingelassen hat (Uzarewicz 2011: 302).9 Das ist im Sport allemal der Fall. Wer Sport treibt, lässt sich darauf ein, bestimmte Sportgeräte zu nutzen und/oder sich in bestimmten Sportelementen zu bewegen. Die Sportgeräte und -elemente nötigen den Einzelnen mehr oder weniger intensiv, 7 | Vgl. dazu auch Gugutzer 2004: 230ff. 8 | Schmitz unterscheidet zwei Arten von Nötigung: Zum einen die »automatische Nötigung«, bei der es auf die »Zustimmung« des Einzelnen nicht ankommt, weil sie unmittelbar ergreift; Beispiele dafür sind der Sturm, dem man ausgesetzt ist, der elektrische Schlag, von dem man getroffen wird, oder der Schluckauf und das Niesen, denen man ausgesetzt ist (Schmitz 2007: 52). Zum anderen die »exigente Nötigung« im Sinne einer »zwingenden Evidenz« bzw. einer »Autorität, die mit einem Appell, dem der Betroffene seinen Gehorsam nicht nach Belieben und schon gar nicht unbefangen entziehen kann«, auftritt (ebd.: 53). Eine solche »zumutende« Nötigung ist beispielsweise. die Scham, von der jemand ergriffen ist, weil er weiß, dass er sich ungebührlich benommen hat. 9 | Im Anschluss an Gernot Böhme (1993) ließe sich sagen, dass der Aufforderungscharakter von Dingen und Sachen auf deren in den Raum hinaus strahlende »Ekstasen« zurückzuführen ist.
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genau dieses oder jenes zu tun. So fordert ein Speer dazu auf, ihn in die Hand zu nehmen und zu werfen anstatt damit einen Ball zu schlagen. Umgekehrt fordert ein Tennisschläger dazu auf, ihn in die Hand zu nehmen und etwas mit ihm zu schlagen, vorzugsweise einen Ball, aber er nötigt nicht dazu, ihn wegzuwerfen.10 Eine Hürde drängt dazu, sie zu überspringen, ein Trampolin dazu, darauf herum zu hüpfen, und ein Rennrad dazu, aufzusteigen und in die Pedale zu treten. Der Aufforderungscharakter der Sportgeräte und -elemente ist zwar an das kulturspezifische Wissen gebunden, dass es Tennisschläger, Speere etc. gibt und wie man sie benutzt, aber er erschöpft sich nicht in diesem Wissen. Nur weil man weiß, dass dieses Ding ein Speer ist, folgt daraus nicht, dass man ihn in die Hand nimmt und wirft. Damit es zu dieser Handlung kommt, bedarf es des situativen leiblichen Appells, hier und jetzt genau dies zu tun. Das Wissen um den Gegenstand und seiner Handhabung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für seinen Gebrauch. Dinge und Sachen bringen uns dazu, etwas Bestimmtes mit ihnen zu tun, weil Menschen leibliche Wesen sind. Leiblich sein impliziert, resonanzfähig zu sein für Gestalten, Bewegungen, Rhythmen, Farben, Stimmen, Töne etc. Die Gestalt des Handballs regt leiblich an, ihn mit der Hand zu fassen, während die Form und Größe des Fußballs dazu drängt, ihn mit dem Fuß zu stoßen; der schrille Pfiff der Schiedsrichterpfeife kann dazu führen, das Solo aufs gegnerische Tor abrupt abzubrechen, wohingegen der Startschuss vor dem 100-Meter-Lauf dazu auffordert, los zu sprinten. Die leibliche Kommunikation zwischen Athletin und Athlet einerseits, Ball, Pfiff und Schuss andererseits entspricht hier einer sozialisierten Nötigung: Die Athlet/innen haben durch ihr wiederholtes sportliches Tun ein leibliches Wissen erworben, das im Leibgedächtnis abgelagert ist (Gugutzer 2012: 67ff.), aufgrund dessen sie allererst von den Sachen (Ball) und Halbdingen (Pfiff, Schuss) leiblich genötigt werden können, die sportartenspezifische und sportartenangemessene Handlung auszuführen. Wer mit einer Sportart vertraut ist, hat die wiederholten leiblichen Nötigungen seiner Sportgeräte und -elemente habitualisiert. Wer hingegen eine Sportart neu erlernt, erfährt die Nötigungen der Dinge, Sachen und Halbdinge vor allem als exigente, insofern diese ihn zwingen, das eigene körperliche Verhalten auf eine bestimmte Bewegungsnorm hin auszurichten, etwa den anrollenden Ball mit der Innen- statt mit der Außenseite des Fußes zu stoppen. Wie das Beispiel des Bewegungslernens andeutet,11 ist die leibliche Kommunikation von Menschen mit Dingen, Halbdingen oder Sachen keineswegs in jedem Fall eine harmonische, symmetrische oder gar gelingende Art der Interaktion. Im Gegenteil, scheinen vielmehr der Konflikt das typische leibliche Kommuni10 | Die Nötigung, die manche Tennisspieler verspüren, es doch zu tun, hat nicht den Schläger als handlungsanleitende Quelle, sondern in der Regel eine leibliche Regung wie Wut oder Ärger. 11 | Siehe dazu auch Abschnitt 5 dieses Beitrags.
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kationsmodell sowie Probleme des Aushandelns und Aneignens der herrschende Kommunikationstypus zu sein. Dies deshalb, weil Dinge, Sachen und Halbdinge Ansprüche an ihre menschlichen Sozialpartner stellen, die sich als leiblicher Zwang äußern können. Die Sachzwänge, in denen wir uns tagtäglich befinden, bekommen damit eine neue Bedeutung: Sie sind wörtlich zu verstehen als leibliche Zwänge, die von den Erwartungen12 der Dinge, Sachen und Halbdinge ausgehen. Dinge, Sachen und Halbdinge sind machtvolle Phänomene, wenn und weil sie Menschen leiblich ergreifen und manipulieren können. Das zeigt das folgende Beispiel von Fabian, einem Fußballspieler:13 »Doch im ersten Training nach meiner Verletzung wollte mir der Ball nicht wie sonst ›gehorchen‹. Ich musste mich auf die Ballbehandlung konzentrieren und spürte dabei bewusster, wie ich die eingesetzte Kraft dosiere und wie ich das Fußgelenk stelle. Der Ball war widerspenstig und musste geradezu davon überzeugt werden, mitzukommen. Es schien, als ob ich zwei Gegner hätte: die andere Mannschaft und den Fußball.«
Der Fußballer erfährt die leibliche Macht des Balles spürbar durch dessen »Widerspenstigkeit«: er »gehorcht« nicht. Der Fußball ist für Fabian mithin ein Sozialpartner wie die andere Mannschaft auch, nämlich ein Gegenspieler. Im Sinne Schmitz’ handelt es sich bei der von Fabian beschriebenen Beziehung zwischen 12 | Dass Dinge und Sachen »Erwartungen« an menschliche Akteure haben, klingt in den Ohren (nicht nur) von Soziologinnen und Soziologen vermutlich merkwürdig. Dies deshalb, weil »Erwartung« typischerweise als etwas Mentales verstanden wird, das im Geist oder Gehirn von Menschen (und vielleicht auch von manchen Tieren) sitzt. Mit Michael Uzarewicz möchte ich aber fragen: »Muss man […] Erwartungen an ›innere Zustände‹ binden? Bei Menschen schließen wir von einer ›äußeren‹ Erwartungshaltung, also einem Ausdruck (den Dinge auch haben), auf einen solchen ›inneren Zustand‹. Entscheidend ist also immer die äußere Erscheinung. Beim Stuhl oder Bett ist das letztlich nicht anders. Deren Erscheinung, deren Gestalt nötigt oder motiviert uns zu einem mehr oder weniger bestimmten Verhalten im Hinblick auf es selbst […]. Wir erwarten nicht nur von Subjekten etwas, wir erwarten auch von den Dingen etwas. Sind deshalb Erwartungen aber an Subjekte gebunden?« (Uzarewicz 2011: 230f.) 13 | Ein weiteres Beispiel für die leibliche Macht von Sportsachen, hier der wahrgenommenen Bodenbeschaffenheit, liefert Marion: »Ich spiele Handball. Die Bodenbeschaffenheit spielt dabei eine große Rolle. Oft spielen wir in Hallen, die sehr rutschig sind und in denen man überhaupt keinen Halt findet (meist, bzw. eigentlich vor jedem Spiel gilt die Anweisung des Trainers, dass wir uns mit dem Boden vertraut machen sollen, egal ob dieser besonders stumpf oder rutschig ist). Diese Tatsache wirkt sich nicht selten auf das ganze Spiel aus, da ich ständig darauf achten muss nicht hinzufallen. Oft fühle ich mich dann sehr unsicher und nicht richtig frei in meinen Bewegungsabläufen, da manche Körpertäuschungen oder andere technische oder taktische Mittel nicht richtig funktionieren. Resultat sind nicht selten zwanghafte Handlungen oder technische Fehler wie z.B. Fehlpässe.«
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ihm und dem Fußball um eine »antagonistische Einleibung« (Schmitz 2003: 39; s.u.). Ball und Spieler sind Antagonisten, die leiblich miteinander verbunden sind, ad hoc einen übergreifenden Leib14 bilden, wobei der Ball eigensinnige Bewegungen ausführt, auf die der Spieler körperlich (Fußstellung) und leiblich (spürbare Dosierung der Kraft) reagiert. Die Interaktion setzt sich fort, indem der Ball sich weiterhin wie auch immer verhält, worauf der Spieler erneut wie auch immer körperlich-leiblich reagiert, und so weiter. Ziel des Spielers ist es, das Machtverhältnis ins Gegenteil zu verkehren, der Sachdominanz des Balls zu entkommen und selbst leiblich-körperliche Macht gegenüber dieser Sache auszuüben: Der Ball soll ihm gehorchen. Die Überzeugungsarbeit, die der Spieler dabei zu leisten hat, ist eine leibliche: Er muss sich den Ball körperlich-leiblich so aneignen, dass er ihn leiblich gar nicht mehr wahrnimmt und dadurch seine Aufmerksamkeit auf seinen zweiten Antagonisten richten kann, die gegnerische Mannschaft.
4. S portsachen als B e wegungssuggestionen Das Ziel, das der Fußballspieler im Umgang mit seinem Ball anstrebt, wird alltagssprachlich wie auch in der Sportwissenschaft gern als Verschmelzung oder Einssein von Fuß und Ball beschrieben.15 Fuß und Ball bilden demnach eine Einheit, die Bewegung ist fließend, nichts hakt, stockt oder stört. In neophänomenologischer Terminologie handelt es sich dabei um eine spezifische Form leiblicher Kommunikation, die Schmitz »solidarische Einleibung« nennt (Schmitz 2003: 40). Solidarische Einleibung ist dadurch charakterisiert, dass keiner der Akteure eine dominante leibliche Rolle gegenüber dem oder den Anderen einnimmt, sondern sich die Beteiligten in einem gemeinsamen Rhythmus einschwingen, 14 | In der leiblichen Kommunikation wird »der sonst immanent leibliche Dialog [zwischen Engung und Weitung, R.G.] gleichsam herausgekehrt und an Partner – zwei oder mehr als zwei, darunter eventuell auch leblose, keines eigenen Spürens fähige Dinge oder Halbdinge, wie im Fall des Knäuels oder Balles, womit die Katze spielt – verteilt«. Dabei »bildet sich ad hoc so etwas wie ein übergreifender Leib, in dem die Rolle der Enge, die zugleich Quelle des den Leib durchziehenden und ordnenden Richtungsgefüges ist, jeweils von einem der Partner übernommen wird; das ist Einleibung. Wenn die dominierende Rolle, Träger der Enge des übergreifenden Leibes zu sein, konstant bei einem Partner bleibt, wie meist in der einseitigen (z.B. hypnotischen) Suggestion, ist die Einleibung einseitig, sonst, wenn die Partner sie einander oszillierend zuspielen, wechselseitig.« (Schmitz 1980: 24, H. i. O.) (vgl. dazu auch Gugutzer 2002: 106) 15 | Die geläufige Formulierung, dass man im sportlichen Tun mit einer Sache verschmilzt oder dass Körper und Technologie eine »organische Einheit« eingehen (Gebauer u.a. 2004: 74) sagen, ist sachlich unangemessen. Körper und Dinge oder Sachen verschmelzen realiter nicht, wohingegen der Leib, weil er über die Körpergrenze hinausreicht, sehr wohl eine Verbindung mit Dingen und Sachen eingehen kann (vgl. dazu auch Gugutzer 2012: 128ff.).
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wie das beispielsweise der Fall ist, wenn Reiter und Pferd oder Snowboarder und Brett harmonisch miteinander agieren. In der sportlichen Praxis mischt sich die solidarische typischerweise mit der (vor allem)16 »wechselseitigen antagonistischen Einleibung« (Schmitz 2003: 39), jener Form leiblicher Kommunikation, die durch das Fluktuieren der leiblichen Dominanzrolle gekennzeichnet ist,17 wobei im Sport die antagonistischen Phasen überwiegen und die solidarischen Phasen zumeist das erhoffte Ziel sind. Gemeinsam ist der solidarischen und antagonistischen Einleibung das »Zusammenwirken ohne merkliche Reaktionszeit […], das dadurch möglich wird, dass nicht auf Grund empfangener Reize nachträglich eine Reaktion gewählt werden muss, sondern ein von vornherein übergreifender vitaler Antrieb durch Abstimmung der Rollen von Engung, Weitung und Richtung in ihm das eingespielte Verhalten zueinander unwillkürlich vorgibt.« (Schmitz 2003: 40f.)
Ein entscheidendes leibliches Medium solidarischer und antagonistischer Einleibung sind die von Schmitz so genannten »Bewegungssuggestionen«. Eine Bewegungssuggestion ist die »Zumutung einer Bewegung« (Schmitz 2005: 168), die am eigenen Leib gespürt wird. Bewegungssuggestionen sind »Vorzeichnungen von Bewegungen unabhängig von ausgeführter Bewegung« (Schmitz 2007: 140), wobei es unerheblich ist, ob diese Vorzeichnungen von menschlichen, dinglichen oder tierlichen Bewegungen oder von nicht-bewegten Dingen und Sachen herrühren. Bewegungssuggestionen, die nicht gespürt, sondern an Gestalten sinnlich wahrgenommen werden, sind nach Schmitz »Gestaltverläufe« (Schmitz 2007: 140). Zusammen mit den synästhetischen Charakteren sind Bewegungssuggestionen die wichtigsten »Brücken leiblicher Kommunikation« (Schmitz 2005). Das folgende Beispiel der Kunstradfahrerin Yvonne illustriert, inwiefern Sachen im Sport als Zumutung einer Bewegung empfunden werden: »Es gibt z.B. eine Übung, bei der man mit den Füßen auf dem Sattel steht und der Oberkörper gestreckt ist [siehe Foto]. Bevor ich in der Endposition bin, habe ich die Hände noch am Lenker, aber die Füße stehen bereits auf dem Sattel. Ich spüre an den Füßen, ob ich einen guten Stand habe. Das merke ich daran, dass gewisse Stellen des Sattels einen 16 | Von der wechselseitigen unterscheidet Schmitz die »einseitige antagonistische Einleibung«, bei der »die dominierende Rolle, Träger der Enge des übergreifenden Leibes zu sein, konstant bei einem Partner bleibt« (Schmitz 1980: 24). Beispiele dafür sind alle Arten des Fasziniert-, Gefesselt- oder Gefangenseins von etwas (einem Buch, Film, Fußballspiel etc.) oder jemandem (dem Blick des Anderen usw.). 17 | So befindet sich beispielsweise der Aufschläger im Tennis in der Dominanzrolle gegenüber dem Rückschläger, die von diesem übernommen wird, nachdem er den Ball zurückgeschlagen hat, von wo sie an den Aufschläger zurückgeht, sobald er den Rückschlag retourniert hat usw. usf.
Rober t Gugut zer — Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen bestimmten Druck z.B. an den Fußballen verursachen. Wenn ich nun noch darauf achte, dass ich den Druck auf den Sattel gleichmäßig verteile (das Rad gibt mir eine Rückmeldung, indem es weiterhin gleichmäßig fährt und nicht zur Seite kippt), weiß ich, dass ich nun langsam meine Hände vom Lenker lösen kann und aufstehen kann. Hierbei muss ich ständig kontrollieren, ob mein Rad sich immer noch mittig unter meinen Füßen befindet. Das geschieht zum einen durch Beobachten. Ich schaue hierbei, ob der Lenker sich in einer geraden Position befindet. Zum anderen spüre ich, wenn sich der Druck von den Füßen auf dem Sattel verändert und ich z.B. zu einer Seite kippe. Dann reagiere ich intuitiv auf das Kippen, indem ich den Druck auf einem Fuß wieder verstärke.«
Abbildung 1: Übung beim Kunstradfahren, 2015
Die Kunstradfahrerin beschreibt hier eine Übung, deren Ziel es ist, ruhig mit den Füßen auf dem Sattel eines rollenden Fahrrads zu stehen, den Oberkörper aufrecht und die Arme zur Seite gestreckt zu halten. Das ist solidarische Einleibung: Athletin und Fahrrad bilden eine leibliche Ganzheit, die sich in einem störungsfreien Bewegungsfluss befindet. Um dorthin zu gelangen, sind die spürbaren »Rückmeldungen« wichtig, die das Fahrrad der Athletin gibt. Genauer gesagt ist es der Sattel, der mit den Fußballen in eine leibliche Interaktion tritt. Die Gewissheit, einen »guten Stand zu haben«, ist eine spürbare Gewissheit, nämlich der spürbare Druck an der »Leibesinsel« (Schmitz 2011: 8ff.) Fußballen, der durch den Sattel verursacht wird. Die Aufgabe der Athletin ist es, mit ihren Füßen den Druck gleichmäßig auf dem Sattel zu verteilen. Ob ihr das gelingt, meldet ihr das Fahrrad zurück. Eine negative Rückmeldung, die dadurch zustande kommt, dass das Rad »zur Seite kippt«, wodurch auch sie selbst zur Seite kippt, würde von
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ihr als verstärkte Druckempfindung am Fußballen wahrgenommen werden. Dies hätte eine »intuitive« Reaktion ihrerseits zur Folge, nämlich eine gegen den Sattel ausgeübte Druckverstärkung eines Fußes. Die leibliche Interaktion zwischen Fahrrad (bzw. Sattel) und Athletin (bzw. Fußballen) wird in der beschriebenen Bewegungssequenz von einer Bewegungssuggestion angeleitet, die vom kippenden Fahrrad ausgeht. Genauer gesagt geht die Bewegungssuggestion von der nach unten ziehenden Schwerkraft aus. Das Kippen des Fahrrades mutet der Athletin eine Gegenbewegung zu, die sie »intuitiv« ausführt, also ohne bewusst wahrnehmbare Reaktionszeit. Würde sie sich dieser suggestiven Bewegungsaufforderung entziehen, bräche die leibliche Interaktion zwischen ihr und dem Fahrrad sehr wahrscheinlich ab, indem sie zum Beispiel vom Fahrrad stürzte. Bewegungssuggestionen setzen keineswegs, wie das Beispiel der Kunstradfahrerin nahe legen könnte, einen direkten physischen Kontakt zwischen den Interaktionspartnern voraus. Bewegungssuggestionen finden auch über eine räumliche Distanz hinweg statt, ja, sie sind besonders für räumliche Orientierung bedeutsam. Das lässt sich gut in Ballsportarten beobachten. Die Flanke, der Pass, der Torabschlag oder der Einwurf im Fußball sind Handlungsappelle an die Spieler auf dem Feld, in eine bestimmte Richtung zu laufen. Der jeweilige Appell geht dabei nicht von dem Spieler aus, der den Ball flankt, passt oder wirft, sondern vom Ball selbst. Es ist die Bewegung des Balles, die eine Bewegungsbahn vorzeichnet, in die sich die Spieler hineinziehen lassen, um den Ball zu erreichen. Der fliegende oder rollende Ball entspricht einem Gestaltverlauf, einer verlaufenden Gestalt, und diese gibt eine räumliche Richtung vor, die in die leibliche Räumlichkeit der Spieler einhakt und sie auf diese Weise dorthin drängt, wo der Ball am besten zu erreichen sein wird.18 In der Fußballberichterstattung im Fernsehen kommen seit der WM 2006 vermehrt Grafiken zum Einsatz, die diese »richtungsräumliche leibliche Orientierung« (Schmitz 2011: 123ff.) visuell zu symbolisieren und so zumindest näherungsweise nachvollziehbar zu machen versuchen.19
18 | Gestaltverläufe affizieren die menschliche Motorik, was auch für unbewegte Dinge und Sachen gilt, wie zum Beispiel die Kletterwand für den Kletterer oder der schneebedeckte Hang für den Schifahrer, die sich beide in ihren Bewegungen von den Verlaufsformen der Wand und des Hangs führen lassen. 19 | Vgl. dazu auch die Videoinstallation von Harun Farocki Deep Play auf der Documenta 12 (https://www.youtube.com/watch?v=FrYXBapnU7A und https://www.youtube.com/ watch?v=are8UX7oZZE, letzter Zugriff: 23.05.2015). Diesen Hinweis verdanke ich Sophia Prinz.
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5. L eibliche S achaneignung im B e wegungslernen Der Umgang mit den Dingen und Sachen (nicht nur) im Sport ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss erlernt werden. Um zu verstehen, wie der ding- und sachliche Aneignungsprozess vonstattengeht, hilft Schmitz’ Unterscheidung zwischen »richtungsräumlicher« und »ortsräumlicher« Orientierung und die damit zusammenhängende Differenzierung zwischen »motorischem« und »perzeptivem Körperschema«20 (Schmitz 2007: 289ff.). Wer eine sportliche Bewegung erlernt, geht in der Regel ortsräumlich vor, indem er sich an sicht- und tastbaren Körpern orientiert und beispielsweise auf die richtige Hand- oder Armhaltung, die korrekte Körperhaltung und -position, den richtigen Abstand zwischen sich und anderen achtet; diese Aufgabe leistet das perzeptive Körperschema. Wer hingegen eine Bewegung beherrscht, geht richtungs-räumlich vor, insofern er seine Bewegungen ohne Lage- und Abstandsmessung steuert, vielmehr durch ein unmittelbares Spüren in den Gliedern, ein Sich-Wahrnehmen an »Leibesinseln«;21 die Bewegung wird hier durch das motorische Körperschema angeleitet. Jeder Bewegungskönner unterscheidet sich vom Bewegungsanfänger dadurch, dass er seine Bewegungen leiblich-richtungsräumlich ausführt, wozu auch die Handhabung von Dingen und Sachen gehört. Ungeachtet dessen, dass wir von manchen Dingen und Sachen unmittelbar leiblich-affektiv angesprochen oder genötigt werden, hier und jetzt dieses oder jenes mit ihnen zu tun, sind wir im Umgang mit den meisten Gebrauchsgegenständen unseres Lebens zu allererst Bewegungsanfänger. Messer, Gabel, Schere, Licht sind deshalb für Kinder nicht, weil deren Gebrauch gefährlich ist, solange er nicht beherrscht wird. Die Kompetenz, solche Sachen zu beherrschen, wird 20 | Der Begriff Körperschema wird in der Literatur zumeist in dem Sinne verstanden, den Schmitz als »perzeptives Körperschema« bezeichnet, nämlich als das »aus Erfahrungen des Sehens und Tastens habituell gewonnene Vorstellungsbild vom eigenen Körper« (Schmitz 2011: 21). Schmitz grenzt davon das »motorische Körperschema« ab, »die im motorischen Verhalten leitende Orientiertheit über die Anordnung der eigenen Körperteile (oder Leibesinseln)« (Schmitz 2007: 124). Das motorische Körperschema hat keinen bestimmten Ort im Körper, von dem aus es die menschlichen Bewegungen steuerte, es sitz vielmehr im Leib und steuert die Bewegungen situationsabhängig. Das motorische Körperschema ist das leibliche Zentrum, von dem aus die räumliche Orientierung organisiert wird, ohne dass dafür die Vorstellung von der Anordnung der eigenen Körperteile oder eine visuelle Orientierung am eigenen Körper und der Umgebung erforderlich wäre. 21 | Die Hammerwerferin Helen spricht von der »Eigenwahrnehmung in Bezug auf das Netz und den Ring«, die unbedingt notwendig sei, weil beim Hammerwurf eine visuelle Orientierung im Raum aufgrund der hohen Drehgeschwindigkeit im Ring nicht funktionieren würde. Sie richtet die Aufmerksamkeit beim Drehen im Ring daher auf sich selbst, wobei sie einzelne Leibesinseln vermutlich vor allem dann wahrnimmt, wenn der Bewegungsablauf nicht »rund« ist (s.u.).
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praktisch erworben, nämlich in wiederholten leiblich-körperlichen Vollzügen. Das gilt selbstredend auch für die Beherrschung der Dinge und Sachen in Bewegungskulturen wie dem Sport. Die leibliche Aneignung von Sportgeräten und -elementen, die sich in gelungenen körperlichen Bewegungen zeigt, bedarf zumeist eines langen Übungsprozesses. Dazu Helen, die beschreibt, wie sie das Hammerwerfen erlernte: »Wenn ich daran denke, wie es sich anfühlte, als ich das erste Mal mit einem Hammer im Ring stand mit dem Ziel, das Gerät irgendwie in die Weite zu befördern, kann ich dazu eigentlich nur sagen, dass ich zunächst gar nicht auf etwas Bestimmtes achten konnte, sondern sich die Bewegung an sich einfach nur komisch anfühlte…unrund, abgehackt, nicht rhythmisch. Und das obwohl ich mich eine ganze Zeit auf diesen Moment vorbereitet hatte, denn natürlich fängt man nicht gleich mit der Endbewegung an. Bevor man eine solche Eisenkugel in den Ring schleppt, versucht man sich erst einmal Wochen und Monate an Besenstielen, Autoreifen, 5 kg Scheiben, Schleuderbällen und allem, was man sonst noch wegschmeißen kann. Doch selbst vor diesem Stadium gibt es noch eine Phase, in der man, ganz ohne irgendetwas in der Hand zu haben, einfach nur die Drehbewegungen der Füße, die ›Anschwünge‹ mit den Armen, den ›Abwurf‹ und den ›Eingang‹ übt. Diese Übungsphase wird, nicht nur im Hammerwurf, als ›Imitation‹ bezeichnet. Diese Imitationen sind somit der Grundstein des Bewegungslernens, sie sind der Beginn einer methodischen Trainingsreihe zum Erlernen einer sportlichen Technik.«
Wie Helen sagt, ist es das Ziel des Hammerwerfens, den Hammer »in die Weite zu befördern«. Den Hammer »in die Weite zu befördern«, ist in einem doppelten, nämlich mess- und spürbaren Sinne zu verstehen: Die Athletin wirft den Hammer in die Weite des ortsräumlich vor ihr ausgebreiteten Stadions, wofür die Weitung des eigenen Leibes die Voraussetzung ist. Die vor dem Abwurf ausgeführten Drehungen um die eigene Achse nämlich führen zu einer maximalen leiblichen Engung (Spannung durch Kraftanstrengung und Druck), die sich im Moment des Loslassens des Hammers in eine leibliche Weite entlädt, wofür der Schrei kurz nach Abwurf des Hammers das typische akustisch wahrnehmbare Pendant darstellt. Die nach dem Wurf des Sportgeräts in Form von Zahlen (Meter, Zentimeter) objektivierte Weite ist somit der nachträgliche sichtbare Ausdruck der gespürten Weite der Athletin während ihres Tuns. Eine Bewegungsabfolge wie das Hammerwerfen zu erlernen ist eine komplexe Aufgabe, was unter anderem an Helens Bemerkung deutlich wird, dass sie »zunächst gar nicht auf etwas Bestimmtes achten konnte«. Die Bewegungsanfängerin befindet sich in einer Situation,22 die durch eine »chaotisch-mannigfaltige 22 | Eine Situation ist Schmitz zufolge charakterisiert »durch Ganzheit (d.h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, dass die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d.h. Sachverhalte, Pro-
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Ganzheit« (Schmitz 2007: 65) gekennzeichnet ist, was sich subjektiv als Überforderung durch eine Vielzahl unmittelbar wirkender Eindrücke bemerkbar macht (»komisches« Gefühl). Im Prozess des Bewegungslernens expliziert die Anfängerin sukzessive Einzelheiten aus dieser chaotischen Mannigfaltigkeit und richtet so ihre Wahrnehmung auf »Bestimmtes«. Im Laufe ihres sportlichen Besserwerdens synthetisiert sie diese analytischen Teilbewegungen in einen ganzheitlichen Bewegungsablauf. Subjektiver Anhaltspunkt dafür, dass der Bewegungsablauf noch nicht passt, sind die wahrgenommenen leiblichen Auffälligkeiten oder Irritationen: das »unrunde, abgehackte, nicht rhythmische« Bewegungsgefühl. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die leibliche Interaktion mit dem Sportgerät subjektiv gelungen ist, wenn sich die Bewegung rund und rhythmisch anfühlt. Der Weg dorthin führt Helen zufolge zum einen über die Beschäftigung mit ganz unterschiedlichen und sogar sportfremden Sachen, die als Vorbereiter für die Handhabung des eigentlichen Sportgeräts, den Hammer, fungieren. »Besenstiele, Autoreifen, 5 kg Scheiben, Schleuderbälle« sind Gegenstände, die die einseitige Einleibung des Hammers durch die Athletin anbahnen. Mit Besenstielen etc. zu üben, entspricht einer leiblichen Annäherung an den Hammer, derer es unbedingt bedarf, um die erfolgreiche leiblich-körperliche Interaktion zwischen der Athletin und dem Hammer zu ermöglichen. Dabei scheint der Hammer ein anspruchsvoller Interaktionspartner zu sein – ein Sportgerät, das sich nicht so einfach »wegschmeißen« lässt, wie ein Laie meinen könnte. Er will offenkundig Schritt für Schritt »erobert« werden. Dazu bedarf es zum anderen der »Imitation« des Bewegungsablaufs ganz ohne den Hammer und seinen Substituten. Die »Drehbewegungen der Füße, die ›Anschwünge‹ mit den Armen, den ›Abwurf‹ und den ›Eingang‹« gilt es immer wieder »trocken« zu üben. Die Imitation unterschiedlichster Bewegungsabschnitte und -abfolgen ist ein leiblicher Annäherungsprozess an die »Endbewegung«, dem Wurf im »Ring« mit Hammer. Diese Explikation einzelner Bewegungselemente aus der chaotischen Mannigfaltigkeit der ganzheitlichen Bewegungssituation geschieht im körperlichen Vollzug und leiblichen Hineinspüren in die einzelnen Bewegungsabläufe. Eine bloße Imagination des Bewegungsablaufs würde nicht reichen, ihn je erfolgreich auszuführen. Verallgemeinert heißt das: Das Wissen von der richtigen Handhabung eines Sportgeräts und anderer Sachen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine gelingende Bewegungsausführung. Der Umgang und die Beherrschung eines Dinges oder einer Sache (auch außerhalb des Sports) lassen sich ausschließlich im konkreten Tun erlernen, nämlich im Medium leiblich-körperlicher Verstehens-, Aushandlungs- und Aneignungsprozesse.
gramme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind« (Schmitz 2005: 22).
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5. F a zit Der Beitrag hatte das Ziel darzulegen, dass die Grenzen des Sozialen zu eng gefasst sind, wenn innerhalb dieser Grenzen lediglich bewusstseins- und sprachfähige Menschen wohnen. Am Beispiel des Sports sollte daher gezeigt werden, dass und inwiefern auch Dinge, Sachen und Halbdinge soziale Entitäten sind. Sportive Dinge (Sportelemente wie das Wasser), Sachen (Sportgeräte und -räume) und Halbdinge (akustische Phänomene wie Pfiffe oder Schüsse) sind für Menschen soziale Interaktionspartner, sofern der Einzelne von ihnen leiblich angeregt, aufgefordert, genötigt oder gezwungen wird, sich zu ihnen zu verhalten. Das zentrale empirische Kriterium für den sozialen Charakter von Dingen, Sachen und Halbdingen ist mithin der Leib beziehungsweise das leiblich-affektive Betroffensein. Eine soziale Beziehung liegt nicht erst vor, wenn ein bewusstseins- und sprachfähiger menschlicher Akteur sein Handeln mit einem subjektiven Sinn versieht und auf einen anderen menschlichen Akteur hin ausrichtet. Eine soziale Beziehung ist vielmehr bereits dann gegeben, wenn einer der Beteiligten leiblich ist und dadurch von einem anderen Akteur, der weder menschlich noch anwesend sein muss, spürbar affiziert wird. In dem Sinne ist Leiblichkeit beziehungsweise leibliche Kommunikation die grundlegende Quelle des Sozialen. Die hier vorgenommene neophänomenologisch-soziologische Interpretation des Verhältnisses von Menschen zu ihren Dingen, Sachen und Halbdingen (Tiere hätten noch hinzugenommen werden können) ist als Plädoyer für die Entgrenzung des Sozialen nicht nur nach außen zu verstehen, sondern zugleich nach innen. Wenn mit den Dingen, Sachen und Halbdingen nichtbewusstseins- und nichtsprachfähige Entitäten den Status eines sozialen Akteurs erhalten, dann muss konsequenter Weise auch innerhalb der Gruppe der Menschen jenen Akteuren ein sozialer Status zuerkannt werden, die gleichermaßen nicht- oder nur eingeschränkt bewusstseins- und sprachfähig sind, zum Beispiel Komatösen, Dementen oder Säuglingen (Uzarewicz 2011: 345). Die Soziologie berücksichtigt diese menschlichen Akteure in ihren Theorien mehrheitlich jedoch nicht, weil sie ihnen keinen Subjekt- oder Personenstatus zuerkennt. Die neophänomenologische Soziologie hingegen tut das, eben weil sie das Soziale im Leiblichen und der leiblichen Kommunikation fundiert. Auch Komatöse, Demente und Säuglinge sind leibliche und zur leiblichen Kommunikation fähige Wesen. Damit erweitert sie das Spektrum des Sozialen und die Vielfalt sozialer Akteure über das traditionelle soziologische Verständnis hinaus.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: Übung beim Kunstradfahren, 2015 © Anja Seipp
Rober t Gugut zer — Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen
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Affekt. Macht. Dinge Die Aufteilung sozialer Sensorien in heterologischen Gesellschaften Dorothy H.B. Kwek und Robert Seyfert
Seit der Aufklärung hat eine ganz besondere Figur des Menschen als Annahme, Voraussetzung und normatives Ideal die Analysen der Sozial- und Geisteswissenschaften vorangetrieben – der autonome, mit einem eigenen Willen ausgestattete Handelnde. Abhängig von den jeweiligen Untersuchungen, setzt diese Figur verschiedene Eigenschaften voraus. So gibt es das freiwillig einwilligende Individuum des Gesellschaftsvertrags (Rousseau, Rawls), den rationalen Akteur ökonomischer Erwägungen (Smith), den autonomen Akteur der Moraltheorie (Kant), den vernünftigen Kommunikator der Diskurstheorie (Habermas) und so weiter. Es ist diese Figur um die herum wir unsere soziale Welt konstruieren (Latour 2001; Rabinow 2003; Colebrook 2005; Ahmed 2014). Dabei setzt diese Figur nicht allein Autonomie, Rationalität und Reflexivität voraus, sondern beruht auch auf Annahmen über die menschliche Wahrnehmung, die Erkenntnis von Objekten, und über die vielfältigen Vermögen des Erinnerns, Vorstellens und Denkens, Vermögen, um Dinge abzulegen und neu zu versammeln – Annahmen über (semantischen) Sinn und (perzeptive) Sinne. Beziehungen zu nicht-menschlichen Anderen werden dann oft auf ihre funktionale, nützliche oder symbolische Dimension hin reduziert. Selbstverständlich ist die Universalität und Geltung dieser Figur von einer Vielzahl von Kritikern in Frage gestellt worden, in den letzten Jahrzehnten z.B. von poststrukturalistischen, postmodernen, feministischen und queer-Theorien. Jedoch erfolgte diese Infragestellung stets noch aus der Perspektive eines anderen Menschen, einer alternativen Figur, aus der Perspektive eines erweiterten Verständnisses dessen, was die Menschheit und menschliche Gemeinschaften ausmacht: Diese Kritiken verbleiben fest verwurzelt auf der Seite des Menschen.1 1 | Die Kritik an der Figur des Menschen ist natürlich älteren Datums und findet sich bekanntermaßen bereits bei Feuerbach, Nietzsche, Heidegger etc. Allerdings folgt der expliziten Kritik am Menschen auch schon dort dessen impliziter Wiedereintritt durch die Hintertür. So setzt z.B. Heideggers »vorontologisches Verständnis des Seins« voraus, dass
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Unser Beitrag geht von den gegenwärtigen Zweifeln an der Vormachtstellung dieser Figur des Menschen als Akteur, Urheber und Träger des Sozialen aus. In diesem Zusammenhang interessiert uns vor allem das Verhältnis zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Traditionell wurde diese Beziehung ausgehend vom Menschen gedacht: entweder wie in der klassischen Erkenntnistheorie – als eine Objektbeziehung – oder wie in der dialektischen Hermeneutik, als Fetischismus.2 Im ersten Strang unserer Analyse bedienen wir uns der Einsichten des interdisziplinären und disziplinenübergreifenden »Neuen Materialismus«, wonach das nicht-menschliche und »mehr-als-menschliche« Andere das menschliche Sozialleben entscheidend mitprägt. Aus einer solchen Perspektive schränkt die vorherrschende Theoriefigur des autonomen menschlichen Subjekts unsere Fähigkeit ein, Beziehungen zu nicht-menschlichen Anderen zu erfassen und zu bilden. Den zweiten Strang unseres Beitrags stellt daher der Versuch dar, diese theoriekonzeptionellen Einschränkungen durch den Bezug auf das Konzept des Affekts zu überwinden. Während aktuelle Affekttheorien auf menschliche Affekte fokussieren, erweitern wir das Konzept des Affekts und der Affektbeziehung auf Beziehungen zu nicht-menschlichen Anderen. Der Begriff des Affekts, so unsere These, erlaubt es uns, die vielfältigen Möglichkeiten zu untersuchen durch die nicht-menschliche Andere das soziale Sensorium mitkonstituieren, das also, was Mitglieder einer Gruppe wahrnehmen können und worauf sie einwirken können. Wir konkretisieren diese abstrakten Konzepte anhand ethnographischer Untersuchungen solcher Sozialtypen, die wir heterologische Gesellschaften nennen, von Gesellschaften also, die im Gegensatz zu anthropistischen3 Gesellschaften auch nicht-menschliche Andere als Gesellschaftsmitglieder anerkennen.
1. M aterialitäten zum S prechen bringen Nicht-menschliche Andere spielen mindestens eine ebenso große Rolle in sozialen Institutionen wie Menschen. Disziplinen wie die Archäologie (Hicks 2010), die Geographie (Whatmore 2006), die ökologische Anthropologie (Rappaport 1984), sowie die interdisziplinäre Analyse von Warenformen (Appadurai 1986) mussten schon immer nicht-menschliche und mehr-als-menschliche Andere berücksichalle immer schon wissen »was Ich, Denken, Sein bedeutet« (Deleuze 1992: 169): Das Sein hat bei Heidegger doch sehr menschliche, allzu menschliche Züge. 2 | Wie sehr die Vorstellung von menschlicher Autonomie und Fetischismus bei Hegel und Marx zusammenhängen hat unter anderem Werner Hamacher (1978) gezeigt. 3 | Mit dem Begriff des Anthropismus wollen wir die Tatsache bezeichnen, dass der Mensch hier eine exklusive Figur ist, wohingegen der Begriff des Anthropozentrismus zumindest konzeptionell die Vorstellung nicht-menschlicher Gesellschaftsmitglieder an der Peripherie zulässt.
Dorothy H.B. Kwek und Rober t Seyfer t — Affekt. Macht. Dinge
tigen, um Aufschluss über die Bedeutung und Konstruktion menschlicher Soziabilität zu geben. In den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, die menschliche und mehr-als-menschliche Andere oft in den Hintergrund rücken oder sie auf den Rang des Nebenakteurs bzw. des »Assistenten« verweisen (Lindemann 2009: 13), findet die »bisher nie dagewesene Ansammlung hergestellter Artefakte« (Eßbach 2011: 58) nach wie vor keine angemessene Entsprechung. Die zunehmenden Forschungen der letzten Jahrzehnte, z.B. in den Science and Technology Studies und der Akteur-Netzwerk-Theorie, stellen nach wie vor eine Minderheit im gesamten Wissenschaftsfeld dar. Dort dominieren funktionalistische und utilitaristische Analysen, d.h. nicht-menschliche Andere werden zu menschlichen Zwecken assimiliert. Damit ist man außerstande, die Handlungsträgerschaft jener nicht-menschlichen Anderen zu erfassen, die sich gelegentlich nicht nur den für sie vorgesehenen Zwecken entziehen, sondern die die menschlichen Absichten sogar zu durchkreuzen scheinen. Die Forderung, den nicht-menschlichen Anderen in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Analysen eine größere Aufmerksamkeit zu schenken, erweist sich jedoch aus methodischer und methodologischer Perspektive als heikel. Die Angebote sozialwissenschaftlicher Forschungsinstrumente um menschliche Subjekte zu untersuchen, wie Fragebogen, teilnehmende Beobachtung, Ethnographie, Erhebungsdaten usw., sind häufig nur schlecht zur Untersuchung nichtmenschlicher Anderer geeignet. Demgegenüber schlagen Autoren solcher Ansätze, die unter dem Begriff des »Neuer Materialismus« oder des »material turn« zusammengefasst worden sind (Coole/Frost 2010), vor, sich nicht-menschlichen Anderen zu deren Bedingungen zu nähern (Latour 2001; Bennett 2010). Dieser Anspruch hat sowohl methodologische als auch ethisch-politische Dimensionen, die für manche Autoren untrennbar miteinander verbunden sind. Die methodologische Auseinandersetzung lässt sich ungefähr folgendermaßen beschreiben: Da nicht-menschliche Andere in der Zusammensetzung des sozialen Lebens eine viel größere Rolle spielen als zugegeben wird, stellt sich die Frage, auf welche Weise wir nichtmenschliche Diversitäten dann berücksichtigen sollen. Wie können wir »the material agency or effectivity of nonhuman or not-quite-human things« (Bennett 2010: ix) theoretisch erfassen, besonders derjenigen, die normalweise als unbelebt und anorganisch angesehen werden? Da, so das ethisch-politische Argument, nicht-menschliche Andere ethische und politische Effekte haben, sollten sie auch auf irgendeine Weise in das soziale Gefüge und die politische Partizipation eingeführt werden, sollten sie normativ und institutionell anerkannt werden (Latour 2008). Diese ethisch-politische Dimension ist eng verbunden mit früheren Argumenten zu Tierrechten, wie sie beispielsweise in den posthumanistischen Untersuchungen nicht-menschlicher Tiere vorgebracht worden sind (Wolfe 2003; Haraway 2003). Darüber hinaus wird der Impetus politischer und ethischer Dringlichkeit von einer generellen Sorge um den materiellen Zustand der Gegen-
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wart angetrieben, von dem bisher nie dagewesenen Ausmaß der ökologischen Zerstörung (Coole/Frost 2010). Die Schwierigkeiten, die beim Versuch auftreten, sich Nicht-Menschen zu ihren eigenen Bedingungen zu nähern und sie zu verstehen, werden im andauernden Streit um basale Begriffe und in der permanenten Produktion von mannigfaltigen, scheinbar unüberbrückbaren Dichotomien offensichtlich.4 Dem Begriff des »Materialismus« und seiner Kognaten sind die rudimentären Spuren seiner Erbsünde – solcher Binaritäten und Dichotomien – nach wie vor eingeschrieben (Idealismus, Cartesianismus etc.). Da gibt es diejenigen, die von einem »array of materialities« ausgehen (Butler 1993: 97) und andere, die auf einer einzigen, monistischen Materialität bestehen, die sogar Sprache und Körper umfasst (Barad 2007: 211); es gibt Reaktionen gegen Missverständnisse von »Materialität« als ein »generalized substrate« (Ingold 2007), zugunsten von mannigfaltigen und strömenden »materials« (Ingold 2012). Andere wiederum versuchen die NaturKultur-Trennung zu überwinden, die dem Gegensatz von einem absoluten Determinismus der Natur (die Domäne der Naturwissenschaften) auf der einen, und der absoluten Freiheit des menschlichen Handelns und Denkens auf der anderen Seite (die Domäne der Geistes- und Sozialwissenschaften) zugrunde liegt (Haraway 1991; Latour 2008). In der vereinten Natur-Kultur zeigt sich jedoch immer noch ein Querstrich, ein Schrägstrich, das Wundmal der früheren Trennung. Diese Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten sind teilweise auf eine Übertragung »epistemischer Werte« aus den Naturwissenschaften in die Geistes- und Sozialwissenschaften zurückzuführen. Zudem haben wir von den Forschungsbeschreibungen nicht-menschlicher Dinge gelernt, die subjektiven und emotionalen Engagements einzuklammern, um mithilfe einer interessenlosen Beobachtung die betreffenden Dinge getreu und objektiv wiederzugeben (»Naturwahrheit«). Aber ungeachtet des Versprechens, eine universelle und zeitlose »Wahrheit« hervorzubringen, ist Objektivität, wie nicht zuletzt Daston und Galison gezeigt haben, selbst eine historisch spezifische epistemologische Konstruktion und Erwartung (Daston/Galison 2007). Gleichwohl kann die menschliche Sensibilität durch die Art und Weise, wie wir in nicht-menschlichen Dingen verwurzelt sind – wie wir aus ihnen zusammengesetzt sind, wie wir sie herstellen und benutzen – nicht von den nicht-menschlichen Wirten, Symbionten, Parasiten und Partnern abgetrennt werden. Von einem anderen Standpunkt aus mag es sich also schlicht um ein Übersetzungsproblem handeln: Vielleicht verstehen wir jenseits der strengen Codes der begrenzten Sprachen der Naturwissenschaften einfach nicht, was uns nicht-menschliche Andere zu »sagen« haben, oder wie sie sich ausdrücken. Matthew C. Watson vergleicht die nicht-menschlichen Äußerungen mit der Sprache der Subalternen, die vom hegemonialen Diskurs weder gehört noch anerkannt wird – es ist die stumme Sprache 4 | Obwohl das natürlich bis zu einem gewissen Maße erwartbar und sogar gut ist (Connolly 1994).
Dorothy H.B. Kwek und Rober t Seyfer t — Affekt. Macht. Dinge
der Kolonisierten (Guha 1988; Spivak 1988; Watson 2011). Dementsprechend hat man gefordert, die Dinge in der menschlichen Sozialität besser zu repräsentieren (Latour 2001). Genau genommen sind die Dinge jedoch nie wirklich stumm gewesen, vielmehr befinden wir uns immer inmitten eines veritablen Lärms der Dinge: Spatzen zwitschern, Zikaden singen, Traktoren rattern, Hubschrauber brummen, Ladegeräte summen, Wellen stürzen auf das Ufer und der Regen fällt auf den Stein. Die Dinge hören nie auf zu tönen. Es mangelt uns schlicht an der angemessenen Sensibilität, der richtigen Abstimmung, um diese auch entsprechend wahrnehmen und deuten zu können. Dazu bedarf es einer Umarbeitung dessen, was Jacques Rancière (wenn auch in einem anthropo-politischen Zusammenhang) eine neue »Aufteilung des Sinnlichen« genannt hat. Sinnliche Aufteilungen machen uns sensibel für bestimmte Konfigurationen von Erfahrungen; sie machen selektiv Sinn, indem sie separieren, aus- und einschließen und die Welt in für uns wahrnehmbare Dinge organisieren, sie installieren und instillieren ganze Universen dessen, was zählt und was nicht, was gesehen oder gefühlt werden kann, bzw. was unsichtbar und unberührbar bleibt (Rancière 2008: 31). So war der feministische Kampfruf »Das Private ist politisch« eine Neuaufteilung sozialer Sensibilitäten. Von nun an sind »Häuslichkeiten« öffentlich und damit politisch relevant. Eine neue Sensibilität wurde geschaffen, eine, die Sinn aus den »öffentlich-politischen« Behauptungen dessen machen kann, was einmal scheinbar »privat« war. Neue und andere Aufteilungen der Sinnlichkeit sind mit anderen Worten »Handlungen, insofern sie Erfahrung gestalten und neue Weisen des Fühlens sowie neue Formen der politischen Subjektivität hervorbringen« (Rancière 2006: 21).
2. A ffek t theorien Die aktuelle Affekttheorie kann uns dabei helfen, eine neue Sensibilität für nicht-menschliche Andere zu entwickeln. Die gegenwärtige Bedeutung von »Affekt« kann bis zu den Affektenlehren des 17. und 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden (James 1997; Brennan 2004). Einerseits mobilisieren die aktuellen Affekttheoretiker den Begriff gegen die Vorstellungen eines durch rationale und deliberative Entscheidungen motivierten Menschen, der auf der Basis von ökonomischen oder logisch-philosophischen Erwägungen handelt. Andererseits wenden sie sich mit dem Affektkonzept gegen die Vorstellung einer reinen Verinnerlichung psychischer Prozesse (Connolly 2011; Leys 2011). Demnach kann der Affekt nicht einfach auf Emotionen und Gefühle zurückgeführt werden, vielmehr zeichnet er nach, wie die Strukturen der Psyche5 mit den körperlichen und sozialen
5 | Verstanden im altgriechischen Wortsinn, wo sich die Psyche nicht allein auf Erlebnisse einer reinen Innerlichkeit bezieht, sondern alle Prozesse des Körpers umfasst.
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Strukturen verbunden sind. Genau genommen ist aber auch diese Beschreibung noch allzu dualistisch. In unserem Beitrag werden wir uns auf die Definition von Benedict de Spinoza (1990) beziehen, die das Affektkonzept von Gilles Deleuze und Félix Guattari (2002) inspiriert hat, das wiederum die Basisreferenz für viele Affekttheoretiker der Gegenwart bildet (Massumi 1995; Braidotti 2002; Stewart 2007; Clough 2008; Protevi 2009; Gregg 2010; Berlant 2011; Seyfert 2012a): Ein Affekt ist ein Wechsel oder die Transformation eines Körpers, die durch die Begegnung mit einem anderen Körper ausgelöst wird. Dieser Wechsel ist immer zugleich körperlich und imaginär oder symbolisch, bezieht sich also immer zugleich auf Körper und Geist. Aus einer »materialistischen« Perspektive ist es entscheidend, dass Spinoza keinen Unterschied zwischen menschlichen Körpern, organischen Körpern und anorganischen Körpern – materiellen Dingen – macht. In diesem Zusammenhang lautet eine, auch von Deleuze und Guattari häufig verwendete Referenz in Spinozas Ethik, dass »alles, was wir von der Idee des menschlichen Körpers gesagt haben, notwendig von der Idee eines jeden Dinges gesagt werden« muss (Spinoza 1990: 143 [E2pr13s]). Deswegen verwenden wir den Begriff des Affekts nicht nur für menschliche, sondern auch für nicht-menschliche Andere. Wir gehen auf Spinoza zurück, anstatt uns auf aktuellere Ideen wie z.B. die der hormonellen Affizierungen zu beziehen (Brennan 2004), da sich der Affekt (lat. affectus) in Spinozas Philosophie immer schon auf zwei oder mehr Dinge bezieht. Das heißt, Körper können andere Körper nicht affizieren, ohne selbst affiziert zu werden – alles was affiziert, wird auch selbst affiziert. In Spinozas Philosophie ist der Affekt nicht dem Individuum innerlich, sondern der Affekt durchläuft umgekehrt das Individuum.6
Ein kurzer E xkurs zu Alternativen: Atmosphären und Akteurs-Netzwerke Es gibt Theoriealternativen, die der Rolle nicht-menschlicher Anderer innerhalb der sozialen Faltungen Rechnung tragen, beispielsweise zu überindividuellen (Balibar 1985; Montag 2005) und artenübergreifenden Beziehungen (Kirksey/ Helmreich 2010). Auch liegen Bruno Latours Vorschläge zu den »Hybriden«, »Akteurs-Netzwerken« – oder genauer, »Aktanten-Werknetzen« – vor, Konzepte, die die Grenze zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren dekonstruieren und verwischen (Latour 2007: 247). Demzufolge seien soziale
6 | Insofern entzieht sie sich der Grenze, die um und für Individuen errichtet worden ist (Brennan 2004) – eine Grenze, zu deren Abrüstung andere Theorien so viel kritischer Energie aufwenden.
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Akteure als Assemblagen heterogener Elemente zu verstehen, die alle gleichermaßen an der Produktion sozialer Effekte beteiligt sind.7 Ein anderes Konzept ist das der »sozialen Atmosphäre« (Böhme 1993, 1995; Sloterdijk 1998, 2004; Latour 2003; Brennan 2004; Anderson 2008; Borch 2008, 2009; Stewart 2011). Eine Atmosphäre dringt, wie der Name andeutet, in alles und jeden ein und durch alles und jeden hindurch. Eine Atmosphäre ist dabei nicht auf einen spezifischen Gegenstand, einen Handlungsträger, den Menschen oder eine bestimmte, genau definierte Gruppe beschränkt, sondern affiziert all diejenigen, die in sie hineingeraten. Diese Vereinnahmung geschieht auf subtile und komplexe Art und Weise, ob psychisch oder physiologisch – oder, wie Atmosphärentheoretiker behaupten, in einer Mischung aus beiden – auf eine Art und Weise, die der bewussten Wahrnehmung und Anpassung vorausgeht. Es gibt unzählige atmosphärische Konzepte, von Sloterdijks Sphärologie (Sloterdijk 1998), über Herrmann Schmitz neo-phänomenologische Analogie zwischen Gefühl und Wetter (Böhme 1995; Schmitz 1969, 1990, 2011), zu Teresa Brennans hormonellem Entrainement (2004), bis zur Idee räumlicher und architektonischer Atmosphären (Hasse 2012; Göbel 2015). Trotz signifikanter Unterschiede, teilen Latours Aktanten-Netzwerk-Theorie und die Atmosphärentheorien ähnliche Schwächen. Die Ideen von Netzwerken und Atmosphären sind so konstruiert, dass sie eine Vielzahl von Handlungsträgern und deren hybriden Charakter darstellen und die Porosität des Individuums und dessen Verwebungen mit allen möglichen Elementen eines Milieus sichtbar machen. Aber die Beschreibungen der Mechanismen, die Individuen oder Aktanten innerhalb einer Atmosphäre oder eines Netzwerkes hervorbringen, erhalten und transformieren – verschiedentlich als Ansteckung, Durchdringung, Entrainenment und Transmission beschrieben –, setzen nichtsdestotrotz eine etwas atomistische Vorstellung von Körpern voraus, von Körpern, die sich im Moment des Eintauchens in die Masse oder die Atmosphäre geradezu auflösen. Gerade die (analytischen) Unterscheidungen in Aktant-Netzwerk und Individuum-Atmosphäre garantieren die unselige Wiederkehr der Dichotomien, selbst wenn die Überwindung dieser Dichotomien im Zentrum dieser Theorien steht. Darüber hinaus sind diese Theorien nicht in der Lage, die unzähligen Arten in denen Individuen von der »Norm« abweichen, konzeptionell in Rechnung zu stellen (z.B. die Norm, die sich aus der Symptomatik biomedizinischer Ansteckung ergibt). Fairerweise muss man dazu sagen, dass einige Atmosphärentheorien besonders viel Wert auf die Erklärung abweichenden Verhaltens legen: auf die Beantwortung der Frage also, warum verschiedene Akteure in verschiedenen Atmosphären verschieden reagieren (Böhme 1993; Schmitz 1994; Brennan 2004). So begründen Brennan und Böhme den Widerstand gegen problematische Atmosphären mit kritischem Denken und Auf klärung (z.B. gegen den faschis7 | Latours Ideen sind oft genug dargestellt worden, dass wir deren grundsätzlichen Inhalt an dieser Stelle nicht noch einmal wiedergeben müssen.
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tischen Mob). Sich allein auf solcherart Reaktionen zu verlassen, heißt jedoch in all das zurückzufallen, was die Atmosphärentheorien ursprünglich kritisiert haben: die Idee eines autonomen Subjekts, das, mit bestimmten kognitiven und kritischen Vermögen ausgestattet, in der Lage ist sich intentional von der Masse und der Atmosphäre zu isolieren. Infolgedessen wird den Körpern in Atmosphären nur zwei Möglichkeiten zugestanden: entweder Immersion oder Immunisierung.8
3. A ffek te untersuchen Wie wir bereits angedeutet haben, kann der Affekt nicht einfach mit den subjektivistischeren Begriffen der »Emotion« oder des »Gefühls« gleichgesetzt werden, denn der Affekt ist nicht einfach ein Zustand oder eine Phase im Individuum. Er ist vielmehr ein Prozess, der mit einer Zustandsänderung einhergeht – ein Prozess, der mindestens zwei, häufig aber mehrere umfasst: von den winzigsten Körpern oder Ideen bis zu den komplexesten, von nicht-menschlichen bis zu menschlichen und transhumanen, von einem Tropfen Wasser, der sich im Fallen in eine Schneeflocke verwandelt, bis zum Zusammenstoß zweier staatlicher Leviathane (Spinoza hat ausdrücklich auf einem unbegrenzten Ausmaß an Größen und Komplexitäten von Körpern und Ideen bestanden [Deleuze 1993]). Insofern erlaubt uns der Einsatz des Affektkonzepts (jedenfalls in seiner Neo-Spinozistischen Version) auf der Skala der Analyseebenen hinauf- und hinabzulaufen. Eine Affektanalyse erlaubt uns, den Wechsel im Verlauf der Zeit nachzuverfolgen. Damit unterscheidet sie sich beispielsweise von der Emotionstheorie Paul Eckmans, die beansprucht, kulturell und historisch universal gültige »Basisemotionen« identifiziert zu haben. Damit macht Eckmann den menschlichen Körper zu einer fixen Entität, die, unabhängig von der Biographie des individuellen Körpers immer und überall auf dieselbe Weise auf äußere Reize reagiert (Eckman 1999). Demgegenüber erlaubt das dynamische und fluide Körperverständnis der Affekttheorie nicht nur, die Umrisse spezifischer Ereignisse zu einem spezifischen Zeitpunkt darzustellen, sondern auch die Geschichte bestimmter Affektivkonfigurationen nachzuzeichnen – seien sie die eines spezifischen Körpers oder die Transformationen der körperlichen Affektkonfigurationen quer durch verschiedene Milieus. 8 | Der Ansatz von Schmitz ist in dieser Hinsicht ein wenig komplexer. Er unterscheidet den gefühlten Leib vom räumlich ausgedehnten Körper. Während Atmosphären im Bereich des gefühlten Leibes zu verorten sind, sind alle Sensationen und Perzeptionen streng dem ausgedehnten Körper zugeordnet (Schmitz 1989). Konzeptionell bleibt die Beziehung zwischen Körper und Leib jedoch unklar und man hat darüber hinaus Schwierigkeiten, sich atmosphärische Immersionen in nicht-sinnlich wahrgenommen und nicht-räumlich ausgedehnten Atmosphären vorzustellen.
Dorothy H.B. Kwek und Rober t Seyfer t — Affekt. Macht. Dinge
Affekttheorien ergänzen den material turn insofern, als sie es ablehnen das soziale und politische Leben auf eine einzige Fähigkeit, wie z.B. Kognition, Sprache oder Symbolismus zu reduzieren. Sie untersuchen alle Arten von Kanälen durch die Akteure miteinander kommunizieren und interagieren. Dabei erfassen sie nicht nur ein breites Spektrum an Kommunikationsfrequenzen, z.B. haptische, olfaktorische, elektrische etc. (Seyfert 2012a). Durch die Aneignung von LeBons Konzept der Ansteckung in Massen (Borch 2012) oder Tardes Konzept der Nachahmung (Tarde 2003) versuchen sie ebenso die Vielzahl der Transmissionen und Interaktionen aufzuzeigen. Zusätzlich zu den Kommunikationskanälen und -frequenzen berücksichtigen sie auch qualitative Variationen innerhalb dieser Interaktionensformen, ihre Intensitätsstufen (Massumi 1995; Thrift 2004; Featherstone 2010; Lash 2010). Schließlich erlaubt uns die Affektanalyse eine Antwort auf die zentrale Kritik am Posthumanismus9 zu geben, die gelegentlich auch gegen den Neuen Materialismus hervorgebracht wird, nämlich dass dort die menschliche Handlungsträgerschaft fundamental geleugnet und ignoriert werde. Unabhängig davon ob die Ablehnung normativer oder analytischer Natur ist, nimmt diese Kritik in der Regel einen moralischen oder ethischen Standpunkt ein.10 Die Neuen Materialisten sind jedoch keine Antreiber eines Techno-Futurismus; was sie anstreben ist unter anderem ein nuancierter Zugang zur menschlichen Handlungsträgerschaft, die immer schon in die nicht-menschlicher Anderer eingebettet ist, mit ihr verwoben ist, von ihr konstituiert und eingeschränkt wird. Insofern können die Überlegungen der Neuen Materialisten uns nicht zuletzt dabei helfen, die Kosten und Konsequenzen dessen im vollen Umfang zu verstehen, was wir als »menschliches Handeln« ansehen. Mit der Betonung der Prozesse zwischen Individuen und Akteuren, erlaubt uns die Affektanalyse den Blick auf die Details von Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Anderen zu lenken. 9 | Es gibt eine Vielzahl an posthumanistischen Varianten, angefangen von denjenigen, die engere Beziehungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Anderen befürworten (Haraway 2003), über solche, die die Nicht-Menschen als handelnd und eingreifend beschreiben (Bennett, Latour), bis hin zum utopischen Technojargon der Vertreter der »technologischen Singularität«, die in kurzatmigen messianischen Tönen eine singuläre monolithische posthumane Zukunft verkünden (Vinge 1993; Kurzweil 2005); zumindest die letztere hat eine eigene Universität, finanziert von Technologiefirmen. 10 | Allerdings setzt diese Art von Kritik weder erst mit den aktuellen Posthumanismen von Haraway ein, noch mit den aktuellen Ansätzen des Neuen Materialismus; den Vorwurf des Posthumanismus hat man bereits gegen Foucault erhoben. Für eine Antwort darauf siehe Rosi Braidottis The Posthuman (2013). In diesen Vorwürfen spiegelt sich auch eine Angst, die regelmäßig im Feuilleton auftaucht. Siehe hierzu beispielsweise Leon Wieseltier in The New York Times, »Among the Disrupted« (2015) sowie populäre Kulturanalysen wie beispielsweise Fukuyamas Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution (2002).
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Im Folgenden werden wir die analytischen Möglichkeiten einer Affektanalyse an einer bestimmten Sozialform darstellen, nämlich anhand ethnographischer Untersuchungen von Gesellschaften, in denen auch nicht-menschliche Andere als Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden. Die Untersuchungen solcher Gruppen – die die traditionelle Ethnologie unter anderem als totemistische Gesellschaften bezeichnet und untersucht hat – können als empirische Beispiele dienen und zugleich aufzeigen, inwiefern eine Affektanalyse neues Licht auf die Rolle nicht-menschlicher Andere in der Konstruktion des Sozialen zu werfen im Stande ist.
4. H e terologische G esellschaf ten Die Studie des Ethnologen Karl von den Steinen (1894) beschreibt, wie ein Mitglied des Bororó-Stammes in Zentralbrasilien »die wichtigsten Teile seiner Kultur von den Personen erhalten, die wir Tiere nennen […] Zähne, Knochen, Klauen, Muscheln sind seine Werkzeuge, ohne die er weder Waffe noch Haus noch Gerät herstellen könnte. Er verdankt, was er leisten kann der Piranya, dem Hundsfisch, dem Affen, dem Kapivara, dem Aguti, dem Riesengürteltier, den Mollusken.« (von den Steinen 1894: 354)
So stammt u.a. die Fähigkeit, bei Nacht mit Feuer zu jagen, vom Kampffuchs, der »in seinen im Dunkel leuchtenden Augen ja Feuer hat« (von den Steinen 1894: 353), und die Fähigkeit zu Schlafen wurde von der Eidechse »die mehrere Monate verschläft« (von den Steinen 1894: 354) beigesteuert. Umgekehrt, haben die Menschen in die Gruppe eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten eingebracht, z.B. Pfeile herzustellen und Korn zu stampfen (ebd.). In solcherart Gruppen ist die Mitgliedschaft also mit der Verteilung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Sensibilitäten verbunden – Eigenschaften, die von allen heterogenen Gruppenmitgliedern auf unterschiedliche Weise eingebracht wurden. Von den Steinen beschreibt diese Gruppenbeziehung auch als Enteignung, denn das Ende der Gruppenmitgliedschaft geht zugleich mit dem Verlust von Fähigkeiten einher, selbst wenn ein Mitglied diese Fähigkeiten ursprünglich selbst eingebracht hat. Exemplarisch steht dafür der Fall der Eidechse: »Mit dem Schlaf hat die Eidechse auch die Hängematte hergeben müssen, die dazu gehört. Jetzt hat sie keine mehr, sie ist ihr eben weggenommen worden, und sie war auch sehr böse. Alle jene Errungenschaften wurden mit Gewalt oder List geraubt; darum fehlen sie den Tieren heutzutage.« (von den Steinen 1894: 355)
Der Prozess der Übertragung von Fähigkeiten einzelner Gruppenindividuen auf alle Gruppenmitglieder und die Ausschließung eben dieser Individuen er-
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klärt auch die fundamentalen Mechanismen anthropistischer Gesellschaften. Hier wurde die Mitgliedschaft nicht-menschlicher Gruppenmitglieder politisch, ökonomisch und juristisch beendet. Große Teile dieser Kulturen und die damit verbundenen Fähigkeiten und Sensibilitäten stammen jedoch von Mitgliedern, denen die entsprechende juristische, politische und ökonomische Anerkennung fehlt.11 Das heißt nicht, dass diese nicht-menschlichen Anderen in modernen Gesellschaften vollständig ausgeschlossen sind, vielmehr wurde ihnen im Prozess der funktionalen Differenzierung der Zugang zu bestimmten Teilsystemen wie Politik, Recht und Ökonomie systematisch versperrt.12 Von den Steinens Analyse der Bororó-Gesellschaften enthält eine wichtige Einsicht: In diesen Gesellschaften ist die Gruppenmitgliedschaft nicht durch eine klare Grenze zwischen Tieren und Menschen definiert: »Es sind alles nur Personen verschiedenen Aussehens und verschiedener Eigenschaften.« (von den Steinen 1894: 351) Solche Gesellschaften wollen wir, in Abgrenzung zu anthropistischen und animistischen Gesellschaften, als heterologische Gesellschaften bezeichnen, was heißen soll, dass die Mitgliedschaft hier nicht auf eine spezifische Akteursfigur, wie den Menschen reduziert ist bzw. dass fast jeder ein Gruppenmitglied werden kann. In der Tat ist im Fall der Gruppen, die von den Steinen untersucht, jede Klassifikation und Unterscheidung eher lose, sodass jeder und alles leicht die Seite wechseln kann – Menschen können alle möglichen Tiere und Objekte werden und umgekehrt: »Man braucht nur ein Medizinmann, der Alles [sic!] kann, zu sein, so kann man sich von einer Person in die andere verwandeln, so versteht man auch alle Sprachen, die im Wald oder in der Luft oder im Wasser gesprochen werden.« (von den Steinen 1894: 351)13 11 | Die Ausnahmen, wie die in der Schweizer Verfassung gesicherten Rechte von Pflanzen sind dünn gesät. 12 | Diese Tatsache übersieht z.B. Gesa Lindemann, die die gesellschaftliche Mitgliedschaft allein auf das juristische System bezieht und dabei übersieht, dass wir z.B. Haustiere durchaus als Mitglieder behandeln, obwohl ihnen diese Anerkennung juristisch verwehrt bleibt (vgl. dazu auch Seyfert 2012c). 13 | Gegenwärtig haben Ethnologen wie Philippe Descola die Idee der sozialen Beziehungen und Interaktionen von Menschen und Nicht-Menschen wieder aufgegriffen. Und das auf eine Weise, die über den konzeptionalistischen Ansatz von Lévi-Strauss hinausgeht, dem zufolge Nicht-Menschen als Symbole und kognitive Instrumente lediglich der Ordnung menschlicher Gesellschaften dienen. Aus Respekt vor dem Werk von Lévi-Strauss behält Descola aber dessen Definition totemistischer Gesellschaften bei, als symbolische Systeme in der die »internal differences which inform the social order« zum Ausdruck gebracht werden. Stattdessen nennt er soziale Praktiken, durch die menschliche und nicht-menschliche Akteure in eine Beziehung zueinander treten, animistisch (Descola 1992: 114). Gleichwohl berücksichtigt er auch die praktische Bedeutung der Begegnung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Allerdings sind wir der Überzeugung, dass er die kognitiven
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Darüber hinaus handelt es sich bei der Verteilung der Fähigkeiten und Sensibilitäten unter der Gruppenmitgliedern nicht so sehr um eine ökonomische Transaktion, durch den der Besitz von »Qualifikationen« von einem zu dem anderen übergeht (wie man es mit Blick auf die heutige Serviceindustrie vermuten könnte); stattdessen handelt es sich bei der Bildung eines Kollektivs (von z.B. Eidechsen oder roten Papageien) auch um die Ausweitung der Sensorien und Fähigkeiten auf alle anderen Gruppenmitglieder, kurz, um die Verteilung von Weltverhältnissen oder Weltzugängen (Gebauer/Wolf 2003). Jede spezifische Fähigkeit, die übertragen wird, geht mit einer spezifischen Art und Weise einher, die Welt wahrzunehmen und auf sie einzuwirken: So ermöglicht die Fähigkeit Feuer zu machen sich in die Finsternis zu begeben und nachts zu jagen, während die Fähigkeit zu schlafen nicht nur Erholung verspricht, sondern, was viel wichtiger ist, den Zugang zu Träumen eröffnet. Daher werden die tierischen Sensibilitäten menschlich oder vielmehr ist den menschlichen Sensibilitäten immer schon das Tier inhärent.14 In Wesen und Formen der Sympathie (1923) erklärt Max Scheler zu Karl von den Steinens Untersuchungen in Zentralbrasilien: »Die Boroso [sic!] geben, nach von den Steinen, zu verstehen, daß sie wirklich identisch mit roten Papageien seien (Araras) und je ein Glied des Totems mit je einem roten Papagei. Nicht etwa nur sind die Schicksale (Geburt, Krankheit, Tod) des Totemisten mit seinem Totemtier geheimnisvoll bloß kausal verknüpft: diese Verknüpfung ist vielmehr nur eine Folge wahrhafter Identität.« (Scheler 1923: 18)
Die Gruppe »erfindet« sich also nicht einfach ein Symbol oder weist es sich zu, sondern das Symbol beschreibt die realen Beziehungen in der Gruppe. Diese tatsächlichen Beziehungen (von Menschen und Tieren) sind somit ontologischer Natur. Oder, um genauer zu sein, sie sind affektive Beziehungen, die kognitive Effekte oder Ideen (in Tieren und Menschen) hervorrufen. Schelers Theorie der Sympathie kann uns dabei helfen, die Unterscheidung in affektive und kognitive Effekte weiter zu analysieren.
und affektiven Effekte der sozialen Begegnungen mit Nicht-Menschen unterschätzt. Für eine ausführlichere Diskussion der transformativen Aspekte von identifikatorischen Praktiken siehe auch Seyfert 2012b. Wir glauben, dass solche Begegnungen nicht nur für die Ordnung des Sozialen relevant sind, sondern auch für die Aufteilung des Sinnlichen und Kognitiven. 14 | Als nützlichen Kontrast kann hier Bernhard Stieglers Interpretation des PrometheusMythos dienen, wonach der Mythos eine eigentümliche – und ausschließlich – menschliche Erfindungsgabe ist, eine technē oder technische Prothese, die den allzu menschlichen Mangel kompensiert (Stiegler 2009).
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E xkurs zu Scheler: vier Typen affektiver Beziehungen Scheler nimmt eine analytische Unterscheidung von vier Typen affektiver Beziehungen vor: Miteinanderfühlen, Mitgefühl (bzw. Sympathie), Gefühlsansteckung und Einsfühlung (bzw. Einsgefühl). Miteinanderfühlen ist eine Abgleichung der Gefühle von zwei oder mehr Personen in Richtung desselben Objektes oder derselben Person, wie z.B. die Gefühle der Eltern für ihr Kind (Scheler 1923: 9). Miteinanderfühlen sollte insofern nicht mit Mitgefühl oder Sympathie verwechselt werden, als diese durch eine direkte »Intention des Fühlens von Leid und Freude am Erlebnis des Andern« (Scheler 1923: 10) definiert sind: Im Miteinanderfühlen fühlt man für jemanden dasselbe wie ein anderer, im Mitgefühl fühlt man dasselbe wie der Andere. Gefühlsansteckung dagegen ist indirekt und ohne Intention; es ist eine Form affektiver Übertragung, die »lediglich zwischen Gefühlzuständen stattfindet; und […] ein Wissen um die fremde Freude überhaupt nicht voraussetzt« (Scheler 1923: 12). Nach Scheler handelt es sich dabei um »Ansteckung durch fremde Affekte, wie sie beispielsweise in elementarster Form in den Handlungen der Herden und ›Massen‹ vorliegt« (Scheler 1923: 8). Schließlich gibt es noch die »echte Einsfühlung« (resp. Einssetzung) des eigenen mit einem fremden individuellen Ich. Sie ist ein »Grenzfall der Ansteckung«, die mit kognitivem und symbolischem Wissen einhergeht – gleichsam eine Mischung aus Ansteckung und Sympathie. Scheler grenzt sie explizit sowohl von LeBons Massenansteckung als auch von Sigmund Freuds Identifikation mit dem Führer und von den Nachahmungsprozessen bei Gabriel Tarde ab (Scheler 1923: 13f.). Die Einsfühlung, die Wissen um den bzw. das Andere enthält, ist aber keineswegs ein reflexives Wissen: Auch »hier ist die Identifikation ebenso unwillkürlich als unbewußt« (Scheler 1923: 16). Identifikation mit einem anderen Objekt oder einer anderen Person ist die »Fähigkeit zu spezifizierter Einsfühlung in die spezifizierte dynamische Gestalt eines fremden« Lebens (ebd.: 33). Diese Fähigkeit bezieht sich nicht allein auf interpersonale Relationen. Wie Scheler mit dem Konzept der »kosmovitalen Einfühlung« verdeutlicht, können auch die Beziehungen zu »Tier, Pflanze, Anorganischem« den Charakter der Einsfühlung aufweisen. Die kosmovitale Einfühlung ist demnach nicht als ein Anthropomorphismus zu verstehen, vielmehr ist der Mensch in Schelers Anthropologie ein »kosmomorphes Wesen« (ebd.: 123), dem die Identifikation mit Anderen als Möglichkeit mitgegeben ist. Ein solches Konzept der Identifikation mit dem Anderen kann auch zur Analyse heterologischer Gesellschaften herangezogen werden. Schelers Konzept der Einsfühlung bzw. Identifikation unterscheidet sich somit sowohl von Lévi-Strauss’ symbolisch-anthropomorpher Interpretation als auch von Malinowskis funktionalistischem Ansatz. Malinowski hatte die Wahl der natürlichen Spezies in Totemgruppen darin begründet gesehen, dass diese »in erster Linie essbar« sein müssen (Malinowski 1948: 4) – man könnte also gleichsam von einer Ernährungsmethode sprechen. Im Gegensatz dazu erklärt Lévi-Strauss, dass die natürliche Spezies in totemistischen Gruppen »nicht aus-
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gewählt werden, weil sie »gut zu essen« sind, sondern weil sie »gut zu denken« sind (Lévi-Strauss 1972: 116). Am Beispiel der natürlichen Spezies lasse sich die menschliche Gesellschaft gut organisieren und der Totemismus wäre so gesehen eine »Denkmethode« (ebd.: 22). In Abgrenzung von Levi-Strauss und Malinowski auf der einen und in Übereinstimmung mit Scheler auf der anderen Seite gehen wir davon aus, dass die kollektive Wahl von Totemtieren im gleichen Maße durch menschliche und nichtmenschliche Gruppenmitglieder strukturiert und getroffen wird, und im Wesentlichen darauf basiert, was gut sinnlich wahrgenommen werden kann – also wovon man sich gut affizieren lassen kann und was wir zu affizieren im Stande sind. Nach Scheler haben die Identifikationsprozesse in totemistischen Gesellschaften also eher etwas mit der Anpassung und Abgleichung der Sensibilitäten aller Gruppenmitglieder zu tun. Mit einer solchen Methode versteht man Gruppen nicht einfach anhand ihrer symbolischen Ordnung, sondern in erster Linie durch die spezifische Zusammensetzung institutionalisierter Sinne, d.h. durch die ihr typische Art und Weise, die Welt sinnlich wahrzunehmen sowie durch die sensorische Synchronisation der verschiedenen Gruppenmitglieder. Statt einer genetisch, biologisch oder physiologisch festgelegten Menge von Sinnen, handelt es sich hierbei um eine gruppen- und kulturspezifische Aufteilung der Sinnlichkeit, die auf andere übertragen, ihnen verliehen bzw. von ihnen nachgeahmt und gelernt werden kann. Dabei ist die entscheidende Frage, auf welche Weise man sich das Sensorium des Anderen aneignen kann.15
5. I dentifik ation und N achahmung Totemistische Identifikation wird durch Prozesse der Imitation hervorgebracht. So werden bestimmte Fähigkeiten des Totems – wie etwa Tierlaute oder Bewegungen – in der Regel dadurch übertragen, dass sie von den Gesellschaftsmitgliedern nachgeahmt und angeeignet werden (Sapir 1922; Lawler 1952). Bei diesen Imitationen handelt es sich nicht einfach um die Simulation des Gleichen in Form und Inhalt. Wie Deleuze und Guattari dargestellt haben, besitzt der Akt der Nachahmung vielmehr performative Effekte, die sie auch als Momente der Intensität und des Werdens bezeichnen: Intensität beschreibt die Veränderung, die wir durchlaufen, wenn wir jemanden anderen oder etwas anderes nachahmen. Solche Momente des Werdens können auch in den ethnographischen Beobachtungen von den Steinens gefunden werden. So identifizieren sich zum Beispiel die Bororó mit ihren Araras, roten Papageien, auf die gleiche Weise wie sich eine Raupe mit einem Schmetterling identifiziert (von den Steinen 1894: 353). Damit ist darauf verwiesen, dass die Raupe, obwohl sehr unterschiedlich in Erscheinung 15 | Schelers Werk analysiert die Unterscheidungen der Aneignungen, er sagt aber nichts Genaues über die Prozess, die Sympathie hervorbringen.
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und Form, ein Schmetterling wird. Der Prozess der Nachahmung ist intensiv: Er verändert uns, macht uns aber desto trotz nicht identisch mit dem was wir nachahmen, selbst wenn wir nicht mehr länger die sind, die wir einmal waren. Das heißt, dass der Nachahmungsakt als graduelle Veränderung immer zu beiden gleichzeitig in Beziehung tritt: zu dem was sich geändert hat und zu dem, was die Änderung hervorgebracht hat, d.h. was affiziert hat und was affiziert wurde. Nachahmung operiert affekt- und sinn-praxeologisch, da sie praktische Konsequenzen für die Art und Weise des Sehens und Handelns in der Welt hat, und sie ist formativ, insofern sie ein bestimmtes affektives Sensorium konstituiert, die das lenkt, was die Mitglieder einer Gruppe in ihrer Umwelt zu sehen und zu fühlen imstande sind. Die Komplexität der Nachahmung wird bereits in Spinozas Philosophie entfaltet. Für Spinoza kann kein Körper affizieren ohne selbst affiziert zu werden; es gibt immer eine wechselseitige Relation zwischen zwei oder mehreren Körpern (Kwek 2014). Besonders in seinen Bemerkungen zur Nachahmung eines »Dings, das unseresgleichen ist« (res nobis similis) (Spinoza 1990: 311 [E3p27]), macht Spinoza auf die komplexe Verschränkung dieses Prozesses aufmerksam. Nach Spinoza werden wir, wenn wir etwas oder jemanden sehen, der uns ähnlich ist und den wir auf irgendeine Art und Weise affizieren, auf die gleiche Weise affiziert (Ueno 1999). Diese Art affiziert zu werden findet unmittelbar satt, zusammen mit dem Auftauchen der verschwommenen Umrisse eines bildlichen Affekts und des Denkens. Das heißt der Affekt funktioniert nach einer imaginären Logik oder einer Logik der Bilder, die dem Prinzip der Ähnlichkeit und Assoziation folgen. Mit anderen Worten, wir assoziieren ähnliche Dinge miteinander. Wenn ein Kind von einem Hund gebissen wird, dann verbindet sich das Bild des Hundes mit dem Schmerz des Gebissenwerdens, und bei der nächsten Begegnung des Kindes mit einem anderen Hund wird das aktuelle Bild mit dem Erinnerungsbild der vorherigen Begegnung überlagert; der Affekt des Schmerzes wird in Erinnerung gerufen. All das geschieht unmittelbar ohne Auf bietung des Bewusstseins. Gemäß Spinoza ist das der Grund dafür, warum wir unterschiedliche Ursachen durcheinanderbringen und es ist auch eine Erklärung für Rassismus. Es könnte vielleicht der Eindruck entstehen, dass uns dieser Nachahmungsaffekt einander immer ähnlicher macht. Jedoch handelt es sich dabei nur um eine kleine Kräuselung im Gesamtkomplex der affektiven Resonanzen eines Individuums. Dieses »Unseresgleichen« ist eine imaginäre Verzögerung oder eine Metonymie. Von jemandem anderen affiziert zu werden, ist insofern nie ein vollständig bewusster oder intentionaler Akt der Mimikry. Ihm muss immer die prä-reflexive, imaginäre Doppelung der Spieglung vorausgehen (wenn wir Spinozas Affizierung durch unseresgleichen in Schelers Theorie verorten müssten, wäre sie irgendwo zwischen Gefühlsansteckung und Einsfühlung zu verorten). Der imaginäre Haken ist nicht etwas, das dem Affekt vorausgeht, sondern immer schon ein Teil des Affektgefüges oder Affektifs (Seyfert 2014). Es ist ebenso wenig im Subjekt, das
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nachahmt, verortet, sondern braucht immer den Anderen, der wie unseresgleichen ist, damit dieses Affektgefüge entstehen kann.
6. W ie macht man eine A ffek tanalyse ? In der Untersuchung kann man die Konzepte des Affiziert-Werdens (Spinoza) und des Anders-Werdens (Deleuze und Guattari) dazu verwenden, um intersubjektive und interobjektive Beziehungen genauer zu bestimmen. Sie können in methodischen Untersuchungen dazu dienen, sich mit anderen in eine Beziehung zu setzen. Dem Konzept des Werdens liegt die Idee zugrunde, dass Identität grundsätzlich unbestimmt ist. Sie entspringt aus den Beziehungen zu (menschlichen und nicht-menschlichen) Anderen in der »Umwelt« (von Uexküll) und der »Nachbarschaft« (voisinage) (Deleuze/Guattari): Wir sind das, was wir in unserer Umwelt sinnlich wahrnehmen und worauf wir einwirken können. Von Uexküll und Deleuze/Guattari verdeutlichen das am berühmten Beispiel der Zecke, die ihre Umgebung nur über drei Sinne wahrnimmt: einen »allgemeinen Lichtsinn der Haut«, einen »Geruchsinn« und die Wahrnehmung körperlicher Wärme (von Uexküll 1934: 1).16 Die »Umwelt« der Zecke besteht also aus dem, was sie über diese drei Sinne sinnlich wahrzunehmen im Stande ist, wohingegen das, was sie nicht affizieren kann und wovon sie nicht affiziert werden kann, ihre »Umgebung« bildet (von Uexküll 1934: 9). Das heißt, dass die Zecke die Elemente ihrer Umgebung nur sehr selektiv wahrnimmt und nur ebenso selektiv auf sie einwirken kann. Den Anderen verstehen – in diesem Fall die Zecke – erfordert, sich mithilfe einer ethnologischen Beobachtung in ihn hineinzuversetzen, die man in Anlehnung an von Uexkülls Werk Streifzüge durch die Umwelten von Tieren, Pflanzen, Menschen und Dingen nennen könnte. Für Uexküll ist es immer eine spezifische Beziehung zur Umgebung, die ein Tier und dessen Umwelt definiert und spezifiziert. Es ist der Vorrang der Relationalität in der Theorie von Uexkülls, die seine »Umwelt« von den späteren Atmosphärentheorien unterscheidet. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Sich in einen anderen hineinversetzen und ein Anderer zu werden ist ein Prozess, und das bedeutet nicht, dass wir jemals mit dem nachgeahmten Anderen identisch sein werden. Genauso wie es unendlich viele Andere gibt, gibt es mannigfaltige Arten ein Anderer zu werden. Und genauso wie ein Individuum durch seine affektive Konfiguration bestimmt ist, definiert sich das Soziale durch die spezifische Konfiguration seiner Mitglieder. So sind die modernen Gesellschaften – juristisch, politisch und ökonomisch – in erster Linie entlang anthropologischer Linien organisiert; alle Mitglieder streben danach Menschen zu werden bzw. werden dazu bewegt, Mensch zu werden. Das universale Totem ist der Mensch und dessen Exklusivitätsanspruch macht die modernen Gesellschaften zu anthropistischen Gesellschaften. Dieser Anspruch 16 | Die Referenz findet sich in Tausend Plateaus (Deleuze/Guattari 2002: 350).
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zeigt sich u.a. in Tierversuchen, die nicht darauf ausgerichtet sind, tierisches Verhalten zu analysieren, sondern den Tieren menschliche Fähigkeiten anzutrainieren (Rechnen, menschliche Sprache etc.). Er zeigt sich paradoxerweise aber sogar in den juristischen Versuchen, Tier- und Pflanzenrechte zu etablieren (wie sie z.B. in der Schweizer Verfassung verankert sind), die sehr begrenzt sind und im Umfang niemals dem entsprechen, was den Menschen zugestanden wird. Darüber hinaus werden sie in Annäherung an ein Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen angewandt, von dem man ausgeht, dass es Menschen am vollständigsten zu Verfügung steht.17 Bezeichnenderweise kann man sich in anthropistischen Gesellschaften Prozesse des Tierwerdens nur als Fiktion vorstellen, wie z.B. in Kafkas Verwandlung des Gregor Samsa oder in dessen Bericht für eine Akademie des Affen. Dementsprechend können Gesellschaften, in denen sich Menschen mit Tieren identifizieren, nur als »primitive« Gesellschaften verstanden werden. Paradoxerweise hat gerade eine Disziplin mit dem Namen Anthropologie gezeigt, dass scheinbar menschliche Gesellschaften tatsächlich Tiergesellschaften sein können (Descola 1992; Viveiros de Castro 2012; Kohn 2013; Holbraad 2014). In Totemgesellschaften streben alle Mitglieder dem Totemtier nach – in ihrer historischen Genealogie, ihrem Verhalten und ihrer Sinnlichkeit. Dieses Streben hat Auswirkungen sowohl auf die menschlichen als auch auf die nicht-menschlichen Gruppenmitglieder. Das Verbot das Totemtier zu essen hat Auswirkungen auf das Totemtier – eine Tatsache, die banal und offensichtlich erscheint, in der Literatur zu totemistischen Gesellschaften aber überhaupt keine Rolle spielt. Die totemistischen Gesellschaften definieren sich durch eine Reihe von Beziehungen, die nicht nur die Kosmologie beeinflussen, sondern die ganze Materialität der Totemwelt. Die Möglichkeit einer »kosmovitalen Einsfühlung«, wie sie Max Scheler beschrieben hat, findet sich auch in Walther Benjamins Essays zur Mimesis (Benjamin 1980a, 1980b). Nach Benjamin ist es die Natur selbst, die Ähnlichkeiten produziert (z.B. Mimikry), und die sinnlichen Praktiken der Mimikry bringen die Versuche den Kosmos nachzuahmen überhaupt erst hervor. Die Eigenschaft von Kindern bestimmt Benjamin dadurch, dass sie nicht nur andere Menschen nachahmen, wie »Kaufmann oder Lehrer«, sondern auch nicht-menschliche Andere wie »Windmühle und Eisenbahn« (Benjamin 1980a: 205). Was wäre, wenn wir diese Praktiken nicht länger als das Denken von Primitiven und Kindern herab17 | So definiert die Verordnung des Europäischen Rates über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt ihrer Tötung: »Das Wahrnehmungsvermögen eines Tieres besteht im Wesentlichen in seiner Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und seine Bewegungen zu kontrollieren. […] Das Empfindungsvermögen eines Tieres besteht im Wesentlichen in seiner Fähigkeit, Schmerzen zu fühlen. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass ein Tier dann empfindungslos ist, wenn es auf Reize wie Schall, Geruch, Licht oder physischen Kontakt nicht reagiert oder keine entsprechenden Reflexe zeigt.« (Verordnung [EG] Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009, §21)
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stufen? Unser Beitrag hat in diesem Zusammenhang als ein allzu kurzes Experiment gedient. Es stimmt, dass in unserem Beitrag die Menschen eine übergroße Rolle gespielt haben, selbst in der Darstellung heterologischer Gesellschaften mit gemischter Mitgliedschaft wie den totemistischen Gesellschaften. Das hat sicher seinen Grund darin, dass wir allzu lange Anthropoi geworden sind, was zu einer Art Anthropostasis im Denken und Handeln geführt hat, die danach strebt, alles nach dem Bilde des Menschen zu machen: Die Welt ist zu einem Spiegelkabinett geworden, die immer nur unsere eigene Torheit wiedergibt. Und die materiellen Konsequenzen sind allzu leicht zu erkennen: großräumige und oft irreversible ökologische Veränderungen und die Ausrottung ganzer Tier- und Pflanzenspezies, die wir nun nicht mehr werden können.
7. A usblick Schlussfolgerungen unseres Ansatzes sind mannigfaltig. Eine Affektanalyse kann rein analytisch und methodisch erfolgen: Streifzüge durch soziale Milieus könnten Akteure sichtbar und deren affektive Beziehungen zu ihrer Umgebung beschreibbar machen – Beziehungen, die den Sozialwissenschaften bisher entgangen sind. Über das reine Verfolgen der Akteure und dem Kartographieren ihrer Spuren hinaus, geht mit einem solchen Ansatz auch der Versuch einher, das Wesen dieser Akteure zu verstehen. Mit »Wesen« meinen wir natürlich nicht die genetische oder strukturelle Beschaffenheit der sozialen Akteure, sondern deren Sensorien und affektive Konfigurationen: Was nehmen sie in ihrer Umgebung sinnlich war und auf was können sie dort einwirken – was ist ihre Umwelt? Darüber hinaus stellt eine Affektanalyse die performativen Effekte der Beziehungen zwischen diesen (menschlichen und nicht-menschlichen) Akteuren in Rechnung; die Art und Weise wie diese Beziehungen das Wesen und die Umwelt der sozialen Akteure verändern, wenn sie miteinander interagieren. Nicht zuletzt geht mit diesem Ansatz auch ein politisches und ethisches Element einher. Er betont, dass jede (förderliche) Interaktion mit (menschlichen oder nichtmenschlichen) Anderen zu einer Zunahme unserer Fähigkeit führt, in unserer Umgebung Dinge sinnlich wahrzunehmen und auf sie einzuwirken. So gesehen ist der juristische, politische und ökonomische Anthropozentrimus unseres anthropistischen Zeitalters grundlegend immer auch eine Begrenzung unserer eigenen affektiven Fähigkeiten und in der Tat eine Verringerung der Macht. Diese Schlussfolgerung steht im klaren Gegensatz zu der Annahme, dass die Ausbreitung der Menschheit eine Aneignung der Natur und damit ein Zeichen seiner Macht ist. Macht besteht nicht nur aus der Fähigkeit, seinen Willen durchzusetzen, sondern zu allererst in der Fähigkeit Dinge in der Umgebung sinnlich wahrzunehmen (Kwek 2014).
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Die Sprache der Dinge 1 Kaja Silverman Entsprechungen Die Natur ist ein Dom, wo dunkel dann und wann Aus den lebendigen Pfeilern Worte erschallen; Hin geht der Mensch durch die symbol’schen Waldeshallen, Und Augen, vertraute, blicken daraus ihn an. Den langen Echos gleich, die von fern in den Lüften Zu tiefem, schattigem Einklang zusammenwehn, Weit wie die Nacht, wie die Helle, also bestehn Entsprechungen zwischen Farben, Tönen und Düften. Düfte gibt es so frisch wie Kinderfleisch, so sanft, Wie die Oboe tönt, grün wie ein Wiesenranft, Und andere, verderbt, üppig und triumphierend, Unendlichen Dingen gleich sich im All verlierend, Wie Ambra, wie Moschus, Benzoe, Weihrauchdunst, Von Geistesrausch singend und toller Sinnenbrunst. (Charles Baudelaire 1917: 10)
Mensch zu sein ist für Heidegger gleichbedeutend mit »In-der-Welt-Sein«. Doch nicht jedes Dasein − so Heideggers Bezeichnung für das menschliche Subjekt − empfindet sich als »da«. Wir können entweder auf »authentische« oder auf »unauthentische« Weise in der Welt sein. Die unauthentische Existenzweise negiert unsere Endlichkeit, während die authentische das »Sein zum Tode« akzeptiert.2 1 | Zuerst erschienen in: Buergel, Roger M./Noack, Ruth (2000): Dinge, die wir nicht verstehen, Wien: Generali Foundation, S. 33-49. 2 | Was ich hier nur andeuten kann, bezieht sich auf den philosophischen Entwurf, den Martin Heidegger 1927 in Sein und Zeit entwickelt (Heidegger 1953).
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Im Hinblick auf Heideggers Unterscheidung möchte ich behaupten, dass auch die Welt zwischen zwei verschiedenen Zuständen wechselt. Sie kann vernachlässigt vor sich hindämmern oder das Schauspiel einer strahlenden Erscheinung bieten. Im ersten Fall existiert die Welt bloß, im zweiten ist sie. Allerdings können die Lebewesen und Dinge nicht aus eigener Kraft in Erscheinung treten. Jemand muss sie erstrahlen lassen. Niemand anderer als wir selbst bilden die »Lichtung«, auf der sich die Welt entdecken kann.3 Dazu aber müssen wir wieder werden, was wir am Anfang aller Zeiten waren: WeltzuschauerInnen. Die Haltung einer WeltzuschauerIn erfordert, dass wir jene Entwicklungsgeschichte umkehren, die Platon in seinem Höhlengleichnis erzählt.4 Wir müssen aus dem kalten Licht eines abstrakten Guten heraustreten und uns dorthin aufmachen, wo die Schönheit vielfältig, aber noch immer unsinnlich ist. Von dort müssen wir uns in die stickige Atmosphäre der Höhle begeben, in das Reich der Fackeln und Schatten. Unter großer Mühe müssen wir uns dann den Weg zu dem Ort zurückbahnen, der unser ist − der Ort, von dem aus wir sehen, was allein uns zu sehen gegeben ist. Schließlich müssen wir die Gegenwart all jener anerkennen, die um uns sitzen, ihren Worten lauschen und selbst das Wort ergreifen. Würde die Geschichte damit enden, dann fehlte allerdings etwas Entscheidendes: die bereits existierenden Lebewesen und Dinge, die der Gott der Genesis Adam zuführte, damit er ihnen Namen gebe.5 Solange die sich nicht zu uns gesellen, können wir nicht sehen, und die Welt kann nicht in Erscheinung treten. Die Vorstellung, dass die Tiere und Vögel, eines nach dem anderen, zu uns kommen, klingt abwegig. Ist denn nicht die Höhle, als die uns Platon die Welt schildert, ein Gefängnis aus Zeichen? Ist nicht unser Versuch, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie sind, zum Scheitern verurteilt, weil wir, wie uns der Vater der abendländischen Philosophie lehrt, dasselbe sehen wie die Höhlenbewohner: Schatten von Gebilden, Kopien von Kopien? − Nun, ich zumindest glaube nicht daran, dass wir ein Gefängnis aus Zeichen bewohnen. Wären Worte unsere einzige Möglichkeit, etwas repräsentieren zu können, dann wäre uns die Welt in der Tat hoffnungslos fremd. Es wäre uns nicht nur verwehrt, mit Bestimmtheit sagen zu können, ob außer uns noch irgendetwas existiert. Wir müssten auch für immer im Unklaren darüber bleiben, ob wir selbst existieren. Wie Descartes wären wir genötigt, unsere Wirklichkeit ausschließlich aufgrund unseres Denkvermögens zu definieren (Descartes 1960: 26). Nun sind Worte allerdings nicht das einzige, ja nicht einmal das primäre Mittel der Symbolisierung. Die visuelle Wahrnehmung, der Blick, kommt zuerst, und ist eben 3 | Zum Begriff der »Lichtung« siehe Heidegger 1953: Anm. 2, Abschnitt 5. 4 | Platons Höhlengleichnis findet sich im siebenten Buch von »Der Staat« (Platon 1982: 248). 5 | Vgl. Genesis II. 19. Hier ist zwar nicht von den Dingen im Paradies die Rede, nur von den Lebewesen, doch ich lese letztere als Stellvertreter für alles, was Gott erschaffen haben soll.
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gerade nicht »in uns« verortet, sondern an der Schnittstelle von Erinnerungen und äußeren Reizen. Blicken bedeutet mehr als das »übersinnliche Substrat der Erscheinungen« eines Gegenstands zu erfassen.6 Voraussetzung des Blickens ist die von Freud so bezeichnete »Wahrnehmungsidentität«.7 Dasselbe Phänomen beschreibt Heidegger als »Anwesen«.8 Im Gegensatz zum »Blicken als Tätigkeit« ist damit der Anblick »als Aufgehen und Entgegenkommen des ›Objekts‹« gemeint. Etwas muss sich selbst darbieten, und die Betrachterin muss in dieser Darbietung die wundersame Reinkarnation des Gewesenen erblicken können. Der Anstoß zu dieser visuellen Übertragung geht also nicht vom Subjekt, sondern vom Objekt der Wahrnehmung aus. Die Welt »intendiert«, gesehen zu werden.9 Wenn wir andere Lebewesen und Dinge so betrachten, dass sie in Erscheinung treten, dann reagieren wir immer auch auf ihre gezielte Aufforderung, das zu tun.
O bjek te mit I ntention Indem ich der Welt die Intention, in Erscheinung zu treten, unterstelle, beziehe ich mich zum Teil auf Hannah Arendt und auf den Begriff von Erscheinung, den sie in ihrem Buch Vom Leben des Geistes gibt. Im Kapitel »Die Welt als Erscheinung« schreibt sie über das Wechselverhältnis von Blicken und Erblickt-Werden. Jedes Subjekt, das wahrnimmt, ist in bestimmten Momenten ein Objekt, das wahrgenommen wird (Arendt 1979: 29). Dieselbe Auffassung haben vor Arendt auch schon Maurice Merleau-Ponty und Jacques Lacan vertreten.10 Beide wollten zeigen, dass sich das Subjekt selbst im Feld der Anschauung befindet. Arendt geht 6 | Vom »übersinnlichen Substrat der Erscheinungen« spricht Immanuel Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft«. Er beschreibt damit den Gegenstand jenes unbestimmten Begriffs, auf den sich das Geschmacksurteil gründet (Kant 1974: 282). 7 | Zur Wahrnehmungsidentität kommt es, wenn Erinnerungen mit Reizen verschmelzen. Sie bildet das Ziel, auf das alle mentalen Aktivitäten hinstreben (Freud 1969: 540). 8 | In »Der Spruch des Anaximander« behauptet Heidegger: »Das Erscheinen ist eine Wesensfolge des Anwesen und von dessen Art.« (Heidegger 1980: 356) An früherer Stelle heißt es, dass sich das Sein durch das »Anwesend des Anwesenden« erschließt (ebd.: 347). In meinem Buch World Spectators habe ich ausführlich dargelegt, dass »Anwesen« eine psychische Aktivität ist, die zu einer Verzeitlichung führt. Sie hat also nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun (Heidegger 1980). 9 | Es wird später noch klarer werden, dass das Verb »intendieren« den Hang eines Objekts auf etwas hin beschreibt. 10 | Vgl. hierzu Merleau-Ponty 1986: 172-203 sowie Lacan 1987. Für eine Beschreibung von Lacans Theorie des Feldes der Anschauung vgl. mein Male Subjectivity at the Margins (Silverman 1992: 125-56) sowie The Threshold of the Visible World (Silverman 1992: 125-227).
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es aber nicht darum, darzulegen, dass nichts und niemand dem Gesehenwerden entgeht. Sie will vielmehr zeigen, wie absolut vorrangig der Wunsch ist, gesehen zu werden: »Was sehen kann, möchte gesehen werden; was hören kann, möchte gehört werden; was berühren kann, möchte sich berühren lassen.« (Arendt 1979: 29) An einer späteren Stelle in ihrem Buch führt sie aus, wie uns die Allgegenwärtigkeit dieses Wunsches dazu zwingt, sowohl den Gegenständen als auch den Menschen eine Art Intention zuzuschreiben − die Intention, gesehen zu werden: »Alle Objekte verweisen auf ein Subjekt, weil sie erscheinen, und genau wie jeder subjektive Akt sein intentionales Objekt hat, so hat jedes erscheinende Objekt sein intentionales Subjekt.« (Arendt 1979: 55) Wir sind es gewohnt, Intentionalität als ein Vermögen der menschlichen Psyche zu denken, gleichgültig, ob wir Intentionalität nun zum Bewusstsein, zum Unbewussten oder zur Sprache in Beziehung setzen. Deshalb leuchtet uns die Vorstellung von einem »Objekt mit Intention« in der Regel nur ein, wenn wir sie mit einem menschlichen Wesen verbinden können. Für Arendt umfasst diese Kategorie allerdings alles, also auch unbelebte Objekte, die von Menschen gefertigt wurden, und sogar »rohe Materie«. Sie schreibt: »Die tote Materie, sei sie natürlich oder künstlich, veränderlich oder unveränderlich, ist zu ihrem Sein, also ihrer Erscheinungshaftigkeit, auf die Existenz lebender Wesen angewiesen. Es gibt in dieser Welt nichts und niemanden, dessen bloßes Sein nicht einen Zuschauer voraussetzte.« (Arendt 1979: 29)
Arendt stützt sich in diesem Abschnitt ihres Buches ausführlich auf die Studien des Biologen und Zoologen Adolf Portmann, der in seinem Werk Die Tiergestalt eine dezidiert antifunktionalistische Auffassung von der Eigenart der sichtbaren Erscheinung der Tiere vertritt (Portmann 1961: 99, 229). Portmann widerspricht der vorherrschenden Ansicht, derzufolge sich die Formen und Kennzeichen der Tiere − die Farben auf dem Gefieder eines Vogels oder die Markierungen auf dem Pelz eines Nagers − den Erfordernissen der Arterhaltung verdanken oder das Ergebnis interner Körpervorgänge sind. Stattdessen seien wir mit »optischen Strukturen, Organen der Anschauung« konfrontiert. Diese Strukturen und Organe erhalten ihre volle Bedeutung erst, sobald sie von einem »anschauenden Auge« wahrgenommen werden (Portmann 1961: 128, 135). Nach Portmann streben nicht nur die sogenannten »höheren« Tiergestalten danach, gesehen zu werden, sondern auch Lebewesen, die kaum empfindungsfähig sind. Das »niedere Tierleben«, bei dem »eigenes inneres Erleben nur wenig entwickelt ist«, sei sogar besonders »reich an Formen« (Portmann 1961: 224). iese Beobachtung führt Portmann dazu, die Intentionalität von der Psyche abzulösen und sie in völlig neuartigen Kategorien zu denken. In seinen Schilderungen aus dem Tierreich gebraucht Portmann immer wieder passive Satzkonstruktionen, um das Bedürfnis, gesehen zu werden, anschaulich zu machen. Dadurch wird klar, dass für ihn die Selbstdarstellung
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im Tierreich eine Handlung ohne Handlungsträger ist, zumindest ohne einen Handlungsträger im üblichen Sinn. Die Tiergestalt sei »für anschauende Augen gebaut«, schreibt er. An anderer Stelle heißt es, dass »in diesen Gestalten, die um uns sind, nicht nur zufällige Erscheinungen auftreten, dass es vielmehr ›Kompositionen‹ sind, die aufgeführt werden […]« (Portmann 1961: 186). Ist die tierische Erscheinung aber ein Ereignis ohne Handlungsträger, dann lässt sich Intentionalität lediglich als praktische, d.h. in die Tat umgesetzte »Bestrebung auf etwas hin« verstehen. Die Ursachen dieser Bestrebung können weder durch die Biologie noch durch die Psychologie erklärt werden. Nach Arendt wohnt die Intentionalität im Sinne der Bestrebung auf etwas hin der Materie selbst inne. Dabei vermag diese Intentionalität die allerraffiniertesten und individuellsten Formen visueller Selbstdarstellung anzuregen. Wiederholt macht Portmann darauf aufmerksam, dass die Prinzipien, welche die tierische Erscheinung bestimmen, den Prinzipien der klassischen Ästhetik entsprechen (Portmann 1961: 25f.). Die Rede ist hier von Symmetrie, Ausgewogenheit, der Unterordnung der Teile unter das Ganze sowie vom Eigenwert der Oberflächenschönheit. Er vergleicht die Anforderungen, welche die tierische Erscheinung stellt, mit denen einer Theatervorführung (Portmann 1961: 186). Der französische Philosoph Roger Caillois, der eine Zeit lang zur surrealistischen Bewegung gehörte, gelangt in einer Reihe von Aufsätzen über die visuelle Gestalt und die Formen von Insekten und Halbedelsteinen zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Portmann (Caillois 1964, 1984: 17-32, 1985). Auch er meint, dass diese Gestalten und Formen nicht im Dienst der Selbsterhaltung stünden, nicht einmal in solchen Fällen, in denen die Insekten eine Färbung annehmen, die traditionell als Tarnung gedeutet wird. Machen sich nicht-menschliche Lebewesen sichtbar oder unsichtbar, dann ausschließlich um der Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit selbst willen. Nach Caillois ist der Imperativ zur Selbstdarstellung, die er auch als »demonstratives Ausgießen eigener Mittel« bezeichnet, wesentlich »fundamentaler und universeller als das nackte Interesse, das Überleben der Art zu sichern« (Caillois 1964: 14, Anm. 14). Auch Caillois gelangt zu der Einschätzung, dass den Formen und Merkmalen, die Insekten und Steine annehmen, eine Art ästhetischer Trieb zugrunde liegt. Dessen Resultate vergleicht er mit der künstlerischen Tätigkeit, wenn er in Die Maske der Medusa schreibt: »Im Reich der Biologie scheint eine autonome ästhetische Kraft am Werk zu sein.« (Caillois 1964: 41) An einer anderen Stelle seines Buches setzt er nicht nur die Produkte der Natur zur Kunst in Beziehung, sondern schildert überhaupt die Natur als Künstlerin: »Sogar Steine können natürliche Kunstwerke abgeben. Manche gleichen der Malerei und wussten die Imagination der Betrachterinnen schon derart in ihren Bann zu schlagen, dass man sich die Natur als Künstlerin vorstellte.« (Caillois 1964: 43) Eine der faszinierendsten Passagen in Caillois’ Schilderung der Formen und Merkmale von Steinen handelt von der aus dem China des 19. Jahrhunderts überlieferten Praxis, Marmorstücke wie Kunstwerke einzufassen und anschließend zu signieren (Caillois 1985: 37-43, Anm. 14). Der menschliche Künstler, so könnte
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man behaupten, macht sich hierbei die objektive Intention − das, was sich im Moment der Entdeckung des Steines so offensichtlich darbietet − subjektiv zu eigen. Caillois hält es übrigens ganz ähnlich mit dem Titel, den er seiner Abhandlung gibt: Die Schrift der Steine. Anders als es in meiner bisherigen Darstellung geklungen haben mag, lassen sich Arendts Hinwendung zur Materie und Caillois’ und Portmanns Betonung der Gestalt nicht ganz in Deckung bringen. Die Gestalt ist nicht die Instanz, durch welche die Materie die ihr innewohnende Intention mitteilt, in Erscheinung treten zu wollen. Die Form oder Gestalt der Lebewesen und Dinge ist vielmehr untrennbar mit dieser Intention verknüpft. Die formalen Parameter bestimmen darüber, ob es einem Lebewesen gelingt, zu sein. Die Erscheinung ist ein dem Wesen nach ästhetisches Ereignis: eine Sichtbarmachung, die eine einzigartige Konstellation formaler Bezüge ans Licht bringt.
