Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter 9783110608250, 9783110605877

During the Middle Ages, binary differences – such as orthodox/unbeliever, male/female, poor/rich – were essential elemen

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German Pages 243 [244] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter: Zur Einführung
Zwischen Grenzschärfung und Grauzonentoleranz
Vertreibung als Disambiguierung
In fremde Häute schlüpfen
Andersgläubigkeit als Herausforderung
Zur doppelten Ambiguität der Ethnizität
‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘?
Genitalien vor Gericht
Die Reichtümer derer, die die Welt für Bettler hielt
Disambiguierung im Bild
Register
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Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter
 9783110608250, 9783110605877

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Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter

Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung

Beihefte

Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann  und Thomas Honegger

Band 10

Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter Herausgegeben von Benjamin Scheller und Christian Hoffarth

ISBN 978-3-11-060587-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060825-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060595-2 Library of Congress Control Number: 2018954782 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Benjamin Scheller und Christian Hoffarth  Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter: Zur Einführung | 1 Franziska Klein  Zwischen Grenzschärfung und Grauzonentoleranz | 11 Benjamin Scheller  Vertreibung als Disambiguierung | 35 Rabea Kohnen  In fremde Häute schlüpfen | 61 Ute Verstegen  Andersgläubigkeit als Herausforderung | 77 Paul Predatsch  Zur doppelten Ambiguität der Ethnizität | 105 Michelle Waldispühl  ‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘? | 129 Christof Rolker  Genitalien vor Gericht | 151 Christian Hoffarth  Die Reichtümer derer, die die Welt für Bettler hielt | 175 Ann-Kathrin Hubrich  Disambiguierung im Bild | 205 Register | 233

Vorwort Das Gros der in diesem Band versammelten Aufsätze geht auf Referate auf der 21. Tagung des Brackweder Arbeitskreises für Mittelalterforschung zurück, die am 21. und 22. November 2014 am Campus Essen der Universität Duisburg-Essen stattfand. Originalbeiträge der beiden Herausgeber ergänzen das Tableau. Auf diese Weise vereint der Band Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf unterschiedlichen Karrierestufen und aus unterschiedlichen mediävistischen Disziplinen unter einem Leitthema, das in der Mittelalterforschung bisher wenig Beachtung gefunden hat. Für die finanzielle Förderung der zugrunde liegenden Tagung sind wir dem Prorektorat für Diversity Management der Universität Duisburg-Essen zu Dank verpflichtet. Wir danken außerdem Pamela Mannke-Gardecki für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte, den anonymen Reviewern für ihre wertvollen Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge, der Herausgeberin und den Herausgebern Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger für die Aufnahme des Bandes in die Beihefte zum „Mittelalter“ sowie, zu guter Letzt, allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Mitwirkung und ihr Engagement. Essen, im Dezember 2017 Benjamin Scheller & Christian Hoffarth

https://doi.org/10.1515/9783110608250-202

Benjamin Scheller und Christian Hoffarth

Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter: Zur Einführung Pluralität und Diversität von Kulturen und Gesellschaften stehen seit längerem im Zentrum des Interesses der Mittelalterforschung.1 Eine außerordentlich wichtige Dimension kultureller Diversität und Pluralität findet dagegen erst seit jüngstem verstärkt Beachtung: die kulturelle Ambiguität.2 Von besonderer Brisanz für die Erforschung der Bedeutung von Ambiguität für Individuen wie für Gruppen ist das Problem der ‚Ambiguitätstoleranz‘. Der Begriff stammt aus der Individualpsychologie und wurde 1949 von Else FRENKEL-BRUNSWICK eingeführt, um zu bezeichnen, wie Personen uneindeutige Situationen oder Stimuli wahrnehmen und verarbeiten. FRENKELBRUNSWICK zufolge erleben Personen mit geringer Ambiguitätstoleranz bei Ambiguität Unwohlsein, Stress oder gar Angst, reagieren daher voreilig und vermeiden, wenn möglich, ambige Stimuli bzw. weisen ambige Situationen ab. Personen mit hoher Ambiguitätstoleranz hingegen nehmen ambige Situationen oder Stimuli als angenehme und interessante Herausforderung wahr und verleugnen oder verzerren daher auch nicht Komplexität oder Inkongruenz, die ambigen Situationen zugrunde liegt.3 Zur Bestimmung der individuellen Ambiguitätstoleranz wurden verschiedene Skalen entwickelt, beispielsweise zur Messung des Umgangs mit Rollenambiguität in der Organisationspsychologie.4 Bis heute spielt das Konzept der Ambiguitätstoleranz in der Psychologie der Uneindeutigkeit und Ungewissheit eine wichtige Rolle.5 Seit den 1980er Jahren wurde sodann das Konzept der kulturellen Ambiguität entwickelt, wobei wiederum von Beginn an der Ambiguitätstoleranz eine zentrale Rolle zugeschrieben wurde. Donald LEVINE formulierte 1985 die These, dass Kulturen sich in dem Grad unterschieden, in welchem sie sprachliche und gedankliche Ambiguität zuließen.6 In einer Analyse der jüdischen Lyrik im al-Andalus des Früh- und Hochmittelalters gebrauchte Ross BRANN 1991 erstmals den Begriff der ‚kulturellen

|| 1 Vgl. etwa Michael BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002. 2 Thomas BAUER, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 3 Else FRENKEL-BRUNSWICK, Tolerance toward Ambiguity as a Personality Variable, in: The American Psychologist 3 (1949), S. 268. 4 John R. RIZZO, Robert J. HOUSE u. Sidney I. LIRTZMAN, Role Conflict and Ambiguity in Complex Organizations, in: Administrative Science Quarterly 15 (1970), S. 150–163. 5 Adrian FURNHAM u. Joseph MARKS, Tolerance of Ambiguity: A Review of the Recent Literature, in: Psychology 4 (2013), S. 717–728 (http://dx.doi.org/10.4236/psych.2013.49102, letzter Zugriff am 30.11.2017). 6 Donald N. LEVINE, The Flight from Ambiguity. Essays in Social and Cultural Theory, Chicago 1985, S. 21: „Cultures differ with regard to the scope they allow for the exercise of those ambiguities which inhere in speech and thought.“ https://doi.org/10.1515/9783110608250-001

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Ambiguität‘. Er liefert zwar keine explizite Definition, versteht darunter jedoch augenscheinlich die Offenheit von Personen für divergierende kulturelle Stimuli (cultural stimuli) als Resultat einer ethnisch-religiös pluralen Gesellschaft wie der des mittelalterlichen al-Andalus.7 Anknüpfend an LEVINE und BRANN hat unlängst der Islamwissenschaftler Thomas BAUER abermals darauf hingewiesen, dass Kulturen und Epochen sich in starkem Maße dadurch unterschieden, „wie Menschen Mehrdeutigkeit, Vagheit, Vielfalt und Pluralität empfinden und wie sie damit umgehen.“8 Obschon also die Forschung Ambiguität und Ambiguitätstoleranz als bedeutsame Analysekategorien für das Verständnis von Struktur und Funktion historischer Gesellschaften registriert hat, ist ihr Stellenwert im Mittelalter gegenwärtig noch weitestgehend unklar. Auf der einen Seite ist von einer „vermeintliche(n) ‚Ambiguitätsferne‘ der mittelalterlichen Kultur und Literatur“ die Rede, die es gelte, „auf den Prüfstand zu stellen.“9 Auf der anderen Seite hat man die Auffassung vertreten, es sei im Übergang von der Vormoderne zur Moderne zu einem umfassenden Verlust kultureller Ambiguität und Ambiguitätstoleranz gekommen, die die vormodernen und nichtwestlichen Kulturen geprägt habe.10 Wie viel Ambiguität ließen die sozialen Ordnungen des Mittelalters also zu, in welchen Konstellationen wurde Ambiguität problematisiert und als Gefahr eingestuft und was waren auf der anderen Seite die Bedingungen der Möglichkeit kultureller Ambiguitätstoleranz im Mittelalter? Dies sind die Fragen, die im Zentrum dieses Bandes stehen. Die größte theoretisch-methodologische Herausforderung für die Ergründung dieser Fragen in interdisziplinärer Perspektive liegt bereits im Begriff der Ambiguität selbst, denn dieser „ist, was er beschreiben soll“, nämlich mehrdeutig.11 Mit Ambiguität bezeichnen Linguistik, Rhetorik, Literatur- und Kunstwissenschaft Unterschiedliches. Das Spektrum der Begriffsinhalte umfasst Bedeutungen wie Zweideutigkeit, Doppeldeutigkeit, Uneindeutigkeit, Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Vagheit. Um dem Begriff der Ambiguität ein klareres Profil zu geben, hat man daher wiederholt versucht, ihn auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückzuführen und für Phänomene der Zwei- oder Doppeldeutigkeit zu reservieren (lat. ambiguitas,