I ntendierte S ubjek te Wie ich oben gesagt habe, sind wir diejenigen, die über das Licht verfügen, das andere Lebewesen und Dinge erscheinen lässt. Wir beleuchten die Welt, indem wir sie in all ihrer visuellen Besonderheit anerkennen. Diese Behauptung möchte ich nun um einen philosophisch undenkbaren Zusatz ergänzen: Die Streifen des bengalischen Tigers, die sich kringelnde Rinde des Eukalyptusbaums und die Krause der gelben Narzisse fordern selbst diese Anerkennung ein. Die Welt bietet sich nicht nur der Betrachtung dar, sie will auch geliebt werden. So erstaunlich das klingen mag, bin ich doch nicht die einzige, die so etwas behauptet. Sowohl Caillois als auch Portmann waren dicht daran, einzugestehen, dass der Blick, dem sich Steine, Insekten und Tiere darbieten, ein menschlicher ist. Caillois beschreibt die Steinformen einmal als eine Art Botschaft; an anderen Stellen spricht er von Formen ästhetischer Produktion. Er stellte sich offenbar vor, dass wir diejenigen sind, an die sich die Botschaft richtet. Portmann wiederum, der wie Arendt bestreitet, dass Intentionalität zwangsläufig an Menschen gebunden ist, gesteht gleichzeitig ein, dass sich das Vorhaben der Tiergestalt ohne Subjektivität nicht verwirklichen lässt. An einer Stelle schreibt er zwar, dass der Blick, dem sich das Tier darbietet, entweder der eines Artgenossen oder der eines Feindes ist (Portmann: 1961: 124f.). Zumeist aber klingt heraus, dass die Darbietung uns gilt, weil die Tiergestalten auf affektive Bejahung abzielen. Pelz oder Gefieder bezeichnet Portmann als »ein Kleid, das seinen Träger zu etwas Besonderem erhebt« (Portmann 1961: 26). An anderer Stelle schreibt er: »Die gestaltlichen Bildungen […] sind ein Teil der Darstellung der Sonderart ranghoher Tierformen; sie gehören zu den vielen Organen, durch die der ranghohe Organismus seinen Eigenwert ausspricht […].« (Portmann 1961: 207) Die Welt erscheint erst dann schön oder herrlich, wenn wir die Leere unserer Subjektivität durch ihr Bild auskleiden. Im Versuch, ihrem − wie Portmann es
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nennt − »Eigenwert« Ausdruck zu geben, verlangt die Welt nach einer Kraft, die oft zu ihr in Konflikt gesetzt wird − dem menschlichen Begehren. Man könnte sagen, dass die Welt tatsächlich die menschliche Psyche in all ihrer psychoanalytischen Spezifität »fordert«. Es gilt nicht nur die phänomenologische Erkenntnis, dass sich das Subjekt auf Objekte bezieht, sondern auch das Gegenteil. Unsere Subjektivität ist objektiv intendiert.
W esen , denen es am S ein mangelt Nicht nur ist unsere Subjektivität objektiv intendiert, wir selbst sind zugleich intendierte Objekte und begehrende Subjekte. Damit meine ich nicht nur, dass wir, außer zu sehen, auch gesehen werden möchten, sondern dass wir im gleichen subjektlosen Sinn wie die Steine oder Insekten in Erscheinung treten wollen. Mit dieser These begebe ich mich nun allerdings in Widerspruch zu Roger Caillois und zu seinem bedeutendsten Interpreten, Jacques Lacan. In seinem Buch Die Maske der Medusa widmet sich Caillois der ästhetischen Produktion der Natur und dem, was man als ihr »existenzielles Wesen« bezeichnen könnte. »Der Flügel«, so schreibt er, »ist Teil des Schmetterlings, während der Künstler sein Bild selbst entwirft und ausführt.« (Caillois 1964: 31) Seien Insekten auch dazu in der Lage, eine weitere Gestalt anzunehmen, so ist das Ergebnis stets »eine Fotografie auf der Ebene des Objekts, nicht aber auf der des Bildes. Sie bilden eine Reproduktion im dreidimensionalen Raum mit festen Bestandteilen und Tiefe: Skulptur-Fotografie oder, besser noch, Teleplastik« (Caillois 1984: 23, Anm. 14). Weil ein Insekt sein eigenes Sein in den ästhetischen Bereich einbringt, stehen ihm weniger Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung als dem menschlichen Künstler. Caillois behandelt die menschliche und die tierische Mimikry als Gegensätze. Erstere sei ihrem Wesen nach ästhetischer, letztere existenzieller Natur. Dennoch orientiert sich seine Interpretation der Mimikry im Tierreich am Paradigma menschlicher Mimikry. Verwandelt sich ein Schmetterling in ein Blatt oder ein anderes Insekt, so handelt es sich nach Caillois dabei um »reine Täuschung«, um eine Abweichung von seinem eigentlichen Wesen. Morphologische Metamorphosen im Insektenreich lassen sich demnach mit der Rolle vergleichen, welche die Mode für die Menschen spielt: Sie sind unauthentisch oder nicht wesentlich (Caillois 1964: 75, Anm. 14). Behauptet man wie Caillois, dass die Mimikry der Insekten einerseits existentieller Natur, andererseits aber auch Täuschung oder Mode ist, so gelangt man notwendig zu dem Schluss, dass manche natürlichen Lebewesen von Grund auf unauthentisch sein müssen. Die Masken, die das menschliche Subjekt trägt, lassen sich dagegen beliebig auf- und wieder absetzen; dem Sein des Subjekts bleiben sie scheinbar äußerlich. In seinem Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse modifiziert Jacques Lacan die Vorstellungen Caillois’ in entscheidender Hinsicht (Lacan
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1987: 79ff.). Nimmt ein nicht-menschliches Lebewesen eine andere Gestalt an, so Lacan, dann ist diese seinem Wesen ebenso äußerlich wie die Maske dem Subjekt. Man könne von einem solchen Geschöpf folglich nicht sagen, dass es täuscht. Es sind aber nicht nur die nicht-menschlichen Lebewesen, die dem Subjekt ähneln, insofern sie in »Schein« und »Sein« zerfallen. Auch das Subjekt ähnelt in vieler Hinsicht nicht-menschlichen Lebewesen. Es ruft, wie Caillois von den Insekten schreibt, nach einer äußeren Instanz. Diese Instanz, die Lacan als »Blickregime« (le regard) bezeichnet, repräsentiert im Feld der Anschauung so etwas wie »Andersheit schlechthin« (Lacan 1973: 65-109). Sie ist demnach nicht menschlich, sondern strukturell. Das Subjekt fordert den Blick ein, weil seine Sichtbarkeit davon abhängt. Diese Anrufung vollzieht sich auf nahezu die gleiche Weise wie bei Caillois’ Insekten: Das Subjekt nimmt eine äußere Gestalt an. Anders geht es nicht, weil Sichtbarkeit stets vermittelt ist. Der Blick »fotografiert« oder bestätigt seine Wahrnehmung in Form eines dazwischengeschalteten Bildes oder »Bildschirms«. Das entscheidende Kennzeichen menschlicher Subjektivität ist für Lacan nicht Authentizität, wie das Caillois in kaum nachvollziehbarer Weise zu behaupten scheint, sondern Wissen. Lacan zufolge vermögen die Tiere zwischen sich und den Masken, die sie tragen, nicht zu unterscheiden. Somit sind sie in der Gestalt »gebannt«, in der sie wahrgenommen werden (Lacan 1980: 106, Anm. 19). Das Subjekt dagegen weiß − oder kann zumindest ein Bewusstsein dafür entwickeln −, dass es stets durch einen Wahrnehmungsraster erblickt wird. Im Gegensatz zum Tier vermag es mit dem Bild, durch das es definiert wird, zu »spielen« (Lacan 1980: 114, Anm. 19). Mit den Änderungen, die Lacan an Caillois’ Konzept der Mimikry anbringt, ermöglicht dieses hochinteressante Aufschlüsse über das Wesen sexueller, ethnischer und ökonomischer Differenz. Zu einer Theoretisierung der Erscheinung ist Lacans Lektüre aber ebenso ungeeignet wie Caillois’ Ursprungstext. Wenn ein Insekt oder Tier eine andere Körpergestalt annimmt, so verleugnet es damit nicht sein wahres Wesen, sondern wird ganz im Gegenteil stärker das, »was es ist«: ein Wesen, das über seine existentiellen Vorgaben hinauswachsen möchte. Es strebt nicht nur dem Sein entgegen. Es macht auch in äußerster Eloquenz seine Absicht klar, sich in uns zu vervollständigen. Von den Insekten, über die Caillois spricht, unterscheiden wir uns also weder durch ein höheres Maß an Authentizität noch an epistemologischer Überlegenheit. Der tatsächliche Unterschied liegt in einem bestimmten Wissen, das uns fehlt. Dieses Wissen ist nicht kognitiver, sondern »existentieller« Natur. Was unsere Körpermorphologie und äußeren Merkmale anbelangt, wollen auch wir in Erscheinung treten. Auch wir fordern jene visuelle Affirmation ein, die entscheidend ist, damit wir »wir selbst« sein können. Doch während das Insekt gewissermaßen »weiß«, was es will, wissen wir das nicht. Da wir mit den Masken, die wir annehmen, spielen können, haben wir im sozialen und erotischen Bereich Flexibilität und Handlungsfähigkeit erlangt. Die Kosten dafür bestehen in einer
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radikalen »ontologischen Verkennung«. Unsere Fähigkeit, die Bilder zu manipulieren, durch die wir gesehen werden, bestärkt uns in der Annahme, dass wir einfach nur, wie es Lacan lehrt, Lebewesen mit einem Mangel sind (Lacan 1991: 284). Wir verkennen dabei, dass es uns auch am Sein mangelt. Dieser Mangel lässt sich durch die Intervention des Blicks nicht aufheben. Nicht einmal im Fall, dass uns der Blick in unserer Wunschgestalt bestätigt, würden wir in Erscheinung treten und damit, emphatisch gesprochen, sein. Es ist allein der menschliche Blick, der uns jenes Maß an Überwirklichkeit zu geben vermag, dem auch wir der Form nach zustreben, ohne uns dessen bewusst zu sein. Um uns in dieser Weise erstrahlen zu lassen, muss sich der menschliche Blick seiner eigenen Sprache des Begehrens bedienen. Das soll allerdings nicht heißen, dass wir blanke Oberflächen sind, auf welche der begehrende Blick projiziert, was immer er wünscht. Egal ob die Erscheinung von einer menschlichen oder nicht-menschlichen Form ihren Ausgang nimmt, manifestiert sich das Objekt zunächst einmal selbst.
D ie R ezipient I nnen der E rscheinung Mit der These, dass sich die Objekte auf die Subjekte nicht nur zubewegen, sondern darüber hinaus auch jenes komplexe Geschehen initiieren, das ich »Erscheinung« nenne, beziehe ich mich erneut auf Arendt und Portmann. Zu Beginn des ersten Kapitels ihres Buches Vom Leben des Geistes spricht Arendt von Subjekten wiederholt als von »Wesen, denen etwas erscheint« (Arendt 1979: 29). Portmann, der die Übertragung zwischen Subjekt und Objekt von der anderen Seite her denkt, beschreibt die Selbstdarstellung der Objekte als »Sendungen auf die Eigenart des Empfangsorgans hin« (Portmann 1961: 128 Anm., 13). Überlegungen dieser Art sind auch schon von anderen Denkern angestellt worden. So bestehen etwa Heidegger, Lacan und Merleau-Ponty darauf, dass die Selbstdarstellung dem Sehen zeitlich vorausgeht. Heidegger schreibt: »Das Sichzeigen kennzeichnet als Erscheinen das Anund Abwesen des Anwesenden jeglicher Art und Stufe. Selbst dort, wo das Zeigen durch unser Sagen vollbracht wird, geht diesem Zeigen als Hinweisen ein Sichzeigenlassen voraus.« (Heidegger 1982a: 254) Ganz ähnlich argumentiert Lacan in seiner Theorie über das Feld der Anschauung, wenn er meint, unser Blick würde dem Gesehenen folgen. Insbesondere beim Träumen zeigt sich die Wahrheit dieser Erkenntnis (Lacan 1987: 81, Anm. 19). Auch Merleau-Ponty gilt das Sichtbare als der vorrangige Bereich, in dem sich das Sein zu erkennen gibt. In den Dingen, die wir betrachten, würden wir unseren eigenen Blick wiederfinden, ja die BetrachterIn ergibt sich geradezu aus dem Schauspiel: »Vielmehr ist es der Maler, der in den Dingen geboren wird wie durch eine Konzentration und ein Zusich-Kommen des Sichtbaren […]«, schreibt MerleauPonty in seinem Aufsatz »Das Auge und der Geist« (Merleau-Ponty 1967b: 34).
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Die gleiche These findet sich auch in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung, wobei die Begriffswahl hier unseren Zusammenhang noch besser trifft: »[J]ede Wahrnehmung [ist] Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns, oder umgekehrt äußere Vollendung unseres Wahrnehmungsvermögens, und also gleich einer Paarung unseres Leibes mit den Dingen.« (MerleauPonty 1966: 370)
Bloß mit ihren semiotischen Mitteln, so könnte man argwöhnen, könnten uns Dinge und nicht-menschliche Lebewesen nicht sehr viel mehr mitteilen als das vage Bedürfnis, angeblickt zu werden. Auch im Fall, dass sie unseren Blick, wie Portmann das nennt, »leiten«, dürfte das mehr oder weniger blind geschehen. Die bisher angeführten AutorInnen sind da völlig anderer Meinung. Ihnen zufolge sind die Lebewesen und Dinge in der Lage, sehr genau anzugeben, wie wir mit ihnen visuell in Verbindung treten sollen. Im Parmenides schreibt Heidegger, dass unser Blick auf andere stets durch deren Blick auf uns bestimmt wird (Heidegger 1982b: 153, Anm. 9). Es sind die anderen, die uns inspirieren und in die Lage versetzen, sie ihren Intentionen gemäß anzublicken. Im gleichen Text erläutert Heidegger, dass den Griechen der Blick als Zeichen galt; er stand für die »Gesichter« oder das »Aussehen« von Dingen oder Lebewesen, die sich zeigen (Heidegger 1982b: 154). In der gleichen Weise sollten auch wir die Gesichter oder das Aussehen als Mittel auffassen, durch die andere sich uns mitteilen. Es sind die ganz gewöhnlichen Oberflächen, auf denen das Göttliche oder »Ungeheure« aufscheint, und die uns das Sein entdecken lassen, das wir anderen übertragen (Heidegger 1982b: 154). Das Vermögen, uns ihr Wesen zu entdecken, behält Heidegger ausschließlich anderen Menschen vor (Heidegger 1982b: 154). Auch schildert er das »Sichzeigen« in eigenartig monolithischen Begriffen; die Erscheinung hat ihren Ursprung in der immer gleichen Gabe. Dieses philosophische Modell kennt keine Möglichkeit, das Sein, das wir anderen Lebewesen und Dingen übertragen, aus der phänomenologischen Besonderheit jener Lebewesen und Dinge herzuleiten.11 Arendt, Portmann und Merleau-Ponty dagegen erkennen sowohl den Tieren als auch den Menschen die Fähigkeit zu, dem menschlichen Blick zu bedeuten, wie sie gesehen werden wollen. Diese Fähigkeit vermittelt sich über ihre formalen Eigenheiten. Für Arendt liegt das Wesen der Dinge an ihrer Oberfläche; dort und nirgendwo anders lässt sich ihre Wahrheit auffinden (Arendt 1979: 36-40). Die Lebewesen 11 | Nach Jean-Luc Nancy »übersieht Heidegger das Gewicht des Steines, der niederrollt, das Gewicht der Berührung des Steines mit jener anderen Oberfläche und, durch diese Oberfläche vermittelt, mit der Welt als Verbindung sämtlicher Oberflächen. Heidegger übersieht die Oberfläche ganz generell […]«, heißt es in The Sense of the World (Nancy 1997: 61).
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und Dinge in ihrem Sein zu bejahen, kann somit nur heißen, sie in all ihrer äußeren Schönheit zu würdigen. In ähnlicher Weise hatte auch Portmann argumentiert, dass die Tiere ihren Anblick mit der Forderung nach Anerkennung ihres »Formwerts« verknüpfen (Portmann 1961: 49). Blicken wir in solcher Weise auf Lebewesen und Dinge, dass sie in Erscheinung treten, dann macht sich unser Blick tatsächlich an ihren ästhetischen Eigenschaften fest − an ihrer Farbe, ihrer Morphologie und ihren Merkmalen. Merleau-Ponty begreift das Sehen als Klärung einer »sinnlichen Gegebenheit« (Merleau-Ponty 1966: 251, Anm. 28). Im Verlauf dieser Klärung entwickelt die Betrachterin ihre eigene Vision. So schreibt er in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung: »Farben sehen lernen heißt, einen gewissen Stil des Sehens, einen neuen Gebrauch des eigenen Leibes sich zu eigen zu machen, das Körperschema bereichern und neu organisieren.« (MerleauPonty 1966: 184)
D ie K ommunik ation der F ormen In Die Schrift der Steine spricht Caillois über Felsformationen, die er an einer Stelle als eine »außergewöhnliche Zusammenkunft von Zeichen« beschreibt (Caillois 1985: 95).12 Caillois, so kann man dieser Formulierung entnehmen, stellt sich den intendierten Blick als »Entzifferung« vor. Er erkennt den Steinformen aber nicht bloß den Status einer Sprache zu, sondern bezeichnet sie als Zusammenkunft von Zeichen, »die keine Bedeutung haben«. Diese Aussage klingt zunächst unsinnig. Gewiss verfügen wir nicht immer über den Schlüssel, um uns die Bedeutung eines Zeichens zu erschließen. Doch auch wenn Zeichen uns nichts sagen, gehen wir davon aus, dass ihnen Bedeutung »innewohnt«, die bloß verschüttet oder verloren gegangen ist. Was heißt es aber dann, eine Form als Zeichen anzusehen, wenn diese nicht einmal über einen latenten Gehalt verfügt? Und wie können wir Zeichen ohne Bedeutung »entziffern«? Auf diese letzte Frage geben Portmann und Merleau-Ponty eine strukturalistische Antwort. Portmann zufolge kennt die Tiersprache zwar nicht die Unterteilung in Signifikant und Signifikat, sie ist aber dennoch eine Sprache, weil sie differenziell gegliedert ist. Wie die Worte erhalten auch die Tiergestalten im Rahmen eines paradigmatischen Feldes ihren spezifischen Wert (Portmann 1961: 48); sie profilieren sich vor dem Hintergrund des Geschlechts, der Art und des gesamten Tierreichs. Diese Tiersprache lässt sich allerdings nur mit Hilfe der Zoologie verstehen: »Die Einsicht in die Folge der Entwicklungsstadien und in das Bauprinzip wird für den Betrachter eine Tiergestalt reicher erscheinen lassen, indem aus ihrem äußeren Ausblick be12 | Im französischen Original L’écriture des pierres heißt es: »un extraordinaire concours de signes« (Caillois 1970: 114).
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I. Die affektive Macht der Dinge reits Zeichen zu ihm sprechen als stille, unaufdringliche Zeugen einer verborgenen Ordnung der Gestalten.« (Portmann 1961: 48)
Während Portmann bei seinem Versuch, das Zeichenhafte der Dinge zu veranschaulichen, die Differenz und das Systemische hervorhebt, betont Merleau-Ponty die Einzigartigkeit der Dinge sowie ihre Ähnlichkeit miteinander. Ihm zufolge erschließt sich ein Körper dann als Zeichen, wenn er in einer Folge von Korrespondenzen sichtbar wird, und nicht als Element eines umfassenden Systems. Dazu kommt, dass die Korrespondenzen allein diesem Körper entsprechen; sie bilden eher eine Art persönliche Sprache als eine langue. Jeder Körper artikuliert sich durch die einzigartigen Entsprechungen, die zwischen einem seiner Merkmale und allen Merkmalen aller anderen bestehen. Zugleich entspricht jedes Einzelelement eines Körpers auf symptomatische Weise dem Ganzen, sodass man es als Variante der anderen Elemente betrachten kann. In diesem Sinne findet eine Geste ihre Entsprechung im Geräusch, das eine andere Bewegung hervorruft, und in der Farbe, die an wieder anderer Stelle am Körper aufscheint. »Eine vorübergehende Frau ist für mich zunächst kein körperlicher Umriss, eine farbige Gliederpuppe, ein Schaustück …«, schreibt Merleau-Ponty in seinem Aufsatz »Das mittelbare Sprechen und die Stimme des Schweigens«, »… sie ist eine bestimmte Art, Leib zu sein, die ganz und gar in dem Gang oder auch nur in dem Klang des Absatzes auf dem Boden gegeben ist, wie der Sprung des Bogens in jeder Holzfaser gegenwärtig ist − eine sehr auffällige Abwandlung der Norm des Gehens, des Betrachtens, des Berührens, des Sprechens […].« (Merleau-Ponty 1967b: 84, Anm. 27)
Merleau-Ponty behauptet an verschiedenen Stellen, diese Sprache gleiche »einer von selbst sich mitteilenden Sprache« (Merleau-Ponty 1966: 369, Anm. 28). An anderen Stellen heißt es hingegen, nur diejenigen, die eine entsprechende Sprache sprechen, könnten sie auch verstehen. Zwar verfügt nach Merleau-Ponty jeder Körper über ein einzigartiges System von Korrespondenzen, doch gibt es immer Subjekte, bei denen dieses System auf besondere Resonanz stößt. Für jeden von uns existieren gewisse Texturen, Formen und Nuancen, die uns ganz einfach »bewegen«, »Qualität, Licht, Farbe, Tiefe [lassen] in unserem Körper ein Echo anklingen«, schreibt Merleau-Ponty in Das Auge und der Geist. Das Echo ist eine seiner Metaphern für »jenes innere Äquivalent, jene leibliche Form ihrer Gegenwart, die die Dinge in mir erwecken […]« (Merleau-Ponty 1967a: 17). In einem früheren Text heißt es: Wirksam ist die Wahrnehmung nur, wenn »das Phänomen in mir sein Echo findet [und] das ihm begegnende Organ mit ihm synchronisiert ist« (Merleau-Ponty 1967a: 366). Die Begriffe »Echo« und »Synchronisation« deuten schon an, dass die Kommunikation, wie sie Merleau-Ponty zwischen Subjekt und Objekt entwirft, eher formaler als ideeller Natur ist. Bei der Stiftung der Entsprechungen, durch die das Betrachtete zum Betrachter »spricht«, spielt die Psyche keine Rolle. Der
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Übersetzungsprozess ist eine rein körperliche Angelegenheit. Diese Auslassung nimmt Merleau-Ponty ganz bewusst vor. Der Autor der Phänomenologie der Wahrnehmung denkt sich den Übergang zwischen Schauspiel und Betrachterin nicht nur als weich, sondern als absolute Korrelation. Eine solche ist allerdings ausgeschlossen, wenn das Objekt »bedeutungsmäßig nur für den Verstand vorhanden [ist]«. Statt dessen muss es eine »unmittelbar der leiblichen Prüfung zugängliche Struktur [darstellen]« (Merleau-Ponty 1966: 370). Nur unter der Bedingung, dass die Psyche abwesend ist, können Objekt und Subjekt füreinander durchlässig werden. Leo Bersani, ein weiterer bedeutender Theoretiker der sinnlichen Erscheinung, teilt Merleau-Pontys Interesse an körperlichen Entsprechungen. In mehreren Büchern, die er allein oder mit Ulysse Dutoit geschrieben hat, untersucht Bersani − mein seit über zehn Jahren wichtigster intellektueller Gesprächspartner − die »Kommunikation der Formen« (Bersani/Dutoit 1985, 1993, 1998; Bersani 1995). Wie schon im Begriff anklingt, vollzieht sich die Kommunikation der Formen nicht semantisch, d.h. vermittelt über Inhalte, sondern körperlich.13 Sie entsteht, wenn sich die Form einer Sache zur Form einer anderen Sache in Beziehung setzt, gewissermaßen zu ihr spricht, oder wenn Elemente einer Einzelform untereinander sprechen.14 In The Culture of Redemption [Die Kultur der Erlösung] begründet Bersani das Entstehen dieser Affinitäten mit menschlichen Erinnerungleistungen (Bersani 1995: 74). In späteren Büchern bestreitet er aber, dass die Psyche bei der Kommunikation der Formen irgendeine Rolle spielt. In Homos vermittelt Sexualität den kommunikativen Austausch (Bersani 1996: 12025). In Caravaggio’s Secrets assoziieren Bersani und Dutoit den Austausch eher allgemeiner mit der räumlichen Bewegung des Körpers auf einen anderen Körper hin (Bersani/Ditoit 1998: 35, 72). War Merleau-Pontys Verzicht auf die Psyche vom Bedürfnis nach Präsenz motiviert, so ist Bersanis Verzicht auf die Psyche ethisch begründet. Zwischen dem Subjekt und der Welt kann es für den Autor von The Culture of Redemption und Arts of Impoverishment [Techniken der Verarmung] keine psychische Beziehung geben, die erträglich wäre. Es ist allein der Hass, der ein Subjekt dazu bringt, ein anderes wahrzunehmen. Als Grund für diese Hassbeziehung führt Bersani an, dass auf der Ebene der Psyche Identität über alles gilt. Identität aber lässt sich nur um den Preis der mörderischen Inkorporation des Anderen aufrecht er13 | Bersani schreibt in The Culture of Redemption: »Es ist keinesfalls so, dass die Phänomene jene anderen Phänomene mit denen sie in Beziehung treten, ›bedeuten‹. Es ist eher so, als würden sich die beiden Elemente einer Gleichung stimmiger im Universum einrichten − gegenseitig vervollständigen −, indem sie zu der wechselhaften Gestalt des Universums beitragen.« (Bersani 1995: 75) 14 | In Arts of Impoverishment betonen Bersani und Dutoit den zweiten Typus der Kommunikation der Formen (siehe insbesondere S. 6). Im Allgemeinen gilt Bersanis Interesse allerdings dem ersten Typus.
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halten (Bersani 1995: 19, Anm. 36; Bersani/Dutoit 1993: 153-55). Während es also zwischen Körper und Psyche zu keiner kommunikativen Verschmelzung kommen kann, wissen sich Körper mit Körpern zu verbinden. Das Subjekt wird vom Objekt, das es zu beherrschen meint, »derart obszön ›angegangen‹«, so Bersani in Homos, »dass die Besitz sichernden Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verwischen« (Bersani 1996: 100).15 Diese Identitätsauflösung währt nicht länger als die erotische Begegnung, durch die sie ausgelöst wird. Löst sich der eine Körper dann vom anderen, hinterlässt er »Spuren der Differenz«. Für das Subjekt, das sich nun wieder selbst überlassen ist und neu zu konstituieren sucht, wirken diese Spuren der Differenz wie Sand im Getriebe seiner oder ihrer Ich-Maschinerie. Das Resultat ist eine ungenaue Selbst-Replikation. In Arts of Impoverishment malen sich Bersani und Dutoit aus, eine unendliche Kette verschobener Selbst-Replikationen in Gang zu setzen (Bersani/Dutoit 1993: 6f.). In Homos meint Bersani, dass die ungenaue SelbstReplikation auch zu einem Appetit auf Andersheit führen könne, und damit zu einer gewandelten Beziehung zu anderen Lebewesen und Dingen (Bersani 1996: 146). Sowohl in dem Buch Caravaggio’s Secrets als auch in einem in October publizierten Gespräch mit Tim Dean, Hai Foster und mir vertritt Bersani die These, dass die Vorstellung des Mangels verschwindet, sobald ein Körper auf einen anderen trifft. Wir begreifen dann, dass wir nicht − wie angenommen − von anderen Lebewesen und Dingen isoliert sind, sondern in einem permanenten Zustand impliziter Kommunikation mit anderen Formen leben (Bersani 1997: 6). In Caravaggio’s Secrets schreiben Bersani und Dutoit, dass es »in der Schöpfung keine Lücken, keine Leerräume gibt. Wir sind von nichts abgeschnitten; nichts entgeht der Verbindung, dem Spiel der Formen und dem Spiel zwischen den Formen« (Bersani/Dutoit 1998: 72). Im letzten Teil dieses Aufsatzes werde ich einen Vorschlag zur Entzifferung von Zeichen, die nichts bedeuten, formulieren, der sich von den Vorschlägen Portmanns, Merleau-Pontys und Bersanis grundlegend unterscheidet. Dabei kommuniziere ich allerdings mit der »Form« von Bersanis Argument.
D ie L andschaf t finde t ihren A usdruck in uns Wir treten nicht dadurch in Kommunikation zu anderen Lebewesen, dass wir auf der Grundlage unserer eigenen Objektivität auf ihre formalen Parameter reagieren. Wären wir je in der Lage, uns in dieser Weise mit einem anderen Lebewesen zu synchronisieren, so würde daraus ein Monolog, aber kein Dialog erwachsen. Wir kommunizieren nur dann mit der Welt, wenn wir ihren Formen zu bedeuten erlauben − wenn wir ihnen die Bedeutung geben, die ihnen fehlt. Ich sage »feh15 | Ich zitiere hier im Wesentlichen frei.
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len«, weil phänomenale Formen nicht einfach bloß bedeutungslose Zeichen sind, sondern zugleich Zeichen, die nach Bedeutung suchen. Phänomenale Formen adressieren uns tatsächlich eher durch einen Überschuss als durch einen Mangel. Sie gehen »schwanger« mit einer Schönheit, die nur eine ganz bestimmte Art menschlicher Bedeutungsgebung zur Welt bringen kann. Nur indem wir »wir selbst« werden, können wir diese Bedeutung hervorbringen. In seinem Aufsatz »Cézanne’s Doubt« [Cézannes Zweifel] überliefert MerleauPonty einen außergewöhnlichen Ausspruch Cézannes: »Die Landschaft denkt sich selbst in mir, ich bin ihr Bewusstsein.« (Merleau-Ponty 2003: 15) Dieser tatsächliche oder Cézanne einfach nur angedichtete Ausspruch enthält das Bekenntnis, dass die Welt etwas einfordert, was sie nicht besitzt und was niemand außer uns ihr geben kann.16 Cézanne bezeichnet dieses Vermögen als »Bewusstsein«, was in diesem Zusammenhang nicht Denkvermögen bedeutet, sondern jenen Blickwandel, durch den der Ausblick des Malers zum Ausblick auf seiner Leinwand wird. Diesen Blickwandel ermöglichen Malerei und Libido, nicht aber das Bewusstsein. Mit dem ihm zugeschriebenen Ausspruch gibt Cézanne in gewisser Weise den Blick auf.17 Statt als Initiator der Wahrnehmung aufzutreten, fügt er sich willig in die Rolle des Rezipienten. Besser als die meisten BetrachterInnen begreift er, was Sehen bedeutet. Im Grunde sagt er: »Meine Bilder haben ihre Ursache nicht in mir, ja in gewisser Weise bin ich nicht einmal der Maler meiner Bilder, sondern eher das Medium, durch das sich die Dinge dieser Welt selbst malen.« In Cézannes Ausspruch ist in verdichteter und allegorischer Form meine gesamte Theorie der Erscheinung enthalten. Wenn wir im eigentlichen, schöpferischen Sinn des Wortes sehen, dann geschieht das stets auf Aufforderung anderer Lebewesen und Dinge. Diese Aufforderung ist wesentlich ästhetischer Art, d.h. die Welt adressiert uns durch ihre formalen Parameter. Indem uns die Dinge ihre Farben, Formen und Gestalten darbieten, fordern sie aber nicht bloß unseren Blick oder eine Reaktion. Die Welt phänomenaler Formen verlangt unser Begehren. Zunächst klingt das nach einem Widerspruch. Die Farben, Formen und Gestalten der Menschen, Tiere, Insekten und Steine gehören zu ihrer Selbstdarstellung. Im Feld phänomenaler Bedeutungsgebung existiert also keine différance − kein Aufschub zwischen dem Zeichen und seiner Referenz. Die Sprache der Dinge ist eine Sprache unmittelbarer Gegenwart. Dagegen bedeutet Begehren 16 | Es scheint sich bei diesem Ausspruch um kein wirkliches Cézanne-Zitat zu handeln, sondern um einen Ausspruch, den Merleau-Ponty aufgrund seiner Interpretation von Cézannes Werk diesem in den Mund legte. 17 | Lacan führt in Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar aus, dass »die Funktion des Malers ganz und gar nicht in der Organisation des Vorstellungsfeldes besteht«, und bezieht sich hier auch auf Merleau-Pontys Aufsatz über Cézanne (1987: 117, Anm. 19).
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mehr oder weniger dasselbe wie Abwesenheit. Erst um den Preis des »Schwindens« der Gegenwart, des Hier und Jetzt, werden wir der Sprache der Dinge mächtig.18 Ein libidinöser Sprechakt setzt voraus, dass wir einen Wahrnehmungsreiz verzeitlichen und in einen Signifikanten unserer Vergangenheit übersetzen. Was ich »Erscheinung« nenne, vollzieht sich im Rahmen eines vollkommen paradoxen Ereignisses: der Begegnung von Gegenwart und Abwesenheit. Lebewesen und Dinge fordern unser Begehren nicht in abstrakter Weise. Sie fordern genau jene Leidenschaft des Signifikanten, durch die wir uns individuell den Verlust vermitteln, dem jedes Subjekt erleidet: den Verlust unmittelbarer Gegenwart. Die Formen, Gestalten und Muster der Welt laden uns ein, sie aufzunehmen und sie in unsere jeweils singuläre Sprache des Begehrens einzuarbeiten − in jene Rhetorik, durch die wir »Sorge« tragen. Die Ähnlichkeit und Vertrautheit der Formen, Farben und Gestalten ermöglicht die Verknüpfung der Lebewesen und Dinge, denen unsere erste Liebe galt, mit denen, die uns in der Gegenwart begegnen. Der Imperativ, die Welt zu begehren, ist ein ontologischer, kein semiotischer Imperativ. Emphatisch gesprochen, kann die Welt nur sein, wenn sie, der Wirklichkeit enthoben, in die Überwirklichkeit einer singulären Konstellation erinnerter Wahrnehmungen versetzt wird. Das heißt allerdings nicht, dass wir die Lebewesen und Dinge schon sein lassen, wenn wir Beziehungen der Ähnlichkeit zwischen ihnen und dem, was wir einst liebten, feststellen, oder wenn wir sie einfach bloß anschauen und zwischen ihnen und uns körperliche Entsprechungen bemerken. In Erscheinung zu treten ermöglichen wir ihnen erst dann, wenn wir unserer aktuellen Wahrnehmung die Möglichkeit geben, die Vergangenheit zu reinkarnieren − ihr eine neue Form zu geben. Wir können die Gabe des Seins nur unter der Bedingung an ein Lebewesen oder Ding übermitteln, dass wir ihm oder ihr einräumen, eine ungenaue Replik des Gewesenen zu verkörpern. Abwesenheit und Gegenwart können sich nur dann in der beschriebenen Weise verbinden, wenn das Subjekt für das Objekt »offen« ist. In dieser Weise »offen« zu sein, heißt alle Ansprüche aufzugeben, die eigene Sprache des Begehrens zu meistern. Es bedeutet, den eigenen Fundus an Bedeutungen der Welt zu überantworten und sich zu jenem Raum zu machen, in dem die Welt selbst spricht. Die Kontrolle über die eigene Aussagefähigkeit aufzugeben heißt aber nicht, die eigene Sprache des Begehrens zu verlieren, sondern sie zu finden. Schließlich können wir uns die visuellen »Worte« nicht bewusst aussuchen, durch die unsere Vergangenheit wieder gesprochen wird, ebensowenig wie die Lebewesen und Dinge, die wir ins metaphorische Licht tauchen. Alles, was wir tun können, ist, auf die Aufforderung zu reagieren, die durch die Welt an uns ergeht − die Aufforderung, unsere Erinnerungen in ihren Formen zu finden.
18 | Vgl. zum Begriff des »Schwindens« Jacques Lacan 1987: 229, Anm. 19. Allerdings führt Lacan das Schwinden hier eher auf das Sprechen als auf die Wahrnehmung zurück.
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Es sind dann weniger wir selbst, es ist vielmehr die Welt, die unsere Sprache des Begehrens spricht. Dennoch können wir den Raum, in dem andere Lebewesen und Dinge erscheinen, nicht öffnen, ohne ihnen zugleich eine Bedeutung zu geben, die uns entspricht und die sie nicht vorwegnehmen können. Wir können die Welt nicht sein lassen, ohne sie zugleich zu appropriieren, ohne sie von sich selbst zu entfernen und ihr den Charakter eines Supplements zu geben. Aber die Welt »weiß« das. Sie schreibt uns in keiner Weise die Bedeutung vor, die wir ihr geben können. Das Einzige, was sie verlangt, ist zuerst hinzublicken.
V on der S chönheit künden Die Welt will nicht durch ein Auge, sondern durch eine Vielzahl verschiedener Augen erblickt werden. Kein Lebewesen und kein Ding findet in jedem Subjekt seine oder ihre Entsprechungen. Manche Lebewesen und Dinge sprechen unsere Sprache, andere nicht. Die Lust, die wir beim Anblick der einen empfinden, ist unendlich. Der Stil eines anderen findet keine Resonanz. Von wieder anderen können wir den Blick nur abwenden. Glücklicherweise aber ist der Blick so vielfältig wie die Lebewesen und Dinge selbst. Die Welt will auch deshalb durch eine Vielzahl verschiedener Augen erblickt werden, weil selbst die Lebewesen und Dinge, die wir gern betrachten, unsere Wahrnehmungskapazität übersteigen. Wie Merleau-Ponty sagt, hat alles Sichtbare ein »hinter, nach oder zwischen« (Merleau-Ponty 1986: 180, Anm. 12). Das rührt daher, dass wir vor der Welt nicht wie vor einem Bild stehen, sondern dass wir uns in ihr befinden. Unser innerer Blickwinkel entdeckt uns nicht nur manche Aspekte dessen, worauf wir schauen, sondern verdeckt auch andere. Dazu kommt, dass sich die Lebewesen und Dinge nicht immer in der gleichen Weise zeigen. Sie sind ständig in Bewegung, und mit jeder Bewegung verändert sich, was sie darbieten. Neue Aspekte treten hervor, andere verschwinden. Perspektive ist somit keine Eigenschaft des Blicks allein, sondern auch eine Eigenschaft der Objekte.19 Ich denke, dass sich der unerschöpfliche Reichtum der Lebewesen und Dinge auch aus der Beziehung herleitet, die zwischen ihrer und unserer Sprache besteht. Wäre die Bedeutung, die wir in ihnen entdecken, bereits latent angelegt, dann könnten wir sie mit unseren perzeptuellen und linguistischen Signifikanten ausschöpfen. Die Lebewesen und Dinge gehen allerdings nicht mit Bedeutung schwanger, sondern mit Schönheit, und unser Vermögen, Schönheit zu bezeichnen, ist unermesslich. Es ist aus einem Verlust heraus entstanden, der sich 19 | Maurice Merleau-Ponty schreibt in Die Struktur des Verhaltens: »Die Perspektive erscheint mir nicht als eine subjektive Deformation der Dinge, sondern im Gegenteil als eine ihrer Eigenschaften, vielleicht als ihre wesentliche Eigenschaft. Gerade sie ist der Grund dafür, dass das Wahrgenommene einen verborgenen und unerschöpflichen Reichtum in sich schließt, dass es ein ›Ding‹ ist.« (Merleau-Ponty 1976: 216)
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niemals adäquat benennen lässt. Seine Konsequenz ist der für alle Menschen verbindliche Imperativ, einen endlosen Prozess der Bedeutungsgebung anzustrengen. Es ist dieser niemals endende Prozess der Symbolisierung, den die Welt von uns einfordert, nur ist niemand dieser Forderung schon von sich aus gewachsen. Wir sind endliche Wesen, wir können nicht anders, als irgendwann zum Ende zu kommen. Erst als Kollektiv sind wir imstande, nicht nur in allen Formen der Welt Schönheit zu finden, sondern auch für immer und in immer neuen Variationen von der Schönheit zu künden. (Aus dem Englischen von Roger M. Buergel)
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II. Die atmosphärische Komposition von Architekturen
Einleitung Hanna Katharina Göbel
Der zweite Teil ist der Komposition von Architekturen sowie dem heuristischen Konzept der »Atmosphäre« gewidmet. Bereits seit dem spatial turn in den Sozialund Kulturwissenschaften wurde sowohl die euklidische Container-Vorstellung von Räumlichkeit als auch ein deterministisches Verständnis von Architektur zu Gunsten von solchen Ansätzen aufgegeben, die sich stattdessen auf die relationalen Praktiken des raumbildenden »An-Ordnens« beziehen (Löw 2001). Dieser praxeologische Blick auf gebaute Materialitäten hat sich in den letzten Jahren insbesondere in der von den Science and Technology Studies (STS) und der AkteurNetzwerk-Theorie (ANT) beeinflussten Kulturgeographie (Ingold 2007; Ingold 2007; Kraftl/Adey 2008; Anderson/Wylie 2009; Jacobs/Merriman 2011) und Anthropologie (Yaneva 2009) sowie in der Assemblageforschung (Farías/Bender 2009) entwickelt. Parallel und in Verbindung mit diesen Ansätzen konnte sich zudem in der Kultursoziologie eine gesellschafts- und sozialtheoretische Architekturforschung etablieren (Fischer/Delitz 2009; Delitz 2010; Steets 2015). Dabei steht jeweils die Frage im Zentrum, wie durch und in gebauten Architekturen und anderen räumlichen Infrastrukturen sinnlich ansprechende oder abstoßende »attunements« (Stewart 2007, 2011) erzeugt werden und welche Formen von sinnlich organisierter Sozialität welche spezifischen Räume erst hervorbringen. In der vergangenen Dekade ist insbesondere das Konzept der »Atmosphäre« für die Analyse der sinnlichen Ordnung des Gebauten und ihrer Affekte mobilisiert worden (Kazig 2007; Hasse 2008; Anderson 2009; Borch 2009; Binder, Ege u.a. 2010; Douglas/Hinkel 2011; Borch 2014)1. Der heuristische Mehrwert dieses Begriffs liegt darin, die Atmosphäre als einen modus operandi zu verstehen, der das Alltagserleben von Architektur mit sinnlichen wie ästhetischen Mitteln formt. Das Atmosphärische, das oft als etwas Nebulöses, Flüchtiges und Ungreifbares erscheint, wird so analytisch präzisiert und insbesondere für die Techniken der räumlichen Ausgestaltung als ein zentrales strukturgebendes Element anerkannt. 1 | Siehe dazu auch Kwek/Seyfert in diesem Band.
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II. Die atmosphärische Komposition von Architekturen
Zwei unterschiedliche theoretische Strömungen nehmen in der derzeitigen Debatte auf dieses Konzept Bezug. Dazu gehört erstens die phänomenologische Raumtheorie im Anschluss an Hermann Schmitz und Maurice Merleau-Ponty, die insbesondere in der Architekturtheorie aufgegriffen wurde (Böhme 2006). Die Betonung dieser Perspektive liegt auf der synästhetischen Erfahrung des visuellen, taktilen und akustischen Sinns, die sich in der Bewegung des Leibes durch den gebauten Raum einstellt (Hauskeller 1995). In diesem Sinne heißt es etwa bei Gernot Böhme: »Das Entscheidende an der Rede von Atmosphären ist, dass mit ihnen Gefühlsqualitäten draußen, an der Umgebung, an den Dingen erfahren werden« (Böhme 2006: 25). Darüber hinaus bietet zweitens auch Peter Sloterdijks Begriff des »Schaums« (2008, 2009) Anknüpfungspunkte, um Atmosphäre als ein prekäres global- und klimapolitisches Problem zu thematisieren. Atmosphären werden hier als soziotechnisch hergestellte Sphären oder »breathing environments« (Sloterdijk 2009: 94) verstanden, denen die Aufgabe zufällt, die Existenz menschlicher Körper zu sichern. Mit dieser doppelten Betonung des »Atmens« sowie der »atmo-technologies« (ebd.: 92) als Bestandteile synästhetischer Atmosphären wird die Architekturanalyse nicht nur um eine vitale Perspektive ergänzt, sondern auch die ingenieurswissenschaftlich-technologische Komponente des Gebauten – das heißt Klimaanlagen, Lüftungsschächte, Fenster oder Beleuchtungssysteme – als konstitutiv für die sinnliche Erfahrung herausgestellt.2 Mit diesen unterschiedlichen Konzepten von Atmosphären lässt sich sowohl der kompositorisch-dynamische als auch der drei-dimensionale Charakter von Architekturen näher bestimmen. Als »big things« (Jacobs 2006; Rose u.a. 2010) unterscheiden sie sich von den anderen diskutierten Materialitäten in diesem Band. Durch ihre ausladende räumliche Entfaltung ziehen sie eine sinnlich erfahrbare materielle wie immaterielle (Hill 2006) »Stellendifferenz im Raum« (Baecker 2005) ein und stabilisieren sich aufgrund ihrer strukturellen Vielfältigkeit und Heterogenität erst über ein praktisch-kompositorisches Arrangement ihrer einzelnen Bestandteile. Im Anschluss an die ANT könnte man Architekturen daher auch als integrierende »Quasi-Objekte« bezeichnen (Serres/Latour 1995), die in der Lage sind, vermittelnde Objekte der Interaktion, der technologisch (unhinterfragten) Funktion oder beides zugleich zu sein (Guggenheim 2011). Als gemeinsame empirische und thematische Klammer der versammelten Beiträge fungiert der Stadttraum, welcher Phänomene des Sinnlichen verdichtet und sichtbar werden lässt, bestimmte ästhetische Bedürfnisse bündelt und atmosphärische Differenzen zwischen angenehmen oder abstoßenden sinnlichen Eindrücken bereithält (Hasse 2002; Thibaud 2003). In der letzten Dekade sind 2 | Sloterdjik kritisiert die phänomenologischen Ansätze zur Atmosphäre insbesondere bezüglich der fehlenden Berücksichtigung technischer Infrastrukturen von Architektur. Eine phänomenologische Analyse, die sich nur auf die lustschönen Aspekte von Architektur konzentriere »fades into non-technical contemplation« (ebd.: 94).
Hanna Katharina Göbel — Einleitung
neuere stadtpolitische Konzepte wie die Sense City (Zardini 2005; Cowan/Steward 2007) oder das vielzitierte und bezüglich der neo-liberalen Stoßrichtung kritisierte Konzept der Creative City (Peck 2005; Müller 2013) entstanden, die mitunter darauf abzielen, dem gesteigerten Wahrnehmungsbedürfnis der Stadtbewohner und Touristen in vielerlei Facetten zu entsprechen. In analytischer Hinsicht interessieren sich die Beiträge jedoch weniger für die kritische Frage der »Ökonomisierung« des Stadtraums, als vielmehr für die Genese von sinnlichen Praktiken in einzelnen, spezifischen Raumsituationen. Alle versammelten Ansätze streben dabei erstens nach einer qualitativen Ausdifferenzierung der kompositorischen und materiellen Bestandteile von Architektur sowie ihres jeweiligen Einflusses auf das Wahrnehmungsgeschehen. Neben einer systematischen Analyse der Innen- und Außenverhältnisse des Gebauten, die in allen Beiträgen eine zentrale Rolle spielt, unterscheidet Lars Frers zudem zwischen urbanen und ländlichen Strukturen sowie Verkehrsinfrastrukturen und Architekturen. Jane M. Jacobs weist auf die kulturellen Differenzen im Gebrauch von gebauten Räumen hin und macht eine post-koloniale sowie transkulturelle Perspektive stark. Darüber hinaus werden in den einzelnen Beiträgen noch andere Dimensionen der Architekturgestalt in den Blick genommen: seien es die im Raum verteilten Oberflächen und ihre Haptik (Frers, Threuter), die Verfallserscheinungen von Gebäudeteilen (Frers, Göbel), Textilien im Innenraum und deren Farbgestaltungen3 (Threuter, Duttweiler) oder technisierte Objekte, die verwendeten Baumaterialien sowie ihre jeweiligen Geräuscheffekte (Duttweiler, Threuter, Göbel). Mit diesem Fokus auf die differentielle Struktur von Architekturen werden die komplexen Prozesse des Engineerings in den Vordergrund gerückt, durch die all diese unterschiedlichen Komponenten des Materiellen miteinander verknüpft und die soziale Stabilität der sinnlichen Erfahrung hergestellt werden. Ein zweiter gemeinsamer Fluchtpunkt der Beiträge ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Funktionalismus als einem spezifisch modernen Architekturkonzept, das historisch den modernistischen Architekten des frühen 20. Jahrhunderts, namentlich Le Corbusier und der Bauhaus-Schule, zugeschrieben wurde. In Abgrenzung von dieser sozialtechnischen Perspektive werden eigene sozialtheoretische Zugriffe entworfen, die demgegenüber auch das Sinnliche und/oder Ästhetische ihrer Gegenstände zu fassen vermögen. So macht etwa Christina Threuter in ihrem kulturwissenschaftlich-historischen Beitrag am Beispiel der Arbeiten der Architektin Eileen Grey deutlich, dass die Architekturmoderne neben den funktionalistischen Sozialtechniken auch solche Gestaltungspraktiken kannte, die das Atmosphärische von Räumen in den Mittelpunkt stellten. Im Rekurs auf Michael Polanyi und James Gibson begreift sie dabei den gebauten Raum nicht als feststehende Entität, sondern hebt stattdessen die durch den situativen Gebrauch vollzogene Gestaltwerdung der Materialität hervor (Threuter, siehe auch Göbel). Jedoch wäre es vorschnell, die sinnliche 3 | Zu den sozialen Effekten textiler Innenraumgestaltung siehe auch Helmhold 2012.
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II. Die atmosphärische Komposition von Architekturen
Ausgestaltung von Architektur in Opposition zu ihrer unterstellten Rationalität zu setzen. Aus gendertheoretischer Sicht wäre es zudem verkürzt, Eileen Grays spielerischen Umgang mit weiblicher Körpermetaphorik als einen bloßen Gegenentwurf zu der männlich konnotierten Rationalität des architektonischen Modernismus zu verstehen. Threuters Beitrag folgt vielmehr dem Impuls, die immer noch verbreiteten stereotypen Vorstellungen, wonach die modernistische Architektur allein dem Motiv der Funktionalität folge, zu hinterfragen und als eine spezifisch »moderne« Wissenspraktik des typologischen Klassifizierens zu identifizieren, welche der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und – im bio-politischen Sinn – der Bevölkerungslenkung dient.4 Die Umnutzung und Weiterentwicklung von bestehenden Räumen weist in diesem Sinne auf die Widersprüchlichkeit dieser Wissenspraktik hin und rückt die Hybridität von Architekturtypologien und deren sinnliche und ästhetische Gestaltung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Stefanie Duttweiler verdeutlicht in ihrem Beitrag, dass das Atmosphärische religiöser Räume über die ursprünglich zugewiesenen sozialen Funktionsbereiche von Architekturen hinweg migrieren kann. Sie zeigt, wie sich die Alltagspraxis dieser hybriden Räume an der Materialität von »modernen«, ausdifferenzierten Raumordnungen abarbeitet und dabei deren funktionale Strukturen unterwandert.5 Hanna Katharina Göbel setzt hingegen bei den Elementen der Ruinenästhetik an, die in Praktiken der erneuten Nutzung brachliegender Gebäude sichtbar wird und mit Hilfe derer das moderne Verständnis und die Wahrnehmungskonventionen von Architektur befragt werden. Auf der Grundlage einer praxeologischen Heuristik, die sich sowohl Motive der ANT als auch des Dewey’schen Pragmatismus bedient, untersucht sie den wiederholten und erneuerten Gebrauch von Architektur sowie den damit verbundenen, stetigen Wandel ihrer atmosphärischen und ästhetischen »Kompositionen«. Mit dieser Hinwendung zur genuinen Fluidität und praktischen Transformierbarkeit von räumlichen Ordnungen reihen sich Göbels und Duttweilers Beiträge in den vornehmlich kultur- und humangeographisch geprägten mobilities turn ein, der nach den Möglichkeiten des Zusammenspiels von Raum, Architektur und Bewegung hinsichtlich ihres permanenten Wandels und ihrer historischen 4 | In der Architekturtheorie (Markus 1993; Franck/Schneekloth 1994; Markus 1994) als auch in der Wissenschaftsforschung im Anschluss an die Science & Technology Studies (STS) (Guggenheim 2011) wurden bereits die Register des typologischen Klassifizierens von Architekturen in den Blick genommen und auf die vernachlässigte Perspektive von Architekturen im Gebrauch hingewiesen. Ein (neo-)vitalistisches Materialitätskonzept, welches auf die Handlungsmacht von Architekturen statt der klassifizierten Materialität setzt, zeigt sich in diesen Argumentationen sehr deutlich (siehe dazu auch Ingold 2007). 5 | Die sozialtheoretische und praxeologische Kritik an dieser gesellschaftstheoretischen Perspektive der Differenzierungstheorie stellt die funktionale Methodik als »unterkomplex« dar (Knorr-Cetina 1992).
Hanna Katharina Göbel — Einleitung
Variabilität fragt. In eine ähnliche Richtung weist schließlich auch der Beitrag von Lars Frers, der sich jedoch aus leibphänomenologischer Perspektive mehr dafür interessiert, wie die sinnliche Erscheinung von räumlichen Strukturen bestimmte Körperbewegungen evozieren kann. Zusammengenommen steht damit das Spannungsverhältnis zwischen dem modernistischen Funktionalitätsparadigma und den vielfältigen Praktiken des Gebrauchs von Architektur im Zentrum des Forschungsinteresses. Jane M. Jacobs hebt dies im Gespräch mit Hanna Katharina Göbel in Anlehnung an Deleuze mit dem Begriff des »building event« als eine fortlaufende Verknüpfung von Gestaltwechseln hervor. Diese vollziehen sich zwischen der »Architektur« und ihrer ästhetischen Form, die in der professionalisierten Praxis der Architekten und Designer entsteht, sowie dem »Gebäude« und seiner Alltagspraxis, durch die sich eine eigene Biographie des gebauten Raumes entwickelt. Daran anschließend plädiert Jacobs dafür, einen für Architekten aber auch für Sozialwissenschaftler »perversen« Blick auf die Gestalt des gebauten Raumes zuzulassen und Gebäude von ihrem »Ende«, das heißt aus ihrer individualisierten Gebrauchslogik und demzufolge der sozialen Ästhetik heraus, zu denken.6 Um die dynamische Komposition von Architektur in den Blick zu nehmen, beschäftigen sich alle versammelten Beiträge schließlich drittens mit dem strukturellen Wechselverhältnis von Bild und Raum. Dabei wird einerseits unterstrichen, dass Bilder insofern eine zentrale Rolle für die Architektur spielen, als das kulturell geteilte Wissen von Architektur in erster Linie über die Fotografie des Innen- und Außenraumes weitergegeben und reproduziert wird (Colomina 1996). Andererseits wird in allen Beiträgen immer wieder hervorgehoben, dass sich die architektonische Materialität nicht auf ihre visuell erfassbare Gestalthaftigkeit reduzieren lässt, sondern stets synästhetische Qualitäten in sich birgt. Damit eröffnet sich der methodologischer Raum für künftige Forschungen, die neben dem Sehsinn auch andere Wahrnehmungserfahrungen – wie die auditive, taktile oder olfaktorische – in die Betrachtung, Analyse und Darstellung von Architektur einbeziehen kann.
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6 | Zur professionalisierten Praxis von Architekten siehe auch Grubbauer/Steets 2014.
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Eine Architektur der Einfühlung Eileen Grays Wohnhaus E.1027 Christina Threuter
1929 errichtete die angewandte Künstlerin und Architektin Eileen Gray ihr Wohnhaus E.1027 an der französischen Mittelmeerküste. Kurz nach der Fertigstellung publizierte sie Fotografien seiner Räume und Ausstattungsgegenstände zusammen mit einem Textbeitrag in einer namhaften Architekturzeitschrift. Die bemerkenswerte sensuelle Wirkung dieser Fotografien wirft Fragen nach der Art und Weise der Wahrnehmung und der Deutung dieser Wohnhausarchitektur auf. Eileen Gray selbst hob in ihren Texten den handlungsbezogenen, aus dem Gebrauch resultierenden körperlichen Vorgang der Einfühlung in Bezug auf die Wahrnehmung ihres Hauses und seiner Ausstattungsgegenstände hervor. Daher bediente sie sich in ihren Fotografien einer Bildsprache, die die affektive Kraft der Dinge in den Vordergrund stellt. Der folgende Beitrag erörtert diese sinnliche Wirkung auf den Betrachter anhand Roland Barthes’ Modell des punctum und mit Michael Polanyis Konzept der Einfühlung bzw. des Körperwissens. Darüber hinaus knüpft er an Jean Baudrillards Wendung von der Präsenz der Dinge an, um die von Gray strategisch inszenierte, psychosozial intendierte Gegenwärtigkeit der Ausstattungsgegenstände in den Fotografien zu analysieren. Bezeichnend für Eileen Grays Architekturauffassung ist, so die zentrale These dieses Beitrags, dass sie ihr Haus programmatisch fokussierte, um der vorherrschenden rationalistischen Auffassung von Architektur eine sensualistisch körperbezogene, aber dennoch modernen Gestaltungsprinzipien folgende Wohnhausarchitektur und Innenraumgestaltung gegenüberzustellen. Gleichzeitig konstituierte sie sich im publizierten Bild ihres Hauses als Architektin gegenüber ihren männlichen Kollegen.
1. E ine A rchitek tur der E infühlung Eine prominente Fotografie zeigt einen nicht weniger bekannten Stuhl der modernen Architektur- und Designgeschichte (Abb. 1). Er ist am linken Bildrand positioniert, sodass er unseren Blick durch ein schmales Fensterband über eine mit
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Segeltuch bespannte Brüstung und weiter über das Meer hinweg bis hin zur neblig verhangenen Horizontlinie lenkt. Der Stuhl, dessen Bild die raumzeitliche Vorstellung einer kontemplativ bewegungslosen Reise hervorruft, trägt bezeichnenderweise den Namen Transat-Stuhl und zitiert so auch ganz explizit die Überseereise. Der Stuhl wurde von der angewandten Künstlerin und Architektin Eileen Gray für ihr 1929 an der Côte d’Azur fertiggestelltes Wohnhaus E.1027 entworfen. Auch die Fotografie wurde von ihr selbst gefertigt, genauso wie 68 weitere Fotos von der Architektur, den Innenräumen und Ausstattungsgegenständen ihres Hauses. Diese Fotografien publizierte Gray 1929 neben zahlreichen Rissen, Schnitten und Konstruktionszeichnungen in einer eigenen Ausgabe der modernen Architekturzeitschrift L’Architecture Vivante unter dem Titel Maison en bord de la mer. Abbildung 1: E.1027, Transat-Stuhl, 1929
In diesen fotografischen Repräsentationen ihres Wohnhauses bediente sich Gray weiterer Motive des Reisens bzw. vielfältiger Zeichen der Mobilität. So zeigt eine andere Fotografie den zentralen Wohnraum, in dem eine große Seekarte von der Karibik mit der Aufschrift Invitation au voyage dominant platziert ist (Abb. 2). Diese Einladung zur Reise bezieht sich aber nicht nur auf das westeuropäisch imaginierte karibische Paradies, sondern ist auch als metaphorische Aufforderung zur virtuellen Reise durch Grays Wohnräume zu verstehen. Damit entsprechen ihre Fotografien Roland Barthes’ Beobachtung, dass das Zeitalter der Fotografie durch den »Einbruch des Privaten in den öffentlichen Raum« gekennzeichnet sei (Barthes 1985: 109). Diese fotografische Veräußerlichung von Privatheit wird insbesondere an der bildlichen Inszenierung von Gebrauchsspuren deutlich, die die Bewohnerin in den Räumen hinterlassen hat – denn »Wohnen heißt Spuren zu hinterlassen« (Härtel 1999: 141).
Christina Threuter — Eine Architektur der Einfühlung
Abbildung 2: E.1027, Wohnraum, 1929
So erscheinen die fotografierten Wohnräume durch das Arrangement der Innenausstattung szenisch belebt. Vorgeführt werden unter anderem gedeckte Tische, komfortabel hergerichtete Betten, scheinbar achtlos abgelegte Gegenstände, wie beispielsweise ein im Wandregal liegendes Buch oder aber auch ein bereitgestellter Aschenbecher (Abb. 3). Abbildung 3: E.1027, Gästezimmer, 1929
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Diese Gegenstände suggerieren die Präsenz eines gerade Abwesenden und sorgen daher bei dem Betrachten der Innenräume für eine irritierende Raumwahrnehmung. Fragen nach der Fotografin, der Bewohnerin und ihrer Lebenspraxis werden aufgeworfen: Werden die Sitzgelegenheiten gleich benutzt? Legt sich jemand auf den Diwan nieder? Betritt gleich jemand den weichen Teppich, schließt die Schranktüren, liest das aufgeschlagene Buch oder trinkt aus den bereitgestellten Tassen …? Barthes bezeichnet solche Irritationen, die über den zweidimensionalen Blattrand der Fotografie hinausweisen, auch als das punctum, als »eine Art von subtilem Abseits«, wodurch das Bild »das Verlangen über das hinaus[führt], was es erkennen lässt« (Barthes 1985: 55f., 68). Diese »expansive Kraft« (Barthes 1985: 55) des punctums liegt vor allem darin begründet, dass die Fotografie das »Dagewesene«, das »Es-ist-so-gewesen« vergegenwärtigt. Dabei verlassen die Betrachtenden ihre Position als unbeteiligte Zuschauer, sie verlieren ihre Distanz und werden zu Mitakteuren der abgebildeten Szenerie – auch in dem Wunsch visuell in den Bildraum hineinzugehen, ihn zu bewohnen (Barthes 1985: 49). Die fotografischen Repräsentationen von Grays Innenräumen legen in den Worten Beatriz Colominas »nahe, daß diese Räume intendiertermaßen über ein ›Besetzen‹ zu verstehen sind, über den Gebrauch dieser Möbel, den ›Eintritt‹ in das Bild, das Bewohnen des Bildes« (Colomina 1997: 202). Bei diesem Verlust der Distanz zwischen den Rezipienten, der Fotografie und dem abgebildeten Raum handelt es sich um einen körperlichen Prozess. Dieser Prozess lässt sich mit Michael Polanyis Begriff der Empathie oder Einfühlung fassen, den er im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum impliziten Wissen, oder tacit knowledge entwickelt hat. Diesem Konzept liegt die Annahme zugrunde, dass alle Dinge, mit denen das Individuum interagiert, zu einem Teil des Körpers, das heißt verinnerlicht bzw. einverleibt werden. Durch den »unbewussten Hang der menschlichen Erkenntnis zur Bildung von kohärenten Strukturen und einheitlichen Gestalten« (Schilcher 2006: 118, 122) lösen sich die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auf. Eine solche Integration von Einzelheiten in ein Gesamtbild wird Polanyi zufolge durch eine aktive Einfühlung in den Gegenstand und eine damit korrespondierende Wahrnehmung seiner in sich geschlossenen Gestalt erzeugt. Wie Polanyi betont, handelt es sich dabei jedoch weitestgehend um einen unbewussten Prozess, der aus körperlichen Praktiken resultiert, und nicht um ein kognitives Erkennen (Polanyi 1985: 24). Ähnlich dazu hatte bereits Walter Benjamin hervorgehoben, dass vor der sprachlichen Erfass- und Verfügbarkeit der Dinge zuerst ihre sinnliche Erfahrung stehe, und dass der Umgang mit ihnen erfordere, ihre Eigenschaften auf das eigene Selbst mimetisch zu übertragen. Die Affizierbarkeit des Menschen durch die Dinge kann somit als ein Relikt der Notwendigkeit verstanden werden, sich an die Umgebung anzupassen (Busch 2006). Auch Eileen Gray hob sowohl in ihren Texten als auch in ihren Fotografien eben diesen handlungsbezogenen, aus dem Gebrauch resultierenden körperlichen Vorgang der Einfühlung in Bezug auf die Wahrnehmung ihres Hauses
Christina Threuter — Eine Architektur der Einfühlung
E.1027 und seiner Ausstattungsgegenstände hervor. Dabei bediente sie sich einer Bildsprache, die die affektive Kraft der Dinge in den Vordergrund stellt. In ihren schriftlichen Ausführungen betonte sie zudem, dass sie durch die Innenraumgestaltung vielfältige räumliche, auf den Körper gerichtete Bezüge herstellen wollte. Dementsprechend definierte sie die Architektur des Hauses als eine Hülle für innere, durch die Bewegung geprägte Vorgänge. Sie forderte: »Innerhalb des Hauses soll man sich so bewegen, dass man auf ganz natürliche Weise den Wänden folgt, und die bildlichen Objekte sich nach und nach dem Betrachter enthüllen […].« (Zit.n. Adam 1989: 200f.) Um diesen körperlich-räumlichen Effekt zu erzeugen, löste Gray in ihren Entwürfen die Abgrenzungen zwischen architektonischer Wand und Ausstattung auf. Einbauten dienten als Erweiterungen der Wände, während Trennwände wie Möbel gestaltet wurden. Damit erfuhren die Räume eine Verdichtung nach innen. Diese Entgrenzung zwischen Architektur und Mobiliar stimmt mit ihrer konzeptuell-gestalterischen Infragestellung des Zimmers als einzelner isolierter Raumeinheit überein: Die meisten Räume von E.1027 waren mehrfach nutzbar, der Wohnraum diente beispielsweise dem Essen, Entspannen, Schlafen, Arbeiten, der Kommunikation und sogar der Körperpflege. Zudem ließ sich fast jeder Innenraum durch das Öffnen großer Türen nach außen auf die Terrassen erweitern. Umgekehrt ließen sich diese Öffnungen aber auch wieder fest verschließen, um Grays Anspruch von Isoliertheit und Intimität zu gewährleisten. In ihren Fotografien visualisierte sie dieses Anliegen, indem sie die Mehrzahl der Räume ohne Ausblicke ablichtete; sofern ein Fenster zu sehen ist, wird das Licht gewissermaßen wieder in den Raum zurückgeworfen. Das Subjekt, das sich in den Innenräumen bewegt, sollte in einen wechselseitigen sensuellen Austausch mit den Objekten des Raumes und mit dem Raum selbst treten. Diese Bezüge zwischen Körper und Raum sollten sich zum einen durch den Menschen, der sich durch das Haus bewegt, und zum anderen durch das Haus, das ihn in seiner Bewegung leitet, ergeben. »Man muß für den Menschen bauen, damit er für sich selbst in der architektonischen Anlage, wie in einem ihn erweiternden Ganzen, die Freude des Fühlens wiederentdecken kann.« (Gray/Badovici 1996: 71) Mit dieser Interpretation des Hauses als Ausdruck physisch-psychischer Befindlichkeit grenzte sich Eileen Gray entschieden von der rationalistischen Architekturauffassung ab, die zu dieser Zeit den Diskurs der modernen Architektur, das heißt des Neuen Bauens oder auch befreiten wohnens dominierte. Für sie ist es keine rational-funktionale Wohnmaschine, sondern ein Gehäuse, dessen Gestaltung physisch sowie psychisch die räumliche Erweiterung des Menschen versinnbildlicht.
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2. D as H aus als G ehäuse : weibliche K örperme taphorik Die von Gray formulierte Vorstellung des Wohnhauses als physisch-psychische Erweiterung des Bewohners und die durch die fotografischen Inszenierungen evozierte metonymische Verschiebung vom architektonischen (Bild-)Raum auf den Körper verweisen auf die phantasmatischen Vorstellungen des Mutterleibs als der ersten Wohnstatt. In diesem Sinne wies etwa Walter Benjamin in seiner Analyse der nach innen gerichteten Wohnsucht des 19. Jahrhunderts auf die weibliche Kodierung der Wohnung als Schutzhülle oder »Futteral des Menschen« hin: »Das Schwierige in der Betrachtung des Wohnens [ist], daß darin einerseits das Uterale – vielleicht Ewige – erkannt werden muß, das Abbild des Aufenthalts des Menschen im Mutterschoße […].« (Benjamin 1991, V: 291f.) Und ebenso heißt es auch bei Barthes, dass das Verlangen einen Ort zu bewohnen »ganz so [ist], als sei ich sicher, dort gewesen zu sein oder mich dorthin begeben zu müssen. Freud war es, der vom Körper der Mutter gesagt hat, es gebe keinen anderen Ort, von dem sich mit ebenso großer Gewissheit sagen ließe, man sei schon dort gewesen« (Barthes 1985: 50). Eileen Gray bezog sich bewusst auf die seit dem 19. Jahrhundert tradierte weibliche Kodierung des Wohnhauses als Schutzhülle oder Gefühlsgehäuse: Insbesondere bei den in den Fotografien inszenierten Spuren des alltäglichen Gebrauchs handelt es sich um strategisch eingesetzte Effekte des intimisierten und individualisierten Wohnens. Sie repräsentieren sowohl die körperliche Präsenz als auch die psychische Konstitution der Bewohnerin sowie Urheberin dieser Wohnhausarchitektur. Weder die einzelnen Ausstattungsgegenstände noch die Architektur sind dabei in sich geschlossene Bedeutungsträger, sondern verweisen erst in ihrer symbolischen Gesamtheit, der Vorstellung des Hauses als Gefühlsgehäuse, auf die Dimensionen des Weiblichen. Das Medium der Fotografie erweist sich hier – im Sinne von Teresa de Lauretis – als eine soziale Technik, die innerhalb der männlich dominierten symbolischen Ordnung Effekte der weiblichen SelbstRepräsentation herstellt (De Lauretis 1987; Angerer 1999: 458). Auch die von Gray fokussierte sensorische Qualität der Materialien, wie beispielsweise die der textilreichen Innenraumgestaltung, Wolle, Leder, Tierfelle, die sie mit den meist reflektierend eingesetzten Spiegeln und Metallen, wie Stahlrohr, Lochblech usw. kontrastiert, sorgt für eine Vergeschlechtlichung der Räume. Sie evoziert die Vorstellung an den paradigmatischen Ort der Weiblichkeit des textilreichen Boudoirs bzw. des Damenzimmers, das im 19. Jahrhundert der Zerstreuung, der Verinnerlichung und der gepflegten Unterhaltung dienen sollte (Rossberg 1999: 59). Dem Interieurtheoretiker Otto Mothes zufolge, sei es entstanden aus dem »in der Frauennatur tief begründeten Bedürfnis […] sich in die Enge zurückzuziehen, um das durch aufregende Berührung mit der Außenwelt gestörte seelische Gleichgewicht wieder zu gewinnen« (Mothes 1879: 17). Neben dieser biologisch begründeten geschlechtlichen Ausdifferenzierung zwischen dem privat-intimen und dem öffentlichen Raum, manifestierte sich im
Christina Threuter — Eine Architektur der Einfühlung
19. Jahrhundert der reproduktive Charakter der bürgerlichen Familie durch die Zurückdrängung der Arbeitsbereiche aus dem Bereich des Wohnens (Nierhaus 1999: 97). Seither wird in der bürgerlich arbeitsteiligen Gesellschaft die Frau als tugendhafte Mutter und Hausfrau im häuslichen Raum verortet, der gleichzeitig zum Entfaltungsort des modernen männlichen Subjekts wird. Eine wichtige Rolle innerhalb dieser Vergeschlechtlichung der bürgerlichen Wohnräume kam dabei dem neuen Genre der Wohnratgeber zu, das sich an Frauen richtete und in dessen Fokus die konsumorientierte und ästhetische Erziehung zur Wohnkultur sowie die Rolle der Frau als moralische Instanz der Familie stand. Hier wurde an Frauen appelliert, sich der Wohnungsausstattung und der fürsorglichen Pflege des Heimes ihrer Familie zu widmen. Jegliche Tätigkeit der Frau in und für die Wohnung wurde dabei zur psychisch-schönen Tätigkeit erklärt. Beispielsweise konstatierte Jakob von Falke 1871 in seinem Wohnratgeber: »[…] geht der Beruf des Mannes, seine Thätigkeit aus dem Hause hinaus ins Weite […] dem Erschaffen und Erwerben zugewendet, und wenn er heimkehrt, arbeitsmüde und der Erholung bedürftig, so verlangt ihm nach ruhigem Genuss, ihn erfreut die Stätte, die […] ihm die Frau behaglich und anmuthig bereitet und mit reizenden Gegenständen verschönert hat.« (Falke zit.n. Nierhaus 1999: 119)
Hier ist nicht die für die Familie arbeitende Frau, sondern die Frau als schöne Seele die zentrale Figur im bürgerlichen Wohnen. Gleichzeitig wurde das Interieur bzw. die Ausstattung der Wohnung mit der essentialisierten Wesenheit des Weiblichen gleichgesetzt, denn wie Irene Nierhaus hervorhebt wird »die Schnittstelle zwischen Hausfrauenrolle und Interieurcharakter« durch affektive Merkmale, nämlich durch »die Stimmung, das Gefühl, das Gemütvolle als Vergegenständlichung von Innerlichkeit« gebildet. Hierbei nahm das Textile einen zentralen Stellenwert ein. So wurden in der Wohnliteratur dieser Zeit Textil- und Handarbeiten als das häusliche Betätigungsfeld von Frauen im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die dekorationsreiche Innenraumgestaltung proklamiert, und darüber hinaus wurde das Stoffliche und Textile generell an das Wesen, bzw. den so bezeichneten Geschlechtscharakter von Frauen geknüpft. In psychoanalytischen Theorien dieser Zeit findet diese Verbindung ihre Entsprechung, wie beispielsweise bei Sigmund Freud, denn ihm zufolge sind Textilien, insbesondere Pelze und Wäschestücke, erotisch besetzt und mit Prozessen der Fetischisierung verbunden (Freud 2000: 379-388). In diesem Sinne versinnbildlicht etwa auch jene Fotografie, die Grays Bett mit dem darüber gebreiteten Tierfell zeigt, Sexualität und Erotik in ihrem Schlafraum (Abb. 4).
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Abbildung 4: Eileen Gray: E.1027, Schlafzimmer, 1929
Ebenso wurde auch das textilreiche Boudoir nicht nur als luxuriös stoffreich ausgestatteter Raum und Rückzugsort der Frau sondern auch als sinnlich erotischer Ort gedeutet; in ihm überlagern sich die zeitgenössischen Diskurse der bürgerlich-häuslichen Weiblichkeit und des sexuell Weiblichen. In E.1027 ruft vor allem das Ensemble von Ausstattungselementen im zentralen Wohnraum, seine der Ruhe und Geselligkeit dienende, luxuriöse textilreiche Ausstattung mit Diwan, Kissen und Teppichen, Vorstellungen an das Boudoir als Ort der Sinnenfreude, wenn nicht gar sexuellen Ausschweifung hervor.1 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang wiederum der starke Bezug zu bürgerlichen Vorstellungen des späten 19. Jahrhunderts, in denen sich stoff- und dekorationsreiche Innenraumausstattungen mit Phantasmen des Orients überlagerten.2 An das Boudoir sind somit auch die exotistischen Vorstellungen vom sinnlich-sexualisierten Raum des orientalischen Harem gekoppelt und Ernst Bloch stellt sogar fest: »Ein Haremshimmel hatte fast über der ganzen Zimmereinrichtung des neunzehnten Jahrhunderts gestanden.« (Zit.n. Nierhaus 1999: 121)
1 | Grays Räume der Boudoirs, beispielsweise in der Pariser Rue de Lota von 1924 oder das Boudoir Monte Carlo von 1923, dienen ebenso im Medium der Fotografie der Repräsentation ihrer weiblichen Künstlerschaft. 2 | Vgl. dazu Irene Nierhaus, die in diesem Zusammenhang auf die populäre Orientmode sowie auch auf die Orientalisierungen in der zeitgenössischen Interieurmalerei und das beliebte Motiv der Odaliske hinweist (Nierhaus 1999: 121f.).
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Gray konzipierte ihren Wohnraum im Sinne der seit dem 19. Jahrhundert dominierenden Geschlechter- und Orientalismusdiskurse, um dort häusliche Zurückgezogenheit, Intimität, Sinnengenuss und auch Erotik zu verorten.3 Ihre Projektion des weiblich orientalisierten Raumes legt die Vorstellung vom Harem als Frauenraum nahe. Diesen konzipierte sie jedoch nicht als idealisierten Ort »gynozentrischen Widerstands gegen den Mann« (Rommelspacher 1997: 39) oder als weibliches Konzept der Tugendhaftigkeit (Schmidt-Linsenhoff 1998: 60-68), sondern vielmehr als homosozialen Raum, dessen Alterität für die gestalterische Potenz der Künstlerin spricht.
3. M aterialität : sensuelle W irkung Bei Eileen Gray stand das alltägliche Leben und Wohnen, der Gebrauch und vor allem die sensuelle Aneignung der Innenausstattung und Architektur im Vordergrund ihrer gestalterischen Arbeiten und somit auch im Fokus ihrer fotografischen Darstellung. Caroline Constant bezeichnet diese gestalterische Intention Grays treffend als ein Mittel, »die Rituale des Alltags [zu] stimulieren« (Constant 1996: 109). Um dieses sinnliche Empfinden beim Betrachter hervor zu rufen, legte Gray den Akzent der fotografischen Inszenierung ihrer Innenräume auf die verwendeten Materialien, ihre Oberflächen, ihre Farben, Strukturen und Texturen und zudem bearbeitete sie mehrere Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Pläne des Hauses für die Publikation. So hatte sie einige mit der Hand koloriert, um die wichtige sensuelle Rolle und Wirkung der Farbe, besonders im Innenraum deutlich zu machen.4 Allerdings war sie mit deren Reproduktion sehr unzufrieden: »Technische Schwierigkeiten machten es unmöglich, die im Haus verwendeten Farben zu reproduzieren. Die im Buch gezeigten sind nicht richtig und haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun.« (Gray zit.n. Adam 1989: 201) Ihrer Enttäuschung machte sie Luft, indem sie die mangelhaften Reproduktionen mit berichtigenden Kommentaren versah, die sie direkt auf die Fotografien klebte5 (Adam 1989: 236). Mit dieser Betonung der Oberflächen veranschaulichte sie nicht nur deren sensuelle Eigenschaften, sondern verdeutlichte auch, dass die 3 | Zum Orientalismus und zur weiblichen Körpermetaphorik dieses Hauses in Auseinandersetzung mit Le Corbusier vgl. ausführlicher meinen Beitrag (Threuter 2002). 4 | Diese Hervorhebung der ästhetischen Qualität der Materialoberflächen zeichnet bereits Grays Frühwerk aus, insbesondere ihre bemerkenswerten Lackarbeiten (vor allem Möbel und Wandschirme) aus der Zeit von 1912 bis etwa 1922, die sich an der japanischen Lackkunst orientierten, sind von einer außerordentlich sensuellen Oberflächengestaltung gekennzeichnet. 5 | Diese Abzüge verwahrte sie gemeinsam mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Plänen in privaten Sammelbänden, in denen sie ihre Arbeiten zusammenstellte. Die Farbfassungen der Innenräume sind zum großen Teil nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren, da »[d]ie Farben,
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spezifischen Materialstrukturen wesentlich zur Verunklärung der Raumgrenzen beitragen. Darüber hinaus hob sie damit hervor, dass es für sie keine Hierarchie unter den innenarchitektonischen Elementen geben sollte. In ihrem Gestaltungskonzept vermied sie daher die Konzentration oder Isolation einzelner Gestaltungselemente, um sie stattdessen kompositorisch miteinander zu verschränken. Um die gewünschten sinnlichen Effekte zu erzeugen, nutzte Gray in ihren Schwarz-Weiß-Fotografien den natürlichen Lichteinfall, den sie mithilfe von Vorhängen oder Jalousien, Fensterläden, -klappen und -flügel regulierte. Überdies benutzte sie die in den Räumen vorhandenen Spiegel, die sie neben anderen metallenen Flächen von Ausstattungsgegenständen, beispielsweise Aluminium, häufig als Reflektoren des natürlichen Lichts einsetzte. Aber nicht nur das regulierte natürliche Licht, auch die künstliche Belichtung trug zur sensuellen Wirkung, zur verinnerlichten Atmosphäre der Räume bei. So arbeitete sie beispielsweise mit verborgenen Deckenleuchten und Lampen hinter Spiegeln oder mattiertem Glas. Darüber hinaus gewährten die Fenster in ihren Fotografien nur äußerst selten Ausblick nach draußen: in der Regel waren sie mit Vorhängen verhüllt oder durch die Sonnenreflektion getrübt. Das so gefilterte Licht sollte die Wirkung des Innenraumes als kontemplativen Ort dramaturgisch verstärken. Gray schrieb zum Stellenwert der Belichtung ihrer Innenräume: »Arbeite oft mit der Psychologie des Lichtes. Bedenke, in unserem Unterbewusstsein wissen wir, daß das Licht von einem Punkt kommen muß, wie Sonne, Feuer usw. Ein Bedürfnis, das tief in uns verwurzelt ist. Hat man das erkannt, erklärt sich der Eindruck des Missvergnügens, den indirektes Licht schafft. Vergrößere das Licht, erweitere die Strahlen, die von einem Punkt kommen, kapsle sie nicht ein. Innenbeleuchtung: niedrige Lampen, beleuchte den Fußboden durch Licht, das sich 80 Zentimeter über dem Boden ausbreitet, oder beleuchte den Raum einen Meter bis anderthalb Meter vom Fußboden entfernt.« (Zit.n. Adam 1989: 285)
4. D ie P r äsenz der D inge Grays fotografische Inszenierungen ihrer Architektur und Ausstattungselemente verweisen darüber hinaus auf einen weiteren affektiv-körperlichen Aspekt, der mit Baudrillard als die Präsenz der Dinge beschrieben werden kann. So versah Gray auf zum Teil humorvolle Weise einzelne Ausstattungsgegenstände in ihrem Haus E.1027 mit sprachlichen Bezeichnungen. Bei einigen dieser Bezeichnungen handelt es sich um sachliche Begriffe, die sie in einzelnen Druckbuchstaben an Möbel und auch an Wände heftete, um den Gebrauch des jeweiligen Gegenstandes anzuzeigen. So schrieb sie, beispielsdie auf den Wänden im Haus überlebten, […] nur zum Teil ursprünglich [sind]« (Adam 1989: 236f.).
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weise LITTLE THINGS, SHOES oder auch DRESSES für den jeweiligen Teil des Schrankes, in dem diese Dinge und Bekleidungsstücke untergebracht werden sollten; desgleichen brachte sie die Bezeichnung OVERCOATS AND UMBRELLAS an der Garderobe, am Bett-Alkoven die Aufschrift PILLOW oder auch in großen weißen Lettern auf der schwarz gekachelten Wand im Badezimmer neben dem Waschbecken die Bezeichnung TEETH an. In der Küche waren alle Angaben in französischer Sprache verfasst, wie zum Beispiel die Beschriftung COUVERTS und GARDE-MANGER an je einem Fach der Küchenmöblierung.6 Einerseits geben diese Bezeichnungen vor, alltägliche Verrichtungen zu regeln und so der Ordnung des Alltags zu dienen, andererseits aber erhielten die Dinge, die sie bezeichneten, eine besondere Bedeutung, die mit Baudrillard als ihre symbolische Würde bezeichnet werden kann. Die bezeichneten Objekte erhielten eine eigene Präsenz und deuteten damit nicht nur darauf hin, welche funktionalen Bedürfnisse sie zu befriedigen hätten, sondern verwiesen, in den Worten Baudrillards, vielmehr darauf, »welche geistige(n) Strukturen sie als Verrichtungsträger anziehen oder abstoßen, auf welcher geistigen, infra- oder transkulturellen Ebene deren Alltäglichkeit erlebt wird«7 (Baudrillard 2001: 10). Derselben signifizierenden Strategie verpflichtet sind auch die von Gray angehefteten Sätze, Mitteilungen und Aufforderungen an die Gäste ihres Hauses im Eingangsbereich: So die Aufschrift SENS INTERDIT an dem links gelegenen, offenen Serviceeingang im überdachten, rot-orange und schwarz gefassten8 Hauseingang sowie der Hinweis ENTREZ LENTEMENT an der rechts gelegenen Blechtür. In der an diesen Raum anschließenden kleinen Diele befand sich ferner eine Garderobe mit der ironischen Aufschrift DÉFENSE DE RIRE.9 Diese Aufforderungen gaben den Gästen gewissermaßen eine Hausordnung an die Hand. Darüber hinaus aber verdeutlichen sie, wie wichtig es Gray war, den Besuchern zu vermitteln, dass sie ihr Haus, mit Bruno Latour gesprochen, als eigenständigen psychosozialen Akteur ansah, dessen Inneres sich »in lustvoller Erwartung dem Besuchenden langsam und geheimnisvoll eröffnen sollte«. Denn so Gray: »Ein Haus zu betreten kommt dem Gefühl gleich, in einen Schlund einzusteigen, der sich hinter einem schließen wird […].« (Zit.n. Adam 1989: 200f.) Neben dieser begrifflich-symbolischen Präsenz der alltäglichen Dinge und Verrichtungen im Haus gab Gray zahlreichen Möbelstücken einen kennzeichnenden 6 | Darin ist vermutlich ein Zugeständnis an die französische Haushälterin Louise Dany zu sehen, die ab 1927 bis zum Tode von Eileen Gray in ihren Diensten stand. 7 | Ganz im Gegensatz zu Sigfried Giedions Publikation Mechanization Takes Command aus dem Jahr 1948 in der die modernen technischen Geräte in ihrer Funktionalität als Fortschritt der Technik und der sozialen Veränderungen hervorgehoben werden. 8 | Die beschriebenen Angaben zur Farbe folgen Franke 10.02.1998. 9 | Dort lenkte ein gekurvter Schrank-Paravent den Besuchenden nach links und verwehrte ihm einen freien Einblick in den Wohnraum, sodass die Aufforderung, leise einzutreten, auch durch die Innenausstattung formuliert war.
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Namen, wie beispielsweise dem eingangs erwähnten Transat- oder auch dem Nonkonformist-Stuhl.10 Überdies bezeichnete und charakterisierte sie den Adressaten der Gegenstände, wie z.B. einen schwenkbaren Spiegel zum Gebrauch für Madame petite et coquette und einen anderen für Monsieur qui aime se regarder la nuque (Adam 1989: 205). Wie der Transat-Stuhl bezieht sich auch der Bibendum-Stuhl, den Gray für E.1027 entwarf, namentlich auf Mobilität (Abb. 5). Abbildung 5: E.1027 Bibendum-Sessel, 1929
10 | Eileen Gray entwarf neben den immobilen Ausstattungsgegenständen, die im Dienste des körperlich konnotierten Gehäuses als Verdichtung der architektonischen Wände nach innen stehen, zahlreiche mobile Möbelstücke für E.1027. Diese Möbelentwürfe, die das Ergebnis eines variantenreichen Entwurfsprozesses und leicht reproduzierbar waren, waren als Modelle zur Serienherstellung gedacht. Einzelne Möbel(varianten) vertrieb sie bis ins Jahr 1930 in ihrer Pariser Galerie Jean Désert und sie verwendete sie als Ausstattungsstücke im Rahmen ihrer Aufträge für Innenraumgestaltungen. Speziell für E.1027 konzipierte Eileen Gray Mobiliar, das sie als »le style camping« charakterisierte. »Die mit Segeltuch bespannten metallenen Klappkonstruktionen sollten« von einer Person leicht aufzubauen und transportierbar sein. Diese und einige andere Möbel in E.1027 hatten keinen angestammten Platz im Haus, je nach Bedarf konnte man sie von einem Ort zum anderen tragen. Wie beispielsweise den höhenverstellbaren Beistelltisch aus Stahlrohr mit Glasplatte, den adjustable table. Die Wohnräume des Hauses wurden durch diese mobilen Ausstattungsgegenstände in ständige Bewegung versetzt. Diese räumlich-variablen Ausstattungselemente, wie beispielsweise der eingangs erwähnte Transat-Stuhl, können aufgrund ihres reproduktiven Charakters als mobile Fragmente des homogenen Gehäuses bezeichnet werden.
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Sein Name und auch seine wulstig-kräftige Formgebung zitieren das Reifenmännchen, das Markenzeichen des Unternehmens Michelin, das sich seit 1891 auf Fahrzeugreifen und Reiseführer spezialisiert hat. Das Unternehmen präsentiert seine Produkte (immer noch) mit Hilfe dieses Zeichens als Garanten des mobilen Fortschritts: »Der Luftreifen schluckt die Hindernisse«, sagte André Michelin 1893 auf einer Ingenieurskonferenz in Paris, um die Vorteile der MichelinErfindung zu beschreiben. Angeregt durch ein Werbeplakat, das einen beleibten, biertrinkenden Bayern mit dem Spruch »Nunc est bibendum« (»Lasst uns anstoßen«) zeigt, ließ er ein Plakat entwerfen, auf dem ein imposanter Reifenmann einen mit allerlei Glasscherben und Nägeln gefüllten Pokal auffordernd hochhält: »Auf ihr Wohl! Michelin verschluckt die Hindernisse.« (Michelin 2003)11 Der Bibendum-Stuhl zitiert aber nicht nur die Mobilität und Widerstandskraft des Reifens sowie den Komfort des modernen Fortbewegungsmittels, sondern auch den konventionellen, für großbürgerliche, männlich konnotierte Selbstsicherheit einstehenden englischen Clubsessel.12 Leslie Strohmeyer weist darauf hin, dass Gray dem Bibendum-Stuhl eine parodistische Wirkung gab. Gray »[…] zog ihm [dem traditionellen Polstersessel, C.T.] den Boden unter den Füßen weg und setzte ihn auf ein Stahlrohrgestell, fütterte ihn, damit er noch fetter werden würde, bis er fast platzte, nahm ihm alles, was ihm Respekt verschaffte. Schwer und plump saß er nun auf seinem zarten Gestell, und indem er dies tat, offenbarte er sein eigentliches Wesen, seine Bequemlichkeit. Er stand nicht mehr mächtig im Raum und repräsentierte Stärke und Beständigkeit, im Gegenteil: er beanspruchte für sich gar keinen festen Platz mehr und wirkte fast ein bisschen wacklig auf den Beinen.« (Strohmeyer 1999)
Strohmeyers intuitive Schilderung ist insofern bemerkenswert, als sie die von Gray intendierte Personalisierung dieses Sessels betont: In dieser Lesart legt der Bibendum-Stuhl als eigenständiges Wesen mit einer starken körperlichen Präsenz einen spezifischen Gebrauch nahe und besitzt gleichzeitig eine hohe sensuelle Wirkung. Gray als Designerin dieses Sessels hatte sich, Strohmeyer zufolge, mit ihm als Subjekt auseinanderzusetzen.13 Die signifizierende Strategie Grays suchte gleichsam den Gebrauch sowie die persönliche psychosoziale Beziehung der Benutzerin und des Benutzers zu dem jeweiligen Objekt zu bezeichnen: Die Namensgebung geht mit einer Personalisierung des Gegenstandes einher, der in den Worten Baudrillards zum »handgreifli11 | Michelin 2003: www.michelin.de/unternehmen/michelin-mannchen-bibendum (letzter Zugriff: 20.10.2014). 12 | Auf den englischen Clubsessel griff zu dieser Zeit auch Adolf Loos in Ablehnung des Garnitur-Denkens gerne zurück; insbesondere der Chesterfield-Fauteuil weist aufgrund seiner voluminösen Kontur große Ähnlichkeit mit Grays Bibendum-Stuhl auf. 13 | Bruno Latours Modell von den Dingen als Akteuren, denen ein Handlungsskript zugrunde liegt, scheint in dieser Schilderung auf (Latour 2010).
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chen Symbol« für seine Essenz wird, die den Menschen und die ihn umgebenden Gegenstände auf die »gleiche innige und intime Weise« verbindet »wie mit den Organen seines eigenen Körpers. […] Der Gegenstand wird somit grundsätzlich anthropomorph« (Baudrillard 2001: 39). Mit dieser formellen und naturalisierenden Konnotation des Gegenstandes richtete sich Gray gegen die Verabsolutierung des Serienprodukts und kritisierte die rationalisierte Vereinheitlichung. Ihr Ziel war es, ein Modell herzustellen, das von der Psychosozialität des Gegenstandes und einer individuellen, singulären Beziehung zu ihm ausgeht. Diesem Gegenstand wird die Fähigkeit zugeschrieben, auf bestimmte Bedürfnisse eingehen zu können sowie soziale Strukturen zu verallgemeinern. Dieses kulturelle System der Differenzierungen (Baudrillard 2001: 175) steht der Auffassung entgegen, dass es sich bei dem modernen Möbel um das Produkt eines Abstraktionsprozesses handelt, das scheinbar auf den einfachsten, funktionalen Entwurf reduziert ist und seine in der rational-technischen Vereinfachung psychosoziale Symbolik verloren hat. Gray hingegen konstruierte das psychosoziale Bezugssystem zwischen dem Benutzer des Gegenstandes und dem Ausstattungsstück als Teil der symbolischen Gesamtheit des Raumes, in dem er sich befindet und den er mit bezeichnet. Mit dieser Neukonfiguration des Wohnhauses als (personalisiertes) Heim formulierte Gray ihre starke Kritik an dem universalen Anspruch der rationalen Ingenieursästhetik und der Standardisierung beziehungsweise Typisierung. Caroline Constant deutet darüber hinaus auch die von Gray in ihren Beschriftungen verwendeten schablonierten Buchstaben, die in Ingenieurszeichnungen üblich waren, als kritischen Kommentar gegen die voranschreitende industrielle Standardisierung in der Architektur (Constant 2000: 119). Insbesondere wandte sich Gray damit gegen Le Corbusiers Vorstellung vom standardisierten Haus als einer Wohnmaschine 14 und seiner Ausstattung mit den objets types. »Ein Haus ist keine Maschine zum Wohnen. Es ist die Hülle des Menschen, seine Erweiterung, seine Befreiung, seine geistige Ausstrahlung. Nicht nur die visuelle Harmonie, sondern die gesamte Gestaltung, alle Arbeitsbedingungen wirken zusammen, um es im tiefsten Sinn menschlich zu machen.« (Zit.n. Constant 1996: 109)
Bei Gray nehmen die Gegenstände und Ausstattungselemente in E.1027 explizit eine symbolische Konfiguration an, die in den Worten Baudrillards »Hausgöttern gleich [hier] leben« und »die affektiven Bindungen in diesem Milieu« verkörpern (Baudrillard 2001: 24).
14 | Nicht nur Le Corbusier vertrat das Konzept des Hauses als Maschine, das den Vorstellungen des befreiten wohnens verbunden war, wie sie beispielsweise Sigfried Giedion in dem gleichnamigen Buch 1929 publizierte. Vgl. hierzu beispielsweise meinen Beitrag zu Sophie Taeuber (Threuter 2004).
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Auch mit dieser Strategie widersetzte sich Eileen Gray wichtigen Paradigmen des rationalistischen Architekturdiskurses, nämlich dem der uneingeschränkten Variabilität sowie Flexibilität der innenarchitektonischen Elemente und der beliebigen Multifunktionalität der Räume. Es war ihr Anliegen, das Bild der Kohärenz des Hauses als sensuelles, psychosoziales, in sich homogenes Gehäuse abzusichern bzw. aufrecht zu erhalten. Eileen Gray intervenierte mit ihrer Vorstellung vom Haus als Seelengehäuse gegen den Verlust von Heim und Häuslichkeit im Bild des modernen rationalisierten Wohnhauses und gegen das Konstrukt vom universalisierten und räumlich ungebundenen, modernen Menschen. Dennoch aber griff sie gleichzeitig die rationalistische Formensprache sowie die zeitgenössischen Diskurse zum befreiten wohnen (Licht, Luft, Sonne) auf. Ihre Beschreibung und Deutung des Hauses E.1027 berührt somit zweierlei unterschiedliche Auffassungsweisen, die in der modernen Architekturgeschichte häufig als sich ausschließende Vorstellungen aufgefasst werden: »Ces deux formules de vie: la formule de ›camping‹ qui répond à un besoin accidentel d’extériorisation, et la formule normale qui tend à fournir à l’individu un centre indépendant et isolé où il puisse développer ses puissances profondes.« (Gray zit.n. Adam 2000: 210)
In diesem Zusammenhang treffend verwies Ernst Bloch in seinem bekanntesten Werk Prinzip Hoffnung auf die wichtige psychosoziale Bedeutung von Architektur: »Architektur ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat« (Bloch 1979: 861). Auch die Leseweise Baudrillards eröffnet hier die Möglichkeit, Eileen Grays Haus als die metaphorische Konstruktion von einem Heim zu deuten: »Dieses Heim bildet einen spezifischen Raum, der an einer sachlich-objektiven Einrichtung nur wenig Geschmack findet, weil hier die Möbel und Gegenstände vor allem die Funktion haben, die menschlichen Beziehungen zu personifizieren, den Raum, in den sie sich teilen, zu bevölkern und selbst eine Seele zu besitzen. Die reelle Dimension, in der sie leben, ist der moralischen unterstellt, welche sie anzueignen haben. In diesem Raum ist ihnen eine ebenso begrenzte Autonomie zugestanden, wie sie die verschiedenen Familienmitglieder in der Gesellschaft haben. Wesen und Dinge sind übrigens miteinander verbunden und nehmen in dieser heimlichen Übereinkunft eine Innigkeit, einen affektiven Wert an, den man überkommenerweise als ihre ›Präsenz‹ bezeichnet.« (Baudrillard 2001: 24)15
A bbilungsverzeichnis Abbildung 1: Eileen Gray: E.1027, Transat-Stuhl, 1929. Aus: Morancé, Albert (ed. 1975): L’ Architecture Vivante (1929), New York, London: Da Capo Press, Inc. & Trewin Copplestone Publishing Ltd., S. 37. 15 | Präsenz bezeichnet für Baudrillard die symbolische Konfiguration des Zuhauses.
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Abbildung 2: Eileen Gray: E.1027, Wohnraum, 1929. Aus: Morancé, Albert (ed. 1975): L’ Architecture Vivante (1929), New York, London: Da Capo Press, Inc. & Trewin Copplestone Publishing Ltd., S. 32. Abbildung 3: Eileen Gray: E.1027, Gästezimmer, 1929. Aus: Morancé, Albert (ed. 1975): L’ Architecture Vivante (1929), New York, London: Da Capo Press, Inc. & Trewin Copplestone Publishing Ltd., S. 51. Abbildung 4: Eileen Gray: E.1027, Schlafzimmer, 1929. Aus: Morancé, Albert (ed. 1975): L’ Architecture Vivante (1929), New York, London: Da Capo Press, Inc. & Trewin Copplestone Publishing Ltd., S. 40. Abbildung 5: Eileen Gray E.1027 Bibendum-Sessel 1929. Aus: Morancé, Albert (ed. 1975): L’ Architecture Vivante (1929), New York, London: Da Capo Press, Inc. & Trewin Copplestone Publishing Ltd., S. 39.
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Missionierende Räume? Neue religiöse Räume als Medien religiösen Wandels Stefanie Duttweiler
1. E inleitung Warum gibt es in Fußballstadien, Bahnhöfen und Einkaufszentren christlichreligiöse Räume? Sind nicht gerade diese Orte paradigmatisch für die funktional differenzierte, säkularisierte Moderne? Vollzieht sich nicht gerade ein grundlegender Wandel des Religiösen, der die Dominanz der christlichen Volkskirchen massiv in Frage stellt?1 Machen die Prozesse der Pluralisierung, Deinstitutionalisierung und der Subjektivierung des Religiösen religiöse »Neubauten« nicht einfach überflüssig? Offenbar nicht, denn seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich ein (kleiner) Boom neuer religiöser Räume beobachten. Auch wenn die institutionalisierte christlichen Religionen und ihre Glaubenssätze an Bedeutung verloren haben – religiöse Räume werden zunehmend wichtig. Neben den neuen Kapellen und Räumen der Stille zeigt sich dies auch an einem gestiegenen Interesse an bestehenden Kirchenbauten. Ihnen werden – wie die engagierten Kämpfe gegen Umnutzung christlicher Kirchen und die zahlreichen Debatten um die Bedeutung von Kirchenräumen zeigen – verschiedene symbolische Funktionen zugeschrieben 1 | Empirisch ist diese Behauptung umstritten. Viele bleiben den Kirchen, deren caritativem Engagement und deren Wertorientierungen verbunden und der Religion wird generell eine große Bedeutung für Kultur und Gesellschaft zugeschrieben. Daniele Hervieu-Léger (2004) hat dies als belonging without believing bezeichnet, das »ein Verhältnis der Europäer zur Religion beschreibt, aber diesmal ein Verhältnis zu einer aus großem Abstand geteilten Erinnerung, die, auch wenn sie kein gemeinsames Glauben mehr impliziert, doch nach wie vor kollektive Identitätsreflexe auslöst«. Jürgen Habermas (2001) spricht daher von einer »postsäkularen Gesellschaft«: Entgegen der These, Religion verflüchtige sich in der Moderne, rechnet man nun mit dem Fortbestehen der Religion und den Religionsgemeinschaften. Darüber hinaus würdigt man ihr semantisches und Vernunftpotential, von der sich auch die Gesellschaft in Frage stellen sollte.
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(Duttweiler 2011): Sie »stehen« für die (Werte-)Orientierung der europäischen Stadt sowie für Identitäts- und Gemeinschaftsbildung und sie firmieren als individuelle und kollektive Sehnsuchts-, Erinnerungs- und Identifikationsorte; ihnen eignet das Potential, »an die religiöse Dimension zu erinnern, Kraftort zu sein, Stellvertreterfunktion zu übernehmen etc.« (Koers 2012: 405) und damit einen Ort der Heterotopie zu schaffen. Dies scheint vermehrt bedeutsam, zumindest wird im Diskurs um religiöse Räume eine Sehnsucht nach »heiligen Räumen«2 konstatiert. »Es ist der Wunsch, eine bestimmte Atmosphäre zu spüren, die über das Normale hinausgeht« (Erne 2008). Etwas Außeralltägliches erleben zu wollen wird dabei als anthropologisches Bedürfnis diskursiviert – insbesondere im Hinblick auf gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungen: »Yet, people need a place of contrast, places where they can ›step out of their world‹ for a moment.« (Holsappel-Brons 2010: 243) Die hier zur Diskussion stehenden neuen religiösen Räume bedienen beide Funktionen: Sie symbolisieren die Präsenz hoher und höchster Werte (für die Religion sinnbildlich steht) und sie ermöglichen eine Atmosphärenerfahrung, die auf etwas Außeralltägliches verweist (s.u.). Religiöse Räume sind sakralisierte Räume (s.u.). Als in Deutschland vor über 15 Jahren die ersten religiösen Räume dieser Art eingerichtet wurden, wurde damit auch ein neues Konzept der Seelsorge erprobt: »Die Kirche geht zu den Leuten, die Geh-hin-Kirche, sie geht dahin, wo die Menschen sind« (Interview Schlauri).3 Dabei sollten auch Nicht-Kirchenmitglieder, Nicht-Christen und Nicht-Religiöse eingeladen werden. Zentraler Bestandteil dieses Konzeptes ist die räumliche Veränderung. Es sollten zentral gelegene, für Viele attraktive Räume geschaffen werden, die als »missionarische Gelegenheit« (Interview Felmberg) fungieren können. Dabei sind Räume entstanden, die architektonisch in bestehende Gebäudekomplexe integriert, jedoch deutlich von diesen Kontexten abgesetzt sind; sie sind klein; finanziell getragen und personell betreut werden sie von den christlichen Kirchen oder kirchennahen Institutionen; ihre inhaltliche und gestalterische Ausrichtung signalisiert aber – mit Ausnahme der Kapellen in Fußballstadien – Offenheit für Menschen anderer oder keiner Religion. Es lohnt sich mithin, diese Räume näher zu untersuchen, denn sie erweisen sich, so meine These, als Medien des gesellschaftlichen Wandels des Religiösen. Mit dieser Annahme schließe ich an die architektursoziologische Prämisse an, »dass die Architektur im Sozialen einen Unterschied macht, eine ›Differenz‹ einführt, das heißt, dass die Gesellschaft in ihrer je neuen Architektur ein Stück 2 | In der Erklärung des 24. Evangelischen Kirchbautag (31.10.–3.11.2002) in Leipzig heißt es: »Wir nehmen wahr, dass sich immer mehr Menschen nach ›heiligen Räumen‹ sehnen: nach Rastplätzen für ihre Seele, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben.« (H.i.O., online: www.theomag.de/58/prog13. htm, letzter Zugriff: 27.05.2015) 3 | Eine Zusammenstellung der Interviewpartner befindet sich am Ende des Artikels.
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anders wird« (Delitz 2009: 91). Architektur ist mithin wesentlich an Gestalt und Gestaltung des Sozialen beteiligt. Architektur kann als »Medium des Sozialen« (Delitz 2009) fungieren, denn in der Architektur findet das Soziale seinen sinnlichen Ausdruck – es wird sinnfällig, das heißt mit (symbolischer) Bedeutung versehen und so sinnvoll und es wird durch Materialisierung und Verräumlichung sozialer Beziehungen für die Sinne erfahrbar. Dabei ist sinnliche Wahrnehmung immer mehr als das Erfassen einzelner Sinnesdaten: »Man sieht Dinge in ihrem Arrangement, Dinge, die aufeinander verweisen, man sieht Situationen.« (Böhme 1995a: 94) Wahrnehmung ist verflochten mit kulturellen und individuellen Bedeutungszuschreibungen, verbunden mit leiblichen Resonanzen, die zwischen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung vermitteln sowie mit Gefühlen, die eine Situation bewerten. Wahrnehmung ist immer affektives Betroffensein (Hauskeller 1995: 69). Religiöse Räume erweisen sich als besonders instruktiv für die These von der Sinnlichkeit des Sozialen, denn hier liegt der Zusammenhang zwischen Sinn und Sinnlichkeit, respektive sinnlicher Wahrnehmung, Affektivität, Bedeutungs- und Evidenzproduktion gerade nicht auf der Hand. In religiösen Räumen muss etwas sinnlich wahrnehmbar werden, das prinzipiell nicht mit den Sinnen erfassbar ist. So stellt sich die Frage, wie die Beziehung zwischen sinnlich Wahrnehmbarem und dessen Deutung als »über-sinnlich« hergestellt wird und wie das als undarstellbar ausgewiesene darstellbar und erfahrbar gemacht werden kann. Es stellt sich also die Frage nach der Qualifizierung mundaner Dinge als religiös – es stellt sich die Frage nach Prozessen der Sakralisierung. Als entscheidend erweist sich dabei die religiöse Praxis: »Through religious practice, rather than through theological or contemplative reflection, various sensory modes come together.« (McDannell 1995: 14) Liturgie ebenso wie private religiöse Praktiken wie Tischgebete, Segnungen oder die Meditation in einem Raum der Stille sind sinnlich, sie evozieren leibliche Empfindungen und involvieren körperliche Bewegungen. Körperlich-sinnliche Vollzüge sind mithin zentral für die Aktualisierung, Habitualisierung und Tradierung religiöser Sinngehalte. Ich stelle die Frage nach den Prozessen der Sakralisierung im Folgenden in Hinblick auf das Verhältnis von Religion, Raum und Raumerfahrung. Zunächst wird – sehr kursorisch – auf das Verhältnis von (christlicher) Religion und Raum aus religionssoziologischer Sicht eingegangen, besonders thematisiert wird dabei die Dimension der Atmosphäre, in der sich die Leiberfahrung und Qualifizierung des Raumes als religiös verbinden. In einem zweiten Schritt stelle ich einige Aspekte und Charakteristika neuer religiöser Räume in nicht-religiösen Kontexten4 4 | In meiner vom Schweizer Nationalfonds geförderten Studie »Zum Gestaltwandel des Religiösen und seiner Räume« habe ich Raumbegehungen, architektonische Resonanzanalysen, Experteninterviews mit den zuständigen Seelsorgern, teilnehmende Beobachtungen sowie Diskursanalysen miteinander verbunden. Ziel dieses multimethodischen Vorgehens war es, die Wechselbeziehungen zwischen religiösem Raum und nicht-religiösen Kontext zu
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und deren Qualifizierung als religiös vor. Das Schlusskapitel wird die These aufgreifen, die neuen religiösen Räume seien Medien des Wandels des Religiösen: Durch ihre spezifische Verortung im nicht-religiösen Kontext, ihrer spezifischen Nutzung sowie ihrer spezifischen architektonischen Gestaltung, tragen sie wesentlich zu Stabilität und Wandel des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft bei.
2. V erhältnis R aum und R eligion Die große Bedeutung, die aktuell den Räumen des Religiösen zugeschrieben wird, legt den Schluss nahe: Religion braucht Raum, mehr noch: die Gesellschaft braucht religiöse Räume. Theologisch5 und religionssoziologisch ist diese These dagegen umstritten. Fasst man Religion mit Luhmann funktional als Problematisierung der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz in der Immanenz, so ist religiöse Kommunikation gerade nicht auf einen Raum angewiesen. Religion, so die These Luhmanns, erwächst aus der Notwendigkeit, Sinn zu produzieren. Dabei wird Sinn als Resultat jeder bedeutungserzeugenden Unterscheidung verstanden, die etwas Bestimmtes beobachtet und bezeichnet, anderes dagegen notwendig unbeobachtet lässt. Der so entstehende Bereich des Unbeobachteten und Nichtbezeichneten wird religionsproduktiv, denn Religion findet eine Form, über das Abwesende und Ausgeschlossene, das als Transzendenz gefasst wird, zu kommunizieren. Auch Religionssoziologie im Anschluss an Luckmann sieht in Religion die kommunikative Formgebung von Transzendenz, die als etwas »in der gegenwäruntersuchen. Die sinnliche Erfahrung erwies sich als wesentliches jedoch nicht alleiniges Moment, zugleich Differenz und Bezugnahme zwischen den Räumen zu plausibilisieren. Eine Auflistung der untersuchten Räume findet sich am Ende des Textes. 5 | In jüngster Zeit sind zahlreiche Publikationen zum Thema Raum und Religion erschienen, die auch für das Christentum zeigen, wie stark der Raum das Religiöse selbst prägt: »Indeed, church buildings are dynamic agents in the construction, development, and persistence of Christianity itself« (Halgren Kilde 2008: 3). Aus theologischer Sicht ist das Verhältnis von Christentum und Raum allerdings komplex, besteht doch ein Spannungsverhältnis von Raumabstinenz und Raumbedarf. So stehen hier traditionell zwei Raumkonzepte nebeneinander: das des Tempels als domus dei (Haus der göttlichen Gegenwart) und als domus ecclessia (Haus der Kirche), das als Feier-, Versammlungs- und Kommunikationsort und nicht als sakraler Raum verstanden wird. Insbesondere die protestantische Position geht davon aus: »Dem immer wieder geäußerten Wunsch nach einer Theologie des Kirchenraumes muss neutestamentlich und reformatorisch entgegengehalten werden, dass es eine solche Theologie nicht gibt und auch nicht geben kann, weil das kirchliche Gebäude, weil der Kirchenraum kein medium salutis ist. Für das Heil des Menschen, für die Gottesbeziehung ist die Gestalt des Kirchenbaus irrelevant.« (Schwebel 2002: 15)
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tigen Erfahrung angezeigte Nicht-Erfahrende« (Luckmann 2002: 142) verstanden wird.6 Religion bildet sich in der Auseinandersetzung mit großen Transzendenzen. Wenn »etwas überhaupt nur als Verweis auf eine andere, außeralltägliche und als solche nicht erfahrbare Wirklichkeit erfaßt wird – wenn sich also die Erfahrung auf etwas bezieht, das nicht nur nicht unmittelbar erfahren werden kann, sondern das darüber hinaus auch kein Bestandteil jener Wirklichkeit ist, in der Dinge von gewöhnlichen Menschen gesehen, berührt und behandelt werden können –, sprechen wir von ›großen‹ Transzendenzen.« (Ebd.: 142) Alle Konzeptionen von Transzendenz verbindet die Figur des Verweises auf etwas nicht-erfahrbares. Dementsprechend hat es Religion »mit dem Problem zu tun, wie man prinzipiell nicht darstellbare Transzendenz mit immanenten Mitteln symbolisieren, also Unverfügbares in Verfügbares transformieren kann« (Krech 2011: 158). Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Raum. Im Laufe der christlichen Kirchen(bau)geschichte bildete sich eine besondere architektonische Form heraus, die – systemtheoretisch gesprochen – die »Situationsdifferenzierung« (Luhmann 2002: 189) zwischen religiöser und nicht-religiöser Kommunikation erleichtert und die »Realpräsenz der Differenz« (Luhmann 2002: 88) sinn(en) fällig macht. Kirchen sind Antworten auf das paradoxe Problem, eine kategoriale Differenz zwischen einer weltlichen und nicht-weltlichen Sphäre zu etablieren und zugleich dem Transzendenten einen Platz in der Immanenz »einzuräumen«. Doch räumliche Praktiken gelten selbst als religionsproduktiv. Erst die räumliche (und zeitliche) Absonderung eines als sakral markierten Bereiches bringt die Differenzierung von Transzendenz und Immanenz hervor (Durkheim 1981). »Religion, in its physical presence, social orderings, and cultural forms, is a consequence of spatial practice, though it is the attribution of meaning that gives such practice its character as ›religious‹« (Knott 2005: 43).7 Räumliche Praktiken 6 | Luckmann bildet seine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Größenordnungen der Transzendenz entlang der Kategorie der Möglichkeit von Erfahrung. Ist sie grundsätzlich genauso erfahrbar wie das gegenwärtige Erfahrene, spricht Luckmann von »›kleinen‹, räumlichen und zeitlichen Transzendenzen innerhalb des ›Alltäglichen‹« (Luckmann 2002: 142), ist es nur mittelbar erfahrbar, wie das Innenleben eines anderen Menschen, von mittleren Transzendenzen. Große Transzendenz kann in Träumen, Ekstasen und Meditationen erfahren werden. In der Religion werden diese Erfahrungen kommunikativ verarbeitet. 7 | Fokussiert man auf diesen Aspekt der räumlichen Differenzierung, zeigt sich eine erstaunliche »Familienähnlichkeit von Architektur und Religion« (Erne 2012: 275). Explizit macht sie beispielsweise der Architekt Mario Botta: »Sobald man auf dem Boden eine Perimeterlinie einzeichnet, trennt man einen inneren, also sakralen Zustand vom äußeren. […] Die Architektur trägt in sich selbst das Prinzip einer Teilung, im sakralen und profanen Bereich.« (Botta 2010: 14f.) Auch Foucault betont in seinen Ausführungen zu Heterotopie, auf
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wirken mithin performativ: Durch Separierung und symbolische, rituelle und ästhetische Markierungen wird ein Raum abgesondert, der als Verweis auf etwas »Anderes«, Unsichtbares, Immaterielles, Sich-Verbergendes gedeutet wird. »Der Raum modelliert einen Sinnhorizont, der auf paradoxe Weise als Grenze des Sichtbaren ein Unsichtbares sichtbar werden lässt« (Erne/Schütz 2010: 10) – und er macht dieses paradoxe Verhältnis von Gleichzeitigkeit von Wahrnehmbaren und Nicht-Wahrnehmbaren erlebbar. Diese Prozesse der Separierung und Markierungen lassen sich auch als Prozesse der Sakralisierung beschreiben, mithin als Produktion eines Überschuss an Bedeutung, der den Verweis auf etwas anderes strukturell mitführt. Denn Sakralisierungen sind »zunächst heuristisch als ›Aufladung‹ oder Assoziierung kultureller Güter mit religiöser Valenz definiert« (Böhm 2009: 12). »Sacredness still constitutes in modern societies one of the possible methods of organizing collective meaning in terms of which human beings make sense of their existence. Essentially it finds expression in the absolute – sacred – character conferred on objects, symbols or values, which crystallize the feeling of radical dependence experienced, individually and/or collectively, in emotionally […] the form that is known by the term ›sacred‹ may occur outside any religion.« (Hervieu-Léger 2000: 106f.)
Damit ist Sakralisierung »zugleich konkreter und diffuser als religiöse Kommunikation, weil sie sich eher an immanente Sachverhalte hält und sie religiös auflädt« (Krech 2011: 250). Diese »immanenten Sachverhalte« sind, da sie immanent sind, in der Regel sinnlich wahrnehmbar. Sakralisierungen ergeben sich durch architektonische Grenzziehungen und Formgebung, durch Licht, Farben, Materialien und Akustik,8 durch eine bestimmte Konstellation von (religiösen) Artefakten, durch religiöse Symbole, die spezifische Anordnung der Menschen und nicht zuletzt durch Praktiken der Autorisierungen (Weihe), individuellen und kollektiven Ritualisierung (Liturgie und Gebet) und der Tabuisierung. Dabei zielen diese Praktiken auf eine Kontrasterfahrung, die alle Sinne involviert:9 das Hören (Stille, Musik, Liturgie, »Gotdie im theologischen Diskurs immer wieder verwiesen wird, dass jede polare Strukturierung von Räumen in einem elementaren Sinne als Unterscheidung zwischen sakral und profan gelten kann (Foucault 2005, 2006). 8 | Bemerkenswert ist, wie konträr die architektonischen Stilmittel sein können: so wirkt sowohl ein sehr kleiner als auch ein sehr großer Raum, ein heller als auch ein dunkler, ein Raum mit farbigen Fenstern oder mit Blick in die Weite, mit edlen oder einfachen Materialen erhaben und kann eine religiöse Atmosphäre evozieren. 9 | Dass alle Sinne involviert sind, ist kein Charakteristikum religiöser Raumerfahrung. Denn diese existiert nie losgelöst von bestimmten sozialen Situationen, in denen der Mensch sich zwangsläufig mit allen Sinnen befindet. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Markierung einer Situation umso deutlicher ausfällt, je mehr sinnliche Eindrücke darauf
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tes Wort«), Sehen (Spiel mit Licht und Dunkelheit, sakrale architektonische Elemente, religiöse Bilder, Skulpturen, Symbole, liturgisches Geschehen), Riechen (Dumpfheit, Weihrauch, Blumen), Tasten (spezifische Temperatur, Berührung bestimmter Gegenstände wie Kirchengestühl, Kerzen, Bücher, Hostien, andere Menschen) und Schmecken (Hostien, Wein), die Körperhaltung (Sitzen, Knien, Schreiten) sowie nicht zuletzt das eigenleibliche Spüren des Raumes (Enge und Weite). Einige dieser Qualifizierungen wie die räumlichen und ästhetischen sind dauerhaft, die praktischen Vollzüge dagegen sind situativ und temporär, wobei einige »Spuren« hinterlassen werden, denen eine »nachhaltige« performative Wirkung zugesprochen wird: »Es sind Spuren der Benutzung durch eine gottesdienstliche Gemeinde, aber auch Spuren der Inbesitznahme durch Christus, der in den Gottesdiensten gegenwärtig wird. Und je intensiver und dichter diese Spuren des Gottesdienstes, des Gebetes und der Christusgegenwart in einem Kirchenraum sind, umso machtvoller wird dieser Raum. Er ist wie mit Kraft aufgeladen.« (Gerhards/Raschzok 2003: 182)
Die machtvolle Wirkung, von der hier die Rede ist, wird meist als sakrale Atmosphäre beschrieben. Religiöse Räume scheinen stärker als andere Räume buchstäblich zu berühren.10 Doch auch Räume der Stille wird eine besondere Fähigkeit zugeschrieben, die Menschen zu beeinflussen. Sie werden von Menschen besucht, »die der Unruhe des alltäglichen Daseins für eine kurze Zeit entfliehen wollen, um in der äußeren Ruhe ihr inneres Gleichgewicht zu wahren« (Kraft 2007: 9).
3. R eligiöse A tmosphären Um religiöse Räume als Medien des Sozialen zu verstehen, lohnt sich also die Beschäftigung mit Atmosphären. Denn es sind die Atmosphären, die »den Raum als solchen und nicht nur die einzelnen Objekte wahrnehmbar« (Löw 2001: 206) machen, sie sind zusammengesetzt aus der Außenwirkung der Dinge und dem verweisen. Zugleich zeigt sich jedoch, dass auch (und gerade) die Reduktion von Sinneseindrücken – die als Stille metaphorisiert wird – ein Signum sakraler Inszenierungen darstellt (s.u.). 10 | Das heißt aber nicht, dass eine »berührende« Atmosphäre ausschließlich in religiösen Räume erfahrbar sei, denn es gibt keine emotional neutralen Räume. Dennoch werden gerade Kirchenräume insbesondere in der phänomenologischen Literatur immer wieder als Beispiele für Atmosphärenwirkungen herangezogen: »Im Moment des Überschreitens des Portals öffnet sich das Kirchenschiff als plurale sinnliche Erlebniswelt, in der sich die ganz immersive Eindrucksmacht des heterotopologischen Mythos spürbar ausbreitet.« (Hasse 2014: 299)
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leiblichen Spüren des Subjekts. Atmosphären sind die »gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« (Böhme 1995a: 34). Um eine Atmosphäre wahrzunehmen sind alle Sinne beteiligt und zugleich ist die Wahrnehmung einer Atmosphäre immer mehr als das Erfassen einzelner Sinnesdaten. Eine Atmosphäre wird empfunden, das heißt an sich selbst, am eigenen Leib, gespürt. Anders ausgedrückt: Es ereignet sich eine leibliche Resonanz. Atmosphärenwahrnehmung ist wie ein »sechster Sinn« (Schouten 2011: 45), eine Modalität, die Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen um das Vermögen ergänzt, Umgebungen leiblich-affektiv wahrzunehmen und sich von ihnen affizieren zu lassen. Kann eine sakrale Atmosphäre also in eine andere Stimmung versetzen? Dies wird oft behauptet, ist jedoch äußerst fraglich. Denn zwar sind Viele, die mit hiesigen kulturellen Sehgewohnheiten und Darstellungskonventionen vertraut sind, in der Lage, einen religiösen Raum aufgrund seiner institutionalisiert-codierten Qualifizierungen als solchen zu erkennen,11 doch ob sich eine als religiöse Empfindung gedeutete leibliche Resonanz ereignet ist von verschiedenen Faktoren abhängig: Erstens von der spezifischen Situation und den Erwartungen, die damit verknüpft sind, denn es macht einen Unterschied, ob man einen religiösen Raum im Rahmen eines touristischen Besuchs, einer kunsthistorischen Führung oder eines Gottesdienstes, Totengedenkens, einer Ruhepause oder für ein inniges Gebet aufsucht; zweitens von der Bereitschaft und Möglichkeit, sich auf die Situation und Raum »einzulassen«, sowie drittens von der habituellen Prägung, der religiösen »Musikalität« (Weber). Sie bildet sich im Laufe der Sozialisation durch die Erfahrungen heraus, die man im Raum gemacht hat: Mit welchen religiösen Räumen ist man auf welche Weise vertraut? Was weiß man über religiöse Räume und deren Symbolik und Nutzung? Was hat man in den Räumen getan, wen dort angetroffen, was hat angesprochen, welche Gefühle haben sich entwickelt? Wie wurde der religiöse Raum kognitiv und emotional vermittelt? Wie wird der religiöse Raum erinnert, welche Nutzungen kann man (nicht) vollziehen? Wie und ob eine sakrale Atmosphäre wahrgenommen wird, ist fundamental abhängig von den »einverleibten« individuellen Erfahrungen und Deutungen und von den – sozial vorstrukturierten – Erwartungen an den Raum.12 In Abhängigkeit dieser 11 | 90 Prozent der von Anna Körs befragten BesucherInnen von Kirchen der Backsteingotik gaben an, dass für sie das jeweilige Kirchengebäude ein »beeindruckendes Bauwerk« sei, das sie mit der Kirche identifizieren: »Die Kirchengebäude zeigen somit weitestgehend übereinstimmend eine zunächst starke visuelle Wirkung auf die Kirchenbesucher.« (Körs 2012: 367) 12 | Den neuen religiösen Räumen werden andere Erwartungen entgegen gebracht als Kirchen, doch auch diese sind sozial geprägt. Der hohe Stellenwert, den derzeit Stille, Auszeit, Freiraum, Selbstbesinnung oder Meditation genießen, beeinflusst die Wahrnehmung des Raumes – je nachdem, ob man diesen Zeitgeistströmungen eher positiv, skeptisch oder ablehnend gegenüber steht.
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Faktoren können religiöse Räume unterschiedliche leibliche Resonanzen evozieren: Weite und Enge, Erhabenheit und Bedrückung, Befreiung und Lähmung, Beklommenheit oder Offenheit, Geborgenheit und Ausgeliefertsein, die in verschiedenen Graden und Mischungen auftreten können.13 Somit ist der Auffassung zu widersprechen, der Raum präge zwangsläufig die eigene Stimmung, indem er die Besuchenden »umstimme«. Denn zum einen ist es hoch voraussetzungsvoll welche leibliche Resonanzen sich ergeben und wie man sie deutet und zum anderen impliziert die Wahrnehmung einer Atmosphäre gerade nicht das ungehinderte Eindringen der Umwelt in das Subjekt. Denn auch wenn die Atmosphärenwahrnehmung die Trennung von Subjekt und Objekt (tendenziell) aufhebt, bedeutet das nicht, dass man einer Atmosphäre »ausgeliefert« ist. »So wie ich, um die Temperatur einer Flüssigkeit zu prüfen, kurz meine Hand eintauchen kann, ohne dass sich dabei meine Körpertemperatur verändert, kann ich vom Atmosphärischen berührt werden, ohne dass sich meine Stimmung dem Erspürten dabei notwendig angleicht.« (Schouten 2011: 216) Die Vorstellung, ein religiöser Raum selbst könne »missionieren«, wäre somit reichlich naiv. Dennoch wird mit den neuen religiösen Räumen nicht zuletzt diese Erwartung verbunden – durch die Inszenierung einer sakralen Atmosphäre, die sowohl ästhetisch, rituell als auch diskursiv erfolgt, soll auf Anderes, letztlich Religiöses, verwiesen und dies erfahrbar gemacht werden.
4. C har ak teristik a der neuen religiösen R äume Religiöse Räume in nicht-religiösen Kontexten sind vergleichsweise neue Phänomene;14 ihr Ausbau begann ab Mitte der 1990er Jahre; ein bemerkenswerter Anstieg ist seit der Jahrtausendwende zu verzeichnen. Ihr zentrales Charakteristikum ist die Einbettung in einen Gebäudekomplex, der einer anderen Funktionslogik folgt. So entsteht eine Nähe zu anderen Funktionssystemen, die weder zufällig noch selbstverständlich ist.15 Betrachtet man die Kontexte der religiösen Räume, fallen die vielen Gemeinsamkeiten auf, auch wenn sie unterschiedliche Bezugs13 | Dass die möglichen leiblichen Resonanzen gegensätzlich sein können, spricht nicht gegen die Qualifizierung der Atmosphäre als sakral. Es wäre beschönigend, eine sakrale Atmosphäre ausschließlich als positiv zu werten. 14 | Räume der Stille gab es vereinzelt allerdings auch schon zuvor. Der erste Raum der Stille wurde von Dag Hammarskjöld 1957 im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York errichtet. Aktuell stagniert meines Wissens im deutschsprachigen Raum – mit Ausnahme von Universitäten, Kliniken und Parlamentsgebäuden − die Neuerrichtung religiöser Räume. 15 | Meine Untersuchung hat gezeigt, dass die Entstehung der religiösen Räume nicht an allen Orten auf eine kirchliche Initiative zurückgeht. In den Fußballstadien und im Einkaufszentrum Oberhausen kam der Anstoß vom nicht-religiösen Kontext.
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systeme (Wirtschaft, Sport, Verkehr) zuzuordnen sind. So sind Einkaufszentren, Fußballstadien und großstädtische Bahnhöfe in den letzten 15 Jahren räumlich und funktionell umgestaltet worden. Zu Shopping-Malls, Sportarenen, die den Namen ihres Sponsors tragen, und Bahnhofswelten umgebaut, sind sie nicht mehr lediglich Teil der Stadt, sondern »simulieren« selbst Strukturen der europäischen Stadt. Zugleich aber schließen sie durch architektonische Abgrenzung, Zugangskontrollen, Reinigungsrituale und Überwachungen das aus, was Stadterfahrung auch ausmacht: schlechtes Wetter, Schmutz, die Begegnung mit dem Fremden sowie die Konfrontation mit Kriminalität, Armut und Obdachlosigkeit. Geboten und gesucht wird das besondere, nicht-alltägliche (Konsum-)Erlebnis. Zu diesem trägt nicht zuletzt der Raum selbst bei, denn nicht selten sind diese Gebäudekomplexe sogenannte brand architecture, das heißt architektonische Vorzeige- und Prestigeobjekte, mit denen sich die Kommunen in Szene setzen. Durch ihre aufmerksamkeitsgenerierende Architektur und die Produktion stimulierenden Atmosphären erweisen sie sich als Resultat und Motor einer Transformation der Stätten der Moderne zu Stätten der neoliberalen Postmoderne (Legnaro/Bierenheide 2005; Wehrheim 2007). Hier verwirklicht sich »a new city myth. This myth involves, for instance, glorification of the superficial, emphasis on play, manufactured commodifications of the past substituting continuity and tradition, and inflationary suggestions of the state-of-the-art future« (Ward 2000: 29). Nicht selten wird diesen Gebäuden auch selbst ein sakraler Charakter zugeschrieben. Zum einen aus funktionalen Gründen, da Fußball und Konsum als Ersatzreligionen interpretiert werden können, und zum anderen aus ästhetischen, denn sie operieren mit Stilelementen, die in der Vergangenheit vor allem religiöse Bauten prägten. Abbildung 1: CentrO Oberhausen, 2010
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An Orten, an denen sowohl architektonisch als auch in Hinblick auf die Funktionszuschreibung Sakralität und Profanität verwischen, ist die Qualifizierung eines Raumes als religiös eine besondere Herausforderung.16 Sie verstärkt sich, wenn der Raum eine multireligiöse und spirituelle Ausrichtung erhalten soll, denn für diesen Raumtyp fehlen bislang institutionalisierte building types, die den Transzendenzbezug universell und inhaltlich offen symbolisieren würden.17 Erschwerend kommt hinzu, dass die Räume zwar zentral gelegen,18 doch relativ unauffällig im Gebäudekomplex platziert sind. Von außen ist die religiöse Funktion des Raumes lediglich durch Schilder, eine besondere Gestaltung der Tür oder durch (bunte Glas-)Fenster wahrnehmbar, ein Außenraum fehlt in der Regel. So erweisen sich sowohl das Auffinden der Räume (aufgrund der meist unzureichender Beschilderung) als auch ihr Zugang (durch die Abhängigkeit von den Zugangsbeschränkungen durch Hausordnung und Öffnungszeiten) nicht immer als unproblematisch. Dass in den meisten Räumen vor allem individuellen Praktiken Raum gegeben werden soll, erweist sich als weitere Schwierigkeit – die mannigfaltigen sinnlichen Evidenzen durch Liturgien entfallen, eine sakrale Atmosphäre muss so nahezu ausschließlich durch die architektonische Gestaltung evoziert werden. Die Gestaltung soll – so der Anspruch – nicht »kalt lassen«, sie soll »ansprechend« sein, sie soll »berühren« und »ergreifen«. Wie wird also sinnlich wahrnehmbar, dass der religiöse Raum etwas »Anderem« Platz »einräumt«, dass er der Logik von Konsum, Oberflächlichkeit und säkularer Sakralisierung entgegen steht und Transzendenz in der Immanenz einziehen will? Die hier untersuchten Räume gehen unterschiedlich mit diesen architektonischen Herausforderungen um und lassen sich – sehr grob – in zwei Kategorien einteilen: Räume, die sich in ihrer Einrichtung und ihrem Namen
16 | Dass dies auch theologische Fragen berührt, die die Kirche in ihrem Kern ausmachen, sei nur angedeutet: Soll sich die Kirche ihrer Umgebung anpassen und ihr aussetzen oder soll sie gerade die Differenz betonen? 17 | Zur Diskussion um die Gestaltung dieser Räume siehe Tietz 2004; Kraft 2007; Holsappel-Brons 2010 sowie die Diskussionen in der Zeitschrift Kunst und Kirche 4/2004 mit dem Schwerpunkt »Räume der Stille« und im Heft 2/2010 »Multireligiöse Gebetsräume«. 18 | Das trifft insbesondere für die Kapellen in den Fußballstadien in Berlin und Gelsenkirchen zu. Ihre Platzierung ist bewusst neben dem »Heiligen Rasen« im VIP-Bereich der Stadien. Damit erhöht sich ihre Attraktivität, Exklusivität und zugleich ihre Exklusionswirkung. Hierin unterscheiden sich die von mir untersuchten Räume deutlich von angelsächsischen multireligiösen Räumen: »Quite often, when space is at a premium, these MFS [Multi-faith-Spaces] will be found in locations of low commercial value, for instance at the end of a corridor, or next to a toilet block. Such spaces can be deficient in natural light, placed within the inner parts of a building, and are often characterised by suspended ceilings, an array service pipes, and low-grade anti-dirt campest.« (Hewson/Brand 2011: 23)
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an traditionelle Kirchen und Kapellen19 anlehnen sowie solche, die als Räume der Stille bezeichnet werden, auf religiös konnotierte Objekte verzichten und eine weltanschaulich neutrale Atmosphäre der Transzendenz zu schaffen versuchen. Sie »versuchen, ästhetisch ansprechend zu sein« (Groß 1998: 47) und damit einen Bedeutungsüberschuss zu produzieren, ohne dass dabei klar auszumachen wäre, auf was der Bedeutungsüberschuss genau verweist. Im Folgenden werde ich einige Dimensionen der Sakralisierung dieser Räume beschreiben und andeutungsweise vorstellen, wie sie diskursiv verhandelt werden. Denn – um es noch einmal zu wiederholen – es ist unmöglich, Dinge und Atmosphären jenseits ihrer kulturellen Bedeutungsgebung wahrzunehmen. Die Beschreibung folgt der Bewegungsrichtung beim Betreten des Raumes – auch wenn damit weder suggeriert werden soll, dass die sinnlichen Eindrücke in der Atmosphärenwahrnehmung deutlich zu unterscheiden seien, noch, dass alle BesucherInnen die Atmosphäre ähnlich empfinden (s.o.). Im Gegenteil, gerade religiöse Räume können gegensätzliche Reaktionen hervorrufen. Dabei wird die Weise der individuellen Empfindung, so ist zu vermuten, die Weise der Nutzung entscheidend prägen.
5. M omente der S akr alisierung neuer religiöser R äume Um die Atmosphäre eines Raumes wahrzunehmen, muss eine Schwelle übertreten und ein anderer Raum betreten werden: »Schwelle und Tür zeigen auf unmittelbare und konkrete Weise die Aufhebung der räumlichen Kontinuität: darin liegt ihre große religiöse Bedeutung, denn sie sind Symbole und Mittler des Übergangs in einem« (Eliade 1998: 26, H.i.O.). Der Tür wird daher in der konkreten seelsorgerischen Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Muss sie offen sein, um einzuladen oder geschlossen, um diejenigen, die sich im Raum befinden, zu schützen?20 Die Erfahrungen beim Schwellenübertritt (das Öffnen der Tür, das Passieren des Vorraums,21 evtl. das Gespräch mit gate keepern und die 19 | Schon die Namensgebung Kapelle zementiert den christlichen Anspruch: »using the world ›chapel‹ to designate the public sacred/spiritual spaces […] is one way of sustaining the signifier ›Christian country‹ in the master position« (Nolan 2008: 322). 20 | Vgl. hierzu auch Nynäs 2012: 143ff. 21 | In einigen Räumen wird durch einen kleinen Vorraum, in dem sich z.T. ein ehrenamtlicher gate keeper befindet, die Schwellenerfahrung »ausgedehnt« und so leiblich stärker spürbar: eine Enge, wenn man sich beobachtet und überwacht oder eine Weite, wenn man sich eingeladen fühlt. Besonders intensiv ist der Kontakt zur betreuenden Person im Raum der Stille im Hamburger Bahnhof; man muss direkt an ihr vorbei gehen. Bei meinem ersten Besuch kann ich folgende Szene beobachten: Es kommen drei weibliche Jugendliche herein. Diejenige, die ein Kopftuch trägt, fragt: Was soll das hier sein? Die Betreuerin des Raumes fährt daraufhin mit dem Finger den Schriftzug an der Tür entlang und liest vor:
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damit verbundenen leiblich-affektiven Resonanzen) machen nicht nur die Differenz zwischen Außen- und Innenraum unmittelbar sinnlich evident, sie »spuren« die Raumerfahrung vor. Tritt man mit seinem Habitus, seinen Erwartungen, Dispositionen und situativen Anliegen in den Raum ein wird man mit einer Raumgestalt konfrontiert, man nimmt die Artefakte und ihre Ekstasen (Böhme) als Konstellation wahr. In den als Kirchen oder Kapellen bezeichneten Räume sind es Konstellationen von Dingen, Gerüchen, Temperaturen,22 die an traditionelle christliche Raumarrangements angelehnt: Das Zentrum des Raumes bilden in der Regel ein meist mit Blumen und Kerzen geschmückter Altar und/oder ein Lesepult (oft mit aufgeschlagener Bibel), die Bestuhlung ist auf sie ausgerichtet. Altar, Lesepult und Bibel sind zentrale Orte religiöser Kommunikation und versinnbildlichen so die Vermittlung zwischen Immanenz und Transzendenz auch wenn gerade keine religiösen Praktiken vollzogen werden. Auch christliche Gegenstände und Symbole prägen die Raumgestalt: das Kreuz hinter dem Altar im Berliner Olympiastadion (Abb. 2);23 das bunte Glasfenster24 mit biblischen Motiven in der Kapelle in Sihlcity, die aufgeschlagene Bibel und der große Kerzenständer in der Bahnhofskirche in Zürich25 oder die kleine orthodoxe Ikone im Kirchenzentrum im Einkaufszentrum CentrO in Oberhausen (Abb. 1). Auch die indirekte Lichtführung und Farbgestaltung sowie die Verwendung edler Materialien,26 wie Wände aus Blattgold (Berlin) oder ein Altar aus teurem Tropenholz (Frankfurt), erinnern Raum der Stille. Den Mädchen wird der Raum mit dem Hinweis geöffnet, dass man nichts sagen darf. Das wird von den Mädchen geflissentlich abgenickt. Nach drei Minuten verlassen sie den Raum. 22 | In der Bahnhofskirche in Zürich installierte der Architekt eine Klimaanlage, die den Raum im Sommer auf 22 Grad abkühlt. »Also das war sein Anliegen, er hat gesagt, man bekommt ein Kirchenfeeling, wenn man mit der Temperatur dicke Mauern quasi anzeigt. Da hat er vollkommen Recht. Also die Leute kommen nicht wegen der Kühle, aber sie sagen schon, das Klima sei wie in einer Kirche.« (Interview Angst) 23 | Kreuze sind in den von mir untersuchten Räumen nur im Berliner Olympiastadion zu finden. Als Räume der Stille noch religiös bestimmt waren, so konstatiert Holsappel-Brons (2010: 244) in ihrer Rückschau auf die Niederlande, waren religiöse Symbole wie das Kreuz wichtiger als die Farbe der Wand oder die Stille zu erfahren. 24 | Glaskunst ist ein häufiges Stillmittel neuer religiöser Räume, erinnert sie doch an Kirchenfenster; ihre Farbigkeit ist nicht-alltäglich und sie versinnbildlicht den vermittelten Kontakt zwischen Innen und Außen. Sie sind wichtige Komponenten des »design of silence« (Holsappel-Brons 2010: 244). 25 | »Und so nüchtern unser Raum ist, er ist nichts Spezielles, aber im Gegensatz zum Bär, der draußen tobt, ergreift dieser Raum. Schon nur weil Kerzen brennen. Und das ist eine Dienstleistung. Und die kann man nicht genug hoch veranlagen.« (Interview Angst) 26 | »Die Semantik der Materialien hat ihre Basis teils in der Herkunft der Materialien, teils in dem privilegierten Zugang bestimmter Bevölkerungsschichten zu den Materialien,
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(diffus) an die Raumgestaltungen christlicher Kirchen. In keinem der von mir besuchten Räume ist dagegen die postulierte Multireligiosität im Raum selbst sichtbar,27 denn selten ist die Quiblah, also das Zeichen das Richtung Mekka weist, gut sichtbar und meist fehlt der Platz für Gebetsteppiche oder buddhistische Niederwerfungen ebenso wie Symbole, Bilder und Kulturgegenstände nicht-christlicher Religionen. Abbildung 2: Kapelle im Olympiastadion Berlin, 2010
In Räumen der Stille, die sich religiös neutral verstehen, ist die Raumgestalt deutlich anders. Die Räume sind meist leerer, religiöse Symbole fehlen 28 und an Stelle des Altars rückt oft ein abstraktes Kunstwerk ins Zentrum.29 Denn (gerade) teils aber auch in der bloßen Konvention, das heißt der Mode oder auch der Ideologie.« (Böhme 1995b: 41) 27 | In der Bahnhof- und Sihlcity-Kirche in Zürich sind die Symbole der Weltreligionen an den Eingangstüren zu sehen. In den Räumen kommt Multireligiosität dagegen kaum zum Ausdruck. 28 | Erwartet man einen religiösen Raum, kann dies zu Irritationen führen: »Als ich hier hereinkam, war ich gleich enttäuscht: Wo ist hier die Mitte? Wo ist hier ein Kreuz? Wie schön wäre es gewesen, hier im Herzen der Stadt, Jesus im Tabernakel anzutreffen.« (Anliegenbuch Raum der Stille in Leipzig) 29 | Abstrakte Kunstwerke könnten fast als Signum der Räume der Stille gelten. Schon im ersten Raum der Stille im Hauptquartier der Vereinten Nationen bestimmt ein abstraktes Kunstwerk den Raum. Doch auch in klassischen Kirchen ist abstrakte Kunst zu finden: »Das Goldene Feld ist eine solches Einfallstor. Es macht Ernst mit der Unerforschlichkeit Gottes und der Andersheit von Transzendenz.« (Nentwich 2009: 16)
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abstrakter Kunst wird eine »Familienähnlichkeit« zur Religion zugeschrieben, denn sie könne die nicht darstellbare Transzendenz sicht- oder erahnbar machen ohne sie inhaltlich zu fixieren. Ist die sichtbare Raumgestalt der Kirchen respektive Kapellen und den Räume der Stille auch grundsätzlich verschieden, so sehr ähneln sie sich in der (zunächst) akustischen Dimension und deren Aufladung mit Bedeutung – der Stille. Sie macht die Differenz zwischen dem religiösen Raum und seiner Umgebung in besonderem Maße wahrnehmbar: »Draußen tobt der Bär, hier Raum der Stille.« (Interview Angst) Damit ist zum einen gemeint, dass in allen religiösen Räumen deutlich weniger Lärm zu hören ist als »draußen«. Vollständig geräuschlos ist es dagegen nie; irgendeine Klimaanlage oder eine Lampe surrt immer und meist dringen zahlreiche Außengeräusche in den Raum ein. Doch entscheidend scheint zu sein, dass diese Geräusche und Töne keine »Unruhe« auslösen. Es zeugt dabei von der synästhetischen Wahrnehmung von Atmosphären, dass Stille nicht nur in der Abwesenheit von akustischen, sondern zum anderen auch von visuellen Stimuli empfunden wird: »Die geformte Leere des Raumes verhält sich zur Bildlichkeit wie das Schweigen zum Wort (Romano Guardini) – und führt gleichzeitig zu seiner universellen Einsetzbarkeit.« (Kraft 2007: 33) Im Diskurs um den religiösen Raum wird dabei metaphorisch die »Freiheit von optischem Geschwätz« (Nentwich 2009: 16) beschworen und anthropologisch untermauert: »Der Mensch brauche solche Orte, welche die Möglichkeit eröffnen, aus dem akustischen und optischen Lärm hinaustreten zu können, hinein in einen Raum, in welchem Schweigen herrscht und wirkliches Hören möglich wird.« (Mennekes 2011: 238)30 Das Fehlen von Ablenkung erlaubt, so die theologische Deutung, das »Hören« auf Gott und auf sich. Anders ausgedrückt: Gerade in der Stille wird die Chance zu religiöser Kommunikation vermutet. Darüber hinaus wird angenommen, die Abwesenheit von akustischem und optischem »Lärm« versinnbildliche die Nicht-Repräsentierbarkeit der Transzendenz. Stille wird ein quasi-sakraler Charakter zugesprochen, der hinreichend offen ist und dennoch positiv besetzt werden kann: »Silence seems to be all that remains and unites in a plural and secular society.« (Holsappel-Brons 2010: 243) Die Reduktion von Stimuli erklärt möglicherweise auch, warum der Geruchsinn in diesen religiösen Räumen nicht bewusst adressiert wird. Während katholische Kirchengebäude aufgrund der Verwendung von Weihrauch oder von Kerzenruß durchsetzte Luft auch »mittels der Nase« religiös markiert werden scheint es unmöglich, einen neutralen oder universellen »Geruch des Religiösen« zu produzieren. Doch auch hier ist es gerade die Abwesenheit olfaktorischer Reize, welche die hier untersuchten Räume als in christlich-religiöser Tradition 30 | Nicht alle Räume sind von dieser hier angemahnten Zurückhaltung gegenüber Ausstattungsstücken geprägt. So finden sich beispielsweise in der Kapelle in der Commerzbank-Arena zahlreiche Fotografien, die Begebenheiten aus der Kapelle zeigen (Hochzeitsfotos, Taufen, Treffen mit Persönlichkeiten). Sie stehen der Qualifizierung des Raumes als religiös eher entgegen.
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stehend qualifiziert. Allenfalls Kerzen oder Blumen, die ihrerseits mit christlichen Kircheninnenräumen assoziiert werden können, verströmen einen schwachen Duft. In multireligiösen Räumen, in denen auch hinduistische Zeremonien abgehalten werden, ist das Thema des Geruchs dagegen immer wieder Anlass für Konflikte, denn der Geruch der verwendeten Räucherstäbchen ist gerade nicht vollständig flüchtig, sondern hinterlässt Spuren, die andere als belästigend empfinden. Umgekehrt fühlen sich Hindus, wie der Pfarrer der Bahnhofskirche Zürich betont, aus diesem Grunde in der Kirche im Bahnhof weniger wohl. Auch der andere Nahsinn, der Geschmack, wird – anders als beispielsweise in christlichen Abendmahlsgottesdiensten – in den neuen religiösen Räumen nicht aktiviert. Ist es generell eine kaum zu bewältigende Aufgabe, religiöse Neutralität oder Multireligiösität architektonisch und bildnerisch zu »gestalten«, so scheint dies derzeit unmöglich, wenn die Sinneseindrücke invasiver sind. Gerüche und Geschmackserlebnisse, mit denen der Verweis auf Außeralltägliches jenseits institutionalisierter religiöser Codes verbunden ist, scheinen derzeit kulturell nicht verfügbar. Gilt dies auch für die andere Weise des sinnlichen Erfahrens: der Bewegung? Markiert auch sie einen Raum als religiös? Nutzt eine Besucherin einen neuen religiösen Raum, tut sie dies vor allem, um »Inne zu halten« (Gebet, Stille, Meditation oder Shopping-Pause). Kollektive religiöse Praktiken wie Andachten sind dagegen selten.31 In all diesen Nutzungsweisen bedeutet Bewegung vor allem das Einnehmen einer Sitzposition.32 Dem Sitzen kommt eine wichtige Rolle für die Ausübung religiöser Praktiken sowie für die Wahrnehmung einer religiösen Atmosphäre zu, denn die Art und Weise des Sitzens kann das »In-BeziehungSetzen« zu dem »Anderen« entscheidend mitbestimmen. Wie und wo man sitzt richtet Blick und Körper aus – man sitzt etwas Gegenüber und wird so mit etwas konfrontiert, metaphorisch gesprochen: man setzt sich etwas aus und setzt sich mit etwas »in Verbindung«. So kann man sich in allen von mir untersuchten Räumen dem »Anderen« aussetzen – auch wenn dies auf verschiedene Weise vorstrukturiert ist. Die Kapelle im Berliner Olympiastadion ist mit Hockern ausgestattet, die in einem Halbkreis um den Altar gruppiert und fix im Boden verankert sind (Abb. 2). Auch in der Kapelle in der Commerzbank-Arena sind die metallenen Stühle zu schwer, um sie einfach zu bewegen. Hocker wurden auch im Raum der Stille im Hamburger Bahnhof aufgestellt, doch sie laden zu individueller Platzierung ein, und im Raum der Stille in der Einkaufspassage in Leipzig sind Meditationsschemel und -kissen dominant, die ein bodennahes Sitzen respektive Knien an jeder Stelle im Raum ermöglichen respektive erzwin31 | In den Fußballstadien werden jedoch häufig Kasualiengottesdienste (Taufe, Hochzeiten) abgehalten. Eine Gemeindebildung wird bewusst unterbunden, um nicht in Konkurrenz zu den herkömmlichen Kirchengemeinden zu treten. In der deutschsprachigen Schweiz firmieren die Räume dementsprechend als »ergänzende Angebote«. 32 | Bei meinen Besuchen in den verschiedenen Räumen habe ich nie jemanden gesehen, der/die über längere Zeit im Raum verweilt, ohne sich hinzusetzen oder hinzuknien.
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gen (Abb. 3). Jede dieser Sitzgelegenheiten legt bestimmte Körperhaltungen und Platzierungen im Raum nahe und macht andere unwahrscheinlich. Und wie die sinnlichen Eindrücke sind auch Haltungen und Platzierung mit (religiöser) Bedeutung aufgeladen. So erzwingt die fixe Anordnung der Hocker eine bestimmte Distanz zu Altar und Kreuz sowie zu den anwesenden anderen – und verweist so auf klassisches Kirchengestühl, das auf Altar (und Kanzel) ausrichtet und zugleich eine Distanz zwischen dem Bereich der Laien und dem, der für den Klerus bestimmt ist, einzieht. Die Möglichkeit, einen individuellen Platz im Raum zu finden, die in den Räumen der Stille angeboten wird, versinnbildlicht dagegen die subjektive Orientierungssuche. Darüber hinaus legt die Form der Sitzgelegenheit bestimmte Körperhaltungen nahe: Hat der Stuhl eine Lehne ist entspannteres Sitzen und buchstäblich ein Zurücklehnen möglich. Hocker und Meditationskissen unterbinden das, sie verlangen nach Aufrichtung und Körperspannung, während Meditationsschemel das Knien erzwingen. Diese Körperhaltungen sind dabei mehr als körperliche Lagezustände, denn auch sie sind mit Bedeutung versehen. Deutlich wird das insbesondere beim Knien – es verlangt eine körperliche Anspannung und Anstrengung und fungiert als traditionsreiche religiöse Anbetungs- und Demutsgeste.33 In den hier vorgestellten religiösen Räumen gewinnt die Körperhaltung des Sitzens noch eine zusätzliche Qualität, denn in Bahnhöfen oder Shopping Malls ist Sitzen und ruhiges Verweilen nicht vorgesehen oder unerwünscht. Die Möglichkeit, sich in den religiösen Räumen unentgeltlich und ohne Konsumzwang auszuruhen und zu entspannen, trägt so wesentlich zur Kontrasterfahrung zwischen Außen- und Innenraum bei. Abbildung 3: Raum der Stille in der Kontaktstelle der Katholischen Kirche Leipzig, 2010
33 | Dieser Geste wird darüber hinaus die Potenz zugeschrieben, ihrerseits religiöse Gefühle zu evozieren wie beispielsweise in den Exerzitien des Ignatius von Loyola.
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Welche leiblichen Resonanzen sich ergeben und welche Atmosphäre von den Einzelnen tatsächlich empfunden wird, ist unterschiedlich bis zur Polarisierung. So bemerkt Pfarrer Felmberg bei Führungen durch die Kapelle im Olympiastadion: »Viele Schülerinnen und Schüler reagieren entweder euphorisch zustimmend oder aber stark ablehnend. […] Besonders deutlich wird dies, wenn die Jugendlichen nach den ersten Gefühlen oder Eindrücken gefragt werden. ›Warm‹, ›geborgen‹, ›leicht‹ – so fühlen sich manche. Andere dagegen empfinden das Ambiente als ›protzig‹, kommen sich ›eingesperrt‹ und ›beengt‹ vor.« (Felmberg/Röhm)
Auch wenn also die Architektinnen und Pfarrer die Räume durch ästhetische und rituelle Praktiken die Räume religiös qualifizieren und versuchen, eine Atmosphäre zu evozieren, die ergreift und Transzendenz spürbar werden lässt, ist dies nicht garantiert. Selbst eine institutionalisierte architektonische und symbolische Anordnung wie in den hier untersuchten Kirchen und Kapellen kann das Empfindungen einer als religiös gedeuteten Atmosphäre lediglich wahrscheinlich machen.
6. N eue religiöse R äume als M edien für S tabilität und W andel des R eligiösen Alle Prozesse der Sakralisierung verweisen auf Außeralltägliches und inszenieren eine sinnliche Kontrasterfahrung. Die Räume beglaubigen mithin sinnlich: Es gibt etwas anderes als events und Konsum. Dieses »ergreifende« Andere kann als Transzendenzerfahrung gedeutet werden – muss es aber nicht. Angesichts dieser Befunde ist es erstaunlich, dass das wissenschaftliche, journalistische und (architektur-)touristische Interesse an den Räumen größer ist als ihre Nutzung für Stille, Gebet oder Meditation.34 Doch offenbar gelingt es, wie die Auswertung der Interviews ergeben hat, nur schwer, Menschen nicht-christlicher Religionen und ohne religiöse Bindungen anzusprechen, im Gegenteil: Die Räume sprechen vor allem Kirchenengagierte und Menschen mit religiöser Sozialisation an: Die Betreuung eines Raumes scheint eine interessante ehrenamtliche Tätigkeit für Kirchennahe und die meisten Besuchenden sind Einzelpersonen oder kirchliche Gruppen, die sich für die neuen kirchlichen Angebote interessieren.35 Eine zusätzliche Nutzungsweise ist didaktischer Natur: Da die neuen religiösen Räume 34 | Eine auffällige Ausnahme stellt hier die Bahnhofskirche in Zürich dar, hier herrscht reger Publikumsverkehr. 35 | Aus den Gemeinden des Züricher Umlandes werden beispielsweise Besichtigungstouren respektive »Pilgerfahrten« zu den neuen religiösen Räumen in Zürich organisiert (Interview Schlauri).
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auf Transzendenz verweisen und Glaubensinhalte versinnbildlichen werden hier (insbesondere in den Kapellen in Fußballstadien) Schul- oder Konfirmationsklassen in die christliche Theologie und ihre Symbolik eingeführt. Auch wenn die Nutzung somit etwas anders als intendiert ausfällt, zeigen sich die Verantwortlichen sehr zufrieden mit der Wirkung der Räume, denn sie erweisen sich als gute »public relation« (Interview Schlauri). Das mag sich auch dadurch erklären, dass sie eine Balance zwischen Innovation und Tradition herstellen: Mit ihrer »eingehausten« Lage in hoch-kommerzialisierten Kontexten und ihrer Offenheit für Anders- und Nicht-Gläubige entfernen sie sich von der Tradition und antworten auf die Veränderungen der Gesellschaft und des Religiösen. Ihr Anliegen: »dorthin zu gehen, wo die Menschen sind«, wie es in den Interviews auffallend oft heißt, verbindet sie dagegen mit der christlichen Tradition der Mission, die sie jedoch innovativ umsetzen: Mit einem attraktiven Raum, der selbst als »missionarische Gelegenheit« (Pfarrer Felmberg) gilt und (mit Ausnahme von Fußballstadien) offen für Viele sein will, sowie einem seelsorgerischen Angebot, dessen »Betreuungsschlüssel« und »Niederschwelligkeit« attraktiver ist als in Gemeindepfarreien. Auch die Gestaltung, die sich vor allem für christliche Praktiken als angemessen erweist, knüpft eher an Traditionen an als dass sie sie grundsätzlich hinter sich lassen würde. Auch für die hier untersuchten Räume gilt: »in rooms of silence, tradition and transition are interwoven« (HolsappelBrons 2010: 252). In den Interviews hat sich ein weiterer interessanter Befund ergeben: Die Räume und ihr Personal werden auch von Seiten des kommerziellen Kontextes als gewinnbringend wahrgenommen. Sie vervollständigen das ausdifferenzierte Angebot einer Shopping-Mall oder eines Bahnhofs und somit auch deren Anspruch, »Stadt in der Stadt« zu sein.36 Darüber hinaus erfüllen sie eine wichtige Befriedungsfunktion für den Kontext: Sie unterstützen Hilfsbedürftige und halten sie so von Orten am Bahnhof fern, an denen sie nicht gerne gesehen sind (Räume der Stille im Bahnhof Bremen und Berlin), sie vermitteln zwischen Polizei und als störend empfundenen Personen (Bahnhofskirche Zürich) oder sie kümmern sich um Belange der Shoppingmall-MitarbeiterInnen (Sihlcity-Kirche, Kirchenzentrum CentrO). Und nicht zuletzt fungieren sie auch für die kommerzialisierten Kontexte als public relation.
36 | Wie ich an anderer Stelle ausführlicher argumentiert habe (Duttweiler 2012), wird dies offenbar auch von einigen Besuchenden geteilt. So berichtet Pfarrer Vetsch von der Kirche im Einkaufszentrum Sihlcity in Zürich: »Kurz nach der Eröffnung, da haben wir das Team noch gar nicht aufgebaut, da steht eine Frau in den Türrahmen und sagt: ›Jetzt isches es richtigs Dorf! Schon spannend. Die Kirche im Dorf. Odr? Jetzt isches es richtigs Dorf. S’isch auch e Chille da‹ [Jetzt ist es ein richtiges Dorf. Es ist auch eine Kirche da.« (Interview Vetsch) Braucht es, so könnte man diese These zuspitzen, die Kirche, um aus der kommerzorientierten Shopping Mall ein »echtes« Dorf zu machen?
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Die neuen religiösen Räume in nicht-religiösen Kontexten erweisen sich somit als ambivalente Phänomene: Durch die Differenzsetzung von sakral versus profan können die religiöse Räume den profanen Charakter der konsumreligiösen Gebäudekomplexe entlarven, denn sie verweisen auf Funktionen, die in einer Mall nicht adressiert werden (Nynäs 2012). Doch zugleich kann die Präsenz eines religiösen Raumes in einem nicht-religiösen Kontext dazu beitragen, den räumlichen Kontext zu sakralisieren. Dies scheint insbesondere in den untersuchten Fußballstadien der Fall zu sein: So wird beispielsweise die Kapelle in Berlin als »Schmuckkästchen« (Interview Felmberg) des Olympiastadions gesehen und für die Veltins-Arena konstatiert Pfarrer Filthaus: »Es ist ein gewisser Stolz da, dass man das hat. Wir sind die ersten in Deutschland. Wenn die das in den Führungen sagen: wir haben sogar eine Kapelle, wir haben sogar das! […] Es ist ja auch eine gewisse Veredelung, wenn jetzt sogar Kirche hier ist. Schon im Unterbewusstsein, das ist eine andere Dimension, was Heiliges.«
Die neuen religiösen Räume erweisen sich so als Ausdruck und Motor eines Wandels des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft: Sie sind zentral platziert ohne einfach zugänglich zu sein; die Differenz zwischen sakral und profan wird inszeniert ohne dass das Sakrale religiös gedeutet werden müsste; die Räume werden interessiert rezipiert ohne dass sie intensiv genutzt würden; den nicht-christlichen und alternativen Religionen wird Platz eingeräumt ohne dass die christliche Religion ihre Dominanz verlieren würde. Doch all dies ist gerade nicht als »Wiederkehr des Religiösen« zu deuten, denn die Kirchen und ihre Räume versinnbildlichen mehr als Kommunikation von Transzendenz: Sie stehen auch für Tradition und kulturelles Erbe, Werteorientierung und soziale Integration – und sorgen so nicht zuletzt dafür, dass symbolisch und räumlich »die Kirche im Dorfe bleibt« auch wenn die Bezugsgröße die neoliberal umstrukturierte »Stadt in der Stadt« darstellt (Duttweiler 2012).
U ntersuchte R äume Bahnhofkirche, Hauptbahnhof Zürich, seit 2001, ökumenisch. Raum der Stille, Hauptbahnhof Hamburg, seit 2002, ev. Bahnhofsmission Hamburg. Kirchenzentrum im Einkaufszentrum CentrO Oberhausen, seit 1997, ökumenisch. Sihlcitykirche, Einkaufszentrum Sihlcity Zürich, seit 2007, ökumenisch. Raum der Stille, Sternpassage Leipzig, seit 2001, Jesuiten, kath. Bistum DresdenMeißen. Jugendkirche jenseits, Viaduktbögen Zürich, seit 2010, kath. Kirche Zürich. Kapelle im Olympiastadion, Berlin, seit 2006, ökumenisch.
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Kapelle in der Commerzbank-Arena, Frankfurt a.M., seit 2007, ökumenisch. Kapelle in der VELTINS-Arena, Gelsenkirchen, seit 2001, ökumenisch.
Z itierte I ntervie ws Interview Angst: Interview mit Pfarrer Roman Angst, reformierter Seelsorger, Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich, 13.7.2010. Interview Felmberg: Interview mit Pfarrer Bernhard Felmberg, Initiand und ehrenamtlich tätiger evangelischer Pastor, Olympiastadion Berlin, 8.8.2010. Interview Filthaus: Interview mit Pfarrer Interview mit Pastor Norbert Filthaus, evangelischer Pastor, VELTINS-Arena, Gelsenkirchen, 12.10.2010. Interview Schlauri: Interview mit Beat Schlauri, ehrenamtlich tätiger katholischer Seelsorger, Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich, 11.5.2011. Interview Vetsch: Interview mit Jakob Vetsch, reformierter Seelsorger, Sihlcitykirche im Einkaufszentrum Sihlcity Zürich, 28.4.2011.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: CentrO Oberhausen, 2010 © Stefanie Duttweiler Abbildung 2: Kapelle im Olympiastadion Berlin, 2010 © Stefanie Duttweiler Abbildung 3: Raum der Stille in der Kontaktstelle der Katholischen Kirche Leipzig, 2010 © Stefanie Duttweiler
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Die Aussicht Zur Herstellung ästhetischer Wahrnehmungsordnungen von Architektur Hanna Katharina Göbel
1. A rchitek tur vs . R uine ? Architektur ist im Zuge des material und practice turn in den Sozialwissenschaften in theoretischer wie empirischer Hinsicht zu einem performativen Forschungsgegenstand geworden.1 Nicht mehr die semiotisch entzifferbare Struktur und die visuelle Repräsentation und Bildhaftigkeit interessieren, sondern die praktisch hergestellten, sozio-materiellen Existenzweisen von Architektur. Solch ein Ansatz widerspricht einer statischen Vorstellung von Architektur, wie sie viele kunstwissenschaftliche Ansätze vertreten.2 Es geht um die gebaute Materialität im alltäg1 | Diese performative Wende wurde sowohl in den szenischen Künsten, die sich mit Bewegung und Architektur auseinandersetzen, als auch in der Architektur bereits vollzogen. Architekten wie etwa Rem Kohlhaas oder bekannte Choreographen wie Sasha Waltz arbeiten an der Schnittstelle von Architektur/Raum und Performativität. Es überwiegen in den theoretischen Auseinandersetzungen vielerorts eher kultur- als sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteressen (vgl. dazu auch Forensic Architecture 2014). 2 | Die Besonderheit der kunstwissenschaftlichen Disziplinen liegt darin, dass sie die Materialität der Architektur fast ausschließlich über das Bild in Form von Zeichnungen, Modellen, 3D-Animationen, Filmen und Fotografien erfassen und analysieren (Colomina 1996) – »when [they] picture a building, it is always a fixed, solid structure« (Latour/Yaneva 2008). Sowohl die Kunstgeschichte als auch die Architekturtheorie (die Architekturphänomenologie einmal ausgenommen) nehmen auch nach der bildwissenschaftlichen Wende und den digitalen Innovationen der Bildbearbeitung in ihren Theorien und methodischen Instrumentarien immer wieder eine statische Perspektive auf die Materialität der Architektur ein. Damit reproduzieren sie sehr häufig eine Bildhaftigkeit, die auf den repräsentationalen wie zeichenbezogenen Charakter setzt und den Gebrauch von Architektur außer Acht lässt.
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lichen Gebrauch durch ihre NutzerInnen; um die sich bewegenden und bewegten Körper in und durch die Architektur. Für diese theoretische wie methodologische Neuerung ist die Frage zentral, wie ein Gebäude mittels dieser räumlichen Interaktionsbeziehungen von Körpern und nicht-körperlichen Materialitäten zusammen gehalten, auseinander gezogen und im flow erlebt wird und wie sich dadurch soziale Muster und Ordnungen der Interaktion, der Handlungsmacht und der Klassifizierungen von Materialitäten, Körpern sowie deren Subjektivierung ausbilden.3 Architektur – wird in solch einer Perspektive zu einem prekären Gegenstand des sozialen Wandels. Sie wird durch »objectual practices« (Knorr Cetina 2001) auf dem Boden verankert, de- und refixiert, im Falle eines Rückbaus abgerissen oder zerstört und während des Verfalls zu Ruinen sukzessive »de-architekturiert« (Böhme 1989). Ihr standhafter Charakter ist also von widersprüchlicher Natur, da er nicht gegeben ist, sondern immer wieder neu hergestellt wird. Entgegen ihrer scheinbar starren Erscheinung wird sie – wie hier zu zeigen ist – nur im alltäglichen Gebrauch erlebbar und somit auch praxistheoretisch relevant. In Bezug auf ihre Bodenfixierung unterscheidet sich die Architektur hierin zudem strukturell von vielen mobilen Dingen der materiellen Kultur.4 Dieser Beitrag setzt sich mit eben diesen Praktiken der Herstellung von Interaktions- und Wahrnehmungsordnungen auseinander. Das Interesse richtet sich dabei vor allem auf solche Praktiken, die mit einer ästhetischen Erfahrung der Architekturgestalt verknüpft sind. Die ästhetische Erfahrung wird hier nicht als eine ideologische doxa verstanden, die exklusiv dem Kunstfeld zuzurechnen ist, sondern ist auf die Alltagspraxis mit Architektur bezogen. In theoretischer Hinsicht wird hierbei im Anschluss an die praxeologischen Forschungen zur Architektur auf Basis der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) eine Verknüpfung mit der ästhetischen Theorie des Pragmatismus nach John Dewey vorgenommen. Der exemplarische Fall für solch eine Analyse ist der zyklische Gestaltwandel einer Architektur, die zu einer urbanen Ruine verfällt und für einen kurzen Zeitraum wieder zum Leben erweckt wird bevor sie schließlich gänzlich abgerissen wird – die Rede ist von dem Palast der Republik in Berlin, dem einstigen Kulturpalast und dem Sitz der Volkskammer in der ehemaligen DDR, der im Nachwende-Berlin Gegenstand einer politischen Kontroverse wurde. Ruinen sind entweder künstlich errichtete oder mit der Zeit entwertete brachliegende Gebäude, die als Gegenspieler zur Architektur agieren. Sie gelten als »dis-ordered messy sites« unterschieden von Architektur, die als »smooth, highly regulated spac[e] of the city« (Edensor 2005) erscheint. Während Architektur nur spezifische Aufforderungsangebote in der Gegenwart offeriert und ihr Gebrauch 3 | Siehe zu der philosophischen Diskussion um den sozialen (Neo-)Vitalismus von Materialitäten den Beitrag von Kwek und Seyfert in diesem Band. 4 | Siehe zu einem Überblick der mobilen Dinge etwa den Beitrag von Hahn in diesem Band.
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kontrolliert wird, sind Ruinen immer durch »multiple affordances« (ebd.: 124) und unterschiedliche Anknüpfungsmöglichkeiten an ihre Vergangenheit als Architektur gekennzeichnet – das »heißt vor allem, daß der funktionale oder repräsentative Sinn intakter Bauwerke aus diesen ausgezogen ist« (Böhme 1989: 287). Diese Mehrdeutigkeit in der Aufforderung zum Gebrauch wurde neben dem melancholischen wie nostalgischen kulturellen Angebot, mit und in ihnen sprichwörtlich in die Vergangenheit zu reisen, in der kulturwissenschaftlichen Forschung zu Ruinen der Moderne vielfach als spezifisch ästhetische Dimension und Wahrnehmungskonvention dieser Materialitäten thematisiert (Assmann u.a. 2002; Hell/Schönle 2010).5 Nichtsdestotrotz gelten urbane Ruinen immer auch als »indispensable eyesores« (van der Hoorn 2009), die politische Kontroversen entfachen können – wie etwa der einstige Palast der Republik. Einer der Gründe für die Unerwünschtheit von Ruinen liegt darin, dass sie durch erneuten Gebrauch die Zyklen von Architektur mit ästhetischen Mitteln hinterfragen und befremden können. Ruinen sind aus der Zeit gefallene Architekturen und haben sich demnach der sozialen Werthaftigkeit entzogen. Ihre Materialität ist aber dennoch sozial aktiv: »Ruins violate disciplinary aesthetic schemes in which objects are carefully situated […] this material excess, in which things and matter have moved away from their assigned locations, is initially disturbing to habituated aesthetic sensibilities. In the ruin we confront an alternative aesthetics, one which rebukes the seamlessness of much urban design.« (Edensor 2009)
Für Architekten und Planer, aber auch im Alltagsverständnis ist es »a perverse view« (Cairns/Jacobs 2014), den Gebrauch und die Werthaftigkeit von Ruinen anzuerkennen. Das historische a priori moderner Architektur (Delitz 2010) suggeriert auch in Zeiten von temporären Architekturen und Zwischennutzungsphasen nach wie vor, den Zyklus von Architektur in Neubau und Abriss zu denken. Die kulturelle Verwertungsmöglichkeit von Ruinen durch den erneuten Gebrauch soll deshalb als Ausgangspunkt genommen werden, um mittels einer praxeologischen Perspektive auf die grundsätzlich prekären Existenzweisen von 5 | Bereits Georg Simmel und Walter Benjamin dienten Ruinen als Gegenstand der Reflexion über die ästhetischen Dimensionen des modernen Lebens. Nach Simmel etwa zeichnet sich die Ruine durch ihre vitale Vergangenheitsstruktur aus: »Die Ruine schafft die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als solcher« (Simmel 1998). Walter Benjamin interpretiert die »Passage« als »Hohlform, aus der das Bild der ›Moderne‹ gegossen wurde. Hier spiegelte mit Süffisanz das Jahrhundert seine allerneueste Vergangenheit«, sie sind für ihn »Architekturen in denen wir traumhaft das Leben unserer Eltern, Großeltern nochmals leben wie der Embryo in der Mutter das Leben der Tiere. Das Dasein in diesen Räumen verfließt denn auch akzentlos wie das Geschehen in Träumen« (Benjamin 1983).
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Architektur aufmerksam zu machen und den genuinen Zusammenhang zwischen sozialen Interaktionsordnungen auf der einen und den wechselnden Gestalthaftigkeiten von Architektur auf der anderen Seite herauszuarbeiten. Daran anschließend soll anhand des kontroversen Falles des Palastes der Republik gezeigt werden, worin das ästhetische Moment im Sinne einer Befremdung von etablierten Wahrnehmungsordnungen und -konventionen sowie Gebrauchslogiken von Architektur liegen könnte. Die empirische Grundlage für die Argumentation bilden visuelle künstlerische und nicht-künstlerische Daten aus der Zwischennutzungsphase des ehemaligen Palasts der Republik in Berlin (2003-2006), die im Rahmen meiner Forschungen zu urbanen Ruinen erhoben und analysiert wurden (Göbel 2015). Diese umfassen sowohl künstlerische Filme, Installationen und Fotografien als auch von HobbyFotografInnen, TouristInnen, KünstlerInnen und JournalistInnen online geteilte Fotografien auf der social media Plattform Flickr, die unter dem tag6 »Palast der Republik« oder »Palastruine« zwischen den Jahren 2003-2006 eingestellt wurden. Dabei geht es nicht um die persönlich-individuellen Erinnerungen einzelner BesucherInnen oder ZeitzeugInnen, sondern das zirkulierende visuelle Datenmaterial, in der sich – so die These – eine spezielle ästhetische Ordnung der kollektiv geteilten Wahrnehmung und Erinnerung zeigt. Die zentrale Frage ist, wie diese hergestellt und reproduziert wird und wie dabei der modernistische Topos der ästhetischen Ruine aufgenommen und weitergetragen wird. In methodologischer Perspektive schließt der Umgang mit den Daten an die aktuellen Debatten um eine visuelle Soziologie an, versteht jedoch das Visuelle nicht als den dominanten Sinn westlicher Kulturen7, sondern als einen konstitutiven Teil von Praxis (Prinz 2014) und den praktisch hergestellten Fertigkeiten (Schindler/Liegl 2013) des Wahrnehmens überhaupt. Eine Binnenperspektive der Praxis des Wahrnehmens wird hierdurch visuell erfassbar, muss sich aber nicht zwangsläufig auf das »Visuelle« beschränken. Bilder sind selbst sozial; sie agieren als Gegenstände des Gebrauchs8 und bilden Architektur nicht einfach ab. Im Fall der untersuchten Fotografien geht es darum, die Interaktionsbeziehungen zwischen Architektur und ihren NutzerInnen als eine »co-constitution of visu6 | Das tagging markiert Personen, Gesichter, Sehenswürdigkeiten, Orte etc. in Bildern und weist diese Markierungen einem Begriff zu. Tags sind wie keywords zu verstehen, mittels derer einerseits die Wiederauffindbarkeit von Dokumenten (text- oder bildbasiert) in Archiven wie etwa Flickr gewährleistet ist, andererseits können sich NutzerInnen hierauf in ihren Kommentaren und Chats direkt beziehen. 7 | Auch wenn die Visual Culture Studies sich immer auf eine synästhetische Position des Visuellen berufen haben, hält sich in diesem Diskussionskontext – gerade in Bezug auf den Gegenstand der Architektur – immer noch eine bildhafte Vorstellung des Visuellen, welche den Sehsinn als den dominanten Sinn westlicher Kulturen ausweist (Jay 1993). 8 | Siehe zu diesem praxistheoretischen Gebrauchsverständnis von Bildern auch den Beitrag von Burri in diesem Band.
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ality and materiality« (Rose/Tolia-Kelly 2012) zu verstehen. Ferner soll auf diese Weise deutlich werden, dass die synästhetische Dimension des Wahrnehmens gerade für den Forschungsgegenstand der Architektur ausschlaggebend ist und dass folglich der Wahrnehmungsbegriff auch in methodologischer Hinsicht einer Erweiterung bedarf, wie sie etwa von den anthropologisch ausgerichteten Sense Studies vorgeschlagen wird (Howes 2003, 2005).
2. G estalt im W andel : A rchitek tur als pr a xeologischer F orschungsgegenstand Die praxeologische Forschung der vergangenen Dekade zu diesem Gegenstand, insbesondere aus dem Umfeld der ANT, betont die ko-konstitutive Emergenz von Architekturen und Körpern – und damit deren wechselseitige und gemeinsame Gestaltwerdung.9 Dieser Vorschlag ist weder einer morphologischen noch einer historiographischen Tradition entnommen, sondern orientiert sich an einer interaktionsbasierten Perspektive, in der »architecture in practice« (Jacobs/Merriman 2011) eingebettet ist. Ihre soziale Effektivität lässt sich also nicht über vorgegebene Strukturen, Annahmen oder Bilder erörtern, sondern zeigt sich performativ in der Interaktion von Architektur und Körpern, das heißt im körperlich vollzogenen knowing-how, in den sozio-materiellen Routinen und Alltäglichkeiten, denn »buildings are pragmatically knowable« (Yaneva 2009). Die sozialwissenschaftliche Architekturforschung, die vor allem phänomenologisch geprägt ist, wird mittels der ANT um eine praxeologische Perspektive bereichert, die nicht nur auf das Subjekt fokussiert sondern eben auch die materiellen Akteure als soziale Partizipanden berücksichtigt und somit einen Analysebereich von Praxis zwischen Körpern und Architektur erschließt. Architektur stabilisiert sich somit durch Praktiken und ist zugleich ein wesentliches Strukturelement von Praxis; somit ist »the stable architectural object (architecture-as-noun) […] the effect of various doings (architecture-as-verb)« (Jacobs/Merriman 2011: 212). In den Praktiken der Gestaltwerdung von Architektur konstitutieren sich folglich sowohl die Stile, Typologien und Klassifizierungen des Gebauten als auch umgekehrt die Körperlichkeiten der NutzerInnen, deren Formen der Subjektivierung oder – wie hier thematisiert wird – der Interaktionsordnungen.
9 | Richard Sennett hat dieses Wechselverhältnis von Architektur und Körperlichkeit bereits vor dem practice turn in seinem Buch »Flesh and Stone« (2001) formuliert und damit die wahrnehmungsbezogene Ausgestaltung dieser Beziehung in der Geschichte der Stadt systematisch in den Blick genommen.
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Die Existenzweisen von Architektur folgen wechselnden praktisch hergestellten Ordnungen der Interaktion.10 Dadurch stabilisieren sich etwa räumliche Innen- und Außengrenzen sowie materielle Ein- und Ausrahmungen von Interaktionen (in Anlehnung an den Goffman’schen Interaktionsbegriff) immer wieder neu (Goffman 2009).11 Auch Hierarchisierungen werden in die Materialität eingezogen und spezifische Affekte werden dadurch gelenkt. Solch ein flaches und verflüssigendes Konzept löst sich von der Vorstellung, dass die Materialität eine statisch gegebene Ganzheit ist, und versteht Architektur stattdessen als ein »moving project« (Latour/Yaneva 2008) im Gebrauch, das dazu in der Lage ist, immer wieder neue »Gestalt-switches« (Guggenheim 2009) zu organisieren und somit auch bestehende Interaktionsordnungen zu befremden und neu/anders herzustellen. Im Sinne, dieser dynamisierten Perspektive gilt es zu analysieren, wie Gebäude ein »flip-flop[ing] [of] their modes of existence« (Yaneva 2008) betreiben. Der kulturelle Charakter von Architektur wird hierüber ebenfalls sichtbar; sie ist als ein lokaler Punkt der Verwurzelung oder Fixierung zu verstehen und damit unterschieden von vielen anderen Materialitäten des Alltags, die einen zirkulären und mobilen Charakter aufweisen. Architektur ist – selbst in der seriellen Herstellung – ein singulär errichtetes Objekt; ein »mutuable immobile« (Guggenheim 2009).12 Durch diese Bodenhaftung und Standhaftigkeit trägt die Architektur einen wesentlichen Teil zur Ausbildung des kollektiven Gedächtnisses (im Halbwachs’schen Sinn) bei, da sich geteilte Bedeutungen und Affekte sowie klassifizierte Ästhetiken und Stile in ihrer Materialität manifestieren (Halbwachs 1967). Das kulturelle »Gedächtnis des Ortes« (Nora 1990) und die Biographie dieser Materialitäten spielt deshalb eine entscheidende Rolle in Bezug auf den sozialen Wandel von Architektur.
10 | Solch ein interaktionsbasiertes Verständnis haben bereits einige Klassiker der Soziologie wie insbesondere Georg Simmel, Marcel Mauss, Maurice Halbwachs oder Erving Goffman angedacht (Delitz 2010), es wurde jedoch erst von der praxeologischen Forschung der vergangenen Dekade sowohl theoretisch als auch methodologisch systematisch ausgearbeitet. 11 | Erving Goffman hat sich zwar nie explizit mit der materiellen Kultur oder der Architektur beschäftigt, jedoch interessieren ihn die materiellen Rahmungen von Interaktionen, »in unserer von Wänden durchzogenen westlichen Gesellschaft« (ebd.: 33). 12 | In Abgrenzung zu dem von Bruno Latour geprägten Begriff der »immutuable mobiles«, den unveränderbaren zirkulierenden materiellen Akteuren, wie beispielsweise Schlüssel, definiert Michael Guggenheim Architektur als »mutuable immobiles«, veränderbare immobile Materialitäten.
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3. D ie H erstellung des A tmosphärischen Die Ästhetik und die Wahrnehmung der Architektur sind daran anschließend ebenfalls im alltäglichen Gebrauch, in der Interaktion, zu analysieren. Diese Auffassung vom Ästhetischen unterscheidet sich nicht nur von Adornos postmarxistischer Ästhetiktheorie, die die ästhetische Erfahrung auf die Kunst begrenzt. Sie widersetzt sich auch einem soziologistischen Verständnis von ästhetischen Wahrnehmungskonventionen und klassenspezifischen Geschmack, wie sie etwa von Pierre Bourdieu oder Howard S. Becker analysiert worden sind (Hennion/Grenier 2000).13 Der hier verfolgte Ansatz nimmt vielmehr eine emergente Perspektive ein, die eher dem pragmatistischen Verständnis von Wahrnehmung und der praktischen Ästhetik nach John Dewey (1980) entspricht.14 Für Dewey ist die ästhetische Erfahrung keine isolierte, dem Alltag enthobene Warhnehmungsweise, die sich ausschließlich im künstlerischen Handeln oder der kontemplativen Rezeption künstlerischer Produktion, zeigt.15 Sie ist vielmehr im alltagspraktischen performativen Tun, also etwa im Gebrauch der Architektur, zu finden: »Um Ästhetik in ihren ausgeprägtesten und anerkanntesten Formen zu verstehen, muß man bei ihren Grundelementen ansetzen; bei den Ereignissen und Szenen, die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen: Anblicke von denen die Menge gebannt ist: die vorüberfahrende Feuerwehr; Maschienen, die riesige Löcher ins Erdreich graben; der Mensch, der einen Turm emporklimmt und von weiten wie eine Fliege aussieht, Männer, die auf Eisenträgern hoch in den Lüften rotglühende Bolzen werfen und auffangen.« (Dewey 1980: 11) »Es ist kein linguistischer Zufall, daß ›Bau‹, ›Konstruktion‹ und ›Arbeit‹ sowohl einen Prozeß als auch dessen fertiges Ergebnis bezeichnen. Ohne die Bedeutung des Verbs bleibt die des Substantivs leer.« (Ebd.: 65) 13 | Für eine ausführlichere Diskussion dieser kunstsoziologischen Positionen siehe den Beitrag von Liegl in diesem Band. 14 | Hier wird insbesondere die soziale Ästhetik der Architektur betont. Ähnlich wie Georg Simmel, der ebenfalls einen recht weiten Ästhetikbegriff vertrat, hat auch Gabriel Tarde als einer der ersten Sozialtheoretiker auf die soziale Variabilität von architektonischen Wahrnehmungsbedürfnissen und den praktisch hergestellten ästhetischen »Gewohnheiten des Auges« (Tarde 2009) hingewiesen. 15 | Während sowohl für die Architekturtheorie als auch für das professionelle Feld der Architekten die Unterscheidung zwischen Kunst und Ästhetischem einerseits sowie (ingenieurswissenschaftlicher) Technik andererseits relevant ist, so geht es in dieser Perspektive darum, die jeweiligen Verflechtungen von künstlerischem Handeln der ArchitektIn, ästhetischen Dimensionen und technologischem Fortschritt ingenieurswissenschaftlicher Kompetenz im Blick zu haben. »Die Signatur der Architektur im 20. Jahrhundert ist die Verschmelzung von Kunst und Technik, von ›Ästhetik und Sozialtechnik‹.« (Delitz 2010: 39)
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Der Alltag (des Gebauten) ist nach Dewey durch vielerlei Erfahrungen mit Materialitäten strukturiert; die ästhetische Erfahrung (die »eine Erfahrung«) kann sich potentiell aus jeder Erfahrung entwickeln. Sie zeichnet sich durch die spezifische Komposition von Materialitäten aus.16 Die Form der ästhetischen Erfahrung »[…] richtet das Augenmerk auf die Art, wie die Dinge aufeinander einwirken, auf ihren Zusammenprall oder ihre Vereinigung, auf die Art, wie sie sich gegenseitig befriedigen und frustrieren, fördern und behindern, anregen und aufhalten.« (Ebd.: 156)
Intellektuelles wie sinnliches Erfahren werden hier miteinander verschränkt. Die »Formen der Interaktion« zwischen den Dingen und dem Wahrnehmenden organisieren Rhythmen des Wahrnehmens. Diese flachen Verkettungen » […] tragen ästhetischen Charakter, sobald ihre verschiedenen Teile eine geschlossene Einheit bilden. Denn ihre verschiedenen Teile sind dann miteinander verbunden und reihen sich nicht einfach aneinander. Auch durch die Erfahrung ihres Verbundenseins bewegen sich die Teile einem Höhepunkt, einem Endziel zu und nicht bloß in Richtung auf ein zeitliches Ende.« (Ebd.: 69)
Ästhetische Erfahrung ist hier als eine Tätigkeit im Vollzug gedacht; sie ist in sich »geschlossen« und entfaltet sich als »Ganzes«, als eine »Einheit«. Dadurch unterscheidet sie sich von anderen Erfahrungen des Alltags. Auch die Architekturtheorie beispielsweise nach Gernot Böhme und Mark Wigley hat die Ästhetik des Gebrauchs und deren Variabilität zum strukturellen Merkmal ihres Gegenstands erklärt.17 Demnach organisiert die spezifische Atmosphäre einer Architektur de16 | Dewey, dessen ästhetische Theorie (erstmals 1934 veröffentlicht) an die Gestalttheorie der 1920er und 1930er Jahre anschließt, interessiert sich dabei für die unterschiedlichen Wahrnehmungsangebote von Materialitäten. Ganz ähnlich hebt auch die Gestaltpsychologie nach James Gibson (1986) den Aufforderungscharakter von Materialitäten hervor. Dies ist für ihn die soziale Handlungsmacht, welche Materialitäten im Akt des Wahrnehmens entwickeln: »The composition and layout of surfaces constitutes what they afford. If so, to perceive them is to perceive what they afford. This is a radical hypothesis for it implies that the ›values‹ and ›meanings‹ of things in the environment can be directly perceived.« (Gibson 1986: 127) Der kompositorische Charakter der Wahrnehmung ist hier in einer »niche« (ebd.: 128) zwischen Wahrnehmendem und Materialität angesiedelt. In der Nische organisiert sich die Praxis der Wahrnehmung, ihrer Ordnung und ihrer Konventionen, genauso wie die ästhetische Erfahrung als ein spezifischer Modus des Wahrnehmens. 17 | Auch wenn die Architekturtheorie, insbesondere nach Böhme, in Bezug auf das Atmosphärische selbst immer wieder für ihren elitären Ästhetikbegriff, der vor allem die Auratisierung von Architektur und das lustschöne Erlebnis stark macht, kritisiert wurde (Seel 2000), schlage ich hier eine Lesart vor, die ähnlich wie die Architekturtheoretiker Böhme und Wigley das Atmosphärische aus dem Gebrauch der Architektur denkt.
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ren soziale Stabilität: »To construct a building is to construct such an atmosphere. […] what is experienced is the atmosphere, not the object as such.« (Wigley 1998)18 Sowohl der Architekturkritiker Mark Wigley als auch der Philosoph Gernot Böhme vertreten einen phänomenologischen Ansatz, um die Gestaltung des Atmosphärischen genauer zu untersuchen. In ihrer Perspektive stellt sich die Gestalt der Architektur nur über die synästhetische Erfahrung des Atmosphärischen her; der architektonische Raum wird nicht nur gesehen, sondern auch gespürt, Architektur kann gehört und gerochen werden. Das Atmosphärische sitzt dabei zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen, bildet sich also wie bei Dewey in den Beziehungen zwischen wahrnehmendem Körper und Materialität aus: »Dabei wird Atmosphäre aber nur dann zum Begriff, wenn es einem gelingt, sich über den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben. […] Dieses Und, dieses zwischen beidem, dasjenige, wodurch Umgebungsqualitäten und Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären.« (Böhme 1995: 22-23)
Böhme und Wigley differenzieren dabei nicht zwischen der Wahrnehmung im Allgemeinen und dem ästhetischem Wahrnehmen im Besonderen. Mit Dewey ließe sich diese Differenzierung praxeologisch vollziehen, da für ihn das Ästhetische in der Praxis und als eine in sich geschlossene Tätigkeit entsteht. Hier soll mit anderen Worten die Black Box des Atmosphärischen analytisch geöffnet werden, um sowohl die sich verändernden Relationen zwischen Architektur und wahrnehmenden, sich bewegenden Körpern in den Blick zu nehmen, als auch nach der speziellen Qualität der ästhetischen Wahrnehmung zu fragen. Das spezifische »attunement« (Benschop 2009; Stewart 2011) dieser Verbindungen qualifiziert demnach die soziale Integrität der Architektur. Die Sense Studies untersuchen genau dieses Moment als Raum der Ausgestaltung von Wahrnehmung, in »which different sensory domains are invested with social value« (Classen 1997: 401). Bezogen auf das atmosphärisch Wahrgenommene von Architektur ist demnach zu schauen, inwiefern sich die proklamierte »visual tactility« (Taussig 1993) mit dieser Materialität situativ als eine Ordnung des Wahrnehmens entfaltet.19
18 | Siehe zur Organisation von religiösen Atmosphären auch den Beitrag von Duttweiler in diesem Band. 19 | Die Architekturphänomenologie hat die synästhetische Dimension insbesondere von Visualität und Taktilität immer wieder betont. Der Architekt Juhani Pallasmaa formuliert dies etwa in seinem Buch The Eyes of the Skin: »[v]ision reveals what the touch already knows […] [T]ouch is the unconscious of vision« (Pallasmaa 2005). Anthony Vidler hebt den einhüllenden haptisch erfahrbaren Charakter der Architektur in Warped Space (2000) hervor; Architektur sei nicht frontal zu erfahren sondern immer als dreidimensionales haptisch erfahrbares Objekt.
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Die konstitutiven Elemente des atmosphärischen Wahrnehmens wie ästhetischen Erfahrens können in einer praxeologischen Perspektive von materieller wie immaterieller Art sein (Hill 2006); die Stile von Beton und Stahlträger, textile Elemente der Innenraumausgestaltung, oder auch technische Infrastrukturen der Licht- und Heizungsversorgung, Lüftungssysteme und Klimaanlagen – all diese Elemente tragen durch die Ausgestaltung ihrer Beziehungen untereinander zur Konstitution der Wahrnehmung und – im Sinne Deweys – möglicher ästhetischer Erfahrungen bei.
4. D ie A ussicht im ehemaligen Pal ast der R epublik In dem Artikel »Materialising Vision: Performing a High-Rise View« (2012) setzen sich Jacobs u.a. mit der praktischen Herstellung von Wahrnehmungsbeziehungen im Rahmen ihrer praxeologischen Analyse des Wohnhochhauses auseinander – einer der großen Visionen moderner Architektur. Insbesondere die großflächigen Fenster, die den Bewohnern eine weite Aussicht (»the view«) ermöglichen, sind zu einem Sinnbild für das demokratisierte Verständnis des Wohnens geworden. Sie gelten als ein wichtiges Merkmal der Wohnmaschinen-Ästhetik von Le Corbusier und der Architekten der Bauhausschule. In ihrer Studie über die Wohnhochhaussiedlung Red Road in Glasgow interessieren sich Jacobs u.a. unter anderem für die möglichen Existenzweisen dieser modernen Errungenschaft und entwickeln unter Rückgriff auf das Konzept der Assemblage eine eigene Methodologie, um den praktische Vollzug des Blickes aus dem Fenster, die »performance of the view« empirisch zu erfassen. Das Fenster wird hier nicht einfach als eine gegebene Technik des Sozialen verstanden, die die Aussicht automatisch sicherstellt sobald sie in den gebauten Stahlträger eingelassen wird. Vielmehr sind sehr unterschiedliche Akteure an der performativen Herstellung der Aussicht beteiligt und verbinden sich in jeder untersuchten Wohnung des Wohnhauskomplexes auf immer wieder andere Art und Weise mit dem Fenster. Zu den beteiligten Akteuren gehörten die jeweilige Forschergruppe selbst, ausgestattet mit einer Video-Kamera mittels welcher das Setting gefilmt wurde, die BewohnerInnen, unterschiedliche Fenstertechnologien (funktionierende/nicht funktionierende Griffe und Scharniere, geputzte oder dreckige Glasscheiben etc.), unterschiedliche Dekorationen der Fenster (Blumen, Gardinen etc.), die Stockwerkhöhe, Lichteinfall und so weiter. Die wahrgenommene Aussicht, welche sich in der Interaktion herstellt und sich zwischen dem Innen- und Außenraum stabilisiert, ist hier abhängig von den »performenden« Elementen und ihrer Komposition. Indem jedes dieser sich bewegenden Elemente unterschiedliche Angebote und Aufgaben der Wahrnehmung übernimmt, werden die atmosphärischen Nuancen von Sichtbarkeit, Räumlichkeit und möglicherweise auch ästhetischer Erfahrung kontinuierlich variiert. Der einstige Palast der Republik – eine Ikone moderner sozialistischer Repräsentationsarchitektur – war ebenfalls bekannt für eine interaktiv hergestellte Aussicht
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auf die Stadt aus dem Innenraum des Gebäudes. Das atmosphärisch handelnde Element, welches zu dieser Herstellung der Wahrnehmungsordnung der Aussicht wesentlich beitrug, waren die vorgehängten braun-goldenen Glasfassaden des Gebäudes, welche dieses ummantelten. Der Spitzname des zweikubigen Kulturhauses und Sitz der Volkskammer am Schlossplatz in Berlin-Mitte lautete schon bald nach Eröffnung des Hauses im Jahr 1976 »Erichs Lampenladen« (in Anspielung auf den damaligen DDR-Generalsekretär Erich Honecker, der den Bau maßgeblich verantwortete). Alle öffentlich zugänglichen Räume (Flure, Foyers, Korridore, Restaurants und Bars) waren mit einem aufwendigen und opulenten Lichtsystem mit hängenden Rundkugelleuchten ausgestattet, das tagsüber die BesucherInnen im Palast empfing und die PassantInnen auf den umliegenden Straßen auch nachts durch die transparente Glasfassade und das hell erleuchtete Gebäude begleitete. Der Baustil des Palastes der Republik war eine modernistische Antwort auf den Internationalen Baustil des Westens – einerseits eine Anspielung auf das Design des Bauhaus-Hauptgebäudes in Dessau von Walter Gropius aus dem Jahr 1925, andererseits eine Referenz auf die braun-goldene Spiegelfassade, die erstmalig von Mies van der Rohe in New York im Seagram Gebäude realisiert wurde (1954-1958). Die großzügige und durchgehende Glasfensterfront des Palastes beförderte eine »visuelle Verschmelzung mit der Stadtlandschaft« (Kuhrmann 2006): Die umliegenden Sehenswürdigkeiten verwoben sich mit den großzügigen Innenräumlichkeiten, die quasi zum Flanieren einluden und so mit dem Außen-Innen-Verhältnis spielten (Abb. 1). Abbildung 1: Die Aussicht auf den Fernsehturm, 1976
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Im Westen wurde der Blick auf das ehemalige DDR-Staatsratsgebäude und einen Parkplatz gelenkt, der von Walter Ulbricht nach Sprengung des einstigen Stadtschlosses der Hohenzollern auf dem Schlossplatz angelegt worden war. Gen Osten durften die BesucherInnen den Blick auf den Fernsehturm genießen, ebenso auf das Marx-Engels-Denkmal und die Stadthalle. Alle Stockwerke des Hauses waren über Treppen und Rolltreppen zu erreichen. Das Palastrestaurant, im Nordkubus des Gebäudes, in dem die Volkskammer beheimatet war, gelegen, ermöglichte den Blick auf den Boulevard Unter den Linden und den Dom. Die von den Architekten intendierte Verschmelzung von Innen- und Außenraum wurde durch die atmosphärische Verbindung all dieser Elemente hergestellt und durch die täglichen Routinen der Gebäudepflege wie etwa das Polieren der Fensterfronten und das Instandhalten der Außen-Glasfassade reproduziert. In den 1970er und 1980er Jahren wurde auf diese Weise eine zuverlässige Wahrnehmungsinteraktion zwischen den BesucherInnen und den außenliegenden Gebäuden ermöglicht. Im Anschluss an Dewey barg diese sinnliche Ordnung das Potential, die eine ästhetische Erfahrung im Sinne eines Genusses der Aussicht in den Stadtraum zu machen. Auf zahlreichen Fotografien in Bildbänden und historischen Dokumenten (siehe etwa exemplarisch Abb. 1) ist genau diese Aussicht immer wieder eingefangen und stellt mittlerweile – nach dem vollständigen Rückbau des Gebäudes – ein zentrales Element der kulturellen Erinnerung an die Architektur dar.
5. Ä sthe tische B efr agungen in der Pal ast-R uine Die Interaktions- und somit auch Wahrnehmungsordnung der Aussicht destabilisierte sich sehr schnell, nachdem der einstige Prunkpalast der DDR 1990 aufgrund von Asbestproblemen geschlossen wurde. In den 1990er und 2000er Jahren wurde die Architektur zunächst auf lokaler, später auf bundesweiter Ebene zum kontrovers diskutierten Politikum zwischen Stadtplanung und Denkmalschutz, Lokal- und Bundespolitik sowie dem Engagement zahlreicher Bürgerinitiativen und stand repräsentativ für den ungeklärten kulturellen Umgang mit der einstigen Repräsentationsarchitektur des totalitären DDR-Regimes im wiedervereinigten Deutschland. Die Asbestproblematik, die von vielen Kritikern als politisch eingebrachter Vorwand für einen sukzessiven Rückbau ausgewiesen wurde, konnte zunächst durch eine Entkernung des Gebäudes auf seine Stahl- und Betonträger und der vorgehängten Glasfassade zwischen 1997 und 2000 gelöst werden. Dadurch war das Gebäude zu einer Palast-Ruine geworden und weiterhin nicht zugänglich. 2002 entschied die Bundesregierung über den Rückbau des Palastes der Republik und einen bis heute noch nicht abgeschlossenen Bau einer Teil-Rekonstruktion des ehemaligen Berliner Stadtschlosses der Hohenzollern, das ebenfalls von dem einstigen DDR-Regime 1952 unter Walter Ulbricht gesprengt wurde. Dem vorausgegangen war bereits ein erbitterter Streit zwischen
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mehreren Bürgerinitiativen bestehend aus Befürwortern jener Rekonstruktion des einstigen Schlosses und jenen, die um die Erhaltung des Palastes der Republik kämpften. Von 2003 bis 2006 war das ehemalige Gebäude auf die Initiative eines interdisziplinären Zusammenschlusses mehrerer Berliner Kultureinrichtungen und -akteure der szenischen, bildenden und musischen Künste sowie ArchitektInnen und UrbanistInnen zum letzten Mal für die Öffentlichkeit zugänglich (Abb. 2). In den Sommermonaten der Jahre 2003 und 2004 wurde eine Zwischennutzungsphase mit Kunst-Festivals und Ausstellungen organisiert, es gab Sportveranstaltungen, Führungen, Bars und Restaurants sowie auf Initiative einer Architektengruppe einen improvisierten Hotelbetrieb – die Idee des Volkshauses, welches die einstige typologische Klassifizierung des Gebäudes ausmachte und ihren Ursprung bereits um 1900 in den Arbeiterbewegungen hatte, wurde zu einem »virtuellen Ritual« (ML 20) mittels welchem die Ruine temporär wieder zu einer Architektur werden sollte.21 Im Jahr 2008 war das einstige Gebäude vollständig zurückgebaut. Abbildung 2: Die Palast-Ruine mit einer Installation des Künstlers Lars Ramberg, 2005
20 | ML ist das Kürzel eines Interviewpartners. Insgesamt wurden 15 Interviews mit den Organisatoren und Kuratoren der Zwischennutzungsphase geführt. 21 | Der performative Ansatz wurde hier in der interdisziplinären Zusammenarbeit von VertreterInnen der szenischen Künste und ArchitektInnen erprobt. Siehe hierzu auch die Dokumentation der Zwischennutzungsphase Volkspalast (Deuflhard/Krempl-Klieeisen 2006).
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II. Die atmosphärische Komposition von Architekturen
Die Möglichkeit, durch die entkernten Innenräume zu flanieren und die erneuten Blicke in den Stadtraum zu genießen, zog ein großes Publikum bestehend aus ZeitzeugInnen, TouristInnen, PassantInnen und vielen sonstigen Interessierten an. Ebenso richtete sich die mediale Aufmerksamkeit auf das Gebäude. Wie im Folgenden argumentiert werden soll, war es insbesondere die Ästhetik der Ruine selbst, welche das einstige Gebäude zu solch einem Magneten werden ließ. Die Wahrnehmungsordnung der Aussicht und speziell die ästhetische Erfahrung stabilisierte sich ungeachtet der zeithistorischen Hintergründe und dem Vorwissen der BesucherInnen, ob sie das Gebäude bereits kannten oder nicht, die kontroverse Debatte intensiv verfolgten oder nicht. Es war, wie gezeigt werden soll – im Dewey’schen Sinn – die spezielle Komposition atmosphärischer Elemente und das ästhetisch erfahrbare Wissen um die Vergänglichkeit des einstigen Gebäudes, die viele der BesucherInnen und FotografInnen der untersuchten Bilder immer wieder aufs Neue anzog und faszinierte. Die fulminante Aussicht durch die Glasfassade auf den Stadtraum war zwar wieder möglich, jedoch war die Interaktionsordnung zwischen BesucherIn, Glasfassade und Außenraum untypisch für die einer Architektur geworden – die atmosphärischen Verbindungen zwischen einzelnen Akteuren hatten sich in der Gestalt der Palast-Ruine geändert. Insbesondere die atmosphärische Handlungsmacht der milchigen Glasscheiben produzierte nun andere ästhetische Erfahrungen und dementsprechend andere Wahrnehmungsordnungen der Aussicht. Die Glasfassade selbst war durch die Asbestsanierung stark in Anspruch genommen worden. Die milchige Oberfläche aller Scheiben von innen wie von außen war durch die Ablagerungen eines speziellen Sprays entstanden, das die fliegenden Asbestfasern, die im Zuge der Entkernung aus dem Spritzbeton freigesetzt wurden, einfangen sollte. Diese Substanz hatte sich auch auf dem Betonboden abgesetzt, der nun seidenweich und teilweise sehr rutschig war. Die Scheiben waren zudem mit Baustellenzeichen, Farbmarkierungen und Graffiti-Spray übersät. Zudem hatte sich das Stadtbild während der Zeit der Schließung verändert – die rasanten Entwicklungen im Nachwende-Berlin der 1990er Jahre standen in einem starken Kontrast zu der Präsenz der Ruine. Bereits in den 1990er Jahren begannen KünstlerInnen der bildenden und szenischen Sparten sowie FotografInnen die Palast-Ruine zum Gegenstand ihrer Arbeiten zu machen. Die beiden KünstlerInnen Nina Fischer und Maroan el Sani produzierten eine der ersten Videoarbeiten der Aussicht aus der Palast-Ruine, in welcher sie mittels einer Kamera, die sich auf einem fahrbaren Untersatz über den Betonboden langsam entlang der milchigen Glasfassade durch das Gebäude bewegt, den Blick in den Außenraum festhalten. Vor allem die atmosphärische Arbeit der Glasfassade wurde in den close-up-Aufnahmen zum zentralen Gegenstand der Untersuchung. Eine ähnliche Fotoserie wurde von dem Künstler Thomas Struth angefertigt; viele andere KünstlerInnen und mehr als 70 offiziell angemeldete FotografInnen wurden von den Veranstaltern der Zwischennutzungsphase registriert.
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In der nationalen wie internationalen Berichterstattung über die Zwischennutzungsphase des Palastes der Republik zirkulierte insbesondere ein Bildmotiv, das eine getrübte Aussicht auf den Fernsehturm zeigt. In den sozialen Netzwerken, wie etwa in der hier untersuchten Plattform Flickr, entstanden zahlreiche Fotoserien, in welchen FotografInnen ihre Bilder wechselseitig kommentierten und auf ihre ästhetische Qualität hin bewerteten. Insbesondere wurde das tagging der Sehenswürdigkeiten des äußeren Stadtraumes hinter der milchigen Glasscheibe zu einer immer wieder eingesetzten Technik in der Foto-Gemeinde. Nicht nur der Fernsehturm, auch die umliegenden Sehenswürdigkeiten wie das Rote Rathaus, das ehemalige Staatsratsgebäude, der Dom, und etwa der Boulevard Unter den Linden tauchten immer wieder auf und sind auch über die Suchmaske in der Suchmaschine der Plattform zu finden (Abb. 3). Abbildung 3: Die Aussicht auf den Fernsehturm und das Rote Rathaus, Plattform Flickr, 2005
Das Flanieren, welches in der Palast-Ruine weiterhin unhinterfragt vollzogen wird, ließ die einstige Interaktionsordnung der Architektur wieder aufleben. Die PassantInnen, TouristInnen, ZeitzeugInnen etc. wissen intuitiv, wie sie sich in der Palast-Ruine zu bewegen haben. Die Interaktionsordnung entspricht der einer Architektur. Ähnlich wie die BesucherInnen 30 Jahre zuvor oder wie BesucherInnen jeder anderen Architektur in einem ähnlichen Baustil, fügen sie sich ganz selbstverständlich in die noch bestehende materielle An-Ordnung zwischen Innen- und Außenraum ein. Auch im Zustand einer Ruine fordert das atmosphärische Arrangement der Glasfassade, Kolonnaden und Foyers dazu auf, in den Stadtraum hinauszublicken, und sich mit den Sehenswürdigkeiten im Außenraum zu beschäftigen. Die Ruine agiert gerade noch als die Architektur, die sie einmal war, da die ursprüngliche, sinnliche Ordnung des einstigen Gebäudes
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trotz des Rückbaus in der Routine des Flanierens und »Aussichtens« weiterhin präsent bleibt. Das »Aussichten« schafft es also, »distributed times and distributed memories« der einzigen Architektur an einer Örtlichkeit und zu einem spezifischen Zeitpunkt wieder miteinander zu bündeln (Guggenheim 2009: 47). Die spezifisch ästhetische Erfahrung wird jedoch über eine zentrale Abweichung von dieser Interaktionsordnung hergestellt – die der zeitlichen Differenz. Die chronologische Ordnung zwischen (historischem) Gebäude und der gegenwärtigen Ruine wird in der Aussicht selbst aufgelöst. Die milchige Glasfassade wird nicht nur zu einem anderen atmosphärischen Akteur der Wahrnehmung, der die Sicht verschiebt und die Verschmelzung zwischen Innen- und Außenraum irritiert. Sie ist derjenige Akteur, der die eine ästhetische Erfahrung im Dewey’schen Sinne umorganisiert, und die atmosphärischen Elemente so aneinanderreiht, dass dem Genießer der Aussicht die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart als ein ästhetisches Moment vor Augen geführt wird. Dies ermöglicht eine andere ästhetische Erfahrung als zuvor im Palast der Republik. Die Vergangenheit wie die Gegenwart »co-exist at the same location« (Guggenheim 2009: 47); sie stabilisieren die Palast-Ruine in der Gestalt ihrer einstigen Architektur. Dabei bedienen sie jedoch die ästhetischen Wahrnehmungskonventionen der Ruine. Diese Arbeit an der ästhetischen Dimensionierung der sinnlichen Ordnung wird insbesondere von den milchigen Glasscheiben übernommen; die nebulöse Sicht produziert eine Distanz zur Gegenwart, die verschwommene und fast geisterhafte Erscheinung aller außenliegenden Fixpunkte bringt die Nostalgie und die Verfallserscheinungen des Materiellen in die Wahrnehmung der BesucherInnen. Die Sehenswürdigkeiten des Außenraumes erscheinen durch die Glasfassade in der Atmosphäre der Zeitlichkeit und der Vergänglichkeit. Fast wird die Glasscheibe durch diese Verfallserscheinung selbst schon zur Fotografie. Das Rote Rathaus und der Dom, das ehemalige Staatsratsgebäude und der Fernsehturm – sie treffen auf ein bereits im Rückbau befundenes Gebäude, eine Ruine, die weiterhin zugänglich ist und dennoch bereits aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Insbesondere ist es der Fernsehturm in der Interaktion mit der milchigen Glasfassade und dem Innenraum, welcher die Vergänglichkeit vor Augen führt und untermalt. Gebaut in 1969, um ebenfalls wie der einstige Palast der Republik, den architektonischen Wettbewerb um den internationalen Baustil mit dem Westen aufzunehmen, schreibt dieses Gebäude der ehemaligen DDR nach der Wende eine Erfolgsgeschichte. Der Fernsehturm wird zu der Ikone in der wiedervereinigten Hauptstadt, während der Palast der Republik vor allem als ehemaliger Sitz der Volkskammer wahrgenommen wird. Das Gefühl einer symbolischen Differenz zwischen einer »gescheiterten« und einer »gefeierten« Architektur der ehemaligen DDR wird nicht nur visuell durch die milchige Glasfassade evoziert, sondern auch auf dem Wege anderer Sinnesempfindungen untermauert. So nimmt die haptische und akustische Wahrnehmung in der Palast-Ruine an vielen Stellen eine andere Form an als in einer Architektur. Weder textile Elemente noch
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Decken- oder Bödenbeläge trugen zur Ausgestaltung der Akustik bei, teilweise konnten die BesucherInnen durch beide Kuben hindurchsehen, da auch Wände, Etagen, (Roll-)Treppen nicht mehr vorhanden waren. In den Wintermonaten war es im Innenraum sehr kalt, in den Sommermonaten teilweise sehr warm. Geräusche im Innenraum produzierten ein Echo. Die Geräusche des Außenraumes waren im Innenraum ebenfalls als ein vibrierendes Surren zu hören. Hier stellte sich eine Verschmelzung mit dem Stadtraum ein, die in der einstigen Architektur durch die Dämmung der Wände so nicht intendiert war. Die zahlreichen zirkulierenden Fotografien machen genau dieses Moment der Abweichung zum Gegenstand der Aufmerksamkeit, indem sie die Transformation der sinnlichen Ordnung und die damit verbundene ästhetische Erfahrung einfangen. Dabei scheint in der Komposition und dem Stil der Fotografien der moderne ästhetische Topos zur Vergänglichkeit von Architektur und der Ruinenthematik immer wieder auf. Das Gedächtnis des Ortes schreibt sich mittels der subtilen kompositorischen Mittel dieses Topos in die Ordnungen des Wahrnehmens ein. Die online und offline geteilten Fotografien dienen hier der Sichtbarmachung der Konstellation der einen Erfahrung, die andernfalls unartikuliert geblieben wäre. Das Kommentieren und Analysieren der getaggten Sehenswürdigkeiten ist demnach eine ex-post-Übersetzung des Zusammenspiels der atmosphärischen Elemente, welche das ästhetische Moment strukturieren. Die ästhetische Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird durch den Abgleich über das tagging in den Fotografien darüber hinaus beglaubigt. Hier tritt ein Fotografieverständnis auf, das an jenes von Roland Barthes erinnert. Die Fotografie bringt nicht zurück, was einst gewesen ist, sondern sie dokumentiert nur das, was ohnehin schon Vergangenheit, schon tot ist (Barthes 1985).22 Die Aussicht des einstigen Palastes der Republik erscheint im Benjamin’schen Sinn als ruinöse Hohlform der Moderne und gehört nun definitiv der Vergangenheit an. Und doch wird ihre sinnliche Ordnung beständig wie ein uneingelöstes Versprechen der modernistischen Architektur immer wieder in den Fotografien reproduziert. Wie Svetlana Boym in Bezug auf die Erinnerungskulturen im Nach-WendeBerlin und die zahlreichen abgerissenen Bauten diagnostiziert, so war es auch in diesem Fall »love at last sight« (2001).