|| 7 Ross BRANN, The Compunctious Poet. Cultural Ambiguity and Hebrew Poetry in Muslim Spain, Baltimore 1991, S. 39; vgl. BAUER (Anm. 2), S. 39. 8 BAUER (Anm. 2), S. 13. 9 Oliver AUGE u. Christiane WITTHÖFT, Zur Einführung: Ambiguität in der mittelalterlichen Kultur und Literatur, in: DIES. (Hgg.), Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption (Trends in Medieval Philology 30), Berlin, Boston 2016, S. 1–19, hier S. 2. 10 LEVINE (Anm. 6); BAUER (Anm. 2); Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2012. 11 Marina MÜNKLER, Narrative Ambiguität: Semantische Transformationen, die Stimme des Erzählers und die Perspektiven der Figuren. Mit einigen Erläuterungen am Beispiel der Historia von D. Johann Fausten, in: AUGE u. WITTHÖFT (Anm. 9), S. 113–156, hier S. 114.

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von lat. ambo, beide). Hieran knüpft die in den einzelnen Beiträgen entfaltete und erörterte Ausgangsüberlegung des Bandes an. Ambiguität meint in ihnen nicht in erster Linie einen Überschuss an Deutungsmöglichkeiten, sondern das Außerkraftsetzen kulturell und sozial institutionalisierter Formen des Unterscheidens, die Unmöglichkeit oder zumindest Schwierigkeit, gewohnte Unterscheidungen hinsichtlich spezifischer sozialer Praktiken und der Identität von Personen anzuwenden. Vielfach lässt sich in diesem Sinne gar eine doppelte Ambiguität diagnostizieren, nämlich erstens ein in den Quellen beobachtbares Außerkraftsetzen üblicher Formen des Unterscheidens bei den historischen Akteuren und zweitens die Unmöglichkeit bzw. Schwierigkeit der Anwendung gewohnter Unterscheidungen durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Statt also Ambiguität vor allem als soziale oder diskursive Pluralität zu denken, sollen in diesem Band vielmehr Unterscheidungen als die Möglichkeitsbedingung von Ambiguitätserfahrungen betrachtet werden und von Ambiguität dort gesprochen werden, wo der Versuch einer Ordnung des Sozialen durch Unterscheidungen mit Uneindeutigkeit konfrontiert wird. Die Ausgangshypothese des Bandes und der Beiträge, die in ihm versammelt sind, lautet, dass Ambiguität vor allem dort zur Herausforderung wird, wo sie solche Unterscheidungen verwischt und verunklart, die in einer Zeit, in einer Gesellschaft oder einem Feld kultureller Praxis für die Ordnungen des Sozialen besonders wichtig erscheinen. Denn im Falle grundlegender und häufig angewandter Unterscheidungen kann über die Irritation des gewohnten Unterscheidens nicht einfach hinweggegangen werden. Vielmehr muss die Herausforderung durch Ambiguität angenommen und in irgendeiner Weise bewältigt werden. In loser Anknüpfung an die Systemtheorie Niklas LUHMANNS lassen sich solche grundlegenden und häufig angewandten Unterscheidungen als ‚Leitdifferenzen‘ bezeichnen.12 Sie reduzierten gesellschaftliche Komplexität und strukturierten Kommunikation über lange Zeiträume hinweg und in ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten. Gleichzeitig sind sie jedoch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, da sie Zugehörigkeiten bezeichneten, die über den Zugang zu knappen Gütern und über die Zuschreibung sozialer Anerkennung entschieden. Ambiguitätstoleranz erscheint dort unwahrscheinlich, wo Uneindeutigkeit diese Leitdifferenzen betrifft, da in solchen Fällen die durch die Leitdifferenzen konstituierte Ordnung als Ganze in Frage gestellt wird. Ist in entsprechenden Situationen aber doch Toleranz beobachtbar, so erscheint sie umso erklärungsbedürftiger, stellt sich doch die Frage, wie eine Gesellschaft die Verunklarung einer ihrer Leitdifferenzen aushalten konnte und auf welche anderen Weisen Zugehörigkeiten, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und soziale Anerkennung unter diesen Umständen verhandelt wurden.