22 | In kulturwissenschaftlichen Analysen wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Medialität der Fotografie den ästhetischen Topos der Ruine übersetzt und ihm deshalb besonders gerecht wird (Barndt 2010).
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6. D ie A ussicht der M oderne — soziale Technologie vs . I nter ak tion von A rchitek tur Die Analyse hat bisher gezeigt, wie sich die Wahrnehmungsordnung der Aussicht von einer einstigen Architektur zu einer urbanen Ruine verschiebt. Einerseits wurde dabei hervorgehoben, dass erst das Zusammenspiel unterschiedlicher atmosphärischer Elemente des Gebäudes die Wahrnehmungs- und Interaktionsordnungen performativ hervorbringen. Andererseits konnte insbesondere anhand des bildbasierten Datenmaterials gezeigt werden, wie sich in der dynamischen Veränderung der Architektur ein ästhetisch-befremdetes Moment des Wahrnehmens als ein ebensolches Muster herausbildet. Es bleibt abschließend zu klären, wie dieser Wandel der Wahrnehmungsordnung und somit der sozialen Effektivität einer Architektur (bzw. einer einstigen Architektur in der Gestalt einer Ruine) auch ein kritisches Potential gegenüber dem Umgang mit modernistischer Architektur im Rahmen der politischen Kontroverse um den einstigen Palast der Republik entfaltet. Eine weitere Wahrnehmungskonvention von Ruinen ist, dass die Transformation von Architektur mit ihr zum Thema gemacht wird; sie sind »ansprechende« (Brock 1984) Gestalten von sozialem Wandel in der Stadt. Die mehrdeutigen Aufforderungsangebote (»multiple affordances«), Ruinen für unterschiedliche Zwecke zu gebrauchen, sind ebenfalls ein entscheidendes Moment der ästhetischen Dimension, das zu einer Einmischung in die politische Kontroverse um den kulturellen Umgang mit einstiger Repräsentationsarchitektur führt. Zwei konkurrierende Materialitätskonzeptionen von Architektur lassen sich im Anschluss an die vorangegangene Analyse aufzeigen – sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer sozialen Effektivität. Anhand des langwierigen Streits um die bauliche Zukunft des Schlossplatzes in Berlin, dem Abriss des ehemaligen Palastes der Republik und der Rekonstruktion (von Teilen) des Stadtschlosses lässt sich exemplarisch aufzeigen,23 dass der Architektur auch heute noch eine statische Effektivität zugewiesen wird – eine Vorstellung, die auf eine verkürzte Interpretation der modernistischen Konzeption von Architektur als gegebene Technologie des Sozialen zurückgeht.24 Während sich in der Debatte über nicht-existente 23 | Auf den genauen Verlauf der Kontroverse kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Für eine diskursanalytische Erörterung der Debatte siehe die Studie von Beate Binder (2009). 24 | Die ausführliche Darstellung dieses Arguments findet sich an anderer Stelle (Göbel 2015). Auch wenn der Modernismus in der Architekturtheorie und -praxis bereits seit den 1970er Jahren kritisiert wird und die Professionen von ArchitektInnen und StadtplanerInnen umstrukturiert hat, lässt sich vielerorts – exemplarisch in der Debatte über den Schlossplatz in Berlin – das historische a priori der modernen Architektur (Delitz 2010) aufzeigen, welches sich nach wie vor in unterschiedlichen Praktiken des Planens, Bauens und Umnutzens reproduziert. Daraus folgen die Schwierigkeiten, den Gebrauch von Archi-
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Architektur (einerseits des einstigen DDR-Baus, andererseits des ehemaligen Stadtschlosses) und deren imaginierten Gebrauch ein – für die Praxis der Stadtplanung typisches – abstraktes Materialitätsverständnis manifestierte,25 zeigt sich in dem analysierten Nutzungszeitraum der Palast-Ruine exemplarisch ein performatives Materialitätsverständnis von Architektur. In diesem wird Architektur immer über den alltäglichen Gebrauch und die wechselseitige Gestaltwerdung von Architektur und den Interaktions- und Wahrnehmungsordnungen der Körper der NutzerInnen sichtbar. Die erneute Herstellung der Aussicht problematisiert mit ästhetischen Mitteln deshalb auch die modernistische Perspektive auf eine statische Architektur, die sowohl dem performativen Charakter als auch den zyklischen Recyclingsformen im Umgang mit Gebautem nicht gerecht wird. Ebenso wird die Fortschrittsgläubigkeit, geklammert an Abriss und Neubau, hinterfragt und eine Sensibilität in Bezug auf den paradoxen Charakter dieser Materialität vorgeschlagen. Die Architektur, welche, wie oben ausgeführt, einerseits im Boden fixiert und andererseits nur im sozialen flow erlebbar ist, soll in Bezug auf ihre Veränderbarkeit kulturalisiert werden. Dies geschieht in den Praktiken des Fotografierens, die die Aussicht aus dem Fenster ästhetisch transformieren. Die Materialität der Ruine löst ihren kulturellen Auftrag als Gegenspielerin der Architektur ein, in dem mit und in ihr eine zyklische Praxis des Gebrauchens von Architektur experimentell über Interaktion probiert wird ohne in dem langwierigen Streit widerstreitender Parteien um die Zukunft des Platzes eine Lösung zu formulieren. Die Initiative verschiedener Kulturschaffender, die Palast-Ruine wieder zugänglich zu machen, ging vor allem zurück auf die künstlerischen Sparten der Architektur und der szenischen Künste. Dies sind beides Felder der Kunst, in denen der performative Charakter von Architektur mit künstlerischen Mitteln bearbeitet wurde. Jedoch hat die Analyse der Aussicht gezeigt, dass die im engeren Sinne künstlerische Praxis hier nur ein Katalysator von vielen war, die zur Reproduktion von ästhetischen Interaktionen mit dem einstigen Gebäude beigetragen haben. Chantal Mouffe weist im Anschluss an ihre agonistische Figur des hegemonialen Gegenspielers tektur außerhalb eines funktionalistisch und sozial deterministisch orientierten Verständnisses von Architektur zu denken. 25 | Beate Binder (2009) analysiert das Sprechen der Stadtplaner über den Schlossplatz in den 1990er und 2000er Jahren während über die Zukunft des bereits geschlossenen Palastes der Republik gerungen wurde. Ein zentraler »Topos der Rede (nicht nur) über den Schlossplatz [ist]: Der Platz ist leer. Einen innerstädtischen Platz als leer zu bezeichnen, verlangt einen hohen Grad an Abstraktion: tatsächlich stehen hier Gebäude, eine Ausgrabungsgelände wurde freigelegt, da parken Autos, laufen Menschen, wenn auch wenige. ›Leer‹ ist also eine Metapher, die etwas von der grundlegenden planerischen Denkweise zeigt: Wo nichts ist, soll etwas werden. […] Das Bild, das von Schlossplatz und Spreeinsel gezeichnet wird, fordert den stadtplanerischen Eingriff geradezu heraus« (Binder 2009: 118).
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insbesondere der ästhetischen Dimension des Sozialen einen politisierenden Auftrag zu, den sie in künstlerischen wie kulturellen Praktiken anhand der »Infragestellung einer symbolischen Ordnung« festmacht. »Das Politische seinerseits hat Einfluss auf die symbolische Ordnung sozialer Beziehungen, und darin liegt seine ästhetische Dimension« (Mouffe 2014: 141). In der ästhetischen Erfahrung der Interaktion mit der Palast-Ruine wird somit einer Gesellschaft sprichwörtlich vor Augen geführt, dass ein kultureller Wandel über die sinnliche Umorganisation von vermeintlich statischen, materiellen Gestalten erzeugt werden kann. Eine sozialtheoretisch-praxeologische Analyse von Architektur bereichert somit die Architekturforschung in Bezug auf den Interaktionscharakter zwischen Materialität und Sozialität. In der Sichtbarmachung von Interaktions- und Wahrnehmungsordnungen liegt deshalb auch ein kritisches Potential dieses Ansatzes. In konzeptueller Hinsicht schlägt eine von der ANT inspirierte Analyse von Architektur vor, die suggerierte Standhaftigkeit dieser Materialität zu befremden und sich den prekären Existenzen des Materiellen von Architektur in unterschiedlichen Gestalten (wie hier etwa dem »Gestalt-switch« von Architektur zu Ruine) analytisch zu nähern. Eine künftige methodologische Herausforderung liegt sicherlich darin, das »sinnliche Investment« (Howes 2003) in eine jeweilige Wahrnehmungs- und Interaktionsordnung von Architektur weiter zu differenzieren und insbesondere die Ansätze der visuellen Sozialforschung hinsichtlich ihrer synästhetischen Dimensionierung des auf den jeweiligen Gegenstand bezogenen Datenmaterials (etwa text-, audio-, video- und fotografiebasiert) zu erweitern (Pink 2009).
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die Aussicht auf den Fernsehturm, Berlin, 1976 © Karl-Heinz Kraemer Abbildung 2: Die Palast-Ruine, mit einer Installation des Künstlers Lars Ramberg, Berlin, 2005 © Hanna Steinmetz Abbildung 3: Die Aussicht auf den Fernsehturm und das Rote Rathaus, Plattform, Berlin, 2005 © Henriette von Muenchhausen
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Sinnreiche Bewegungen Lars Frers »Was unsere Untersuchung der Motorik uns lehrt, ist endlich ein neuer Sinn des Wortes ›Sinn‹.« (M erleau -P ont y 1974: 177)
1. G erichte theit und S inn (e) In diesem Beitrag soll die »Sinnlichkeit des Sozialen« aus der Bewegung heraus untersucht werden. In der Bewegung generieren wir Sinn. Wir orientieren uns an anderen, folgen Spuren, erzeugen selber welche, begegnen anderen Dingen (Costall/ Dreier 2006; Ashmore 2013), Tieren (Hillier 2013), Orten (Degen/Rose 2012) und Menschen (Liggett 2003). Wir gehen ein in große und kleine Strömungen, erzeugen Turbulenzen (Anderson/Wylie 2009), treten aus einem Fluss heraus, versanden. Der Sinn, um den es hier geht, den wir in Kontakt, Austausch und Reibung mit unserer Umgebung hervorbringen, ist allerdings von anderer Art als der »gemeinte« Sinn, den es im Paradigma der interpretativen Soziologie1 in Anknüpfung an Max Weber und Alfred Schütz, zu verstehen und zu interpretieren gilt. Im Folgenden soll ein Versuch unternommen werden, den soziologischen Sinnbegriff anders zu wenden, ihn selbst gleichzeitig in Bewegung zu bringen und an die Sinnlichkeit des sozialen Lebens zu knüpfen. Die Hoffnung ist, dass die so entstehende Unordnung in der Welt der Begriffe und Kategorien neue Möglichkeiten des Begreifens herbeiführt. Diese Möglichkeiten sind gleichsam diesseits des interpretativen Paradigmas in der Soziologie angesiedelt, da sie in der Körperlichkeit von Bewegungen ihren Ausgangspunkt haben. Dem Vorhaben liegt dabei ein Interesse an der Etablierung sozialer Ordnung und sozialer Kontrolle zu Grunde. Soziale Ordnung und soziale Kontrolle, so die These, etablieren sich nicht bloß über unsere Interpretationen der Welt. Sie etablieren sich über unterschiedliche Bewegungen im sozio-materiellen Feld – über Bewegungen, die immer einen leiblichen, wahrnehmenden Bezug zur Welt mit einschließen und die sich so nicht klar aufteilen lassen in einerseits das, was klassisch als bewusste 1 | Vgl. kritisch dazu auch Reichertz 2007.
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oder kognitive Entscheidungen gekennzeichnet wird, und andererseits das, was sich körperlich abspielt. Warum Wahrnehmung und Materialität? Diese Themenfelder sind in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zum bloßen Hintergrund einer Soziologie geworden, die sich auf den linguistic turn (Knoblauch 2000) auf bauend auf Sprache, Interpretation und Repräsentation als das eigentlich Soziologische konzentriert hat. Das aber Macht und Interesse sich immer auch über Materialitäten und über mehr oder weniger subtile Rekonfigurationen des Wahrnehmens konstituieren (Rancière/Muhle 2006), ist seit einiger Zeit wieder Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung (Lorimer 2013). Der in der Wissenschafts- und Technikforschung gebräuchliche Begriff des tinkering (engl. für Basteln) (Knorr 1979; Mol u.a. 2010) beschreibt treffend das tastende Zusammenspiel von Materialitäten und soziologischer Theorie, welches notwendig ist, um einen etablierten soziologischen Begriff wie den des Sinns an eine veränderte Ausgangslage anzupassen, in der Bewegung und Materialität in ein wie auch immer gefasstes reines Soziales hineintreten. Der Sinnbegriff wird in diesem Beitrag in zwei unterschiedlichen Dimensionen verhandelt. Zum einen als Sinnlichkeit, also als eine wie auch immer bestimmte qualitative Bezugnahme zur Welt. Das sinnliche Wahrnehmen der Welt, das Sehen und Hören, das Schmecken und Riechen, das Stehen und Gehen, das Tasten und Spüren – all diese Vermengungen von Welt und Wahrnehmenden sind hier Ausgangspunkt des Forschens, wie auch in einer Vielzahl von Untersuchungen in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen.2 Entscheidend ist dabei, dass Welt und Wahrnehmende »in Wirklichkeit« nicht voneinander getrennt sind, selbst wenn diese analytische Trennung gleichsam selbstverständlich erscheint. Wie der an Merleau-Ponty anknüpfende Phänomenologe Bernhard Waldenfels immer wieder in sorgfältigen Untersuchungen zeigt, ist das Wahrnehmen ein komplexes Geschehen, in dem sich kein klarer Pol im Subjekt oder in den Objekten finden lässt – es handelt sich vielmehr um ein Spiel von sich ständig verändernden Gewichtsverschiebungen, in dem sich die Aufmerksamkeit mal hier, mal dort sammelt und dann wieder weiter verlagert (Waldenfels 2004, 2009). Die Begriffe Sinnlichkeit und die Sinne werden also dem Wahrnehmen im weiteren Sinne zugeordnet, das heißt dem Wahrnehmen als Aisthesis, als leiblich verankerter, sinnlicher-bewegter Bezugnahme zur Welt und eben nicht nur dem Wahrnehmen als selektivem Prozess, in dem außen liegenden Entitäten der Status Wahr oder Falsch, Echt oder Täuschung zugewiesen wird.3 2 | Vgl. hier besonders die englischsprachige Humangeografie (Hillier/Rooksby 2005; Whatmore 2006; Ingold 2010; Paterson/Dodge 2012; Degen/Rose 2012), aber auch Hasse 2008; Kazig 2012; Thibaud 2003. 3 | Eine solche, enge Definition von Wahrnehmung nimmt in der Regel eine Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Empfinden vor. Beispielhaft dafür z.B. Erwin Straus: »Die Wahrnehmung bedarf wie alle Erkenntnis eines allgemeinen objektiven Mediums. Die
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Das Schreiben über diesen Zusammenhang stellt besondere Herausforderungen an die Verschriftlichung.4 Autoren wie Gaston Bachelard (2003), Michel Serres (1998) und Jean-Luc Nancy (2008) begegnen dieser Herausforderung mit einer jeweils eigenen poetischen Qualität ihrer Texte. Hier sollen stilistische Aspekte nicht Überhand nehmen, weshalb sich der Text auch weitgehend auf zum Thema der Bewegung passende stilistische Hilfsmittel wie Reihungen etc. beschränkt. Zum anderen wird der Sinnbegriff in Differenz zu dem in der Soziologie gebräuchlichen Verständnis von Sinn verhandelt. Dabei steht nicht die adäquate Rekonstruktion des Sinnbegriffs und seiner unterschiedlichen Verwendungen in der deutschsprachigen oder internationalen Soziologie im Vordergrund, sondern die Kontrastbildung.5 Als Sinn soll hier deshalb, mit Max Weber gesprochen, der »gemeinte Sinn« (Weber 1922: §1) verstanden werden. Weber will in seiner Grundlegung der Soziologie den tatsächlich subjektiv gemeinten Sinn als Analysegegenstand verwenden und eben nicht, wie beispielsweise in den Naturwissenschaften, nach einem objektiv richtigen oder, wie in der Philosophie, nach einem wahren Sinn suchen. Gleichzeitig will er sinnhaftes Handeln von einem reinen »reakti-
Wahrnehmungswelt ist eine Welt von Dingen mit festen und veränderlichen Eigenschaften in einem allgemeinen, objektiven Raum und einer allgemeinen, objektiven Zeit (Straus 1956: 334). Der Begriff der Empfindung wird dabei der natürlichen Welt zugeschlagen: »die menschliche Welt der Wahrnehmung [ist] von der tierischen Welt der Empfindung radikal verschieden« (Straus 1956: 345). Merleau-Ponty berücksichtigt diese Differenzierung ebenfalls, verankert das Wahrnehmen aber im Leib und rückt damit von einer starken Trennung zwischen subjektivem Erkennen (der Welt der Wahrnehmung im engen Sinne) und rein körperlich-objektivem Empfinden ab (Merleau-Ponty 1974: 75f.): »Wahrnehmung ist nicht Wissenschaft von der Welt, ist nicht einmal ein Akt, wohlerwogene Stellungnahme, doch ist sie der Untergrund, von dem überhaupt erst Akte sich abzuheben vermögen und den sie beständig voraussetzen. Die Welt ist kein Gegenstand, dessen Konstitutionsgesetz sich zum voraus in meinem Besitz befände, jedoch das natürliche Feld und Milieu all meines Denkens und aller ausdrücklichen Wahrnehmung.« (Merleau-Ponty 1974: 7) Vgl. dazu auch Merleau-Pontys Kritik an der Unterscheidung zwischen Sinn und Geltung bei Cassirer (Merleau-Ponty 1974: 152). 4 | Siehe hierzu auch die Beiträge von Schürkmann und Chakkalakal in diesem Band. 5 | Weder ist im Rahmen dieses Beitrags ausreichend Platz für eine solche Diskussion, noch ist das Interesse an einer Exegese soziologischen Kanons beim Verfasser dieses Beitrags besonders ausgeprägt. Ob eine solche Verkürzung, gleichsam die Darstellung des Sinnbegriffs in Form eines reduzierten Dummys, angemessen ist oder nicht, sollte sich an der Fruchtbarkeit der aufgewiesenen Unterscheidung entscheiden. In gewisser Weise könnte natürlich auch Weber selbst für ein solches Vorhaben Pate stehen, denn die Bildung von Idealtypen – die es als solche in der Wirklichkeit nicht gibt – dienen ähnlichen heuristischen Zwecken (Weber 1922: §1, Absatz 11). Für eine umfangreiche Darstellung des Sinnbegriffs in der deutschsprachigen Soziologie siehe Bongaerts (2012).
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ven« Verhalten unterscheiden.6 Eine solche Art der Sinnanalyse erlaubt die Interpretation von Absichten, Motiven und Ideen und versucht zu verstehen, inwiefern diese soziales Handeln hervorbringen und beeinflussen. Alles andere – Dinge, Naturerscheinungen, physiologische Erscheinungen wie Ermüdung – kann als Hindernis, Anlass oder Förderung gesehen werden, hat mit dem zu analysierenden Sinn selbst jedoch nichts zu tun. Der Sinn liegt so letztlich in der gedachten Absicht, im Geist, in der reinen Intentionalität. Hier hingegen soll der Sinn sozialen Handelns in seiner gerichteten Bewegung liegen. Es geht also nicht um die nachträgliche Rekonstruktion einer gedachten, handlungsmotivierenden Absicht aus einem beobachteten Handlungsverlauf heraus. Stattdessen folgt die Analyse der Orientierung, der Gerichtetheit eines Handelns, ihres Verlaufs in Bewegung. So liegt nicht der mehr oder weniger rationale »Ursprung« eines Handelns im Fokus, den die Analyse zu verstehen sucht, um ein Handeln zu erklären. Ausgangspunkt des hier entwickelten Arguments sind Überlegungen von MerleauPonty, in denen die enge Verknüpfung von Bewegung, Leib und Sinn herausgestellt wird. »Diese Erläuterungen lassen uns endlich die Motorik unzweideutig als eine ursprüngliche Intentionalität verstehen. Das Bewußtsein ist ursprünglich nicht ein ›Ich denke zu …‹, sondern ein ›Ich kann‹. […] Sehen und Bewegung sind spezifische Weisen unseres Gegenstandsbezuges, und wenn in all diesen Erfahrungen eine einzige Funktion sich ausdrückt, so die Bewegung der Existenz, die nicht die radikale Verschiedenartigkeit der Inhalte einebnet, da sie sie nicht verknüpft durch ihre Unterordnung unter die Herrschaft eines ›Ich denke‹, sondern durch ihre Orientierung auf die intersensorische Einheit einer ›Welt‹ hin.« (Merleau-Ponty 1974: 166)
Hier wird die zentrale Rolle der Bewegung in der Sinnkonstitution deutlich gemacht: Motorik und Bewegung und die damit einhergehende Ausrichtungen sind Ursprungsformen der Intentionalität. Nicht die in einem transzendentalen Sinne gedachte oder gemeinte Absicht generiert den Sinn, sondern das leiblich-prak6 | Wie er selbst einräumt, ist diese Unterscheidung problematisch. Sein soziologischer Entwurf strebt nach dem Verstehen von Handlungen. Ein Hauptkriterium dafür ist bei ihm die Möglichkeit der Evidenzbildung, die wiederum entweder an rationale oder an gefühlsmäßige Nachvollziehbarkeit geknüpft ist. Der Nachvollzug gefühlsmäßigen Handelns ist problematisch, weil er individuell unterschiedlich und eingeschränkt ist. Rationales Handeln hingegen bietet sich für die soziologische Analyse am besten an, da der dafür notwendige logische Zugang zum Verstehen von Zweck-Mittel Relationen universal ist. Das rationale Handeln ist somit für die Analyse privilegiert. Idealverläufe eines zweckmäßigen Handelns können rekonstruiert werden und Abweichungen dann mit nicht-rationalen, gefühlsmäßig bestimmten Sinnkonstruktionen erklärt werden. Auch hier räumt Weber ein, dass seine soziologische Methode rationalistisch sei, da sie die Ratio zu Ausgangspunkt von Analyse und Differenzbildung macht.
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tische sich Erschließen des von den Sinnen durchdrungenen Raums bzw. der Dinge. So heißt es weiter: »Selbst wenn in der Folge Denken und Wahrnehmung des Raumes von der Motorik und dem Sein-zum-Raume sich loslösen, so müssen wir doch, um den Raum uns vorstellen zu können, zuvor allererst durch unseren Leib in ihn eingeführt sein und muß mit ihm uns das erste Vorbild jener Transpositionen, Äquivalenzen und Identifikationen gegeben sein, die den Raum zum objektiven System und unsere Erfahrung zur Gegenstandserfahrung machen, die ein ›An-sich‹ erschließt. ›Die Motorik ist die primäre Sphäre, in welcher erst der Sinn aller Signifikationen im Gebiete des Darstellungsraumes geschaffen wird.‹« [Zitat von Grünbaum, Aphasie und Motorik, S. 396] (Merleau-Ponty 1974: 171-172)
Die beiden Zitate verdeutlichen, wie Merleau-Ponty den Ursprung des Sinns oder die eigentliche Sinnstiftung in der Bewegung des leiblichen zur-Welt-Seins verortet. Dieser Perspektivierung soll gefolgt und der sich daran anschließende Horizont tastend ausgekundschaftet werden. Ganz im Sinne des oben erwähnten tinkering sollen dabei unterschiedliche Qualitäten des Begriffs »Bewegung« in Anschlag gebracht werden, von der Phänomenologie bis zu Anleihen aus der Physik. Entscheidend ist dabei nur, ob diese Qualitäten die Beschreibungskraft des Begriffs verbessern und/oder zu neuen Einsichten führen. Die mit diesem Vorgehen einhergehende geringere begriffliche Präzision – denn es mangelt gewissermaßen an einem einheitlichen und klar eingeschränkten Begriff von Bewegung – wird dabei bewusst als produktive Suchbewegung in Kauf genommen. Im Sinne von Bachelard (2003: 101) geht es vor allem um die Anregung der Einbildungskraft im Zusammenspiel von Begriff und Welt. So wird hier das Handeln selbst als Bewegung begriffen, die sich im Ablauf konstituiert – immer durchzogen von sich notwendigerweise stetig wandelnder, wahrnehmender Bezugnahme zur Welt (die sich als sozio-materiales Feld, durchzogen von unterschiedlichen Abstoßungen und Anziehungen verstehen lässt) und gleichzeitig versehen mit einer gewissen Kraft und einer gewissen Trägheit, welche die Bewegung in bereits eingenommene Richtungen trägt – oder zu Kollisionen mit Hindernissen bringt. Diesen Sinn, das heißt die Gerichtetheit der leiblich-sinnlichen Bewegungen im sozio-materiellen Feld, gilt es zu rekonstruieren.7 Dabei sind Begegnungen, Architekturen, Wahrnehmungen, Brüche, Veränderungen, Ermüdungen von entscheidender Bedeutung – sie gehen selbst ein in den Sinn des Handelns, sind ihm also nicht wie bei Weber äußerlich.8 7 | Dabei wird auch auf die etymologische Wurzel des Wortes Sinn zurückgegriffen, dass auf reisen, streben und Wege bzw. Richtungen Bezug nimmt – so beispielsweise auch heute noch im Wort »Uhrzeigersinn« (Kluge/Mitzka 1963). Dies gilt auch für sense in der englischen und französischen Sprache. 8 | Alfred Schütz, der Webers Ansatz mit Husserls Phänomenologie verknüpft, liegt mit seiner Interpretation des Sinnbegriffs dem hier skizzierten Vorschlag näher, da es ihm
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Wie in den folgenden Abschnitten deutlich gemacht wird, bringt eine solche Umdeutung des Sinnbegriffs eine stärkere Fokussierung auf Phänomene der Steuerung und damit auf Machtphänomene mit sich. Gerichtetheit impliziert Ordnungen bzw. Eingriffe in bestehende Ordnungen und lenkt die analytische Aufmerksamkeit auf Probleme sozialer Kontrolle und sozialen Wandels.9 Dies wird an vier Beispielen einer bewegungsfokussierten Analyse sozialen Sinns gezeigt, in denen auch weitere theoretische Aspekte verhandelt werden, um im Anschluss auf theoretischer Ebene diskutiert zu werden. Der Beitrag schließt dann mit einem vorläufigen Fazit der hier vorgestellten Perspektivierung des Wechselspiels von Bewegung, Materialität und Macht ab.
2. B e wegen : S tehen — B egegnen — F olgen — V erfehlen Im Folgenden wird in vier Szenen gezeigt, wie Bewegungen in unterschiedlichen Mustern verlaufen. Dabei ist erst einmal offen, ob diese Muster bestimmten, vorgegebenen Choreografien folgen oder ob sie als spontane Aushandlungen vor Ort zu charakterisieren sind. Der eine Pol, der mit Routinen, dem Habitus, Kanalisierungen und ähnlichem verknüpft ist, verweist auf Stabilität und soziale Kontrolle, während der andere Pol auf Wandel und Aushandlungen verweist und mit Spontaneität, Emergenz und Brüchen zu tun hat. Es ist Aufgabe der detaillierten Analyse zu untersuchen, wie eine Bewegung sich in einem Feld unterschiedlicher Kräfte zwischen diesen Polen bewegt und selbst eigene Kräfte ausübt. Genau diese dynamische Einbindung in ein Kraftfeld gibt der Analyse von Bewegungen anstatt von Zuständen, Vektoren oder Verteilungen ein großes Potential. Die Szenen stammen aus dem Kontext von unterschiedlichen Forschungsvorhaben. Sie dienen hier vor allem als Material, an dem Theorie weiter entwickelt, eingegrenzt und verdeutlicht wird und weniger als Gegenstand eigener Analyse. Deshalb steht erstens die methodische Reflexion im Hintergrund und deshalb wird zweitens auch nicht die volle Komplexität des sich in den vier Szenen abspielenden Geschehens behandelt. Sie sollen als Anhaltspunkt für die Einbildungskraft der Lesenden dienen und in ihrer Konkretheit zu weiteren Reflexionen anstoßen.
stärker um den Prozess bzw. die Konstitution des Sinns im Handlungsverlauf geht (Schütz 2004: 120-130). Ein entscheidender Unterschied bleibt aber, dass Schütz sich mit Husserl auf Bewusstseinsgehalte bezieht und nicht auf ein leiblich-sinnliches Verhältnis zur Welt, wie es hier in Anschluss an Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1974) verstanden wird. 9 | Insofern geht es um einen Machtbegriff, der sowohl Hierarchien als auch Ermöglichungen einschließt und Anschlussmöglichkeiten an den Begriff des Dispositivs bei Foucault (1978: 119-120) bietet.
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2.1 Warten am Alex Abbildung 1: Berlin Alexanderplatz, 2007
Stehen ist Handeln. Die junge Frau hält sich aktiv aufrecht (Abb. 1). Sie wartet zwar und zeigt im aufgenommenen Moment kein offenbares Interesse für ihre nähere Umgebung, ist aber in keiner Weise isoliert von ihrer Umgebung. Sie nutzt den Ständer des Entwertungsautomaten, um sich anzulehnen. Sie hält ihren linken Arm nah an ihrem Körper, legt so ihren Unterarm auf dem vor ihr stehenden Gepäck ab und muss weniger Kraft investieren, um dessen Gewicht zu halten. Dafür aber muss sie Tasche und Rollkoffer nah an ihrem Körper haben und beides aufeinander balancieren. Ihren rechten Arm kann sie auf den linken Unterarm legen und ihr Kinn wiederum in ihrer Hand stützen. Sie steht still. Doch die Zeit läuft weiter. Jede Haltung kostet Energie, sie ist ein Halten, das sich der Schwerkraft entgegensetzen muss. Doch nicht nur das, das Stehen ist auch eine Form des Wahrnehmens.10 Sie richtet ihren Blick aus, zeigt keine Aufmerksamkeit für die Personen um sie herum – weder für die junge Frau, die essend an ihr vorübergeht, noch für die lebhafte Familie schräg hinter sich, noch für den mit der Rolltreppe emporfahrenden Fotografen. Stehend nimmt die junge Frau auf das Geschehen um sich herum Bezug, wirkt selbst wie ein Hindernis im Fluss der Dinge und der Menschen, muss sich dazu aber auch den ständig zehrenden Kräften der Welt, den alltäglichen Abreibungen, dem Hunger, der Müdigkeit, Erschöpfung und dem Schmerz entgegensetzen.11 So kann sie in dieser 10 | Das inhärente Zusammengehen von Handeln und Wahrnehmen lässt sich auch begrifflich markieren und als Wahrnehmungshandeln (Frers 2007: 51-52) bezeichnen. 11 | Je nach Situierung mag dieses sich-Entgegensetzen vollständig im Hintergrund der Wahrnehmung aufgehen oder es nimmt sie vollständig ein. Darüber lässt sich anhand dieser bloßen Beobachtung keine Aussage treffen.
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Haltung verweilen, diese Haltung als Grundlage für weiteres nehmen, den vor ihr liegenden Fernsehturm betrachten, über ihre Reise nachdenken, über das was sie erlebt hat, wem sie begegnet ist – über Vergangenheit und Zukunft reflektieren, träumen, rechnen, hadern, hoffen. Gegen die eigentliche Intuition ist das Warten, ist das Verharren an einem Ort auch eine Bewegung. In der Statik eines Szenenauf baus betrachtet mag das Stehen als Stillstand erscheinen. Im umfassenden Fluss der sich stets und unaufhaltsam ändernden Welt (Ingold 2008) jedoch, ist jedes Stehen, jedes Warten ein Verharren, ein sich Halten, das Kraft erfordert – denn ohne diese Kraft würde die Bewegung zum Stillstand kommen, und damit zum Ende, zum Tod. Andersherum und damit weniger dramatisch ausgedrückt: in die Welt geworfen sind wir immer aktiv, auf die Welt orientiert, immer handelnd, wahrnehmend, eingebunden. Selbst wenn wir still sind, dösen, schlafen: wir geben unseren Gedanken Richtung, lassen ihnen mehr oder weniger freien Lauf, können uns lösen oder auch nicht, aber auch das Lösen, laufen lassen erfordert Kraft und eine bestimmte Haltung.12 Der Sinn und die Bewegung des Stehens, des Wartens ist also zum einen relational. Aus Perspektive der Vorbeigehenden verändert sich die Position der Stehenden und Wartenden stetig. Zum anderen ist sie aus sich heraus eine Bewegung, denn auch sie erfordert Kraft, sie leistet Arbeit. Sich stehend, gleichsam unverändert durch die Zeit zu bewegen erfordert Aufwand – die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung tut dies ebenso, sie geht damit gleichsam einher. Gleich zu erscheinen und nicht den zehrenden Kräften der voranschreitenden Entropie nachzugeben erfordert bei Dingen und bei Menschen Wartung: das Make-Up auffrischen, Frische in den Gang zu legen, schmieren, reparieren. Gleichzeitig demonstriert dieses Verharren auch Macht über die Zeit. Wie für de Certeaus Begriff der Strategie (de Certeau 1988: 23) entscheidend, besetzt das Verharren eine Stelle im Raum, hält ihn und übt damit Kontrolle aus, wirkt im Zusammenhang einer geschichtlich wie lokal-architekturalen Konstellation als Dispositiv (Foucault 1978: 119-120), in das Andere eintreten, an und in dem sie ihr Wahrnehmen und Handeln ausrichten müssen.
12 | Vgl. zur Müdigkeit auch Merleau-Ponty 1974: 501.
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2.2 Schwenk über den Fjord Abbildung 2: Kameraschwenk über die Stegastein Plattform, Aurlandsfjord, 2009
Begegnen ist Handeln. Ort der Szene ist die Stegastein Plattform über dem norwegischen Aurlandsfjord (Abb. 2). Die Plattform ist eine Konstruktion aus Holz, die sich auf einer Höhe von mehreren hundert Metern über dem Aurlandsfjord vom Berghang hinaus in den Himmel über den Fjord streckt.13 Ein angenehmer, warmer Wind streicht über die Haut und die Sonne scheint – es ist die wärmste Woche des Jahres. Eine österreichische Touristin hat im Rahmen des von mir durchgeführten Forschungsprojekts einen Fotoapparat mit Videofunktion bekommen, mit der Bitte zu filmen und die drei an der Kamera befestigten Fragen zu beantworten.14 Im hier gezeigten Ausschnitt beantwortet sie die zweite Frage: »Bitte filmen und erzählen Sie, was für Sie diesen Ort ausmacht. Nehmen Sie sich 13 | Die Plattform ist Teil der sogenannten norwegischen Tourismusroute, die moderne norwegische Architektur an 18 über Norwegen verteilten Orten zeigen soll, deren Landschaft besonders eindrucksvoll ist und die gleichzeitig etwas ab von den normalen Hauptverkehrsrouten liegen. Für einen Überblick vgl. Berre 2006. 14 | Mein Forschungsprojekt hat sich vor allem mit dem Zusammenhang von Landschaft, Architektur, Mobilität und Toiletten beschäftigt. Ziel des methodischen Vorgehens war es, Bildproduktion und mündliche Erzählung zu parallelisieren und diese in ihrer Simultaneität der Analyse zugänglich zu machen. Das dabei entstandene Datenmaterial ist komplex und lässt sich in Hinblick auf eine Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen analysieren, von der Medialität der Kamera über die Aushandlung der Kopräsenz von Filmenden und Nicht-Filmenden bis zu Aushandlungs- und Interpretationsprozessen in Paarbeziehungen. Bislang habe ich das Material nur in Hinblick auf die Präsenz und Nutzung von Toiletten systematisch analysiert. Zur Methode und Gegenstand vgl. Frers 2011.
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ruhig Zeit dafür«. Vorher ist sie bereits einige Schritte hinaus auf die Plattform gegangen und hat währenddessen die einführende Frage nach der Ankunft an diesem Ort beantwortet. Die Kamera hat dabei bislang die Plattform und das Geländer gezeigt und wurde nicht ruhig auf etwas hin fokussiert. Transkript:15 Frame oben links: hm (1) .hhh (1) den Ort macht au:s hhhhh die Einzigartigkeit der Natu::r (5 – geht weiter nach vorn, Kamera stabilisiert sich und erfasst nun auch den Himmel) Frame oben rechts: Größe (0,5 – Geräusche von der Kamera) der Fjorde (3 – Anfang eines langsamen Schwenks nach links) die Enge der Täler (0,5) Frame unten links: die vielen Wasserfälle (0,5) .hhh (2,5 – gegenüberliegende Gipfel kommen ins Bild) die schneebedeckten Berge (4,5 – wechselt zur linken Stegseite) und die unberührte Landschaft (4,5 – kommt an und richtet die Kamera nach unten) Frame unten rechts: (4 – die Ortschaft ist im Zentrum des Bildes) das Leben ohne Hektik und Stress: Nach der Ausrichtung der Kamera über das rechte Geländer hinweg auf das Panorama zum Aurlandsfjord erzählt die Filmende, dass »Einzigartigkeit der Natur« diesen Ort ausmacht. Sie geht auf der Plattform weiter nach vorne und beginnt mit einem langsamen Schwenk über die Plattform hinweg. Sie begleitet das Schwenken der Kamera vor ihrem Körper mit der Bewegung von der rechten auf die linke Seite der Plattform. Während des Schwenks zählt sie weitere Merkmale auf, die diesen Ort für sie ausmachen: »Größe der Fjorde« und »die Enge der Täler«. Die Kamera ist nun auf die gegenüberliegende Bergkette ausgerichtet, sie zählt weiter auf: »die vielen Wasserfälle«, »die schneebedeckten Berge« – alle genannten Merkmale rücken nahezu gleichzeitig mit ihrer Erwähnung in das Zentrum des aufgenommenen Bildausschnitts. Die Bewegung des Narrativs und Bewegung der Perspektive von Kamera und Filmerin sind synchron.16 Während sie sich über das Zentrum der Plattform bewegt, hört die Erzählung auf. Auf die menschengemachte Architektur des Aussichtspunktes wird nicht Bezug genommen. Stattdessen wird diese Zeit der Überquerung mit der Äußerung »und die unberührte Landschaft« überbrückt. Bis zu diesem Zeitpunkt begleiten sich Erzählung und Bildausschnitt. Zu einer Begegnung im emphatischen Sinne, einer unerwarteten 15 | In diesem vereinfachten Transkript wird der in der Konversationsanalyse geläufigen Notation gefolgt, das heißt Zahlen in Klammern geben Pausenlängen in Sekunden an; .hh gibt ein hörbares Ein-, hh ein hörbares Ausatmen wieder; Doppelpunkte geben einen gedehnten Laut an. Zusätzlich wird bei einigen Pausen hinter dem Gedankenstrich angegeben, was die Kamera tut. 16 | Kamera und filmende Person lassen sich im Sinne von Latour als Hybrid charakterisieren, das sich anders bewegt und mit dem umgebenden sozio-materialen Feld anders interagiert als ohne Kamera (vgl. dazu Frers 2009b).
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Wendung,17 kommt es erst jetzt: am linken Geländer angekommen schwenkt die Kamera über das Geländer und bringt besiedelte, bebaute Landschaft ins Bild. Nach dem Eintritt der Siedlung ins Bild vergehen vier Sekunden das letzte Merkmal dieses Ortes aufgezählt wird: »das Leben ohne Hektik und Stress«. Der Sinn des Kameraschwenks bringt in synchroner Weise eine Vielzahl von Merkmalen in das Bild und in die Erzählung. Die Choreografie des Schwenks, einmal begonnen, wird nicht abgebrochen, sie trägt das Sichtbare und das Gesagte gemeinsam in eine Richtung. Doch in dieser Choreografie, im Sinn dieser Bewegung, liegt auch die Begegnung mit etwas anderem, etwas unerwartetem. Der Sinn der Bewegung geht über die reine, gedachte Intention der Filmenden hinaus, die beginnt, ein postkartengleiches Panorama der unberührten, reinen norwegischen Natur zu zeigen, wie sie in ihrem Tonfall und in der Wiedergabe von Klischees über Norwegen und seine Natur dokumentiert.18 Doch die nichtintendierte, aber im Sinn der Bewegung liegende Begegnung mit der von Straßen durchzogenen, bebauten und betonierten Ortschaft ergänzt auch die Erzählung mit weiterem Sinn: die Begegnung im Verlauf des Kameraschwenks wird auf kunstvolle Weise in die Bewegung der Erzählung integriert, die sich nun dem »Leben ohne Hektik und Stress« zugewendet hat. Die vollständige Synchronie geht für eine Weile verloren. Die Bewegung der Erzählung, der Sinn der Erzählung muss die Bewegung der Kamera, den Sinn der Kamera und des sie führenden Leibes gleichsam erst einholen. Die Begegnung (hier mit der berührten Natur) stellt sich als Handeln dar, in dem sich unterschiedliche Bewegungen treffen und als neue Bewegung ausgehandelt werden – egal ob bislang parallel oder aus unterschiedlichen Richtungen kommend. Insofern unterscheidet sich die gleichsam soziale, weil auf andere und anderes bezogene, Bewegung von einer rein physikalischen Bewegung, in der die vor der Kollision bekannten Kräfte sich auf berechenbare Weise auswirken und in unterschiedliche Energieformen umwandeln. Das Ergebnis der in der leiblich-sozialen Begegnung stattfindenden Aushandlung ist in einem gewissen Maße offen. Bewegungen und damit auch die dazugehörigen Begegnungen werden in einem ständigen, offenen Prozess ausgehandelt. Eine Begegnung ist also nicht etwas bloß Momenthaftes, kein Punkt in der Zeit. Sie tritt in den Horizont der Aufmerksamkeit ein, bekommt im Aufmerksamkeitsgeschehen ein mehr oder weniger großes Gewicht (Waldenfels 2004) und wird dort – im Gemenge von bewegten Dingen, Ideen, Körpern, Absichten, Massen, Vorstellungen, Geschwindigkeiten, Haltungen – be- und verhandelt und in neuen Sinn, in neue Richtungen gelenkt. 17 | Vgl. hierzu auch Dewsbury 2000 und Laurier/Philo 2006. Der Begriff der Störung (Degen 2008; Frers 2010b) könnte hier in vergleichbarer Weise aufgerufen werden und ließe sich auch im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit Erfahrungen der Abwesenheit fruchtbar machen. 18 | Hier werden habitualisierte Ausdrucksformen abgerufen, die sich in kulturell geprägte Wahrnehmungsmuster einordnen lassen (vgl. dazu auch Prinz 2014: 299ff.).
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Hier lässt sich wieder an Merleau-Pontys Verständnis des Sinnbegriffs anknüpfen: »Ein Phänomen löst ein anderes aus, nicht durch ein objektives Wirkungsverhältnis, sondern durch den Sinn, den es darbietet: ein eigentümlicher Seinsgrund, gleichsam ein tätiger Grund, orientiert den Fluß der Phänomene, ohne in irgendeinem für sich genommen explizit gesetzt bzw. setzbar zu sein. Auf solche Weise motiviert die Intention der Blickwendung im Verband mit dem Festbleiben des Anblicks die Illusion einer Bewegung des Gegenstandes.« (Merleau-Ponty 1974: 73)
Merleau-Ponty behandelt hier die Motivation, wobei der Begriff Motivation (vom lateinischen movere, bewegen) ebenfalls auf die Bewegung verweist. Phänomene in ihrer Wirksamkeit sind nicht statisch, selbst wenn sie als Grund19 aufgefasst werden – denn auch der Grund muss als tätiger gefasst werden. Blicke wie andere Handlungen gehen nicht von einem aktiven Subjekt aus, das sich auf eine passive Umwelt bezieht – das Gesehene und das Sehen gehen miteinander um, umschließen sich, nähern sich an und entfernen sich. Auch Sehen ist Bewegen und der wahrgenommene Sinn ist somit eine veränderte Bewegung, die weder in ein Subjekt noch in ein Objekt verlagert werden kann.
2.3 Spuren im Schnee Abbildung 3: Stegastein Plattform, Aurlandsfjord, 2009
19 | Heißt in diesem Kontext also nicht als darauf erscheinende Figur (Merleau-Ponty 1974: 22, 32, 43-45).
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Folgen ist Handeln. Am Ende der Plattform steht eine Person (Abb. 3). Sie ist zu Fuß dorthin gelangt. Im Vordergrund des Fotos ist zwischen einer kaum zu überschauenden Vielzahl von Fußspuren ein frischer Abdruck zu sehen, dessen Profil bald seine scharfen Konturen verlieren wird. Der Pfad jedoch ist deutlich: er verläuft entlang der Mitte der hölzernen Plattform. Die meisten Leute, die in der letzten Zeit hier waren, sind offenbar nicht an den Geländern entlang gelaufen. Es ist unklar, wie genau der Pfad entstanden ist, aber die versammelten Spuren zeigen seine Ausrichtung, sie zeigen, wo es lang geht. Erst gegen Ende der Plattform, einige Schritte vor der Scheibe, die die Plattform nach vorne hin abschließt, öffnet sich der schmale Pfad zur rechten Seite – dahin, wo der Blick der im klassischen Sinne erhabenen20 norwegischen Natur begegnet, dahin, wo auch jetzt eine Person steht und in den Abgrund hinunterschaut. Gemeinsam mit anderen wird ein Sinn eingenommen und etabliert, einer Richtung wird gefolgt und diese damit als solche ausgewiesen. Die Bewegung hinterlässt Spuren. Wie alle Bewegung, so geht auch sie mit Friktion einher, verändert und beeinflusst die Umgebung, durch die sie sich erstreckt. Verwirbelungen oder Turbulenzen entstehen und binden andere Dinge und Menschen,21 Abrieb wird erzeugt, mit jedem Schritt aufs Neue. Selten sind Spuren so deutlich wie Fußabdrücke im Schnee oder im Sand. Hier erfordert es nur wenige Schritte, nur eine einzige Person, um einen Pfad entstehen zu lassen, der Nachkommenden den Zugang zeigt, erleichtert und nahelegt – so wie das das Gehen in der Mitte der Plattform wesentlich leichter ist als das Stapfen durch den dicken Schneematsch an den Seiten. Auf anderen Untergründen mag es viele Tausende von Schritten erfordern, bis eine deutliche Spur erscheint. Eine hinterlassene Spur ist jedoch nicht immer eine Hilfe – eine abgeschliffene Treppe mit ungleichen Abständen in den Stufen kann eine Gefährdung sein und das Folgen mit der Zeit immer schwerer machen. Die Bewegung ist verwickelt mit der Welt, sie kerbt sich ein, wird gemeinsam hervorgebracht und zeigt sich als soziale, als geteilte, als gefolgte. Bewegungen generieren Sinn in der Welt, sowohl in ihrer direkten Präsenz, als auch in ihren 20 | Das Erhabene ist eine Kategorie der Ästhetik von Kant und wird vom Schönen dadurch differenziert, dass es (a) als das Mathematisch-Erhabene schlechthin groß ist, sich also durch seine die Sinne übersteigende Größe auszeichnet (Kant 2006: 110-114) oder sich (b) als das Dynamisch-Erhabende durch seine Gewalt auszeichnet, Furcht erregend ist, aber trotzdem vom eigenen Urteil gezähmt wird und die Stärke der eigenen Anschauung zeigt (Kant 2006: 127-129). Das Erhabene gefällt also aufgrund eines moralischen Urteils, obwohl es die Sinne zu überwältigen droht. Vgl. dazu auch den Begriff sublime bei Burke 1990. 21 | Die Einführung des Turbulenzbegriffs geht auf einen Text von Michel Serres (2010) zurück, der im Rahmen der neueren Mobilitätsforschung ein Echo gefunden hat (Anderson/ Wylie 2009; Bissell 2011) und der erst vor einigen Jahren auch ins Deutsche übersetzt und rezipiert wurde (Gethmann 2013).
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vielfältigen Spuren.22 Das Folgen ist keine Notwendigkeit, wie die Spuren zeigen, die neben dem zentralen Pfad im Schnee zu sehen sind. Jeder einzelne Schritt erfordert aufs Neue eine eigene Ausrichtung. Der Aufwand des Folgens jedoch ist hier, wie häufig, geringer als der des Ausweichens oder des Abweichens. Gleichwohl ist das Folgen eine eigene Leistung, die als solche erbracht werden muss. Die Soziologie, insbesondere in allen Traditionen die sich als kritisch kennzeichnen, weist dem bloßen Folgen einen geringeren Status zu – die Leistung des eigentlich menschlichen Geistes sei eine kritische, differenzierende, eigene, individuelle.23 Die geistlose Masse folgt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das, was als »bloßes« Nachfolgen erscheint, stets eine Bezugnahme auf die soziale und materielle Umgebung beinhaltet und so eine Leistung ist, die jedes Mal neu erbracht werden muss – so wie in der Perspektive der Ethnomethodologie alles Handeln achievement ist, dass von den Teilnehmenden gemeinsam hervorgebracht wird.24 Die zentrale Platzierung dieser Errungenschaft – das Können im Alltag (und das dazugehörige display) – zeichnet die ethnomethodologische Perspektive aus, die den Betrachtungen in diesem Beitrag wenn nicht im strengen Sinne zu Grunde liegt, so doch aber richtungsweisend ist. Einer Bewegung zu folgen, sich einzupassen (Meier 2009) ist nicht mit einem geistlosen Hinterhertreiben gleichzusetzen. Das Folgen kann sogar zu einer größeren Leistung als das Aus- oder Abweichen werden – beispielsweise wenn es nicht leicht mit der eigenen Dynamik zusammengeht oder weil andere Kräfte in andere Richtungen wirken. In jedem Fall wird es aktiv aufrechterhalten, situativ hergestellt und in der Bewegung sich ständig ändernden Umständen angepasst, um im und mit dem eigenen bewegten Leib Sinn zu (re)produzieren.
22 | Die Figur der Spur wird im folgenden Abschnitt zur Abwesenheit weiter untersucht. Hier geht es jedoch nicht nur um das von der Spur angezeigte Andere, sondern hauptsächlich um die Verwandtschaft zwischen Pfad und Spur. Vgl. dazu auch Ingold (2010). 23 | Vgl. beispielsweise in der Figur des listenreichen Odysseus verkörpert, wobei Horkheimer und Adorno (1987: 81-84) auch die Aporien dieser Figur mitdenken. 24 | Vgl. dazu auch Garfinkel 1967 und Maynard/Clayman 1991. In der französischen Tradition gibt es verwandte Perspektiven, die sich von Bourdieus Kritik am akademischen Überhang der Soziologie (Bourdieu 1987b, 1988), De Certeaus Kunst des Handelns (1988), Arbeiten von Michel Serres und Jacques Rancière bis in die gegenwärtigen Arbeiten im Umfeld von Luc Boltanski (Boltanski/Chiapello 2003) erstrecken. Eine vergleichbar deutliche Position hat es meiner Erfahrung nach in der hochkulturlastigen (Frers 2010a) deutschsprachigen Soziologie – trotz vieler Ausnahmen – nicht zu vergleichbarer Prominenz gebracht. Selbst die Erforschung des Lebenswelt-Konzepts in Anschluss an Alfred Schütz (2004) scheint dem außeralltäglichen, besonderen, eigenen eine gewisse Aura vorbehalten zu haben.
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2.4 Abwesenheit Abbildung 4: Verfallenes Schlafzimmer, 2012
Verfehlen, Vermissen, Suchen – Abwesenheit Erfahren – ist Handeln. Wer lag in diesem Bett? Wurde die Hütte, in der dieses Schlafzimmer sich befindet, von einem Tag auf den anderen aufgegeben oder weshalb steht noch eine halb abgebrannte Kerze auf der Kommode? Jemand hat den Tisch umgestürzt und der Boden ist voller Unrat (Abb. 4). Das Bett jedoch zieht den Blick und die Perspektive der Kamera an. Die Matratze ist halb verrottet, ein Patchwork-Kissen liegt in der Ecke, etwas schimmeliger Stoff hängt über dem Bettrahmen. Die Rosenmalerei bildet einen merkwürdigen Kontrast zum Rest – Verfall und Rosenmalerei passen nicht zusammen. Diese mangelnde Ordnung ist charakteristisch für Ruinen und verfallene Gebäude, wo unerwartete Mischungen die Umherwandernden überraschen, erschrecken, amüsieren oder anekeln (Edensor 2005; DeSilvey 2006). In diese Mixtur aus Gefühlen gehört auch die Erfahrung der Abwesenheit. Etwas fehlt hier. Die Wartung, die Sauberhaltung, das Zurückdrängen des Verfalls, die pflegende, reparierende menschliche Hand. Wer auch immer hier gewohnt hat, ist fort. Der Blick sucht nach Spuren, versucht dem Gang vergangener Ereignisse zu folgen, zu sehen, was nicht mehr zu sehen ist. Es ist unserer Vorstellungskraft überlassen, diese Abwesenheit zu füllen. Die Abwesenheit verweist auf die Differenz zwischen dem Hier und einem vorherigen Dort, das sich nicht mehr zeigt, das in der Spur verschwunden ist. Ohne die Spur25 – sowohl in uns selbst, in unserer Erwartungshaltung, in der Art wie 25 | Der Eigencharakter der Spur ist sowohl für die Dekonstruktion wegweisend (Derrida 1976) als auch für daran anschließende Erwägungen sowohl in der Phänomenologie von
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wir uns in einen Raum hineinbewegen als auch in unserer Umgebung, in den Dingen, Anordnungen oder Unordnungen – würden wir die Abwesenheit als solche nicht erfahren. Stattdessen wäre dort ein Nichts, das aber nicht einmal als Leerstelle, als leerer Signifikant auftaucht. Die Spur und die Abwesenheit wurden im Sinne Derridas (1979) als der Materialität, der Architektur, der Körperlichkeit entgegengestellt charakterisiert – Abwesenheit und Spur sind dann Ursprung der Dekonstruktion, der Sphäre der Sprache eigen, nicht der Sphäre des Weltlichen, der Sphäre der leiblichen Phänomenologie (Harrison 2009; Wylie 2009). Wird Abwesenheit jedoch nicht als abstrakte Kategorie, sondern als konkrete Erfahrung begriffen, so wird deutlich, dass sie in Orten, in Materialität, Architekturen, Körpern, Sinnen, Leiblichkeit verankert ist.26 Die Erfahrung der Abwesenheit von etwas oder jemanden ist schwach, wenn sie etwas aufruft, das wenig Rückhalt im leiblichen Weltbezug der Person hat. Für mich als Fotografen war der Besuch in der oben abgebildeten Hütte nur wenig gefühlsgeladen. Für eine Person, die dort ihre Urlaube verbracht hat, selbst eine ähnliche Hütte besitzt oder besaß oder mit solchen Bildern wichtige Erinnerungen verknüpft, kann diese Erfahrung von Abwesenheit traurig, erschreckend oder erschütternd sein. Wie kommt diese Erfahrung zustande? Das Abwesende absorbiert die Bewegung, es lässt sie ins Leere laufen, bietet ihr keinen Widerstand und keinen Halt.27 Der Sinn einer tief im Sein der Person verankerten Bewegung kann so zu einem fallenden, stürzenden werden, der droht, alles mit sich zu reißen. Ist die Bewegung, der Sinn jedoch leicht, veränderlich, beweglich, so kann die Abwesenheit auch leicht übergangen werden, ist kaum merklich und sogleich wieder vergessen. Auch dieser Aspekt des Sinns ist sozial verankert und organisiert. Die Abwesenheit kann zur Suche veranlassen. Der Sinn der suchenden Bewegung ist auf ungewöhnliche Weise geöffnet und so eben auch verletzlich – gemeinsam, sowohl auf spielerische Art als auch in verzweifelter Art und Weise wie bei der Suche nach einem verloren gegangen Objekt oder einer Person (Sommer 2002). An Orten der Abwesenheit wie Friedhöfen und Mahnmalen in Stein geschlagen und architektonisch arrangiert, wird die Bewegung gezielt zum Abwesenden hin gelenkt (Meyer/Woodthorpe 2008). Orte des Verfalls wie Ruinen, Halden und Brachen hingegen zeigen die Risse im sozialen Gefüge. Risse, die entstehen, wenn dem steten Abtrag, der Ermüdung von Mensch und Material, dem Abschleifen des Sinns nicht entgegengewirkt wird. Emmanuel Lévinas (2012) als auch in der neueren deutschen Kulturwissenschaft (Krämer 2007). 26 | Vgl. dazu und im Folgenden die Beiträge im Sonderheft der Zeitschrift Cultural Geographies zum Thema Absence (Meier u.a. 2013). 27 | Merleau-Ponty diskutiert dies unter anderem am Beispiel der ausbleibenden Antwort von einem verstorbenen Freund, dabei wird die Schmerzhaftigkeit einer solchen erfahrenen Abwesenheit auch an Vermeidungstaktiken deutlich (Merleau-Ponty 1974: 105).
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2.5 Gerichtetheit und Sinn Egal ob die Bewegung statisch erscheinen mag, wie die des Wartens, ob sie sich nur als hinterherlaufen präsentiert oder auch als emphatisch aufgeladene Begegnung; ob sie ein klares Ziel hat oder möglicherweise in eine Leere stürzt – sie trägt einen Sinn, wird von einem Sinn getragen, ist selbst Sinn, gibt Sinn und verändert Sinn. In Bewegungen wird soziale Ordnung gemacht. Menschen, Tiere und Dinge werden ausgerichtet, ihre Bahnen werden gesteuert, ihre wahrnehmenden Leiber kanalisiert (Frers 2007: 119-124; Sørensen 2014). Das Problem des Zusammenhangs von Struktur und Handlung lässt sich als Organisation von Bewegungen und damit als Organisation von Sinn begreifen. Jede einzelne Bewegung ist Bestandteil eines Gemenges von Bewegungen, das auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Muster und damit auch unterschiedliche Hierarchisierungen aufweist. Die Übersetzung zwischen Mikro- und Makroebene, zwischen individuellem und gesellschaftlichem Handeln ist in diesem Gemenge nicht klar verortet. Wie andere Systeme von hoher Komplexität gibt es unterschiedliche Grade von Ordnung und Chaos, die sowohl in ausgesprochen stabilen Bahnen verlaufen können, an deren Rändern es aber immer zu Turbulenzen kommt, welche zu unerwarteten, kaum zu berechnenden Momenten umschlagen können. In diesem Zusammenhang kommt der Habitualisierung und der Herausbildung von Routinen besondere Bedeutung zu. Die Nähe der hier vorgestellten Perspektive zu diesen Konzepten ist groß, deshalb sollen die kleinen Unterschiede besonders herausgestellt werden. Im Unterschied zum Habitus als Verkörperung externer sozialer Strukturen – die sich im Körper niederschlagen und gewissermaßen Teil des Seins werden – bleibt der hier angesprochene sozio-materiale Sinn immer ein bewegter. Es geht als weniger um die Figur der Sedimentierung im Sein28 oder der des Habitus als disponierender Haltung29, die gewissermaßen als Anlage bereit steht, sondern vor allem um eingenommenen Sinn, um gerichtete Bewegungen, in denen Trägheit und Masse – sowohl kollektive als auch individuelle – von zentraler Bedeutung sind, die aber eben nicht allein stehen. Die Metapher des bewegten oder eingenommenen Sinns bringt also mehr Dynamik mit sich als der Begriff des Habitus.
28 | So wird Habitualisierung auch bei Merleau-Ponty (1974: 389-399) gefasst, der in vielerlei Weise als ein stiller Pate von Bourdieus (1987a) Habitustheorie angesehen werden kann (Wacquant 1992: 20). Allerdings betont Merleau-Ponty (1974: 158) auch, dass das Bild der Sedimentation nicht zur Vorstellung einer trägen Masse verleiten soll. 29 | Zum Verhältnis von Bourdieus Habitus, Foucaults Dispositiv und Merleau-Ponty vgl. auch Prinz 2014.
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3. S ozialer S inn in B e wegung Mit der Bewegung durch die Welt schaffen wir Sinn. Mit jedem einzelnen Schritt erschaffen wir Pfade aufs Neue. Sozialer Zusammenhang oder sozialer Sinn weist sich so als handlungspraktische Errungenschaft der Akteure aus, als ein achievement im Sinne der Ethnomethodologie (Goodwin 1980; Hausendorf 2013). Unsere sozio-materielle Umgebung selbst ist auch in Bewegung, sie hat ihren eigenen Sinn, zu dem wir uns verhalten müssen, in den wir uns einordnen und deren Abläufe wir in unseren Habitus inkorporieren. Soziale Struktur ist also nicht bloß statisch und dadurch strukturierend (Giddens 1984). Als bewegter Sinn gefasst und auf unterschiedlichen Aggregationsebenen verortet, gewinnt sie eine eigene Dynamik und bringt spezifische Reibungen, Verwirbelungen und Unregelmäßigkeiten mit sich. Die Untersuchung der Reibung als zentralem Bestandteil jedweder Bewegung eröffnet auch andere Perspektiven auf das Problem der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Die Ermüdung von Menschen in Bewegung, das Abschleifen und Verwittern der Dinge, die Durchfurchung und Erosion ganzer Landschaften – all dies verweist auf Zusammenhänge zwischen Materialität und sozialer Ordnung bzw. sozialem Handeln, die sich im Ablauf und in der Organisation von Bewegungen immer wieder aufs Neue ergeben, an- und umordnen. Der Wahrnehmung kommt dabei eine besondere Stelle zu. Da das Wahrnehmen selbst in den Fluss der Bewegungen eingegliedert ist, da es selbst ein Handeln ist, stellt es zugleich die zur Reflexion notwendige Distanz her und ist in die ständige Aufrechterhaltung der Bewegung eingebunden. Soziale Ordnung – hier als sinnliche Ordnung der Bewegung gefasst – stellt sich so als gegebene dar, nicht als im Handeln gemachte. Wenn sozialer Sinn in der Sinnlichkeit einer Bewegung aufgeht, also sowohl in ihrer Richtung als auch in ihren sinnlich-wahrnehmungsmäßigen Aspekten, so ist die Rekonstruktion eben dieses Sinns einerseits alles andere als trivial, da er gleichsam im Wahrnehmen, im sinnlich-bewegten Bezug zur Welt selbst liegt. Deshalb ist die Etablierung sozialer Kontrolle über Wahrnehmungs- und Bewegungssteuerung gleichermaßen subtil und effektiv.30 Andererseits aber ist die Rekonstruktion dieses Sinns einfach, da er sich in gewisser Weise als Verlauf und Ausrichtung von Bewegung erfassen lässt. Diese lassen sich beobachten, aufzeichnen und in mehr oder weniger großer Detailtiefe analysieren. Soziologische Analyse kann also die Sinnlichkeit des Sozialen aus Bewegungen heraus rekonstruieren und sich dabei, wie bereits angemerkt, auf unterschiedliche Aggregationsebenen beziehen, das heißt auf einzelne Be30 | Vgl. hierzu auch den ebenfalls auf die Sphäre der Wahrnehmung abzielenden aber gleichzeitig statischeren Begriff der Atmosphäre (Böhme 1995; Thibaud 2003; Kazig 2007; Anderson 2009). Der Begriff der Hülle bzw. der Prozess der Einhüllung hingegen lässt sich in das hier präsentierte Argument einfügen, da Hüllen nicht statisch sind, sondern beweglich, wachsend und schrumpfend und sich gleichzeitig durch ihr Zusammenspiel mit den Sinnen auszeichnen (Frers 2007, 2009a: 11-12).
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wegungen oder Situationen oder auch auf Makrophänomene wie Migrations- und Verkehrsströme. Die hier entwickelte analytische Ausrichtung geht mit dem sogenannten mobilities turn (Urry 2007; Cresswell u.a. 2011) einher und bietet eine passende theoretische Orientierung zur Bearbeitung der dafür relevanten sozialen Phänomene – von Tourismus und Migration bis zu Radfahren und Tanzen. Die Untersuchung der Rolle des Sinnlichen in der Soziologie hat in diesem Beitrag dazu gedient, den von Max Weber etablierten Begriff des gemeinten Sinns als grundlegenden Ausgangspunkt soziologischer Analyse in Frage zu stellen. Wie hier gezeigt wurde, gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Sinnlichkeit, die sich über den wahrnehmend-handelnden Bezug zur Welt definiert, und der Sinngebung, die sich durch gerichtete Bewegungen etabliert. Diese Ausrichtungen sind keine zu einem bestimmten Zeitpunkt festzustellenden und im Geist zu verortenden Intentionen oder gemeinte Absichten, sondern leiblich hervorgebracht und nur im Zusammenhang mit der sozialen und materiellen Umgebung zu verfolgen. Soziale Aspekte sind so zusammen mit Materialität und Sinnlichkeit Ausgangspunkt der Analyse und über den bewegten und wahrnehmend-handelnden Leib ineinander verwoben. Sie kommen nicht als später zu bestimmte Faktoren zu einem reinen Sozialen hinzu und modifizieren dieses also nicht erst im Nachhinein. Dabei muss an dieser Stelle allerdings offen bleiben, inwieweit der nicht-triviale Bezug einer solchen Sinnanalyse, also die Komponente des in der Bewegung stattfindenden sinnlichen Wahrnehmens, und der offen zugängliche Bezug darauf, also die Verfolgung von Bewegungen und ihren Ausrichtungen, sich überlappen oder auch nicht. Dieser Beitrag dient vor allem der ersten Ausweisung einer neuen Analyserichtung. Welche weiteren Konsequenzen sich im Verfolgen dieser Richtung ergeben ist noch unklar. Wie für das hier präsentierte Verständnis des sozialen Sinns gilt auch für die Analyse selbst, dass die Vorgabe einer Richtung sich nur eingeschränkt mit einer Intention gleichsetzen lässt. Die Intention hat ein Ziel, eine Absicht vor Augen. Welche Begegnungen sich hingegen aus dem Verfolgen einer Richtung ergeben, wo die Bewegung hinführt und welche Pfade genommen oder geschaffen werden ist offen und vorher nicht vollständig abzusehen.
A bbildungsverzeichnis Abbilung 1: Berlin Alexanderplatz, 2007 © Lars Frers, Creative Commons by-sa 4.0 International Abbilung 2: Kameraschwenk über die Stegastein Plattform, 2009
© Lars Frers, Creative Commons by-sa 4.0 International Abbilung 3: Stegastein Plattform, 2009 © Lars Frers, Creative Commons by-sa 4.0 International Abbilung 4: Verfallenes Schlafzimmer, 2012 © Lars Frers, Creative Commons by-sa 4.0 International
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A Conversation with Jane M. Jacobs Questions by Hanna Katharina Göbel
A rchitecture and its S ocio -M aterial A gency Hanna Katharina Göbel (HG): For this edited volume, Sophia Prinz and I have invited a group of researchers from the social sciences to explore the sensual and aesthetic agencies of various elements of material culture (architecture, everyday items, scientific and knowledge objects, objects of art). We concentrate on praxeological points of view (approaches derived from science and technology studies and actor-network theory, as well as vitalist, phenomenologist, pragmatist, ethnomethodological and ethnographical perspectives). The key concern is to bring together ways of theorizing and actually studying the »makings« of the social sensorium. Your area of expertise is urban studies; you are a human geographer by discipline and one of your research fields is concerned with the relationship between architecture and society. You have developed a great theoretical and methodological ANT toolbox for the analysis of architecture. First, I would like to talk to you about your Latourian approach to the sociomaterial agencies of architecture. How does such a praxeological approach of theorizing architecture change its object of study? From your point of view, how is architecture composed and/or differently composed than other objects of material culture in the city or elsewhere? What, if any, are the specific social and/ or cultural agencies of architecture? Jane M. Jacobs (JMJ): I have long been interested the role the built environment, or architecture, plays in society. This interest began very early in my career when I was working in Australia on the issue of indigenous land rights. At that point in time, in the 1980s, indigenous people were struggling to have their land-based cultural sites of significance protected and recognised. They were slowly getting that recognition, but by way of a framework that had been initially generated by legislation designed to protect non-Aboriginal sites of cultural significance, a large number of which were architectural sites. So very early on in my research career I was confronted with the kinds of social judgements that architecture gives rise to.
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In the context of settler Australia, for example, there was little doubt that certain buildings produced by the colonial settler history deserved legal recognition and protection as national heritage. In contrast, Aborigines had to struggle to get a non-architecturally expressed place of significance recognised and protected. So at a very profound level I began to understand the social power of architecture and the built environment. In the early history of Australia, architecture expressed the assumption that the British colonists were more civilised than the indigenous Aborigines, who did not build permanent edifices. And the fact that the British had an architectural tradition – linked to centuries-old professional, aesthetic and engineering conventions – itself helped to legitimate the territorial acquisition of places like Australia, which were understood to be »empty« (terra nullius) because unproductively occupied. It was this stark experience of seeing the assumed symbolic and cultural legitimacy of architecture vis-à-vis other non-architecturally expressed interests in territory that led me to investigate more systematically how architecture operated culturally and politically. In my next key project (which was in fact my somewhat belated PhD), I examined two contentious planning battles in the City of London, where very differently empowered interest groups were locked in debate over the course of urban regeneration (see Jacobs 1994a, 1994b, 1996). Centre stage of those battles were buildings understood to be significant, either because of some architectural worth (they were, for example, excellent examples of a specific style, or of a renowned architect) or through their accrued social worth (they were, for example, buildings linked to, and so expressive of, a certain social history). This research was on buildings and architecture, but buildings and architecture themselves were decentred as the key evidentiary foci of analysis. To understand why these buildings were creating such a political fuss and generating prolonged debates and costly delays to development plans, one had to look beyond the buildings themselves. None of this debate could be accounted for by some »intrinsic« worth of the building or its architect. My method was, in essence, one of tracing both the social production of the built environment and its contestation. The work was in large part constructivist, in that it looked at the way meaning was socially produced and then activated in a politics of interest. It was also materialist, in so far as it took into account determining transformations in the economic and political context. But for the most part this research approached architecture as a semiotic, symbolic and discursive phenomenon. It was, after all, the late 1980s and early 1990s! My investigation into the cultural politics of architecture in redeveloping London was successful in demonstrating that architecture was social, but as I noted in my paper entitled »A geography of big things«, such studies nonetheless assumed that »the technical and formal qualities of buildings [were] a faint skeletal infrastructure for studies more concerned with meaning and the politics of representation« (Jacobs 2006: 2). It was in that paper that I first outlined my
A Conversation with Jane M. Jacobs
interest in rethinking the way social scientists studied architecture. And it was in that paper that I outlined how sociologies of technology, including the work of Bruno Latour, might assist in that project. At that point, I was not drawing on Latour as a way of generating a praxeological approach to architecture, although I have ended up more recently doing this. My initial interest in Latour was because he was doing, as he described it, a »material semiotics«. This concept of material semiotics provided the intellectual arc from the representational and semiotic assumptions of my earlier work on architecture, to an approach that took the buildings themselves seriously: not simply as context or as passive objects of meaning production, nor even as stable formed objects, but as »building events«. Through the concept of »building events«, I sought to prize open the black box of the building as something static and materially constant around which social action arises, be that embodied use or discursive formations. I sought to bring into view a co-produced world in which the material and the social worked together to create »buildings« and »architecture«. With my collaborators at that time, Stephen Cairns and Ignaz Strebel, I began to think about the diverse fields of relations that held buildings in place over time and in space. We began to see the materiality of a building as a relational effect. Its »thing-ness« we deemed to be an achievement of a diverse network of associates and associations. Conceived of in this way, we saw the building as always being made or unmade, always doing the work of holding together or pulling apart. It is perhaps not surprising that one conclusion to this line of thinking was my recently co-authored book with Stephen Cairns, Buildings Must Die: A Perverse View of Architecture (2014), which is a meditation on the end conditions of buildings. When one thinks of buildings and architecture as »events« then one is generating a perspective that is action-filled and dynamic – vital, and so necessarily a site of practice. My most explicit statement on this was done in conjunction with Peter Merriman, where we located architecture fully in the realm of practice. Of course, it is in some respects self-evident that architecture is praxeological. Buildings are made by experts and non-experts alike, through work such as design, engineering and construction. And that initial act of making is elaborated upon in various ways by others actions, such as conserving, maintaining, DIYing, home-making, cleaning, decorating, vandalizing, or demolishing. And not all of this action is in the hands and minds of humans. We might think of various non-human architectural practitioners, from rodents through to the inanimate force of construction elements such as weatherproofing, seals, joists, trusses, as well as rusting and spalling. The idea of a »building event« transforms the stable architectural object (architecture-as-noun) into architectural doings (architectureas-verb). From a praxeological point of view, architectural agency is everywhere immanent. However, this does not mean that all agents are equal or that they are working within the same temporality. There are practitioners and practices that
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are especially powerful, be that the legitimated and professionalized architect, the property market or the earthquake. There is still a critical politics of concern to be considered in praxeological architecture.
A rchitecture and »M odern « I nscrip tions HG: Among many other things, your research engages with inscriptions of architecture as modern and how they matter to the practices you look at. For instance, in one of your research projects together with Stephen Cairns and Ignaz Strebel, you compared high-rise housing in Glasgow and Singapore. In your coauthored book with Stephen Cairns (2014), you invert the modern premises of architecture when focussing on the death of buildings. So, in what sort of way do these inscriptions of architecture haunt contemporary practices with and in buildings and how do they (still) act as a productive force? JMJ: For a number of years we recorded and reflected upon two modernist, highrise housing developments, one in Singapore and one in Glasgow. We embarked on that comparison as a way of simply saying something about the diverse fortunes of a modernist architectural vision for mass housing, one that claimed to be generic and generalizable. We wanted to show how locality and context messed up such purified visions. Two modernist high-rise housing visions developed and realised through two distinct, bureaucratically supported housing modernisation visions not only manifested differently from the start, but also ended up with profoundly different fortunes some 40 years later. In the case of Red Road in Glasgow, the blocks were being demolished. In Singapore they were still in place, being upgraded and much loved. It was this very stark experience of seeing one building live on and another come to an end that started us thinking about building endings more generally. In a subsequent project, we investigated how and why architecture as a professional practice rarely thought about the end of the buildings in which it invested so much energy in designing and creating. Indeed, architecture’s professional culture is entirely natalist, emphasising the skills of design creativity, and largely ignoring how buildings fare as they age, and routinely repressing (or at best lamenting) the fact that the average life of most buildings nowadays is decades, not centuries. Buildings Must Die. A Perverse View of Architecture (Cairns/Jacobs 2014) was written as a momento mori to architecture, whispering to the profession that its buildings will die. We were interested in how architecture, as a profession, might supplement its investments in creative design with what we dubbed a »terminal literacy«, an awareness of how buildings end, how they might end well, or even end purposefully. This has not been a death wish on the profession of architecture. It is our view
A Conversation with Jane M. Jacobs
that, as a profession, architecture must have some responsibility in relation to the important social and environmental challenges generated by buildings ending. HG: In the Latourian world of post-modern social theory, there was a specific point in time when »matters of fact« turned into »matters of concern« and reordered the agencies of material culture. His and others’ work directed attention to the exploration of why »we have never been modern«. How does this relate to the history of architecture in the 20th century from your point of view? How does a focus on practices and socio-material agencies critique the social technologies of modern architecture? JMJ: In We Have Never Been Modern Latour exposes, and then challenges, the role of science in establishing purifying distinctions between, say, non-human nature (things) and human culture (society). In a very modest way, my collaborators and I have attempted to do the same for architecture by thinking always of buildings as hybrids. Methodologically speaking, we have tried to show this hybridity in and through architectural forms designed to be fully technical, fully rational, fully modern – that is, modernist high-rise housing derived from the (largely propositional) modernism of Le Corbusier. Our two-site comparison of how these modernist forms were manifested, governed and lived in, allowed us to show precisely how »impure« these modernist forms were right from the start. They may have been modernist buildings born of a modernization impulse, but they were never really »modern«. These modernist architectural visions were realised through the logics of craft as much as they were mass production; they were occupied in ways that deviated relentlessly from the scripts of sparse, uncluttered living; and they became encrusted with ghosts, superstitions, egoisms and nationalisms. They were full of interests and concerns, despite (and even because of) their origins in a rationalised, scientifically realised architecture.
A rchitecture and the S enses HG: The specific composition of architecture requires engagement with it as a three-dimensional object of experience and not as a visual image, which can be studied semiologically. You have developed visual ethnographical methods which enable us to explore practices as they happen in buildings. In what way are these methods also engaging with other senses of the moving bodies of users? How does architecture provoke other sensual activities? Where do you see a possible future research activity in engaging with the social sensorium of architecture? JMJ: The methodology we developed in relation to our in-depth comparative study of two high-rise housing developments has been interested in the processes that stabilize (or not) something called a »high-rise« as a socio-material entity. Through our visual, ethnographic and archival methods, we wanted to develop a
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fine-grained grasp of the diversified assemblages of power and practice that not only gave rise to the high-rise as a material thing, but also to its variable states of success or failure. From the outset, we have talked about our work as being an investigation into architecture not as a formal, fixed thing, nor even as a meaningfilled, human-claimed, symbolic thing, but as a building event, in which the highrise architecture was understood as eventful, vital, and performative – much more than simply a built context for human action and more than a mere product of human action. Much of our data gathering focused on what you might think of as the sociomaterial co-production of the building. The empirical emphasis was on action and routine, and methods of being in and doing »building work«: home-making, maintaining, cleaning, fixing, checking, demolishing (Cairns/Jacobs 2011; Strebel 2011). The atmospherics of the places we looked at were always bearing upon our impressions, but it has been something we have examined only partially. For example, we have written about the way modernism required the cultivation of specific aesthetic practices and preferences grounded in discourses of transparency and spaciousness, supported by technologies for light and ventilation (Jacobs/Cairns 2008; Jacobs et al. 2008). We also have extensive but as yet unpublished evidence of the way residents resisted such modernist scriptings. For example, in one Red Road flat in Glasgow, a resident proudly showed us an elaborate do-it-yourself, rusticated brick hearth, complete with an electric heater and chimney carrying nothing and going nowhere other than the ceiling of that 12th floor flat embedded in that 30-storey building! But here, I am talking largely about aesthetic questions linked to design (expert and non-expert). As Gillian Rose and her collaborators have noted, a range of experiences of buildings have been poorly theorised. Those inspired by actor-network approaches, they argue, acknowledge human experiences in very limited ways. Others, inspired more by affect theory, evoke the »feelings« that buildings may provoke but evacuate human subjectivity from their accounts of buildings’ performances. Self-consciously expressed aesthetic choices are but one component of a wider field of experienced atmospherics (Rose et al. 2010). Much headway has been made on thinking about this expert production of atmosphere, both on the building and the city scale (Kraftl/Adey 2008; Degan/ Rose 2012; Adey 2013; Göbel 2015). What of the fields of colour, light, smell and sound? What part are they playing in building events? There is much work still to be done on praxeology of atmosphere as it relates to building events and how this relates to the complex co-production of the sensory. Furthermore, there is a need for such work to move beyond thinking through individualised, humanistic frameworks, which privilege the individual experience of consumed atmospheres or the individual crafting of said atmospheres, as valuable as this work is. Building events (by which I mean architecture, along with its human makers and users and socio-material systems) plays its part in creating the overheated, polluted, light saturated and noisy atmospheres that characterises the anthropocene. I look
A Conversation with Jane M. Jacobs
forward to the next generation of work that contemplates more fully architecture’s role in the making, unmaking and rehabilitation of the up-scaled social sensorium of the anthropocene.
R eferences Adey, Peter (2013): »Air/Atmospheres of the Megacity«, in: Theory, Culture & Society 30 (7-8), pp. 291-308. Cairns, Stephen R./Jacobs, J.M. (2011): »Ecologies of Dwelling: Maintaining HighRise Housing in Singapore«, in: Watson, Sophie/Gary Bridge, (eds.): The New Companion to the City, Oxford: Blackwell, pp. 79-95. Cairns, Stephen R./Jacobs, Jane M. (2014): Buildings Must Die: A Perverse View of Architecture, Cambridge, MA: MIT Press. Degen, M. Monica/Rose, Gillian (2012): »The Sensory Experiencing of Urban Design: The Role of Walking and Perceptual Memory«, in: Urban Studies 49 (15), pp. 3271-3287. Göbel, Hanna K. (2015). The Re-Use of Urban Ruins: Atmospheric Inquiries of the City, Abingdon & New York: Routledge. Jacobs, Jane M. (1994a): »Negotiating the Heart: Heritage, Development and Identity in Post-Imperial London«, in: Environment and Planning D: Society and Space 12(6), pp. 751-772. Jacobs, Jane M. (1994b): »The Battle of Bank Junction: The Contested Iconography of Capital«, in: Thrift, Nigel J./Corbridge, Stuart/Martin, Ron L. (eds.): Money, Power, and Space, Oxford: Blackwell, pp. 356-82. Jacobs, Jane M. (1996): Edge of Empire: Postcolonialism and the City. London & New York: Routledge. Jacobs, Jane M. (2006): »A geography of big things«, in: Cultural Geographies 13 (1), S. 1-27. Jacobs, Jane M./Cairns, Stephen R. (2008): »The Modern Touch: Interior Design and Modernisation in Post-Independence Singapore«, in: Environment and Planning A 40 (3), pp. 572-595. Jacobs, Jane M./Cairns, Stephen R./Strebel, Ignaz (2008): »Windows: re-viewing Red Road«, in: Scottish Geographical Journal 124 (2-3), pp. 165-184. Jacobs, Jane M.; Merriman, Peter (2011): »Practicing Architectures: Editorial«, in: Social & Cultural Geography 12 (3), S. 211-222. Jacobs, Jane M./Cairns, Stephen R./Strebel, Ignaz (2012): »Doing Building Work: Methods at the Interface of Geography and Architecture«, in: Geographical Research 50 (2), pp. 126-140. Kraftl, Peter/Adey, Peter (2008): »Architecture/Affect/Inhabitation: Geographies of Being-In Buildings«, in: Annuals of the Association of American Geographers 98 (1), pp. 213-231.
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II. Die atmosphärische Komposition von Architekturen
Rose, Gillian/Degen, Monica/Basdas, Begum (2010): »More on ›big things‹: Building Events and Feelings«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 35 (3), pp. 334-349. Strebel, Ignaz (2011): »The Living Building: Towards a Geography of Maintenance Work«, in: Social & Cultural Geography 12 (3), pp. 243-262.
III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken
Einleitung Sophia Prinz Die soziologische Betrachtung der Kunst hat sich lange Zeit vorwiegend auf die sozialen und institutionellen Beziehungen innerhalb des Kunstfeldes konzentriert, während sie die sinnliche Wahrnehmung und die Frage des Ästhetischen weitgehend ausgeklammert hat.1 Diese Zurückhaltung gegenüber dem Ästhetischen ist nicht zuletzt auf die einflussreichen Arbeiten von Pierre Bourdieu zurückzuführen, der in Abgrenzung von Kant eine soziologische »Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft« angestrengt hatte (Bourdieu 1982). Demnach sei der reine »ästhetische Blick«, der von der Frage des ökonomischen und moralischen Nutzens des Dargestellten zugunsten einer formal-ästhetischen Wertschätzung der Darstellung abstrahieren kann, kein intuitives Vermögen, das potentiell allen Subjekten gleichermaßen zur Verfügung steht, sondern ein klassenspezifischer »praktischer Sinn«, der von der bürgerlichen Elite nicht zuletzt aus Distinktionszwecken gepflegt und weitergetragen wird.2 Wie die Beiträge dieser Sektion exemplarisch zeigen, wurde diese Diagnose, die die Kunstrezeption und -produktion3 vornehmlich auf die dahinterliegenden Praktiken und sozialstrukturellen Kämpfe zurückführt, in der jüngeren Kunst- und Kultursoziologie in mehrfacher Hinsicht ergänzt und revidiert. Die Diskussionen kreisen dabei um die Grenzen des künstlerischen Feldes, die Materialität und sinnliche Qualität des Kunstwerks sowie die sozialen Dimensionen des Ästhetischen. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Differenz von Kunst und Alltag, Hochkulturellem und Populärem sowie Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem von den künstlerischen Avantgarden immer wieder in Frage gestellt – 1 | Für einen Überblick über die Entwicklungen in der Kunstsoziologie siehe Danko 2012. 2 | Für einen Überblick über Bourdieus kunstsoziologische Arbeiten siehe auch Wuggenig 2011. 3 | Die Etablierung des ästhetischen Paradigmas hängt Bourdieu zufolge historisch mit der Herausbildung des »autonomen Kunstfelds« Ende des 19. Jahrhunderts zusammen, das die Regeln des alten Akademiesystems zugunsten des Wettbewerbs auf dem freien Markt und der selbstgewählten doxa des »l’art pour l’art« hinter sich ließ (Bourdieu 1993, 2011).
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken
man denke etwa an Marcel Duchamps legendäre »ready mades«, durch die ein profaner Alltagsgegenstand in ein Kunstwerk verwandelt wurde, die Versuche der Conceptual Art, die Ontologie der Kunst von der Objekthaftigkeit des Kunstwerks abzulösen,4 die exzessive Bilderflut der Pop Art, die sich aller möglichen Versatzstücke aus der Populärkultur bediente, oder die Performance und Happening Art, die mit ihren »Aktionen« im öffentlichen Raum in alltägliche soziale Situationen und reale politische Prozesse eingriff.5 Auch wenn diese Praktiken die äußeren Schranken und internen Machtstrukturen des Kunstfelds keineswegs zum Einsturz bringen konnten, haben sie dennoch sowohl den Kunstdiskurs als auch den Anspruch, die Modi und die Medien künstlerischen Arbeitens selbst verändert – eine Transformation, die sich nicht nur auf die Formen musealer Repräsentation und Rezeption ausgewirkt hat,6 sondern auch mit den gegenkulturellen Bewegungen außerhalb des Kunstfeldes – wie der Bürgerrechts-, der Frauen- oder der Anti-Kriegsbewegung – in Verbindung stand. Die Entgrenzung von künstlerischen und nicht-künstlerischen Praktiken wurde aber nicht nur von Seiten der Kunst vorangetrieben. Wie die Kultursoziologie in den letzten Dekaden vermehrt diskutiert, haben zudem auch ökonomische und kulturpolitische Prozesse zu einer gesteigerten »Ästhetisierung« der gesamten spätmodernen Gesellschaft geführt.7 Während bereits Georg Simmel und nach ihm vor allem die neomarxistischen Soziologen eine Ästhetisierung der Konsum- und Kulturgütermärkte beobachtet hatten, zeigen diese neueren Studien auf, dass sich vor dem Hintergrund der »Kulturalisierung« der Ökonomie (Lash/Urry 1994; Hall 1997) und der »Immaterialisierung« der Arbeit (Negri u.a. 1998)8 in der westlichen Welt auch die ökonomische Produktion zunehmend an künstlerischen Leitbildern orientiert (Boltanski/Chiapello 2003). Diese »Ästhetisierung« der Arbeitswelt zeichnet sich im Wesentlichen durch die Erhöhung von Eigenverantwortlichkeit, die Flexibilisierung der Arbeitsprozesse sowie die Etablierung und Hegemonialisierung eines Kreativdispositivs aus (von Osten/von Bismarck 2003; Raunig/Wuggenig 2007; van den Berg 2009; Menke/Rebentisch 2010; Reckwitz 2012; Krämer 2014). Parallel dazu ist sowohl auf kultur- und stadtpolitischer Ebene als auch in den Feldern der kulturellen Produktion eine allge-
4 | Siehe dazu auch das Gespräch mit Osborne. 5 | Siehe zum letzteren etwa Klein in diesem Band. 6 | Siehe dazu auch Zahner 2011. 7 | Von Eve Chiapello und Luc Boltanski, Antonio Negri und Michael Hardt, sowie einigen Vertretern der Theatralisierungsdebatte wird diese zunehmende »Ästhetisierung« nichtkünstlerischer Felder sogar kausal auf die künstlerischen Praktiken und kulturkritischen Diskurse der 1960er Jahre zurückgeführt. 8 | Der postoperaistische Begriff der »immateriellen Arbeit« ist jedoch insofern umstritten, als sowohl aus marxistischer als auch aus praxistheoretischer Perspektive jede Form der Arbeit auf einer materiell-körperlichen Basis beruht.
Sophia Prinz — Einleitung
meine Tendenz zur »Spektakelisierung« und Theatralisierung9 zu beobachten.10 Dieser Trend bildet sich nicht nur in der globalen Verbreitung von internationalen Messen, Festivals und Biennalen für zeitgenössische Kunst ab, sondern manifestiert sich ebenso in dem stadtpolitischen Leitbild der Creative City, das in den 2000er Jahren mancherorts zur Umgestaltung ganzer Stadtteile geführt hat, und aufgrund seiner starken Ökonomisierungstendenz nicht selten kritisiert wurde (Althahns u.a. 2008; Edensor u.a. 2009).11 Neben diesen eher ökonomisch ausgerichteten Ästhetisierungsschüben, wird in jüngerer Zeit unter dem nicht ganz unproblematischen Begriff des Artistic Research die wechselseitige Entgrenzung künstlerischer und wissenschaftlicher Praktiken in den Blick genommen (Caduff u.a. 2010; Tröndle/Warmers 2011; Brandstetter/Klein 2013; Peters 2013; Busch 2015). Denn zum einen gewinnen in den nicht-kommerziellen Fraktionen des gegenwärtigen Kunstfeldes zunehmend »postkonzeptuelle« (Osborne)12 künstlerische Praktiken an Bedeutung, die sich genuin sozialwissenschaftlichen Fragen – wie den ökonomischen, politischen und kulturellen Verflechtungen der globalisierten und digitalisierten Welt – aus künstlerischer Perspektive nähern. Dabei geht es weniger um einen wissenschaftlichen Objektivismus als vielmehr um die Frage, wie ein »anderes«, mitunter marginalisiertes Wissen von der globalen Gegenwart gewonnen und kommuniziert werden kann. Diesem Potential der künstlerischen Perspektive, sich zu einem Wissen Zugang zu verschaffen, das mit herkömmlichen Forschungsmethoden und Theoriegerüsten unsichtbar bliebe, wird in jüngerer Zeit auch im wissenschaftlichen Feld vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Wie Silvy Chakkalakal in ihrem wissenschaftshistorischen Beitrag aufzeigt, handelt es sich dabei jedoch um keine neue Entwicklung. Im Umfeld der US-amerikanischen Anthropologin Margaret Mead hat es bereits in den 1930er und 1940er Jahren erste Ansätze gegeben, künstlerische und wissenschaftliche Forschung miteinander zu verknüpfen.13 So bedienten sich Mead und Gregory Bateson mitunter fotografischer, filmischer und poetischer Verfahren des Aufzeichnens, um den sinnlichen Strukturen der von ihnen untersuchten Kulturen gerecht werden zu können. Auch Christiane Schürkmann weist darauf hin, dass ethnographische und künstlerische Beobachtungstechniken insofern gewisse Analogien 9 | Für einen soziologischen Überblick über die Debatte siehe Willems 2009. 10 | Zur Frage der spätmodernen »Ästhetisierung« siehe auch die Beiträge von Klein und Reckwitz sowie das Gespräch mit Osborne. 11 | Siehe dazu auch Buchteil II Die atmosphärische Komposition von Architekturen. 12 | Siehe dazu Osborne 2013 sowie das Gespräch mit Osborne in diesem Band. 13 | Ähnliches gilt für die avantgardistischen Forschungspraktiken des etwa zeitgleich gegründete »Collège de Sociologie«, in dem Soziologen und Ethnologen zusammen mit surrealistischen Künstlern und Schriftstellern eine neue »Sakralsoziologie« begründen wollten (Moebius 2006). Für ein weiteres Beispiel für künstlerisch-wissenschaftliche Forschung siehe auch den Beitrag von Prinz in diesem Band.
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken
aufweisen, als beide Praktiken ihren Blick befremden müssen, um den sinnlichen Auf bau ihres jeweiligen Gegenstands analysieren und rekonstruieren zu können. Neben diesen Entgrenzungen von künstlerischen und nicht-künstlerischen Praktiken wird unter den Vorzeichen des practice, material und body turns zudem die Materialität und Körperlichkeit von Kunstproduktion und -rezeption thematisiert. Die Entwicklung und der Prozess künstlerischer Produktion, so die These, lässt sich nicht auf die institutionellen Kooperationen innerhalb der »Art Worlds« (Becker 1984) oder kunstfeldspezifische Strategien von Orthodoxen und Häretikern reduzieren (Bourdieu 1999), sondern muss auch hinsichtlich der konkreten körperlich-sinnlichen Praktiken, Artefakte und Raumordnungen untersucht werden, die an der Herstellung eines Kunstwerks oder der Aufführung von Musikstücken und Choreographien beteiligt sind (Albertsen/Diken 2004; Born 2010). In diesem Sinne geht Michael Liegl in seinem praxistheoretischen Beitrag der Frage nach, wie und wann Geräusche und Klänge als Musik in Erscheinung treten und welche Rolle dabei das »boundary work« der daran teilnehmenden Akteure und Artefakte spielt. Anhand einer Ethnographie von elektro-akustischen »open jam sessions« macht er dabei im Rekurs auf Hennion deutlich, dass »ästhetische Erfahrung« nicht allein auf klassenspezifische Dispositionen zurückgeführt werden kann, sondern als praxisimmanentes »accomplishment« verstanden werden muss (Hennion 2001, 2003). In eine ähnliche Richtung weist auch der praxistheoretische Beitrag von Christiane Schürkmann, die die (Wahrnehmungs-) Praxis eines Bildhauers hinsichtlich ihrer materiellen und körperlichen Dimensionen ethnographisch untersucht. Anders als Liegl liegt der Schwerpunkt ihrer Analyse jedoch weniger auf der genuinen Ästhetik als auf der Routinehaftigkeit künstlerischen Arbeitens. Die Körpersoziologin und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein zeigt schließlich auf, dass das künstlerische »Material«, mit dem der zeitgenössische Tanz arbeitet, aus eben jenen alltäglichen Körper- und Wahrnehmungserfahrungen besteht, die von sozialen Akteuren im Alltag normalerweise selbst nicht reflektiert werden. Einer der kritischen Aufgaben der (Tanz-)Kunst sei dementsprechend, die Mechanismen der unhinterfragten sinnlichen Ordnung des Gesellschaftlichen zu irritieren und auf diese Weise ihrem Publikum offenzulegen. Damit ist ein dritter Punkt angesprochen, der die neuere soziologische Diskussion prägt und auch von den hier versammelten Beiträgen14 auf die ein oder andere Weise angerissen wird: Die Frage nach dem sozialen Status des Ästhetischen.15 Während die »ästhetische Erfahrung« in der Vergangenheit vornehmlich 14 | Neben den Beiträgen aus diesem Buchteil setzen sich auch Fischer, Göbel, Prinz und Reckwitz mit der Frage des Ästhetischen auseinander. 15 | Tatsächlich blickt die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ästhetik auf eine lange Geschichte zurück, die hier nicht gänzlich rekapituliert werden kann. Für einen systematischen Überblick dazu siehe Reckwitz 2015.
Sophia Prinz — Einleitung
als eine soziale Projektion oder als diskursives Konstrukt behandelt wurde, mehren sich in jüngerer Zeit wieder Ansätze, die demgegenüber das »Ästhetische« positiv zu bestimmen und an eine kritische Soziologie rückzubinden suchen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Frage diskutiert, ob und inwiefern eine ästhetische Praxis – sei es in der Kunst, dem Tanz oder der Musik – eingeschliffene Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten unterläuft und somit eine kritische Distanzierung von der etablierten (sinnlichen) Ordnung der Welt herzustellen vermag.16 Allerdings ist noch nicht ausreichend geklärt worden, in welchem Verhältnis dieses Künstlerisch-Ästhetische zu der proklamierten Ästhetisierung von Gesellschaft und dem ökonomischen »Kreativitätsdispositiv« steht (Menke/Rebentisch 2010). So ließe sich etwa mit Verweis auf Adorno konstatieren, dass sich die von der Kunst induzierte »ästhetische Erfahrung« insofern von der kulturindustriellen Vergnügungsmaschinerie unterscheidet, als sie im Gegensatz zu letzterer auf ein in-kommensurables »Nicht-identisches« abzielt (Horkheimer/Adorno 1969; Adorno 1970). Gegenüber dieser kulturkritischen These hat jedoch jüngst Juliane Rebentisch dafür plädiert, die Theatralisierung und Ästhetisierung als Modi demokratischer Vergesellschaftung zu rehabilitieren (Rebentisch 2012). Wie Peter Osborne im abschließenden Gespräch erläutert, könnte ein weiterer wichtiger Schlüssel zu dieser Frage das Moment des »AntiÄsthetischen« sein.
L iter atur Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Albertsen, Niels/Diken, Bülent (2004): »Artworks’ Networks«, in: Theory, Culture & Society 21 (3): S. 35-58. Althahns, Birgit/Audehm, Kathrin/Binder, Beate/Ege, Moritz/Färber, Alexa (Hg.) (2008): Kreativität. Eine Rückrufaktion. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript. Becker, Howard Saul (1984): Art Worlds, Berkeley u.a.: University of California Press. Bersani, Leo/Dutoit, Ulysse (2004): Forms of Being. Cinema, Aesthetics, Subjectivity, London: BFI Publishing. 16 | Obwohl diese Fragen zu den Kernthemen der kritischen Theorie gehören, orientiert sich diese Renaissance der kritischen Ästhetik eher an Jacques Rancières Theorie einer »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2006), der zufolge das »ästhetische Regime« der modernen Kunst dem demokratischen Ideal der Gleichheit entgegenkommt. Für eine Gegenüberstellung von Bourdieu und Rancière siehe auch Kastner 2012, 2014. Weitere Anregungen für die Bestimmung des »ästhetischen Blicks« als eines »Anders-Sehens« finden sich auch in der Phänomenologie (Schürmann 2008; Waldenfels 2010) und der Psychoanalyse (Bersani/Dutoit 2004; Silverman 2015).
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken
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Existenzweisen musikalischer Performanz Von Laptops, Lötkolben und anderen Vermittlern Michael Liegl
1. E inleitung Musik kann Kunst sein, muss es aber nicht – tatsächlich ist sie oft noch nicht mal Musik, sie franst aus, mischt sich mit Rauschen, wird zu Audio, zum (Umgebungs)geräusch. Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen ihrer Existenzformen: Sie kann (muss aber nicht) als Gelegenheit zur Darstellung kultivierten Geschmacks und zum Zwecke sozialer Distinktion (Bourdieu 1987) dienen, sie kann als geistiges in Textform materialisiertes Gebilde existieren, das zum Lesen von Bedeutungen einlädt (Adorno 1975: 18, 2005: 13), sie kann aber auch etwas sein, von dem man sich auf bestimmte Weisen affizieren lässt (Gomart/Hennion 1999; Hennion 2001, 2008, 2010). Die je verschiedenen Existenzweisen von Musik müssen zurückbezogen werden auf das »boundary work« (Gieryn 1983), also auf die Praktiken, die Musik in je spezifischen Modi hervorbringen. Zu diesen Praktiken zählen auch, wie noch zu zeigen sein wird, soziologische »Rekonstruktionen« von Musik da diese ihren Gegenstand immer auch mitkonstituieren (Law 2004: 38, 148) und somit »ontological politics« (Mol 1999) betreiben. Die Pragmatiken desjenigen, was wir Musik nennen, variieren in einer »Gesellschaft der Gegenwarten« (Nassehi 2011) drastisch, sodass es ratsam scheint, bei der Betrachtung von Situationen und Settings, in denen »Musik« in Erscheinung tritt, genau zu fragen, wie diese eintritt, eingeführt wird, beachtet wird, wie man sich ihr widmet und wie sie Aufmerksamkeit auf sich zieht oder sich verflüchtigt. Der pragmatistische Ansatz, den ich in diesem Artikel entwickeln möchte, betrachtet die Praktiken, in denen Musik von Kollektiven enacted und somit in Existenz gebracht wird. Es soll danach gefragt werden, wie Musik mit anderen Elementen in bestimmten Settings verbunden wird, welche Qualitäten diesen durchaus auch affektiven Verbindungen (Gomart und Hennion [1999] sprechen von »attachments«) eigen sind und wie das so Hervorgebrachte als Musik existiert. Diese Fragen sollen an zwei Felder gestellt werden, zum einen an einflussreiche
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soziologische Konzeptionen von Musik bzw. Kunst – von Theodor Adorno, Pierre Bourdieu und Antoine Hennion – und zum anderen im Rahmen einer eigenen ethnographischen Studie über eine elektro-akustische »open jam session« (Liegl 2010). Zunächst wird (1) mit Adornos Arbeiten zur Musik sicherlich einer der elaboriertesten Entwürfe einer Musiksoziologie diskutiert, der zugleich eine soziologische Theorie musikästhetischen Sinns und musikalischer Praxis vorstellt (Adorno 1972a, b, 1975, 1997a, b, 2003, 2004, 2005). In einem nächsten Schritt soll als Kontrast dazu Pierre Bourdieus Dekonstruktion der bürgerlichen (Kantischen) Ästhetik als Strategie der Distinktion und Klassenpolitik beleuchtet werden (Bourdieu 1987: 1993). Bourdieu fragt gerade nicht nach den ästhetisch-sinnlichen Qualitäten von Kunstwerken, sondern verhält sich diesen gegenüber sowie dem Feld der »autonomen« künstlerischen Produktion eher agnostisch und zuweilen gar abwertend. Nach Adornos auf »Sinn« enggeführter und gewissermaßen elitärer Musiksoziologie einerseits und Bourdieus »Kunstsoziologie ohne Kunst« andererseits, wird mit Antoine Hennions Soziologie der »Attachments« (Gomart/ Hennion 1999; Hennion 2001) (2) ein Kunst- und im engeren Sinne musiksoziologischer Ansatz vorgestellt, dessen Arbeit auf die Bindung und Vermittlung zwischen Kunstobjekt und Kunstliebhabern fokussiert. Hierbei wird ästhetisches Erfahren, das von Bourdieu allein auf Geschmacksdispositionen des spezifischen Klassenhabitus zurückgeführt wurde, als Dimension von Praxis und als situatives wie prozessuales accomplishment ethnographisch rekonstruiert. In Hennions Arbeiten finden sich dann bereits mit den Begriffen »attachment« und »mediation« (ebd.) Ankündigungen einer modalen Musiksoziologie – modal im Sinne der jüngst von Latour ausbuchstabierten »Existenzweisen« (Latour 2014). Diese Perspektive nimmt an, dass Dinge und Phänomene in relationalen »Assoziationen« existieren, d.h. dass ein Ding durch seine Verknüpfungen und Vermittlungen definiert ist (Latour/Stark 1999; Hennion 2003). Schließlich spiele ich (3) auf der Grundlage eigener ethnographischer Arbeiten über ein Medienkunstkollektiv und dessen wöchentliche electro-acoustic open jam session eine solche Analyse musikalischer Existenzweisen durch und frage nach den Modi musikalischen Engagements und deren materieller Vermittlung. Dabei werden die sich verschiebenden bzw. auf unterschiedliche Weisen stabilisierten ontologischen Grenzen von »Musik« vor dem Hintergrund musikalischer Architekturen, Infrastrukturen (von Kabeln, Verstärkern bis Notentext) und Instrumententypen ausgelotet. Gefragt wird also, wie sich die Existenzweise von »Musik« ändert, wenn zu ihren Konstitutionsbedingungen im engeren Sinn der Laptop als zentrales Instrument, »Improvisation«, »Gemeinschaft« und Praktiken wie Kabellöten gezählt werden (und natürlich in Folge, ob und inwiefern Lötkolben Musikinstrumente sein können).
Michael Liegl — E xistenzweisen musikalischer Per formanz
2. A dorno und B ourdieu : V om S inn in der M usik zu einer K unstsoziologie ohne K unst Adornos soziologische Arbeiten zu Musik können in vielerlei Hinsicht als einzigartig gelten, treffen sich hier doch die intime Kenntnis des Musikers, Komponisten und Musikwissenschaftlers mit den theoretischen Investitionen des kritischen Theoretikers, literarisch Hochgebildeten und Soziologen. Musiksoziologie hat in Adornos Konzeption verschiedene Aufgaben: Sie analysiert die Produkte aktuellen Musikschaffens und kritisiert diese auf Grundlage eines »Bewußtseins von der Gesellschaft und ihrer Struktur« sowie »des vollen Verständnisses von Musik selbst in allen Implikationen« (Adorno 1975: 12f.). Musiksoziologie muss sich also mit »subjektive[n] Verhaltensweisen zur Musik in Relation zur Sache Selbst« (Adorno 1975: 12) auseinandersetzen und darf dabei nicht von der »Qualität des Objekts [absehen]«. Damit würde sie Musik selbst als einen bloßen Stimulus behandeln und sie auf ein Gebrauchsgut wie Zigaretten oder Seife reduzieren. Um festzustellen, ob Werke aus den falschen Gründen Gefallen finden, etwa wenn »als klassisch eingereihte Kunstwerke« auf Massengeschmack treffen, bedürfe es »objektive[r] Analysen« der Werke, das sind »Analysen der strukturellen und spezifischen Wirkungsmechanismen und solche der registrierbaren subjektiven Befunde« wären aufeinander abzustimmen und müssten einander »wechselseitig erhellen« (Adorno 1972a: 369): »Nur wer Musik nicht nur fühlt sondern denkt, fühlt sie richtig« (Adorno 2005: 127). Diese Doppelstrategie der objektiven Analyse und des Studiums der »subjektiven Verhaltensweisen« im Umgang mit Musik organisiert Adornos musikalisches Universum in zwei Welten – Konsummusik und Kunstmusik – und seine Musiksoziologie in drei aufeinander bezogenen Dimensionen: erstens der Analyse der Kulturindustrie und ihrer Produkte, zweitens der Analyse legitimer musikalischer Kunstwerke, sowie drittens der Hörertypologie. Die Produkte der Kulturindustrie bedürfen keiner weiteren kunst- oder musiksoziologischen Analyse, denn sie folgen tatsächlich der Konsumlogik von Zigaretten und Seife (Adorno 1975: 13), empirische Sozialforschung und Marktforschung sind daher völlig angemessene Methoden zu ihrer Untersuchung (Adorno 1972a: 368). Wichtig ist allerdings, Kriterien zu entwickeln, nach denen musikalische Dinge der einen oder der anderen Sphäre zuzuordnen sind. Als ernstzunehmende Musik betrachtet Adorno nur solche, die Kunstwerkcharakter hat, d.h. sich auf der Höhe des historischen Entwicklungsstandes des musikalischen Materials bewegt und sich mit diesem als gesellschaftlichen auseinandersetzt. Die Komponisten solcher Kunstwerke stehen vor der Herausforderung, Lösungen für objektive musikalische Probleme zu finden (Adorno 2003: 39ff.). Eine solche Problematik – und hier sieht man bereits die enge Verquickung musikalisch-ästhetischer und moralisch-politischer Aspekte – bestehe etwa in der dialektischen Auseinandersetzung zwischen (der Dominanz des) Allgemeinen und (der Willkür des) Besonderen, zwischen musikalischer Sprache (Ganzem) und musikalischer Gesten (Einzelnem) (Adorno 2004: 49, 75).
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Ein zentrales Charakteristikum legitimer musikalischer Kunstwerke ist aber, dass sie ab einem bestimmten Entwicklungsstand aufgrund ihrer Komplexität nur noch als Text (und nicht mehr als improvisierte oder mündlich tradierte Musik) möglich ist. Sie wird somit durch Notation zur »Idee«, die nun wichtiger wird als das konkrete musikalische Spiel oder die Aufführung. Gegen ein Revival von Hausmusik und Wandergitarre wendet er ein: »In der Musik kann darum vom Primat des Tuns nicht die Rede sein, weil sie irrevokabel sich vergeistigte« (Adorno 1972b: 82), und diese »Vergeistigung« materialisiert sich in Kunstwerken: »was Musik zum Kunstwerk macht [, kommt] in gewisser Weise dem gleich, dass sie zum Ding – ganz einfach: zum fixierten Text – wurde« (Adorno 1975: 69). Auch um sich den musikalischen Details hingebungsvoll widmen zu können ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren, bedarf es ab einer gewissen Komplexität des Stücks des Notentextes und diesen gilt es vor allem zu lesen. Die Fähigkeit zum Notenlesen stellt die Voraussetzung des Strukturverstehens, oder wie Adorno sagt, des »strukturellen Mitvollzugs« dar (Adorno 1975: 20), der zum einen die Elemente und das Ganze und zum anderen die Bezüge des einzelnen Texts zum musikalischen Material, also der Gesamtheit dar (gültiger) musikalischer Texte leistet. Der musiksoziologischen Werkanalyse korrespondiert bei Adorno die Hörertypologie. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine empirische Betrachtung von Umgangsformen mit Musik, tatsächlich werden die Hörertypen aber aus der Struktur des musikalischen Materials deduziert. Dieses strukturelle Hören beherrscht allerdings lediglich der »Expertenhörer« (Adorno 1975: 17ff.), der den Werken gerecht wird im strukturellen Mitvollzug oder wie Adorno auch sagt, indem das Ohr »mitdenkt« (Adorno 1975: 18). Dieser vermag »dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan« zu folgen, »hört […] das Aufeinanderfolgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, dass ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert« (Adorno 1975: 17f.). Neben diesem Typ pflegt lediglich der »gute Zuhörer« ebenfalls eine authentische Beziehung zur Musik, der sie so versteht, »wie man die eigene Sprache versteht auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder wenig weiß« (Adorno 1975: 19). Alle anderen Hörertypen (Adorno zählt noch den Bildungshörer, emotionalen Hörer, Ressentimenthörer und Unterhaltungshörer auf), verfehlen den Gehalt von Musik auf unterschiedliche Weise. Was sie an Musik herantragen oder mit ihr verbinden, hat nichts mit ihr zu tun. Sie sammeln Schallplatten und Wissen über Biographisches von Komponisten und Interpreten, wissen was man kennen muss und können darüber reden (Adorno 1975: 20). Sie lassen sich emotional affizieren, aber nicht von dem was das Werk »sagt«, sondern von einzelnen isolierten Passagen. Oder noch schlimmer, sie »benutzen« Musik wie Zigaretten, wo Musik selber keinen Lustgewinn erzeugt, sondern lediglich das Abschalten des Radios, das Fehlen des Reizes mit Unbehagen einhergeht (Adorno 1975: 29). Adornos Impetus der Hörtypologie ist es, die angemessene Umgangsweise mit dem Objekt zu rekonstruieren u.a. weil er implizit von einer Korrespondenz der Fähigkeit zu ästhetischer und Gesellschaftskritik ausgeht – ein genetischer Zusammenhang, den Habermas in seiner Untersuchung zu literarischen Öffent-
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lichkeiten (1990) detailliert herausgearbeitet hat. Wir finden bei Adorno also eine Topologie musikalischer Formen und Praxen, von denen er allerdings nur eine – sinnhafte, avancierte, gewissermaßen ästhetisch argumentierende – Musik einer detaillierten musiksoziologischen Analyse für würdig hält. Lesen und struktureller Mitvollzug, also das Sinnverstehen ästhetischer Figuren und Zusammenhänge beschreibt er als angemessene Weise, solchen Werken gerecht zu werden. Dieser Zugang zum Werk setzt Bildung voraus, ist aber auch in spezifische Praktiken und Infrastrukturen eingebettet, die die geforderten ästhetischen, ethischen und politischen Urteile ermöglichen. Diese Urteile sind im Modus der Erkenntnis formuliert und performieren die Kunstwerke entsprechend und mit der Hilfe anderer epistemischer Dinge (Rheinberger 2006), zu denen hier zentral der Notentext gehört, als Erkenntnisgegenstände. Viele Aspekte von Adornos Musiksoziologie stehen dem Ansatz von Pierre Bourdieu diametral entgegen. Bourdieu wendet sich ab von Adornos Projekt soziologischer Interpretation von Kunstwerken und befürwortet stattdessen eine Haltung der Indifferenz bezüglich der ästhetischen und sinnhaften Qualität von Kunstwerken (1987). In seiner Arbeit über die feinen Unterschiede formuliert er eine Art Ideologiekritik der Kunst, die sich mit den strategischen Illusionen beschäftigt, die sowohl das Feld künstlerischer Produktion, als auch das Feld bürgerlicher Kunstrezeption beherrschen. Für den Operationsmodus beider Bereiche sei die Leugnung außer-ästhetischer Faktoren zentral. Künstler wollen nicht zugeben, dass Ruhm oder Wohlstand ihre kreativen Entscheidungen beeinflussen und Konsumenten wollen nicht anerkennen, dass die Vorstellung von Kunstgeschmack und ästhetischem Urteilen als spirituelle und desinteressierte Aktivität eine Art klassenbasierter Snobismus ist. Tatsächlich finde man Gefallen vor allem an solchen kulturellen Produkten, mit denen man bereits in der Primärsozialisation zu tun hatte und die sich folglich in den Körper, in die Haltung (Habitus) eingeschrieben haben. Der Umgang mit Kunst und Geschmack ist laut Bourdieu gleichbedeutend mit dem praktischen Sinn, dem der Umgang mit Kunst oder ästhetischen Objekten folgt. Mit seiner Konzeption des Habitus als System dauerhafter Dispositionen (Bourdieu 1976: 165) setzt er eine situationsübergreifende Stabilität der Person voraus, d.h. er verlegt abruf bare Eigenschaften in die sozialisierte Person hinein und kann so auch die kulturelle Reproduktion der Klassengesellschaft durch habitusspezifische Geschmacksentscheidungen erklären. In dieser Konzeption dienen Geschmack und Kunstgenuss vor allem als Mittel sozialer Distinktion. Fragen der Angemessenheit des Umgangs mit Kunst, wie sie Adorno interessieren, spielen hier keine Rolle mehr. Bourdieu ist der Bilderstürmer, der Kunst profanisiert und den Umgang mit ihr in eine verallgemeinerte Theorie ökonomischer Herrschaft einschreibt. Kunst ist lediglich Ideologie und Teil des Spiels der feinen Unterschiede, das zur Befestigung von Klassenherrschaft dient. Sie zählt zum kulturellen Kapital und markiert Klassenunterschiede. Er sieht damit aber auch einen grundlegenden Antagonismus zwischen Kunst und Soziologie: »As art is plagued
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with these kinds of ideological illusions […] Sociology and art do not make good bedfellows« Bourdieu (1993: 139, zit.n. de la Fuente 2007: 412). Bourdieu nimmt also eine Haltung ein, die verschiedentlich als Kunstsoziologie ohne Kunst charakterisiert wurde (Latour 2007: 406ff.; Born 2010: 7). Obwohl Bourdieus Ansatz als Stichwortgeber für eine Hinwendung zur Untersuchung von Praktiken in der Soziologie wegweisend war, verstellt sein ideologiekritischer Impetus den Blick für tatsächliche Praktiken künstlerischer Produktion oder des praktischen Umgangs mit landläufig als Kunst beschriebenen Objekten oder Ereignissen. Ähnlich wie es Harold Garfinkel über Howard Becker sagt, mangelt es bei Bourdieu an einer empirische Auseinandersetzung mit Musik oder Musizieren als sozialer Praxis, also mit der Herstellung, Konstruktion und Konstitution von Musik in Komposition oder musikalischem Spiel. »Musik«, so formulierte Garfinkel, sei das »missing what« der Musiksoziologie, dasjenige also, das die Erforschung etwa von Musikkulturen ironischerweise immer unbelichtet lässt (Garfinkel zit.n. Lynch 1993: 271f.).
3. D ie »N e w S ociology of A rt«, H ennions M usikliebhaber und die P r agmatiken des G eschmacks Unter dem Label »New Sociology of Art« (de la Fuente 2007) versammeln sich Ansätze, deren Anliegen es ist, das Objekt der Kunst – dieses »missing what«, von dem Garfinkel spricht – wieder stärker in die Kunstsoziologie einzubeziehen. Viele dieser Ansätze sind (einerseits) unzufrieden mit Bourdieu, wollen aber zugleich auch nicht zu Adorno zurück, da dieser zwar sehr sinnfällig eine spezifische Existenzweise von Musik analysiert, diese dann aber für Musik an sich generalisiert, und andere Musikarten somit exkludiert und abwertet. Stattdessen schöpft die New Sociology of Art aus den Science and Technology Studies (STS) und deren Vorstellungen von performativen Assemblagen, Netzwerken und enactments etwa epistemischer Dinge (DeNora 2000, 2003; Hennion 2008; Born 2010; Prior 2011). Aus den STS übernehmen diese Ansätze auch die post-konstruktivistische Haltung. So sind es hier nicht mehr per se »soziale Faktoren«, die gesellschaftliche Wirklichkeit konstruieren, sondern heterogene Ensembles. An der Konstitution von Kunst aber auch Kunstgenießenden sind Menschen und Nicht-Menschen beteiligt, vor allem aber viel mehr Vermittler (»mediators«) (Latour 1994; Hennion 2003, 2010) als man glaubt. Subjekte und Objekte der Kunst sind also beide vor ihrem vermittelten Aufeinandertreffen ontologisch latent nur Quasi-Objekte (oder Subjekte) (Serres 1987) und ko-konstituieren einander als spezifische. In dieser ethnographisch prozessualen Haltung sind in den letzten Jahren diverse Studien zum Umgang mit Musik entstanden (Johnson 1995; Monson 1996; Small 1998; DeNora 2000; Hennion 2008; Liegl 2010). Ich werde mich hier auf die Darstellung von Antoine Hennions Sociology of Attachment konzentrieren. Mit attachment ist bei Hennion bereits angekündigt – das steckt in der Doppel-
Michael Liegl — E xistenzweisen musikalischer Per formanz
deutigkeit des Worts –, dass es nicht nur um Verbindung, sondern um die spezifische Art und Weise des Verbindens geht. Musik wird also zu dem, was sie ist, in der Art, wie wir uns auf sie beziehen. Es spielt also eine Rolle, ob sie so existiert, dass man ihr zuhört und man sich von ihr und anderen Vermittlern zum Zuhören affizieren lässt oder nicht. Was Musik ist, hängt von den Dispositiven (Gomart/Hennion 1999), in denen sie enacted (Law 2004) wird ab. Hier würde Hennion Christopher Smalls großzügiger Definition zustimmen, wenn dieser von »musicking« spricht und dazu alle Tätigkeiten zählt, die an einer musikalischen »Aufführung« beteiligt sind, inklusive Tanzen, Proben, Ticketabreißen und Instrumente schleppen (Small 1998: 9). In Abgrenzung zu Bourdieus Konzept des Habitus formuliert Hennion zusammen mit Emilie Gomart den Anspruch, genauer zu untersuchen, wie man sich beim Musikgenuss (und beim Drogenkonsum) »in Stimmung bringt« (Gomart/Hennion 1999). Sie verstehen dies als den Versuch, die Black Box des Habitus praxeologisch zu öffnen. Gefallen und Genuss werden nicht als Dispositionen geschuldete autonome Prozesse oder als Widerfahrnisse betrachtet, sondern vielmehr als situierte praktische Bewerkstelligungen, und erscheinen somit sehr viel voraussetzungsreicher, als es der Habitusbegriff nahelegt. Musikalisches Genießen passiere somit nicht automatisch, weil der Körper durch Sozialisation dafür Rezeptoren entwickelt hat und nun über entsprechende Bündel an Dispositionen oder einen Habitus, wie Bourdieu sagt, verfügt. Eine solche Konzeption des Körper-als-Habitus läuft aber, wenn der praktische Sinn nicht praktisch also durch detaillierte Beschreibung seiner Operationen und seiner situierten Hervorbringung eingelöst wird, Gefahr, diesen zu reifizieren. Zu beobachten sei also, wie der Körper, damit er so ist wie er ist und so empfindet wie er empfindet, stets aufs Neue hergestellt bzw. »eingestellt« oder »gestimmt« wird. Die Studie von Gomart und Hennion untersucht, wie der genießende Körper und die Musik als Genussobjekt gleichzeitig als aufeinander bezogene Entitäten mit der Hilfe einer Reihe von Mediatoren – etwa: spezielle Kopfhörer, Sessel, besondere Räume, CD Sammelpraxen und Artefakte (Regal, Register, Listen, Zufallsmodus am CD Spieler), ein schönes Glas Rotwein zu Brahms – praktisch hervorgebracht werden, und betont, dass selbst so etwas scheinbar Passives wie Musik zu genießen ein praktischer Vollzug ist. »Geschmack« wird in dieser Perspektive in seine konkrete Praxis verflüssigt, die Hennion »pragmatics of taste« nennt (Hennion 2010): »The aim is to pay special attention to gestures, objects, media, mechanisms and relationships of a game of listening that is not restricted to the production of a taste already there but which is redefined in the process of the action in order to present a result that is partly uncertain.« (Hennion 2010: 27)
Die Praxis, der er sich widmet, ist musikalische Leidenschaft von Musikliebhabern (Hennion 2007) was eine große Bandbreite an Umgangsweisen mit und enactments von Musik abdeckt. Seine Analysen betrachten vorwiegend Settings, in denen Musik genossen wird. Er beschreibt ein Dispositiv, welches Musik, Zuhörer
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und Umgebung so konfiguriert und miteinander verbindet, dass es den Musikliebhaber darauf einstimmt, das zu empfangen, was die Musik ihm anzubieten hat – ein gegenseitig-aufeinander-zu-bewegt-werden. In seinen Untersuchungen zur »Wirkung« von Musik fragt Hennion »what works do – if we make them do it« (Hennion 2008: 39). Das »Wir« bezeichnet hierbei nicht nur menschliche Körper, sondern alle möglichen anderen Vermittler. Das »make them do« wiederum ist ein buchstäblich interaktiver Prozess. Hennion sagt: »beautiful things only offer themselves to those who offer themselves to beautiful things.« (Hennion 2008: 40) Diese Bewegung des »Wirkenlassens« konzipiert er als ein aktives Passivwerden: »One does not appreciate music, one makes oneself appreciate it: music is not beautiful, it makes itself beautiful for those who are courting it.« (Hennion 2008: 40) Die Beziehung zwischen dem Subjekt und Objekt musikalischer Leidenschaft ist also von Anfang an gegenseitig konstitutiv. Es gibt hier keine Trennung, die überwunden werden müsste, stattdessen könnte man im Anschluss an Merleau-Ponty (1986) von einem »Chiasmus von Latenzen« sprechen. Darüber hinaus stehen Subjekt und Objekt nicht in einer einsam monogamen Beziehung, sondern sind durch unzählige Vermittler aufeinander bezogen. Der »verarmten« Landschaft von Subjekt und Objekt setzt Hennion die Strategie des »repeuplement« (Hennion 2007) entgegen, die diese Vermittler sichtbar macht und auf die Landkarte setzt. Bisher wurden drei Existenzweisen von Musik und somit Arten von musical attachments vorgestellt: Werk und Sinn, Klasse und Distinktion sowie Leidenschaft und Genuss. Allerdings – und dies gilt überraschenderweise ein Stück weit auch für Hennions Arbeiten – betrachtet keiner dieser Ansätze ethnographisch situiert die Weisen musikalischen enactments. Ich werde versuchen, im Anschluss an Hennion musikalische Vermittlung zu untersuchen, betrete dafür allerdings ein Setting, in dem musikalische Produktion und Rezeption in (wenn auch unscharf) verteilten Rollen stattfindet. Dabei liegt mein Augenmerk auf Musikinstrumenten, Raumordnung, Kabeln, Lötkolben und einigen anderen unerwarteten Vermittlern des enactments von Musik. Ich hoffe dadurch beleuchten zu können, wie die Performanzen dieser Vermittler die Existenzweise (Latour 2014) von Musik hervorbringen und zugleich Anweisungen an den Hörer formulieren, welche Haltung sie im Verhältnis zu diesem Geschehen einnehmen sollen und welche Art (Ver-) Bindung es zu diesem zuweilen »musikalischen« Ereignis einzugehen gilt.
4. M odi musik alischer E rfahrung : M usik lieben , sehen , löten , pflegen Betreten wir mit Hennion und der erhöhten Aufmerksamkeit für Vermittlung bzw. Vermittler nun die halb nomadische electro-acoustic open jam session des New Yorker Medienkollektivs »Share«, die aufgrund der prominenten Rolle, die das Laptop u.a. als Musikinstrument hier einnimmt, von den Teilnehmern auch »a weekly assemblage of portable computing« genannt wird. Man versammelt sich hier in freund-
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licher Atmosphäre mit seinen Computern, tauscht sich aus, und dazu wird zusammen »musiziert«. Das Share Kollektiv stellt die Infrastruktur, also Räume und Technik für dieses wöchentliche »plug-in-and-play« Event, das offen für jedermann ist, der, mit einem elektronisch verstärkbaren Klanggerät (Instrument) ausgestattet, hereinschaut. Obwohl das kollektive Geschehen in diesem Setting oft als »Musik machen« auftritt, sind der Musikbegriff und die Situationsdefinition alles andere als stabil. Dieses Setting scheint es darauf anzulegen, Fluidität und Ambivalenz als (musikalische) Existenzweise zu etablieren und damit als Konsequenz, ein fluides, flüchtiges Objekt, das in-and-out-of-music oszilliert, sich aleatorisch versammelt (in Modus und Personal). So entstehen in diesen Versammlungen aus Streichinstrumenten, Laptops, Sequenzern etc. in koordinierter und unkoordinierter Interaktion Klangschicht(ung)en, die manchmal »Musik« manchmal »Audio« aber auch »sitting through awful noise« oder »magic moments« genannt werden können. Wir können nun mit Hennions chiastischer Figur des attachments bzw. des Einander-in-Existenz-Bringens dieser im weitesten Sinn musikalischen Praxis fragen. Wie funktioniert sie als »musicking«? Doch wo soll man eine solche Betrachtung beginnen? Mit der Idee, dem musikalischen Material, der Aufführung und ihrer räumlichen Organisation, den Spielern und ihren Instrumenten oder den (Zu-)hörern? Die Livesituation, die verschiedene musikalische Tätigkeiten und Umgangsweisen miteinander verschränkt, ist ungleich komplexer als die private Hörpraxis von Hennions Musikliebhabern, insofern sie öffentlich stattfindet und die Beteiligten unter gegenseitiger Beobachtung stehen. Ich fange mit dem auditiven Geschehen an, allerdings bereits so, wie es sich einem Szenekundigen darbietet. Dieser wird die Musik, die sich aus überlagernden Drones, Beats, Rauschen, Loops, verzerrten Gitarrenklangflächen, quietschenden Trompetensamples und synthetischen im schmerzverursachenden Frequenzbereich bewegenden Tönen zusammensetzt, als allmählich sich ändernde Klanglandschaften und -intensitäten wahrnehmen. Auch hier finden sich gängige Dramatisierungsstrategien wie Modulation in Lautstärke oder Rhythmus, Wiederholungen oder Vorhalte, wie man sie vom Techno kennt, wenn die Bassdrum für eine unbestimmte Dauer aussetzt und die Tänzer mit euphorischem Jubel deren Wiedereinsetzen quittieren. Dennoch bleibt die Dramatisierung des Geschehens doch eher niedrigschwellig und die Musik ist nicht im herkömmlichen Sinne als Livemusik und damit Zuhörmusik in Szene gesetzt, sondern oszilliert zwischen Vorder- und Hintergrund. »At Share the music doesn’t require your attention, you’re not sitting there listening to the music. And there are a lot of really avantgarde and experimental things, so we kind of are used to sitting through things that are sometimes unbearable, sometimes extraordinary.« (Share Mitglied Ilan)
Der Grundmodus ist also das Nebenbei, die Ausnahme ist das Aufhorchen und Zuhören, das sich ereignen kann, wenn aus dem akustischen Getümmel Ordnung,
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Struktur, Zusammenspiel, beobachtbare musikalische Kommunikation emergieren. Die idiomatische Undefiniertheit und die Offenheit bezüglich der Klangerzeugungsmittel wirken kontingenzverstärkend und machen koordiniertes Spiel und musikalische Kohärenz unwahrscheinlich. Eine typische Jam Session bewegt sich im Laufe des Abends wellenartig. Tonquellen kommen zusammen, erzeugen Rauschen, bilden allmählich Stimmen und Strukturen aus, entwickeln Idiom und Koordinationsregeln, und lösen sich wieder auf oder werden »langweilig« und verschwinden im Hintergrund. Das Oszillieren in (die Aufmerksamkeit hinein) und aus der Aufmerksamkeit (heraus) zeigt schon, dass wir es hier mit einer anderen musikalischen Existenzweise zu tun haben als sowohl bei Adornos konzentrierter Verstehmusik, aber auch bei Hennions intensiver Genussmusik, denn beide zielen mit Konzentration und Intensität auf Formen des sich Widmens, also auf verbindliche attachments im emotional empathischen Sinn. Das attachment bei Share, ist dagegen aleatorisch und weniger fokussiert. Dies hat zentral mit der räumlichen Organisation dieser Praxis und den Affordanzen der an ihr beteiligten Artefakte zu tun: Das Geschehen in der Share Jam Session ist räumlich distribuiert. Spieler sitzen meist in einer Bar an Tischen, im gemeinsam mit anderen Anwesenden genutzten Raum verteilt. Es gibt keine Bühne und gewissermaßen keine Richtung. Die Spieler, jedenfalls, wenn sie das zurückhaltende »Instrument« Laptop spielen, sind also kaum von den »Nicht-Spielern« zu unterscheiden. »We’ve changed the format of what traditionally is a bunch of people sitting in a room, looking in one direction. When you come to share you are looking for the direction. There is none, and you just gotta be calm with that or get used to it.« (Share Mitglied Ilan)
Die Analyse der Konsequenzen einer solchen Ambiguierung von Mitgliedschaft und der Dekonstruktion der konventionellen »Blick-Richtung« verweist auf den Zusammenhang von räumlicher Organisation musikalischer Praxis und damit dem Hören und Sehen von Musik. Denn wie Musik gemacht und rezipiert wird, hängt nicht unerheblich mit ihrer räumlichen Organisation zusammen (Johnson 1995; Small 1998; Liegl 2010). Dies hat nicht nur naheliegende Auswirkungen auf die Akustik und somit den Klang, sondern auch (und vor allem) auf die Organisation des Zusammenspiels, auf die Interaktion zwischen Spielern und Zuhörern und auf den Modus des Umgangs mit dem (musikalischen) Ereignis – und all diese Dimensionen bestimmen die Existenzweise der Musik. Die historische Rekonstruktion musikalischer Settings und Architekturen zeigt u.a. den Zusammenhang vom Zuhören und Zuschauen als musikalischer Fokussierungsstrategie. In Listening in Paris zeigt James H. Johnson (1995) anhand der Pariser Oper, wie sich im Zeitraum zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert ein architektonischmoralischer Wandel vollzog. Dabei wurde aus Gelegenheiten für das »Sehen und Gesehen werden« der aristokratischen Gesellschaft, bei denen die Musik eine Nebenrolle spielte, sukzessiv ein soziales Ereignis, bei dem es um das konzentrierte Zuhören, Erleben und Genießen von Musik ging. Diese zunehmende Kon-
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zentration auf das musikalische Geschehen zeigt sich etwa in der Neuausrichtung von Logen, die nun nicht mehr darauf ausgelegt waren, ihre Besucher (den Adel) einem Publikum zu zeigen. Stattdessen wurde das Publikum nun vielmehr auf das Bühnengeschehen ausgerichtet. Auch die Verlagerung und Rhythmisierung von musikalischem Geschehen und etwa Essen, was nun in den Pausen stattfand, sowie Diskussionen über das Verbot von sichtversperrenden großen Hüten, sind Ausdruck dieser Entwicklung. Es geht architektonisch und moralisch zunehmend darum, dem Geschehen auf der Opernbühne und später sogar auf dem Konzertparkett zu folgen. Gefolgt wird aber mit den Ohren und den Augen, musikalisches Geschehen wird in der Konzentration (zunächst) audio-visuell. Für die audio-visuelle Orientierung ist die Identifikation und Zuordnung von Stimmen wichtig, die ganz basal an Instrumentengestalt und der Nachvollziehbarkeit ihrer Manipulation durch die Musiker hängt. So lässt etwa der Strich mit dem Bogen auf der Geige diese Art von Ton erwarten. Auf Basis einer solchen KlangGestalt-Korrespondenz ist es nur natürlich, Klänge nicht nur zu hören, sondern auch nach ihnen Ausschau zu halten, sie mit den Augen zu suchen. Man folgt der Musik nicht nur in den Tönen sondern auch an den Körpern der Musiker, etwa einem Schwingen mit dem Oberkörper, dem rhythmisch betonten Atmen und dem durch Konzentration und Leidenschaft verzerrten Gesichtsausdruck. Die Beobachtung dieser Praktiken von Musikern mit sich selbst zu kommunizieren, während sie Töne produzieren, ermöglicht den Zuschauer/Zuhörern zu einem gewissen Maß den mimetisch leiblichen Mitvollzug der Musik bzw. des Musizierens. So entsteht ein basaler Zusammenhang von membership (Geiger) und Adresse (Geige), der Handlungszurechnungen ermöglicht und damit die Voraussetzung bereitstellt, dass musikalischer Sinn als aufeinander bezogene, aneinander anschließende, miteinander koordinierte Ereignisse (Handlungen) entstehen können. Ohr und Auge des aufmerksamen Hörers folgen den Stimmen, dem Zusammenspiel und den Beziehungen in der Aufmerksamkeit, wie die Augen den Noten auf der Partitur. In der Share Jam Session fallen, wie bereits angedeutet, Richtung, Stimmen und Adressen zum Teil weg, wozu, zum einen die horizontal, eingeebnete Raumorganisation ohne Bühne, zu einem wesentlichen Anteil aber das Laptop, als prominentes »Instrument« beiträgt (Abb. 1). Ambivalenzen in der Adressierung und membership entstehen, da auch andere (nicht spielende) Anwesende an Laptops sitzen und vermutlich an etwas arbeiten oder im Netz surfen, aber auch die Spieler selbst nicht die ganze Zeit spielen, aber doch am Laptop sitzen und konzentriert rumwerkeln (etwas vorbereiten, an etwas anderem arbeiten). Somit ist unklar, wer überhaupt (gerade) ein Spieler ist. So bleibt sowohl für Spieler wie für andere Anwesende uneindeutig wer (mit)spielt und wer nicht – die membership categories »Musiker«, »Publikum« sind als Orientierungsressource nur bedingt brauchbar. Unter Umständen stellt sich hier sogar die Frage, ob überhaupt irgendjemand spielt oder ob die Musik vom Band kommt und die Leute am Laptop wie im Wifi-Café schlicht jeder für sich werkeln (Abb. 2).
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Abbildung 1: »Being and playing together apart« im Share-Jam
Entsprechend ist insbesondere für Neulinge unklar, was hier als angemessenes Verhalten erwartet wird. Soll man irgendwohin schauen, aufmerksam sein, klatschen? »[…] the thing I really like is that people sitting there essentially not realizing who actually is jamming, you know, playing and then they start, you know, asking all those questions, and I said, yeah, this is … and then, by the way, are you making this sound? I’d say, yes, I’m doing it. Oh, shit, you’re performing. (laughter)« (Share Mitglied Keiko)
Es ist aber auch aufgrund der Komplexität und der Multiplizität der per Laptop erzeugbaren Töne schwierig für die Spieler, sich selbst und ihre Stimme im Sound zu identifizieren. Abbildung 2: »Being and playing together apart« im Wifi-Café
Michael Liegl — E xistenzweisen musikalischer Per formanz »Share is mostly improvisational and predominantly electronic. […] everybody is hooked into the mixer, and there are lots of sound sources, and you can’t keep track of what is what. Lots of times I don’t know who is making what sound.« (Share Mitglied Ilan)
Dies gilt es zuweilen erst – während man bereits Teil der Klangkulisse ist – herauszufinden. Eine Empfehlung bezüglich dieser »Selbstfindung« lautet: »Rather than turning your volume up, turn yourself down and listen to what disappears« (Share Mitglied Geoff). Um die identitäre und performative Ambiguität des Laptops weiter zu konturieren, lohnt es, seine Eigenschaften mit denen analoger Instrumente zu vergleichen. Zunächst gilt: Verglichen mit Laptops scheinen traditionelle Instrumente einfältig. Der Laptop ist ein offenes Artefakt, er ist weder in Gehäuse (body), noch Material oder Form auf die Erfüllung einer spezifischen Aufgabe angepasst, sondern er dient zur Lösung vieler verschiedener Aufgaben: Er ist ein multiples Artefakt, dessen Identität sich schwer fixieren lässt. Bei der Aufführung von »Musik« hat dieser Mangel an Identität Konsequenzen. Denn im Gegensatz zu analogen Instrumenten fällt hier die feste Kopplung von Geste und Ton und damit der Zusammenhang, der das Geschehen für das Publikum leicht nachvollziehbar macht, weg. Aufgrund der generischen Interfaces Computer-Maus oder Touch-Pad sind Musik-Gesten am Laptop von Gesten des »InternetSurfen« oder »durch-EMails-Scrollens« oder auch »Webdesignens« gestalthaft nicht zu unterscheiden. Damit steht – jedenfalls für Settings, in denen Musik als »watchable« aufgeführt und behandelt wird – der (sinnhafte) Nachvollzug auf dem Spiel. In Settings, wo Musik entweder lässig beiläufig, als eine Sache neben anderen in Erscheinung tritt, und wo entweder das Spiel mit Unbestimmtheit oder auch kontemplatives Hören (mit geschlossenen Augen) etabliert ist, wird dieses nicht als Problem thematisiert. An diesem Unterschied von Settings, in denen man Musik anschaut und solchen, in denen man sie lediglich hört, zeigen sich drastische Unterschiede in den Existenzweisen von »Musik«. Share Mitglied Keiko etwa formuliert letzteres folgendermaßen: »I didn’t have any interest in being seen by the audience … Existing to disappear is matching with my concept of creating situations … I am performing not to make a statement but I’m improvising with the environment in which I am placed. I am not only playing to myself or fellow musicians, but also play to the space and the environmental and surrounding sound and how the echoing is going. And accordingly I can make decisions on the spot.« (Share Mitglied Keiko)
Bei Share trägt der Umstand, dass es keine Bühne gibt, dass die Jammer von fast überall im Raum aus spielen können, mit anderen Leuten an Tischen sitzen und Bier trinken natürlich dazu bei, dass Musik weder intensiv, noch primär mit den Augen »beobachtet« wird. Der Laptop ist als Quelle von Musik nicht nur schwer identifizierbar, er bietet (entsprechend) auch tendenziell eingeschränkte Möglich-
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keiten für Expressivität und körperlichen Ausdruck im musikalischen Spiel. Die expressiven Spielräume emphatischen Tastendrückens oder mit-dem-Finger-aufdem-Trackpad-Herumfahrens sind begrenzt. Allerdings scheinen diese Gesten im Share Kontext auch nicht besonders zu fehlen. Statt Hüftschwung sehen wir entspannte, zögerliche, fast erkundende Finger – Gesten, die nach etwas zu suchen oder Probleme zu lösen scheinen. Der hier affirmierte Modus des Nebeneinander und Nebenbei, der Unbestimmtheit, wo Zu-und-Hinhören keine Pflicht ist, wo oft nicht klar ist, wer gerade spielt und wo Momente der Dramatisierung eher überraschen, erlaubt deutliche Entspannung in Sachen Expressivität – Musik ist hier animiertes Möbel, ambient, man spricht von »Decentertainment«. »A Congonese thumb piano and percussion combined playing at a bar-b-que, where one may come and go in the middle of a song, be dancing one minute then have the music serve as background for a conversation the next is decentertainment.« (Share Mitglied Rich Panciera)
Diese gründliche Umstrukturierung von Aufmerksamkeitsorganisation und Erwartungen, die sich mit dieser musikalisch-moralischen Architektur etabliert hat, zeigt sich deutlich, wenn etwa in featured sets oder spontan im Jam Geschehen, Elemente von »Aufführung« auftreten: Am Ende des Lieds blickt sich die Sängerin um, als ob sie aus Gewohnheit schauen wollte, ob irgendjemand applaudiert oder sie wenigstens anschaut. Tatsächlich sind die Anwesenden jedoch an ihren eigenen Tastaturen beschäftigt, oder tief in Gedanken vor ihren Laptops und schauen nicht mal auf. Dies ist eine deutliche Restrukturierung dessen, was es heißt ein »Performer« zu sein. Abbildung 3: Snakes ermöglichen Dezentrierung, Spielsituation in der Jam Session
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Bislang haben wir Hennions Frage »what does music do if we make it do it?« und nach den Vermittlern und attachments bei Share mit Ausführungen über die Rolle des Laptops und das dazugehörende Raumarrangement beleuchtet. Small hatte, wie bereits erwähnt, viele Aktivitäten zu »musicking« gezählt, wie »Ticketverkäufen« oder »Instrumente schleppen«. Sucht man bei Share nach Äquivalenten findet man reichhaltiges (und auch überraschendes) »Personal« für das »repeuplement« (Hennion 2007) musikalischen Geschehens. Prominente Vermittler, die dabei helfen können Share-spezifische Existenzweisen von Musik hervorzubringen, sind etwa Kabel und die Praxis des Kabellötens, der Name »Share« und das Prinzip des »sharing« sowie diverse enactments von Gemeinschaftlichkeit. Gerade genannte Audioverlängerungskabel – im Tontechnikerjargon »Snakes« genannt – spielen bei Share eine überraschend wichtige Rolle. Als Teil der Infrastruktur erlauben sie es Spielern sich von überall im Raum in das Mischpult einzustecken, was die räumlich distribuierte Spielsituation in der Jam Session ermöglicht (Abb. 3). Snakes werden von Share-Mitgliedern in gemeinsamen Löt-Sessions aus im Großhandel gekauften Einzelteilen gefertigt. Eine Praxis, die den Do-it-yourselfGeist der Gemeinschaft betont und gleichzeitig Geld spart (Abb. 4, 5). Abbildung 4 und 5: Kollektive Lötsessions
Die Snakes verbinden Spieler miteinander, und eignen sich dazu, Gemeinschaft und sharing zu thematisieren. Sie sind zudem affektiv besetzte Objekte, um die man sich liebevoll kümmert, weil sie es ermöglichen, mit geringen Mitteln flexible Klang- und Spielarchitekturen zu montieren und weil sie das Produkt gemeinschaftlicher Arbeit sind. Zudem verkörpern sie performativ die Attitüde des Sharing, ein Bündel an Praxen, Moral und Geräten, das die Share-Community bildet. Auch treten sie in stilisierter Form als Share-Logo auf, das »sharing«, »connection« oder »collaboration« symbolisiert und durch verbindende Kabel dargestellt werden soll. Sie dienen bei Share also als Darstellung (Goffman 1979) der »Togetherness« (Abb. 6).
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Abbildung 6: Share Logo
Auf gewisse Weise werden in den Löt-Sessions also nicht nur Kabel, sondern auch Gemeinschaft und die zusammenhaltende soziotechnische Infrastruktur für ein notorisch auseinanderstrebendes musikalisches Geschehen gelötet.
5. M usik alische E xistenz weisen : S oziale A le atorik und musik alische G emeinschaf t Es wurden drei soziologische Ansätze vorgestellt, die Musik als Gegenstand in verschiedenen empirischen Sättigungsgraden und auf verschiedene Weise in Erscheinung bringen. Die Unterschiede habe ich als modale identifiziert, d.h. Musik wird in diesen Ansätzen als auf unterschiedliche Weise existent beschrieben und damit auch (hier folge ich John Law) enacted. Bei Adorno ist Musik Erkenntnisgegenstand, man soll sie verstehend genießen. Bourdieu dagegen betrachtet sie (besonders wenn sie Kunst sein will) als arbiträren Gegenstand gesellschaftlicher Distinktionsspiele. Hennion wiederum beschäftigt sich mit den elaborierten Praktiken, mittels derer Musikliebhaber Musik so zelebrieren, dass sie ihnen intensive Gefühle beschert. Diesen drei Ansätzen gemein war, dass sie Formen von attachment beschrieben, in denen das Objekt und die intensive Bindung zu diesem im Mittelpunkt stand. Die Share Jam Session hingegen zeigt einen Fall, in dem das attachment nicht durchgehend intensiv ist, sondern lose, aleatorisch und damit instabile Bezüge zu Sinn, Distinktion und Passion unterhält. Die Konsequenz eines solchen »losen« attachments ist allerdings, dass auch das Phänomen (Musik) destabilisiert wird. Musik existiert hier in ontologischer Fluidität (Mol/Law 1994), oder eher noch, um auf die Objektkonzeption der durch John Law und Vicky Singleton erweiterten Actor Network Theory Bezug zu nehmen, als flackerndes »fire object« (Law/Singleton 2005), das nicht still hält und seine Existenzweise und seine Charakteristika im Laufe eines Abends ständig wechselt. Ein solches »fire object« braucht bei aller Flüchtigkeit dennoch (oder gerade deshalb) eine spezifischen Infrastruktur. Bei
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Share konnte man sehen, dass das Laptop als zugleich multipel einsetzbares und opakes Artefakt zusammen mit der besonderen Spielarchitektur der Snakes eine gewisse Unbestimmtheit der Situation erzeugt. In diesem Setting sind vielmals die Vermittler – die Programme, die selbstgebauten Klanginstallationen, Interfaces, Algorithmen, Kabel, Raumgestaltung und Tonarchitektur – genauso wichtig wie »die Sache selbst« und nicht so sehr bemüht, das Phänomen »musikalische Aufführung« emphatisch zu stabilisieren. Eine solche Zentrierungs- und damit Pathosverweigerung zugunsten von Modi des »nearby« (Minh-Ha in Chen 1992) oder »Nebenbei« verlängert das Ausprobieren weit in die Performance hinein und untergräbt, bzw. suspendiert mit einer Performanz von Vorläufigkeit zu einem gewissen Grad Ansprüche an Sinn/Wahrheit, Identität (Klassendistinktion) und große Gefühle. Gleichzeitig wird die soziale Dehnbarkeit dieser Situation, also der Umstand, dass sich trotz allen Flackerns das soziale Mit-im-Nebeneinander nicht auflöst, gerade auch durch die Snakes und Lötsessions gewährleistet – sie sind konstitutiv für die spezifische Form der Vergemeinschaftung bei Share. »Musik« steht hier zwar nicht als auratischer Gegenstand in der Daueraufmerksamkeit, sie wird aber auch nicht zur Nebensache. »Decentertainment« bedeutet daher keine Rückkehr zur gepflegten Nichtbeachtung in den Konzerthäusern des Ancien Regimes (Johnson 1995), da Intensität und intensive Beachtung hier durchaus als Ereignis eingeplant und möglich sind. Die Aufmerksamkeit oszilliert allerdings, das Geschehen spielt mit Überlagerung und ontologischer Uneindeutigkeit. So produziert es, gerade aufgrund ihrer Unwahrscheinlichkeit umso intensivere musikalische Ereignisse.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: »Being and playing together apart« im Share Jam, 2005 © Michael Liegl Abbildung 2: »Being and playing together apart« im Wifi-Café, 2005 © Michael Liegl Abbildung 3: Snakes ermöglichen Dezentrierung Spielsituation in der Jam Session, in: Liegl, Michael (2010): Digital Cornerville. Technische Leidenschaft und musikalische Vergemeinschaftung in New York. Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 142. © Nadine Donath Abbildung 4: Kollektive Lötsession I, 2005 © Michael Liegl Abbildung 5: Kollektive Lötsession II, 2005© Michael Liegl Abbildung 6: Share Logo © ShareCC
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Sinn als verkörperte Sinnlichkeit Zur Performativität und Medialität des Sinnlichen in Alltag und (Tanz-)Kunst Gabriele Klein
Erigierte Brustwarzen von weiblichen Brüsten, blutrote, halbgeöffnete Lippen, Frauengesichter mit sehnsuchtsvollen, lasziven Blicken, junge Frauen in sexistischen Posen oder in S/M-Look, in sanftes Licht getauchte sexuelle Posen von (heterosexuellen) Paaren – das sind die Bilder, die im Internet als erstes auftauchen, wenn man das Stichwort Sinnlichkeit eingibt. Sinnlichkeit, so wird hier unmissverständlich deutlich, hat etwas mit Körpern zu tun, mit nackten Körpern, mit jungen und schönen Körpern und vor allem mit Frauenkörpern, mit sexuellen Gesten und Posen. Die Google-Webseite ermöglicht auch eine differenzierte Suche. Fünf zentrale Stichworte1 sind hier vorgegeben und zu ihnen gehört auch »Sinnlichkeit und Tanz«. Tanz also scheint eine Bewegungspraxis zu sein, die Sinnlichkeit thematisiert und das übersetzt, was man sich unter »Sinnlichkeit« bildlich vorstellt. Das sind: gespreizte Frauenbeine, weit ausladende Hüftbewegungen, räkelnde Posen. Nicht das Turnen oder andere Sportarten sondern der Tanz scheint demnach das geeignete Medium zu sein, um über eine Sexualisierung der Frauenkörper das Sinnliche zu visualisieren. Der folgende Beitrag will diese Bildproduktion aufgreifen und das Verhältnis von Sinn, Körper und Sinnlichkeit, die Medialität des Sinnlichen sowie die soziale Bedeutung des Tanzes für das gesellschaftliche Verständnis von Sinnlichkeit thematisieren. Dazu soll zunächst das Verhältnis von Sinn, Sinnen und Sinnlichkeit skizziert und darauf auf bauend die Frage nach der Medialität und Performativität des Sinnlichen gestellt werden. Vor diesem Hintergrund wird die politische und ästhetische Bedeutung der Tanzkunst für die gesellschaftliche Produktion des Sinnlichen diskutiert. Das zentrale Argument dieses Beitrages ist, dass Sinn 1 | Die Google-Webseite zeigt folgende Stichworte an: »Sinnlichkeit und Sprüche«, »Sinnlichkeit und Gedicht«, »Sinnlichkeit zu zweit«, »Sinnlichkeit in einer Beziehung«, »Sinnlichkeit und Tanz« (Quelle: https://www.google.de/, letzter Zugriff: 09.05.2015).
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immer als verkörperte Sinnlichkeit in Praktiken erzeugt wird. Es wird skizziert, wie die Tanzkunst über die ästhetische Reflexion dieser alltäglichen Praktiken die sozialen Muster des Sinnlichen befragt, vorführt und unterläuft.
1. G eist und S inn — K örper und S innlichkeit Es ist ein anspruchsvolles Unternehmen, eine »Sinnlichkeit des Sozialen« zu formulieren, ist doch nicht nur das Soziale spätestens durch die ANT in die Diskussion geraten (Latour 2014). Vor allem ist dieses Ansinnen komplex, da »das Sinnliche« sich grundsätzlich schwer in Sprache und Bilder übersetzen und begrifflich fassen lässt. Bei der Sinnlichkeit handelt es sich um ein Phänomen, dessen Geschichte in westlichen Gesellschaften lange vernachlässigt und dann als eine »unterirdische Geschichte« (Horkheimer/Adorno 1993) bezeichnet wurde. Demnach erging es der Sinnlichkeit nicht anders wie dem Körper: Im Zuge der cartesianischen Aufteilung von Körper und Geist, von res extensa und res cogitans haben Körper und Sinne ein gemeinsames Schicksal zu tragen, das des Verschwindens auf Kosten des Triumphes des Geistes und der Vernunft. In den 1970er Jahren etabliert sich die Körpersoziologie – auch die Forderungen der Studentenbewegung, der Frauen-, Schwulen- und Lesbenbewegung und der Bewegung um »Freie Sexualität« reflektierend –, indem sie den Verlust des Sinnlichen und das Verschwinden des Körpers einklagt. Buchtitel wie Zur Geschichte des Körpers (Kamper/Rittner 1976), Die Wiederkehr des Körpers (Kamper/ Wulf 1982), oder Das Schwinden der Sinne (Kamper/Wulf 1984) verweisen auf diese »Verlustgeschichte«. Damit wird eine Denkfigur etabliert, die das cartesianische Denken grundlegend angreift und zugleich den engen Zusammenhang von Körpern und Sinnen behauptet, ohne ihn allerdings näher aus soziologischer Perspektive zu beschreiben. Die frühe deutschsprachige Körpersoziologie beruft sich vor allem auf die jüngere französische Philosophietradition der 1960er und 1970er Jahre, sei es auf Michael Foucaults Mikrophysik der Macht (1976), auf Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus (1995) oder auf Jean-François Lyotard (1988), dem die Aussage zugeschrieben wird, dass ein Denken ohne Körper an ein Verbrechen grenze (Kamper 1988). Körper und Sinne, Körperlichkeit und Sinnlichkeit dienen hierbei als Argumente für eine grundlegende Kritik an der Moderne. Demzufolge hat das Verschwinden des Körpers und der Sinne aus dem Diskurs der Moderne fatale Folgen: Körper und Sinne seien unvorstellbar geworden und letztendlich dem Begriff äußerlich. Diese Eliminierung aus der Sprache und die Verortung in den Bereich des Nicht-Sprechbaren haben bestimmte Zuschreibungen auf den Körper und die Sinne zur Folge, die nunmehr, im kritischen Körperdiskurs, umgedeutet und aufgewertet werden: Körper und Sinne gelten hier als das Heterogene, das Konkrete, als Vielheit, als Transzendentes, als Offenes im Unterschied zu Geist und Vernunft, die als das Homogene, das Abstrakte, als Einheit verhandelt werden.
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Diese erneut binären Zuschreibungen in der Körpertheorie aktualisieren nicht nur die cartesianische Trennung von Geist und Körper, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Sie etablieren auch ein Körperverständnis, das bis heute Konjunktur hat. Der Körper und die Sinne gelten hier als Instrumente, die gegen die Übermacht der Vernunft und der auf ihr basierenden Theorien, Normen- und Wertvorstellungen und ihre institutionellen Einschreibungen (z.B. in »körperlose« und disziplinäre Erziehungs- und Bildungseinrichtungen) ins Feld geführt werden. Aber stimmt dies denn so? Macht es »Sinn«, Körper und Sinne alleinig als erkenntnistheoretische Kategorien zu behandeln? Diese Frage soll in diesem Abschnitt diskutiert werden. Es wird der Vorschlag gemacht, »Sinne« als eine performative Kategorie zu denken und darauf auf bauend, die »Sinnlichkeit des Sozialen« als eine Praxis des Performativen zu beschreiben. Um dieses Argument zu schärfen, ist es zunächst notwendig zwischen Sinn und Sinnen zu unterscheiden und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen: Unter Sinnen – dem Plural – verstehen wir gemeinhin Wahrnehmungsorgane wie Auge, Ohr, Nase, Mund, Hand und Haut und die ihnen zugehörenden Wahrnehmungsmodalitäten wie Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. Die Sinne sind also im Körperlichen lokalisiert und zwar in doppelter Weise: als Organ und als Wahrnehmungsweise. Sinn – der Singular – meint hingegen eine spezifische Bedeutung, die Zeichen, Symbolen, Ereignissen oder Dingen zugeschrieben wird. Sinn ist damit in dem Bereich des Geistes verortet. Dabei hat sich auch der »Sinn« von seinem ursprünglichen Wortgebrauch entfernt. Sinn ist eine Nominalbildung aus alt- und mittelhochdeutschen Verben, die reisen, senden, sich auf etwas richten meinen (Grimm 1999: 1103ff.). Etymologisch bezeichnet Sinn demnach eine Bewegung, eine Gerichtetheit im Vollzug. Dieser Wortstamm zeigt sich bis heute in Alltagsbegriffen wie Uhrzeigersinn, Eigensinn oder Widersinn oder in Redewendungen wie »danach steht mir nicht der Sinn«. Sybille Krämer (1998) konstatiert in der Geschichte des westlichen neuzeitlichen Denkens vor allem zwei Perspektiven, mit denen das Verhältnis von Sinn und Sinnen beschrieben wird: Epistemologisierung und Hermeneutisierung. Überträgt man diese Überlegung auf Sinne und Körper, bzw. Sinnlichkeit und Körperlichkeit ist zum einen eine Epistemologisierung der Sinne und des Körpers zu konstatieren, insofern Sinne und Körper als ein Erkenntnismedium des Geistes gedacht werden. Zum anderen ist eine Hermeneutisierung der Sinnlichkeit und der Körperlichkeit zu beobachten, insofern das Sinnliche und das Körperliche als Ausdruck des Sinns angesehen werden. Beide Perspektiven finden sich in den Denkmodellen der Körpersoziologie wieder, wenn hier von dem Körper als Sinnstifter oder der Sinnlichkeit als Widerstandsfigur gegen Rationalität die Rede ist. Demnach besteht der soziale Sinn des Körpers darin, Repräsentant des sozialen Status, des Geschlechts etc. zu sein und der Sinn körperlicher Aktivitäten wie dem Tanz darin, der Sinnlichkeit Ausdruck zu verleihen oder sich über die körperlich-sinnliche Erfahrung des Tanzens selbst zu finden oder dem Heterogenen
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des Subjekts Möglichkeit zur Entfaltung zu geben. Sinnlichkeit wiederum wird als Medium für einen Rückbezug auf Subjektivität gedacht und damit als eine Erfahrungskategorie konzipiert, die das »Andere«, das Konkrete jenseits von Abstraktion und Rationalität hervorzubringen vermag. An den eingangs erwähnten Bilderwelten der Sinnlichkeit lässt sich ablesen, inwieweit Werbung und Entertainment im Rahmen einer Consumer Culture diesen Widerstandsmoment des Sinnlichen bereits eingefangen und in ihren Bildästhetiken verarbeitet haben. Vor dem Hintergrund einer Epistemologisierung und Hermeneutisierung lässt sich insgesamt also der soziale Sinn von Sinnen und Körpern, von Sinnlichkeit und Körperlichkeit folgendermaßen umreißen: Körper und Sinne, Sinnlichkeit und Körperlichkeit wären demnach als Medien – verstanden als Sinnvermittler und/oder als Sinngenerator – beschreibbar, die erkenntnisvermittelnd und/oder sinngenerierend sind. Während diese Zuschreibung Körpern und Sinnen eine Medialität und Modalität in Bezug auf Sinnerzeugung zuweist und Körper als materielle Zeichenträger versteht, die der Welt der hermeneutischen Entitäten untergeordnet werden, wird hier die These vertreten, dass der soziale Sinn des Sinnlichen in Raum und Zeit angelegt und in die Praxis eingeschrieben ist, d.h. materiell ist und zugleich kontingent, insofern er in Praktiken hervorgebracht wird. Sinnlichkeit meint demnach nicht die eigene Empfänglichkeit, die es uns ermöglicht, die Welt über die Sinne durch Empfindung wahrzunehmen, sie lässt also sich nicht allein als das rein Subjektive der Erkenntnis bezeichnen. Vielmehr ist das Sinnliche sozial insofern es in Praktiken eingeschrieben ist. Dieses Sinnliche der Praxis ist es, das unsere Sinne affiziert und die notwendige Bedingung und auch Grenze der auf Erfahrung gründenden Erkenntnis darstellt. Sinn lässt sich somit nicht als das rein Geistige sondern als ein das Sinnliche verkörpernder Sinn beschreiben. Oder anders formuliert: Sinngenerierung erfolgt über die performative Hervorbringung des in den Körpern und den Dingen eingeschriebenen und in Praktiken erzeugten Sinnlichen. Diese These ist nicht neu. Sie wird beispielsweise prominent vertreten durch die Phänomenologie. So besteht Maurice Merleau-Ponty darauf, dass die Trennung von Subjekt und Objekt verhindere, das Sinnliche überhaupt zu erkennen »und beraubt sich dessen erhellender Kraft« (Merleau-Ponty 2004: 180). Er beschreibt das Sinnliche nicht als das Gegenteil von Sinn, sondern den Sinn als Bestandteil des »sehenden Leibs, des Berührbaren in dem berührenden Leib« (Merleau-Ponty 2004: 191). Bruno Latour wiederum hat mit einem anderen theoretischen Zugang, der ANT die für eine Annäherung an das Sinnliche hinderlichen Grenzen von Subjekt und Objekt zu unterlaufen versucht. Er beschreibt Bilder und Texte als hybride, als »Quasi-Objekte«, die agieren, insofern sie das, was sie vermitteln sollen (in unserem Fall: »Sinnlichkeit«) zugleich übersetzen, umdefinieren, neu entfalten oder auch verraten (Latour 2009: 110). Als Akteure erschaffen sie das, was sie übersetzen, sie repräsentieren nicht »Sinn«, sondern wirken performativ. Sie transportieren auch nicht »Sinn« (in unserem Fall: die
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gesellschaftliche Bedeutung von Sinnlichkeit), sind also nicht als Medium in der klassischen Bedeutung des Begriffs zu bezeichnen, sondern sie sind medial, weil sie den Sinn sinnlich verkörpern. Eine Sinnlichkeit des Sozialen wäre demnach immer aufgefordert, die Performativität und Medialität der Verkörperungen des Sinnlichen in sozialen Praxen zu reflektieren.
2. S innlichkeit und (Tanz -)Ä sthe tik Zu der Bildpraxis der Verkörperungen des Sinnlichen gehört der Tanz. In den eingangs genannten Bildern werden geschlechtsspezifische, männlich hegemoniale und sexistische Vorstellungen von Tanz an Sinnlichkeit gekoppelt und in sexualisierte Bilder über Sinnlichkeit übersetzt. In dieser Koppelung zeigt sich die enge Verschränkung von Medialität und Performativität insofern, als diese Bildästhetik den Sinn des Tanzes als Medium des Sinnlichen erst produziert (und nicht abbildet) und zugleich Sinnlichkeit als ein rein körperliches und sexuelles Phänomen und Frauenkörper als Repräsentanten der Sinnlichkeit in Erscheinung bringt. Gegenteilig zu dieser Bildstrategie und -ästhetik, die die sozialen Vorstellungen von Sinnlichkeit und Tanz entscheidend mit prägt, ist das Selbstverständnis von Tanz als Kunstform: Tanz gilt als die Kunst, die die Sinnlichkeit des Sozialen in besonderer Weise ästhetisch zu reflektieren vermag. Im Gegensatz zu den Alltagsbildern schärft die Kunst die Wahrnehmung. Es ist ihre Aufgabe, neue Wahrnehmungsräume zu schaffen, die den herkömmlichen Mustern der Wahrnehmung entgegenlaufen, sie ent-rücken. Denn Wahrnehmung ist zwar immer aisthetisch, also sinnlich, aber nicht unbedingt immer ästhetisch, also künstlerisch. Erst wenn man diese beiden Formen der Wahrnehmung trennt, die häufig unter dem Begriff der ästhetischen Wahrnehmung firmieren, lässt sich der Stellenwert der Kunst für die »Arbeit« an den sozialen Mustern der Wahrnehmung erkennen. Soziale Muster der Wahrnehmung äußern sich als inkorporierte Normen und als Gewohnheiten. Wenn es in der Moderne die Aufgabe der Kunst ist, mit den ästhetischen Mitteln der Kunst die aisthetische (sinnliche) Wahrnehmung zu befragen und deren Gewohnheiten zu reflektieren, dann ist Tanz die Kunst, die über spezifische Körper-Ästhetiken mit Wahrnehmungen spielt und soziale Muster der Wahrnehmung in und über körperliche Praktiken befragt. Da das Medium des Tanzes der Körper ist, kann Tanz in spezifischer Weise den sozialen Sinn – und mit ihm die Machtstrukturen – der inkorporierten Sinnlichkeit vorführen. Tanz – auch populärer Tanz – kann aufgrund seiner körperlichen Praktiken Widerstand gegen die sozialen und kulturellen Muster des Sinnlichen evozieren und die sozialen Normierungen der Wahrnehmung unterlaufen (z.B. in Veitstänzen, Tarantella etc. im ausgehenden Mittelalter, in den »wilden Tänzen« des 20. Jahrhunderts wie Argentinischen Tango zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Rock ’n’
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Roll in den 1950er Jahren oder Techno und B-Boying (Breakdance) in den 1990er Jahren). Aber dieses dem Tanz zugeschriebene widerständige Potential hat auch eine Kehrseite: Tanz kann aufgrund seiner Gebundenheit an den Körper auch Affirmation sein (wie der Walzer als bürgerlicher Konventionstanz oder das Ballett als körperlich-sinnliche Ordnung höfischer Figuration). Die Entwicklung und der jeweilige historische Stand der Tanzkunst thematisieren und reflektieren von daher immer den aktuellen Stand der Sozialität des Sinnlichen und den jeweiligen Ort der Kritik der Tanzkunst. So war der Ausdruckstanz der 1920er Jahre ein wesentlicher Vorreiter nicht nur für ein neues Verständnis des modernen Subjekts, sondern er produzierte auch mit seiner neuen Bewegungsästhetik einen anderen Blick auf Sinnlichkeit und Körperlichkeit im Tanz und den tanzenden Frauenkörper. Denn Sinnlichkeit war spätestens seit dem Romantischen Ballett des 19. Jahrhunderts an den Ballerinenkörper gebunden und hierbei ging es nicht nur um die Virtuosität ihres Tanzes: In der Pariser Oper etwa erfreuten sich die männlichen Zuschauer erst von ihren Logen aus an dem Tanz der Tänzerinnen, nach der Aufführung vergnügten sie sich mit den ihr geringes Einkommen aufbessernden Tänzerinnen des Corps de Ballet im Séparée. Die Libertinage ist fester Bestandteil der Ballettgeschichte und zu ihr gehört auch die enge Verbindung von Sinnlichkeit, Sexualität und Tanz und die Bildästhetik der sinnlichen Tänzerin. Mit dem Ausdruckstanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem modern und postmodern dance der 1960er Jahre, dem Tanztheater der 1970er Jahre, dem new dance der 1980er Jahre sowie dem Konzepttanz der 1990er Jahre war es in der Kunst der Moderne vor allem die Tanzkunst, die die Koppelung von Körper, Sinn und Sinnlichkeit in den Mittelpunkt rückte. Auch wenn dies in den jeweiligen Genres des künstlerischen Tanzes mit sehr unterschiedlichen künstlerischen Mitteln geschah, was in diesem Text nicht nachgezeichnet werden kann (Klein 2015): Was kann Tanzkunst uns über die Sinnlichkeit des Sozialen lehren? Es ist kein historischer Zufall, dass die Paradigmenwechsel in der Tanzkunst in den entscheidenden Umbrüchen der Moderne stattfinden und hier parallel zu epistemologischen Umbrüchen verlaufen. So vollzieht sich in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur der Umbruch in die postindustrielle, neoliberale und postfordistische Gesellschaft. Vielmehr erfolgt parallel zu dem Diskurs um die Wiederkehr des Körpers und mit dem Einklagen des Schwindens der Sinne auch ein (tanz-)ästhetischer Paradigmenwechsel. Die Tanzkunst macht den Alltag zum Thema und mit ihm die Straße, d.h. den öffentlichen Raum zum Ort des Theaters. Die New Yorker Choreografin Trisha Brown beispielsweise definiert nicht nur den Stadt-Raum als Bühne – und wird damit, wie andere Künstler auch, zur Avantgarde einer späteren in den 1980er Jahren einsetzenden, kommerziell motivierten Theatralisierung des Stadtraumes. Sie irritierte die Wahrnehmung vom menschlichen Gang und das Wissen um die Gesetze der Schwerkraft und auch den bislang gängigen Begriff von Choreografie und Tanz, indem sie 1970 in der Choreografie Man walking down the side of the building den Tänzer einen Wolkenkratzer in Manhattan heruntergehen ließ. Die Kunst des Tänzers bestand darin,
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seinen angeseilten Körper als nicht von der Schwerkraft enthoben zu zeigen und so zu gehen als befände er sich auf der Straße.2 Zeitgleich revolutionierte Pina Bausch in den 1970er Jahren nicht von der Tanzmetropole New York sondern von Wuppertal aus den Tanz, indem sie den Alltag künstlerisch reflektierte. Sie stellte ihren Tänzern in den Proben Fragen nach Alltagswahrnehmungen, -erfahrungen und -gegenständen. Ihre Antworten übersetzte sie in Choreografien, die mit ihrem fragmentierten Collageprinzip die Heterogenität der sozialen Wahrnehmung in dieser gesellschaftlichen Umbruchsituation und das Ineinanderlaufen und Überlappen von Sozialem ästhetisch hervorbringen. Durch das Übersetzen des Sinnenhaften ins Künstlerische und mithilfe dramaturgischer und choreografischer Mittel befragte sie damit die Sozialität und mit ihr auch die (u.a. durch Bilder erzeugte) Macht und Begehrensstruktur des Sinnlichen. Es gibt in den insgesamt knapp 50 Choreografien unzählige Szenen, die die Macht der (weiblichen) Körperbilder und die (sexistischen und heteronormativen) Bild-Vorstellungen von Sinnlichkeit in Szene setzen, ähnlich wie diese: Mechthild Grossmann kommt auf die Bühne mit wallendem Haar, tiefrot geschminkten Lippen, in einem knappen Body, ihre Schultern umhüllt von einer Federboa. Sie stellt sich an die Bühnenrampe in Modelpose, setzt einen lasziven, einladenden Blick auf, öffnet leicht ihre Lippen, fixiert nach und nach die Zuschauer in der ersten Reihe, zieht eine Seite ihres Body, hoch bis fast zur Taille und sagt: »Schauen Sie mal, wie lang meine Beine sind. Ist das nicht sinnlich? Und wenn ich meinen Body noch höher ziehe, dann wird mein Bein immer länger. Und schauen Sie (und sie reißt dabei an ihrem Body, und zieht ihn Richtung Achseln) irgendwann geht mir mein Bein dann bis unter die Arme.« Die Bildästhetik des Künstlerischen trifft hier auf alltägliche Bildästhetiken. Der Berliner Choreograf Felix Ruckert wiederum thematisierte in dem Stück Secret Service (2002) die enge Verbindung von Sinnlichkeit, Sexualität und Pornografie, indem er die Besucher selbst in das Stück integrierte und sie zu Akteuren machte. Den Zuschauern wurden die Augen verbunden, sie wurden in einen dunklen Raum geführt und dort mit Bewegungen und Berührungen konfrontiert, von und mit wem, blieb offen: Wem gehört die Hand, die mich gerade führt? Wer beißt mich in den rechten Arm? Wer nimmt meine linke Hand und lässt sie durch seine Achselhöhle gleiten? Wer riecht so intensiv nach Schweiß? Wer will wo von mir berührt werden? Wer führt die Hand an die Innenflächen meiner Oberschenkel? Wer beobachtet mich gerade? – diese und ähnliche Fragen tauchten während der Aktion bei den Beteiligten auf und machten die Differenz zwischen dem Sinnlichen, Erotischen, Sexuellen und Pornografischen im Spannungsfeld von Lust und Leidenschaft, Scham und Peinlichkeit, Angst und Aggression am eigenen Körper erfahrbar.
2 | Zu Browns Choreografie Man walking down the side of the building siehe: www.trisha browncompany.org/?page=view&nr=1187 (letzter Zugriff: 30.05.2015).
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Durch Rahmenwechsel (z.B. der theatralen Rahmung des öffentlichen Raums oder der Übersetzung alltäglicher Bewegungen in den Raum des Theaters oder der Übertragung der dark rooms in das Theater), durch Überzeichnungen, Verfremdungen und Neucodierungen werden in diesen künstlerischen Arbeiten die inkorporierten und die mit den alltäglichen Bildästhetiken und Vorstellungswelten verbundenen Begehrensstrukturen vorgeführt. Diese kritische Distanz im Ästhetischen zu erzeugen wird allerdings umso schwerer, wenn das Alltägliche und Profane selbst ästhetisiert wird.
3. Ä sthe tisierung des S ozialen und die P olitik des Ä sthe tischen Zeitgleich mit diesen (tanz-)ästhetischen Reflexionen von Alltagswahrnehmungen und Alltagsbildern lassen sich seit den 1970er Jahren Prozesse der Ästhetisierung und Theatralisierung des Sozialen selbst beobachten, die den sozialen Sinn des Sinnlichen und dessen verkörperte Praxis fundamental veränderten. Ästhetisierung wurde hierbei als eine tiefgreifende Veränderung nicht nur des Ethischen sondern auch des Politischen und des Sozialen verstanden. »Ästhetisierung« ist ein Keyword, das die Kulturkritik des 20. Jahrhunderts durchzieht: Von Walter Benjamins Diagnose einer »Ästhetisierung des politischen Lebens« (Benjamin 1991) über Guy Debords Gesellschaft des Spektakels (Debord 1996) bis hin zu den unterschiedlichen Positionen der Postmodernekritik (z.B. Habermas 1985; Bubner 1989; Eagleton 1994; Ferry 2002; Boltanski/Chiapello 2003). Ausgelotet wurde hier das Verhältnis von Ästhetischem und Nicht-Ästhetischen insofern, als das Ästhetische im Modus der Ästhetisierung als etwas von außen Eintretendes verstanden wurde, das verschiedene Bereiche wie die Politik, die Religion, die Ethik, die Vernunft in eine Krise treibt und jeweils die normativen Grundlagen in Frage stellt und unterläuft. Ästhetisierung führt aus Sicht der Kritiker zu einer fundamentalen Veränderung des sozialen Gefüges: zur Herrschaft des Scheins über das Sein, bei dem Handeln zu einer spektakulären Inszenierung, Inhalte zu Bildern, Aktion zur Performance, Selbstverständnis zur Pose, Protest zum Spektakel und soziale Verbindlichkeiten zu ästhetischen Relationen werden. Im Zuge dieser Ästhetisierung des Sozialen werde dieser Lesart zufolge auch der Körper zum Bild. Körpererfahrung könne folglich nicht mehr als »authentische« Erfahrung begriffen werden, sondern als eine mimetische Angleichung an Bilder. Entsprechend dieser fundamentalen Veränderungen der kulturellen und normativen Grundlagen des Sozialen sprachen Ästhetisierungskritiker von »Anästhetisierung« (Welsch 1996) oder befürchteten – wie Rüdiger Bubner (1989) – in Ästhetisierungen den Verlust des Politischen. Die Gefahr der Ästhetisierung wird also, in den kritischen Positionen der Soziologie wie Philosophie, in den desintegrativen Wirkungen gesehen, die das Ästhetische für das soziale Gemeinwesen haben kann.
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Die Tanzkunst war und ist also mit einem doppelten Problem konfrontiert: Zum einen ästhetische, d.h. künstlerische Praktiken zu entwickeln, die die aisthetische Wahrnehmung, d.h. soziale Muster des Sinnlichen, zu befragen vermögen. Zudem ist sie aufgefordert, diese mit dem gesellschaftlichen Trend zur Ästhetisierung (also »Versinnlichung«, aber auch »Verkünstelung«) und Theatralisierung des Sozialen zu konfrontieren, die den alltäglichen Raum selbst zur Bühne modelliert und das Handeln als Performance umdefiniert hat. Aber: Muss das Aisthetische (Sinnenhafte) zwangsläufig eine das Politische entstellende Transformation bedeuten? Anders als in der Ästhetisierungskritik haben sich Positionen in Philosophie (Boehm 1995; Welsch 1993), Religions- und Geschichtswissenschaft (White 1991; Lamberd 2003), Literatur- und Kunstwissenschaft (Bredekamp 1999; Vogl 1999; Iser 2003; Brombach u.a. 2011; Rebentisch 2011;) entwickelt, die der Kritik an der Ästhetisierung nicht folgen wollen und eine gegenteilige Position stark machen: Das Ästhetische ist demnach für politische, religiöse, soziale und epistemische Praktiken konstitutiv. Ästhetisierung bezeichnet demnach nicht einen Prozess der Störung, sondern wird als ein immanenter Bestandteil angesehen, der zum Gelingen dieser Praktiken beiträgt. Zugleich wird das Ästhetische als Schlüsselbegriff anerkannt, um moderne Konzepte des Wissens, des Politischen und des Religiösen auf den Prüfstand zu stellen. Dies deshalb, weil gerade das Fehlen des Ästhetischen als ein Aspekt der Krise angesehen wird. An diese Positionen knüpft die Argumentation dieses Textes an, wenn hier Praktiken nicht nur als routinisiert verstanden werden, wie in der Praxistheorie gängig, sondern das Sinnliche als eine Medialität der Praxis beschrieben wird und die in die Praktiken eingeschriebenen sozialen Muster der Wahrnehmung als grundlegend für die Bildung von Routinen angesehen werden. In der Verbindung von Sozialem und Ästhetischem ist den Praktiken selbst ein politisches Moment zugeschrieben. Der französische Philosoph Jacques Rancière versteht Politisches und Ästhetisches als zwei Formen der »Aufteilung des Sinnlichen«. Er fasst das Politische normativ und fokussiert auf einen Aspekt: Politische Tätigkeit ist jene Tätigkeit, die »einen Körper von seinem natürlichen oder dem ihm als natürlich zugeteilten Ort entfernt, das sichtbar macht, was nicht hätte gesehen werden sollen, und das als Rede verständlich macht, was nur als Lärm gelten durfte« (Rancière 2006: 9). Analog zur Bindung des Begriffs des Politischen an konkrete Praxen ist das Sinnliche weder nur als eine Wahrnehmungsform zu beschreiben noch steht es außerhalb des Politischen. Vielmehr ist es in Praxen und soziale Figurationen eingeschrieben – und zwar deshalb, weil diese Praxen und Figurationen selbst mit ihren Normen, Regeln und Gewohnheiten bereits die sinnliche Wahrnehmung steuern, indem sie Menschen sozial verorten und ihnen soziale und politische Handlungsspielräume zuordnen und auf diese Weise soziale Wahrnehmung regeln. Genau hier liegen auch die politischen Dimensionen des Körperlich-Sinnlichen, also die Dimensionen dessen, was in Anlehnung an André Lepecki (2008) eine »kinästhetische Politik« genannt werden kann. Es ist ein Politikbegriff, der
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Körperlich-Sinnliches und Politisches miteinander verwebt: Politische Tätigkeit ist demnach als eine sinnliche Praxis des Sichtbar-Machens und Verschiebens kultureller und sozialer Codes zu verstehen – und zwar in der Weise, dass sie in Dissens geraten zu der, wie Rancière es nennt, »polizeilichen Ordnung« (Rancière 2006). Hierin liegt auch die Potentialität der Tanzkunst: im Dis-Placement, der De-Position von Wahrnehmungsmustern, routinisierten Körperpraktiken und alltäglichen Körperbildern.
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Blinde Flecken vor grauem Putz Künstlerische Praxis und ethnografische Grenzgänge auf den Spuren sinnlicher Wahrnehmung Christiane Schürkmann
1. E inleitung Mit einem anthropologisch beobachtenden Blick haben Soziologen die Arbeitsweisen in naturwissenschaftlichen Laboren untersucht (Knorr Cetina 1981; Latour/ Woolgar 1986), Wissenskulturen in ihren Eigenlogiken beschrieben (Rheinberger 1997; Knorr Cetina 1999) und das Zusammenspiel von Artefakten und Körpern als Bestandteil sozialer Prozesse analysiert.1 Im besonderen Fokus steht hierbei oftmals die Frage, wie Wissen praktisch hergestellt, erzeugt bzw. konstruiert wird und wie die Teilnehmer dieses Wissen füreinander zugänglich machen. Ausgehend von einem derartig beobachtenden Blick sind eine Vielzahl verschiedener Felder in ihren Herstellungs- und Erzeugungspraktiken ethnografisch beforscht worden, wie beispielsweise Schule und Unterricht (Röhl 2013), Finanzmärkte (Knorr Cetina/Preda 2004; Kalthoff/Vormbusch 2012), Kreativpraktiken in der Werbeindustrie (Krämer 2014), Körper und Sport (Schindler 2011) sowie der Bereich sozialwissenschaftlicher Schreib- und Lesetätigkeiten (Engert/Krey 2013). Für Ethnografen begründet sich in den jeweiligen Praktiken der Teilnehmer ihrer Felder ein theoretisch eingebetteter Beobachtungsgegenstand (Schatzki u.a. 2001, 2002; Reckwitz 2003).2 So lassen sich soziale Praktiken unter anderem in ihren materiellen und sequenziellen Dimensionen, in ihren Routinen und 1 | Der Text hat von dem Austausch mit den Herausgeberinnen Hanna Göbel und Sophia Prinz profitieren können, beiden sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ein weiterer herzlicher Dank gilt Herbert Kalthoff, Caroline Heise sowie den Teilnehmern des Kolloquiums »Theoretische Empirie« an der Universität Mainz. 2 | An dieser Stelle sei auf die praxistheoretische Grundannahme hingewiesen, dass Praktiken in ihren Darstellungen, Abläufen und Vollzügen eine performative Seite haben und beobachtbar sind (Schatzki 1996: 41; Reckwitz 2003).
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Dynamiken, in ihren Stabilitäten und Instabilitäten beobachten und beschreiben (Schäfer 2013). Praktiken wohnt – so eine etablierte Annahme – implizites Wissen (Polanyi 1985) inne, das körperlich gebunden, praktisch erlernt und nicht ohne weiteres verbalisierbar ist. In der Tradition eines derartig kultur- und wissenssoziologisch situierten, ethnografischen Beobachtens, das sich stets auch als ein teilnehmendes Beobachten begreift (Spradley 1980; Emerson u.a. 1995; Hammersley/Atkinson 2009; Breidenstein u.a. 2013), habe ich mich in den vergangenen vier Jahren an Orte begeben, in denen künstlerisches Arbeiten im Bereich der bildenden Kunst praktiziert wurde. Konkrete Stationen meiner Feldforschung waren Kunstakademien und Kunsthochschulen, internationale Kunstausstellungen (beispielsweise die 55. Biennale di Venezia, Documenta [13]), die Ateliers von zwei Künstlern, ein Ausstellungsprojekt in einem großstädtischen Kunstverein sowie ein Künstlerhaus in Italien, in dessen Namen Ateliersstipendien an Künstler3 vergeben werden. Beobachtet habe ich, wie Künstler ihre »Arbeiten«4 und Werke herstellen und wie sie – auch in Form von Kolloquien – in Anbetracht eigener und anderer Arbeiten sprechen und schweigen, über ihre Arbeiten reflektieren und sie auch kritisieren. Hierbei gerät besonders das Sehen bzw. Wahrnehmen in künstlerischen Prozessen als solches in den Fokus des ethnografischen Blicks. Wie jedoch kann sich eine soziologisch-ethnografische Forschung auf die Spur der Praxis künstlerischen Sehens und Wahrnehmens begeben, um wiederum etwas über diese Praxis oder besser von ihr zu erfahren? Allgemeiner stellt sich die Frage, wie sich Ethnografie einen Zugang zu einem Feld erarbeiten kann, in welchem »Verstehen« auch bzw. in besonderer Weise an das Sehen und Wahrnehmen als solches gekoppelt ist. Das Vorhaben, die Praxis künstlerischer Arbeitsprozesse aus einer soziologisch-ethnografischen Position heraus in den Blick zu nehmen und in Bezug auf ihr implizites bzw. praktisches Wissen zu befragen, hat sich bereits im Zuge der Feldaufenthalte zu einem Grenzgang entwickelt. So begegnete ein, in seinem Ausgang soziologisch-ethnografisches Beobachten im Feld der bildenden Kunst einer ganz eigenen Weise des Sehens – eine Weise, wie sie von Künstlern in ihren Arbeitsprozessen praktiziert wird. Der ethnografischen Forschung gilt die Irritation durch ein Feld als bekanntes Phänomen, wobei das ethnografische Beobachten künstlerischer Prozesse auf eine spezifische Weise irritiert wurde, die sich in den Eigenheiten des Feldes begründet. Für Künstler besteht eine Herausforderung insbesondere darin, in Dingen, Ereignissen oder allgemein in dem
3 | Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung wird im Folgenden nur die männliche Form verwendet, wobei stets Personen jeglichen Geschlechts gemeint sind. 4 | Künstler sprechen oftmals von »Arbeiten«, wenn sie sich bezüglich ihrer Malereien, Installationen, Fotografien etc. äußern, sodass ich diese Bezeichnung als einen Begriff aus dem Feld übernehme.
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sich Zeigenden5, Eigenes bzw. Anderes zu sehen, das sich in ihren Arbeiten und Werken sodann materialisiert und zeigt. Dieses Sehen qualifiziert sich als eines, das in dieser Weise bestimmt-unbestimmten Eigenlogiken folgt: »In der Kunst als einem Medium der Unterbrechung intersubjektiv autorisierter Wahrnehmungsgewohnheiten ist Sehen weit über seine identifizierende Funktion hinaus ein methodisch praktiziertes Anderssehen« (Schürmann 2008: 211). Anderssehen umfasst hiernach ein Sehen, das Anderes als Gewohnheiten oder gar Gewohnheiten als Anderes in den Blick zu nehmen vermag – ein Sehen, das »mit den Routinen eines auf Bescheid wissen und Verfügen zielenden Sehens bricht« (Schürmann 2008: 211). Künstlerisches Arbeiten erschließt sich folglich auch als ein Feld, das permanent an seinem eigenen Sehen arbeitet und das sich nicht in Wahrnehmungsroutinen einrichtet, muss es doch stets Anderes hervorbringen. Die Deroutinisierung liegt bereits in einem Sehen begründet, welches – in einem Zusammenspiel aus Zeigen und Verbergen – Sichtbares und Nicht-Sichtbares neu konfiguriert. Seine alltägliche Routine, aber auch seine forcierte Praxis, findet künstlerisches Arbeiten in diesem Modus der Deroutinisierung eigener Wahrnehmungsgewohnheiten. Man kann dieses Sehen im Sinne Bourdieus (1997, 2001: 490ff.) als habitualisierte und inkorporierte »Wahrnehmungsschemata« beschreiben, die auf den sozialen Status sowie die soziale Herkunft des Künstlers verweisen. Habituell angeeignet wird gleichwohl die Einforderung des Umgangs mit Ungewohntem und Anderem im Sinne eines Entregelns und (Re-)Konfigurierens von Schemata. Aus systemtheoretischer Perspektive weist Luhmann (1997: 71) auf das in der Kunst entstehende Paradox »der Beobachtbarkeit des Unbeobachtbaren« hin. Kunst wird hiernach selbst Weltzugang. Mit anderen Worten: Künstlerisches Sehen und Wahrnehmen ist nicht nur Mittel oder Werkzeug, mit dem Künstler pragmatisch operieren, um ihre Arbeiten »fertig« zustellen. Es wird zudem grundlegend für einen Zugang dazu, wie sich was und was sich wie zeigen kann – ein Zugang, aus dem heraus sich Differenzen, Anschlüsse, Möglichkeiten und Verwerfungen des sich Zeigenden und Verbergenden generieren. Bis hierin soll deutlich geworden sein, dass Sehen und Wahrnehmen als solches für die ethnografisch-soziologische Erforschung künstlerischer Praxis wichtig ist. Die Soziologie hat sich schon früh den Sinnen und somit auch sinnlicher Wahrnehmung zugewandt (Simmel 1992), wobei Luhmann (2007: 13) schon zu 5 | Nach Mersch (2002) findet das Sichzeigende in dessen Materialität, Präsenz sowie als Ereignis einen Bereich, der das Zeichenhafte überschreitet. Merleau-Ponty koppelt das sich Zeigende an ein leiblich verankertes Sehen, das ein Zeigen und Verbergen umfasst: »Sehen heißt ein Feld von sich zeigendem Seienden betreten, und keines vermöchte sich zu zeigen, könnte es nicht auch sich hinter anderem oder in meinem Rücken verbergen. Mit anderen Worten: einen Gegenstand anblicken, heißt in ihm heimisch werden und von ihm aus alle anderen Dinge nach ihren ihm zugewandten Seiten erblicken.« (Merleau-Ponty 1974: 92)
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Beginn in Die Kunst der Gesellschaft auf eine wissens- und erkenntnistheoretische Tradition hierarchischer Unterordnung von Sinnlichkeit bzw. Wahrnehmung »im Vergleich zu den höheren, reflektierenden Funktionen des Verstandes und der Vernunft« aufmerksam macht. Insbesondere die Phänomenologie hat sich darum bemüht, die Wahrnehmung aus ihrer Marginalisierung zu befreien und sie weder einer vergeistigten Philosophie noch einer empiristischen Psychologie zu überlassen. Als einer ihrer prominentesten und einschlägigsten »Fürsprecher« hat Maurice Merleau-Ponty (1974, 2003a) seiner Phänomenologie zunächst die Wahrnehmung als Zugang zur Welt vorangestellt und eine Aufhebung dualistischer Abgrenzungen des Wahrnehmens gegenüber einer im Geistigen lagernden Ratio, aber auch gegenüber einem empiristisch gefassten wissenschaftlichen Wissen gefordert. Hiernach bedingen Wahrnehmen und Wissen einander. Folgt man seinen Argumenten, so geht nicht die Wahrnehmung einseitig aus einem sozialisierten, inkorporierten und impliziten Wissen hervor. Wahrnehmen und Wissen begegnen sich vielmehr in einer Verschränkung. So habitualisiert sozialisiertes Wissen unser Wahrnehmen, zugleich jedoch speist sich unser Wissen aus der Wahrnehmung: »Alles Wissen begründet sich erst in den Horizonten, die die Wahrnehmung uns eröffnet« (Merleau-Ponty 1974: 244). Das Wahrnehmen von Unbekanntem, Neuem oder eben Anderem bewegt sich sodann an den Grenzen unseres Wissens und konfrontiert uns mit Unsicherheit, Fragen, Zögern und Staunen – ein Phänomen, das Merleau-Ponty mit Bezugnahme auf das Kind, den Schriftsteller, den Philosophen und auch den Künstler in den Blick genommen hat. Ausgang der Wahrnehmung ist, Merleau-Pontys Phänomenologie zufolge, der Leib (Merleau-Ponty 1974: 89ff.) der »als ein Sensorium und Motorium commune« (Waldenfels 2010: 11) Sinnlichkeit verortet. In ihm vereinen sich »die verschiedenen Fäden der Aisthesis, der Kinesis und der Poiesis« (Waldenfels 2010: 11). Die Berücksichtigung des Wahrnehmens von Ungewohntem oder Anderem birgt auch für die ethnografische Forschung das von Schürmann angesprochene methodische Potential, sich in seinen Routinen durch das Andere – wie ein anders vorgehendes Sehen – irritieren zu lassen. Die Bereitschaft zur Irritation geht von der eigenen leiblichen Involvierung der Ethnografin im Feld aus. Der von Merleau-Ponty konzeptualisierte Leib bietet für die ethnografische Forschungspraxis einen theoretisch-empirischen Anschluss.6 So arbeiten Ethnografen mit der »sinnliche[n] Unmittelbarkeit der gesuchten Forschungserfahrung«, die zugleich als »andauernde unmittelbare Erfahrung« (Breidenstein u.a. 2013: 33) einer längerfristigen Kopräsenz bzw. leiblichen Anwesenheit der Ethnografin vor Ort 6 | »Theoretische Empirie« strebt die Überwindung einer dualistischen Auffassung von Theorie und Empirie zugunsten einer »Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung« (Kalthoff 2008: 8ff.) an. Eine qualitative Sozialforschung versteht sich hiernach nicht als voraussetzungslos, sondern als konzeptuell »eingebettet« (Kalthoff 2008: 12), wobei Konzepte sich durch empirische Einsichten irritieren lassen und empirische Zugangsweisen in ihren Annahmen theoretisch induziert sind.
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bedarf. Als wegweisend für eine Soziologie, der »das geduldige Eindringen in den Gegenstand, die Verständigung mit ihm« (Merleau-Ponty 2003b: 226) gelingen kann, exponiert Merleau-Ponty (2003b: 232ff.; 2007: 153) insbesondere die Erfahrung. In dieser Weise stärkt die Leibthese Merleau-Pontys eine zeitgenössische ethnografische Position darin, die eigene Erfahrung in ihrer Sinnlichkeit bzw. die durchlebte leibliche Anwesenheit in situ als Ressource für eine analytische Durchdringung des Feldes in seinen Praktiken anzuerkennen. Hieran anschließend beschreibt und analysiert der folgende Beitrag anhand einer Fallstudie die ethnografische Annäherung an das Feld der bildenden Kunst. Im Fokus der Studie steht die Arbeit eines Künstlers, der im Rahmen eines Ausstellungsprojektes die Oberfläche einer Wand aus Zementputz in einem Zeitraum von neun Tagen unter anderem mit einer Pigment-Dispersionsmischung bearbeitet. Meine Annäherung an die sich dort zeigenden Praktiken lässt sich in drei Phasen unterteilen, die gleichsam einen (Grenz-)Gang 7 eines soziologischethnografischen Beobachtens durch ein künstlerisch involviertes Sehen beschreiben: (2.1) Zunächst beobachte ich das Arbeiten des Künstlers aus einer distanzierteren Position im Raum. Hierbei treten insbesondere die körperlichen und auch routinisierten Praktiken des künstlerischen Arbeitsprozesses hervor. (2.2) Aus meiner Position der am Rand stehenden beobachtenden Ethnografin erahne ich, das meinem Blick als ein bestimmter und gerichteter Blick das verborgen bleibt, woran der Künstler gerade arbeitet: Die entstehende künstlerische Arbeit als solche wird meinem Beobachten und Beschreiben nicht zugänglich. (2.3) Mein zuvor beobachtender Blick modifiziert sich zu einem teilnehmenden oder besser involvierten, betrachtenden Sehen, das sich der künstlerischen Arbeit in ihren Eigenheiten und auch Fragen zuzuwenden beginnt. Die im Modus des Betrachtens durchlebten, erinnerbaren Erfahrungen werden anschließend und im Rückgang auf ein ethnografisches Beobachten notiert ( fieldnotes und Protokolle) und für die Analyse künstlerischer Prozesse zugänglich gemacht.8 Das soziologischethnografische Beobachten in seinen sinnlich wahrnehmenden Potentialen wird im Zusammenspiel bzw. in der Begegnung mit einer anderen Weise des Sehens im Feld der bildenden Kunst gefordert.
7 | Indem etwas durch etwas anderes geht, widerfährt ihm in seinem Kontakt mit dem Anderen eine Veränderung, eine Transformation oder Modifikation, es durchlebt einen Prozess und geht in eine Bewegung ein. Die Figur des Durchgangs, die hier gar als Grenzgang formuliert wird, habe ich der Phänomenologie Merleau-Pontys entlehnt. 8 | Die soziologische Ethnografie hat sich, auch im Zuge der in den achtziger Jahren geführten Writing Culture Debate (Clifford/Marcus 1986), konstruktivistisch positioniert (Knorr Cetina 1989). In dieser Weise geht es ihr nicht darum Kulturen zu »repräsentieren«, sondern mit den Feldern und ihren Teilnehmern Daten und Material zu erzeugen, wobei der Ethnograf eine gleichsam übersetzende, vermittelnde Position bezieht und sich als Beobachtender, Sprechender, Schreibender und Herstellender von Wissen offensiv berücksichtigt.
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2. V om B eobachten zum B e tr achten und wieder zurück Bekanntlich geht die soziologische Ethnografie von einer spezifischen Form des wahrnehmenden Weltbezugs aus: Dem Beobachten. Ein derartiges soziologisch informiertes Beobachten steht »im Dienst« der Erzeugung von ethnografischem Material und Daten, die neben klassischen fieldnotes sowie anschließend verdichteten Protokollen auch fotografisches oder filmisches Material, Dokumente oder gar Artefakte umfassen können. Dieses Beobachten ist an bestimmte epistemische Praktiken (Notieren, Schreiben, Skizzieren) und Arbeitsgeräte (Stift, Block, Kamera, Audiogerät) gekoppelt. Es fokussiert und selektiert in seinem umherblickenden Vollzug, wie sich ihm sein Feld zeigt. Ein derartiges Beobachten ist keineswegs voraussetzungslos. Insbesondere das ethnografische Beobachten macht Gebrauch von einem Gestus des Zurücktretens hinter alltagsweltliche Annahmen der Teilnehmer, aber auch hinter bereits bestehende wissenschaftlich disziplinierte Annahmen, die die Sicht auf ein Feld mit bestimmten und bestimmenden Perspektiven induzieren.9 In seinen alltagssoziologischen Bezügen (Breidenstein u.a. 2013: 25ff.) unternimmt ein ethnografisches Beobachten zunächst den Versuch Selbstverständlichkeiten, Routinisiertes und Profanes seines Feldes zu sehen und dieses schriftlich zu fixieren, da sich – so eine der Ethnografie bekannte Annahme – insbesondere in routinisierten Praktiken das Stabile der Eigenlogik einer Praxis nachzeichnen und plausibilisieren lässt. Ausgehend von den hier skizzierten Annahmen, mit denen ein ethnografischer Blick arbeitet, mag sich bereits andeuten, dass das Beobachten von Alltäglichem und Routinen sich geradezu selbst als eine Beobachtungsroutine ethnografischer Forschung habitualisiert hat und ein Beobachten darüber »Bescheid weiß«, dass Praktiken in dieser Weise beobachtbar sind. Im Feld der bildenden Kunst zeigt sich einem derartigen Beobachten schnell, dass Künstler dem Anschauen oder besser dem Betrachten im Prozess ihrer entstehenden Arbeiten viel und wiederholend Zeit einräumen.10 Insbesondere in der Praxis der Malerei lassen sich diese Phasen des Betrachtens der entstehenden Arbeiten durch die Künstler beobachten. Bisher wurde dieses Sehen, dieses Betrachten innerhalb und als Teil künstlerischer Arbeitsprozesse von kunstsoziologischen Studien kaum zur Kenntnis genommen. Gemäß der Ordnung und Aufteilung des künstlerischen Feldes oder Systems in »Produzenten« und »Rezipienten« wird das Betrachten in der Regel einem Publikum überlassen, das dem ausgestellten oder 9 | In meinem Kontext können dies zum Beispiel kunsthistorische, kunstwissenschaftliche, kunsttheoretische oder kunstsoziologische Konzepte sein, die von bestimmten, disziplinierten und bereits diskursiv fest verorteten Annahmen über Kunstwerke, Künstler oder auch über ein Betrachten und Rezipieren ausgehen. 10 | Autoren, die Texte schreiben, mag dieses Phänomen der Rezeption eigener Arbeiten bekannt sein, da sie ihre Texte während des Entstehungsprozesses zwischendurch immer wieder lesen, um zu entscheiden, wie diese weiter geschrieben werden können und schließlich, wann ein Text in seinem Zustand belassen werden soll.
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präsenten Werk gegenübertritt (Gerhards 1997; Müller-Jentsch 2011). Aus Sicht des ethnografisch beobachtenden Blicks in den Ateliers und an den Arbeitsorten von Künstlern zeigt sich das in den Produktions- oder besser Arbeitsprozess integrierte Betrachten in situ als geradezu konstitutiv für die künstlerische Praxis, sodass es verstärkt zum Gegenstand der Beobachtung wird. Dieses Betrachten der »unfertigen«, im Entstehen befindlichen Arbeiten innerhalb künstlerischer Arbeitsprozesse bezieht seine Souveränität nicht vornehmlich aus Diskursen ästhetischer Theorie, kunsthistorischen oder kunsttheoretischen Betrachterkonzepten, die ihre Annahmen wiederum aus der Analyse von zeitlich verorteten Kunstwerken sowie historischen Quellenforschungen gewinnen. Das künstlerische Betrachten von Arbeiten in deren Entstehungsprozess erarbeitet seine Qualitäten zunächst einmal im Zuge seiner eigenen permanent sehenden, blickenden Zuwendungen »aus seiner Praxis heraus«. In dieser Weise verwende ich den Begriff des Betrachtens innerhalb künstlerischer Arbeitsprozesse hier mit seinem heuristischen Potential im Kontext künstlerischer Erzeugungsprozesse.
2.1 Zum Beobachten künstlerischer Praxis Beobachten wir einen Künstler, der eine Zementputzwand in einer bis dahin noch geschlossenen Ausstellungshalle mit Materialien – Pigment und Bindemittel – bearbeitet und in dieser Weise eine »Malerei« anfertigt.11 »Über Stunden beobachte ich nun schon, wie L. an der Wand aus nassem Zementputz eine ›Malerei‹ etabliert. Die verputzte Wand ist vier Meter hoch und orientiert sich als Teil einer Rauminstallation mitunter an den Innenwänden der Ausstellungshalle, sie wird von einem Holzgerüst getragen. Die mit Bindemittel (Dispersion) angerührten Pigmente (Eisenfeilspäne, Neueisenpulver und Kupferblau) trägt L. an verschiedenen Stellen der Wand auf, bzw. er malt die Pigmentmischung mit einem Pinsel in den nassen Putz ein. Zu Beginn tritt L. immer wieder, ja sogar nach jedem Eingriff an der Wand von dieser zurück, positioniert sich an der gegenüberliegenden Seite des Raumes frontal zu der von ihm bearbeiteten Wand, um die veränderte Wand und die sich entwickelnde ›Malerei‹ zu betrachten. Ich achte darauf, dass ich als Beobachterin nicht in L.’s Blickbahn gerate, die zwischen ihm und der Wand verläuft und positioniere mich seitlich zu L., sodass ich ihn beim Betrachten sehe und mit einer Kopfbewegung auch die Wand, die L. betrachtet, perspektivisch sehr verkürzt sehen kann. Minutenlang steht L. in größtmöglicher räumlicher Distanz zu der zuvor bearbeiteten Wand, betrachtet sie, blickt sie minutenlang an. Sein Blick erscheint mir sehr konzentriert und fokussiert, er ist strikt auf die Wand gerichtet, auf die Stellen, die er zuvor bearbeitet hat. L.’s Kopf bewegt sich leicht hin und her – gleichsam einem Überlegen und Abwägen. Der Mund 11 | Da der Künstler in der Wahl der Materialien, wie auch in seiner Technik auf kulturgeschichtliche Konventionen der Malerei zurückgreift, lässt sich die Oberflächengestaltung der Architektur bzw. das Intervenieren in den Zementputz unter anderem mit Pigmenten durchaus als »Malerei« beschreiben.
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken ist manchmal leicht geöffnet während er die Wand fokussiert, die Augen sind mal zusammengekniffen, dann wieder weit geöffnet. Ab und an hält L. eine Stelle seines Blickfeldes ab während er die Wand betrachtet, indem er sich in einer Armlänge Abstand seine Hand vor das Gesichtsfeld hält. Sobald L. von der Wand zurücktritt, um die entstehende Arbeit zu betrachten, nimmt er zunächst die Arme zurück und scheint eine sichere und bequeme Standposition einzunehmen. Im Verlauf des Betrachtens wendet er sich in seiner Position mit seinem Oberkörper immer mehr der Wand zu, die Arme und Hände wandern nach vorne, der Kopf streckt sich mehr und mehr der Wand entgegen, Bewegung setzt ein. Sodann wendet sich sein Blick von der Wand ab und visiert die bereitstehenden Materialen (Pigmente, Dispersion) und Werkzeuge (Pinsel, Brett, Kelle) an, wobei L. im gleichen Moment auf diese zuzugehen beginnt. Dort angekommen, greift L. zum Pinsel, taucht den Pinsel in die angemischten Pigmente ein, tritt wieder an die Wand heran und setzt zum Malen an – diesmal vollzieht er eine andere Bewegung mit dem Pinsel als zuvor. Nachdem er mit dem Pinsel weiteres von der Pigmentmischung an einer Stelle in den Putz gemalt hat, legt er den Pinsel zur Seite, tritt wieder von der Wand zurück, sucht die gegenüberliegende Wand des Raumes auf, positioniert sich frontal zur bearbeiteten Wand und betrachtet die zuvor bearbeitete Stelle an der Wand mit dem mir mittlerweile bekannten konzentrierten Blick.«
Aus der Perspektive eines Beobachtens zeigt sich der Arbeitsprozess als ein andauerndes, wiederholendes Wechselspiel zweier Phasen: Zum einen das Malen eingebunden in körperliche Praktiken im Umgang mit Material und Werkzeug als ein »Malen im Vollzug«; zum anderen das lange und intensive, geradezu »innehaltende« Betrachten der bearbeiteten Wand im Anschluss an die zuvor getätigten Eingriffe aus einer räumlichen Distanz durch den Künstler. Das »Malen im Vollzug« wird vorbereitet durch das Anmischen der Pigmente mit Bindemittel sowie durch das Eintauchen des Pinsels in die Pigmentmischung. Im Sinne einer »body-to-work«-Beziehung orientiert sich der Künstler im Umgang mit den zum Einsatz gebrachten Materialien und dem Pinsel permanent hin zu der Wand, die später im Kontext der Ausstellung sichtbar sein wird. Die Wand nimmt eine geradezu dominante Stellung in dem Arbeitssetting ein. Das schnelle Anmischen der Pigmente wie auch das Auftragen der Pigmentmischung an der Wand in den sicher wirkenden Bewegungen des Pinsels zeugen nicht zuletzt von einem inkorporierten Wissen des Künstlers in seiner jahrelangen Erfahrung in der Malerei. In variierenden Bewegungen zieht und führt L. den Pinsel über den Putz; die in ihren Variationen und wiederholten Ausführungen souverän erscheinenden körperlichen Techniken – beispielsweise wie der Pinsel sicher und schnell über die Fläche gezogen wird, lassen auf Routinen des Malens schließen, die den Bewegungen des Künstlerkörpers innewohnen. Der künstlerische Prozess zeigt sich in diesen Bewegungen als sequentiell geordneter Vollzug, in dem Material, Künstlerkörper und Werkzeug permanent in Beziehung zueinander treten.12 12 | Siehe zu dem Hervorgehen kreativer Praktiken aus Routinen weitergehend Krämer 2014.
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Sobald der Künstler minutenlang von den malend-tätigen Praktiken im Umgang mit Material und Werkzeug zurücktritt, die Wand aus der Distanz betrachtet und gleichsam »innehält«, mag die Ethnografin aus ihrer seitlich zum Geschehen ausgerichteten Position lediglich spekulieren, dass sich im Zuge dieses schweigenden, konzentrierten Betrachtens Anschlüsse und »Überlegungen« generieren mögen, die für das »Weitermalen« an der Wand ausschlaggebend zu sein scheinen. Sichtbar wird, dass das zuvor fokussierte Betrachten des Künstlers mit der Zeit in eine körperliche Aktivierung übergeht, die in die Phase des Wiederherantretens an Material, Werkzeug und Wand einleitet. Dem intensiven, sich in seinen körperlichen Bezügen zeigenden Ansehen der Wand scheint ein Weitermalen gleichsam innezuwohnen. In dieser Weise deutet sich ein Betrachten nicht nur als körperlich aktives, sondern geradezu als ein »leiblich-affektive[s] Betroffensein« an (Gugutzer 2012: 55f.), das Anschlussaktivierungen hervorbringt. Das Betrachten zeigt sich dem Beobachten als bestimmter »Gebrauch des Blicks« (Merleau-Ponty 1974: 261) und auch als eine professionelle Praxis des Sehens, die mit Perspektive, Nähe und Distanz im Hinblick auf die entstehende Arbeit umgeht. Nicht nur direkt im Vollzug des unmittelbar tätigen Malens, sondern auch im Betrachten scheint der Betrachtende das Betrachtete zu entwickeln. Abbildung 1: Bearbeitete Videostills aus eigener Forschung
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Einem teilnehmenden Beobachten zeigt sich das Betrachten oder das Ansehen der Wand durch den Künstler als relevant für den Arbeitsprozess. Das ethnografische Beobachten ist sensibel für die Konzentration und Intensität des betrachtenden Blicks auf das Betrachtete und zieht sich in seiner eigenen leiblichen Präsenz geradezu auf ein stilles Schauen und Blicken, Notieren, Skizzieren und Filmen zurück, um das Wechselspiel von Betrachten und Malen nicht zu stören. Es erweist sich als ein aufmerksames, dem Feld zugewandtes Beobachten, wobei die Praxis des Beobachtens selbst von der Ethnografin mitbeobachtet wird. In dieser Weise ist ein ethnografisch-soziologisches Beobachten mit einer Selbstreflexivität ausgestattet, die wiederum Einzug in die Notizen und Protokolle erhalten kann.
2.2 Intuitionen über das Sehen hinaus. An den Grenzen der Beobachtbarkeit Das Beobachten des Betrachtens innerhalb künstlerischer Prozesse gelangt dann an eine Grenze, sobald es weitergehend auf der Spur des »Innehaltens« über dessen körperlich vermittelte Zugänglichkeit hinausgehend zu wandeln beginnt. Die beobachtende Ethnografin spürt, bemerkt, erahnt, dass in eben diesen Minuten, in denen der Künstler seine Arbeit betrachtet, mehr passiert, als sich ihr aus ihrer Perspektive heraus auf das Beobachtbare zeigt. Dass ein Beobachten von Praktiken – in dieser Weise künstlerischen Praktiken – an Grenzen stößt, ist der qualitativ empirischen Forschung bekannt. Diese Grenze läuft an den Unmöglichkeiten entlang, (1) dass die Teilnehmer während ihrer konzentrierten Tätigkeit weiteren Anwesenden etwas über ihre Vollzugspraxis in actu kommunikativ mitteilen können, da sie ihre Praxis sonst unterbrechen würden, (2) dass perzeptive und mentale Prozesse in deren Wissen beobachtbar sind und sie sich lediglich in ihrer körperlich-leiblichen Vermittlung zeigen. Hiernach verbleiben künstlerische Prozesse in einem stillen und schweigenden Bereich des Wissens, der einem Sprechen und Schreiben aber auch einem Beobachten nur bedingt zugänglich sein kann (Zembylas 2014: 117ff.). Ein ethnografisches Beobachten von künstlerischen Wissenspraktiken in ihrem »practical understanding« (Schatzki 2001: 2) wird hier mit Grenzen konfrontiert. Das Protokoll fährt fort: »Ich beginne mich immer öfter zu fragen, wie L. die Wand wohl sieht bzw. was er dort sieht, wie gelangt er zu dem Entschluss, wo mit was wann weiterzumachen ist? Ich notiere diese Fragen in meinen fieldnote-Block. Nach mehreren Stunden merke ich, wie die Wiederholungen in L.‹s Arbeitsweise (Betrachten-Malen-Betrachten…) mich dazu veranlassen, stets ähnliche fieldnotes anzufertigen und ähnliche Sequenzen zu videografieren. Auch merke ich, dass sich mein Interesse mehr und mehr der Wand zuwendet, die ich aus meiner jetzigen Position nicht frontal sondern nur seitlich verkürzt in den Blick nehmen kann. Was passiert da eigentlich an der Wand? Wie entsteht da gerade eigentlich was?«
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Die beobachtende Ethnografin beginnt hiernach, das in den künstlerischen Prozess involvierte Betrachten mehr und mehr vergleichend zu ihrer Weise des Sehens – eben des Beobachtens – als ein anderes Sehen wahrzunehmen, auch wird sie sich ihrer Position im Raum und im Hinblick auf das sich ihr Zeigende gewahr. Die eigenen Praktiken des Beobachtens in ihren Möglichkeiten und Grenzen rücken in den Fokus. Mit der Zeit nehme ich zur Kenntnis, dass sich mir Wiederholendes zeigt. Das Notieren der »stets ähnliche[n] fieldnotes« und das Videografieren »ähnliche[r] Sequenzen« lässt ein Beobachten des Betrachtens in ein Beobachten des Beobachtens des Betrachtens übergehen. Ausgehend von den selbstreflexiven Potentialen eines soziologisch-ethnografischen Beobachtens beginne ich mich als Beobachtende mit meiner eigenen Praxis des Sehens im Feld der bildenden Kunst auseinanderzusetzen. Ich vermag mich als Beobachterin wahrzunehmen, der sich zwar die Praktiken eines künstlerisch involvierten Betrachtens in deren mimischen Ausdruck, Wiederholungen, Variationen, Vollzügen, körperlich-leiblichen Vermittlungen und räumlichen Organisationen zeigen, der jedoch das Betrachtete als solches verborgen bleibt. Ein Beobachten wird sich seiner Beschränktheit in actu gewahr. Folgt man den protokollierten Fragen der Ethnografin und ihrem, sich mit der Zeit steigernden Interesse für die an der Wand entstehende »Malerei«, so begibt man sich mit ihr an die Grenze eines soziologisch-ethnografischen Beobachtens. Diese Grenze macht sich an den Rändern des auf Beobachtbarkeiten bzw. auf beschreibbare und fixierbare Sichtbarkeiten konzentrierten Sehens im Übergang zu einem intuitiven Erahnen und Spüren bemerkbar. Das Nicht-Beobachtbare übersteigt das Beobachtbare in einem Erahnen und Spüren, dessen, was sich über das Sehen und Hören hinausgehend auch und zugleich anzudeuten vermag. »Ich wähle dafür das Wort Gespür, das weniger einseitig ein Sehen betont und statt dessen eine synästhetische Aura ausstrahlt. Indem wir einem Gespür folgen, sind wir den Dingen mit ihrem Fluidum, in ihren sinnlichen Qualitäten, ihren konkreten Bedeutsamkeiten auf der Spur. Dinge werden hier im weiteren Sinne verstanden als etwas, um das es uns im Zuge der Erfahrung geht. Der Zugang zu ihnen ist noch nicht durch Sinn- und Regelstrukturen vorgezeichnet, er deutet sich höchstens an.« (Waldenfels 2010: 20)
Das Beobachten offenbart sich an der Grenze zur Nicht-Beobachtbarkeit als ein voraussetzungsvolles, bestimmtes auf Sichtbarkeiten ausgerichtetes Sehen, das seinen Blick »im Dienst« schriftlicher und visueller Daten- und Materialerzeugung einschränkt, um evident Beobachtbares – Routinen und Abläufe, materialisierte und sequentiell organisierte Praktiken – sehen zu können. Zugleich öffnet sich ein Beobachten hier für den Einbezug einer intuitiv verorteten Sinnlichkeit. Diese sensibilisiert ein soziologisch-ethnografisches Beobachten für seine Perspektivität (Merleau-Ponty 1974: 92) bestimmt die Perspektive als Mittel, »[…] durch das die Gegenstände sich erst enthüllen, wenn sie gleich in eins das Mittel bleibt, durch das Gegenstände sich auch verbergen können«. In seiner Gerichtet-
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heit und Perspektivität erzeugt Ethnografie eine eben »beobachtende Differenz« (Kalthoff 2003), die soziale Welt und Wirklichkeit auf Beobachtbares hin scannt. So profiliert dieses Beobachten sich als eine bestimmte Sichtweise, die ihr Sehen eben auf Beobachtbarkeiten ausrichtet. »Sichtweisen beginnen mit den modalen Qualitäten einer bestimmten Art und Weise zu sehen, welche unter den Einflüssen des sinnlich Gegenwärtigen ebenso wie des Abwesenden das Sehen zu einer plastischen, formiert-formierenden Tätigkeit geraten lassen« (Schürmann 2008: 126). Ein soziologisch-ethnografisches Beobachten entwirft ein bestimmtes Format sozialer Wirklichkeit gekoppelt an Beobachtbarkeit. Wie jedoch lässt sich konstruktiv mit der Grenze eines soziologisch-ethnografischen Beobachtens zugunsten weiterer Forschungsmöglichkeiten im Hinblick auf künstlerische, sinnliche, ästhetisch-soziale Prozesse umgehen? So mag eben diesen Prozessen und ihren Eigenlogiken eine verstärkt phänomenale Dimension und Disposition ihres praktischen Zugangs zu Welt und Wirklichkeit inhärent sein, die sodann eine weitergehend phänomenologisch induzierte Einbettung ethnografischer Herangehensweisen nahelegen. Die Ethnografie in ihren methodischen sowie methodologischen Bezügen gelangt hier an eine, ihr nicht unbekannte Entscheidung, indem sie den »Korridor« zwischen Teilnahme und Beobachtung situiert-situativ für sich und ihr Potential zu Material- und Datengewinnung immer wieder neu auszuloten vermag.13 An dieser Stelle löse ich mich davon, empirisch zu beforschende Praktiken vornehmlich oder gar ausschließlich an implizites Wissen zu koppeln, das der beobachtenden Ethnografin als solches nicht zugänglich sein kann – in meinem Beispiel, ein Wissen, das sich aus der jahrzehntelangen Tätigkeit und Erfahrung des Künstlers in der Malerei speist. Anstatt ausschließlich auf den Spuren dieses Wissens zu wandeln, nehme ich die zunächst in den fieldnotes und sodann im Protokoll auftretenden Fragen als Ausgang dafür, mich dem Phänomen eines betrachtenden Zugangs weiter anzunähern – mein Wahrnehmen wird als eine methodische wie analytische Ressource akquiriert: »Was passiert da eigentlich an der Wand? Wie entsteht da gerade eigentlich was?« Diese Fragen sind der Ethnografie nicht neu – man denke an Goffmans berühmtes »What is it that’s going on here?« (1974: 8). Im Feld der bildenden Kunst beginnen sich diese Fragen sodann weiter auf das auszurichten, was einem involvierten betrachtenden Blick zugänglich wird: Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der entstehenden künstlerischen Arbeit als solche.
13 | Zu erwähnen sind an dieser Stelle beispielsweise die prominenten Studien von Sudnow (1978) und Waquant (2003), die von der leiblichen Teilnahme an der beforschten Praxis ausgehen.
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2.3 Anderssehen und Anderes Sehen. Zum Beobachten von Erfahrungen Weiter im Protokoll: »Schließlich lege ich den Block, den Stift und auch die Kamera beiseite und gehe langsam auf die Wand zu bis ich frontal vor ihr, aber noch in gewisser Distanz zu ihr stehe. L. ist gerade im Gespräch mit dem Kurator, sodass ich ihn nicht unterbrechen oder stören würde. Ich betrachte die Wand und die sich auf ihr, besser noch in ihr entwickelnde Malerei. Nach einer Weile kommt L. auf mich zu, stellt sich neben mich und blickt ebenfalls Richtung Wand. ›Und?‹ fragt er. Ich entgegne ihm, während ich weiter auf die Stelle an der Wand schaue: ›Da hat sich ganz schön was getan. Da (ich zeige in Richtung einer bestimmten Stelle an der Wand) ist es vielleicht noch etwas vage, oder?‹ ›Ist vielleicht noch zu isoliert‹ erwidert L. Er geht Richtung Wand: ›Ich muss mal sehen, dass ich das irgendwie verbinde‹. Mein Blick folgt ihm. Das Verbinden bezieht sich darauf, zwei unterschiedliche Bereiche der Wandmalerei weiter aufeinander zu beziehen, gleichsam zwischen ihnen einen Übergang in Malerei herzustellen. Ich schaue L. zu, wie er beginnt weiteres Pigment an der Wand mit dem Pinsel aufzutragen, um den Auftrag direkt danach wieder mit einem Lappen zurückzunehmen, wobei die Spuren des Aufgetragenen weiterhin sichtbar bleiben; zuvor hat er auch mit einer Kelle gearbeitet. Welche Effekte und Spuren verursacht der Lappen, welche die Kelle, welche der Pinsel? Was machen sie mit der Struktur des Putzes, wie verändern sie seine Oberfläche? Mein Blick wandert mit der Zeit von L. und seinen Tätigkeiten zu der soeben anvisierten Stelle an der mir gegenüber befindlichen Wand, eine Stelle, die bereits intensiv aufgrund des dort aufgetragenen und zu oxidieren begonnenen Kupferblaus türkisfarben leuchtet. Mein Blick verharrt dort, gleitet dann über die Umgebung der intensiv leuchtenden Farbe in die putzgraue Fläche hinein, fährt die Wand ab, bleibt an anderen Stellen mit dunklem Pigment hängen, fährt wieder zu der türkisleuchtenden Stelle zurück. Ich versuche zu überlegen, wo noch etwas hin könnte, wo die Gefahr besteht, dass es vielleicht zu viel wird, wo es noch entschiedener werden könnte, an welchen Stellen es vielleicht noch unbestimmt wirkt. Fragen drängen sich im Verlauf meiner Blickwanderungen, meines betrachtenden Abtastens der Malerei an bzw. besser in der grauen Zementputzwand auf. Was passiert, wenn man das oder dies machen würde? Wo ist schon etwas, das auf etwas anderes in welcher Weise reagieren könnte? Was wäre, wenn hier und da dieses oder jenes sich verändern würde, dort noch intensivere dunkle oder leuchtende Stellen auftreten würden? Oder wäre eine leichte Andeutung hier besser, oder sollte die Stelle lieber so bleiben? Ich merke, wie ich mich langsam einsehe in die Malerei, wie sie zu einem Prozess der Auseinandersetzung wird, wie an ihr Fragen wichtig werden, wie ich beginne mir verschiedene Möglichkeiten im Vollzug des Betrachtens vorzustellen. L. kommt wieder auf mich zu. ›Und wie siehst du das? Was würdest du noch machen?‹ ›Ich weiß nicht, ob ich an dieser Stelle (ich zeige wieder mit meinem Arm in Richtung der Stelle, von der die nun sichtbare Verbindung ausgeht) überhaupt noch was machen würde. Da sind ja schon Unterschiedlichkeiten und vielleicht wäre das sonst zu viel.‹ Wir betrachten die Malerei schweigend, dann geht L. wieder mit dem Lappen Richtung Wand.«
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Mit der Entledigung der ethnografischen Arbeitsmaterialien, wie Block, Stift und Kamera sowie meiner veränderten Position im Raum modifiziert sich mein Blick insofern, als er sich der bislang aus der Distanz beobachteten Praxis – dem involvierten Betrachten – anzunähern beginnt. Indem ich den Betrachtungspraktiken von L. folge, wird meine Praxis des Sehens und Blickens sodann auch für L. zugänglich, was zur Folge hat, dass ich von ihm kontaktiert und in das Geschehen interaktiv involviert werde. Ich stehe nicht weiter am Rand und beobachte das sich mir zeigende Geschehen als praktisches Zusammenspiel von Künstler, Material, Werkzeug und Wand. Vielmehr plausibilisiere ich mich in dieser anderen Position innerhalb der Praxis nun als Betrachterin der in Entstehung befindlichen Malerei, die plötzlich für mich als solche sichtbar zu werden beginnt. Zuvor getrennte Weisen des Sehens – soziologisch-ethnografisches Beobachten und künstlerisch involviertes Betrachten – gehen über in ein gemeinsames Sehen zweier Teilnehmer, die nebeneinander die in Entstehung befindliche Malerei mit ihren Blicken adressieren. Die Malerei wird zu einem Bezugsrahmen und gleichsam Katalysator für die Interaktion zwischen ihren Betrachtern. Für den interaktiven Zugang der Teilnehmer zueinander in Anbetracht der Malerei mag die Ungleichheit professionalisierter Wissensbestände – der Künstler in seiner langjährigen Tätigkeit und Profession der Malerei, ich als ehemalige Studierende der Malerei14 – bedingt eine Rolle spielen. Entscheidender hierbei ist jedoch die in der Situation gegenseitig voreinander sichtbar gemachte Annahme, dass beide den Gegenstand nun im gleichen Kontext sehen – im Kontext der im Werden befindlichen Malerei bzw. Arbeit. Das Sehen in Anbetracht des Gleichen macht sich sichtbar und erzeugt eine gemeinsame Wahrnehmungssituation. »Es gibt nicht zwei numerisch verschiedene Welten und eine Vermittlung durch die Sprache, die uns miteinander verbände. Vielmehr gibt es eine Art von Forderung, dass das von mir Gesehene auch von ihm gesehen wird. […] Zugleich aber wird die Mitteilung durch die Sache selbst verlangt, die ich sehe, durch die von ihr zurückgeworfenen Sonnenstrahlen durch ihre Farbe, durch ihre sinnliche Evidenz. Das Ding stellt sich nicht schlechthin als wahr für jedes erkennende Wesen dar, sondern als wirklich für jedes Subjekt, das meine Wahrnehmungssituation teilt.« (Merleau-Ponty 2003a: 35f.)
14 | Ich greife bei meinem »Gang« ins Feld eines künstlerischen Arbeitens intuitiv auf mein eigenes Studium der Malerei und Kunst in seinen erinnerbaren Erfahrungspotentialen und sedimentierten Wissensbeständen zurück. So mag mein sehender Blick vor Ort in der Begegnung künstlerischer Arbeitsprozesse und ihrer Teilnehmer von diesen Erfahrungen profitieren, denn auch für ein Studium der Kunst kann Folgendes geltend gemacht werden: »Seeing in such an environment is not an unproblematic activity. Participants must learn how to see in organizationally appropriate ways the habitual scenes of the work setting.« (C. Goodwin/M.H. Goodwin: 1996: 89)
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Sobald ich mich nicht mehr als distanzierte Beobachterin verstehe, sondern mich den sehenden, blickenden und betrachtenden Praktiken meines Gegenübers anschließe, modifiziert sich nicht nur meine, für den Anderen sichtbare Weise des Sehens. Auch meine Sichtweise, mein formiert-formierendes Wahrnehmen im Zusammenspiel mit dem sich Zeigenden verändert sich, sodass sich das, was sich zeigt, anders zu erkennen gibt. Die zuvor für ein Beobachten als materialisierte Teilnehmerin an Praxis involvierte Wand verwandelt sich in Malerei, oder besser in eine noch unvollendete Malerei, die weiterer Bearbeitung bedarf. Als ihre Betrachterin konfrontiert mich die Malerei nun mit Fragen, die sich mir als Beobachterin zuvor nicht gestellt haben. Ein Interesse an ethnografischem Material ist im Vollzug des in die Malerei verstrickten, betrachtenden Sehens verschwunden, ein paralleles Aufschreiben von Beobachtbarkeiten wird in Anbetracht der Malerei unmöglich. Fragen und Überlegungen bezüglich der Malerei finden sich nicht unmittelbar und direkt in linear sprachlich verfestigten Formulierungen, sondern zunächst in einer Praxis des Sehens, die geradezu ein Sich-Einsehen verlangt. Dieses Sehen liefert sich der in Entstehung befindlichen Arbeit geradezu aus. Die Malerei rollt meine Blicke gleichsam ein (Merleau-Ponty 2004: 185, 191), fesselt sie in einer Weise und drängt sich ihnen mit den ihr eigenen Relevanzen und Details auf: Spuren und Abdrücke im Putz, Farben, Kontraste, Stellen, Oberflächenstrukturen und Verläufe, Verbindungen und Beziehungen verschiedener Bereiche untereinander werden sichtbar, je länger die Malerei sich mir als solche zeigt. Der Malerei wohnt geradezu eine Aufforderung15 inne, sie im Betrachten weitergehend im Hinblick auf ihr Was und Wie zu befragen. Sie wird Bezugsrahmen oder besser Kontext des sie befragenden Sehens und Blickens. Das Einssehen begibt sich gleichsam in das sich Zeigende als ein »Unberechenbares« und begegnet diesem suchend, tastend und sodann fragend und schätzend bezüglich eines »Zuviel oder Zuwenig« (Waldenfels 2010: 37). Das Sich-Einsehen in die Arbeit, hier in die Malerei wird in dieser Weise als eine Auseinandersetzung mit ihr plausibel – eine Auseinandersetzung, in der nach Möglichkeiten gesucht wird, wie sie sich zeigt und wie sie sich auch oder noch anders zeigen könnte. Ein Suchen nach Möglichkeiten als ein Sehen, welches das Sichtbare im Hinblick auf noch nicht sichtbares Anderes abtastet, oszilliert zwischen einem sowohl-als-auch bzw. einem so-oder-so. Die entstehende Malerei wie auch die seitens des Künstlers
15 | Dingen innewohnende »Aufforderungen« oder »Aufforderungscharaktere«, wie beispielsweise in der Psychologie Kurt Lewins (siehe Waldenfels 2010: 32f.) angesprochen oder auch in dem ökologischen Konzept J.J. Gibsons (1979) als »affordances« expliziert, weisen auf das anregende und affizierende Potential von Dingen hin, das uns dazu veranlassen kann, mit Dingen in diesen und jenen Weisen umzugehen und ihnen gemäß ihrer Aufforderungspotentiale zu begegnen. Der Einbezug einer auffordernden Wirkmächtigkeit von Dingen ist beispielsweise auch von der Akteur-Netzwerk-Theorie und ihrem Konzept dinglicher agency aufgegriffen worden (Latour 2005).
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gestellten Fragen »Und wie siehst du das? Was würdest du noch zu machen?«16 fordern das Sehen in seinen Potentialen zum Anderssehen heraus; sie fordern mich als ihre Betrachterin dazu auf, der Malerei mit meinem Sehen und Blicken zu begegnen. Im Kontext künstlerischer Prozesse wird dieses Sehen als ein eigenes Sehen des Sehenden dazu »angestiftet«, sich zu einem gleichsam intervenierenden Sehen zu modulieren – ein Sehen, das in den Bereich der Vorstellungen vordringt. In seinen Interventionen nimmt das herausgeforderte Sehen das sich ihm Zeigende nicht einfach hin, sondern beginnt, es mit seinen Vorstellungen im Hinblick auf das sich noch nicht Zeigende anzureichern. Das in die entstehende Malerei intervenierende Sehen bzw. Betrachten begreift die Zukunft des sich Zeigenden als eine gestaltbare und veränderbare. Die im Werden befindliche Malerei wird in ihrer Kontingenz und Unbestimmtheit erfahrbar, sie offeriert im Vollzug ihrer intervenierenden Betrachtung ausgehend von dem, was sie bisher an Sichtbarkeiten anbietet, Variationen, in denen das Noch-nicht-Sichtbare hervorschimmert. Das Betrachten der in Entstehung befindlichen Malerei evoziert eine Sichtweise, die »im Sehen übers Sehen hinaus« (Schürmann 2008: 126) das Sichtbare übersteigt. Es beansprucht ein Sehen, das sich in seinen Intuitionen und Vorstellungen auf Sichtbares und Unsichtbares einlässt, wobei das Unsichtbare dem Sichtbaren als ein Abwesendes einlagert (Merleau-Ponty 2003b: 313, 2004). Ein derartig intervenierendes Betrachten, involviert in künstlerische Arbeitsprozesse, wird darin gefordert, Potentiale des Sichtbaren als Bewegung zwischen einem schon und einem noch nicht zu erblicken.17 Ein in dieser Weise hervorschimmerndes Noch-nicht-Sichtbares kann den autorisierten Künstler dazu bewegen und auffordern, es im nächsten Moment hervorzubringen, es in Sichtbares zu verwandeln und weiterzumalen. Für mich als eine von einem Betrachten zu einem Beobachten zurückkehrende Ethnografin18 gehen meine erinnerbaren Wahrnehmungserfahrungen im Modus des vorherigen involvierten, intervenierenden Betrachtens in ein anschließendes Notieren von fieldnotes und Fragen ein. Der Einbezug der durchlebten Wahrnehmungserfahrungen modifiziert das Beobachten dahingehend, als dass es im Gang durch ein erlebtes involviertes Betrachten nun erahnt, wie ein künstlerisches Betrachten eine entstehende Arbeit erblicken könnte. Mit Waldenfels (2010: 37f.) deutet sich für eine soziologisch-ethnografische Forschungspraxis ein Umgang mit 16 | Diese kommunikative Adressierung mag sich mitunter darin begründen, dass der von mir beobachtete Künstler um mein Studium der Malerei und Kunst weiß, sodass für diese Kommunikation und Involvierung in die Betrachtungssituation ein beidseitiges biografisches Wissen eine Rolle spielt. 17 | In diesen fragenden-blickenden Vollzügen gilt es, irgendwann zu sehen, wann die Arbeit so belassen werden kann, wann sie »fertig« ist. 18 | So geht es hier keineswegs um die langfristige Etablierung eines going native, da die Ethnografin zu ihrer Praxis des Beobachtens, Notierens und Schreibens zurückkehrt und in diesem Sinne weiterhin eine beobachtende Differenz herstellt.
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Unbestimmtheit, mit Ungefährem als ein Einbezug sinnlicher Erkenntnis an, die den Bereich des Intuitiven einschließt. Die protokollierten und im Konjunktiv formulierten Fragen, die sich mir in Anbetracht der Malerei sehend andeuteten, verbleiben hier unbestimmbare Fragen und Auseinandersetzungen intuitiv, situiert-situativ sehender Vollzüge. Waldenfels formuliert mit Bezug auf die Phänomenologie Merleau-Pontys eine »zarte Empirie«, die Unbestimmtes und Intuitives in einer sinnlichen Dimension der Erfahrung verortet. »Die Tatsache, daß intuitive Momente, in denen sich ein besonderes Gespür für die Dinge entfaltet, in die Erfahrung eingesprengt sind, spricht für eine ›zarte Empirie‹, die Raum läßt für das, was sich dem methodischen Zugriff und den Modellen der jeweiligen Theorie entzieht. Dazu gehört eine positive Unbestimmtheit, die sich nicht als Mangel an Bestimmtheit darstellt, sondern zur Sache selbst gehört, als ein Markenzeichen einer Erfahrung, die sich selbst vorausläuft und sich selbst übersteigt.« Waldenfels (2010: 38ff.)
Das Betrachten der entstehenden künstlerischen Arbeit in ihren Andeutungen, dessen, was sie zeigt und verbirgt sowie dessen, was sie schon oder noch zeigen könnte, wird hiernach als Bereich sinnlicher Wahrnehmung empirisch einbezogen, um weitergehend die Spuren künstlerischer Arbeitsprozesse zu verfolgen und einem künstlerisch involvierten Sehen in seinen Ahnungen, Zugängen und Verstrickungen nachzuspüren. Allerdings bleibt das, was sich meinem Betrachten im Vollzug oder besser in actu gezeigt hat – die Malerei als solche – dem Leser des Textes verborgen, wobei sie während des lesenden Vollzugs in dessen Vorstellung vielleicht ab und an aufzublitzen vermag.
3. S chluss Der Beitrag hat die Annäherung eines soziologischen-ethnografischen Beobachtens im Feld der bildenden Kunst als einen Grenzgang entlang sinnlicher Wahrnehmungsmodi beschrieben, der verschiedene Sichtweisen auf künstlerische Arbeitsprozesse zum Vorschein bringt, die aus dem Zusammenspiel zwischen soziologisch-ethnografischer und künstlerischer Praxis hervorgehen. Einem alltagssoziologisch und in seinen Ausgängen praxistheoretisch eingebetteten ethnografischen Beobachten zeigt sich künstlerisches Arbeiten zunächst in dessen körperlich, materiell und sequentiell gebundenen Praktiken, in wiederholenden Abläufen sowie in routinierten Umgangsweisen mit Materialien und Werkzeugen. Hiernach tritt insbesondere das Profane dieser Praxis hervor, die sich – obgleich sie an Anderem und Eigenem arbeiten mag – in Wiederholungen, Ausführungen und geordneten Vollzügen organisiert und stabilisiert. Mit Reckwitz (2012: 90ff.) reiht sich diese Profanisierung in ein »Veralltäglichen« ein, das künstlerische Schaffensprozesse als »Arbeit« thematisiert. Kunst bzw. künstlerische Praxis wird in dieser Weise als ein Arbeiten relevant, das mit dem
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ihm eigenen impliziten Wissen ausgestattet ist, welches sich hier im Falle der beobachteten Praxis des Malens besonders als körperlich-leiblich vermittelt zeigt. Dieses Wissen als ein implizites wie auch spezifisch-professionalisiertes Wissen bleibt der beobachtenden Ethnografin jedoch in seinen Spezifika und in seinen Eigenheiten weitestgehend unzugänglich. Wie der Künstler in seinem Wissen in der Situation dazu kommt, an dieser Stelle oder an jener Stelle weiterzuarbeiten, wie er sein Anderssehen im Hinblick auf seine Arbeit einsetzt, bleibt nichtbeobachtbar und im Verborgenen. Das Sehen des Künstlers zeigt sich der beobachtenden Ethnografin zunächst besonders als ein Betrachten, das lange und intensiv das zuvor Bearbeitete ansieht und innehält. An den Grenzen des ethnografischen Beobachtens, das seinen Blick auf das intensive Sehen des Künstlers in Anbetracht seiner Arbeit richtet, erahnt und merkt die Ethnografin, dass ihrem Beobachten das verborgen bleibt, was dem künstlerisch involvierten Betrachten zugänglich wird. Diese Grenzen weisen weniger eine Trennschärfe zwischen Sichtweisen auf, sondern erschließen sich vielmehr als Übergänge, Grenzgänge oder Grauzonen, die in ein Befragen das einleiten, was eigentlich beobachtet werden kann: Was ist sichtbar, hörbar, erfahrbar, wahrnehmbar und demnach beschreibbar, schriftlich oder visuell fixierbar und erforschbar? Was kann eigentlich wie »beobachtet« werden? Der Bereich des Intuitiven beginnt an diesen Grenzen in das Beobachten einzudringen – ein Bereich »ungeordneterer«, unbestimmter Sinnlichkeit, der in seinem Einbezug von Kontingenz eine »zarte Empirie« einschließt. »Was uns demnach vorschwebt, sind Formen der Intuition, die an den Rändern, in den Lücken und an den Bruchstellen der Erfahrung auftauchen. Daß sie in der künstlerischen ›Entregelung der Sinne‹ eine besondere Rolle spielen, schließt nicht aus, daß sie auch in den Grauzonen wissenschaftlicher Heuristik und technischer Experimente anzutreffen sind.« (Waldenfels 2010: 20)
Auf den Spuren intuitiver Beobachtbarkeit von Nicht-Beobachtbarkeit habe ich einen Blickwechsel vollzogen, indem ich das soziologisch-ethnografische Beobachten temporär aufgegeben habe und mich auf eine Weise des Sehens eingelassen habe, die das Feld der Kunst in den ihr eigenen Zugängen herausfordert – ein Sehen, das Deroutinisierung eigener Wahrnehmungsgewohnheiten forciert. In Auseinandersetzung mit meiner Praxis eines soziologisch-ethnografisch informierten Beobachtens und den ihm einlagernden Gewohnheiten des Sehens von Alltagspraktiken bin ich der Aufforderung zum Anderssehen insofern nachgegangen, als dass ich mein ethnografisch habitualisiertes Sehen gleichsam verändert habe, um sodann Anderes sehen und erfahren zu können. Sich-Einlassend auf die Praxis eines künstlerisch involvierten Betrachtens der in Entstehung befindlichen Arbeit in actu eröffnete sich die Möglichkeit, rückblickend die durchlebten Wahrnehmungserfahrungen erinnernd und schreibend in ihrer Unbestimmtheit wiederum zu beobachten und der Forschung einzuverleiben. Nach
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der Erfahrung meines, in den künstlerischen Prozess involvierten betrachtenden Sehens, wird Anderes wahrnehmbar. Die künstlerische Praxis zeigt sich sodann als eine Andere. Ein zunächst innehaltendes Betrachten des Künstlers deutet sich weitergehend als ein intervenierendes Betrachten an, das mit dem sich Zeigenden über dieses hinauszugehen vermag. Ein Ansehen der Wand wird als ein SichEinsehen in die Arbeit nachvollziehbar. Dieses eintauchende Sehen wird in actu von dem sich Zeigenden im Zusammenspiel mit dem sich noch nicht Zeigenden geradezu absorbiert. Das Einsehen in die Malerei, das zunächst seinem Sehen, seinem Gespür, seiner Intuition folgt und im Sehen sucht und schätzt, wie sich was und was sich wie auch zeigen könnte, lässt die für künstlerische Prozesse relevante »Arbeit am Anderen« erahnbar werden. Der Bereich des sinnlich Intuitiven, eingebettet in eine »zarte Empirie«, wird diesem Grenzgang folgend, zu einer heuristischen Ressource ethnografischer Forschungspraxis. Während der Einbezug der eigenen Wahrnehmung und deren intuitiver, das Sichtbare übersteigender Sinnlichkeit in künstlerischen Prozessen und ihrer Arbeit an Anderem etabliert ist, stellt sich die Frage, wie eine soziologisch-ethnografische Forschungspraxis mit einem Bereich des Sinnlichen umgeht, der Intuitives und Unbestimmtes einbezieht und der sich »an den Rändern« eines impliziten Wissens bewegt. Diesen Bereich des Sinnlichen empirisch auszuschließen führt zu einer Reduktion des Beobachtbaren und zur Reproduktion von Grenzen, die Bereiche der Wahrnehmung einem nicht zugänglichen Mentalen überlassen. Vor dem Hintergrund der Leibphänomenologie nach Merleau-Ponty werden diese Bereiche jedoch nicht mentalen Unzugänglichkeiten zugesprochen, sondern einem praktisch verankerten Wahrnehmen, dessen Sinnlichkeit sich in einer leiblichen Diesheit verortet. Die Anwesenheit der Ethnografin im Feld umfasst hiernach auch die Anwesenheit all ihrer Sinne, die über ein evidentes Sehen und Hören hinaus auch Bereiche des Intuitiven betreffen – einschließlich eines Gespürs, das auch dem Nicht-Beobachtbaren, dem »blinden Fleck« dieses Beobachtens in dessen Erfahrbrakeit begegnet. Die »blinden Flecken« einer bestimmten, gerichteten Sichtweise zeigen sich erst, indem diese in ihrer Perspektivität in Differenz zu anderen Weisen des Sehens erfahren und wahrgenommen wird: »Die Tätigkeit des Sehens ist jeweils von partieller Blindheit durchkreuzt, indem sie ins selektive Abblenden oder ins imaginative Ergänzen verwoben ist.« (Schürmann 2008: 240) Diese partielle Blindheit, die in der jeweiligen Persperktivität des Sehens und Wahrnehmens begründet liegt, wohnt auch einem ethnografischen Beobachten sowie einem künstlerisch involvierten Betrachten in ihren jeweils spezifischen modalen Qualitäten und konkreten Ambitionen inne. Während ein ethnografisches Beobachten vornehmlich selektierend und abblendend vorgeht, zeichnet sich ein künstlerisch involviertes Sehen zudem durch den forcierten Einbezug imaginativer Ergänzungen aus. Die verschiedenen Qualitäten beider Sichtweisen in ihren jeweiligen Zugängen zu dem sich Zeigenden wird für eine ethnografische Beforschung künstlerischer Prozesse und Praxis jedoch nur im Vollzug praktisch-durchlebter Erfahrbahrkeit nachvollziehbar. In dieser Hinsicht mag sich
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die berühmte Aussage Polanyis (1985: 14) »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« auch auf das Wahrnehmen übertragen lassen: Wir nehmen mehr war, als sich uns zu zeigen vermag. Das von Schatzki ins Feld geführte practical understanding erhält mit Einbezug sinnlich-leiblicher Dimensionen eine phänomenologische Wendung. Sehen, eingebettet in Wahrnehmen bzw. Sinnlichkeit wird unter Einbezug der Leibphänomenologie Merleau-Pontys selbst als Praxis fassbar – eine Praxis, die zwischen Anderssehen und schematisiertem, habitualisiertem Sehen oszilliert.19 Wagt auch ein soziologisch-ethnografisches Beobachten ein Anderssehen mit dem Einbezug intuitiver, imaginativer und involvierter Wahrnehmungserfahrungen, kann die »Verschiebung der Artikulationsgrenze« (Hirschauer 2001: 429) durch Ethnografie auch von der Verschiebung sinnlicher Potentiale weitergehend profitieren, um Alltägliches und Profanes aber eben auch Idiosynkratrisches und Eigenes einer Praxis – auch über das Feld der bildenden Kunst hinaus – zu befragen, zu beschreiben und zu vermitteln.20
A bbilungsverzeichnis Abbildung 1: Bearbeitete Videostills aus eigener Forschung. © Christiane Schürkmann
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Sensible Ethnographien Modernistische Empfindsamkeit als Modus einer ethnographischen Ästhetik Silvy Chakkalakal
»Meanwhile we lived, in a sense, lives in which the arts and the sciences fought uneven battles for pre-eminence. Boas would leave his office and his labor over the particularities of some nearly extinct American language to spend the evening improvising at his piano. Sapir would let his Nootka texts half-finished while he wrote:
›Distant strumming of strings, vague flutings, drum Give mood a surer voice and fancy wings more fleet Than declarations positive and sweet Of orchestras; I hear song fragments come From the far end of the cornfields with the wind Which bring me magic, inarticulate, More than the studied ecstasy of great Singers in gesture‹
Or he would work at a piece of music which someone ›had thought as good as Richard Strauss.‹ And Ruth Benedict firmly continued to keep the parts of her life separate, signing her married name (›which I always think of as a nom de plume‹, she used to say) to such papers as ›A Matter for the Field Worker in Folklore‹ in the American Journal of Folk-Lore, and not publishing her poems at all.« (Margaret Mead 1959: xviii)
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken
1. G egentöne : E thnogr aphie als ästhe tische P r a xis Margaret Mead erinnert sich hier an den Zirkel befreundeter KulturanthropologInnen, die neben ihren Forschungstätigkeiten auch künstlerisch tätig waren. Neben Mead gehörten dazu Ruth Benedict, Edward Sapir und ihr gemeinsamer Mentor Franz Boas, der erste Lehrstuhlinhaber der Kulturanthropologie an der New Yorker Columbia University. Alle drei – Benedict, Sapir und Mead – schrieben Gedichte, kommentierten diese untereinander und publizierten auch in bekannten Lyrikmagazinen der Zeit. Während Sapir neben der lyrischen Tätigkeit zudem Musik komponierte, entwickelte Mead in ihrer weiteren Lauf bahn ein großes Interesse an Fotografie und Film. Ihre persönlichen Beziehungen untereinander waren nicht nur geprägt durch einen theoretischen und forschungspraktischen, sondern auch durch einen künstlerischen Austausch. In ihren biographischen Ausführungen stellt Mead die sich um 1900 formierende Kulturanthropologie als mühsame Pionierarbeit dar, als eine »highly technical work, so technical that it tempted no humanist within its pages« (Mead 1959: xviii). Bezeichnenderweise werden im Eingangszitat Musik und Lyrik als Kontrapunkte zur kulturanthropologischen Arbeit gesetzt. Demgegenüber offenbart jedoch die Form des erinnernden Textes, dass es weniger um harsche Gegensätze zwischen Kunst und Wissenschaft geht als vielmehr um eine Art Mehrstimmigkeit. So taucht mitten in der biographischen Schreibweise ein Gedicht auf, das wie eine Art Begleitmelodie zur technischen anthropologischen Arbeit klingt. Folgender Beitrag möchte dieser Verflechtung von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis im kulturanthropologischen Feld der 1920er Jahre nachgehen. Ausgehend von der Frage, welche Rolle Ästhetik und ästhetisch-aisthetische Forschungs- und Darstellungspraktiken in diesem kulturanthropologischen Zusammenhang gespielt haben, werde ich in den folgenden Abschnitten einen übergreifenden Bogen über die Felder der US-amerikanischen Kulturanthropologie, Politik, Literatur und Kunst spannen. Dabei verstehe ich die kulturanthropologischen Arbeiten – und hier Margaret Meads ethnographische Unternehmungen im Besonderen – als aisthetische und ästhetische Praktiken. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ethnographie im zeithistorischen Kontext als eine Forschungsweise und als ein literarisch-künstlerisches Genre begreifen. Mead ist nicht nur bekannt für ihre ethnographischen Monographien wie Coming of Age in Samoa (1928) und Sex and Temperament in Three Primitive Societies (1935), sondern sie publizierte mit Balinese Character (Bateson/Mead 1942) auch eine der ersten Fotoethnographien. Zudem drehte sie anthropologische Filme, schrieb Methodenbücher und gestaltete als Kuratorin am New Yorker American Museum of Natural History Ausstellungen. Gerade diese experimentelle Verknüpfung von Text, Bild, Film, Objekt und Gedicht bringt visuelle, sensuelle und poetische Wirkungen hervor und verweist damit auf eine kulturanthro-
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pologisch-ästhetische Relation, wie sie auch im Eingangszitat deutlich hervortritt. Um sich der Frage nach der Bedeutung von Ästhetik-Aisthetik in diesem Zusammenhang zu nähern, lohnt es sich, das einleitende Zitat Meads noch einmal näher zu betrachten. Mead erzählt vom wechselseitigen Ineinandergreifen von Kunst und Wissenschaft. Die Prosa wird unvermittelt durch ein Gedicht in Form eines direkten Zitats durchbrochen. Mead beschreibt nicht, dass Sapir Gedichte schrieb, sondern sie lässt seine Lyrik selbst zu Wort kommen. Die Ausdrücke strumming, strings, flutings, drum, voice, orchestras, song fragments funktionieren wie eine semantische und sinnliche Erweiterung der anthropologischen Textformate, wie sie Mead mit Bezug auf Boas’ »nearly extinct American language« und Sapirs »Nootka texts« sowie Benedicts »›A Matter for the Field Worker in Folklore‹ in the American Journal of Folk-Lore« benennt (Mead 1959: xviii). Klänge, Musik, Wind und Gewisper vermitteln dabei auditive Eindrücke, verstärkt durch die Rhythmik der Verse. Sie geben einen Hinweis auf die Stimmung innerhalb des kulturanthropologischen Zirkels. Doch es ist nicht einfach nur Atmosphäre, die hier erzeugt wird. Vielmehr macht das lyrische Format einen semantischen Mehrwert sichtbar, der mit den kulturellen Texten und Artefakten einhergeht. Es ermöglicht, den Facettenreichtum der kulturanthropologischen Praktiken des Entzifferns, Lesens, Übersetzens und Festhaltens, der mit Text allein nur schwer zum Ausdruck zu bringen ist, auf andere Art sichtbar zu machen. So verweisen die Begriffe »song fragments« und »inarticulate« (Mead 1959: xviii) auf den Rhythmus und Klang der fremden Sprache, aber auch auf das Bruchstückhafte und Nicht-Verstehbare, das kaum beschrieben werden kann. Die Wahrnehmung dieses »Mehr« und die Suche nach geeigneten Ausdrucksformen ist elementarer Bestandteil der Wissenspraxis, die ich als ästhetisch und aisthetisch begreife. Das Sichtbarmachen von Bedeutungsüberschüssen, das Verlautbaren von Zwischentönen, aber auch die Vorstellung von Leerstellen und Synkopen verweisen auf die enge Verflechtung von Aisthetik und Ästhetik. Letztere meint hier nun eine spezifische Form der sinnlichen Wahrnehmung. Im Anschluss an Alexander Gottlieb Baumgartens Konzept von Ästhetik möchte ich diese im weitesten Sinne als die »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (Baumgarten [1750-1758] 2007: 11) verstehen. Baumgarten entwickelte seine Theorie vor dem Hintergrund einer Anthropologisierung der Sinne im 18. Jahrhundert, die die »unteren Sinnesvermögen« wie sinnliche Wahrnehmung, Gedächtnis und Imagination in Kontrast zu den »höheren Verstandes- und Vernunftsvermögen« aufwertete (Chakkalakal 2014b). Die erkenntnistheoretische Schrittabfolge war dabei folgende: Eindrücke sammeln, Erfahrungen machen, Erkenntnis bilden (Chakkalakal 2014a). Baumgartens Ausarbeitung ähnelt dabei dem Empirismus John Lockes, der beinhaltete, dass erst der physische Einfluss auf die Sinnesorgane (»sensations«) zu Wahrnehmung, Erkenntnis und Denken (»reflections«) führen würde und Ideen oder moralische Prinzipien aufgrund dieses Zusammenspiels der sinnlichen Tätigkeit
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(»experience«) entstünden (Moravia 1978).1 Wichtig ist an diesem Punkt festzuhalten, dass sich hier nicht nur eine Rehabilitierung des Sinnlichen vollzog, sondern dass das Schöne nun als Erkenntnisgegenstand etabliert wurde, mehr noch: »[D] ie sich formierende Ästhetik [machte] an Qualitäten wie dem Schönen den spezifischen Erkenntnischarakter allen sinnlichen Wahrnehmens klar« (Menke 2002). Ästhetik muss hier als eine Wissenspraktik verstanden werden. »Schön zu denken« umfasste nach Baumgarten also immer beides: Erkenntnisfähigkeit und Sinnlichkeit.2 An diesem Verständnis von ästhetischer Praxis als sinnlicher Wissensform setzt meine Untersuchung der frühen Kulturanthropologie in den USA der 1910er bis 1930er Jahre an. Auch wenn die einzelnen ProtagonistInnen wie Benedict, Sapir und Mead durchaus unterschiedliche Positionen vertraten (Handler 1986), geht es mir um die umfassenderen Konzepte, Begriffe und Vorstellungen des Ästhetisch-Aisthetischen, die das Feld der Kulturanthropologie bisweilen auch überschreiten. Ich forsche hier einer ethnographisch-einfühlenden Ästhetik der Zeit nach, in der künstlerische Werke wie auch bei Baumgarten eine wichtige Rolle bei der sinnlichen Erkenntnis und Vermittlung spielen. In einer feldübergreifenden Analyse möchte ich die ästhetischen Überlegungen und Praktiken der KulturanthropologInnen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern wie der Literatur, der Kunst und Wissenschaft verfolgen und in Relation zueinander setzen.3
2. B een there — B ringing home : K ultur anthropolog I nnen als A k tivist I nnen Bis in die 1930er Jahre hinein waren kulturanthropologische Untersuchungen vom vorherrschenden Paradigma des Evolutionismus beeinflusst, der unterschiedlichen Kulturen mehr oder weniger fortgeschrittene Positionen auf einem übergreifenden Entwicklungszeitstrahl zuwies. In starker Opposition dazu plädierten die KulturrelativistInnen um Franz Boas dafür, dass jede Kultur in sich ihren eigenen Wert besitzt (Barkan 2000). Sie lenkten den Blick weg von den vermeintlichen entwicklungsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten hin zu den Eigenarten und Besonderheiten des untersuchten kulturellen Kontextes. Diese Sicht1 | Baumgarten ist hier jedoch nicht als Empirist zu verstehen, sondern seine Aufwertung der Sinne findet interessanterweise im Kontext des philosophischen Rationalismus statt (vgl. hierzu auch Askin u.a. 2014: 8-10). 2 | Vgl. hierzu Dagmar Mirbachs Einführung zur Übersetzung von Baumgartens Aesthetica (Mirbach 2007: IV-LXXX). 3 | Siehe hierzu die Analysen von Rippl (1996) und Schweighauser (2006) aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, die sich ebenfalls der Überschneidung von literarischen und anthropologischen Felder widmen.
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weise mündete in ein holistisches Verständnis von Kultur als ein Ganzes, das dementsprechend auch allumfassend dokumentiert und studiert werden müsse: »We needed some sense of whole cultures, of whole ways to bring home to us what anthropology was really about.« (Mead 1959: xviii) Die Ethnographie stieg dabei zu der Forschungsmethode auf; mit ihr dachte man, gegenwärtige Gesellschaften vollständig und differenziert beschreiben zu können. Feldforschung zu betreiben, »ins Feld zu gehen«, bildete sich zur primären Methode der KulturrelativistInnen heraus (Geertz 1988: 4-5). Der ethnographische Text fungierte auch als Beweis, dass man wirklich »dort war«. »Been there« umfasste für die Boas-SchülerInnen das detaillierte Beobachten, Sammeln und Darstellen individueller Geschichte(n). Die Nähe zwischen den Begriffen Geschichte/history und Geschichte/story (his/her story) ist hier keine zufällige Überschneidung der Felder der Kulturanthropologie und der Literatur. »[W]hole ways to bring home« (Mead 1959: xviii) macht klar, dass die Geschichten der »Anderen« – mehr noch, ihre Geschichten in Gänze – mit nach Hause gebracht werden können und sollen. Es verweist gleichzeitig auf Fragen, wie diese am besten in den eigenen Kontext, in die eigene Sprache und die eigenen Bedeutungs- und Wissensschemata transferiert werden können. Mead, die sich intensiv mit Fragen der Repräsentation auseinandersetzte, problematisierte hierbei grundlegend die Fähigkeit von Sprache, die kulturellen Differenzerfahrungen in den Text und damit auch in den eigenen Gesellschaftskontext zu »übersetzen«.4 So schrieb sie über die frühe Geschichte der Kulturanthropologie: »[E]thnographic enquiries came to depend upon words, and words and words, during the period that anthropology was maturing as a science.« (Mead 2003: 5) Mead kritisierte immer wieder die Reduktion der Felderfahrung auf geschriebene Sprache, die wiederum eng einhergeht mit der Formierung der Kulturanthropologie als Wissenschaftsdisziplin: »Relying on words (the words of informants whose gestures we had no means of preserving, words of ethnographers who had no war dances to photograph), anthropology became a science of words, and those who relied on words have been very unwilling to let their pupils use the new tools, while the neophytes have only too often slavishly followed the outmoded methods that their predecessors used.« (Mead 2003: 5)
Bei dieser immer wieder geäußerten Skepsis gegenüber der ethnographischen Sprache verwundert es kaum, dass sich Mead zeitlebens für die Anfertigung audiovisuellen Materials im Feld aussprach (Mead 1942, 1953, 1977, 2003) und selber 4 | Die Ähnlichkeiten zu Fragen der Repräsentation des kulturell »Anderen« der Writing Culture Debate in den 1980er Jahre liegen auf der Hand. Man kann durchaus behaupten, dass diese Reflexion der eigenen Text- und Wissensproduktion einen wichtigen Referenzpunkt innerhalb der späteren kritischen Hinterfragung der anthropologischen Autorität ausgemacht hat (Clifford/Marcus 1986: 2-4; Geertz 1988).
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mit diesen Techniken arbeitete. Allein in ihrer Bali-Feldforschung produzierten Mead und Gregory Bateson mehr als 25.000 Fotographien und 6.700 Meter Filmmaterial. Balinese Character – eine Fotoethnographie – wurde 1942 publiziert und zeigt eine Auswahl von 759 Fotographien. Zusätzliches Material veröffentlichten Mead und Frances C. Macgregor 1951 in Growth and Culture; zeitgleich entstand eine Serie von sieben Filmen über Bali (Mead 1951, 1952a, 1952b, 1954a, 1954b, 1978; Mead u.a. 1952c).5 Abbildung 1: Margaret Mead und Gregory Bateson: Visual and Kinaesthetic Learning II, Plate 16
Wie im Eingangszitat legt Mead in ihren ethnographischen Arbeiten den Fokus auf sinnliche Dimensionen – spürbar z.B. im Tanz und in Gesten –, denen der »reine« kulturanthropologische Text ihrer Meinung nach nicht gewachsen ist. Dabei geht es in Abb. 1 nicht nur um die Tanzperformance des Einzelnen, son5 | Der größte Teil dieses audio-visuellen Materials von über 500 Rollen von Film und mehr als 1.000 Audioaufnahmen liegt unanalysiert in den South Pacific Ethnographic Archives in der Library of Congress.
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dern um die sinnliche Konstitution der gesamten kulturellen Situation. Mead und Bateson nehmen die balinesische Kultur im Ganzen als sinnlich organisierte wahr und stellen deswegen die einzelnen Tänzer als performative Bestandteile der gesamten Gesellschaft dar. Die Körper der Vielen bilden die Hintergrundkulisse für die individuell tanzenden Körper (Chakkalakal 2014c). Meads Einsatz von Gedichten, Filmen und Fotografien muss als Teil einer andauernden Aushandlung darüber verstanden werden, wie anthropologisches Wissen generiert und präsentiert werden kann. Als Kulturrelativistin war Mead wohl eine der ersten AnthropologInnen, die annahmen, »that the poetic and the political are inseparable, that science is in, not above, historical and linguistic processes« (Clifford/Marcus 1986: 2). Die Beschäftigung mit dem ästhetisch-sinnlichen »Mehr« von kulturellen Texten, Objekten und Praktiken besitzt eine für diese Analyse wichtige (wissenschafts-)politische und soziale Dimension. Die KulturanthropologInnen setzten sich nicht nur mit dem kulturell »Anderen« auseinander, sie verhandelten in ihren Repräsentationen stets auch gesellschaftspolitische Fragen »at home«. Denn die emphatischen Aussagen der KulturrelativistInnen, dass Ethnographie Inhalte von »anderen« Kulturen sammeln und bewahren müsse, können nur vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Umwälzungen der Zeit verstanden werden, in der sich die Kulturanthropologie als Disziplin professionalisierte. In den 1910er und 1920er Jahren kam es als Reaktion auf eine neue Immigration in die USA zu weitreichenden Amerikanisierungskampagnen. Es ging hier nicht nur um die Anzahl von ImmigrantInnen, sondern um deren ethnisch-religiöse Zusammensetzung. In Bildungs- und Erziehungsprogrammen, an denen eine Vielzahl von AkteurInnen auf lokaler wie überregionaler Ebene beteiligt waren, sollten eine vereinte US-amerikanische Identität und ein gemeinsames Geschichtsverständnis modelliert werden (Van Nuys 2002). Mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg verstärkten sich diese nationalistischen Tendenzen: »In immigrant neighborhoods posters asked: ›Are you 100 % American?‹ ›Prove it! Buy U.S. Government Bonds.‹ Another read: ›Remember Your First Thrill of American Liberty --YOUR DUTY --- Buy United States Government Bonds.‹« (Ford 2008: 58) In diesem politischen Klima erlebte auch der Ku Klux Klan eine landesweite Wiederbelebung. Sogenannte »Kleagles« – Anwerber für den Klan – rekrutierten Mitglieder und propagierten die Botschaft »100 percent American«. In Atlanta, von wo aus die Neugründung des Klans begonnen hatte, besaß dieser 1921 bereits 48.000 Mitglieder (McVeigh 2009: 21; Pegram 2011). Innerhalb dieser Atmosphäre der Xenophobie und der Debatten um eine homogene kulturelle Identität begann die frühe Generation der Boas-SchülerInnen ihre ersten kulturanthropologischen Arbeiten zu schreiben. In diesem Sinne müssen der Kulturrelativismus sowie das Verweilen im Feld auch als politische Aktivitäten gelesen werden, so dass man die frühe Kulturanthropologie durchaus als gegenkulturelles Feld verstehen kann. 1916 schreibt Franz Boas in einem Leserbrief in der New York Times gegen einen einseitigen US-amerikanischen Nationalismus an:
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken »I have always been of the opinion that we have no right to impose our ideals upon other nations, no matter how strange it may seem to us that they enjoy the kind of life they lead, how slow they may be in utilizing the resources of their countries, or how much opposed their ideals may be to ours. […] The very standpoint that we are right and they are wrong is opposed to the fundamental idea that nations have distinctive individualities, which are expressed in their modes of life, thought and feeling.« (Boas 1969: 170-171)
KulturanthropologInnen verstanden ihre wissenschaftliche Praxis als produktive Einmischung in das aktuelle, gesamtgesellschaftliche Geschehen. Mead beispielsweise bewegte sich in den 1920er Jahren im Milieu der Greenwich Village Bohème, hatte zahlreiche Kontakte zu KünstlerInnen und verstand sich selbst als eine politisch denkende Intellektuelle. Die Mitglieder der von ihr mitgegründeten Gruppe »Ash Can Cats« gingen ins Village, diskutierten Lyrik und führten politische Diskussionen (Banner 2003: 163). Der Aspekt des »Bewahrens« fremder Kulturen muss vor allem im Hinblick auf das »bringing home« begriffen werden – in ein Zuhause, das als reaktionär und rassistisch empfunden wurde. Von »anderen« Lebensweisen, Geschichten und »fremden« Verhalten erhofften sich die ZeitgenossInnen eine Belebung, Verbesserung und Erweiterung der eigenen Gesellschaft, sie glaubten, den Amerikanisierungswahn damit entgegenwirken zu können. Die ethnographischen Forschungen dieser Zeit müssen demnach auch als politische Interventionen verstanden werden. Hier eröffnet sich eine weitere Ebene in der Beantwortung der Frage nach der Ästhetik und aisthetisch-ästhetischen Praxis im kulturanthropologischen Zusammenhang. Mit ihrer politischen Selbstreflexivität wiesen die ethnographischen Forschungen eine gewisse Ähnlichkeit zu dem zeitgleich entstehenden künstlerischen Modernismus auf, innerhalb dessen manche VertreterInnen ebenfalls ihre Hoffnungen auf Befreiung und Egalisierung an einen emanzipatorischen Kunst- und Kulturbegriff koppelten.6 Dieses Zusammenwirken der frühen KulturrelativistInnen mit modernistischen AutorInnen charakterisiert der Literaturwissenschaftler Brad Evans wie folgt:
6 | Wilfried Raussert unterscheidet das Kunstverständnis in den USA von dem in Europa, wobei letzteres die Autonomie der Kunst vom Alltag der Menschen unterstreiche. Diese »Trennung von Kunst und Lebenspraxis [erreicht] im Ästhetizismus des späten 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt in der europäisch-bürgerlichen Gesellschaft« (Raussert 2003: 35). In den USA hingegen grenzen sich zentrale Stimmen wie Walt Whitman und Ralph Waldo Emerson von dieser Dichotomie ab, eine Absage, der die europäische Avantgarde folgen wird (Raussert 2003: 34ff.). Das Konzept des Modernismus umfasst ein sehr heterogenes Feld von politischen und künstlerischen Positionierungen. Es soll an dieser Stelle keinesfalls eine Einheitlichkeit suggeriert werden. Vgl. hierzu auch Eysteinssons 1990: 8-49.
Silvy Chakkalakal — Sensible Ethnographien »The concept [of culture] is understood to have been ›domesticated‹ sometime after 1910, and not so much as the result of innovators like Tylor or Boas, or of eccentric types like Frank Hamilton Cushing, arguably the first American anthropologist to have used the term in the plural in the late nineteenth century, but by the second generation of Boas’s graduate students and modernist authors. The emphasis, in other words, has fallen instead both on anthropologists like Edward Sapir, Ruth Benedict, Margaret Mead, and Melville Herskovits and on poets and novelists like T.S. Eliot and James Joyce.« (Evans 2005: 5)
Ich möchte behaupten, dass das »Andere« der Kulturanthropologie hier mit dem »Neuen« des Modernismus korrespondiert, dem Drang, »to ›make it new‹, to modify if not overturn existing modes and subjects of representation, partly by pushing them towards the abstract or the introspective, and to express the new sensibilities of their time« (Childs 2008: 4-5). Beide, »Anderes« und »Neues«, sollen einer Befremdung gewohnter Sichtweisen dienen. Ihnen wird die Macht zugeschrieben, festgefahrene Konventionen sichtbar zu machen.
3. The S ensitive E thnologist : M odernismus und die S uche nach S elbstausdruck Die konzeptuelle Verknüpfung von Kunst und Kultur wird am besten in Edward Sapirs Culture, Genuine and Spurious (1924) deutlich. Kultur wird hier als der spezifische Ausdruck einer Gesellschaft verstanden: »Culture thus becomes nearly synonymous with the ›spirit‹ or ›genius‹ of a people, yet not altogether, for whereas these loosely used terms refer rather to a psychological, or pseudopsychological, background of national civilization, culture includes with this background a series of concrete manifestations which are believed to be peculiarly symptomatic of it.« (Sapir 1924: 406)
Dieser »Geist«, dieser »Genius« manifestiert sich in unterschiedlichen Ausdrucksformen und kann von KulturanthropologInnen überall beobachtet werden: in Artefakten, künstlerischen Werken, Romanen, Kompositionen, aber auch in Ritualen oder individuellen Verhaltensweisen. Durch dieses analoge Verständnis wird einerseits Verhalten ästhetisiert und gleichzeitig Kunst mit der Sphäre der Lebenspraxis verbunden. Auf dieser Grundlage entwickelt Sapir das Konzept der genuine culture: »The genuine culture is not of necessity either high or low; it is merely inherently harmonious, balanced, self-satisfactory. It is the expression of a richly varied and yet somehow unified and consistent attitude toward life, an attitude which sees the significance of any one element of civilization in its relation to all others. It is, ideally speaking, a culture in which nothing is spiritually meaningless, in which no important part of the general functioning
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken brings with it a sense of frustration, of misdirected or unsympathetic effort.« (Sapir 1924: 410)
Die genuine culture hüllt den Menschen ein (»warm embrace of a culture«), in ihr hat alles eine Bedeutung und »macht Sinn«. Diesem Konzept stellt Sapir das der spurious culture entgegen. Sie zeichnet sich durch Entfremdung aus, in ihr kann das Individuum keinen zusammenhängenden Sinn in seiner Existenz erkennen (»the cold air of fragmentary existence«) (Sapir 1924: 414). Genuine ist demgegenüber eine Gesellschaft, in der die Individuen in der Lage sind, sich sinngebend zur Welt in Beziehung zu setzen. Sapir entwirft hier die Figur des »natural man«: »The major activities of the individual must directly satisfy his own creative and emotional impulses, must always be something more than means to an end« (Sapir 1924: 411). Genuine bedeutet nicht nur echt und unverfälscht, sondern auch kreativ und schöpferisch. Selbst grundlegende Handlungen bekommen eine kulturell bedeutungsvolle Dimension. Das »Mehr-als-Mittel-zum-Zweck-Sein« (»more than means to an end«) bezeichnet dabei genau den kulturellen Mehrwert, nach dem ich eingangs gefragt habe. Es wird hier ganz deutlich, dass das »kulturelle Mehr« ein semantischer und ästhetischer Mehrwert ist, der eine funktionalistische und didaktisch-erzieherische Vorstellung von Kultur, wie sie in den Konzepten Zivilisation und Hochkultur durchklingt, überschreitet. Das »Mehr« versteht Sapir analog zu künstlerischen Kreisen der Zeit als etwas Kreatives und Spirituelles – als eine bildend schaffende Kraft. Auch wenn dieses Argument im Kontext des Modernismus ästhetisch und politisch ganz unterschiedlich eingesetzt wurde, ist es an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass wir es hier mit Auseinandersetzungen mit Gesellschaft, Geschichte oder Realität zu tun haben (Eysteinsson 1990: 9-18). Sapirs Kulturkonzept ähnelt hier beispielsweise T. S. Eliots Kunstkonzept. Eliot beschreibt jenes in einer Reaktion auf James Joyces Ulysses (1922) mit den Worten: »It [Joyces künstlerische Methode, S.C.] is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history.« (Eliot 1975: 177) Diese vereinende, formende und verbindende Kraft der Kunst erinnert dabei stark an das Konzept der »ganzen Kultur« im Kulturrelativismus. Kultur und Kunst sind hier in Anlehnung an Eysteinssons Analyse des modernistischen Paradigmas beides, »on the one hand a cultural force, and on the other […] an aesthetic project« (Eysteinsson 1990: 16). Sapir wiederum diagnostiziert der spurious culture das Fehlen von Ausdruckskraft und dementsprechend einen verfälschten Ausdruck. In der Reaktion auf die Krise der Spiritualität und Kreativität erhebt er dabei das »Sich-ausdrücken-wollen« zur menschlichen Qualität überhaupt. Der gesellschaftliche Möglichkeitsraum, sich ausdrücken zu können, wird dabei zur Voraussetzung der echten und unverfälschten (genuine) Kultur. Die Idee des Echten (genuine) offenbart sich wohl am Eindrücklichsten in der zeitgenössischen Kategorie des »Primitiven« (Torgovnick 1990), die man im nordamerikanischen Kontext oft in der Form des »Native American« verhandelte
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und die keine explizit abwertende Konnotation besaß. Ganz im Geiste von Rousseaus und Montaignes zivilisationskritischer Figur des »Edlen Wilden« kam dem »Native« zur Zeit der Kolonialisierung vielmehr eine entscheidende positiv-identifikatorische Rolle zu: »[T]he idea that the American colonist was, like the Indian, natural and virtuous by contrast with the corrupt, over-civilized European court was a constant motif in independence rhetoric.« (Carr 1996: 24)7 Auch auf den Feldern der Kulturanthropologie und der modernistischen Kunst und Literatur gewann das Konzept des »Primitiven« an gesellschaftskritischer Bedeutung. Es diente aber nicht nur als Projektionsfläche für die Kritik an der eigenen Gesellschaft, sondern es wurde zu einer feldübergreifenden ästhetischen Schlüsselkategorie. Es stand für das »Mehr-als-Mittel-zum-Zweck« (Sapir 1924) und wurde zum Spirituellen, Lebendigen und zum echten, authentischen Ausdruck von sinnhaftem Leben. Aus diesem Grund konnte das »Primitive« inhaltlich je nach Rahmung ganz unterschiedlich gefüllt werden: Mal war es das Urwüchsige, Tierische und Triebhafte; es konnte aber auch für das Unschuldige und Harmonische oder sogar für den modernistischen Künstler selbst stehen (Rosetti 2006; Torgovnik 1990).8 Die unterschiedlichen Konnotationen korrelierten dabei miteinander, wobei das verbindende Element in einer angenommenen übersteigerten Sinnlichkeit des »Primitiven« bestand (Abb. 1). Dies lag zunächst in der kolonialen Konstituiertheit der Kategorie begründet: Im 18. Jahrhundert waren sowohl die Figur des Kindes als auch die des »Edlen Wilden« eine Kontrastfolie zum rationalen erwachsenen Europäer, dessen Mündigkeit sich eben dadurch auszeichnete, dass er seine Sinne gebändigt hatte und nur auf dieser Grundlage Erkenntnis erlangen konnte (Chakkalakal 2014a). Der Wilde und in seiner Nachfolge auch der »Primitive« waren dieser Einschätzung folgend vollständig von ihrer sinnlichen Seite bestimmt.9 Der Primitivismus – diese ambivalente Liebe zum »Anderen« – diagnostizierte das Fehlen von Sinnlichkeit in der eigenen Gesellschaft. In diesem Sinne kann »das Primitive« auch als ein ästhetisch-aisthetisches Konzept verstanden werden, ging es den KulturrelativistInnen doch vornehmlich darum, im Rekurs auf diese Kategorie das ursprünglich Sinnliche von Kultur 7 | Margaret Mead beispielsweise hat sich positiv auf diese frühe amerikanische Pioniersidentität berufen (Lutkehaus 1995: 29f.). Diese steht natürlich auch in engem Verhältnis zur Praxis der feldforschenden Kulturanthropologin, in der es immer auch um eine Überschreitung von kulturellen Grenzen geht. 8 | Das Bild des »Primitiven« bedient sich aus einem kolonialen Bilderrepertoire, das – auch wenn es identifikatorisch in Form einer Zivilisationskritik eingesetzt wird – rassistische und nicht selten auch evolutionistische Züge trägt (Torgovnick 1990). 9 | Die obsessive Verhandlung der Figur des wilden Kindes im 18. Jahrhundert ist eine übersteigerte Form dieses kulturellen Narrativs (Lane 1985). Auch Meads Obsession mit indigenen Kindern ist wohl hier einzuordnen. Sie bilden das meist dargestellte Motiv in der Sammlung ihrer ethnographischen Fotographien und des Filmmaterials in der Library of Congress.
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und kulturellen Praktiken wieder sicht- und spürbar zu machen. Auch aus diesem Grund standen vor allen Dingen die Tätigkeitsformen wie Rituale, spirituelle Aufführungen und die Benutzung religiöser Artefakte im Mittelpunkt ihrer Feldforschungen. Analog zur unentfremdeten und sinnlichen genuine culture entwickelt Sapir die Figur des sensitive ethnologists: Nur sensible EthnologInnen, die über entsprechende Einfühlungskraft und kreative Imaginationskraft verfügen, können die genuine culture erfassen und in den eigenen kulturellen Kontext transferieren (Sapir 1924: 414). Interessanterweise findet sich eine ähnliche Figur auch auf dem literarischen Feld des Modernismus. So beschreibt T. S. Eliot paradigmatisch den/ die modernistische/n Poet/in: »[T]he pre-logical mentality persists in civilized man, but becomes available only to or through the poet.« (Eliot 1933: 141) Der Autor wird zum sensitive author, er ist »more primitive, as well as more civilized, than his contemporaries. His experience is deeper than civilization, and he uses the phenomena of civilization in expressing it« (Eliot 1933: 141). Die außergewöhnliche Gabe modernistischer AutorInnen ist es, auf das Unmittelbare und Spirituelle zugreifen zu können (»being more primitive«), um diese ausdrücken und als genuine Erfahrungen in die eigene Kultur übersetzen zu können (»being more civilized«). Der kreative Schöpfungsakt des Autorsubjektes wird dabei analog gesetzt zur sinnlich-spirituellen Existenz des »Wilden«. Denn erst die übersteigerte Sinnlichkeit befähigt den primitiven Menschen dazu, auf spirituelle Ebenen zugreifen zu können: »the pre-logical or mystical mentality, though at a low level, plays a much greater part in the daily life of the savage than in that of civilized man« (Eliot 1933: 141). Meines Erachtens lässt sich hier von einer kulturanthropologischen Ästhetik sprechen, die von der modernistischen Sensibilität der KulturkritikerInnen der Zeit angetrieben und hervorgebracht wurde. »Einfühlen« wird dabei sowohl zu einer kulturanthropologischen wie auch zu einer künstlerischen Methode, die sich hier wohl am klarsten als ästhetische Praxis zeigt.
4. K ritik einer e thnogr aphischen Ä sthe tik »A DAY IN SAMOA The life of the day begins at dawn, or if the moon has shown until daylight, the shouts of the young men may be heard before dawn from the hillside. Uneasy in the night, populous with ghosts, they shout lustily to one another as they hasten with their work. As the dawn begins to fall among the soft brown roofs and the slender palm trees stand out against a colourless, gleaming sea, lovers slip home from trysts beneath the palm trees or in the shadow of beached canoes, that the light may find each sleeper in his appointed place. Cocks crow, negligently, and a shrill-voiced bird cries from the breadfruit trees. The insistent roar of the reef seems muted to an undertone for the sounds of a waking village. Babies cry, a few short wails before sleepy mothers give them the breast. Restless little children roll out of their sheets and wander drowsily down to the beach to freshen their faces in the sea. Boys,
Silvy Chakkalakal — Sensible Ethnographien bent upon an early fishing, start collecting their tackle and go to rouse their more laggard companions. Fires are lit, here and there, the white smoke hardly visible against the paleness of the dawn. The whole village, sheeted and frowsy, stirs, rubs its eyes, and stumbles towards the beach. ›Talofa!‹ ›Talofa!‹.« (Mead 1928: 14)
Das erste inhaltliche Kapitel in Meads ethnographischer Studie Coming of Age in Samoa (1928) liest sich wie der Beginn eines Südseeromans. Dabei entwickelt Mead eine bildgewaltige Sprache, die Samoa in all seiner Pracht zu erfassen sucht: sei es das Spiel zwischen Licht und Schatten (dawn; moon; daylight; night; ghosts; shadows: paleness of the dawn), die Geräusche (shouts; cock crow; shrill-voiced bird cries; roar of the reef; undertone, sound, babies cry) oder die unberührte Natur (slender palm trees; colourless, gleaming sea; breadfruit trees; reef; beach). Dieser gezielte Einsatz sinnlicher Eindrücke ermöglicht es Mead, von Anfang an ein nachempfindbares Bild Samoas zu evozieren, das in der europäischen Vorstellungswelt spätestens seit den Reiseberichten von James Cook und Georg Forsters existiert (Smith 1985, 1992) und auch in der modernen Kunst, beispielsweise in den Bildern Gauguins zum Ausdruck kommt (Abb. 2). Die starke Analogie zwischen künstlerischem und anthropologischem Primitivismus deutet darauf hin, dass die ProtagonistInnen aus ähnlichen gegenkulturellen Avantgarde-Milieus stammten. Das »Primitive« wird hier sowohl als ästhetische und anthropologische Kategorie sichtbar, auf die das Verlangen nach gesellschaftlicher und politischer Erneuerung projiziert werden konnte. Gauguin hielt in den 1890er Jahren in seinem Tahiti Journal fest: »It was Europe – the Europe which I had thought to shake off – and that under the aggravating circumstances of colonial snobbism, and the imitation, grotesque even to the point of caricature, of our customs, fashions, vices, and absurdities of civilization.« (Gauguin 1985: 2) Abbildung 2: Paul Gauguin: I Raro te Oviri, 1891
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Auch hier wird wieder deutlich, dass »primitiv« als eine gesellschaftskritische Kategorie verstanden werden muss, die für den Willen zur Neugestaltung und zum Selbstausdruck stand, den US-amerikanische sowie europäische KünstlerInnen und Intellektuelle in ihren eigenen Gesellschaften schmerzlich vermissten. So ist das erste Kapitel von Meads Coming of Age in Samoa durchgehend von dieser primitivistischen Blickweise und dem damit verbundenen literarischen Stil gekennzeichnet. Auch wenn sie hier noch nicht wie in späteren Studien methodisch Fotografien einsetzte, machte sie dennoch eine ganze Reihe von Aufnahmen auf Samoa (Abb. 3). Einige davon wurden später in ihrer Studie publiziert, die meisten verblieben jedoch im Archiv. Wie etwa dieses Bild von der schönen Samoanerin zeigt, inszenierte Mead auch in ihren Fotos das harmonische Inselleben ganz im Stil des künstlerischen Primitivismus.10 Abbildung 3: Margaret Mead: Untitled, 1925
10 | Dieses Foto kann an dieser Stelle leider nicht analysiert werden. Es erinnert jedoch nicht nur zufällig an frühe US-amerikanische Pin-Ups der Zeit und auch an koloniale Bilder des zu erobernden Landes in der Form einer sich darbietenden Frau (man denkt natürlich sofort an Jan van der Straets und Theodore Galles »Vespucci ›entdeckt‹ Amerika« aus dem 16. Jahrhundert). Hier wird einmal mehr das vergeschlechtlichte und sexualisierte Bild des »Primitiven« sichtbar.
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Während Mead im Auftakt ihrer Studie einen ganzen samoanischen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in den schillerndsten Farben beschreibt, beginnt sie den zweiten Teil in einem ganz anderen Stil. Die Überschrift lautet »The Education of the Samoan Child«, der Text folgt einer durch und durch nüchternen Beschreibungsweise: »Birthdays are of little account in Samoa. But for the birth itself of the baby of high rank, a great feast will be held, and much property given away.« (Mead 1928: 20) Klare anthropologische Parameter wie Bildung, Erziehung, Geburt, soziale Position, Rang, Ritual und Fest stehen im Mittelpunkt. Während dieser schnörkellose und funktionalistische Stil auf den ersten Blick im Widerspruch zum ersten Kapitel steht, korreliert er eng mit dessen expressionistischer Schreibweise. Erst vor dem Hintergrund des einleitenden primitivistischen Samoabildes entwickeln die Strukturbeschreibungen der weiteren Kapitel ihre spezifische Wirkungsweise. Nicht bloß die »nüchternen Fakten« strukturieren die ethnographischen Beobachtungen, sondern gerade die vorherigen ausdrucksstarken Bilder und Atmosphären bringen den ethnographischen Text in eine bestimmte Ordnung. Mead entwickelt hier den Grundsatz, dass EthnographInnen zunächst ein Gefühl für die kulturelle Situation, die Stimmung und die Atmosphäre erlangen sollten, um dann mittels funktionalistischer Beschreibungen einen größeren Sinn erschließen zu können. Die kulturanthropologische Analyse erfolgt erst vor dem Hintergrund einer Erahnung der »ganzen Kultur«. Die Arbeit mit Kontrasten ist dabei erkenntnisbildendes Instrument: »We know that our subtlest perceptions, our highest values, are all based upon contrast; that light without darkness or beauty without ugliness would lose the qualities which they now appear to us to have« (Mead 1928: 12). Mit den hier beschriebenen Facetten des Kontrasts korrespondiert in enger Weise die kulturelle Grenz- und Kontrasterfahrung, die überhaupt erst zu den Wahrnehmungen befähigt: »And similarly, if we would appreciate our own civilisation, this elaborate pattern of life which we have made for ourselves as a people and which we are at such pains to pass on to our children, we must set our civilisation over against other very different ones. The traveller in Europe returns to America, sensitive to nuances in his own manners and philosophies which have hitherto gone unremarked, yet Europe and America are parts of one civilisation.« (Mead 1928: 12)
Die hier beschriebene sensitivity versetzt KulturanthropologInnen in die Lage, den eigenen kulturellen Kontext zu hinterfragen. Visualität im ethnographischen Text – hier in der Dialektik von Licht- und Schattenverhältnissen, von Kontrast und Form – muss als eine Praxis der Markierung verstanden werden. Das, was »anders« ist, wird durch eine visuelle und expressionistische Sprache analytisch in den Blick genommen. Meads ethnographischer Text ist so immer beides: literarisch-expressionistisch und funktionalistisch-nüchtern, wobei es sich hier nicht nur um stilistische Kategorien, sondern zugleich um erkenntnistheoretische und methodische handelt. Das Literarische versucht das »Mehr« des Kulturellen aus-
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zudrücken und der anthropologische Text zeichnet sich eben durch sein Ausdrücken- und Evozieren-Wollen aus. Man könnte diese erkenntnistheoretische Praxis mit Wolfang Iser als »Akt des Fingierens« (Iser 1983) bezeichnen. So wirken die poetischen Dimensionen in die funktionalistischen Teile des Textes und gleichzeitig ragen die strukturellen Beschreibungen in den literarisch-expressionistischen Bereich hinein – ganz gemäß der Beschreibung Isers, dass der »Akt des Fingierens […] folglich ein solcher der Grenzüberschreitung« (Iser 1983: 123) ist. In diesem überschreitenden Spiel des Mead’schen Textes wird das AusdrückenWollen sichtbar, das eben eine Verstehbarkeit und Erfahrbarkeit der »anderen« Realität zum Ziel hat. Die so analysierte literarische Textstrategie hängt eng mit dem bereits oben dargestellten sinnlich-kreativ verstandenen Kulturkonzept zusammen. Kulturelles Verhalten verweist für die KulturrelativistInnen – ebenso wie der ethnographische Text – über sich selbst hinaus und wird ebenfalls als Grenzüberschreitung verstanden. In ihrem Feldforschungshandbuch The Study of Culture at a Distance (1953) erklärt Mead den StudentInnen die Kunst des ethnographischen Einfühlens als eine Überschreitung der verbalen Wirklichkeit: »It is the contention of this Manual that all cultural behaviour is mediated by human beings who not only hear and speak and communicate through words, but also use all their senses, in ways that are equally systematic, to see and to project what they see in concrete forms – in design, costume, and architecture – and to communicate through the mutual perception of visual images; to taste and smell and to pattern their capacities to taste and smell, so that the traditional cuisine of a people can be as distinctive and as organized as a language.« (Mead 1953: 16)
Sinnlichkeit wird hier als das Grundmoment kultureller Interaktion begriffen. Dabei verknüpft Mead die Ebenen der sinnlichen Wahrnehmung mit dem Bereich des kulturellen Ausdrucks. Die Sinnlichkeit der »Anderen«, die sie dazu befähigt die sie umgebende sinnhafte Welt bzw. seine »ganze Kultur« zu erschaffen, wird analog gesetzt zu den Forschungspraktiken der sensitive ethnologists, die durch die ethnographische Methode dieses »Ganze« sinnlich und kreativ erfassen, analysieren und ethnographisch beschreiben. Mit meinem Verständnis von Ethnographie als ästhetischer Praxis gehe ich davon aus, dass ethnographische Beobachtungen, Aufnahmen, Verschriftlichungen und weitere Medialisierungen darauf abzielen, bestimmte ästhetische Wahrnehmungen zu evozieren.11 Diese ethnographische Ästhetik zeichnet sich dadurch 11 | Mit Andreas Reckwitz lässt sich der Begriff der ästhetischen Wahrnehmung näher spezifizieren: »Ästhetische Wahrnehmungen schließen eine spezifische Affiziertheit des Subjekts durch einen Gegenstand oder eine Situation ein, eine Befindlichkeit oder Erregung, ein enthusiastisches, betroffenes oder gelassenes Fühlen. Im Bereich des Ästhetischen geht es also nicht um Wahrnehmungen, die auf eine objektive oder instrumentelle,
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aus, dass sie die Bandbreite der wissenschaftlichen Sprache auszuloten und zu vergrößern versucht, um das Spektrum und die gesellschaftlichen Wirkungsweisen des bis dahin etablierten anthropologischen Wissens selbst zu erweitern. Das Eingangszitat am Beginn meines Beitrags macht dieses Vorgehen mehr als deutlich: Meads Text will berühren, der lyrische Einschub des Gedichts ist als rhetorische Strategie zu verstehen, weitere Bedeutungsebenen spürbar zu machen. Dabei geht es nicht um ein intentionales Unterlaufen von Wirklichkeit, wie man es in dem vermeintlichen Gegensatz von lyrischer Fiktion und Beschreibung der eigenen kulturanthropologischen Forschungspraxis annehmen könnte. Im Gegenteil strukturiert das Gedicht vielmehr die anthropologische Wirklichkeit selbst. Sein Einsatz verdeutlicht, dass das Studium von fremden Sprachen und Geschichten sowie die Auseinandersetzung mit Feldforschung als kulturanthropologischer Methode schon immer mehr ist als ein bloßes »Daten-sammeln« und »Texte-verfassen«. Die Tatsache, dass Mead vom Ineinandergreifen von Kunst und Wissenschaft spricht (»lives in which the arts and the sciences fought uneven battles for preeminence«), zeigt meines Erachtens, dass es ihr tatsächlich um das Wie der ethnographischen Forschung geht, sprich um ein einfühlsames Vorgehen. Sensitive ethnologists teilen mit den sensitive authors die sensible Methode der Weltbeobachtung und -erfassung. Von künstlerischen Darstellungsformaten möchte Mead ihre wissenschaftlichen Werke jedoch unterschieden wissen (Mead 1977: 78). An Meads Verständnis von der Opposition von Kunst und Wissenschaft wird eine weitere Dimension von Ästhetik sichtbar, nämlich eine Bedeutungsebene, die im Stande ist, das wissenschaftliche Wissen zu unterlaufen, ohne dass dies von den AutorInnen intendiert war. So sind Meads anthropologische Werke – ob ethnographische Monographie, Film oder Fotoethnographien – immer auch von dem Bestreben nach (wissenschaftlicher) Kontrolle getragen. Die Bilder des Filmes Trance and Dance (1952c) beispielsweise unterlegt sie durchgehend mit einem erklärenden Kommentar; ein Versuch, mit ihrer Stimme die Bilder und Handlungen in einen kulturanthropologischen Kontext zu transferieren und die Gefahr des Abschweifens und Nicht-Verstehens einzudämmen. Die anthropologische Ästhetik soll nach Meinung Meads eine disziplinierte sein, die verstanden werden will. Die Versuche der Kontrolle des semantischen Mehrwertes machen diesen und seine Wirkungen jedoch nur umso deutlicher. Untersuchungen zu einer ethnographischen Ästhetik erschöpfen sich dementsprechend auch nicht in der Erforschung der Intentionen der KulturanthropologInnen und KünstlerInnen. Meine Analyse hat gezeigt, dass sensibel erzeugte Bilder, Wörter und Texte von scheinbar affektneutrale Erkenntnis von Gegebenheiten ausgerichtet sind, sondern um jene sich vom zweckrationalen Handeln lösenden sinnlichen Akte, die das Subjekt zugleich emotional affizieren, berühren, in Stimmung versetzen« (Reckwitz 2012: 24). Reckwitz folgend geht es beim ästhetischen Wahrnehmen nicht um eine bloße Informationsverarbeitung der Inhalte, sondern um ihre »relative Eigendynamik« (Reckwitz 2012: 23).
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einer modernistischen Empfindsamkeit und Gesellschaftskritik angetrieben wurden, die ganz eigene poetische Wirkungen hervorbrachten, die wiederum für die ethnographische Wissensproduktion zentral sind. An dieser Stelle wird der ästhetisch-aisthetische Aspekt der Praxis der Ethnographie noch einmal deutlich: Sie untersucht nicht nur Ausdrucksweisen verstanden als sinnliche Praktiken, sondern wird selbst eine Wissenspraxis der sinnlichen Erkenntnis. Die Mead’sche Ethnographie ist doppelläufig; sie ist die Verknüpfung von aisthetischer Forschungsweise und einem ästhetisch umgesetzten Genre (in Form von Texten, Fotoethnographien oder ethnographischen Filmen).12 Das Verständnis dieser ethnographischen Ästhetik, die nachfolgende Generationen in ihrer ethnologischen Wissensproduktion geprägt hat und noch immer beeinflusst, kann nur durch eine relationale Analyse der ethnographischen Praktiken und Darstellungsweisen in dem breiteren modernistisch-künstlerischen, historischen und sozio-kulturellen Kontext herausgearbeitet und analysiert werden.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: Mead, Margaret/Bateson, Gregory (1936): I Mario of Tabanan Teaching I Dewa P. Djaja of Kedere to Dance, Tabanan, Bali, December 1, 1936, Gelatin silver print. © Manuscript Division, Library of Congress, Washington D.C. (204c) Abbildung 2: Gauguin, Paul (1891): I Raro te Oviri, Öl auf Leinwand, 73.03 cm x 91.44 cm. © Dallas Museum of Art Abbildung 3: Mead, Margaret: Untitled (1925), in: Photographic Files, P25 »American Samoa«, Folder 3, Samoa, Mead field trip, 1925-26, uncaptioned. © Manuscript Division, Library of Congress, Washington D.C.
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A Conversation with Peter Osborne Questions by Sophia Prinz
Sophia Prinz (SP): With your philosophical mode of inquiry firmly rooted in the tradition of the Frankfurt School, you are concerned with the definition and function of the »aesthetic«, both within philosophical discourse and sociopolitical realities. Before turning to the question of contemporary artistic practices and their social conditions, I would like to hear your ideas about the aesthetic component of an artwork. In Anywhere or Not at All (Osborne 2013), you claim that art needs to incorporate and combine an aesthetic (or sensual) aspect with an antiaesthetic element. Could you please elaborate on this thesis? Peter Osborne (PO): It is not so much that art »needs« to incorporate an aesthetic or sensual element, as that it cannot avoid doing so. It is part of the deep historical constitution of the modern, post-Renaissance, Western conception of art that it involves the presentation to the senses of various kinds of formally structured materials, which are amenable to »judgments of sense«, as well as other kinds of judgment. I take this to be a matter of historical fact, to be part of »what art is«, or rather, as Adorno better puts it, »what art has become«1, and for the moment continues to be, however problematically. It is this problematic character that is the residual site of its critical function. The critical question is what the relationship of this aesthetic element to an artwork’s non-aesthetic and specifically anti-aesthetic elements is. The question has critical significance as a result by the aestheticist claim – philosophically associated with Kant, but actually derived from a more psychological 19th-century Kantianism – that the art-character of art can be reduced to its aesthetic aspects. This is a peculiar claim in certain respects, since art shares an aesthetic dimension with many other social practices; indeed, Kant would say with »experience« as such. The absolutization of aesthetic as a value, in aestheticism, thus led to the project for the abolition of the distinction between art and other life practices: first, in a generalized aestheticization of life, for which a certain experience of a certain 1 | See especially Adorno 1984.
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kind of art was a model; and second, in the so-called »historical« avant-gardes of the early 20th century (from 1912 to the early 1930s), which addressed the social and institutional aspects of the art/non-art distinction – introducing non-art into art, as a means of breaking down the separation between art and other social practices. The absolutization of aesthetic thus led directly to an auto-destructive critique of aesthetic art for its separation from »life«. This critique was itself absolutized, in a belated philosophical manner, in the strong, analytical, anti-aesthetic programme of one of the canonic versions of Conceptual Art in the 1960s (the Kosuth and Art & Language strand).2 But this polemical and experimental absolutization of anti-aetheticization merely drew attention to the ineliminability of the aesthetic component of the artwork. As a result, it became clear that the problem of the ideological function of the aesthetic aspect of the artwork – that it offers the compensatory illusion of a separate »free« sphere of activity and experience within an unfree society; what, in the 1930s, Marcuse called »the affirmative character of culture« (Marcuse 1968) – had to be dealt with within the artwork itself, by using so-called »non-aesthetic« or aesthetically »indifferent« elements, anti-aestheticially. I construct the idea of aesthetic indifference as a generalization of Duchamp, who spoke of »visual indifference« and »retinal indifference«, and defined the conceptual as that which »depended on things other than the retina« (Cabanne 1971: 39). Hence, the crucial question of the modes and means of combination of aesthetic with non-aesthetic (and, critically, with antiaesthetic) elements. This becomes a strategic question within the logic of production of the work, and hence is itself part of its non-aesthetic – in this case, »rational« – make-up. The more this strategic necessity dominates within the production of the work, the more »constructive« the work becomes. To put it another way, what Adorno called the dialectic of mimesis and rationality that structures the production of all art, in its modern Western sense (which goes back beyond Kant to the Renaissance), exhibits a specific developmental structure within the history of 19th- and 20-century art, which becomes retrospectively critically legible as such, and currently terminates in the situation described above. SP: Let us now turn to the border between the aesthetic and the non-aesthetic in the social world beyond the realm of art proper. Among sociologists, »the aesthetic« has become a trope that is used to describe transformations on the level of advanced capitalist production. In some accounts, e.g. Chiapello and Boltanski’s New Spirit (2007), the artist serves as a kind of role model when it comes to the production of subjectivities (or of what is deemed the »creative class«). I am wondering if, in your opinion, »aesthetic« would be the correct analytical term to describe, for instance, the colourful and playful workplace, or the hyper-flexible personality at Google? Is there a substantial difference between today´s aestheticization and
2 | See also Osborne 2002.
A Conversation with Peter Osborne
what Horkheimer and Adorno referred to about half a century ago as »Culture Industry«? PO: No, I don’t think there is a substantial difference. What has changed is that the dialectic between the autonomous and dependent or heteronymous aspects of the products of the culture industry has developed and become more fiendishly complicated, more deeply dialectical – just as that internal to its counterpart, the so-called »autonomous« work of art, has too (as above). The functionalization of aestheticization is one of the most basic features of capitalist cultures. The argument is often made that we have seen a shift from the aestheticization of objects, in their roles as commodities (Wolfgang Haug’s »commodity aesthetics« (1986)), to the aestheticization of the structures of subjectivity of workers; and that the latter is somehow ontologically »deeper«. But there is a danger of confusion here. All aestheticization takes the form of a structuring of subjectivity; and there is an aesthetic dimension to all forms of subjectivity. What is at stake, then, cannot coherently be described as a shift from objects to subjects. At stake are changes in the material – specifically the technological – forms of cultural commodities (the communicationally-based »service« economy) and changes in the labour process. These remain the two main sites for the social structuring of subjectivity, along with the new forms of direct relationship with capital that ordinary people now have through their multiple forms of debt. These sites are mediated by other social and political forms – especially state regulation and provision – but these mediating political forms are under attack and are being violently dissolved in the process of what Saskia Sassen calls »de-nationalization« of the state. Reading the historical sections of Marx’s Capital (1867) today, the factory inspectors in 19thcentury Britain appear almost as progressive heroes. The recoding of the culture industries as »creative industries« is purely ideological: it exclusively highlights an actual but subordinate aspect of their practices, to the neglect of their dominant aspect, the commodity form; as indeed it does within the artworld too, in its revival of the old romantic coding of artists as »creators«. This is happening at a time when the artworld is, more than ever, a specialist sector within the cultural-industrial system, rather than its opposite. There is a capitalist, as well as a Soviet, transition from Constructivism to Productivism, but the capitalist one is less visible, since it fundamentally concerns the production of value, to which the production of goods is subordinated.The problem with using the term »aesthetic« in the way you propose is that it refers only to one, very historically particular (European) aesthetic: the aesthetics of the beautiful and the sublime. But it is misleading to constrain the term to this restricted, late 18th-century range. A concept like Rancière’s »aesthetic regime« equivocates here between its philosophically general and historically restricted senses, in what might be considered an ideological manner: constantly recoding the present through the past, in a manner that can appear critical, but is fundamentally conservative.
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SP: And if you allow me to transpose your categories: What would be the »antiaesthetic«, or its equivalent, within the non-artistic – albeit aestheticized – capitalist economy? PO: We need to distinguish here between the »non-aesthetic« and the »anti-aesthetic«: the non-aesthetic is not necessarily anti-aesthetic; the non-aesthetic can still be aesthetically indifferent, depending on context. In many economic practices, the non-aesthetic is simply aesthetically indifferent. Anti-aesthetic is a critical artistic category. It can be used analogically, of course, to refer to the way certain aesthetic aspects of non-art practices are immanently negated within those practices, but this negation has no critical meaning, other than within the context of the functionalization of this aesthetic dimension. And in that context, the anti-aesthetic itself quickly becomes aestheticized, as it tends to in art, unless you change the logic of the practice itself, which is a much deeper structure. SP: Let us now switch the vantage point. In what ways does the global contemporary affect the aesthetic or artistic practice? In Anywhere or Not At All, you are registering changes on the level of the ontological status of the work of art. Could you briefly describe these changes? According to your analysis, the postconceptual work is, among other features, characterized by a »distributive unity«. What precisely does »distributive unity« mean and how does this feature rhyme with the fact that, globally speaking, temporalities, discourses, and sensual orders do not march in a synchronized way? PO: It is precisely because »globally speaking, temporalities, discourses, and sensual orders do not march in a synchronized way« that the unity of art – and of individual artworks – has become more radically »distributive«. I derive the notion of distributive unity from Kant, via Deleuze. In the Appendix to the Transcendental Dialectic in the Critique of Pure Reason, Kant distinguishes between two transcendental-logical forms: what he calls the »collective unity« of ideas that subsume particulars under concepts that go beyond possible experience and the otherwise merely »distributive unity« of acts of the understandings (Kant 1997: A644/ B672).3 The latter is the logical form of the empirical. It concerns a particular subject’s relations to what Kant, in Critique of Judgment (2000: 9), calls the »infinite multiplicity of empirical laws« and the »heterogeneity of the forms of nature»›4. In Kant, it is a purely negative concept: a threat to the unity of experience. Distributive unity is inadequate to the unity of the transcendental subject. Deleuze turns it 3 | In German: »distributive Einheit« and »kollektive Einheit« (Kant: KrV A582/B 610, here: Kant 1998: 661). 4 | In German: »eine so unendliche Mannigfaltigkeit und eine so große Heterogeneität der Formen der Natur« (Kant: KdU, Akademieausgabe von 1788, S. 203, here: Kant 2001: 493f.).
A Conversation with Peter Osborne
into a positive concept by affirming distribution as the only actual unity to the acts of the understanding, and the consequently »fractured« I. Yet Deleuze struggles to maintain, or reformulate, any idea of unity here – although he has interesting things to say about series, in this regard, in The Logic of Sense (Deleuze 2010), and they are related to his important notion of disjunctive synthesis. My idea is that a better sense of unity can be given to this concept of distribution by focusing on the spatio-temporal unity of processes, and, more especially, by deploying it in a geo-historical context. The distributive unity of the concept of art, for example, would be that of the unity of its history; the totality of its multiple instances, construed as a relational whole, in process, without an over-determining »collective« content under which its particulars are subsumed. To construct this distributive unity, however, requires a retrospective standpoint over-determined by a particular practical definition of the present. This is a genealogical and also a neo-Hegelian aspect, since it requires ongoing interpretative totalizations, which are necessarily selective and in part exclusionary, in the same way that all criticism is necessarily selective and in part exclusionary. The most problematic aspect is the standpoint of totalization within the present: from where (which/ whose history) does one totalize the present? Or, as Dipesh Chakrabarty has put it, »where is the now« (Chakrabarty 2004)? That is, in part, a question about conditions of intelligibility, but more acutely about politics and the subjectpositions of different forms of historically significant political action. »Art« posits itself as a subject within its own history, in the same way that we posit ourselves (illusorily, imaginarily) as the occupiers of the empty space of the origin of our acts. The relationship between the distributive unity of historically totalizing concepts in general (such as art) and the postconceptual character of contemporary art derives from the generic status of the currently institutionally dominant concept of art; or to put it the other way around, the increasingly nominalistic character of individual works. »Art« is no longer unified by the system of its species (the system of »the arts«), but rather by the history of negations of its previously authoritative »types« and »mediums«. Its unity is thus distributive. At the level of the individual work, there is also no more than a distributive unity: that is to say, the work is unified by the relations between the totality of its material manifestations, summed up in a name/title that is not identical with any particular material manifestation, but only with their historically open multiplicity. As such, all works are constituted by combinations of (conceptual) relations and material forms. This is the ontological structure of what I call the postconceptual work. The globalization of the social relations constitutive of both social experience and the work of contemporary art makes this combinatory postconceptual structure more complicated, both in terms of the spatial diffusion of the social relations, and in terms of the multiplicity and depth of the histories that they carry condensed within them. The »aesthetic« is one element within this postconceptual structure: that of the sensory forms of the material manifestations of the work.
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SP: What is the link between the »postconceptual condition« and »artistic research«? Some artists, Allan Sekula with his Dockers’ Museum, for example, embark on a research that includes ethnographic or sociological methods of observation. Could the Social Sciences learn from artists who appropriate scientific techniques, and if so, how? PO: I find the category of »artistic research« problematic – at least in the sense it has acquired nowadays as part of the academicization of art and the academic certification of artists. This is not because research is not a part of the process of production of art (it obviously is, and increasingly so with regard to the conceptual aspects of works, and reflective relations within its material aspects), but because the concept of research that is generally at stake here today is one borrowed directly from other academic practices: initially, the natural sciences, and more recently the humanities − although it sits uncomfortably there too, even within the university. Currently, »artistic research« is basically an administrative category, which gains its meaning within certain state or quasi-state funding processes, in which intellectual workers compete to fund their practices. As a result, the practices have come to conform to the funding models, rather than vice versa. So »research« has become the name for a certain bureaucratization of intellectual life. Anything that can be successful within certain funding processes is de facto »research«; it then becomes retrospectively legitimatized as such, in a spuriously de jure manner. Artists do it, to the extent to which they conform to this model. With regard to the conceptual aspects of postconceptual work, I prefer to think of these in terms of a more general concept of intellectual labour, rather than the academic and industrial concept of »research«, which is associated with »Research & Development«, product innovation etc. – although many artists may just be practicing a variant of product innovation, of course. The appropriation of scientific procedures within art practices is a different matter. It is part of the constructive logic of a certain kind of art – at its limit, socalled »Appropriation Art«. Hans Haacke’s museum surveys are probably the best model with regard to positivistic social science. And it led him to collaborate with Pierre Bourdieu, of course.5 More recently, there’s been lots of anthropologically mimetic work, as you say. This aspect of mimetic display often gets mixed up with the intellectual preparation involved in various practices, when the process of production of the work is incorporated into the work itself, as a discrete element – Sekula, for example. But that kind of work should not be confused with that of artists (or curators) who incorporate a relation to research in its current perjorative academic sense, by collaborating with intellectuals who have fully bought into a generalized cultural »research agenda« – such as Bruno Latour6 – and are using the artworld as cultural leverage for their own various projects. 5 | See also Bourdieu/Haacke 1995. 6 | See for example Latour/Weibel 2005.
A Conversation with Peter Osborne
These collaborations are not without interest, but they are almost never of artistic interest. This is not because they are »conceptual« or involve »non-art« or »nonaesthetic« components, but because the mode of combination is rarely artistically convincing, since it is over-determined by a different set of purposes. »Scientific procedures« can be standardized means of cultural-industrial production here. So, as ever, critically, it ultimately comes down to the distinctiveness of individual works, rather than types of practice, which quickly become genres. What the social sciences can learn from – or be reminded of by – art practices (of whatever genre) is that knowledge is not truth; that knowledge is relatively easy, but truth is difficult; and that relations to truth are far more important, culturally and existentially, than modes of knowledge. But the sciences are loath to accept this; indeed, most 20th-century Philosophy was in denial of it. The danger is that in using social scientific procedures, artists might forget that too. SP: Finally, I want to come back to the aesthetic. Considering historical shifts in definitions of art and artistic practice, it seems evident that the aesthetic entails an experience of change. In what manner can the aesthetic be said to be determined by given cultural or social forms, and in which way does it correspond to the overall sensual order of any given society? PO: I am not so sure that the aesthetic entails »an experience of change«. Modernist aesthetics do: they are based on the experience of the new. But the aesthetics of classicism do not: they deny change. And classicism is an ever-present danger within modernism now. Neo-classicism, on the other hand, is a distinctive type of modernism – more interesting than a classicized modernism, I’d say. I would not say that the aesthetic is »determined by« given cultural or social forms (that is a positivistic formulation), but rather that »aesthetic« is the name for a purified experience of the spatio-temporal sensory aspects of social and cultural forms. I am also doubtful that there is an »overall sensual order of any given society«. There are dominant and subordinate, and emergent and residual, aesthetics forms within societies (to use Raymond Williams’s problematically developmentalist categories), at any given time, but the »overall order« of societies is not sensual, but relational. Increasingly, all societies are different kinds of capitalist society, and their overall order is determined by the development of exchange relations, and the relations of these exchange relations to other kinds of social relations. The primary »aesthetic« experience here is that of abstraction. But that is a rarified, conceptual »aesthetic« – the feeling of a pure form – a kind of immanent negation of aesthetic itself, in its 19th-century sensory sense. It is an enabling condition for the most extreme kinds of violence, since it abstracts from embodiment. But it is also related to powerful new forms of human subjectivity. We lack an adequate philosophical language for these new forms, which is why we turn so swiftly to neuroscience, on the one hand, and science fiction on the other. Culturally, rather than strictly scientifically (within the context of experimental science), these are
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III. Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken
variants of a single discourse – and, indeed, much philosophical writing about neuroscience is literally, if inadvertently, fiction about science. In fact, science fiction is generally closer to realism, sociologically, than most of the discourses about neuroscience. Cultural neuroscience is mostly just dull science fiction. Zurich, 10 May 2015
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A Conversation with Peter Osborne
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IV. Die Professionalisierung sinnlicher Expertisen
Einleitung Hanna Katharina Göbel
Im vierten Teil werden Beiträge versammelt, deren Untersuchungsgegenstände mit der professionellen Instrumentalisierung von sinnlicher Wahrnehmung zu tun haben. Sowohl in den industriellen als auch den dienstleistungsbezogenen Berufen und Arbeitskontexten kommen technische, mediale, digitale und algorithmisierte Apparaturen sowie robotisierte Maschinen zum Einsatz, die nicht nur ein spezielles Wahrnehmungsvermögen erfordern, sondern dieses auch professionalisieren. Dabei steht insbesondere die Frage im Vordergrund, wie das körperliche Sensorium in die jeweilige technische Infrastruktur eingebettet und sozial wird. So übernimmt etwa das Sehen in vielen alltäglichen Arbeitssituationen eine professionalisierte Aufgabe: Etwa bei dem visuellen Erfassen von Informationen auf Computerbildschirmen oder der visuellen Koordination und Navigation von Flugzeugen (Potthast 2007) und anderen personenbezogenen Verkehrsmitteln wie Auto und U-Bahn (Heath/Luff 1992; Laurier 2005; Shove u.a. 2007). Genauso können jedoch auch alle anderen Sinneskanäle professionalisiert werden wie etwa in der Ausbildung eines olfaktorischen Sensoriums bei der Parfümherstellung (Endrissat/Noppeney 2013), dem Schmecken von industriell hergestellter Nahrung im Labor (Heuts/Mol 2013), dem Konfigurieren des Hörens bei der Hörgerätanpassung1 oder dem Einüben von Bewegungsabläufen mit Bein- oder Armprothesen im Sport und in der Medizin (Sobchack 2006) – in all diesen Situationen und vielen anderen wird das Wahrnehmen im Kontext soziotechnischer Konfigurationen ausgebildet. Der analytische Fokus auf die technische Medialisierung sinnlicher Erfahrung hinterfragt im Kontext dieses Teils des Sammelbandes ein modernes Körperkonzept, dem zufolge Technik die Dysfunktionalitäten von Wahrnehmung ausgleichen oder ersetzen und dadurch mitunter steigern könne (Harrasser 2013). In der 1 | Siehe hierzu die interviewbasierte und ethnographisch angelegte Studie von Maria Dillschnitter (www.zkfl.de/fileadmin/user_upload/ZKFLJahrbuch_Homepage.pdf, S. 1820, letzter Zugriff: 26.05.2015).
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IV. Die Professionalisierung sinnlicher E xper tisen
empirischen Analyse gegenwärtiger soziotechnischer Expertenkulturen, die auf einem komplexen Ineinandergreifen von Mensch und Maschine beruhen, wird die klassische Einteilung der fünf Sinne auf den Prüfstand gestellt (Burri u.a. 2011). Das Schmecken, Riechen, Sehen, Hören und Spüren offenbart sich hier als eine soziotechnische »Fabrikation« (Knorr Cetina 1984) in »synthetische[n] Situationen« (Knorr Cetina 2009) und damit als etwas Modifiziertes.2 Zu den Forschungsfeldern, die eine solche Analyse der »Professionalisierung sinnlicher Expertise« vorangetrieben haben, zählen vor allem die Work Place Studies, die sich auf das ethnomethodologische Instrumentarium nach Harold Garfinkel beziehen, sowie die Labor-bezogenen Wissenschafts- und Technikforschungen der Science and Technology Studies (STS). Der diesen Studien zugrunde gelegte Materialitätsbegriff rekurriert auf die prozessuale Struktur wissensbezogener oder wissenschaftlicher Objekte. Diese »epistemischen Dinge« (Rheinberger 1997) haben keine abgeschlossene Ganzheit, sondern materialisieren sich fortlaufend in der Praxis von Expertenkulturen. Als situative »Grenzobjekte« sind sie einerseits flexibel einsetzbar und immer wieder neu zu erfassen (Leigh-Star 1989), andererseits sind diese Objekte gerade aufgrund dieser variablen Struktur an der Herstellung von unhinterfragter Faktizität und Objektivität beteiligt (Knorr Cetina 2001). Dies bezieht sich auch auf das Wahrnehmungsvermögen, das in diesen wissensintensiven, interobjektiven Prozessen zum Einsatz gebracht wird, und sich dabei stets an die jeweilige Apparatur anpassen muss. Insbesondere in der feministischen Theorie und den Gender Studies wurden die daraus entstehenden, technisch fabrizierten Körperlichkeiten sichtbar gemacht (Haraway/Hammer 1995; Hayles 1999; Suchman 2006, 2011). Im medizinsoziologischen Kontext der STS und vor allem im Umkreis der Disability Studies entstehen zudem Ansätze, die die soziotechnischen Wahrnehmungsmuster von körperlich eingeschränkten Personen in den Blick nehmen und damit ein weiteres Forschungsfeld einbringen. Hier geht es ebenfalls um modifizierte Register des Wahrnehmens – in diesem Fall von dysfunktionalen Körpern, die von gängigen Normen abweichen und dadurch die Gegenstände des Alltags »anders« gebrauchen (Latimer/Schillmeier 2009). In der täglichen Interaktion mit medizinischen Prothesen und robotisierten Maschinen erwerben diese Körper ein komplexes Wahrnehmungswissen, das mitunter das menschliche Erkenntnisvermögen auf diese technischen Ersatzteile verlagert (Schillmeier 2010; Eilers u.a. 2014). Mit diesem analytischen Schwerpunkt eröffnen die Disability Studies eine konzeptuelle Perspektive auf Körperlichkeiten und die soziotechnische Konstitution des Sensoriums, die über die Forschung zu »behinderten« Körpern und deren Integrationsmöglichkeiten hinaus reicht (Waldschmidt/ Schneider 2007). Dabei liefern sie nicht nur einen innovativen Beitrag für die 2 | Siehe zur Modifizierung von Wahrnehmung auch die kulturwissenschaftlichen Medientechniktheorien, die in der Einleitung dieses Bandes rekapituliert werden (Thielmann/ Schüttpelz 2013).
Hanna Katharina Göbel — Einleitung
Diskussion um soziale Robotik und die zunehmende Algorithmisierung des Alltags, sondern auch zur »Professionalisierung« von Wahrnehmungssituationen zwischen Mensch und Maschine (Alac 2009). Die Beiträge dieses Buchteils konzentrieren sich exemplarisch auf die soziotechnische Fabrikation des Sehens. Regula Valérie Burri schließt an die bereits bestehenden Forschungen der Science and Technology Studies (STS) an. Dirk vom Lehn, Helena Webb, Christian Heath und Will Gibson bedienen sich den Instrumentarien der Ethnomethodologie. Die Beiträger untersuchen an je einem Fallbeispiel aus verschiedenen Berufsfeldern, wie Expertise in technisch gestützten Arbeitskulturen ausgebildet und ausgeübt wird. Schwerpunktmäßig geht es um die visuellen Wahrnehmungskompetenzen, die die professionellen Akteure im Umgang mit den je spezifischen technischen Apparaturen (Computer, Messinstrumente) ausbilden. Regula Valérie Burri konzentriert sich auf den praktischen Gebrauch und die routinierte Interpretation von Bildern in einem Kreis von Radiologen. Sie zeigt, wie die Praxis des Erstellens von medizinischen Diagnosen auf Basis von Röntgenaufnahmen zwischen der rationalisierten und formalisierten Expertise des Arztes und der Intuition des »geschulten Auges« changiert. Es wird hierbei deutlich, dass die Bilder einen sozialen Status einnehmen, indem sie einerseits systematische Blicktechniken beim Interpretieren evozieren und somit eine gewisse Faktizität schaffen. Andererseits wird durch sie auch ein implizites, verkörperlichtes Wissen miterzeugt, welches die Ärzte beim Diagnostizieren anleitet. Dirk vom Lehn und seine Ko-Autoren sind hingegen weniger am sozialen Status des Bildes, sondern vielmehr an den Herstellungspraktiken einer »objektiven« Messung der Sehschärfe im Optikerfachgeschäft, interessiert. Das Sehvermögen eines Klienten wird als ein emergentes Phänomen der Bewertung und Interaktion analysiert. Mittels einer videoanalytischen Perspektive untersuchen die Autoren die spezifischen Situationen, in denen die Sehschärfe des Klienten durch das fortlaufende Zusammenspiel der Messbrille mit unterschiedlich gestärkten Gläsern, den Gesten des An- und Ablegens dieses standardisierten Gestells sowie den damit einhergehenden Fragen nach dem Wohlbefinden durch den Optiker bestimmt wird. Wie auch bei Burri manifestiert sich das Wahrnehmungsvermögen in diesem Fall nur durch das Ineinandergreifen von dem körperlichen Einsatz des Experten und des Klienten sowie dem jeweiligen Messinstrument. Das Sehen ist dadurch beides, synthetisch und situativ erzeugt. Den Begriff der Expertise leiten die Beiträger in beiderlei Fällen nicht ausschließlich über Merkmale sozialer Distinktion her, sondern verstehen sie selbst als Bestandteil und Ergebnis einer situativ ausgeübten (Wissens-)Praxis. Expertise ist damit »a matter of socialization into the practices of an expert group − and expertise can be lost if time is spent away from the group« (Collins/Evans 2007). Somit ändern sich die »professionalisierten« Techniken der Interpretation und des intuitiven Erfassens von Röntgenaufnahmen, wenn man sie außerhalb der Klinik oder unter anderen Experten (beispielsweise Künstlern) zum Einsatz brin-
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IV. Die Professionalisierung sinnlicher E xper tisen
gen würde. Genauso, wie sich das Sehvermögen der Klienten modifiziert, sobald sie sich mit ihrer Brille im Alltag außerhalb des Optikerfachgeschäfts bewegen. Diese beiden exemplarischen Analysen von »professionellen Sehpraktiken« geben Einblicke, wie sich die soziotechnischen Fabrikationen sinnlicher Expertise in wissensintensiven Arbeitskontexten der Spätmoderne untersuchen lassen. In beiden Beiträgen werden innovative methodologische Strategien zur Analyse des Visuellen und einem professionalisierten Umgang mit Visualität entwickelt. Während Burri einen analytischen Schwerpunkt auf die sozialen Effekte von computergenerierten Bildern legt und somit deren Handlungsmacht betont, entwickeln Dirk vom Lehn und seine Koautoren die Videoanalyse der Ethnomethodologie weiter, um damit den performativen Vollzug von Seherfahrungen einzufangen sowie das komplexe Ineinandergreifen von Mensch und Maschine zu rekonstruieren. Die von den Autoren gewählte analytische Perspektive ist jedoch nicht auf das Visuelle beschränkt, sondern lässt sich – wie eingangs skizziert – auch auf andere sinnliche Aktivitäten und weitere synthetische Situationen des Wahrnehmens ausweiten.3
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Hanna Katharina Göbel — Einleitung
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Zwischen Formalisierbarkeit und Intuition Visuelle Expertise in der Medizin Regula Valérie Burri
E inleitung Die Konstitution von Sozialität und Wissen in der Medizin erfolgt seit der Verbreitung der digitalen Bildgebung vor nunmehr drei Dekaden in besonderem Maße visuell vermittelt. Entsprechend stellt die visuelle Expertise in der medizinischen Forschungs- und Routinepraxis ein zentrales Element professionellen Handelns dar. Die Herstellung, Interpretation und Verwendung von Röntgenaufnahmen, Ultraschall-Bildern oder Körpertomographien mittels hochtechnisierter digitaler Apparate bedingt neben einem spezialisierten fachlichen Wissen auch qualifizierte visuelle Kompetenzen, um die Bilder in der Diagnostik, in der Therapie oder im Forschungsprozess überhaupt verwenden zu können. Solch visuelle Expertise steht im Zentrum dieses Beitrags. Dabei interessiert, welcher Stellenwert impliziten Aspekten, insbesondere der Intuition, in der Arbeit mit dem Bild zugeschrieben bzw. inwieweit diese Arbeit als formalisierbare Tätigkeit begriffen wird. Inwiefern also nehmen medizinische Bildakteure – Ärzte, Wissenschaftler und medizinisches Fachpersonal – die Bildpraxis wahr: Beschreiben sie diese als berechenbare Tätigkeit oder vielmehr als intuitive Praxis? Inwiefern wird etwa die »professional vision« (Goodwin 1994) in der rhetorischen Konstruktion der Akteure als explizier- und formalisierbare Aktivität bzw. als implizite, verkörperlichte Vorgehens- und Erkenntnisweise angesehen? Der Beitrag untersucht diese Frage im Hinblick auf die Visualisierungstechniken, auf die damit produzierten Körperbilder sowie auf die medizinischen Akteure und deren Bildkompetenzen und -praktiken. Alle diese Faktoren sind Bestandteile der soziotechnischen Konstellation, innerhalb derer die Herstellung, Interpretation und Verwendung der Bilder im medizinischen Kontext erfolgt. Empirisch greift der Beitrag auf eine ethnografische Feldforschung in verschiedenen Universitätsspitälern und Kliniken in Deutschland und der Schweiz zurück. Theoretisch verortet er sich im Rahmen einer Soziologie des Visuellen (Burri 2008b), die auf wissenschaftssoziologische und praxistheoretische Ansätze re-
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IV. Die Professionalisierung sinnlicher E xper tisen
kurriert und für die Analyse sozialer Praktiken der Produktion, Interpretation und Verwendung von Bildern plädiert. Die Soziologie des Visuellen versteht die visuelle Qualität von Bildern nicht als ontologische Kategorie, sondern als variables Produkt soziotechnischer Praktiken, die neben den visuellen auch die sozialen und materiell-technischen Dimensionen eines Bildes einbeziehen. Visualität wird dabei nicht als genuine Eigenschaft von Bildern verstanden, sondern vielmehr als eine in der sozialen Praxis konstituierte Charakteristik von Bildern, die wiederum auf die Praxis zurückwirkt. Demzufolge gilt es für die Soziologie des Visuellen, zu untersuchen, wie diese Konstitutionsprozesse in der Praxis konkret erfolgen (Burri 2008a). Ein zentraler Aspekt stellt dabei die Konstitution der visuellen Expertise dar, d.h. die Herstellung und Zuschreibung der Fähigkeit, Bilder in den Augen der Akteure »richtig« herstellen, interpretieren und einsetzen zu können. Als wissenschaftssoziologisches Konzept wird Expertise nicht als Eigenschaft von Akteuren, sondern als prozesshafte Kategorie verstanden, die kontextabhängig ist und in der Praxis ausgehandelt wird (Latour 1987; Limoges 1993). Die mit der Konstitution von (visueller) Expertise verbundenen diskursiven Aushandlungsprozesse und Bildpraktiken im medizinischen Feld werden in diesem Beitrag empirisch untersucht. Dabei ist von zentralem Interesse, wie visuelle Expertise von den Akteuren verstanden und praktiziert wird. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern die visuelle Expertise als explizierbares und formalisierbares oder vielmehr als implizites und verkörperlichtes Wissen zu begreifen ist und von den Akteuren als solches gedeutet wird. Mit dem Begriff des impliziten Wissens bzw. tacit knowing verweist der Philosoph Michael Polanyi (1967, 1973) auf nicht explizierbare Fähigkeiten, etwas zu tun. Es handelt sich um ein Können, das sich nicht in Worten begrifflich fassen lässt, mit anderen Worten: wir wissen mehr, als wir zu sagen im Stande sind. Dass implizites Wissen auch in der wissenschaftlichen Arbeit eine wichtige Rolle spielt, geht aus den Schriften des Wissenschaftssoziologen Ludwik Flecks hervor, für den der Wissensbestand eines Forschers neben dem »klargefaßten«, also explizierten Wissen, auch einen »unklaren« und »›instinktiven‹« Anteil umfasst (Fleck 1980: 126). Ausgehend von diesen Ansätzen wird implizites Wissen in diesem Beitrag als intuitives, erfahrungsgebundenes und verkörperlichtes Wissen begriffen, das nicht explizierbar und damit auch nicht formalisierbar ist. Der erste Abschnitt untersucht die Zuschreibungen und Aushandlungen fachlicher Bildautorität zwischen verschiedenen medizinischen Disziplinen und zwischen Arzt und Computer. Im zweiten Abschnitt rückt das medizinische Bild in den Fokus, indem seine Wahrnehmung als objektives Zahlenmaterial oder intuitiv zu erfassendes Dokument fokussiert wird. Der dritte Abschnitt thematisiert die Interpretationskompetenzen und Blicktechniken der ärztlichen Akteure und beschreibt deren Konzeptualisierungen als formal-systematische sowie subjektiv-intuitive Vorgehensweisen. Im abschließenden vierten Abschnitt wird die visuelle medizinische
Regula Valérie Burri — Zwischen Formalisierbarkeit und Intuition
Expertise in einer Zusammenschau der thematisierten Aspekte als Prozess und Ergebnis der Aushandlung zwischen formalisierbaren und impliziten, insbesondere intuitiven Aspekten dargestellt. Abbildung 1: MRI Scan
2. M ensch oder M aschine : D ie A ushandlung der Z uständigkeitsbereiche Die Implementation digitaler Bildgebungsverfahren insbesondere in den 1980er Jahren in vielen medizinischen Fachgebieten veränderte nicht nur die Bildpraxis wesentlich, sondern löste gleichzeitig kontroverse Aushandlungen über neue Zuständigkeits- und Kompetenzbereiche zwischen verschiedenen Disziplinen aus. Denn die Einführung der neuen Visualisierungstechniken bedingte neue Fachkompetenzen im Umgang mit den Bildapparaten, was wiederum zu einer Veränderung der sozialen Struktur und arbeitsteiligen Hierarchie in den Spitälern und Kliniken führte (Barley 1986). Am Beispiel der Magnetresonanztomographie (MRI) zeigt sich, dass insbesondere drei Faktoren für die Veränderungen ausschlaggebend waren. So wurden die MRI-Geräte erstens zunehmend einfacher und mit weniger Personal bedienbar, sodass zweitens nicht nur mehr Radiologen, sondern unterschiedliche Fachärzte, die zuvor nicht mit Bildern gearbeitet hatten, in der Lage waren, die neuen Geräte einzusetzen, was wiederum die Industrie veranlasste, zunehmend spezialisierte Apparate für Kardiologen, Neurologen und andere Fachärzte zu entwickeln. Als dritter Faktor kam hinzu, dass die technische Innovation, Bilder aufgrund von Magnetfeldern zu erzeugen, die
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Strahlenschutz-Expertise der Radiologen obsolet werden ließ, was in der Folge zu einer Herausforderung, wenn nicht gar Infragestellung ihrer Legitimation und professionellen Identität führte. Hinsichtlich der besten Eignung im Hinblick auf die Verwendung der neuen Visualisierungsgeräte und in Bezug auf die kompetentesten visuellen Fähigkeiten entbrannte daher unter verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen ein Kampf um Einfluss- und Zuständigkeitsbereiche, d.h. um »jurisdiction« (Abbott 1988) im Feld der Bildgebung (Burri 2008a: 95-98). Diese Neuverhandlungen fachlicher Autorität erfolgten jedoch nicht nur zwischen unterschiedlichen Fachärzten, sondern auch zwischen Mensch und Maschine. Hier stellte sich die Frage, ob eher der Mensch oder die Technik – der Arzt oder der Computer – letztlich präzisere Bildinterpretationen und damit genauere Diagnosen zu liefern im Stande war. Denn gleichzeitig mit der Einführung der Bildgebungsapparate in die klinische Praxis wurden Programme zur digitalen Bilderkennung für den medizinischen Einsatz weiterentwickelt. Die Digitalisierung ermöglichte damit nicht nur neue Verfahren zur Visualisierung des menschlichen Körpers durch die Herstellung von Bildern, sondern ebenso neue Instrumente zur Analyse und Interpretation dieser Bilder. Die Bedeutung solcher bildanalytischer Computersoftware, die zumeist für ein pattern recognition in den Bildern programmiert ist, wird in der Medizin auch heute noch unterschiedlich bewertet. So lassen sich drei unterschiedliche Positionen erkennen, die das Spannungsfeld zwischen möglicher Formalisierbarkeit der medizinischen Bildinterpretation einerseits und der Bedeutung von ärztlicher Intuition und Erfahrung andererseits sichtbar machen. Die Vertreter der ersten, technikoptimistischen Position sind überzeugt, dass es nur noch wenige Jahre dauern wird, bis der Computer den Radiologen und anderen Fachärzten den Rang in der Bildinterpretation ablaufen wird. So meinte etwa der Neuroradiologe Alfred Naumann, dass »alle durchschnittlichen Radiologen […] mühelos in 8-10 Jahren durch die Maschine ersetzt werden [könnten]«. Einen der größten Vorteile der Maschine gegenüber dem Menschen sehen die Ärzte und Wissenschaftler in der größeren Leistungsfähigkeit der Computer. Diese seien in der Lage, sehr rasch auch große Datenmengen zu bewältigen. Der Radiologieprofessor Jens T. Martins beschreibt die durch den Computer induzierten Transformationen der Bildinterpretation wie folgt: »Während . [die] alte Generation in einem Thorax-Bild mehr gesehen hat als jeder andere, aufgrund von wenig Information, aus wenig Daten viel Information herausgeholt hat, wir bereits eine große Datenfülle hatten und gerade noch das Wichtigste herausfiltern konnten, ist es jetzt und in Zukunft so, dass wir da so viele Daten haben, dass wir dieses Herausfiltern in Zukunft Maschinen überlassen müssen.« (Prof. Dr. Jens T. Martins, Radiologe)
Martins betont auch, dass die Computer in der Lage seien, sehr schnell das Wichtigste aus der Datenflut heraus zu selektieren, indem sie »aus der Datenflut das für uns Relevante herausgreifen« würden, »damit wir es schneller begreifen«
Regula Valérie Burri — Zwischen Formalisierbarkeit und Intuition
könnten. In dieser Auffassung bereiten die Computer die Arbeitsschritte des Begreifens der Bilder, das heißt des eigentlichen Verstehens und letztlich der Diagnosestellung, erst einmal nur vor. Doch auch bei der eigentlichen Deutung der Bilder, also der Zuordnung der Bilder zu bestimmten Kategorien und möglichen Krankheitstypen, sind viele Ärzte der Meinung, dass hier die Maschine dem Menschen überlegen ist. Zunächst einmal könnten, wie der Kardiologe Uwe Glesner erklärte, »über Computeralgorithmen viele Dinge sehr viel besser gelöst werden«. Hinter den Bildern würden »immer noch zusätzlich Daten [stehen], die man nicht sehen [könne], die aber vorhanden« seien. Der Computer sei in der Lage, diese Information herauszufiltern: »Ein Computeralgorithmus kann diese digitalen Informationen komplett durchscreenen, was der Mensch nicht kann«, erklärt Glesner und sieht darin die Überlegenheit der Maschine: »In dem Moment fängt es an, dass ein Computer schlauer sein kann als ein Mensch. Nicht schlauer, aber mehr Informationen wissend.« (Dr. med. Uwe Glesner, Kardiologe) Nicht nur aufgrund der Fähigkeit der Auswertung dieser Zusatzinformationen, sondern insbesondere aufgrund ihrer größeren Speicherkapazität schreiben viele Ärzte und Wissenschaftler dem Computer eine große Bedeutung bei der Bildinterpretation zu. Ein Computer sei fähig, die zu interpretierenden Bilder mit einem sehr großen Datenarchiv abzugleichen. Für den Radiologieprofessor Jens T. Martins trägt der Computer damit zu einer verlässlicheren und objektiveren Interpretation der Bilder bei, was er einerseits als Verwissenschaftlichung im Sinne einer evidence-based medicine gutheißt, andererseits aber auch als Verlust empfindet. Der Computer ersetze die individuelle Erfahrung und subjektive Interpretation des Radiologen durch eine objektivere, wissenschaftlichere Vorgehensweise, was gleichzeitig die Qualität der Bildinterpretation erhöhe und den Standard »homogenisiere«, wie Martins meint. Einen der großen Vorteile der Maschine gegenüber dem Menschen sehen die Ärzte und Wissenschaftler schließlich auch darin, dass der Computer im Gegensatz zum befundenden Radiologen ausdauernder ist. Der an einem Universitätsspital tätige Radiologieprofessor Marin Berakovic erklärte etwa: »Die Leute, die diese Bilder lesen, müssen bis zu 300 Bilder lesen und das ist natürlich schon ermüdend.« Um dieses Problem zu lösen, gebe es Computer, die auf den Bildern beispielsweise Mikrokalk ausfindig machen würden, dessen Vorhandensein ein mögliches Indiz für Brustkrebs sei. Die Maschine könne zwar auch irren, sind sich viele Ärzte einig, jedoch sei dies weniger häufig der Fall als beim Menschen. Im Gegensatz zu dieser ersten Sichtweise, die der Maschine gegenüber dem Menschen eine vorrangige Stellung hinsichtlich der visuellen Kompetenzen zuschreibt, vertreten skeptischere Ärzte und Wissenschaftler eine zweite Position, die technikdefizitär genannt werden könnte. Die besseren Fähigkeiten der Bildinterpretation liegen dieser Ansicht nach nicht bei der Maschine, sondern beim Menschen. Dies sei zunächst technisch bedingt. Denn die Entwicklung der Programme sei nicht so weit, als dass sie einen geschulten Experten ersetzen könnten, wie Marin Berakovic erklärt: »Dass ich ein Bild reingeben würde und der
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Computer mir dabei die Diagnose liefert, das gibt es bis jetzt nicht. . Bei den Mammografien sagt man immer noch ., dass einer die Bilder sehen muss.« (Prof. Dr. Marin Berakovic, Radiologe) Der Wissenschaftler Zoltan Szebehely, der zur Entwicklung der Bildanalyse forscht, beklagt die »Dummheit« der Maschinen: »Die Problematik dieser inhaltsbasierten Suche, z.B. in Bilddatenbanken, . ist, dass wir hier maschinell einfach nicht in der Lage sind, die Ähnlichkeit zweier Bilder algorithmisch zu erfassen. . [Der Computer] gibt plötzlich eine Antwort, bei der Sie sich fragen: Ist der völlig verblödet? Was hat das mit dem zu tun? In diesem Fall muss man fast der Verfasser des Programms sein, um zu erklären, wie es dazu kommen kann, dass zwischen 27 Tierbildern jetzt plötzlich das Bild eines Bagger steht. Als Mensch können Sie überhaupt nicht erfassen, wie so ein Blödsinn passieren kann. […] Schlussendlich muss es . ein Mensch anschauen und sagen, was Blödsinn ist und was dasjenige ist, wonach man gesucht hat.« (Prof. Dr. Zoltan Szebehely, Wissenschaftler)
Weil die Maschine nicht in der Lage ist, Sinn zuzuordnen, ist es nach dieser Auffassung unabdingbar, dass nach wie vor ein menschlicher Experte die Bilder interpretiert, um aufgrund seines Erfahrungswissens maschinelle Fehler zu erkennen. Schließlich würde jedes zu interpretierende Bild wieder ein bisschen anders aussehen, meint Zoltan Szebehely. Die Maschine sei daher nicht in der Lage, fehlerfrei zu operieren. Doch trotz weiterem technischen Fortschritt und zunehmender Verbesserung der maschinellen Interpretationsquote bleiben einige Ärzte und Wissenschaftler gegenüber einer Formalisierung der Bildinterpretation skeptisch. So glaubt der Forscher Mark Buchs nicht, dass die Maschinen die Bildinterpretation übernehmen können: »Ich glaube nicht . Gerade weil viel anatomisches Wissen, sehr viel Erfahrung reinspielt. . Da müssen Sie einfach ein geübtes Auge haben. Und da bin ich nicht so sicher, ob Sie das über einen Algorithmus einem Computer abgeben können. Das ist dann die Stärke des Radiologen. Dass er oder sie extrem viel bildliche Information verarbeiten kann und dies über vermutlich teilweise sehr intuitive Mechanismen.« (Prof. Dr. Mark Buchs, MR-Spektroskopie)
Neben medizinischem Wissen und Erfahrung betont Buchs vor allem das »geübte Auge« und die Intuition, die für eine Bildinterpretation wichtig ist. Er frage sich, meint Buchs, »ob das, was ein guter Radiologe mit der Intuition drin hat, so einfach zu formalisieren« sei. Sogar wenn die technische Möglichkeit zur Berechenbarkeit impliziten, verkörperlichten Wissens gegeben wäre, glauben einige Ärzte nicht daran, dass die Maschine den Menschen in der Bildinterpretation übertrumpfen könnte. Denn, so die Überzeugung des Radiologen Bruno Aeschlimann, menschliche Gewohnheiten spielten eine wichtige Rolle. So ist er zwar überzeugt, dass »man . alles mit dem Computer machen« könne, aber dass gleichzeitig ein Bedürfnis des Men-
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schen vorhanden sei, seine sinnlichen Fähigkeiten einzusetzen. So wolle er selbst beispielsweise die Bilder in den Händen halten, das heißt »irgendwann . wieder ein Papier anschauen«, statt alles nur digital auf dem Computerscreen anzusehen. Habitualisierte Routinen, Erfahrungswissen und ein »geübtes Auge« stehen also für einige Ärzte und Wissenschaftler für eine Position, in der die Technik als defizitär empfunden wird. In dieser Aushandlung von Kompetenzbereichen zwischen Mensch und Maschine gibt es eine dritte Position, die eine Sowohl-als-auch-Haltung markiert. Bildinterpretation erfolgt nach dieser Auffassung grundsätzlich in Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine, wobei sowohl die Technik als auch der Bildexperte seine spezifischen Fähigkeiten einbringen. Diese Auffassung ist mit dem Glauben verbunden, dass nur ein Teil der visuellen Expertise formalisierbar ist, welcher die impliziten, insbesondere intuitiven Anteile visueller Expertise nicht erfasst. Max Ineichen, der als Radiologe in einem Privatinstitut tätig ist, beschreibt den Computer als »Co-Piloten«, als seinen »zweiten Radiologen«, mit dem er gewissermaßen zusammenarbeite. Für einen anderen Wissenschaftler, der in der Bildanalyse tätig ist, war es »ein Denkfehler, dass man immer an eine Vollautomatisierung« der Bildinterpretation dachte. Vielmehr würde sich eine »gesunde Arbeitsteilung zwischen Menschen und Maschinen« aufdrängen, bei der beide Seiten die jeweiligen Stärken ausspielen könnten. Während der Computer Daten selektioniere und mit anderen Bilddaten abgleiche, sieht der Radiologe Jens T. Martins die Zukunft des Bildexperten unter anderem in einem größeren Kontakt mit den Patienten. Dieser diene nicht nur dazu, den Patienten die Angst vor den Visualisierungsgeräten zu nehmen, sondern auch, die Bildinterpretation mit dem »analogen Bild« des Patienten, d.h. dem Eindruck, den der Mediziner in der face-to-face-Interaktion vom Patienten gewinnt, abzugleichen. Dieses »analoge Bild« – die intuitive Erfassung des Gegenübers – kann nach Auffassung der Ärzte nicht formalisiert werden.
3. D as B ild z wischen objek tiver M essung und intuitivem D okument Der Gegensatz zwischen formalisierbaren und intuitiven Aspekten lässt sich auch im Verständnis dessen, was ein medizinisches Bild darstellt, ausmachen. So sind einige Ärzte und Wissenschaftler überzeugt, dass das Bild ein klares Messergebnis sei, das eindeutige und objektive Datensätze liefere. Dies gilt in erster Linie für Bilder, die mit digitalen Verfahren wie Magnetresonanz- oder Computertomographie hergestellt wurden. Diese Bilder würden »1:1 die Realität darstellen«, meinte etwa Radiologieprofessor Marin Berakovic, es seien keine »Vexierbilder«, die man beliebig interpretieren könne. Vielmehr würden die Bilder teilweise Ergebnisse darstellen, »die ganz klar und diskussionslos« seien, weil die Visualisie-
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rungsverfahren »überlagerungsfreie Abbildungen« ermöglichen würden. Dabei grenzt er die mit Scannern hergestellten Bilder von klassischen Röntgenbildern ab, weil letztere keine überlagerungsfreien Darstellungen ermöglichen würden, was zu Unklarheiten führen könne. Die Vorteile der digitalen Verfahren werden auch gegenüber konventionellen Methoden wie der Stethoskopie hervorgehoben. So erzählte der Radiologe Bruno Aeschlimann: »[Beim] Abhören des Thorax mit dem Stethoskop … unterteilt [man] in verschiedene Geräusche: Lungengeräusche, Rasselgeräusche. Das war früher eine Wissenschaft. Man hat unterschieden in grobblasig und nicht grobblasig, in klingend und nicht klingend etc. und hat daraus die Diagnose abgeleitet. Das ist einfach denkbar ungenau.« (Dr. med. Bruno Aeschlimann, Radiologe)
Während auf auditiver Erfassung beruhende Ergebnisse hier als ungenau gewertet werden, werden die mit Visualisierungstechniken produzierten Daten von verschiedenen Ärzten als präzise Messergebnisse begriffen. Dieser Auffassung widersprechen jedoch andere Ärzte und Wissenschaftler. Die Bilder seien keine objektiven Messdaten; vielmehr handle es sich bei den neusten Bildgebungsverfahren um »relative Methoden« oder »relative Messungen«, deren Ergebnisse von »sehr subjektiven Einstellungen« abhängen würden, meint etwa der Physiker Konrad Schönthaler. Die Subjektivität und Ungenauigkeit, die nach dieser Auffassung mit den Bildern verbunden ist, wird nach Meinung anderer Ärzte dadurch verstärkt, dass ein Bild untrennbar mit der Seherfahrung verbunden ist. »Das Bild ist intuitiv«, meint etwa ein Assistenzarzt in der Neurologie und bringt damit zum Ausdruck, dass ein Bild nicht von seiner Wahrnehmung getrennt werden kann. Noch bevor es überhaupt professionell interpretiert wird, wird es intuitiv gesehen und wahrgenommen. Damit ist nicht die Interpretationsoffenheit der Bilder angesprochen, also der Umstand, dass diese unterschiedlich interpretiert werden können, sondern vielmehr der Status des Bildes als »epistemisches Ding« (Rheinberger 1992: 69), bevor es überhaupt befundet wird – ein Ding, das etwas verkörpert, was man noch nicht weiß. Die intuitive Erfassung des Bildes in der obigen Aussage des Assistenzarztes bezieht sich mit anderen Worten nicht auf ein interpretierendes, verstehendes bzw. erkennendes »Sehen«, sondern vielmehr auf ein praktisches Wahrnehmen oder »Schauen«, das der Wissenschaftssoziologe Ludwik Fleck von ersterem abgrenzt (Fleck 1983: 148).
4. I nterpre tative K ompe tenzen und B lick techniken — B ildarbeit z wischen S ystematik und I ntuition Schließlich zeigen sich die antagonistischen Auffassungen von Formalisierbarkeit und Intuition auch bei der Beschreibung der visuellen Expertise im engeren
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Sinn. Interpretationsfähigkeiten und Blicktechniken werden von den Ärzten und Wissenschaftlern diesbezüglich unterschiedlich dargestellt. Die erste Gruppe von Ärzten betont das Systematische, Berechenbare und Explizierbare der Bildarbeit. Dies gilt zunächst für das Fachwissen, das als wichtige Voraussetzung für den kompetenten Umgang mit dem Bild gilt. So ist der Radiologe Bruno Aeschlimann der Überzeugung, dass derjenige, der ein Bild interpretiere, sein Handwerk »perfekt beherrschen« müsse, was insbesondere medizinisches Fachwissen bedinge. Ohne spezifische Vorkenntnisse, so die Meinung vieler Ärzte, ist eine richtige Deutung eines medizinischen Bilds gar nicht möglich. Sowohl Wissenschaftler wie Praktizierende sehen Fachkenntnisse insbesondere für die Erkennung von Bildartefakten als unabdingbar an. Der mit MRI arbeitende Physiker Roman Klingenberg erklärt: »Der Algorithmus [des Bilds, R.V.B.] wurde unter Idealbedingungen konstruiert, also wenn die Zelle sich nicht bewegt. Sonst gibt es ein Artefakt. Wenn ich kein Wissen, keine Zusatzinformationen hätte, würde ich sagen, oh toll, ich habe etwas, ich sehe Farben.« (Dr. Roman Klingenberg, Physiker) Aus mangelndem fachlichem Vorwissen, so Klingenberg, würde eine falsche Bildinterpretation resultieren. Die durch Bewegung des visualisierten Objekts erzeugten und als Farbdarstellungen angezeigten Bildartefakte würden in diesem Fall nicht als solche erkannt, sondern als ein Hinweis auf eine tatsächlich vorhandene Zellveränderung gedeutet. Diese Auffassung legt nahe, dass von den Ärzten und Wissenschaftlern nur erkannt und gesehen werden kann, was ihnen schon durch Vorwissen bekannt ist. Wie bereits Ludwik Fleck betonte, gilt diese Abhängigkeit des Erkennens von Erlerntem nicht nur für die medizinische Bildinterpretation, sondern für das wissenschaftliche Erkennen insgesamt (Fleck 1983: 148). Das fachliche Wissen, wie beispielsweise die anatomischen oder kardiologischen Kenntnisse, wird von den Radiologen und Ärzten auch angeführt, wenn es darum geht, zu beurteilen, wer die geeignetste Person für die Interpretation der Bilder sei. So ist der Neuroradiologe Mario Mastroianis überzeugt: »Neuroimaging darf man nicht ohne Kenntnisse der Anatomie machen«, womit er die Eignung der Neuroradiologen für die Interpretation von Hirnbildern unterstreichen will. Ähnlich sieht es sein Fachkollege Wolfgang Schmidt: »Ich komme von der Neurologie, bin Facharzt für Neurologie primär, und das ist eigentlich die Grundvoraussetzung. Man kann Bilder nur interpretieren auf dem Hintergrund dessen, dass man genau über die Pathophysiologie, über die Patho-anatomie und an und für sich über die ganzen Krankheitsbilder Bescheid weiß.« (Prof. Dr. Wolfgang Schmidt, Neuroradiologe)
Radiologieprofessor Marin Berakovic, betont ebenfalls die Bedeutung fachspezifischer Kenntnisse, die in der Ausbildung erworben werden:
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IV. Die Professionalisierung sinnlicher E xper tisen »Die Interpretation eines Bildes durch den Nicht-Fachmann, […] der keine Radiologie-Ausbildung hat und vielleicht nur mal als Student eine beschränkte Stundenzahl das miterlebt hat, der ist bei der Bildinterpretation schon mit Schwierigkeiten konfrontiert.« (Prof. Dr. Marin Berakovic, Radiologe)
Wer sich bereits frühzeitig die notwendigen anatomischen und bildtechnischen Kenntnisse angeeignet hat, ist nach Meinung Berakovics besser in der Lage, die Schwierigkeiten einer Bildinterpretation zu meistern. Medizinisches Fachwissen wird also als ein unabdingbarer skill für die Bildarbeit angesehen. Dieses Wissen wird als explizierbares, explizites Wissen dargestellt, das in der Ausbildung erworben und durch den Facharzttitel anerkannt wird. Somit stellt es ein formalisiertes und systematisch erlernbares Wissen dar, das zugleich als objektiv und legitimiert gilt. Mit diesem Wissen geht eine bestimmte Blicktechnik einher, die ich den analytischen Blick genannt habe (Burri 2008a: 210-212). Es handelt sich um eine intellektuell-rationale Blickweise, die nach einem »genauen Fahrplan« vorgeht, indem alle Gefäße »durchgeguckt« werden. Der Neuroradiologe Wolfgang Schmidt, der sich selbst kein gutes optisches Gefühl attestiert, meint ebenfalls, er müsse »die Bilder rational durchmustern«: »Ich […] gucke nach Symmetrien und nach so Sachen«, erklärt er. Radiologieprofessor Jens T. Martins ist überzeugt, dass schließlich »jede Bildinterpretation einem gewissen Schema« unterliege: »Jeder hat sich mit der Zeit ein Schema aufgebaut. Kreis, Gegenkreis, von außen nach innen, von innen nach außen. Es gibt gewisse Interpretations-Algorithmen, wo wir wissen, dass die besser sind als andere. Von außen nach innen ist wohl besser als von innen nach außen.« (Prof. Dr. med. Jens T. Martins, Radiologe)
Für Martins sind solche »Interpretations-Algorithmen« und eine »gewisse Systematik« notwendig, um Bilder überhaupt interpretieren zu können. Während Martins davon ausgeht, dass solche Schemen durch die Erfahrung individuell entwickelt werden, erzählt Radiologieprofessor Marin Berakovic, er habe bereits in der Ausbildung eine rationale Herangehensweise erlernt, die nach einem »bestimmten Faden« und »sturen Regeln« ablaufe: »Es gibt sieben Punkte, die man anschauen kann. Dann werden die sieben Punkte analysiert. […] Bei einem Thorax zum Beispiel schauen Sie das Bild von außen gegen innen an, d.h. Punkt 1 ist Weichteile, Punkt 2 Skelett, Punkt 3 Zwerchfell [etc.] […] Am Schluss, wenn man das alles durchgegangen ist (›zämehät‹), hat man die Röntgenanalyse gemacht, und aufgrund der Röntgensymptome macht man dann die Diagnose. […] Das ist wie bei einem Kreuzworträtsel, die horizontalen zuerst, und wenn man etwas nicht beantworten kann, dann lässt man die halt aus und geht weiter zu den vertikalen. Am Schluss erhält man ein Gitter, sodass man aufgrund der verschiedenen Veränderungen und Symptome man
Regula Valérie Burri — Zwischen Formalisierbarkeit und Intuition doch noch raten, also ausfüllen kann, was es effektiv ist.« (Prof. Dr. med. Marin Berakovic, Radiologe)
Diese »schulmäßige« (Berakovic) Vorgehensweise, bei der das Bild nach einer bestimmten Systematik von außen gegen innen und jeweils »wie bei einem Kreuzworträtsel« zunächst horizontal und danach vertikal abgesucht wird, soll ermöglichen, fehlende Elemente des »Gitters« durch »raten« zu ergänzen. Damit wird eine abduktive Schließung angestrebt, durch welche man zu einer Hypothese gelangt, die ganz anders als eine zu Beginn allenfalls vorhandene, von einem Hausarzt oder einer Klinikerin formulierte Verdachtsdiagnose liegen kann. Während des systematischen Absuchens folgt die analytische Blicktechnik jedoch einer deduktiven Erkenntnislogik, die von einem bestimmten Klassifikationssystem ausgeht und dieses auf das Bild anwendet, mit dem Ziel, das Gesehene in diesem System zu verorten. Der analytische Blick ist daher eine begriffsgeleitete Blickweise; das systematische Abchecken bestimmter Bildpunkte folgt einem intellektuell-rationalen, diskursiv verfassten Kategoriensystem, welches als Wissenskanon in der Ausbildung erlernt und durch die Erfahrung erweitert und inkorporiert wird. Die analytische Blickweise ist in diesem Sinn ein instrumentalisiertes Blicken. Das Auge ist nicht bloßes Wahrnehmungsorgan, sondern Werkzeug, welches ein Bild apparateähnlich und nach vorgegebenen Standards absucht, um das Gesehene mit einem vorhandenen Klassifikationssystem in Übereinstimmung zu bringen. Intuition und Gefühl werden bei dieser Blickweise nicht als zu nutzende Ressourcen betrachtet, sondern als eher störende Elemente, die für ein objektives Interpretieren hinderlich sind. Abbildung 2: Bildinterpretation
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Der ersten Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern, die eine systematischanalytische, explizierbare und letztlich formalisierbare Vorgehensweise bei der Bildarbeit betonen, steht eine zweite Gruppe gegenüber, die die Bedeutung von Intuition und visueller Begabung hervorheben.1 Ein »gutes Auge«, sei sehr wichtig, meint Radiologieprofessor Marin Berakovic und sein Kollege Hubert van Gool glaubt an die Notwendigkeit einer speziellen visuellen Begabung: »Sometimes people are not able to read pictures, they have no affinity with it, they don’t know how to do it, they cannot learn it. It’s like playing piano: Some people have an affinity for playing music, but others don’t.« (Prof. Dr. Hubert van Gool, Radiologe)
Wie ein Musiker, ist van Gool überzeugt, benötigt auch ein Radiologe entsprechendes Talent. »Es gibt Leute, die extrem gute Fähigkeit haben, visuell etwas zu erfassen«, qualifiziert der Neuroradiologe Alfred Naumann die Bildinterpretationsfähigkeiten seiner Kollegen, es gebe Leute, die hätten »den sogenannten Blick«. Auch der Neuroradiologe Wolfgang Schmidt ist dieser Überzeugung: »Es gibt Leute, die haben ein besseres optisches Gefühl. Oder eine bessere optische Einstellung. Ich habe zum Beispiel kein gutes. […] Ich glaube schon, dass es Leute gibt, die schneller optisch diese Engramme drin haben und dann dort was sehen.« (Prof. Dr. Wolfgang Schmidt, Neuroradiologe)
Schmidt führt die visuelle Begabung auf die ausgeprägte Fähigkeit dieser Leute zurück, Engramme, also medizinische Erinnerungsbilder hervorzurufen und diese für die Interpretation nutzbar zu machen. Neben einer visuellen Begabung wird die Intuition als eine weitere, besonders wichtige Kompetenz für die Interpretation der Bilder angesehen. Der Neuroradiologe Mario Mastroianis beschreibt sie wie folgt: »Es braucht das Wissen, es braucht die Erfahrung und es braucht ›die Nase‹. Die Rolle der ›Nase‹ spielt vielleicht 60 Prozent, das ist vielleicht das Wichtigste« (Prof. Dr. Mario Mastroianis, Neuroradiologe). Die für die Bildinterpretation notwendige Intuition hängt dabei nicht vom unmittelbaren Sehen ab. Vielmehr ist sie als ein körpergebundenes, implizites Wissen zu beschreiben, das sich als ein Gefühl für eine Situation manifestiert. Diese skills gehen mit Blicktechniken einher, die intuitiv und haptisch sind (Burri 2008a: 208f.). Der intuitive Blick ist eine bildgeleitete Interpretationstechnik, bei der die Optik des Bildes im Vordergrund steht. Der intuitive Blick lässt sich vom visuellen Eindruck, etwa von der Form und Gestalt eines Bildes, leiten. »Es ist bestimmt eine Gestaltungskomponente dabei«, anerkennt der Radiologieprofessor Jens T. Martins seine Herangehensweise. Auch der Neurowissenschaft1 | Die folgenden Abschnitte sind im Wesentlichen übernommen aus Burri 2008a: 205-207.
Regula Valérie Burri — Zwischen Formalisierbarkeit und Intuition
ler Stefan G. Meier bekennt sich dazu, die Bilder in erster Linie visuell zu handhaben: »Ich seh das erst mal. Wenn ich dann genau wissen will, wie die Aktivation meinetwegen bei dem schwarzen Fleck da ist, dann fahr ich mit dem Mauszeiger drüber und lass mir den Wert geben. Aber erst mal […] Das kommt auch drauf an. Ich seh das sehr visuell.« (Dr. med. Stefan G. Meier, Neurophysiologe)
Der intuitive Blick kann dabei nach zwei Arten verfahren; er ist entweder ganzheitlich betrachtend, indem er die Bilder in ihrem Gesamteindruck wirken lässt und sich dann darauf konzentriert, »was grad so ins Auge springt« (Dr. Uwe Glesner, Kardiologe). Oder er richtet das Auge gezielt auf ein Bilddetail auf der Suche nach etwas Auffälligem. Während die Übersichtsbetrachtung vor allem zum Zug kommt, wenn keine präzise Fragestellung oder bestimmte Verdachtsdiagnose vorliegt, ist die Detailbetrachtung notwendig, um augenfällige Anomalien, komplexe Verdachtsdiagnosen oder eine präzise klinische Fragestellung abzuklären. Eine notwendige Detailbetrachtung bezeichnet der Radiologe Bruno Aeschlimann als »zweiten Blick«: »Beim Übersichtsbild […] ist sehr vieles visuell. Wenn ich eine bestimmte klinische Angabe dazu erhalte, dann checke ich noch mit einem zweiten Blick das entscheidende Kriterium separat und fokussiert.« (Dr. med. Bruno Aeschlimann, Radiologe)
In einfachen Fällen genüge jedoch ein einziger Blick – die Blickdiagnose – um ein Bild zu interpretieren, meint Radiologieprofessor Marin Berakovic. Die Blickdiagnose sei etwa bei einfachen Knochenbrüchen leicht möglich. Erst »wenn die Dinge komplex sind, müssen Sie auf die Stufe der Einzelteile runtergehen und die separat analysieren und dann das Bild wieder zusammensetzen«. In vielen Fällen werden diese beiden Formen des intuitiven Blickens jedoch gleichzeitig angewandt: »Dann springt der Blick hin und her und rauf und runter und wieder zurück«, beschreibt der Neuroradiologe Alfred Naumann das Oszillieren des Blicks zwischen verschiedenen Ebenen und Details. Der intuitive Blick ist dabei nie eine naive, theoriefreie Interpretationstechnik. Auch im Bemühen, durch einen oszillierenden oder detailbetrachtenden Blick ein diagnostisches Ergebnis zu erzielen, werden vorhandene, inkorporierte Kategoriensysteme aktualisiert. Diese bestehen nicht nur aus erlernten, kanonisierten und damit expliziten Wissensbeständen, die in der Ausbildung und durch die Praxis erworben werden. Vielmehr wird auch ein implizites, nichtdiskursives Wissen aktiviert, welches durch Routine erworben wird und ein Gefühl für Abweichungen vermittelt, wie Bruno Aeschlimann erklärt: »Wenn ich 100 Bilder gesehen habe, 1.000 Bilder, die immer gleich aussehen, und dann kommt eines, das ein bisschen anders aussieht, dann merke ich das.« (Dr. med. Bruno Aeschlimann, Radiologe)
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Durch das wiederholte Sehen von Bildern wird gewissermaßen ein »inneres Auge« entwickelt, das als »fotografisches Gedächtnis« (Bruno Aeschlimann) bei der Erkennung von Anomalien und deren Einordnung in ein medizinisches Klassifikationssystem hilfreich ist. »Bei uns ist natürlich die ganze Erfahrung gespeichert«, unterstreicht Radiologieprofessor Marin Berakovic die Bedeutung dieses impliziten visuellen Wissens. Auch der Kardiologe Uwe Glesner betont, dass es für die Interpretation wichtig sei, dass er sich »Bilder […] schon sehr gut merken« könne. Diese im Gedächtnis verankerten Bilder werden nebst dem expliziten Fachwissen aktiviert, sobald der intuitive Blick als Erkenntnistechnik eingesetzt wird. »Sie komprimieren zum Schluss sehr viele komplizierte Gedankengänge auf Weniges«, umschreibt Alfred Naumann den Prozess des Zusammenspiels von intuitivem Blick, erinnerten Bildern und Fachwissen. Die memorisierten Bilder dienen jedoch nicht einfach als kognitives Archiv, welches nach Bedarf abgerufen werden kann. Vielmehr überlagern sie sich in Erinnerungsschichten zu einem verkörperlichten »optischen Gefühl« (Wolfgang Schmidt), das Bestandteil des praktischen Sinns der Akteure wird. Die intuitive Blickweise ist daher eine Methode, in welcher der Körper nicht nur als Wahrnehmungsorgan fungiert, sondern selbst ins Spiel kommt. Nicht nur das optische Gefühl, sondern individuelle Idiosynkrasien, wie emotionale Befindlichkeiten oder psychophysische Reaktionen, können die Interpretation beeinflussen, wie aus der Erzählung des Neuroradiologen Alfred Naumann hervorgeht: »Es gibt Dinge, die sehe ich sehr schnell, aber ich verlasse mich nie drauf. Weil es funktioniert am besten, wenn Sie souverän sind, wenn Sie sich über nichts geärgert haben. Wenn Sie aber relativ müde sind und sich am Abend zwingen, noch irgendetwas fertig zu machen, dann ist das gefährlich, dann können Sie auch leicht etwas übersehen. Ich habe mir einfach zum Gebot gemacht, das ist meine Strategie, dass ich sage, ich gucke alle Gefäße durch […] Da habe ich einen genauen Fahrplan.« (PD Dr. med. Alfred Naumann, Neuroradiologe)
Naumann ist sich bewusst, dass eigene Befindlichkeiten wie etwa Müdigkeit oder ein verärgerter Zustand die Wahrnehmung und Interpretation zu beeinflussen vermögen. Nicht nur die intuitive und die analytische Blickweise sind verkörperlichte Techniken. Dies gilt in besonderem Maße für eine weitere Blicktechnik, den haptischen Blick. Er ist eine körpergeleitete Blicktechnik, indem er sich nicht primär durch das Bild oder den Begriff, sondern durch den aktiven Körpereinsatz der Akteure leiten lässt. Er ist also nicht bloß eine inkorporierte, d.h. verkörperte, sondern auch eine körperliche Technik, welche neben dem Auge noch eine weitere physische Eigenschaft, den Tastsinn, aktiv als Erkenntnisinstrument einbringt.2 2 | Zwar sind auch beim intuitiven oder analytischen Blicken noch andere physische Eigenschaften und Prozesse involviert, etwa neuronale Eigenschaften beim Verarbeiten der Bildinformationen im Hirn, jedoch sind diese im Gegensatz zum Tastsinn, auf den hier Bezug genommen wird, nicht in gleichem Maße bewusst kontrollier- und einsetzbar.
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Der haptische Blick wird insbesondere von älteren Radiologen angewandt, welche in der Bildinterpretation zu einer Zeit geschult wurden, als sämtliche Bilder ausschließlich auf Film oder Platten und noch nicht in digitalisierter Version vorlagen. »Mein Lehrer konnte keine Diagnose stellen, ohne das Bild irgendwie zu fühlen«, beschreibt der Neuroradiologe Mario Mastroianis diese Technik. Für Radiologieprofessor Marin Berakovic ist ein Bilddokument sogar per definitionem »etwas, was man in die Hand nimmt«. Doch auch jüngere Ärzte und Radiologen ziehen es teilweise vor, die Bilder in der Hand zu halten, um sie zu befunden. »Ich muss es vor mir haben, das ist dann plastisch für mich, dann kann ich da auch was interpretieren«, meint etwa der Neurowissenschaftler Stefan G. Meier, der noch keine vierzig Jahre alt ist. Die Digitalisierung hat zwar dazu geführt, dass immer mehr Bilder nur noch in digitaler Form existieren. Dennoch werden nach wie vor deren viele auf Film ausgedruckt, nicht nur, um sie den Patienten mitzugeben, oder weil notwendige digitale Archive noch nicht in allen Spitälern oder Einrichtungen vorhanden sind. Vielmehr ziehen es Ärzte oftmals vor, die Bilder in der Hand zu halten, um sie besser interpretieren, in anderen Worten, um sie auch haptisch »sehen« zu können. So meint der Neuroradiologe Alfred Naumann: »Sie können das am Bildschirm nicht richtig machen, auch wenn das immer wieder behauptet wird. […] [B]eim Diagnostizieren am Bildschirm, d.h. bei der Tendenz zum Fastfood, um es ein bisschen böse zu sagen, zelebrieren Sie nicht mehr das Intellektuelle, das genaue Gucken, sondern da adaptiert sich derjenige, der befundet, an die Technik. Er wird in ein Konzept reingepresst und macht es mit den technischen Gegebenheiten, die ihm geboten werden, derjenigen technischen Infrastruktur also, die ihm der Arbeitgeber stellt und zu der er ihn zwingt. Man wird sich natürlich adaptieren müssen, das ist klar, man kann sich nicht gegen irgendetwas sperren. Aber eine Reihe von Dingen, die jetzt noch mitschwingen, werden verschwinden. Die Befundung wird oberflächlicher […] Viele subtile Dinge, die man früher noch beachtet hat, wird man übersehen.« (PD Dr. med. Alfred Naumann, Neuroradiologe)
Für Naumann geht bei der Bildschirmbefundung das »genaue Gucken« und »das Intellektuelle« verloren. Die Blick- und Interpretationsweise würde dabei an die vorhandenen technischen Möglichkeiten angepasst, sodass vieles auf der Strecke bliebe, was bei der Befundung auf Film noch »mitschwingen« würde – mit negativen Konsequenzen für die Interpretation, die oberflächlicher würde und Gefahr liefe, subtile Dinge zu übersehen. Der haptische Blick scheint somit zu ermöglichen, dass Dinge bei der Interpretation »mitschwingen«. Damit spielt Naumann auf intuitive Aspekte an, welche in einer Befundung am Monitor rausfallen, bei welcher der Bildinterpret »in ein Konzept reingepresst« werde. Der haptische Blick, so kann gefolgert werden, setzt den eigenen Körper ein, um der Intuition im Erkenntnisprozess Raum zu geben. Durch das Fühlen und taktile Erkennen des Bilds werden Dinge auch intuitiv erfasst und erkannt; das Be-Greifen des
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Bildes fördert somit sein Begreifen. Das intuitive Blicken wird dadurch ebenso unterstützt wie eingeübte analytische Blickweisen in Gang gesetzt werden. Das Erfassen des Bilds über den Tastsinn aktiviert und unterstützt somit die anderen, inkorporierten Blickweisen. Viele Ärzte wenden jedoch verschiedene Techniken an und vertreten damit eine dritte Gruppe, welche die Bilddeutung aufgrund des Einsatzes einer Kombination von systematisch-analytischen und subjektiv-intuitiven Methoden wahrnimmt. So sieht sich beispielsweise der Neuroradiologe Alfred Naumann als »jemand, der gemischt intuitiv und analytisch arbeitet«. Er neige »vielleicht ein bisschen mehr« zum Intuitiven, meint Naumann, doch wende er »unterschiedliche Strategien« an. Zum intuitiven Blick neigt zwar auch Stefan G. Meier, der die Bilder wie bereits zitiert »sehr visuell« sieht, jedoch gleichzeitig relativiert, dass das auch drauf ankomme. Damit verweist er auf einen fallabhängigen, situativ bestimmten Einsatz einer spezifischen Blicktechnik.
5. V isuelle E xpertise z wischen F ormalisierbarkeit und I ntuition Die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Visualisierungstechniken, Körperbildern und Bildarbeit durch die medizinischen Bildakteure situieren die medizinische visuelle Expertise in einem Spannungsfeld zwischen formalisierbaren und impliziten, insbesondere intuitiven Aspekten. Die Rekonstruktion der Akteursperzeptionen lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Erstens lässt sich festhalten, dass implizites, verkörperlichtes Wissen von vielen Bildakteuren als zentraler Faktor medizinischer visueller Expertise gesehen wird. Dies gilt insbesondere für die Intuition, die von vielen Ärzten und Wissenschaftlern neben dem Fachwissen und der Erfahrung als wichtige Ressource in der Bildarbeit beschrieben wird. Neben einem haptischen Be-Greifen von Bildern kommen auch visuelle Begabungen wie das »optische Gefühl« oder das »gute Auge« als Techniken in der Bildarbeit zum Einsatz. Diese zeichnen sich nicht zuletzt durch ästhetische und räumliche Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen aus. Bei all diesen Fähigkeiten handelt es sich um Herangehensweisen, die implizit und verkörpert sind. Viele Bildakteure begreifen die »professional vision« (Goodwin 1994) also als eine implizite, verkörperlichte Vorgehens- und Erkenntnisweise. Intuition ist in ihren Augen zentraler Bestandteil der visuellen Expertise. Was die Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Galison (2007) als »geschultes Auge« und »geschultes Urteil« von Experten bezeichnen, ist in der medizinischen Bildarbeit – und nicht nur da – durch intuitive Aspekte (mit-)geprägt. Nicht alle Bildakteure nehmen dies gleichermaßen wahr; einige betonen vielmehr die systematischen, berechenbaren und objektiven Aspekte der Bildarbeit, während andere eine sowohl-als-auch-Perspektive einnehmen. Die unterschiedlichen Auffassungen legen nahe – als zweite Schlussfolgerung –, dass die visuelle
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medizinische Expertise in der Praxis letztlich als Prozess und Ergebnis einer situativen Aushandlung zwischen formalisierbaren und impliziten Aspekten gesehen werden muss. Während in der wissenschaftssoziologischen Thematisierung von Expertise in erster Linie die Aushandlung des öffentlichen Expertenstatus in gesellschaftlichen Kontroversen betont wird (Limoges 1993), verweisen die unterschiedlichen Aussagen der medizinischen Bildakteure darauf, dass Aushandlungsprozesse bei Expertisen nicht nur in sozialer Hinsicht, sondern ebenso hinsichtlich methodischer Zugänge und Herangehensweisen stattfinden können. Die impliziten Aspekte, insbesondere die Intuition, werden zwar instrumentell eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel – die Bildinterpretation – zu erreichen, jedoch lassen sie sich nicht umfassend formalisieren und stellen daher nicht nur in der Wahrnehmung der Akteure einen unentbehrlichen Aspekt visueller Expertise dar.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: MRI scan, 2003 © image courtesy of John M, (CC BY-SA 2.0) online: https://www.flickr.com/people/jsmjr/ (letzter Zugriff: 19.06.2015) Abbildung 2: Bildinterpretation © Regula Valérie Burri
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Sehen professionell Sehen Die interaktive Konstitution visueller Wahrnehmung durch Optiker und ihre Klienten Dirk vom Lehn, Helena Webb, Christian Heath, Will Gibson
1. S ehen als soziologisches P hänomen Moderne Gesellschaften lassen die Qualität des Sehens ihrer Mitglieder professionell überprüfen. Zu diesem Zweck gibt es in diesen Gesellschaften Optiker als professionelle, an Universitäten ausgebildete Berufsgruppe, deren Funktion die Überprüfung der Sehqualität der Gesellschaftsmitglieder anhand vorgegebener Standards ist.1 In Großbritannien werden diese Standards von Organisationen wie dem College of Optometrists oder dem General Optical Council 2 festgelegt und deren Einhaltung durch Optiker sichergestellt. Die Standards kommen in der Arbeitspraxis von Optikern zur Anwendung, wenn sie mittels Standardtechniken und Technologien Tests und Untersuchungen durchführen, um die Qualität des Sehens von Klienten zu bewerten. Zum Zwecke dieser Bewertung der Sehqualität ihrer Klienten stellen Optiker in professionellen Umgebungen Sehbedingungen her, die es ihnen erlauben, die subjektive Seherfahrung von Klienten in einen objektiven Indikator zu verwandeln. Dieser Indikator erlaubt es Optikern, die Qualität des Sehens von Klienten über Zeiträume hinweg und zwischen ihnen vergleichbar zu machen. Die Behauptung die Seherfahrung sei objektiv messbar, ist gerade auch im Lichte von Diskussionen über das Verhältnis von Wahrheit und Objektivität in der Wissenschaftssoziologie und -theorie (Daston/Galison 1992; Daston 1998, 2001), über die Funktion der Quantifizierung qualitativer Phänomene (Porter 1 | Wir beziehen uns in diesem Kapitel auf Großbritannien, wo wir unsere Analysen durchgeführt haben. Hier werden Optometriker an Universitäten ausgebildet, um in den Geschäften von Optikern, die Sehschärfe und Augengesundheit zu überprüfen. 2 | In Deutschland nimmt der Zentralverband der Augenoptiker eine ähnliche Funktion wahr wie das General Optical Council in Großbritannien.
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1992; Espeland/Stevens 1998) oder auch in der Kunstgeschichte über die historischen und situativen Einflüsse auf Konzepte des Sehens (Shearman 1992; Crary 1999) nicht unproblematisch. In der Forschungspraxis, die darum bemüht ist, das Sehen zu objektivieren, muss ein großer technischer Aufwand, beispielsweise durch die Benutzung von funktionellen Magnetresonanztomografie-Scannern (fMRI-Scanner), betrieben werden, um zu bestimmen, welche kognitiven Prozesse durch die Konfrontation mit visuellen Objekten, wie Kunstwerken, ausgelöst werden (Ramachandran/Hirstein 1999; Kandel 2012). Hier zeigen soziologische Untersuchungen, dass die Analyse von fMRI-Bildern ein interaktives Produkt ist, das zwischen Experten ver- und ausgehandelt wird (Alač 2011). Diese wissens- und wissenschaftssoziologischen Analysen werden bisher nur selten in Bezug zu den wachsenden Debatten zur Soziologie der sinnlichen Wahrnehmung gestellt (Vannini u.a. 2012). Es ist einigermaßen überraschend, dass die Soziologie bisher kein größeres Interesse an der sinnlichen Wahrnehmung gezeigt hat, hatte doch Georg Simmel (1992/1907) schon vor über 100 Jahren auf die Bedeutung des Blickes als soziales Phänomen und als eine der Grundlagen für Sozialität hingewiesen. Im Zusammenhang mit dem sogenannten visual turn ist nun in den vergangenen zwanzig Jahren ein zunehmendes sozialwissenschaftliches Interesse an der visuellen Erfahrung der Welt und an der Bedeutung anderer Sinne für die Konstitution von Sozialität zu beobachten (Weinstein/ Weinsten 1984; Stäheli 2011). Trotz dieses wachsenden Interesses am Sehen als sozialem Phänomen wird in der Soziologie doch zumeist über das Sehen und die Sehpraxis theoretisiert, indem die Disziplin sie beispielsweise als »wissenssoziologisches Problem« konstituiert (Raab 2007), während zu den Praktiken, durch die Sehen vollzogen wird, wenig erforscht wurde.3 Diese immer noch bestehende Lücke in der Forschung liegt wohl in der Schwierigkeit begründet, dass oberflächlich betrachtet dem Soziologen wie auch anderen Teilnehmern an Situationen nicht direkt zugänglich ist, was und wie andere Akteure, die in der gleichen Situation handeln, die Umgebung sehen. Um trotzdem von Intersubjektivität in sozialen Situationen ausgehen zu können, führen Schütz und Luckmann (2003) an dieser Stelle daher die Annahme einer »Reziprozität der Perspektiven« ein. Damit wird Intersubjektivität in die Köpfe der Teilnehmer verlegt und die sozialen Praktiken, durch welche Intersubjektivität hergestellt wird, verschwinden aus dem soziologischen Blick. Wir wollen in diesem Kapitel jedoch genau diese Praktiken des Sehens analysieren. Zu diesem Zweck folgen wir Garfinkel und Wieders (1992) Beschreibung von »Sacks’ Gloss«. Dabei spielen die beiden Ethnomethodologen auf Harvey Sacks’ Feststellung an, dass wenn Soziologen ein Phänomen untersuchen wollen, es häufig hilfreich sein kann zu analysieren, wie Gesellschaftsmitglieder, die diesem Phänomen routinemäßig begegnen, damit umgehen. In unserem Falle sind 3 | Für interessante Ausnahmen siehe auch Goodwin 1994; Burri 2008; Schindler/Liegl 2013.
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wir von der Frage ausgegangen, wie Teilnehmer sich wechselseitig bezüglich der visuellen Wahrnehmung von Objekten in ihrer Umgebung beobachten. »Sacks’ Gloss« aufnehmend haben wir dann mit Optikern eine Berufsgruppe gefunden, die sich tagtäglich mit dieser Frage auseinandersetzt: wie klar und deutlich sieht mein Klient Objekte, die ich ihm/ihr präsentiere. In diesem Sinne haben wir Optiker als Gesellschaftsmitglieder identifiziert, die neben anderen Professionen wie Fotografen und Künstlern4 in ihrer alltäglichen Arbeit Sehen professionell beurteilen und Sehsituationen professionell konfigurieren.
2. V ideo - basierte A nalyse von A ugenuntersuchungen Um diesen alltäglichen Praktiken von Optikern auf die Spur zu kommen, werden Daten benötigt, die es dem Soziologen erlauben, die Organisation der Praktiken im Detail zu analysieren. Interviews mit Optikern und Klienten würden ein nur unvollständiges Bild der Praktiken geben, durch die Optiker die Sehqualität von Klienten messen. Ebenso würden ethnografische Beobachtungen hier zu kurz greifen, da sie zu grobspurig sind, um Zugang zu der detaillierten Organisation und Gestaltung von Handlungen zu erlauben, durch die Seherfahrung in spezifischen Momenten wahrnehmbar gemacht und beurteilt wird. Wir haben daher selbst den visual turn mitvollzogen und benutzen für unsere Analyse Videos als primäre Daten. Über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren haben wir 62 Augenuntersuchungen bei neun verschiedenen Optikern gefilmt. Zur Aufnahme der Videos haben wir eine konventionelle Kamera auf einem Stativ in Untersuchungsräumen von Optikern aufgestellt und angeschaltet. Anschließend haben wir den Raum verlassen und sind erst nach der Augenuntersuchung wieder in den Raum zurückgekehrt, um das Aufnahmeband auszuwechseln. Die Untersuchungen dauerten zwischen 30 und 45 Minuten. Obwohl Optiker und Klient natürlich über die Forschung und Videoaufnahmen informiert waren und dazu vor der Untersuchung ihr schriftliches Einverständnis gegeben hatten, geben die Daten keine Hinweise darauf, dass vor der Kamera geschauspielert wurde. Die Teilnehmer an den gefilmten Situationen mögen zunächst kurz über die Kamera sprechen und in sie hineinschauen, doch dann gehen sie sehr schnell zum Tagesgeschäft über und vollziehen die Situation, die sie zusammengeführt hat.5 Die Analyse der Videodaten geht Fall-für-Fall vor und involviert die detaillierte Inspektion von ganz bestimmten Handlungen und ihrer Hervorbringung in einem spezifischen Handlungskontext. Dieser Handlungskontext wird im Sinne 4 | Siehe dazu die Beiträge von Göbel und Schürkmann in diesem Band. 5 | Das Ausbleiben von Reaktivität auf die Kamera ist nicht überraschend, sondern wird in der video-basierten Forschung immer wieder berichtet (Laurier/Philo 2006; Heath u.a. 2010) dazu die Beiträge von Göbel und Schürkmann in diesem Band.
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der Ethnomethodologie und Konversationsanalyse als sequentiell organisiert angesehen. Er ist kein Behälter, in dem Ereignisse stattfinden, sondern ein Prozess, der durch oral-sprachliche, visuelle und materiale Handlungen fortlaufend hervorgebracht wird. Indem die Forscher und Forscherinnen die Produktion dieses Kontextes transkribieren6, können sie dessen sequentielle Organisation herausarbeiten; oder mit anderen Worten, sie können die »Architektur der Intersubjektivität« analysieren und zeigen, wie Situationsteilnehmer Moment-für-Moment Intersubjektivität herstellen (Heritage 1984).
3. S ehschärfe wahrnehmbar machen Teilnehmer an alltäglichen Situationen wissen nicht was und wie scharf, d.h. wie klar und deutlich andere Teilnehmer die Umwelt sehen. Anhand ihrer Kopfrichtung können sie erahnen oder zumindest vermuten, welche Objekte sie sehen; und anhand des Gesichts- und Augenausdruckes unterscheiden sie routinemäßig, unterschiedliche Arten des Blickens, Schauens, Betrachtens, Starrens usw. (Parsons/Coulter 1991; Sharrock/Coulter 1998). Letztlich sicher können sie sich aber hinsichtlich dessen, was andere Teilnehmer wie klar sehen, nicht sein. Unser Forschungsprojekt, das sich mit der praktischen Arbeit von Optikern beschäftigt, ist unter anderem daran interessiert, wie Optiker die von ihren Klienten subjektiv erfahrene Qualität der visuellen Wahrnehmung durch Quantifizierung zu objektivieren versuchen. Während die Wissenschaftsgeschichte und -soziologie verschiedentlich auf die mit dieser Form der Kommensurierung qualitativer Phänomene durch Quantifizierung hingewiesen hat (Daston/Galison 1992; Porter 1992; Daston 2001), ist es eine der wesentlichen Aufgaben von Optikern genau dies durch optometrische Techniken und mit Hilfe optometrischer Instrumente zu bewerkstelligen, sodass sie am Ende einer jeden Untersuchung exakt, d.h. mit einem Zahlenwert, die Fehlsichtigkeit, d.h. einen Mangel an Sehschärfe, ihres Klienten im Vergleich zu einem gegebenen Standard angeben und in die Klientenakte eintragen. Nun gibt es den Optikerberuf schon sehr lange und wir als Klienten vertrauen Optikern und ihren Kompetenzen, sodass wir in aller Regel annehmen, dass sie messen können, wie klar und deutlich wir sehen können. Und wir nehmen weiter an, dass der aus ihrer Messung hervorgegangene 6 | Um die Komplexität der Videodaten zu bearbeiten, haben wir Fragmente der Aufnahmen transkribiert. Bei der Transkription unserer Daten folgen wir den Konventionen, die Jefferson (1984) entwickelt hat und die heutzutage in der Gesprächs- und Konversationsanalyse häufig verwendet werden. Da es für die Transkription nicht-vokaler Handlungen kein Standardsystem gibt, haben wir unser eigenes System entwickelt, das sich an den Untersuchungen von Kendon (1990) und jüngeren video-basierten Analysen von Heath, Hindmarsh und Luff (2010) orientiert. Im Text benutzen wir vereinfachte Transkripte, um ihre Lesbarkeit zu verbessern.
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Messwert, die Grundlage dafür bietet, eine eventuelle Fehlsichtigkeit mit einer Brille oder mit Kontaktlinsen beheben zu können. Dieses Vertrauen in Optiker speist sich zum Teil daraus, dass sie heute nicht mehr wie im Wilden Westen mit einem Kutschwagen und einer Sammlung von Linsen in unser Dorf fahren, sondern dass sie mit Geschäften auf unseren Einkaufsstraßen etabliert sind. Diese Geschäfte sowie die darin arbeitenden Optiker und Angestellte unterliegen in der Ausführung ihrer Arbeit staatlich anerkannten und institutionell geprüften Standards, die sie sich bei ihrer Ausbildung angeeignet haben. Die Arbeit von Optikern besteht unter anderem darin, dass sie optometrische Instrumente und Kommunikationstechniken benutzen, um die Fehlsichtigkeit ihrer Klienten wahrnehmbar und messbar zu machen (vom Lehn u.a. 2013). Eines dieser Instrumente, das im Falle der Sehschärfeprüfung in Großbritannien verwendet wird, ist die sogenannte Messbrille, ein Brillengestell in das Linsen eingeführt werden können (Abb. 1). In anderen europäischen Ländern sind häufig sogenannte Phoropter in den Untersuchungsräumen von Optikern gebräuchlicher, die anders als die Messbrille das Gesichtsfeld des Klienten fast vollständig verdecken. Sie erlauben ihnen einen Blick durch eine Vorrichtung, in die Linsen automatisch über ein Computerprogramm eingeführt werden können. Die Sehschärfeprüfung folgt im Verlauf der optometrischen Untersuchung in aller Regel auf das Interview mit dem Klienten, den Sehtest mit der bekannten Testtafel und den Lesetest, der Aufschluss über die Qualität des Sehens im Nahbereich des Klienten gibt. An den Seh- und Lesetest anschließend wird die Sehschärfeprüfung durchgeführt, die bestimmen soll, inwieweit Licht, das in die Augen eindringt, klar auf der Netzhaut abgebildet wird. Ist dies nicht der Fall werden Linsen in die Messbrille eingeführt, um zu ermitteln, welche Korrektur durch Linsen erforderlich ist, um dem Klienten klares Sehen zu ermöglichen. Abbildung 1: Klient mit Messbrille und Linsen
Die Sehschärfeprüfung beginnt häufig damit, dass der Optiker Linsen, die der aktuellen Brillenstärke des Klienten entsprechen, in die Messbrille einführt. Mithilfe einer Karte oder Klappe verdeckt er dann ein Auge und bittet den Klienten anschließend ein Objekt in der Entfernung, häufig eine Buchstabenreihe auf der Tafel an der Wand gegenüber, mit dem anderen Auge zu fokussieren und laut zu lesen oder über die Deutlichkeit des Objekts Auskunft zu geben. Anschlie-
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ßend hält der Optiker eine Linse vor das nicht verdeckte Auge des Klienten und fragt, ob diese Linse die Sehschärfe verbessert, verschlechtert oder unverändert lässt. Dieser Prozess wird durch eine Sequenz von Äußerungen und körperlichen Handlungen vollzogen, der Fragen des Optikers, wie »Besser? Schlechter? Oder unverändert?« (»Better? Worse? Or just the same?«) beinhaltet, die von dem Klienten beantwortet werden, bevor im nächsten Schritt die Linse entfernt und dadurch eine andere Sehbedingung hergestellt wird, die der Klient mit der vorangegangenen Sehbedingung vergleichen kann. Die Sehschärfeprüfung endet, wenn der Optiker die Linse identifiziert hat und so die Fehlsichtigkeit des Klienten korrigiert. Die Prüfung der Sehschärfe verlangt vom Optiker die Verwendung von professionellen Praktiken, die es dem Klienten ermöglichen, die Sehbedingungen zu erfahren, bevor er die Antwort auf die Testfrage gibt. Zu diesem Zweck muss die Linse vor das Auge geführt und für eine gewisse Zeit, nicht zu lange und nicht zu kurz, vor ihm gehalten werden, damit es sich an die neue Sehbedingung gewöhnen kann. Gleichzeitig ist es für den Test nötig, dass der Klient sofort auf die neue Sehbedingung antwortet, ohne darüber zu reflektieren. Um den Klienten dazu zu bewegen eine Antwort auf die Testfrage zu geben, die der Optiker als unreflektiert interpretieren kann, muss er professionelle Praktiken verwenden, durch die er das Hervorbringen der Testfrage mit dem Platzieren vor dem Auge des Klienten verwebt.
4. V erweben von S prechen und G esten Im Folgenden werden wir nun dieses Verweben von Sprechen und Gesten, d.h. die Koproduktion der Frage bezüglich der Sehschärfe und der Handbewegung, mit der die Linse vor die Messbrille geführt wird, analysieren. Die Koproduktion dieser Handlungen involviert eine sehr feingliedrige Organisation, um die unreflektierte Antwort des Klienten auf die Frage des Optikers hervorzulocken. Um der Organisation dieser Koproduktion auf den Grund zu gehen, analysieren wir hier zwei kurze Video-Fragmente. In Fragment 1 bittet die Optikerin den Klienten, der die Messbrille mit eingeführten Linsen trägt, die Buchstabenreihe auf der Tafel an der Wand gegenüber vorzulesen. Der Klient schaut nach vorn und beginnt das Lesen mit der obersten Reihe auf der Tafel, »ahR Heitch Zed eFf Deeh« 7, und liest dann eine Reihe nach der anderen Reihe von der Tafel ab. Als er 7 | Im Transkript gibt der kapitalisierte Buchstabe an, welchen Buchstaben die Klientin von der Tafel abliest; »ahR« beispielsweise verschriftlicht die Vokalisierung eines »R«. Die anderen Buchstaben helfen dabei, die durch die Klientin vokalisierte Version nachzuvollziehen. Ein Doppelpunkt (:) zeigt an, dass ein Buchstabe langgezogen ausgesprochen wurde; der (.) gibt eine kurze Pause und (.2) eine Pause von etwa 0.2 einer Sekunde wieder (Gibson u.a. 2014).
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bei der drittuntersten Reihe auf der Tafel angelangt ist, »eFf yUu eNn Ee: (.) Vee«, zieht er das Aussprechen des vierten Buchstabens, »Ee::«, hörbar in die Länge und unterbricht dann für einen kurzen aber bemerkbaren Moment das Lesen, bevor er den letzten Buchstaben ausspricht, »Vee«. Das Lesen dieses letzten Buchstaben gefolgt von der Bestätigung durch die Optikerin, »good«, bringt die erste Phase des Sehschärfetests zu Ende, als der Klient durch seine anschließende Äußerung anzeigt, dass er nicht weiterlesen kann, »The las::t tuh«. Die Optikerin vervollständigt diese begonnene Äußerung mit »a little hazy« (»ein bisschen unscharf«) und leitet dann zur nächsten Phase des Tests über. Es ist die nun folgende Phase des Tests, die im Zentrum unserer Analyse von Fragment 1 steht (Abb. 2). Sie involviert die Optikerin und den Klienten in eine kurze Sequenz, in der sie eine Linse vor das rechte Auge des Klienten führt. Als der Klient in Zeile 4 des Transkriptes anzeigt, dass er die letzten beiden Zeilen auf der Tafel nicht lesen kann, beginnt die Optikerin die Platzierung der Linse vor dem Auge des Klienten. Dazu führt sie die Linse, die sie seit Beginn der Lesefolge in ihrer linken Hand hält, langsam in Richtung und dann vor das Auge des Klienten. Unser Interesse gilt hier dem gleichzeitigen Hervorbringen der Frage, »is that better?« und der Bewegung der linken Hand, die die Linse hält, sowie der anschließenden Antwort des Klienten. Die Geste, mit der die Linse vor das Auge des Klienten geführt wird, vollzieht eine bogenartige Bewegung, die zunächst über und dann zum Auge hinunter führt. Mit der Äußerung, »The las:::t tuh« (Abb. 2: Zeile 4) und der Bewegung der flachen Hand vor seinem Körper verkörpert der Klient die Qualität seiner Seherfahrung (Abb. 2: Bild 2.1.); sie ist, wie die Optikerin in der Komplettierung seiner Äußerung sagt, »ein bisschen unscharf (»a little bit hazy«). Als der Klient in Zeile 4 das Wort »las::t« zögerlich ausspricht, beginnt die Optikerin die Linse in Richtung seines Auges herunter zu führen und vervollständigt seine Äußerung, während sie die Linse für einen Moment über dem rechten Auge des Klienten hält (Abb. 2: Bild 2.2.). Von hier aus führt sie die Linse dann langsam vor das Auge des Klienten, während sie ihre Testfrage beginnt, »is that better?«. Mit der Produktion des Wortes »that« verweist sie auf die Linse, die in genau dem Moment der Produktion des Wortes vor dem Auge ankommt. Als sie dann »better« sagt, zentriert sie die Linse vor dem Auge, wo sie das Instrument dann ruhig hält (Abb. 2: Bild 2.3.). Die Linse ist nun in der Testposition und mit dem Aussprechen einer möglichen Beurteilung der Seherfahrung, »better«, wird ihre Funktion in der Sequenz bestimmt; »better« ist eine der möglichen Resultate der Platzierung der Linse vor dem Auge des Klienten. Die Vokalisierung von »worse or just the same« gibt dem Auge des Klienten Zeit sich an die neue Sehbedingung zu gewöhnen und bietet ihm gleichzeitig alternative Antwortmöglichkeiten.
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Abbildung 2: Fragment 1
Das Verweben von Fragestellung und Linsenbewegung ist eine professionelle Praxis, die beinahe alle Optiker in unserem Datenkorpus bei der Sehschärfeprüfung vollführen. Es besteht aus einer Koproduktion der Formulierung der Frage und dem bogenartigen Bewegen der Linse vor das Auge des Klienten. Dabei werden die Linsenbewegung und die Vokalisierung der Frage so miteinander abgestimmt, dass die Linse vor dem Auge ankommt, als das Wort »that«, das auf sie verweist, ausgesprochen wird. Anschließend wird dann genau die Zeit eingeräumt, die klinisch notwendig ist, um das Auge an die Sehbedingung mit Linse zu gewöhnen. Dieses Verweben von Fragestellung und Linsenbewegung ist notwendig, da nur so eine sofortige, unreflektierte Antwort auf die Testfrage hervorgelockt werden kann, die die Basis für die optometrische Entscheidung über die Sehschärfe des Klienten ist. Und tatsächlich beginnt der Klient in Fragment 1 mit seiner Antwort schon kurz bevor die Frage zu Ende gebracht wird, d.h. er sagt »is better« (Abb. 2: Zeile 10) in Überlappung mit dem Ausklingen der Äußerung »just the same« der Optikerin. Das Verweben der Linsenbewegung mit der Äußerung ermöglicht die Antwort des Klienten und konfiguriert dessen Form, wobei es die temporale Organisation der Geste dem Klienten erlaubt, die Antwort genau dann hervorzubringen als es ihm klinisch möglich ist. Dieses Verweben von Frage und Geste tritt auch auf, wenn die Testfrage anders formuliert ist als in Fragment 1. Im folgenden Fragment 2 beginnt die Optikerin die Testfrage in Zeile 1 des Transkriptes und bewegt die Linse in einer Bo-
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genbewegung mit ihrer rechten Hand vor das Auge der Klientin. Mit Vollendung des ersten Teiles der Frage, »Is it clearer« erreicht die Linse ihren höchsten Punkt etwas oberhalb des Kopfes der Klientin (Abb. 3: Bild 3.1.). Die Optikerin führt sie dann nach unten und zentriert sie vor dem rechten Auge der Klientin als sie fragt, »do you think with that«, und mit der Vokalisierung des Wortes »that« die Linse vor dem Auge der Klientin platziert (Abb. 3: Bild 3.2.). Auf diese Weise hat die Optikerin die Testsituation hergestellt und die Klientin eingeladen eine sofortige, unreflektierte Antwort auf die Testfrage zu geben, sobald sich ihr Auge an die neue Sehbedingung gewöhnt hat. Sie gibt dem Auge der Klientin Zeit, sich an die Linse zu gewöhnen, als sie sagt »lens in front«. Die Antwort der Klientin bleibt jedoch zunächst aus, wodurch die Optikerin angeregt wird, die Linse noch einen Moment lang in der zentrierten Position vor dem Auge zu halten und ihre Testfrage mit »or just the same« zu Ende zu bringen. Als dann jedoch immer noch keine Antwort hervorgebracht wird, entfernt die Optikerin die Linse und stellt so eine alternative Sehbedingung her, als sie sagt »or better without« (Abb. 3: Bild 3.3.). Abbildung 3: Fragment 2
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Wie in Fragment 1 so wird auch in diesem Fragment 2 wiederum die Platzierung der Linse zeitlich genau mit der Formulierung der Testfrage abgestimmt. Um den oral-sprachlichen Verweis auf die Linse genau dann zu produzieren als die Linse vor dem Auge platziert wird, fügt die Optikerin kurz zuvor eine Parenthese ein, »do you think«, die Zeit schafft, die Geste zeitkonform zu Ende zu führen. In Fragment 2 lädt die Optikerin durch die Frage: »Is it clearer do you think with that lens?« und die Platzierung der Linse vor dem Auge die Klientin zu einer Antwort ein. Wie in anderen Fragmenten in unserem Korpus fällt es auch dieser Klientin schwer, die Qualität der Seherfahrung zwischen den alternativen Situationen, mit denen sie konfrontiert wird, zu bestimmen und eine Antwort auf die Testfrage zu geben. Sie bleibt ohne sich zu bewegen und ohne ein Wort zu sagen in ihrer Position sitzen, öffnet jedoch einen kleinen Moment später ihren Mund, eine Handlung, die Heath (1986) zufolge häufig eine baldige Äußerung erwarten lässt. Einen Moment später beginnt sie eine Äußerung hervorzubringen, »ehm«, die die Optikerin dazu veranlasst, die Linse zurück vor das Auge zu führen. Indem die Optikerin die Linse wieder vor dem Auge platziert, zeigt sie an, dass sie den Test wiederholt. Durch das Wiederholen des Tests zeigt sie zudem auch an, dass sie die Pause zwischen dem originären Platzieren der Linse vor dem Auge und der Antwort als zu lang erachtet, als dass nun noch eine unreflektierte Antwort zu erwarten wäre. Daher vollführt sie wiederum eine Bogenbewegung mit der Linse, um sie vor dem Auge zu platzieren. Diesmal wird die Geste merklich schneller ausgeführt als zuvor. Die Linse landet vor dem Auge der Klientin als diese sagt, »do it again« gefolgt von einer Charakterisierung der Qualität dessen, was sie nun sieht, da die Linse wieder vor ihrem Auge platziert ist, »it looks closer and da:rker with that one« (Abb. 3: Zeile 5; Bild 3.4., 3.5.). Noch während die Klientin diese Charakterisierung ihrer Seherfahrung hervorbringt, entfernt die Optikerin die Linse wieder vom Auge. Dadurch bietet sie der Klientin wiederum eine Vergleichsmöglichkeit zwischen der Seherfahrung mit und ohne Linse vor dem Auge. Die beiden Teilnehmer wiederholen diesen Prozess noch ein weiteres Mal (Abb. 3: Zeile 7), bevor sie die Sehschärfeüberprüfung des rechten Auges zu Ende bringen, als die Klientin ihre Entscheidung im Vergleich der beiden Sehbedingungen produziert, »better (.) without«, was die Optikerin bestätigt, indem sie die Antwort der Klientin in modifizierter Form wiederholt »without it« (Abb. 3: Zeile 9) und beginnt sich von der Klientin weg nach links zu orientieren (Abb. 3: Bild 3.6.) Damit ist die Prüfung der Sehschärfe des rechten Auges der Klientin abgeschlossen. Das Fragment zeigt wiederum die Bedeutung des Verwebens von Geste und Frage, das es der Optikerin erlaubt, die Klientin zu einer Antwort zu bewegen, die direkt auf das Platzieren der Linse vor dem Auge folgt und nicht das Ergebnis einer Reflexion über die hergestellte Sehbedingung ist. Wenn bei Sehschärfeprüfungen eine sofortige Antwort ausbleibt oder von der Klientin nur zögerlich hervorgebracht wird, stellt die Optikerin zunächst eine alternative Sehbedingung her, indem sie die Linse entfernt. Falls die Klientin auch dann keine Entschei-
Dirk vom Lehn, Helena Webb, Christian Heath, Will Gibson — Sehen professionell Sehen
dung über die Qualität der Sehschärfe trifft, wird der Prozess wiederholt, bis die Klientin eine solche Entscheidung fällt. Um die Sehschärfeprüfung so zu Ende zu bringen, dass der Optiker weiß, welche Linse das Sehen der Klientin korrigiert, verlangt eine präzise Organisation von oral-sprachlichen, materialen und visuellen Handlungen, sodass eine unreflektierte Antwort auf die veränderte Sehbedingung hervorgebracht werden kann. Neben dem kompetenten Vollzug des Verwebens von Fragestellung und Linsenbewegung verlangt die Sehschärfeprüfung auch eine kompetente Beteiligung der Klientin. Sie muss die Frage beantworten, sobald sie eine Änderung ihrer Sehschärfe, die durch die Linsenbewegung hervorgerufen wurde, wahrnimmt. In manchen Fällen gelingt dies nicht gleich, beispielsweise, weil es der Klientin schwer fällt, eine Entscheidung über den Qualitätsunterschied zwischen zwei Sehbedingungen zu treffen. Mithin kommt es dann wie in Fragment 2 zu einer oder mehreren Wiederholungen der Prüfung, welche die Optikerin so durchführt, dass sie als normale, unproblematische Praxis des Tests erfahren wird.
5. D iskussion : S ehen als inter ak tives P hänomen Die Sehschärfeprüfung involviert die professionellen Kompetenzen des Optikers sowie optometrische Instrumente und praktische Techniken, die benutzt werden, um festzustellen, wie klar und deutlich eine Klientin sehen kann. Die Klientin wird bei der Prüfung ihrer Sehschärfe nicht zu einem Objekt, sondern wird durch professionelle, kommunikative Techniken in den Prozess der Prüfungsdurchführung eingebunden. Diese Einbindung in den Prüfungsprozess ist notwendig, da der Optiker keinen direkten Zugang zur Seherfahrung der Klientin hat. Er konfiguriert daher die Handlungen der Klientin, sodass sie auf die jeweilige Testsituation in bestimmter Art und Weise reagiert. Diese kann er als Information über ihre Sehschärfe interpretieren. Für eine erfolgreiche Durchführung der Sehschärfeprüfung muss der Optiker die Sehbedingung so konfigurieren, dass die Klientin unreflektiert auf ein Objekt antwortet, das er ihr präsentiert. Dieser Präsentation eines Objektes geht daher eine Interaktion voraus, durch welche die Klientin still im Untersuchungsstuhl zum Sitzen gebracht und ihr Sehfeld durch die Messbrille eingeschränkt und damit fokussiert wird. Der Optiker platziert dann Linsen vor die Augen der Klientin, die ihre Sehschärfe beeinflussen, und bittet sie, die veränderte Sehbedingung zu beurteilen, »besser, schlechter oder unverändert?«. Auf diese Weise wird die Klientin für die Sehprüfung sozialisiert, sodass sie kompetent auf Veränderungen der Sehbedingung reagieren kann. Unsere Analyse hat insbesondere die Bedeutung der Koproduktion der Platzierung der Linse und der Testfrage für die Sehprüfung inspiziert. Sie hat herausgearbeitet, dass diese Koproduktion notwendig ist, damit die Klientin zu einer sofortigen Antwort auf die oft nur leicht veränderte Sehbedingung bewegt wird,
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da nur dann garantiert ist, dass die Antwort eine Reaktion auf die neue Sehbedingung ist und nicht auf einer Reflektion über das Sehen im Lichte der Testfragenformulierung und unter unterschiedlichen Bedingungen beruht. Um eine solche sofortige, unreflektierte Antwort auf die neue Sehbedingung hevorzulocken, vollführt der Optiker eine »professionelle Geste« (Webb u.a. 2013). Die professionelle Geste involviert das bogenförmige Führen der Linse vor das Auge der Klientin, das in temporaler Abstimmung mit der Vokalisierung und Formulierung der Frage vollzogen wird. Geste und Fragestellung werden miteinander verwoben, sodass sich am Ende der Handlung die Klientin veranlasst sieht, sofort auf die veränderte Sehbedingung zu reagieren. Wenn die Klientin die Antwort sofort hervorbringt, dann kann der Optiker sie als Reaktion auf die neue Sehbedingung, die durch das Platzieren oder Entfernen der Linse geschaffen wurde, auffassen. Im Falle von Pausen und verzögerten Antworten wird die Äußerung der Klientin jedoch als Antwort auf die Frage und nicht als Reaktion auf die veränderte Sehbedingung interpretiert, sodass die Sehprüfung wiederholt werden muss. Die Gestaltung des Verwebens von Geste und Frage wie auch das Verändern der Sehbedingung, falls eine sofortige Antwort des Klienten ausbleibt, zeigt an, dass der Optiker kompetent ist, mit derartigen unvorhergesehenen Ereignissen umzugehen, ohne den Klienten in eine Situation zu bringen, die ihn/sie unter Umständen als inkompetent in der Teilnahme an der Prüfung erscheinen lassen könnte. Der Optiker kann mit der Prüfung fortfahren, da er dem Klienten von Beginn an in die Praxis der Testprozedur eingebunden und sozialisiert hat. Die Verwendung technischer Apparaturen und optometrischer Kommunikations- und Interaktionstechniken sowie die systematische und professionelle, quasi-experimentelle Durchführung der Sehschärfeprüfung erlaubt dem Optiker zwar keinen direkten Zugang zur Sehschärfe der Klientin, aber sie sorgen dafür, dass die Klientin ganz bestimmte oral-sprachliche Anzeichen gibt, die der Optiker im Zusammenhang mit der spezifischen Testsituation und seinem Wissen über die Klientin in Bezug auf die eingesetzte Linse als Reaktion auf die Sehbedingung interpretieren kann. Gemessen daran, was für eine Reaktion die Klientin in welcher Art und Weise hervorbringt, entscheidet der Optiker über das Ergebnis der Prüfung. Sein Wissen über die Sehschärfe der Klientin bleibt also auf eine Interpretation äußerer Anzeichen angewiesen. Neben den spezifischen Beobachtungen hinsichtlich der Durchführung der Sehschärfeprüfung leistet unsere Analyse auch Beiträge zur Gestenforschung und zu den jüngeren Entwicklungen in soziologischen Diskussionen zu der Bedeutung der Sinne und der Sinneswahrnehmung für unser Verständnis von Sozialität. Werden Gesten häufig in ihrer kommunikativen Funktion interpretiert (Kendon 1997; McNeill 2000), beobachten wir bei der Arbeit von Optikern eine Aktivität bei der routinemäßig eine ganz bestimmte Geste, die bogenförmige Bewegung der Linse vor das Auge der Klientin, vollzogen wird. Sie ist in ihrer Form und Durchführung notwendig, damit der Optiker zu einem klinisch brauchbaren
Dirk vom Lehn, Helena Webb, Christian Heath, Will Gibson — Sehen professionell Sehen
Ergebnis kommen kann. Zwar unterliegt diese Geste auch den Kontingenzen der spezifischen Situation, in der sie ausgeführt wird, doch ist sie durch ihre Form und das Verweben mit der Testfrage als distinkte, professionelle Praxis zu erkennen. Interessanterweise haben wir die Geste in nahezu unserem gesamten Datensatz gefunden, obwohl ihre Durchführung nicht explizit Teil der professionellen Ausbildung von Optikern ist (Webb u.a. 2013). Anders als Gesten, die in Interaktion bestimmte Objekte in einer bestimmten Art und Weise und für gewisse praktische Notwendigkeiten konstituieren (Goodwin 1994, 2000; Hindmarsh/ Heath 2000a, 2000b), wird die professionelle Geste von Optikern so ausgeführt, dass das Sehen einer der Teilnehmer, was an und für sich in seiner Qualität nicht wahrnehmbar ist, als wahrnehmbar und relevant konstituiert wird. Unsere Analyse der Sehschärfeprüfung trägt zu Diskussionen in den Sozialund Kulturwissenschaften bei, die darauf hinweisen, dass die Verortung der Sinne und der Sinneswahrnehmung in der Kognition von Subjekten zu kurz greift. Sie konzeptionalisieren die Sinne nicht als passive Rezeptoren von externen Ereignissen, sondern argumentieren für eine soziale Konstruktion der sinnlichen Wahrnehmung, die das Produkt von Interpretationen, Aushandlungen und anderer sozialer Prozesse ist (Stoller 1997; Vannini u.a. 2012). Unsere Analyse führt diese Argumente weiter und arbeitet die interaktive Konstitution von Sinneswahrnehmung heraus. Die Analyse weist auch darauf hin, dass das Sehen nur als quasi unabhängig von anderen Sinnen operierend aufgefasst werden kann, wenn Interaktionsarbeit (Garfinkel 2006; vom Lehn 2012) vollzogen wird, die andere Sinneswahrnehmungen von der Situation (soweit wie möglich) ausschließt. Zu diesem Zweck wird der Sehtest beispielsweise in einem abgeschlossenen Raum durchgeführt, der die Situation von Ereignissen in der Optikerpraxis abschirmt, und es werden Instrumente wie die Messbrille oder ein Phoropter verwendet, die das Sehfeld der Klientin fokussieren helfen. Die Messbrille erlaubt dabei noch ein Minimum an peripherer Wahrnehmung, während der Phoropter durch seine technische Konstruktion die Klientin visuell von der Umgebung nahezu vollkommen abschirmt. Diese visuelle Abschirmung der Klientin gemeinsam mit der automatisierten Bedienung des Phoropters erhöht den Eindruck eines Tests, dessen Authentizität und Exaktheit durch Technik garantiert wird. Wir sind derweilen dabei, den Einfluß des Phoropters auf die Organisation der Sehschärfeprüfung zu untersuchen und mit der Organisation der Sehschärfeprüfung unter Verwendung der Messbrille zu vergleichen. Zu Beginn des Kapitels haben wir unser Forschungsprojekt der Analyse von optometrischen Untersuchungen in den Zusammenhang mit sozialwissenschaftlichen Diskussionen zum visual turn gestellt sowie auf jüngere Diskussion zu Objektivität und Wahrheit und dem Kommensurieren von qualitativen Phänomenen durch quantitatives Messen hingewiesen. Dabei haben wir argumentiert, dass der Optikerberuf in modernen Gesellschaften die Funktion der Überprüfung der Sehqualität der Gesellschaftsmitglieder ausfüllt. Indem wir Garfinkel und Wie-
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der (1992) folgend Sehtests bei Optikern als ein sachdienliches Feld identifiziert haben, um zu erforschen wie Teilnehmer an Situationen Objekte sehen und wie Teilnehmer sehen wie andere Teilnehmer Objekte sehen, tragen wir zu den Diskussionen zum visual turn bei, indem wir einen Anschluss an die »Soziologie der Praktiken« (Schmidt 2012) sowie Untersuchungen, die das Sehen als Praktik analysieren (Burri 2008; Raab 2007; Schindler/Liegl 2013), herstellen. Dabei zeigt unsere Analyse, dass Arten des Schauens, Blickens, Starrens usw. und die daraus hervorgehenden Arten des Sehens keine individuellen Handlungen und subjektiven Erfahrungen, sondern das interaktive Ergebnis der Organisation der Handlungen der Teilnehmer sind. »Sehen« wurde hier also als eine soziale Praxis aufgefasst, die Optiker aus ihrer professionellen Perspektive heraus beurteilen, indem sie die Interaktion ausblenden und die Subjektivität der visuellen Erfahrungen durch die praktische Organisation des Tests betonen. Dabei sind die wissens- und wissenschaftssoziologischen Analysen zum Verhältnis von Objektivität und Wahrheit, wie sie Daston (2001) und andere Sozial- und Geisteswissenschaftler durchgeführt haben, für die Optiker und ihre Klienten nicht relevant. Ihr Interesse liegt vielmehr darin, Technologien und Techniken zu verwenden, die geeignet sind die Sehqualität zu bestimmen und gegebenenfalls subjektive Sehschwächen durch Technik, d.h. Linsen, auszugleichen. Jemand, dem schon einmal eine neue Brille oder neue Kontaktlinsen verschrieben wurden, wird sich daran erinnern, dass eine gewisse Zeit benötigt wird, bis sich die Augen an diese neuen Linsen gewöhnt haben. Man könnte in Bezug auf diesen Anpassungsprozess der Augen argumentieren, dass durch diesen die Objektivität der visuellen Wahrnehmung, die durch den optometrischen Messwert bestimmt und in den Charakteristika der Linse verkörpert wird, in die Subjektivität des Sehens zurückgeführt wird. Neben einer weiteren Analyse der Arbeitspraktiken von Optikern sind wir auch daran interessiert, wie wir unsere Beobachtungen aus dieser professionellen Umgebung in andere Alltagssituationen übertragen können, um dort zu untersuchen, welche Techniken und Methoden Teilnehmer verwenden, um zu beurteilen wie andere Teilnehmer Objekte in der Umwelt sehen. Damit hoffen wir dann auch methodische und methodologische Beitrage zur weiteren Entwicklung der multimodalen Untersuchung von Situationen zu leisten, indem wir durch detaillierte Analysen zeigen, wie die sinnliche Wahrnehmung von Situationen in bestimmten Momenten für die Interaktion relevant wird.
A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: Klient mit Messbrille und Linsen © Dirk vom Lehn Abbildung 2: Fragment 1 © Dirk vom Lehn Abbildung 3: Fragment 2 © Dirk vom Lehn
Dirk vom Lehn, Helena Webb, Christian Heath, Will Gibson — Sehen professionell Sehen
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V. Herausforderungen und Potentiale einer Soziologie der Sinne
Einleitung Hanna Katharina Göbel und Sophia Prinz
Im abschließenden Buchteil werden einige der grundsätzlichen Frage- und Problemstellungen einer »Soziologie der Sinne«, die den gesamten Sammelband durchziehen, aus zwei unterschiedlichen theoriehistorischen Perspektiven noch einmal aufgegriffen, zusammengefasst und zugespitzt. Joachim Fischer setzt hierzu bei Georg Simmels einflussreichem »Exkurs über die Soziologie der Sinne« an, den er hinsichtlich seiner »ästhesiologischen« und »soziologischen« Argumente aufschlüsselt. Dabei macht Fischer nicht nur deutlich, dass Simmels lebensphilosophisch inspirierter Text einige der zentralen Einsichten der Körpersoziologie1 und der aktuellen New Vitalism-Debatte2 vorwegnimmt, sondern stellt zudem die These auf, dass die soziologische Analyse der kulturellen Funktion und Formung der sinnlichen Wahrnehmung notwendigerweise auf einer anthropologischen Bestimmung der Sinne auf bauen muss. Wie viele der in diesem Band versammelten Beiträge entwickelt Andreas Reckwitz hingegen eine praxistheoretische Perspektive auf die Sinne. Ausgehend von einer Kritik an der »Sinnesvergessenheit« der klassischen soziologischen Theorien zeigt er auf, warum gerade die soziologische Praxistheorie, die in dem »impliziten« Praxis- und Körperwissen eine wichtige Gelenkstelle der gesellschaftlichen Reproduktion erkennt, den ephemeren Bereich des »Sinnlichen« zu erfassen vermag. Denn anders als die »mentalistischen« und »textualistischen« Ansätze, die sich allein für die expliziten Bedeutungsstrukturen interessieren, geht die Praxistheorie davon aus, dass das Subjekt durch seine körperlich-perzeptiven Praktiken mit der materiellen Umwelt in Verbindung steht und erst in dieser tätigen Auseinandersetzung ein historisch und gesellschaftlich spezifisches Sensorium ausbildet. Abschließend verknüpft Reckwitz diese grundlegende sozialtheoretische Reflexion mit der gesellschaftstheoretischen Diagnose, dass die
1 | Siehe dazu auch Gugutzer und Klein in diesem Band. 2 | Siehe dazu Kwek/Seyfert in diesem Band.
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V. Herausforderungen und Potentiale einer Soziologie der Sinne
spätmoderne Kultur mit einer permanenten Steigerung und Ästhetisierung sinnlicher Erfahrungen verknüpft sei.3 Mit dieser allgemeinen theoretischen Rekonstruktion und Verortung geben Fischer und Reckwitz weiterhin Aufschluss über die künftigen Herausforderungen und Potentiale einer »Soziologie der Sinne«. So verdeutlichen die beiden Beiträge nicht nur, dass eine soziologische Betrachtung der modernen Ausdifferenzierung des Sinnlichen stets an eine feingliedrige Analyse der verschiedenen materiellen und medialen Modalitäten des Wahrnehmens geknüpft sein muss. Sie zeigen zudem auf, dass eine anthropologisch und kulturwissenschaftlich informierte Perspektive unerlässlich ist, um das konstitutive Wechselverhältnis von »Wahrnehmung und materieller Kultur« soziologisch greif bar zu machen. In der Fortführung dieses interdisziplinären Impulses kann die Soziologie zudem von künstlerischen Ansätzen lernen, die eine spezifische Sensibilität für die sinnliche und ästhetische Ordnung des Sozialen mitbringen. Wie in dem Band etwa am Beispiel der künstlerische Forschungen von Margaret Mead, Lina Bo Bardi oder der Performance Art aufgezeigt wurde, verfolgen literarische, gestalterische und tänzerische Praktiken mitunter ähnliche Fragestellungen, bedienen sich dabei aber anderer empirischer, theoretischer und darstellerischer Techniken, die in ihrer Multidimensionalität und Bewertung dem Gegenstand und seiner Komplexität teilweise gerechter werden als die rein wissenschaftliche Textform.4 Ferner sind auch jene analytischen Perspektiven und epistemischen Techniken in die Realisierung einer »Soziologie der Sinne« einzubeziehen, die mit dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand eng verbunden sind. Eine solche analytische Verflechtung findet vor allem in der Tradition der Science and Technology Studies (STS) und der Ethnomethodologie statt. Diese Ansätze greifen in ihren empirischen Untersuchungen von so unterschiedlichen Bereichen wie der klinischen Praxis von Medizinern, dem Arbeitsalltag von Optikern, den Körpertechniken im Sport, der trading rooms von Finanzmarktanalysten, der gestalterischen Routinen von Designern und Architekten oder den ingenieurs- oder naturwissenschaftlichen Laborkontexten notwendigerweise auf diejenigen Wissensformen und deren mediale Träger und Verfahren zurück, die in dem jeweiligen Feld von zentraler Bedeutung und praktischer Relevanz sind.5 Eine »Soziologie der Sinne«, die ihre eigenen disziplinären und medialen Grenzen solchermaßen überschreitet und sich theoretisch und methodologisch auf die epistemologische und materielle Beschaffenheit ihres Untersuchungsgegenstandes einlässt, vermag nicht nur, ihren eigenen analytischen Rahmen zu erweitern, sondern versetzt sich gleichermaßen 3 | Siehe dazu auch die Beiträge von Klein, Göbel und Osborne in diesem Band. 4 | Siehe dazu den Buchteil III Die Entgrenzung künstlerischer Praktiken, die Beiträge von Göbel und Prinz in diesem Band. 5 | Siehe dazu den Buchteil IV Die Professionalisierung sinnlicher Expertisen und ebenso den Beitrag von Göbel.
Hanna Katharina Göbel und Sophia Prinz — Einleitung
dazu in die Lage, die Sinnlichkeit der eigenen soziologischen Praxis kritisch zu beleuchten (Engert/Krey 2013).6 Eine solche selbstreflexive Haltung ermöglicht der »Soziologie der Sinne« ein theoretisches und analytisches Instrumentarium zu entwickeln, das die soziomateriellen Ordnungen des Sinnlichen nicht nur identifizierbar, sondern ihre jeweiligen Träger und Akteure mithilfe unterschiedlichster Medien sichtbar, greifbar, hörbar und auch lesbar macht.7 Die Übersetzung dieser medialen, performativen oder ästhetischen Erkenntnismodi in die bestehende konventionelle Praxis der Disziplin bleibt eine Aufgabe für die Zukunft.
L iter atur Clifford, James (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press. Daston, Lorraine (2004): Things That Talk. Object Lessons From Art and Science, New York/Cambridge: Zone Books. Engert, Kornelia/Krey, Björn (2013): »Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen. Zur epistemischen Arbeit an und mit wissenschaftlichen Texten«, in: Zeitschrift für Soziologie 42 (5), S. 366-384.
6 | Siehe dazu auch den Beitrag von Schürkmann in diesem Band. 7 | In der visuellen Anthropologie haben Verfahren des poetischen Übersetzens eine lange Tradition (siehe hierzu auch den Beitrag von Chakkalakal). Angefangen bei der writingculture-Debatte (Clifford 1986) der 1980er Jahre bis hin zu neueren Überlegungen, die medialen Möglichkeiten von Film und Internet stärker einzubeziehen, wurde die Frage der anthropologischen Repräsentation immer wieder neu diskutiert. Eine ähnliche Kontroverse zirkuliert auch im Feld der Natur- und Ingenieurswissenschaften. Wissenschaftshistorische und -soziologische Arbeiten setzen sich hier ebenfalls mit den Potentialen einer ästhetischen Darstellung von Forschungsergebnissen auseinander (siehe dazu etwa Daston 2004 oder auch den Beitrag von Burri in diesem Band).
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Simmels Sinn der Sinne Zum vital turn der Soziologie Joachim Fischer
1. K eine S oziologie der S inne ohne eine Ä sthesiologie der S inne 1.1 Soziologie der Sinne Ausgangspunkt jeder Aufschlüsselung der »Sinnlichkeit des Sozialen« muss Simmels »Exkurs über die Soziologie der Sinne« sein – und zwar nicht aus Pietät vor einem klassischen Text, auch nicht wegen der Anregungsfülle, sondern in Anerkennung der verborgenen Systematik dieses Textes, die Leitfaden jeder »Soziologie der Sinne« sein sollte. Diese Tiefenstruktur aufzudecken und effektiv werden zu lassen, ist Ziel dieses Beitrages. Man findet den Exkurs in Simmels Soziologie von 1908, die die Formen der Vergesellschaftung behandelt, im IX. Kapitel Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, eingeschoben im Abschnitt D, der das Phänomen sinnlicher Nähe bzw. Distanz zwischen Individuen erörtert (Simmel 1968). Trotz seiner Verstecktheit und scheinbaren Beiläufigkeit ist dieser Text als eine soziologische »Perle« natürlich längst entdeckt und oft zitiert worden. Einen Schritt weitergehend könnte man diesen kleinen, kompakten Exkurs sogar als Zentraltext aller Projekte einer Soziologie der Sinne oder allgemeiner einer »Soziologie des Körpers« und aller sogenannten material, affective und body turns ansehen. Und zwar deshalb, weil Simmels Essay über die »Soziologie der Sinne« voller nicht-soziologischer Sätze über das Lebenspotential der Sinne steckt, die er mit soziologischen Sätzen kombiniert; wobei letztere wiederum – worauf analytisch alles ankommt – eine doppelte Gerichtetheit aufweisen, je nachdem nämlich, ob die Sinne die soziale »Wechselwirkung« (oder »Interaktion«) überhaupt erst stiften, oder ob die sozialen Wechselwirkungen konkreter Gesellschaften die sinnliche Ausstattung der Menschen jeweils modifizieren oder regulieren. Bei allen möglichen inhaltlichen Bedenken im Einzelnen und ergänzenden Beobachtungen könnte Simmels Text für die Frage vorbildlich bleiben, wie man das
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V. Herausforderungen und Potentiale einer Soziologie der Sinne
auf gediegene Weise eigentlich macht – eine Soziologie der Sinne oder des Körpers. Nun ist Simmels Text – für ihn typisch – ein Essay, der plastische Phänomenbeschreibungen mit aktuellen und historischen Anspielungen mischt, anreichert und alles mit tief- und scharfsinnigen Reflexionen durchsetzt. Die systematische Wucht des Textes erschließt sich aber erst, wenn man den Text mit den Augen der Ästhesiologen liest – allen voran Helmuth Plessner, der in Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) eine systematische Theorie der Differenz der Sinne und ihrer jeweiligen Erschließungskraft vorgelegt hat (Plessner 1980). Aus dem genannten methodischen Interesse an dem »Kunstgriff« einer Soziologie der Sinne stellen sich die nachfolgenden Überlegungen die eingeschränkte Aufgabe, Simmels »Exkurs über die Soziologie der Sinne« mit Hilfe von Plessners Ästhesiologie des Geistes zu re-systematisieren, das heißt, den Text zu tranchieren in verschiedene Arten von Aussagen ästhesiologische von soziologischen abzuheben, und innerhalb der letzteren noch einmal sozial-konstitutive von sozial-regulativen abzusetzen. Erst dann wird Simmels »Soziologie der Sinne« als paradigmatisch für eine philosophisch-anthropologische Soziologie (Fischer 2009) kenntlich.
1.2 Ästhesiologie der Sinne Die Rekonstruktion setzt mit dem Grundgedanken ein, dass Simmel, wenn er von der »soziologischen Bedeutung des Auges« (Simmel 1968: 485), des Gehörs oder allgemein der Sinne spricht, immer schon mit nicht-soziologischen, nämlich ästhesiologischen Prämissen über die Sinne selbst operiert. Man könnte sagen, dass er soziologisch auf der Basis von ästhesiologischen Annahmen argumentiert, wobei Ästhesiologie (als Lehre von den Sinnen/als Logos der Aisthesis) nicht als deckungsgleich ist mit Ästhetik (als Lehre der schönen Künste, die sich im sinnlichen Material gestalten und entfalten) anzusehen ist.1 Eine solche Ästhesiologie, eine Lehre von den Sinnen, kann man dann als Teil einer Philosophischen Anthropologie verstehen, die systematisch das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper rekonstruiert, das er in und aus seinem Körper heraus lebt. Diese nun teils expliziten, teils impliziten ästhesiologischen von den soziologischen Aussagen in Simmels Text abzuheben, ist entscheidend: Ästhesiologie schützt die Soziologie der Sinne vor Soziologismen. Es ist ein Paradox: Eine Theorie des sinnlichen Erlebens in soziologischer Absicht muss vorsoziale Beobachtungen zur Vitalität der Sinne anstrengen, um veritable kultursoziologische Sätze zu den Sinnen generieren zu können. Denn die ästhesiologischen Aussagen sind den soziologischen Aussagen gegenüber relativ autonom, insofern erstere nicht nur in ihrer »soziologischen Bedeutung«, sondern auch in ihrer psychologischen 1 | Der Terminus der »Ästhesiologie« wird offenbar erst in den 1920er Jahren von Helmuth Plessner und später von Erwin Straus in die neuere Wissenschaftssprache eingeführt.
Joachim Fischer — Simmels Sinn der Sinne
oder in ihrer kulturellen Bedeutung ausgewertet werden könnten. Versteht man z. B. die Sinne in erster Linie als vitales Medium des Bei-sich-selbst-Seins, des Selbst-Verhältnisses, würde man die Sinne in ihrer »psychologischen Bedeutung« auswerten – wie es vor allem Plessners Zeitgenosse Erwin Straus (1956) unternommen hat. Versteht man hingegen die Sinne als Medium des In-der-Welt-Seins, des Im-Kosmos-Seins, also des Welt-Verhältnisses, lassen sich die Sinne in ihrer ästhetischen oder wissenschaftstheoretischen Bedeutung untersuchen – so hat es vor allem Plessner in dem erwähnten Werk vorgeführt, aber natürlich auch die Leibphänomenologie von Merleau-Ponty (Prinz 2014). Wenn Simmel hingegen die »soziologische Bedeutung der Sinne« ins Auge fasst, reflektiert er die Sinne als Medium des Beim-Anderen-Seins, des Sozial-Verhältnisses, wobei er aber eben bereits ästhesiologische Aussagen über die Sinne selbst voraussetzt. So gesehen geht eine implizite oder explizite »Ästhesiologie der Sinne« einer »Soziologie der Sinne« systematisch voraus – oder, anders gesagt: eine »Soziologie der Sinne« impliziert notwendig eine »Ästhesiologie«.
2. S oziologie der S inne auf der B asis einer Ä sthesiologie der S inne Die nachfolgenden Überlegungen versammeln und sichten also zunächst die ästhesiologischen Aussagen Simmels über die Sinne; dann wendet die Reflexion sich seinen soziologischen Aussagen zu und trennt dabei scharf zwischen Aussagen über die Sozialkonstitution durch die Sinne und über die Sozialregulation der Sinne durch die jeweilige Gesellschaft. Nur um Hinweise zu geben, wie man entlang dieser Systematik einer Soziologie der Sinne produktiv weiterarbeiten kann, werden dort, wo es um der Sache willen opportun erscheint, jeweils Simmels Aussagen durch einschlägige Anschlussbeobachtungen anderer Autoren ergänzt.
2.1 Ästhesiologische Aussagen über die Sinne Da Simmel in der »Soziologie der Sinne« den Menschen als perzipierendes Wesen voraussetzt, ist sein Text durchsetzt mit ästhesiologischen Aussagen über die Struktur und Funktion der Sinne überhaupt. Diese ästhesiologischen Sätze beruhen weder auf einer Biologie der Sinne noch auf einer spekulativen Philosophie der Sinne. Genaugenommen arbeitet der geschulte Philosoph Simmel zunächst immer implizit als ein »Phänomenologe der Sinne« (auch wenn er selbst diese Bezeichnung nicht gebraucht – erst Plessner und Straus treten explizit als Phänomenologen der Sinne auf). Man kann in Simmels Exkurs vier Arten von ästhesiologischen Aussagen unterscheiden: (a) Abstraktion/Sinnlichkeit: Die zentrale anthropologische Prämisse, die Simmel seiner »Soziologie der Sinne« zugrunde legt, ist, dass der Mensch zur Abstrak-
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V. Herausforderungen und Potentiale einer Soziologie der Sinne
tion von seiner Sinnlichkeit bzw. »sinnlichen Nähe« fähig ist. Simmel spricht auch von der »Streckfähigkeit des Geistes« (Simmel 1968: 481). Damit ist das Vermögen gemeint, sowohl räumlich Getrenntes oder Abwesendes in seiner Zusammengehörigkeit zu erfassen, als auch räumlich-sinnliche Nähe zu vergleich gültigen, das heißt sich durch Streckung kognitiv und emotional aus der sinnlichen Situation mit ihren gegenständlichen Anmutungen, ihren »Erregungen, Reibungen, Attraktionen und Repulsionen« herauszuziehen (Simmel 1968: 482). Mit dieser These von der Distanzleistung und Abstraktion gegenüber dem Sichtbaren, Greif baren und Hörbaren modifiziert Simmel die gleichsam klassische erkenntnistheoretische und metaphysische Aussage von der Trennung des mundus intelligibilis von dem mundus sensibilis, mit der von Plotin bis zu Kant die strikte Abtrennbarkeit einer Welt des Denkbaren von der Welt sinnlicher Erfahrung reflektiert wurde, unter ästhesiologischen Vorzeichen: Für die Kantkritiker seit Herder gilt nämlich nicht mehr der paradigmatische Vorrang der Verstandeswelt vor der Sinnenwelt, wobei letztere nur Exempel zu den autonomen Strukturen der ersteren liefert; die Verstandeswelt wird nun vielmehr als eine Distanzleistung, als eine immer erneute Abstraktionsleistung aus der Sinneswelt rekonstruiert, wobei die Sinneswelt eben dem Erschließungspotential des Geistes durchaus eigene Figuren vor bahnt. Für die Verschränkung von Abstraktem und Konkretem in der Conditio humana (1964) hat Plessner den Begriff der »exzentrischen Positionalität« geprägt, der die Tatsache bezeichnet, dass das menschliche Lebewesen als Leibkörper in seiner sinnlichen Umweltintentionalität positional verortet ist und sich zugleich exzentrisch von dieser distanzieren kann – zum Beispiel in der Abstraktion des Begriffs. Dennoch bleibt auch die Begriffssprache immer metapherndurchwirkt – die abstraktesten Begriffe bleiben eingebettet in der Konkretion des körperlichen Anschauungsraumes. An diese gleichsam leibphänomenologische Situierung des Abstrakten lassen sich alle Beobachtungen von Merleau-Ponty (die nicht ohne die deutsche Philosophische Anthropologie von Scheler, Plessner, Buytendijk etc. entstanden wären) zum »Subjekt als ZurWelt-Sein des Leibes« anschließen (Prinz 2014: 169-224). (b) Zweiseitigkeit des Sinneseindrucks: Zurück zu Simmel: Weiterhin arbeitet er in seinem Exkurs mit einer vor-soziologischen konstitutiven Doppelgerichtetheit aller Sinneseindrücke, seien sie gesehen, gehört, geschmeckt oder gerochen: »sie führen in das Subjekt hinein als dessen Stimmung und Gefühl, und zu dem Objekt hinaus, als Erkenntnis seiner« (Simmel 1968: 484). Jeder Sinneseindruck hat also einerseits die Tendenz, mit seinem Gefühlswert das Subjekt gleichsam zu unterlaufen, zu affizieren (oder »anzumachen«) und andererseits die Tendenz, mit seinem Erkenntniswert zum Gegebenen als Objekt hinüberzugreifen. Dieses Theorem von der Zweiseitigkeit des Sinneseindruckes innerhalb der Welt der Sinnlichkeit selbst, das Simmel hier ins Spiel bringt, ist natürlich durch Baumgartens »Ästhetik« im 18. Jahrhundert prominent geworden. Mit der Erfindung einer neuen Disziplin verschob Baumgarten den philosophischen Aufmerksamkeitsschwerpunkt von der objektiv epistemologischen Dimension des
Joachim Fischer — Simmels Sinn der Sinne
Sinneseindrucks auf die subjektive Dimension der affektiv-sinnlichen Wertung der Lust-/Unlust-Erfahrung: Offensichtlich erheben auch die im sinnlichen Material gestaltenden schönen Künste – wie die Malerei, die Architektur, die Musik oder die Dichtkunst – genauso wie die Wissenschaft Wahrheitsansprüche, tun dies aber im Modus der sinnlichen »Erregbarkeit der ganzen Seele«, das heißt in den durch die schönen Effekte hervorgerufenen Affekten.2 Der Inbegriff der Lebendigkeit – die Affekte – ist also ohne das Medium der Sinne nicht vorstellbar. Insofern bleiben auch alle neueren Neo-Vitalismus-Theorien einer »institutionellen Affektivität« bzw. der »kollektiven Affekte« der Gesellschaft (Seyfert 2011) auf eine Ästhesiologie der Sinne verwiesen. (c) Differenz der Sinne: Simmel spricht nun weiterhin im Exkurs von der »Bedeutung der einzelnen Sinne« (Simmel 1968: 483), durch die hindurch Individuen einander wahrnehmen. Dass gerade Simmel für die Differenz der Sinne, vor allem des Gehörs und des Auges, und damit für Kernfragen der Ästhesiologie sensibilisiert war, ist angesichts seiner frühen musikwissenschaftlichen und bildkünstlerischen Reflexionen klar (z.B. der Dissertationsversuch von 1880 mit dem Titel Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik). Simmel hebt also selbstverständlich – vor jeder psychologischen, kulturellen oder »soziologischen Bedeutung« – unterschiedliche Verhältnisse des Sehens, Hörens und Riechens zum je Gegebenen hervor, wenn er am Modus des Sehens die Erfassbarkeit des »Seins«, am Modus des Hörens die Vernehmbarkeit des »Werdens« und am Modus des Riechens die Tiefeninvolviertheit des sinnlichen Subjekts ästhesiologisch akzentuiert. »Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozess des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen anderen Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist – es sei denn, dass wir es essen.« (Simmel 1968: 490)
Die Differenz der Sinne ist auch bei Plessner (1980) und Straus (1956) ein zentrales Thema, ja sie kann sogar als ein Hauptmotiv ästhesiologischer Untersuchungen der 1920er Jahre bezeichnet werden: Immer geht es darum, dass die Sinne nicht pauschal Sinnesqualitäten erschließen und insofern dem Verstand bloßes Material für seine Operationen liefern, sondern dass sie entlang ihrer je verschiedenen Sinnesmodalitäten je verschiedene Arten von Sinnesqualitäten und damit geistig je verschiedene Zugangsweisen zum Gegenüber erschließen: Eine Phänomenologie der Sinne – als »Ästhesiologie des Geistes« verstanden – kann dann aufweisen, dass Farben in ihrer an dem Blickstrahl gegenüber liegenden Gegenstand haftenden Qualität ein grundsätzlich anderes Gegebenheitsformat 2 | Hier fügen sich die späteren psychoanalytischen Aufklärungen zu den »visuellen Affekten« z.B. von Lacan ein (siehe hierzu Prinz 2014).
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und Animationspotential mit sich führen als die im Raum um den Wahrnehmenden schwebenden, phänomenal in ihn eindringenden Töne. Im Auge-Hand-Feld konstituiert sich der Dingraum um das Sinnessubjekt herum – der Zeigefinger weist auf erblickte Steine und Sterne, während umgekehrt Artefakte (Maschinen und Plastiken) die von der vom Auge geführten Hand geformt werden.3 Im Stimme-Gehör-Kreislauf konstituiert sich hingegen primär der Atmosphärenraum, der das Sinnessubjekt durchstimmt und rhythmisch einfügt – in die von der Stimme modulierten Ausdrucksbewegungen oder in die gehörten Melodien, von denen der tanzende Körper sich tragen lässt. Wie die Ausdifferenzierung der Sinne im menschlichen Leibkörper genau zu fassen ist, ist selbst immer wieder umstritten – aber offensichtlich ist es von den verschiedenen Sinnesqualitäten her gesehen phänomenologisch sinnvoll, folgende Sinneskreise in ihren maßgebenden Funktionen zu unterscheiden: Neben der visuellen Wahrnehmung mit den Augen und den auditiven Wahrnehmungen mit den Ohren gibt es die olfaktorische Wahrnehmung mit der Nase, die gustatorische Wahrnehmung mit der Zunge, die taktile Wahrnehmung mit Haut und Hand, die propiozeptive Wahrnehmung einschließlich der Schmerzwahrnehmung, die Temperaturwahrnehmung sowie die vestibuläre Wahrnehmung von Gleichgewichts- oder Schwindelerlebnissen. (d) Zusammenspiel der Sinne: Simmels Ausführungen enthalten schließlich auch ein implizites ästhesiologisches Modell der »Einheit der Sinne« in ihrer Differenz. Enthält zwar bereits jeder der von ihm traktierten Sinne den Aspekt der Seinserfassung, des Zeit-Vernehmens und der provozierten Gefühlsstellungnahme, so bildet sich doch erst in der Differenz der Sinne eine Arbeitsteilung (Auge/Sein; Hören/Werden; Geruch/Stellungnahme), deren Zusammenspiel die komplexe Situierung des Menschen im Selbst-, im Welt- und im Sozialverhältnis ermöglicht. Dieses ästhesiologische Theorem einer »Einheit der Sinne« (Plessner 1980) in ihrer Verschiedenheit, den klassischen Topos des »sensus communis«, spielt Simmel z.B. in seinem Essay zur »Soziologie der Mahlzeit« an, der sachlich ebenfalls zu seiner »Soziologie der Sinne« gezählt werden kann, in der neben dem Sinn des Schmeckens (Essen und Trinken) die Sinne des Geruchs, des Sehens (der Speisen, des Tisches) und des Hörens (der Unterhaltung) die Situation sozial komplex konstituieren und der sozialen Regulation bedürfen (Simmel 1957). Plessner (1964) und Gehlen (1950) haben schließlich ästhesiologische Theorien der Sprache aus dem Zusammenspiel der Sinne entwickelt – Sprache ist demnach ein »virtuelles Organ«, in dem es durch eine neue Einheit der differenten Funktionen der Sinnesorgane zur »Höherlegung« ihrer Leistungen kommt: In der Artikulation der Zunge zerstückelt und zerlegt das Sprechen die in der Distanz gesehenen Dinge wie mit einer greifenden Hand, baut die Aufmerksamkeitssteuerung des Zeigefingers auf das Gesehene virtuell in die Demonstrativwörter 3 | Die Relevanz des Zeigefingers ist neuerdings noch vor aller Sprache als die sinnlich spezifische Schimpansen/Mensch-Differenz aufgeklärt worden (Tomasello 2006).
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ein und lässt im verlauteten »Begriff« auch die abwesenden, vergangenen und zukünftigen Dinge erscheinen. Im Sprachlaut vermittelt es sich und dem Gehör des Anderen zugleich die gezeigten und begriffenen Dinge und lässt sich umgekehrt »etwas«, eine Mitteilung über die Sache zurufen. Da der hervorgebrachte Laut zum Ohr zurückkehrt, werden in der Nuancierung zugleich Stimmungsmöglichkeiten, Einstellungen zum Gezeigten produzierbar. Menschliche Sprache bildet sich also in ihrer völlig neuartigen Leistung in der Fügung verschiedener Sinneskreise, mindestens des Auge-Hand-Feldes und des Stimme-Gehör-Kreislaufes.
2.2 Soziologische Aussagen über die Sinne Auf der Basis seiner expliziten oder angespielten ästhesiologischen Aussagen, die sich mit Plessner nachträglich systematisieren lassen, kann Simmel nun zu einer »Soziologie der Sinne«, zu soziologischen Aussagen kommen. Diese sind sachlich umso gewichtiger und wegweisender, weil zum Beispiel Plessner selbst als Phänomenologe der Sinne nur wenige explizit »soziologische« Konsequenzen aus seiner »Anthropologie der Sinne« gezogen hat.4 Nur muss man auch hier Simmels Aussagen systematisieren, will man sie für eine »Soziologie der Sinne« nachhaltig fruchtbar machen. Wenn Simmel also von der »fundamentalen soziologischen Bedeutung« der Sinne (Simmel 1968: 483) spricht, zeigt sich bei genauerer Prüfung, dass er zwei verschiedene Ebenen verfolgt. »Soziologische Bedeutung« meint erstens soziologische Tragweite der Sinne, das heißt, die Sinne sind in ihrer Eigenordnung und Differenz selbst von sich her von Gewicht beim Auf bau und der Konstitution der sozialen Welt. Zweitens meint »soziologische Bedeutung« so etwas wie soziologische Auslegung: dann sind die Sinne und Sinnlichkeit des Menschen durch die jeweiligen Sozial-Verhältnisse kulturell gedeutet, modelliert, reguliert und konstruiert. Oder knapper: Die Sinne bahnen per se Sinnmöglichkeiten im Auf bau der sozialen Welt; umgekehrt regeln und ordnen je historische Sozialitäten die Sinnespotentiale sinnhaft.
2.2.1 Sozial-konstitutive Aussagen über die Sinne Im ersten Verständnis von »soziologischer Bedeutung« spricht Simmel von den »soziologischen Leistungen der Sinne« (Simmel 1968: 484) und davon, »dass von dieser Struktur unserer Sinne und ihrer Objekte, soweit der Mitmensch ihnen solche bietet, die ganze Art des menschlichen Verkehrs getragen wird«. Anders gesagt, hätten wir nicht jene Leistungsart und »Leistungsdifferenz der Sinne […] so würde unser interindividuelles Leben auf einer absolut andern Basis steh[e]n« (Simmel 1968: 486). Sozial-konstitutiv sind die Sinne für Simmel in mindestens fünffacher Hinsicht.
4 | Unter diesem Titel hat Plessner 1970 eine gekürzte, modifizierte Fassung seiner Ästhesiologie herausgegeben (Plessner 1970: 317-393).
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(a) Vorbegrifflicher Kontakt: Die sinnliche Vermittlung stiftet für Simmel ein vorbegriffliches, vor-prädikatives Wissen des Sozialen, noch vor jedem Handlungsverstehen. Dieses intuitve Verständnis von dem Gegenüber ist vor allem »die soziologische Bedeutung des Auges« im Zusammenhang mit der »Ausdrucksbedeutung des Antlitzes«: »Das Gesicht bewirkt, dass der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird. Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, […] handelt nicht, wie die Hand, wie der Fuß, wie der ganze Körper; es trägt nicht das innerliche oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzählt nur von ihm. Die besondere, soziologisch folgenreiche Art des ›Kennens‹, die das Auge vermittelt, wird dadurch bestimmt, dass das Antlitz das wesentliche Objekt des interindividuellen Sehens ist. Dieses Kennen ist noch etwas anderes als Erkennen.« (Simmel 1968: 485)
(b) Emotionale und kognitive Dimension jeder Sozialität: Die Sinne stiften wegen ihrer grundsätzlichen ästhesiologischen Zweiseitigkeit (ins Subjekt hinein, zum Objekt hinaus) die Beziehung zum Nebenmenschen immer doppelmotiviert, als Gefühlswert und als Kenntniswert zugleich. Aufgrund der sinnlichen Konstitution der Sozialität enthält jede soziale Beziehung gleichzeitig eine emotional geladene und eine kognitiv erfassende Dimension: »In das Subjekt hineinwirkend, löst der Sinneseindruck eines Menschen Gefühle von Lust und Unlust in uns aus, von eigner Gesteigertheit oder Herabgesetztheit, von Erregung oder Beruhigung durch seinen Anblick oder den Ton seiner Stimme, durch seine bloße sinnliche Gegenwart in demselben Raume. […] Nach der entgegengesetzten Dimension streckt sich die Entwicklung eines Sinneseindrucks, sobald er zum Mittel der Erkenntnis des Andern wird: was ich von ihm sehe, höre, fühle, ist jetzt nur die Brücke, über die ich zu ihm als zu meinem Objekt gelange. Der Sprachlaut und seine Bedeutung bilden vielleicht das deutlichste Beispiel.« (Simmel 1968: 483f.)
(c) Sinnliche Stiftung der »Wechselwirkung«: Die konstitutive Kraft der Sinne, die die Ästhesiologie herausarbeitet, ermöglicht überhaupt erst eine Beziehung zwischen dem einen und dem anderen Subjekt als Basis jeder Sozialität, sie stiftet eine per se »lebendige Wechselwirkung« (Simmel 1968: 484). Simmel exemplifiziert das am Urphänomen des Blicks: »[…] dass der auf den Andern gerichtete, ihn wahrnehmende Blick selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade durch die Art, wie man den Andern ansieht. In dem Blick, der den andern in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis. Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge in
Joachim Fischer — Simmels Sinn der Sinne Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt.« (Simmel 1968: 484f.)
Ist dieses »gegenseitige Sich-Anblicken« für Simmel die »unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung« (Simmel 1968: 484), so stiftet das Gehör, bzw. der Stimme-Gehör-Kreislauf das basale intersubjektive Geben und Nehmen als alternierende Wechselwirkung der Verlautbarung. So gesehen erweist sich auch Meads symbolische Wechselwirkungs- oder Interaktionstheorie im Kern als eine »Soziologie der Sinne«, insofern hier die Stiftung der spezifisch menschlichen »Wechselwirkung« speziell über die Lautgeste nachgezeichnet wird (Mead 1968): Da sie gleichzeitig von mir selbst und vom Anderen wahrgenommen wird, gestattet sie eine Partizipation an den wechselseitigen Perspektiven auf die gemeinte Sache, die der Blick allein nicht mitteilen könnte. Im Medium der Verlautbarung werden zudem auch die jeweiligen Einstellungen, die Wertungen in der »Wechselwirkung« kommuniziert: das beifällige Klatschen der Beteiligten (frz. cliquer) signalisiert Anerkennung und führt zur Cliquenbildung, zur Gruppenassoziation, während das Zischen, Pfeifen und Buhen eine Dissoziation hervorruft – das Murren ist der sinnliche Anfang aller Protestbewegungen. (d) Differenz der Sinne und komplexe Sozialität: Zurück zu Simmels Systematik im »Exkurs«: Die ästhesiologisch hervorgehobenen unterschiedlichen Verhältnisse von Auge und Ohr zu ihren Gegenständen stiften von vornherein ein soziologisch differenziertes und komplexes Verhältnis zwischen den Individuen, weil das beobachtende Auge das Gesicht des Anderen anders auswertet als das Gehör dessen vernommene Stimme. »Es ist der äußerste soziologische Gegensatz zwischen Auge und Ohr: dass dieses uns nur die in die Zeitform gebannte Offenbarung des Menschen bietet, jenes aber auch das Dauernde seines Wesens, den Niederschlag seiner Vergangenheit in der substantiellen Form seiner Züge, so dass wir sozusagen das Nacheinander seines Lebens in einem Zugleich vor uns sehn. Denn die erwähnte Augenblicksstimmung, wie freilich auch das Gesicht sie dokumentiert, entnehmen wir so wesentlich dem Gesprochenen, dass in der tatsächlichen Wirkung des Gesichtssinnes der Dauer-Charakter der durch ihn erkannten Person weit überwiegt.« (Simmel 1968: 486)
(e) Stiftung basaler sozialer Komplexität: Die Verschiedenheit der Sinne stiftet die Sozialität in einer zunächst basalen Komplexität, insofern nach Simmel der Gesichtssinn eher die generalisierende Assoziation zwischen den Beteiligten, der Gehörssinn die eher individualisierende Assoziation bahnt, während man den Geruchssinn mit seinen radikalen Abstoßungen und Anziehungen als »den dissozierenden Sinn« bezeichnen könnte (Simmel 1968: 490). Man kann Simmels Theorie der sozial-konstitutiven Funktion der verschiedenen Sinne generalisieren: Die verschiedenen Sinne stiften ein komplexes Voreinandererscheinen
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der Lebenssubjekte, in dem Wahrnehmen und Werten vital gekoppelt sind. Jede »Intersubjektivität« ist eingebettet in eine sinnlich vermittelte und affizierte »Interphänomenalität« (Fischer 2012), die auch die Artefakte der soziokulturellen Welt (material turn) und auch die »Interobjektivität« der Artefakte und Naturdinge untereinander umfasst. In der »gebauten Gesellschaft« fungiert die »Architektur als Medium der Gesellschaft« (Delitz 2010). Genau gesehen funktioniert »Architektur als schweres Kommunikationsmedium der Gesellschaft« (Fischer 2012) immer auch bereits über das interphänomenale Verhältnis der Baukörper zu- und gegeneinander. Von der sozialkonstitutiven Funktion der Sinne her wäre es mit Simmel konsequent, die Soziologie im umfassenden Sinn als eine »Kleidertheorie« der Gesellschaft zu kennzeichnen. Von der sinnlichen Interphänomenalität her ist nämlich die Frage des »Designs der Gesellschaft« (Moebius/ Prinz 2012) so gesehen für jede menschliche Gesellschaft zentral – immer schon und immer wieder.
2.2.2 Sozial-regulative Aussagen über die Sinne Verfolgt man die Durchordnung der Simmel’schen Aussagen zur »Soziologie der Sinne« konsequent weiter, dann meint »soziologische Bedeutung« der Sinne für ihn nun – in Richtung einer soziologischen bzw. historischen Anthropologie – zweifellos auch, dass die Sinne und die Sinnlichkeit des Menschen soziologisch »be-deutet« werden, das heißt von den jeweils historischen Sozialitäten ausgelegt bzw. diskursiv konstruiert werden. Menschen in verschiedenen Gesellschaften gehen verschieden mit ihren Sinnen um – und insofern gibt es je Gesellschaftsgeschichten des Sehens, des Hörens, Tastens, Riechens, Schmeckens und des Schmerzes. Hier lassen sich von Simmel her wiederum vier Arten von Aussagen über die gesellschaftliche Regulierung der Sinne systematisch unterscheiden. (a) Soziale Regulation von Nähe und Ferne: Gesellschaften regulieren nach Simmel das Verhältnis von sinnlicher Nähe und Sinnenferne bzw. sinnenferner Distanz. Durch Förderung von Abstraktion ermöglichen sie einen entlastenden Ausstieg aus sinnlicher Sozialzumutung, durch Konkretion steigern sie hingegen die sinnliche Sozialpräsenz für bestimmte Funktionen der Gesellschaft. Zur Erläuterung kann man ergänzen: Durch die Erfindung der Schrift etablieren Gesellschaften in ihrer kommunikativen Wechselwirkung größtmögliche Sinnesdistanz – der sinnlich minimierte Eindruck im Schriftzeichen wird mit maximal relevantem Sinn gekoppelt, um überlokale Kommunikationssteuerung der Gesellschaft zu erreichen. In »Gipfeltreffen«, Staatsbesuchen von Repräsentanten oder Arbeitsessen von angereisten Entscheidungsträgern organisieren Gesellschaften umgekehrt gesteigerte sinnliche Sozialpräsenz, um kognitiv-affektive eingebettete Weichenstellungen zu ermöglichen. Auch »Schlachten« in ihrer Funktion als Weggabelungen der Weltgeschichte lassen sich dann als gesteigerte sinnliche Sozialpräsenz aufklären, insofern durch massenhafte Schmerzzufügungen am Ort des Geschehens kollektive Kapitulationen erzwungen werden.
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(b) Sozialevolutive Aussagen: Gesellschaften selektieren das sinnliche Potential durch akzentuierte Anlehnung ihrer Sozialformen an Aspekte der Sinnlichkeit. Simmel trifft hier typisch sozialevolutive Aussagen über den Umgang mit den Sinnen, etwa wenn er kognitive Abstraktionssteigerung in der sinnlichen Nähe mit einer soziokulturellen Präferenz des Auges verknüpft oder wenn er für die Moderne ein Sinken der allgemeinen Wahrnehmungsschärfe aller Sinne bei gleichzeitiger Steigerung ihrer Lust- und Unlustbetonung beobachtet: »Im allgemeinen wird mit steigender Kultur die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig; aber auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir umso sensibler.« (Simmel 1968: 490) Prominent in den sozialevolutiven Anschlussmöglichkeiten einer Soziologie der Sinne sind vor allem Autoren wie Foucault mit seiner historischen Analyse speziell »visueller Ordnungen« (Panoptikum etc.) in der Funktion der Disziplinierungsordnung (Prinz 2014). Im Anschluss an Simmel und seine Differenzlehre der Sinne kann weiter eine Reihe von Sozialregulationen in den Blick genommen werden, in denen Gesellschaften den Bestand an verschiedenen Sinnen zur Differenzierungsordnung der Gesellschaft ausschöpfen. Von einer »Soziologie der Sinne« ausgehend lässt sich nämlich auch Luhmanns sozialevolutive Theorie der Moderne – die Ausdifferenzierung je eigener funktionaler sozialer Systeme wie Recht, Politik, Wissenschaft, Ökonomie – in letzter Hinsicht als eine je systemspezifische Ausdifferenzierung von Sinnespotentialen erkennen – jedenfalls, wenn man sein Theorem der »symbiotischen Mechanismen« ernst nimmt (Luhmann 1974). Letztere stellen nämlich nach Luhmann die jeweilige Verbindung »abstrakter« sozialer Systeme – wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Intimsystem etc. – zum Organischen her, sie bilden die strukturelle Kopplung der jeweilig kommunikativ spezialisierten Sinnsysteme zu den sinnlichen Körpern der Beteiligten – mit ihrem Schmerzempfinden, dem auf Kontrollierbarkeit disponierten Sehsinn, dem nach Konsum verlangenden Geschmackssinn, der zur ekstatischen Erfahrung tendierenden Sexualität. Das ist Luhmanns body turn. In der Ausdifferenzierung der sozialen Sinnsysteme mit je einer gesamtgesellschaftlichen Funktion wird gewissermaßen die Einheit des sinnlichen Körperleibes zerstückelt, partikularisiert: Das politische und juristische System beglaubigt seine Letztentscheidungen im symbiotischen Mechanismus der physischen Gewalt – also in der Androhung von Schmerz; das ökonomische System garantiert seine über Geld gesteuerten Tauschpräferenzen in letzter Hinsicht über die Befriedigung des Konsums, ergo des Geschmacksinns; das Wissenschaftssystem beglaubigt seine Wahrheit punktuell in der optisch nachprüfbaren Wahrnehmung des Experiments; das Kunstsystem lockt mit speziellen optischen und akustischen sensationellen Rätseln, die mit je eigenen Resonanz-Kommentaren der Rezipienten kommunikativ abgeschlossen werden; das Intimsystem bezeugt die idiosynkratische Kommunikation zwischen ego und alter ego im Geschlechtssinn (Luhmann 1974).
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(c) Künstliche »Stilisierung« der Sinneseindrücke: Nun wieder Simmels Systematik einer »Soziologie der Sinne«: Alle diese sozialen Formen künstlicher Regulierung der Sinnlichkeit steigern sich in der von Simmel prägnant herausgearbeiteten gesellschaftlichen »Stilisierung« sinnlicher Qualitäten in der Sozialdimension. Er beschreibt diese Stilisierungsmechanismen für den Geruchs- wie parallel für den Gesichtssinn: »Das Parfüm leistet ebendasselbe durch Vermittlung der Nase, was der sonstige Schmuck durch die des Auges. Es fügt der Persönlichkeit etwas völlig Unpersönliches, von außen Bezogenes hinzu, das nun aber doch so mit ihm zusammengeht, dass es von ihr auszugehen scheint. Es vergrößert die Sphäre der Personen, wie die Strahlen des Goldes und des Diamanten, der in der Nähe befindliche taucht darein ein und ist gewissermaßen so in der Sphäre der Persönlichkeit gefangen. Wie die Kleidung verdeckt es die Persönlichkeit mit etwas, was doch zugleich als deren eigene Ausstrahlung wirken soll. Insofern ist es eine typische Stilisierungserscheinung, eine Auflösung der Persönlichkeit in ein Allgemeines, das doch die Persönlichkeit ihrem Reize nach zu eindringlicherem, geformterem Ausdruck bringt als ihre unmittelbare Wirklichkeit es könnte.« (Simmel 1968: 490)
Gesellschaften arbeiten also ständig an der sinnhaften Kultivierung von Sinneseindrücken im sozialen Verkehr, indem sie sie raffinieren und damit den Effekt ihres ästhesiologischen Potentials steigern. Von dort her gewinnt die Formel von der gegenwärtigen »Ästhetisierung der Gesellschaft« eine ganz andere gesellschaftstheoretische Brisanz als üblicherweise vermutet. Nimmt man Simmels sozialregulatives Stilisierungs- bzw. Ästhetisierungstheorem ernst, ist die Ästhetisierung der Gesellschaft nicht etwa eine Folge des Spätkapitalismus, sondern umgekehrt der Kapitalismus vom Ursprung an eine Folge des exzessiven Verlangens nach der Ästhetisierung der Gesellschaft (Fischer 2014a) – das hatte bereits Werner Sombart in seiner Studie zum Zusammenhang von Liebe, Luxus und Kapitalismus vermutet und belegt (1967). Wenn man die neuere Konsumsoziologie (Schrage 2009; Bosch 2010) vom vital turn her liest (Fischer 2004), dann hechelt der Kapitalismus in seiner Risikoökonomie (des Bankrotts) gleichsam in immer erneuten Design-Angeboten dem unerschöpflichen Stilisierungsverlangen der differenten Sinneseindrücke der Gesellschaft hinterher – das Fundierungsverhältnis zwischen einer Ökonomisierung der Gesellschaft und einer Ästhetisierung der Gesellschaft dreht sich in einer »Soziologie der Sinne« um. (d) Verbot und Unterbrechung der Sinnlichkeit: Die extremste Form der Sozialregulation der Sinne ist nach Simmel das absolute Verbot als normative Unterbrechung des sinnlichen Kontinuums. Er exemplifiziert das an dem »Verbot der Verwandtenehe« unter den Voraussetzungen des »Geschlechtssinns in seiner Beziehung zum Raume«. Ist sinnliche Wahrnehmbarkeit ästhesiologisch immer schon mit »Erregungen, Reibungen, Attraktionen und Repulsionen« durchwirkt, so setzen an die geschlechtlich sinnliche Wahrnehmung »mit so großer Unmittelbarkeit Begehrungen und Aktivitäten an, dass diese selbst sprachgebräuchlich
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mit als Sinnlichkeit bezeichnet werden«. Auch wenn Simmel das Inzest-Verbot als eine zentrale soziale Norm für vielfach motiviert hält − die kommunikative Funktion der freundschaftlichen und Bündnis-Beziehungen zu fremden Stämmen, die feindseligen des Frauenraubes, die Anthropotechnik der »Züchtung« (»Instinkt der Rassenverbesserung« (Simmel 1968: 491)) und der PatriachatsWunsch des Mannes, seine Frau unabhängig von ihrer Familie zu kontrollieren − so ist für ihn: »vielleicht aber das Wesentlichste […] dies: dass die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung innerhalb desselben Hauses die Ausschließung des Geschlechtsverkehrs zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern und all den verwandten Paaren überhaupt fordert, die in früheren Zeiten eine räumlich eng geschlossenen Einheit bildeten. Die räumliche Nähe, in der das Haus seine männlichen und weiblichen Mitglieder hält, würde die sexuellen Impulse in grenzenlose Debauchen ausarten lassen, wenn nicht die furchtbarsten Strafen darauf gesetzt wären, wenn nicht durch unnachsichtigste Strenge sozialer Verbote ein Instinkt gezüchtet würde, der jede Vermischung innerhalb der Hausgruppe ausschließt.« (Simmel 1968: 491)
Dass Simmel bei selbstverständlicher Anerkennung der vergesellschaftungssteigernden, kommunikativen Funktion des Inzuchtverbots dieses aus der sinnlichen Dramatik »lokaler Berührung«, dem Kontrektationstrieb, dem sinnlichen Berührungsverlangen hervorgehen lässt, zeigt deutlich den lebensphilosophischen bias seines Ansatzes. Nimmt man das erotische Haschen, sexuelle Betasten und sinnliche Grapschen als die eine Dauergefährdung stabiler Sozialität, die Aggression und Gewalt als sinnliche Schmerzzufügung in Krieg und Folter als die andere, dann lassen sich hier natürlich die Theorien des »Zivilisationsprozesses« als große sozialregulative Prozesstheorien ästhesiologischer Potentiale lesen (Elias 1976). Und in diesem Kontext einer Soziologie des Kontrektationssinns, des sinnlichen Annäherungsverlangens, geraten noch ganz andere Gesellschaftsprozesse in den Blick, wie etwa die gegenläufigen Prozesse der selektiven Erhitzung des Kontrektationssinnes in der Pornografie und der zeitgleich forcierten Abkühlung des Annäherungsverlangens in der »Verschleierung«. Europäische und nichteuropäische Formen des Zivilisationsprozesses einer der sozialregulativen Enthüllung und Verhüllung des weiblichen und männlichen Geschlechtskörpers werden so aus Sicht einer »Soziologie der Sinne« aufklärbar.
3. F a zit : V ital turn der S oziologie Eine offizielle Rehabilitierung der »Soziologie der Sinne« im Besonderen und einer »Soziologie des Körpers« im Allgemeinen versteht sich offensichtlich seit längerem als Korrektiv des linguistic turn, der die Sozial- und Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert nominell mit dominiert hat, verbunden mit einer
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angeblich soziozentrischen Einstellung. Der Sache nach ist die technische und ästhetische Materialität der Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt in der produktiven Soziologie vernachlässigt worden. Programmatisch hat das Durkheims »soziale Morphologie« verhindert, die die Konfiguration der Dinge jeglicher Art in der Wirkung auf die sozialen Beziehungen – unter anderem die Bauweise der Städte und Häuser – als Basiswissenschaft jeder Soziologie postuliert. Der Aspekt der »Sachdominanz« in sozialen Verhältnissen und Verhaltensformen (Linde 1972) stand z.B. im Mittelpunkt der intensiv rezipierten technik- und industriesoziologischen Studien der bundesrepublikanischen Soziologie. So beschrieben und analysierten etwa Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt die habituell-intelligenten Körperpraktiken der Stahlindustriearbeiter im Umgang mit ihren Maschinen, die zu »fahren« waren, der Akteure mit ihren »Aktantenals« ein geradezu zärtliches Verhältnis in der gehärteten Welt der Technik (Popitz/Bahrdt 1957). Und natürlich waren auch die ästhetischen Architekturen und Artefakte in ihrer Gesellschaftsrelevanz in der deutschen Soziologie immer präsent, man denke etwa an die Architektursoziologie von Werner Sombart, Georg Simmel, Walter Benjamin, Norbert Elias und Hans Paul Bahrdt (Delitz 2009) oder die Kunstsoziologie von Walter Benjamin, Arnold Gehlen und Norbert Elias (Danko 2012). Die gesamte Rollentheorie, um die die erste große Debatte in der bundesrepublikanischen Soziologie geführt wurde (Fischer 2010), ist eine »Kleidertheorie« des Menschen und insofern im Kern eine soziologische Theoriedebatte zur basalen Theaterhaftigkeit und Ästhetik der Gesellschaft – der jeweilige Wechsel des Federkleides vor anderen, das »Sich Mausern« im Ausdruck je nach Rollen und Situationen. Simmels lebensphilosophisch inspirierte »soziologische Ästhetik« ist legendär, die »Soziologie der Sinne« ihr Zentrum. Zieht man Simmels »Exkurs über die Soziologie der Sinne« als einen einschlägigen, ja klassischen Text heran, sieht man – vor jeder hier unternommenen Re-systematisierung des Ansatzes – allein schon inhaltlich, dass sein Ernstnehmen der Differenz der Sinne nicht nur einen iconic turn, die Wiederkehr der Bildlichkeit, stützt, sondern auch einen acoustic turn, die Persistenz von Stimme und Musik gegenüber der Schrift in soziologischer Bedeutung nahelegt. Zieht man diese turns mit dem affective turn und Simmels lebensphilosophischer Theorietendenz zusammen, hat man in seinem Text zur Ästhesiologie und Soziologie der Sinne einen veritablen vital turn vor dem linguistic turn vorliegen – einen vital turn5, der den »Sinn der Sinne« offenlegt: Die im Leben verankerten Sinne bahnen selbst von sich aus bereits Sinnstrukturen – im Verhältnis der menschlichen Lebewesen zu sich selbst, zur Welt und zum Anderen. Damit sind die Sinne selbst am »sinnhaften Auf bau der sozialen Welt« (Schütz) beteiligt, wie umgekehrt die Sinne und ihre Sinnlichkeit von einer je sinnhaft strukturierten Gesellschaft ausgelegt und reguliert werden. Eine aus5 | Zur neueren Reflexion eines vital turn im Umfeld von französischer Lebensphilosophie (Bergson), amerikanischem Pragmatismus und deutscher Philosophischer Anthropologie siehe auch Fischer 2014b, 2015 und Ebke 2014.
Joachim Fischer — Simmels Sinn der Sinne
sichtsreiche Soziologie der Sinne ist ohne einen vital turn nicht zu haben – und dieser liegt in Simmels lebenssoziologischer Theorie des Sinns der Sinne immer schon vor – und zwar am Anfang der Soziologie: dieser vital turn ist allen nachträglichen kulturalistischen turns zum Realen, zu den Artefakten, zum Körper, zur Materialität, zum Affektiven immer schon vorweg. Hase und Igel – Simmel ist immer schon da. Was unabhängig von jeder inhaltlichen Korrigierbarkeit und Erweiterbarkeit von Simmels Überlegungen (vor allem durch eine Soziologie der Medien) methodisch vorbildlich bleiben könnte, ist sein komplexer Ansatz einer »Soziologie der Sinne« – wenn man der inneren, für einen philosophischen Kopf wie Simmel selbstverständlichen Hintergrundsystematik seines Essays nachgeht. Wenn man eine »Soziologie der Sinne« oder »Soziologie des Körpers« aussichtsreich betreibt, arbeitet man produktiv immer schon mit vor-soziologischen Prämissen über die Sinne (ihre vitale Struktur und Funktionen, ihre Differenz), also mit einer mehr oder weniger durchdachten Ästhesiologie oder Anthropologie der Sinne. Erst im Anschluss daran bedeutet eine Soziologie der Sinne zweierlei: Die Sinne selbst treiben die Konturen und Figuren des Sozialen hervor (sie sind sozial-konstitutiv), und umgekehrt arbeitet die Sozialität diskursiv und medial an den Sinnen, reguliert und konstruiert sie (sie ist sinnesregulativ). So wird an Simmels kleinem Exkurs die Möglichkeit einer anthropologischen Soziologie kenntlich, die zwischen den Extremen einer biologischen Soziologie und einer bloß historischen oder kulturalistischen Soziologie ansetzt. Jede »Soziologie der Sinne«, die methodisch oder inhaltlich an der Vitalseite menschlicher Sozietäten vorbeisieht oder sie unter Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche der Gesellschaft bagatellisiert und als das soziologisch Sekundäre behandelt, ist im Fundament zu schwach, in der Anlage zu einseitig, als sie sich zu sehr von kulturalistischen Prämissen leiten lässt.
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Sinne und Praktiken Die sinnliche Organisation des Sozialen Andreas Reckwitz
Unter dem Titel Sensing Cities untersuchte die spanische Soziologin Monica Monteserat Degen (2008) kürzlich detailliert, wie im Zentrum des Umbaus zweier Stadtviertel in Barcelona und Manchester ein besonderes Phänomen steht: ein soziales Management der sinnlichen Wahrnehmung des Urbanen durch seine Nutzer. In ihrem Verhältnis zur Stadt hat sich für viele der Bewohner und Besucher von westeuropäischen Städten wie auch für die zeitgenössische Stadtplanung, die darauf reagiert, – so Degens ethnografisch verfolgte These – die Frage in den Mittelpunkt geschoben, wie die Gebäude und Straßen, die Wohn- und Einkaufsviertel so gestaltet werden können, dass sich Atmosphären ergeben, die als befriedigend und risikolos zugleich erlebt werden. Hinter der Fassade dessen, was man »Gentrifizierungsprozesse« nennt, steckt damit eine Umorganisation des sinnlichen – visuellen, auditiven und bewegungstechnischen – Wahrnehmens und Empfindens von Urbanität. Der britische Soziologie Nigel Thrift beobachtet in seinem Artikel »Re-Inventing Invention: New Tendencies in Capitalist Commodification« (2006) ein verwandtes Phänomen: Sowohl im Bereich der postfordistischen Arbeit als auch in jenem des Konsums erweist sich eine umfassende Mobilisierung der Sinne und Affekte der Subjekte als fundamentales Phänomen der Gegenwartsgesellschaft. Thrift spricht von »affektiver Arbeit« und einer Verwandlung von Konsumobjekten in sinnliche Resonanzflächen. Jonathan Crary schließlich tritt in seinem von Foucault beeinflussten Buch Suspensions of Perception (2002) historisch einen Schritt zurück und macht um 1900 im Kontext zeitgenössischer Medientechnologien – wie etwa den sogenannten »Panoramen« – eine Transformation von Strukturen der visuellen Aufmerksamkeit aus. Hier hat sich nach Crarys Darstellung vor allem ein Antagonismus zwischen gesellschaftlichen Prozessen einer Disziplinierung und einer Ästhetisierung der Aufmerksamkeit ausgebildet. Die Arbeiten von Degen, Thrift und Crary verfolgen unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene, aber aus ihnen wie aus einer Fülle weiterer aktueller Arbeiten kann man den Schluss ziehen: Für ein umfassendes Verständnis des So-
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zialen im Allgemeinen und der Kultur der Moderne und Spätmoderne im Besonderen stellt sich eine Analyse von sinnlichen Wahrnehmungsstrukturen als zentrale Aufgabe der soziologischen Forschung heraus. Was kann aber die Soziologie über die Sinne aussagen? Welcher Stellenwert kann der Analyse von sinnlicher Wahrnehmung in soziologischem Kontext zukommen? Meine Grundannahme lautet, dass die Soziologie bislang für eine solche Fokussierung sinnlicher Wahrnehmung schwach gerüstet scheint und ihre heuristische Begriffsapparatur zu diesem Zweck erneuern sollte. Ich gehe zunächst auf die systematischen Gründe für diese »Sinnesvergessenheit« der Soziologie und anschließend auf die Gegentendenzen ein, die sich im gesamten 20. Jahrhundert wiederholt finden lassen und die eine Rehabilitierung des Sinnlichen gefordert haben. Anschließend geht es mir darum, welchen Stellenwert sinnliche Wahrnehmungen in einem soziologischen Forschungsprogramm erhalten können. Ich gehe davon aus, dass eine praxeologische Perspektive für diesen Zweck besonders geeignet ist. In diesem Kontext ist auch der Zusammenhang zwischen sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischen Praktiken zu klären.
1. D ie S innesvergessenheit der S oziologie Betrachtet man den Kanon sozial- und gesellschaftstheoretischer Klassiker von Marx, Weber und Durkheim über Parsons bis zu Luhmann, Habermas oder Foucault – jedenfalls so, wie der soziologische Mainstream ihn üblicherweise interpretiert und in die Forschungspraxis umgesetzt hat –, dann wird deutlich, dass durchgängig die Relevanz der Sinne und Wahrnehmungen einschließlich ihrer ästhetischen Aspekte für das Verständnis des Sozialen und der modernen Gesellschaft marginalisiert worden ist. Für diese tendenzielle Sinnesvergessenheit der klassischen Soziologie finden sich drei systematische Gründe, die sich jeweils auf der Ebene der Sozialtheorie, der Gesellschaftstheorie und der normativ-kritischen Theorie ergeben.1 Sozialtheoretisch ist für die Konstitution der Soziologie seit ihrer Gründung die Abgrenzung von der Psychologie, daneben auch der Biologie fundamental gewesen. Grundlegend für das soziologische Denken und sein Bemühen, die Eigenständigkeit des Sozialen zu begründen, ist dem entsprechend die Vorstellung eines »Dualismus« zwischen einer Sphäre genuiner Sozialität und einer Sphäre des Psychisch-Mentalen bzw. des Organisch-Körperlichen. Im Rahmen eines solchen »Dualismus« sind Wahrnehmungen und Sinne jedoch der zweiten Seite der Unterscheidung zugeordnet und damit aus der Sphäre des Sozialen ausgebürgert worden: Wahrnehmungen werden so als Phänomene interpretiert, die ihren Ort im Individuum und seinen kognitiv-mentalen Prozessen haben. Hier wirkt die 1 | Es handelt sich hier um einen blinden Fleck, der eng mit der Marginalisierung von Affekten in der klassischen Sozialtheorie verbunden ist (vgl. dazu Reckwitz 2015).
Andreas Reckwit z — Sinne und Praktiken
cartesianische Differenz zwischen res cogitans und res extensa, zwischen Innenund Außenwelt. Als vorgeblich mentale Phänomene können Wahrnehmungen seit Wilhelm Wundt damit zu einem der wichtigsten Gegenstände der sich neu gründenden Psychologie werden (Benjamin 2007). Die Sinne wiederum – der Sehsinn und der Hörsinn, der Geruchs- und Tastsinn – werden nun dem menschlichen Organismus (analog dem Organismus der Tiere und deren »Sinnesorgane«) zugeschlagen und erscheinen als natürliche Eigenschaften des Körpers, die wiederum zum Gegenstand einer Biologie oder Anthropologie werden können. Das Soziale, auf dem die Soziologie klassischerweise ihre Perspektive gründet, bezieht sich demgegenüber auf das soziale Handeln und dessen normative Regeln sowie auf die Verkettungen dieser Handlungen und Regeln über zeitliche und räumliche Kontexte hinweg. Handlungssysteme und subjektive Wahrnehmungen erscheinen damit grundsätzlich einander äußerlich. Spätere konzeptuelle Weiterentwicklungen, in denen der soziologische Leitbegriff des Handelns durch den der Interaktion oder Kommunikation bzw. das Paradigma der Normen durch das der Sprache als sinnkonstitutives Zeichensystem abgelöst wird, ändern nichts daran, dass sinnliche Wahrnehmungen als vermeintlich subjektive, individuelle oder organische Eigenschaften regelmäßig nur am Rande oder ganz außerhalb des Sozialen angesiedelt werden. Auch die Transformation der Sozialtheorie in die Kulturtheorie, wie sie im Kontext von Konstruktivismus, Semiotik und Poststrukturalismus stattfindet, ändert an dieser Konstellation nichts, ja verstärkt sie in mancher Hinsicht noch. Ähnlich folgenschwer für die soziologische Sinnesvergessenheit ist die klassische Art und Weise, in der die Soziologie das Moderne der modernen Gesellschaft versteht. Der soziologische Diskurs setzt den Prozess der Modernisierung im Kern mit jenem der Rationalisierung gleich, das heißt, mit der Verbreitung einer Logik der Zweckrationalität oder normativen Rationalität. Folgt man der für die moderne Philosophie grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, dann sind diese Rationalisierungsprozesse eng verbunden mit Prozessen der Entsinnlichung und der Entästhetisierung, d.h. eines Verlustes der gesellschaftlichen Relevanz organisch verankerter Sinne und Perzeptionen, auch und gerade einer gegenüber der Zweckrationalität eigendynamischen, ästhetischen Wahrnehmung. Tatsächlich ist die Kritik an der Entsinnlichung der Moderne ein verbreiteter Topos vor allem konservativer Kulturkritik seit Matthew Arnold (1990) im 19. Jahrhundert und seiner kritischen Sezierung der Folgen der Industrialisierung. Die Sensibilisierung sinnlicher Wahrnehmung, die es in vormodernen Gesellschaften – etwa im Handwerk oder in der religiösen Praxis – gegeben habe, erodiere unter den Bedingungen der urbanen Massengesellschaft. Für ein Verständnis der Moderne, in der diese mit der Industriegesellschaft, mit sozialer Arbeitsteilung und Kämpfen um gesellschaftliche Ressourcen, mit Säkularisierung, Kapitalisierung und Bürokratisierung gleichgesetzt wird, muss eine Beschäftigung mit sinnlicher Wahrnehmung entbehrlich erscheinen. Wenn Wahrnehmungen für die moderne Gesellschaft doch relevant scheinen, dann
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am ehesten gewissermaßen als »unsinnliche« Wahrnehmungen: als Prozesse der Gewinnung von Informationen und damit als kognitive Prozesse. Wahrnehmungen sind aus dieser Perspektive in der Moderne Gegenstand von kognitiver Rationalisierung und sinnlich wie kulturell scheinbar neutrale Instrumente der Informationssammlung im Rahmen der Wissensgesellschaft, etwa in der naturwissenschaftlichen Forschung. Wenn Wahrnehmungen berücksichtigt werden, dann also lediglich als Supplement zweckrationalen Handelns, das eine perzeptive Erfassung der objektiven Merkmale der Außenwelt gleichsam in sich integriert hat. Schließlich spielt auch die spezifische Form der normativ-kritischen Ausrichtung großer Teile des soziologischen Diskurses seit Ende des 19. Jahrhunderts ihrer Sinnesvergessenheit in die Hände. Die explizite oder implizite Gesellschaftskritik der Soziologie richtete sich üblicherweise gegen soziale Desintegration und Anomie, gegen soziale Ungleichheit und Exklusion. Die Pathologien der Moderne werden damit auf der Ebene ungleicher Ressourcenverteilung bzw. ungemessener Normstrukturen angesiedelt. Die Bifurkation zwischen »progressiver« soziologischer Gesellschaftskritik und »bloßer konservativer« Kulturkritik ließ wiederum die Modellierung sinnlichen Wahrnehmens in der Moderne bestenfalls als sekundäres Problem erscheinen.
2. G egentendenzen der »V ersinnlichung « des S ozialen Allerdings hat es während des gesamten 20. Jahrhundert immer wieder Gegentendenzen gegeben, die eine soziologische Refokussierung von Sinnen, Wahrnehmungen und ästhetischen Praktiken eingefordert haben. Sie richten sich gegen die rationalistischen Engführungen auf allen drei genannten Ebenen. Auf der Ebene der Sozialtheorie finden sich Tendenzen, die den Dualismus zwischen Sozialem und Psychischem bzw. Sozialem und Körperlichem unterminieren, beispielhaft in der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, seiner »Ästhesiologie« (1980), die auf eine Analyse der »Einheit der Sinne in ihrer Mannigfaltigkeit« abzielt. Auch in der phänomenologischen Tradition, sofern sie mit der Bewusstseinsphilosophie bricht, finden sich vergleichbare Ideen, Wahrnehmungen zu verleiblichen und damit zu entpsychologisieren, namentlich in Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1966). James Deweys pragmatistische Handlungstheorie, in der eine Rehabilitierung des Begriffs der Erfahrung und des Erlebens betrieben wird, wendet sich ebenso gegen die Trennung von Soziologie und Psychologie (Dewey 1980). Seit den 1970er Jahren finden sich weitere sozialtheoretische Impulse in diese Richtung: So entwickelt Gilles Deleuze einen Ansatz zur Analyse von sozialen Gefügen, in dem der enge Zusammenhang von »Perzepten und Affekten« thematisiert und diese stabilisierenden oder destabilisierenden sinnlich-affektiven Ordnungen und Prozesse als integraler Bestandteil des Sozialen gefasst werden (Deleuze/Guattari 1992). Schließlich findet
Andreas Reckwit z — Sinne und Praktiken
sich in den sogenannten Sensory Studies in der Kulturanthropologie mittlerweile eine äußerst differenzierte, wenn auch wenig theoretisierte Forschungsrichtung, deren Grundpostulat die soziale und kulturelle Modularisierung des sinnlichen Wahrnehmungsapparates ist (Howes 2004). Mit diesen sehr diversen Tendenzen einer sozialtheoretischen Rehabilitierung der Sinne laufen entsprechende gesellschaftstheoretische Aufmerksamkeitsverschiebungen parallel. Georg Simmels frühen Miniaturen, zu denen auch der programmatische Aufsatz »Soziologie der Sinne« (1993) zählt, der 1907 erstmals veröffentlicht wurde, und ihrer zeitversetzten Rezeption kommt in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle zu: Simmel entwickelt eine für seine Zeit ungewöhnliche Sensibilität für die Veränderung der »Reizstrukturen« der Subjekte, wie sie durch die Metropolenbildung, die neuen Verkehrstechnologien und Konsumräume vorangetrieben wurde. Für Simmel lässt sich Modernität gerade nicht auf Rationalisierung und Entsinnlichung reduzieren, er beobachtet in den Metropolen vielmehr eine neuartige Modellierung sinnlicher Wahrnehmung, die zwischen »Reizschutz« angesichts explodierender sinnlicher Reize und Ästhetisierung, das heißt einer neuen sinnlichen Sensibilisierung im Rahmen der modernen Individualität, changiert. Walter Benjamins bahnbrechender Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1977) vertritt offensiv die These, dass eine Theorie des gesellschaftlichen Wandels der Moderne eine genaue Analyse der Transformation der Aisthesis, der Wahrnehmungsstrukturen voraussetzt. Den neuen medialen Apparaturen wie der Kinematografie kommt hier eine Schlüsselrolle zu, indem sie eine Entauratisierung und Zerstreuung der Wahrnehmung ermutigen. Tatsächlich liefern seit den 1960er Jahren die Medientheorien den wohl wichtigsten Impuls, um die Relevanz des Wandels von Wahrnehmungsstrukturen für die Moderne zu demonstrieren. Wie etwa Walter Ong (1982) oder Marshall McLuhan (1962) demonstrieren, lässt sich die gesamte Gesellschaftsgeschichte von den Mündlichkeitskulturen über die Schriftlichkeitskulturen bis zur audiovisuellen Gegenwart als eine Geschichte der Transformation von medialen Artefaktsystemen rekonstruieren, in deren Zusammenhang sich der sinnliche Apparat der Subjekte, etwa das Verhältnis zwischen Visualität und Auditivität, umwälzt. Schließlich ist ein erneuertes Interesse an der Sinnlichkeit des Sozialen auch mit alternativen Tendenzen im Feld der Kritischen Theorie verbunden. Bedeutsam erscheinen in den 1960er Jahren die im Kontext der Counter Culture breit rezipierten Theoretiker Guy Debord und Herbert Marcuse. Aus der Sicht von Debords Die Gesellschaft des Spektakels (1967) wie von Marcuses »Die neue Sensibilität« (2008) besteht die zentrale Pathologie der Moderne nicht in sozialer Desintegration oder Ungleichheit, sondern in einer »Entfremdung« der Subjekte von ihren sinnlich-ästhetischen Potenzialen. Trotz ihrer unterschiedlichen theoretischen Wurzeln – Debords Situationismus ist vom Surrealismus beeinflusst, Marcuses Kritische Theorie von Freud und vom deutschen Idealismus – münden Debords und Marcuses Analysen in ähnliche post-romantische kulturrevolutio-
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näre Utopien, die sich auf die Entwicklung neuer ästhetischer Praktiken in der Gegenwartsgesellschaft richten. Der traditionellen post-marxistischen Gesellschaftskritik wird hier eine progressive Kulturkritik entgegengesetzt, der im Rahmen der »affluent society« (Galbraith) nicht mehr Ausbeutung, sondern sinnliche Entfremdung als Kernproblem erscheint.
3. E ine P r a xeologie sinnlicher W ahrnehmungen Die genannten Ansätze in der Sozialtheorie, Gesellschaftstheorie und normativ-kritischen Theorie haben damit verschiedene Impulse dafür gegeben, gesellschaftliche Ordnungen zugleich als immer schon sinnliche (und teilweise auch als ästhetische) Ordnungen rekonstruierbar zu machen. Was bedeutet dann aber sinnliche Wahrnehmung und was ästhetische Praxis im soziologischen Kontext? Natürlich würde eine Beantwortung dieser Frage einen größeren begrifflichen Aufwand erfordern. Ich möchte vor allem zwei Aspekte hervorheben: Zum einen ist aus meiner Sicht ein praxeologischer Theorierahmen mit seinem strikten AntiDualismus von Sozialem und Mentalen bzw. Sozialem und Körperlichem dazu prädestiniert, sinnliche Wahrnehmungen soziologisch zugänglich zu machen. Zum zweiten erscheint dabei eine präzise begriffliche Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmung als Aisthesis im Allgemeinen, Wahrnehmungspraktiken i.e.S. und ästhetischen Praktiken zentral. Man kann es nicht genug betonen: Die Soziologie muss grundsätzlich davon ausgehen, dass soziale Ordnungen immer auch zugleich sinnliche Ordnungen bilden. Sinnliche Ordnungen, das, was ich »Sinnesregime« nennen möchte, sind kein entbehrliches Surrogat, sondern integraler Bestandteil und notwendige Voraussetzung jeder sozialen Ordnung. Dieses Grundpostulat ist auch als heuristischer Imperativ zu verstehen: Gleich wo man soziale Ordnungen ausmacht – in Institutionen und Milieus, in Interaktionen und Mensch-Ding-Verhältnissen, in sozialen Feldern, Dispositiven oder ganzen Gesellschaftsformationen – immer sollte gefragt werden, welche sinnlichen Ordnungen und Sinnesregime diese sozialen Ordnungen ermöglichen. Wie mobilisieren beispielsweise die spätmodernen Kreativunternehmen die Sinne ihrer Mitarbeiter? Wie wird hier das Sehen und das Hören, das Tasten eingesetzt? Wie unterscheidet sich dieses Sinnesregime von jenem handwerklicher Arbeit der Frühen Neuzeit oder von jenem in der fordistischen Organisation? Welche Strukturierung der Sinne betreibt eine jugendliche Subkultur im Vergleich zu einem klassisch bürgerlichen Milieu? Man sieht sogleich, dass die soziologische Grundbegrifflichkeit, um diese Wahrnehmungsstrukturierungen erfassen zu können, den genannten, in der Vergangenheit ebenso zentralen wie fatalen Dualismus zwischen Wahrnehmung und Handeln, zwischen dem vermeintlichen Innen der Wahrnehmung in der Binnenwelt des Mentalen und dem in die äußere Welt eingreifenden Handeln hinter sich lassen muss. Dieser hinderliche Dualismus lässt sich nun jedoch über-
Andreas Reckwit z — Sinne und Praktiken
winden, wenn man statt von einzelnen Handlungsakten oder von Normsystemen davon ausgeht, dass das, was wir soziale Ordnungen nennen, letztlich Ensembles sozialkultureller Praktiken sind (Schatzki 1996, 2002; Reckwitz 2003). Eine Institution, ein Milieu, eine Dyade, ein Funktionssystem, eine Gesellschaft – sie alle sind Ensembles solcher Praktiken. Praktiken sind nun aber körperlich verankert und verwenden den Körper gewissermaßen als physisch-psychische Ressource, sie statten ihn mit entsprechenden Kompetenzen und Wissensformen aus, die im Verlauf der Praktik abgerufen und mobilisiert werden. Ein praxeologisches Verständnis des Körpers setzt nicht das Subjekt als autonom Handelndes voraus, sondern betrachtet den Körper als notwendigen Mobilisierungsort für eine Praktik, als eine Hardware, die die Praktik mit einer ihr entsprechenden Software bespielt: Es handelt sich um »Praktiken und ihre Körper« (Hirschauer 2004). Praxeologisch orientierte Autoren wie Pierre Bourdieu oder Harold Garfinkel haben diese Mobilisierung der Körper durch Praktiken in erster Linie auf die Inkorporiertheit eines impliziten Wissens bezogen: Soziale Ordnungen als Komplexe von Praktiken sind dann immer auch Wissensordnungen, sie sind Ensembles von inkorporiertem tacit knowledge. Zu Recht geht die Praxeologie davon aus, dass jene körperlichen Verhaltensroutinen, die eine soziale Ordnung als Ensemble von Praktiken ausmachen, nur aufgrund einer Inkorporierung hochspezifischer Schemata des Wissens möglich sind. Aber – und dies haben praxeologische Autoren bisher häufig vernachlässigt – die Komplexe von Praktiken interiorisieren in die Akteure hinein nicht allein ein know-how- und Deutungswissen, sondern sie modellieren und mobilisieren auch die Sinne und die durch sie verlaufende Wahrnehmung auf eine bestimmte Weise. In jede soziale Praktik – des Kochens oder Kommunizierens, des Schreibens oder Schreinerns, des Recherchierens im Internet oder des Gehens in der Stadt – ist eine spezifische Organisation der Sinne gewissermaßen eingebaut. Dabei ist anders als in der antiken Tradition nicht von vornherein von der Separiertheit des Sehsinns und des Hörsinns, des Tast-, Geruchs- und Geschmackssinns sowie möglicherweise noch eines Bewegungssinns auszugehen, sondern von einer Verschränktheit des Sehens, Hörens, Tastens etc., die dann in bestimmten kulturellen Praktiken und Sinnesregimen natürlich in Richtung einer Abwertung des einen zugunsten des anderen Sinns oder eines unterschiedlichen Trainings verschiedener Sinne aufgelöst werden kann. Sinnesorgane, Akte des Wahrnehmens und Aktivitäten des Handelns sind innerhalb einer Praktik damit untrennbar miteinander verzahnt. Wahrnehmen ist selbst etwas, was getan wird, es ist eine Aktivität. Im Wahrnehmen werden zugleich einzelne Sinnesorgane auf eine bestimmte Art und Weise eingesetzt und in diesem Einsatz spezifisch strukturiert. Schließlich werden in den Wahrnehmungen spezifische kulturelle Schemata der Wahrnehmung angewandt. Gegen eine reduktionistische »Kognitivierung« der Wahrnehmung ist Wahrnehmen damit einerseits immer sinnlich, andererseits ist es immer als eine Aktivität zu betrachten – eine sinnliche Aktivität, die jedoch nicht individuellen oder biologischen Ursprungs, sondern innerhalb einer sozialen Praktik auf eine bestimmte
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Weise organisiert ist. Damit ist es auch völlig unproblematisch, dass viele Wahrnehmungen gar nicht in einer sozialen Interaktion stattfinden, sondern allein in der Auseinandersetzung zwischen einem Subjekt und einem Objekt. Dadurch, dass das Wahrnehmen in eine sozial vermittelte Praktik eingebettet ist, ist es sozial – dies gilt auch für die Praktik des Waldspaziergangs, des Fernsehens oder der Arbeit am Bildschirm.2 Das Subjekt, das sich in einer bestimmten Praktik oder einem gesamten Praktikenkomplex subjektivieren lässt, nimmt also innerhalb dieser Praktik typischerweise auf eine ganz bestimmte Weise wahr. Man könnte auch sagen: die Praktik selbst nimmt durch das Subjekt hindurch wahr, oder sie leitet das Subjekt an, im Rahmen des Insgesamt der Aktivitäten, die eine Praktik bilden, spezifisch wahrzunehmen. Zentral ist dabei, dass diese Wahrnehmungen nicht nur vor dem Hintergrund einer »was«-Frage, sondern auch einer »wie«-Frage analysiert werden. Praxeologisch interessiert nicht nur, was im Rahmen einer Praktik wahrgenommen wird – was also zum Beispiel gesehen und auf welche Weise es gedeutet wird –, sondern auch und vor allem wie im Rahmen einer Praktik wahrgenommen wird, also zum Beispiel wie der Vorgang des Sehens überhaupt beschaffen ist: wird prüfend beobachtet oder genussvoll geschaut, verstohlen ein Blick geworfen oder panoramisch betrachtet? Tatsächlich hat ein kognitivistisches Wahrnehmungsverständnis Wahrnehmen regelmäßig auf das Wahrnehmen »von etwas« reduziert. Die verbreitete Rede von »Wahrnehmungsschemata« meinte in der Regel genau dies: eine spezifische kulturelle Interpretation der Objekte der Wahrnehmung. Diese Abhängigkeit der Wahrnehmungsakte von Interpretationsschemata ist zwar sicherlich eine zentrale (sozial-)konstruktivistische Einsicht, aber die praxeologische Wahrnehmungsanalyse geht noch einen Schritt weiter: Man muss sich die Frage stellen, wie, das heißt, auf welche spezifische Weise sinnliche Wahrnehmungsformen – beispielsweise Formen des Sehens oder des Hörens – in einer sozial-kulturellen Praktik eingesetzt werden und welchen Stellenwert sie dort als eine hochspezifische Aktivität haben. Sinnliche Wahrnehmungen und Handeln sind damit praxeologisch zwei Seiten der gleichen Medaille: Eine sozial-kulturelle Praktik organisiert das Handeln wie das Wahrnehmen auf eine bestimmte Weise und integriert es in einen Komplex. Nehmen wir als Beispiel die – tief im kulturellen Kontext der deutschen Romantik verwurzelte – Praktik des Spazierengehens in der Natur, den »Waldspaziergang«.3 Diese Praktik enthält zum einen beobachtbare routinisierte Handlungen, Körperbewegungen, die durch ein implizites Wissen gestützt werden: das gemächliche Gehen in einer »natürlich« erscheinenden, von Menschen nicht bewohnten Umgebung, ein Gehen, das einerseits zielgerichtet ist – in der Regel wandert man zu einem Ort –, zugleich aber ein Gehen um des Gehens willen. 2 | Vgl. zu einem solchen praxeologischen Verständnis sinnlicher Wahrnehmung jüngst auch Prinz 2014 und Göbel 2015. 3 | Vgl. dazu weiterführend auch König 1996.
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Ein bestimmtes Deutungsmuster der Natur – als etwas, in der man als Mensch zur Ruhe kommen, sich entspannen kann etc. – kommt hier zum Einsatz, möglicherweise auch der »Gesundheit« – der gesundheitsförderliche Aspekt der Bewegung beim Großstadtbewohner. Die Praktik des Waldspaziergangs wäre aber gar nicht zu verstehen, wenn man das Sinnesregime übergeht, das hier zum Einsatz kommt: In das Spazierengehen ist eine bestimmte Weise des Sehens eingebaut – man achtet als Waldspaziergänger auf »interessante« Details am Wegesrand, aber betrachtet die Umgebung auch nach Art des Panoramas. Es handelt sich hier nicht um ein forschendes Beobachten, sondern um ein fokussiertes oder panoramisches Schauen. Die sinnliche Wahrnehmung ist beim Waldspaziergang jedoch typischerweise »ganzheitlich«, es geht um eine Erfahrung der Umgebung mit allen Sinnen – auch mit dem Hörsinn (ein »Lauschen« auf Umgebungsgeräusche) und dem Geruchssinn (»tiefes Durchatmen«), dem Tastsinn, sofern man den Boden »spürt« auf dem man geht etc. –, also gewissermaßen um eine sinnliche Immersion in das Gesamtkunstwerk Natur. Es ist offensichtlich, dass es sich beim Waldspaziergang um eine komplexe Praktik handelt, die das Individuum auch in seinen sinnlichen Aspekten vollziehen muss, damit die Praktik »richtig« vollzogen wird – wer seine Sinne nicht entsprechend einsetzt, versteht gar nicht, worum es beim Waldspaziergang geht. Zentral für ein praxeologisches Wahrnehmungsverständnis sind zwei weitere Zusammenhänge: der zwischen Wahrnehmung und Affektivität und der zwischen Wahrnehmung und Subjekt-Objekt-Konstellationen. Ein kognitiv-psychologisches Wahrnehmungsverständnis hat nicht nur den Körper und den Leib, sondern auch die Affektivität vernachlässigt. Begreift man Wahrnehmen jedoch als integralen Bestandteil der Handlungspraxis, dann wird deutlich − Simmel (1993) und Merleau-Ponty (1966) haben darauf hingewiesen –, dass das sinnliche Wahrnehmen immer mit einem bestimmten Empfinden, mit bestimmten Erregungsintensitäten, einer spezifischen Mobilisierung von Affekten verbunden ist. Diese Affektivität des Einsatzes der Sinne − Genuss oder Ekel, Schaulust oder Angst – schließt auch Strategien ein, die Affekte zu disziplinieren und gewissermaßen eine Lust an der Affektneutralität zu kultivieren (etwa an der distanzierten »reinen Beobachtung«). In neueren affekt- und emotionstheoretischen Arbeiten ist zu Recht auf die prinzipielle Affektivität sozialer Ordnungen hingewiesen worden (Seyfert 2011): Jede soziale Praktik enthält ihre jeweilige, in sie »eingebaute« affektive Haltung – gegenüber anderen Subjekten, Dingen oder der Welt allgemein, sei es als Gegenstände der Sympathie, der Beherrschung, des Wohlwollens, der Abgrenzung usw. Auch hier gilt: Die praxeologische Sicht macht deutlich, dass es sich nicht um Emotionen als subjektiven Besitz des Einzelnen handelt. Nicht der Einzelne »hat« eine Emotion – eine bestimmte Praktik enthält typischerweise eine bestimmte emotionale Gestimmtheit, die sich dann das Individuum, das sich von und in dieser Praktik subjektivieren lässt, entsprechend zu Eigen macht: der Einzelne fühlt sich »verliebt«, indem er sich von der kulturellen Praktik des Sichverliebens
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modellieren lässt. Diese Affektivität einer Praktik ist nun jedoch typischerweise eng (wenn auch nicht ausschließlich) an die ihr eigenen sinnlichen Wahrnehmungen geknüpft. Zwischen Sinneswahrnehmung und Lust/Unlustreaktionen in unterschiedlichsten Schattierungen existiert ein deutlicher Zusammenhang: Man schaut oder betrachtet nicht neutral, sondern mit Ärger oder Genuss. Das Wahrnehmen in seiner Affektivität richtet sich dabei nicht nur auf andere Subjekte – so wie es bei Georg Simmel (1993) vorausgesetzt wird –, sondern auch und gerade auf Dinge und ganze räumliche Umgebungen. Es zeigt sich damit, dass ganz generell für ein praxeologisches Verständnis des Wahrnehmens dessen Eingebundenheit in Mensch-Ding-Konstellationen essenziell ist. Grundsätzlich betont die praxeologische Perspektive, dass Praktiken immer in einem Gefüge von menschlichen Körpern und nicht-menschlichen Artefakten hervorgebracht werden. Bestimmte Artefakte und ganze Artefaktsysteme sind integrale Bestandteile und Voraussetzungen von Praktiken, sie sind auf ihre Weise Ressourcen für die Praktiken, die sie ermöglichen und begrenzen. Für das Sinnesregime, das eine Praktik enthält, haben diese Artefakte eine potenziell doppelte Relevanz: Sie können typische Gegenstände der Wahrnehmung sein – in einem Labor werden andere Dinge anders wahrgenommen als in einem privaten Haushalt oder einem Unterhaltungserlebnisraum. Artefakte wie Gemälde, Fotos, Musikperformances oder kulinarische Gerichte können dabei eigens für die Wahrnehmung, für ihr Wahrgenommenwerden produziert worden sein, sodass man hier von »intendierten Wahrnehmungsobjekten« sprechen kann, wie es etwa bei den drei genannten Beispielen (im Unterschied zu Heizkesseln, Fließbändern oder Pflügen) der Fall ist. Zugleich können die Artefaktsysteme als konstitutive Bedingungen beeinflussen, wie die Sinne mobilisiert werden und was wie wahrnehmbar ist: Mediale Apparate oder die Architektur von Räumen beispielsweise sind nicht nur Gegenstände der Wahrnehmung, sondern beeinflussen auf ihre Weise die Sinnesstrukturen, sodass etwa in einer Kathedrale oder einem Museum durch das räumliche Arrangement der Blick auf eine bestimmte Weise gelenkt wird. Eine praxeologische Analyse von Sinnesregimen kommt daher nicht ohne Artefaktanalyse aus.
4. S innlichkeit der P r a xis , W ahrnehmungspr ak tiken , ästhe tische P r ak tiken Der Grundsatz, dass soziale Ordnungen immer auch sinnliche Ordnungen umfassen, lässt sich praxeologisch so übersetzen, dass das Soziale als Ensemble von Praktiken immer auch spezifische Sinnesregime enthält. Heißt das nun, dass Wahrnehmungen selbst Praktiken bilden und als solche analysierbar sind? Für eine Soziologie der Wahrnehmung ist in dieser Hinsicht eine heuristische Unterscheidung zwischen drei Phänomenen sinnvoll: (1) die sinnlich-perzeptive Organisation einer Praktik (oder eines Praktikenkomplexes); (2) Wahrnehmungs-
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praktiken i.e.S.; (3) ästhetische Praktiken, d.h. solche selbstreferenzieller Wahrnehmung (Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen). Auf die erste, die basale Ebene bin ich in den letzten Abschnitten bereits eingegangen: Jede Praktik und jeder Komplex von Praktiken ist auf ihre oder seine Weise sinnlich-perzeptiv organisiert, d.h. mobilisiert, hemmt und strukturiert das Wie und Was sinnlicher Wahrnehmung auf bestimmte Weise. Das gilt für eine bestimmte Form mündlicher Kommunikation, in der immer auch auf bestimmte Weise gesehen und gehört wird, ebenso wie für intellektuelle Praktiken wie Schreiben und Lesen, erst recht natürlich für jene, in denen der Körper vielfältiger eingesetzt wird, etwa sportliche oder handwerkliche Praktiken. Auch soziale Makrophänomene wie Institutionen, soziale Felder oder Klassen kultivieren dann im Insgesamt ihrer Praktiken ihr jeweiliges Sinnesregime, ihre eigene – mit Rancière gesprochen – »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2006). Insofern hat jede Praktik eine sehr spezifische sinnliche Struktur oder Dimension. Man könnte höchstens fragen, ob es Grenzfälle von Praktiken gibt, in denen die Sinne nach außen konsequent demobilisiert werden (etwa innere Reflexion), aber auch dies lässt sich letztlich als ein sehr voraussetzungsvolles Sinnesregime interpretieren, das entsprechenden Trainings bedarf, und in dem die äußere durch »innere« Wahrnehmung ersetzt wird. Auf dieser Ebene macht es keinen Sinn zu sagen, dass Wahrnehmung eine oder die Praktik »ist«. Die Praktik als Ensemble verschiedener, zusammengebundener Aktivitäten, enthält vielmehr Akte der Wahrnehmung als ein notwendiges Bündel von Aktivitäten – das oben angeführte Beispiel des Waldspaziergangs wäre ein Beispiel für eine solche Konstellation. Innerhalb dieses Insgesamt der sinnlichen Organisation von Praktiken sind Wahrnehmungspraktiken i.e.S. als Untermenge zu unterscheiden. Mit Wahrnehmungspraktiken i.e.S. meine ich Praktiken, die um ein spezifisches Wahrnehmen zentriert sind. In jeder Praktik wird immer auch sinnlich wahrgenommen, aber Wahrnehmungspraktiken tun dies primär und fokussiert. Gemeint sind also spezifische Praktiken des Sehens, des Hörens, des Tastens etc., natürlich auch des Sehhörens oder anderer Kombinationen. Es ist zu vermuten, dass gerade die moderne Gesellschaft solche spezialisierten und gesteigerten bzw. intensivierten Wahrnehmunsgspraktiken im Besonderen ausbildet, sei es im Zuge von Rationalisierungs- und Differenzierungsprozessen, aber auch von Ästhetisierungsprozessen. Im Zeichen des modernen Okularzentrismus wird man zuerst an Sehpraktiken, d.h. visuelle Praktiken denken (Mirzoeff 2009), etwa in der Wissenschaft oder bestimmten Arbeitsformen oder dem Medienkonsum, aber auch an jene Hörpraktiken, auf die die Sound Studies die Aufmerksamkeit gelenkt haben (Schulze 2008). Indem man dieses spezialisierte Wahrnehmen selbst als Praktik betrachtet, lässt sich herausarbeiten, welches komplexe Netzwerk von Körperbewegungen, impliziten und teilweise auch diskursivierten Wissensordnungen und Artefaktsystemen – einschließlich spezifischer Apparaturen wie Mikroskopen, Bildschirme, Tonbänder etc. – bei der Wahrnehmung zum Einsatz kommen.
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Eine weitere besonders interessante Untermenge der sinnlich organisierten Praktiken, die sich wiederum teilweise mit von den Wahrnehmungspraktiken überschneidet, bilden schließlich die ästhetischen Praktiken. Das Adjektiv »ästhetisch« ist im Kontext der philosophischen Ästhetik hochgradig umstritten und vieldeutig. Ich will es – durchaus in Weiterführung dieses klassischen Ästhetikdiskurses nach Kant – nicht auf sinnliche Wahrnehmungen insgesamt, sondern auf Wahrnehmungen mit einer spezifischen Struktur beziehen: auf solche sinnliche Wahrnehmungen, die nicht instrumentell in einen zweckrationalen oder normativen Handlungszusammenhang eingebettet sind, sondern die um ihrer selbst und ihres affektiven Effekts im Subjekt willen vollzogen werden. Mit Martin Seel (1996) gesprochen: ästhetische Wahrnehmungen sind vollzugsorientiert, Zweck in sich selbst. Man könnte hier auch von selbstreferenziellen oder eigendynamischen Wahrnehmungen sprechen. Wiederum lässt sich dieses praxeologisch verstehen: Ästhetische Wahrnehmungen sind keine inneren oder subjektiven Prozesse, sondern Bestandteile oder Zentren spezifischer Praktiken, das heißt, sie sind Wahrnehmungspraktiken oder sinnliche Komponenten von Praktiken. Natürlich ist nicht jede Wahrnehmungspraktik oder gar jede sinnliche Komponente einer Praktik ästhetisch. In der Regel sind sie es nicht, vielmehr gliedert sich das Wahrnehmen ein in einen Zweckzusammenhang: Die Praktik des Beobachtens im Labor ist in diesem Sinne in der Regel ebenso eine nicht-ästhetische, zweckrationale Praktik wie das Zuhören in einem Gespräch. Paradigmatische Fälle für ästhetische Praktiken finden sich in der Moderne im Bereich der Kunst, etwa Praktiken der Bild- oder Filmbetrachtung oder des Musikhörens. Aber in jener abstrakten Definition des Ästhetischen, wie ich sie vorgeschlagen haben, werden auch Aktivitäten anderer Felder jenseits der Kunst als ästhetische Praktiken sichtbar, insofern die Mobilisierung der Sinne und Empfindungsweisen selbst das Ziel und die Struktur der Praxis ausmachen. Ob es sich um den Aufenthalt im Fußballstadion oder um Individualsport, romantische Liebe und Sexualität oder die Stilisierung des Körpers, ja auch bestimmte Arbeits- und Produktionsformen, die man »ästhetische Arbeit« nennen kann – ästhetische Praktiken erweisen sich insbesondere für die spätmoderne Gesellschaft als ein zentrales, expandierendes Feld von Praktiken, in denen wiederum spezifische Körperbewegungen und psychische Aufmerksamkeitsformen, Wissensordnungen und Artefaktsysteme miteinander arrangiert werden. Soziale Ordnungen sind also immer auch als sinnliche Ordnungen rekonstruierbar. Natürlich könnte man fragen: Warum soll man sich dieser Mühe unterziehen? Ist es nicht ausreichend, sie als sinnhafte Ordnungen zu begreifen und das – empirisch notorisch schwierige – Feld der Sinne und Perzeption bei der Psychologie oder Neurophysiologie zu belassen? Die überzeugendste Antwort auf diese Frage ist aus meiner Sicht eine gesellschaftstheoretische: Die moderne Gesellschaft und insbesondere ihre Transformation in Richtung dessen, was man »Spätmoderne« nennen kann, lässt sich im Kern nicht begreifen, wenn man
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die sinnlich-perzeptive Transformation nicht nachvollzieht, die in ihr stattfindet. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass insbesondere die spätmoderne Gesellschaft sich nicht auf einen Rationalisierungsprozess reduzieren lässt, sondern hier – teilweise gegen die Rationalisierung, teilweise untergründig mit ihr verwoben – Prozesse der Ästhetisierung stattfinden, d.h. eine Entstehung und Verbreitung von ästhetischen Praktiken in verschiedensten sozialen Feldern vom Konsum bis zum Beruf, von den Medien bis zur Partnerschaft (Maffesoli 1990; Schulze 1992; Reckwitz 2012). Ästhetisierungsprozesse sind aber nur verstehbar, wenn die Soziologie genau dechiffriert, wie hier eine Eigendynamisierung sinnlicher Wahrnehmungen stattfindet. Auch die Behandlung der kulturkritischen Frage, wie sich diese Ästhetisierungsprozesse beurteilen lassen – etwa im Sinne einer problematischen Aufmerksamkeitszerstreuung –, kommt nicht ohne eine entsprechende Analyse unterschiedlicher Formen einer sinnlichen Organisation des Sozialen aus. Die analytische »Versinnlichung« des Sozialen stellt damit kein Luxusproblem dar, sondern ein Anliegen, das den Kern der soziologischen Bemühungen um ein Verständnis der Moderne betrifft.
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Autorinnen und Autoren
Regula Valérie Burri, Wissenschaftsforscherin und Soziologin, ist Professorin für Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCity Universität Hamburg; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Science and Technology Studies, Kultursoziologie, Visualität, Wissenschaft und Kunst, Governance neuer Technologien; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Burri, Regula Valérie (2008): Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, Bielefeld: transcript; Burri, Regula Valérie (2013): »Visual Power in Action: Digital Images and the Shaping of Medical Practices«, in: Science as Culture 22 (3), S. 367-387. Silvy Chakkalakal, Europäische Ethnologin und Komparatistin, ist wissenschaftliche Post-Doc-Assistentin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Geschichte und Methoden der Kulturanthropologie, Anthropologie der Sinne, Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Bildwissenschaft/Bildanthropologie, Historische Anthropologie, Media and Cultural Studies, Kindheitsund Bildungsforschung/Sociology of Childhood; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Chakkalakal, Silvy (2014): Die Welt in Bildern. Erfahrung und Evidenz in Bertuchs »Bilderbuch für Kinder« (1790-1830), Göttingen: Wallstein; Chakkalakal, Silvy/Amelang, Katrin (Hg.) (2015): »Abseitiges. An den Rändern der Kulturanthropologie«, in: Berliner Blätter − Ethnographische und ethnologische Beiträge 68, Berlin: Panama. Stefanie Duttweiler, Soziologin, ist Post-Doc-Mitarbeiterin an der Abteilung Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M.; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Körper- und Geschlechtersoziologie, Subjektivierung, Architektur- und Religionssoziologie; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Duttweiler, Stefanie (2012): »Sakrale Orte des Körperkults. Zwischen Kirchenreligion und Ersatzreligion«, in: Gugutzer, Robert/ Böttcher, Moritz (Hg.): Körper, Sport und Religion. Soziologische Erkundungen, Wiesbaden: VS, S. 193-218; Duttweiler, Stefanie (2012): »Entortete Verortungen. Architekturen des transnationalen Flüchtlingsraumes«, in: Soeffner, Hans-
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Georg (Hg.): Transnationale Vergesellschaftung. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden: VS (CD-ROM). Joachim Fischer, Soziologe, ist habilitierter Honorarprofessor für Soziologie an der TU Dresden; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Soziologische Theorie und Sozialphilosophie, Kultursoziologie und Kulturphilosophie, Philosophische Anthropologie; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Fischer, Joachim (2012): »Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs«, in: Moebius, Stephan/Prinz, Sophia (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript, S. 91-108; Fischer, Joachim (2014): »Ästhetisierung der Gesellschaft statt Ökonomisierung der Gesellschaft. Kunstsoziologie als Schlüsseldisziplin der Gegenwartsanalytik«, in: Danko, Dagmar/ Moeschler, Oliver/Schumacher, Florian (Hg.): Kunst und Öffentlichkeit, Wiesbaden: VS, S. 21-32. Lars Frers, Soziologe, ist Professor für Sozialwissenschaften am Telemark University College und Professor für qualitative Methoden an der Norwegian University of Science and Technology; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Materialität und Raum, Mobility Studies, qualitative Methoden, Phänomenologie, soziale Kontrolle; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Frers, Lars (2007): Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals, Bielefeld: transcript; Frers, Lars (2013): »The Matter of Absence«, in: Cultural Geographies 20 (4), S. 431-445. Will Gibson, Soziologe, ist Senior Lecturer in Research Education, Institute of Education am University College London; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, Interaktion in Notaufnahmen von Krankenhäusern, im Musikunterricht und in Online-Umgebungen; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Gibson, Will/Webb, Helena/vom Lehn, Dirk (2011): »Re-Constituting Social Praxis: An Ethnomethodological Analysis of Video Data in Optometry Consultations«, in: International Journal of Social Research Methodology 14 (3), S. 207-218; Gibson, Will/Webb, Helena/vom Lehn, Dirk (2014): »Analytic Affordance: Transcripts as Conventionalised Systems in Discourse Studies«, in: Sociology 48 (4): S. 780-794. Hanna Katharina Göbel, Soziologin und Kulturwissenschaftlerin, ist Post-DocMitarbeiterin an der Universität Hamburg am Arbeitsbereich Kultur, Medien, Gesellschaft/Performance Studies im Institut für Bewegungswissenschaft; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Praxistheorie (insbesondere STS und ANT), Urban Studies, Körper- und Kultursoziologie sowie Medientechniktheorie; Publikation zum Thema des Sammelbandes: Göbel, Hanna Katharina (2015): The ReUse of Urban Ruins. Atmospheric Inquiries of the City, London: Routledge. Göbel, Hanna Katharina/Richter, Anna/Grubbauer, Monika (2016): »Designed to im-
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prove? The makings, politics and aesthetics of ›social‹ architecture and design«, CITY, Special feature (in Vorbereitung). Robert Gugutzer, Soziologe, ist Sportwissenschaftler und Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Körper- und Leibsoziologie, Sportsoziologie, Neophänomenologische Soziologie; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Gugutzer, Robert (2012): Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld: transcript; Gugutzer, Robert (2015): Soziologie des Körpers, 5. vollst. überarb. Aufl., Bielefeld: transcript. Hans Peter Hahn, Ethnologe, ist Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Afrika an der Goethe Universität in Frankfurt a.M.; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: materielle Kultur und Konsum, Migration und Mobilität, Kulturwandel durch globale Einflüsse; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Hahn, Hans Peter (2015): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin: Neofelis; Stockhammer, Philipp/Hahn, Hans Peter (2015): Lost in Things. Fragen an die Welt des Materiellen, ihre Funktionen und Bedeutungen, Münster: Waxmann. Christian Heath, Soziologe, ist Professor of Work and Organisation im Department of Management am King’s College London; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: videobasierte Analysen von Interaktion, Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, Analyse von medizinischen Beratungsgesprächen sowie von Auktionen und Interaktion in Museen; Publikation zum Thema des Sammelbandes: Heath, Christian/Hindmarsh, John/Luff, Paul (2010): Video in Qualitative Research, London: Sage; Webb, Helena/Heath, Christian/Heath, Christian/ Gibson, William (2013): »Engendering Response: Professional Gesture and the Assessment of Eyesight in Optometry Consultations«, in: Symbolic Interaction 36 (2), S. 137-158.
Jane M. Jacobs, Human- und Kulturgeographin, ist Professorin für Urban Studies am Yale-NUS College of the Liberal Arts and Sciences in Singapur; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Urban Studies, Postcolonial Studies, Qualitative Methoden für den urbanen Raum; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Jacobs, Jane M. (2006): »A Geography of Big Things«, in: Cultural Geographies 13 (1), S. 1-27; Jacobs, Jane M./Merriman, Peter (2011): »Practicing Architectures: Editorial«, in: Social & Cultural Geography 12 (3), S. 211-222; Cairns, Stephen/ Jacobs, Jane M. (2014): Buildings Must Die: A Perverse View of Architecture, Cambridge, Mass.: MIT Press.
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Gabriele Klein, Soziologin und Tanzwissenschaftlerin, ist Professorin für die Soziologie von Bewegung und Tanz an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Tanz- und Performancetheorie, Körpersoziologie, urbane und transnationale Tanz- und Bewegungskulturen, Medialität von Bewegung und Tanz; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hg.) (2005): Performance: Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld: transcript; Klein, Gabriele/Noeth, Sandra (Hg.) (2011): Emerging Bodies. The Performance of Worldmaking in Dance and Choreography, Bielefeld: transcript; Klein, Gabriele (2005): Stadt. Szenen. Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, Wien: Passagen Verlag; Klein, Gabriele/Kunst, Bojana (Hg.) (2012): »Labour and Performance«, in: Performance Research 17 (6), S. 1-3; Brandstetter, Gabriele/Klein, Gabriele (Hg.) (2012): Dance (and) Theory, Bielefeld: transcript. Dorothy H. B. Kwek, Politikwissenschaftlerin, erwarb ihren PhD an der Johns Hopkins University Baltimore und unterrichtet derzeit an der Universität Konstanz; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: vergleichende und postkoloniale Theorien, Philosophien der Moderne und Gegenwart. Derzeit forscht sie an Projekten zu Benedict Spinoza und zur Politik des Scheiterns; Publikation zum Thema des Sammelbandes: Kwek, H. B. Dorothy (2014): »Power and the Multitude: A Spinozist View«, in: Political Theory 43 (2), S. 155-184. Dirk vom Lehn, Soziologe, Senior Lecturer in Marketing, Interaction & Technology im Department of Management am King’s College London; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: videobasierte Analyse von Interaktion in Museen, bei Optikern und auf Straßenmärkten; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: vom Lehn, Dirk u.a. (2013): »Assessing Distance Vision as Interactional Achievement: A Study of Commensuration in Action«, in: Soziale Welt 64 (1-2), S. 115-136; vom Lehn, Dirk (2010): »Discovering ›Experience-ables‹: Socially Including Visually Impaired People in Art Museums«, in: Journal of Marketing Management 26 (7-8), S. 749-769. Michael Liegl, Soziologe, Post-Doc Researcher und Koordinator des Graduiertenkollegs »Lose Verbindungen: Kollektivität in urbanen und digitalen Räumen« an der Universität Hamburg; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: soziotechnische Assemblagen, digitale Zusammenarbeit und Vergemeinschaftung in aktuellen Kunstpraktiken, Raumpraktiken digital mobilisierter Kreativarbeiter, Mobilitätsmuster und Kollektivierungsformen in mobil-digitalen Datingpraktiken, sowie digital vermittelte Zusammenarbeit von Rettungsorganisationen im Katastrophenschutz; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Liegl, Michael (2010): Digital Cornerville: Technische Leidenschaft und musikalische Vergemeinschaftung in New York, Stuttgart: Lucius & Lucius; Liegl, Michael (2014): Grindr: Empirical Observations on Some Contemporary Mediations of the Pick-UpLine, Wiesbaden: VS; Liegl, Michael (2014): »Media Assemblages, Ethnographic
Autorinnen und Autoren
Vis-Ability and the Enactment of Video in Sociological Research«, in: Distinktion – Scandinavian Journal of Social Theory 14 (3), S. 254-270; Liegl, Michael (2014): »Nomadicity and the Care of Place – on the Aesthetic and Affective Organization of Space in Freelance Creative Work«, in: Journal of CSCW 23 (2), S. 163-183; Büscher, Monika/Liegl, Michael/Thomas, Vanessa (2014): »Collective Intelligence in Crises«, in: Journal CSCW, S. 243-265. Peter Osborne, Philosoph, ist Professor of Modern European Philosophy und Director des Centre for Research in Modern European Philosophy an der Kingston University in London, Mitherausgeber der britischen Zeitschrift Radical Philosophy und war zwischen 2011 und 2013 Leiter des vom UK Arts and Humanities Research Council geförderten Projektes Transdisciplinarity and the Humanities; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Philosophische Ästhetik, Kritische Theorie und Philosophie der Zeit; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Osborne, Peter (2002): Conceptual Art, London: Phaidon; Osborne, Peter (2011 [1995]): The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London: Verso; Osborne, Peter (2013): Anywhere or Not at All: Philosophy of Contemporary Art, London: Verso. Sophia Prinz, Kultursoziologin und Kulturwissenschaftlerin, ist Post-Doc-Mitarbeiterin am Lehrstuhl für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Johann Jacobs Museum in Zürich; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Praxistheorie, Körpersoziologie, Kunst- und Designtheorie sowie Theorien der Transkulturalität; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Moebius, Stephan/ Prinz, Sophia (Hg.) (2012): Das Design der Gesellschaft: zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript; Prinz, Sophia (2014): Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld: transcript; Reckwitz, Andreas/Prinz, Sophia/Schäfer, Hilmar (Hg.) (2015): Ästhetik und Gesellschaft: Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, Berlin: Suhrkamp. Andreas Reckwitz, Soziologe, ist Professor für Kultursoziologie an der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder); zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Sozial-, Gesellschafts- und Kulturtheorie, Kultursoziologie; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp; Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp; Reckwitz, Andreas (2015): »Praktiken und ihre Affekte«, in: Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript; Reckwitz, Andreas/Prinz, Sophia/Schäfer, Hilmar (Hg.) (2015): Ästhetik und Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp.
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Die Sinnlichkeit des Sozialen
Christiane Schürkmann, Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Praktiken künstlerischen Arbeitens in der zeitgenössischen bildenden Kunst, Materialität in künstlerischen Arbeitsprozessen; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Schürkmann, Christiane (2014): »Material in künstlerischen Erzeugungsprozessen: Überlegungen zur Materialität des Materials im Zusammenspiel von Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit«, in: Löw, Martina (Hg.): Vielfalt und Zusammenhalt. Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum und Dortmund 2012, Frankfurt a.M.: Campus (CD-ROM); Schürkmann, Christiane (2015): »Von Raketenleisten bis zum Leichtmetall. Begegnungen einer Praxis des Materials im Einsatz künstlerischer Arbeiten«, in: Schäfer, Franka/Daniel, Anna/Hillebrandt, Frank (Hg.): Methoden einer Soziologie der Praxis, Bielefeld: transcript (im Erscheinen). Robert Seyfert, Soziologe, ist Postdoc-Fellow am Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Sozial- und Kulturtheorie, Affekt- und Emotionssoziologie, Soziologie der Finanzmärkte; Publikation zum Thema des Sammelbandes: Seyfert, Robert (2011): Das Leben der Institutionen, Weilerswist: Velbrück; Seyfert, Robert (2012): »Beyond Personal Feelings and Collective Emotions: A Theory of Social Affect«, in: Theory, Culture & Society 29 (6), S. 27-46. Kaja Silverman, Kultur- und Filmtheoretikerin, ist Keith L. and Katherine Sachs Professor of Contemporary Art an der University of Pennsylvania; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: psychoanalytische und phänomenologische Film-, Fotografie- und Kulturtheorien sowie Theorien der zeitgenössischen Kunst; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Silverman, Kaja (1996): The Threshold of the Visible World, New York u.a.: Routledge; Silverman, Kaja (2000): World Spectators, Stanford, California: Stanford University Press; Silverman, Kaja (2015): The Miracle of Analogy or the History of Photography, Stanford, California: Stanford University Press. Christina Threuter, Kunstwissenschaftlerin, ist Professorin für Kunst-, Designund Kulturgeschichte an der Hochschule Trier; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Visuelle und Materielle Kultur des 20. Jahrhunderts (Körper und Geschlecht, Mode und Modetheorie, Architektur und Raum, Erinnerungs- und Dingkultur); Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Threuter, Christina (2014): »Ausschlüsse des Unerwarteten: Herlinde Koelbls Fotobuch ›Das deutsche Wohnzimmer 1980‹«, in: Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas (Hg.): Wohnen zeigen! Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript, S. 303-320; Threuter, Christina (2015): »Raum, Affekt und Geschlecht: Eine Analyse des Architekturfilms ›Loos ornamental. Architektur als Autobiographie‹ von Heinz Emigholz«, in: Keim, Christiane/Schrödl, Barbara
Autorinnen und Autoren
(Hg.): Architektur im Film. Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie, Bielefeld: transcript. Helena Webb, Soziologin, ist Post-Doc Research Associate im Department of Computer Science an der University of Oxford; zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Konversationsanalyse, qualitative Methoden, Interaktion zwischen Doktor und Patient in Ernährungs- und Verhaltensberatungsbesprächen und in Untersuchungen bei Optikern; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Webb, Helena/vom Lehn, Dirk/Heath, Christian/Gibson, William/Evans, Bruce J. W. (2013): »The Problem With ›Problems‹: The Case of Openings in Optometry Consultations«, in: Research on Language and Social Interaction, 46 (1), 65-83; Webb, Helena (2015): »›I’ll suggest that to your doctor‹: Managing interactional Restrictions to Treatment Provision in Secondary Care Obesity Consultations«, in: F. Chevalier und J. Moore (Hg.): Intitutional Constraints in Interaction, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins.
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