|| 12 Niklas LUHMANN, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S. 19.

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Die Beiträge in diesem Band nehmen unterschiedliche Unterscheidungen und ihre Ambiguierung in den Blick, die als Leitdifferenzen der sozialen Ordnung des Mittelalters betrachtet werden können, ohne freilich den Anspruch zu erheben, sämtliche Leitdifferenzen der sozialen Ordnung des Mittelalters abzudecken. Am Anfang steht die Differenz der Religion, die in der Vormoderne ohne Zweifel einen der primären Faktoren für die Konfiguration der Gesellschaft und die Verortung von Personen und Personengruppen im gesellschaftlichen Gefüge, kurz: für die Ordnung des Sozialen darstellte. Dementsprechend stünde zu vermuten, dass Phänomenen von Ambiguität in Hinblick auf die Unterscheidung christlich/nicht-christlich bzw. rechtgläubig/andersgläubig im christlich-abendländischen Raum mit einem äußerst geringen Maß an Toleranz begegnet wurde. Schon der bloße Befund der Existenz „einer ambigen Figur, die beide Seiten – Judentum und Christentum – in sich vereint“, von dem Franziska KLEIN in ihrer Untersuchung jüdischer Konvertiten zum Christentum im England des 13. Jahrhunderts ausgehen kann, ist daher überraschend. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung wirft KLEIN die Frage auf, „in welchen konkreten Situationen Disambiguierung erforderlich wurde, in welchen dagegen Ambiguität tolerierbar erschien.“ Anhand der Beurteilung von Konversion und des Umgangs mit Konvertiten durch kirchliche und weltliche Akteure kann sie zeigen, dass zwar Normsetzungen stets auf Disambiguierung zielten, unklare religiöse Positionierungen in der Lebenswirklichkeit jedoch nur in Konfliktfällen problematisiert wurden. Diese Kluft zwischen Norm und Praxis ist denn auch in den verschiedenen Erscheinungen von Ambiguität, die der vorliegende Band behandelt, immer wieder zu beobachten. In den Aktivitäten der englischen Krone, die KLEIN im Weiteren behandelt, wird deutlich, wie sehr sogar die Haltung einzelner Akteure situationsabhängig war. So schuf Heinrich III. mit der domus conversorum 1232 in London eine Fürsorgeinstitution für zum Christentum konvertierte Juden, die als Einrichtung zum Zweck der Grenzschärfung und Ambiguitätsprävention gesehen werden könne. Beispiele von Konvertiten in Königsdiensten belegten aber auch eine bewusste Nutzbarmachung ambiger religiöser Positionen. So bekleidete etwa der Konvertit Henry of Winchester als Favorit Heinrichs III. und Eduards I. diverse vertrauensvolle Ämter, für deren Erfüllung ihm sein Status als conversus et Judaeus in vielerlei Weise von Vorteil gewesen sei. Der Umgang mit Konvertiten, denen offenbar per se das Signum des Ambigen anhaftete, bewegte sich im spätmittelalterlichen England demnach zwischen Grenzschärfung und Grauzonentoleranz. Der Bedeutung ebendieser ambigen religiösen Identität von Konvertiten für die allmähliche religiöse Entpluralisierung Europas seit etwa 1200 spürt Benjamin SCHELLER nach. In einer vergleichenden Betrachtung der Motivlage bei den Vertreibungen von Juden aus England 1290, aus Frankreich 1394, aus Spanien 1492 sowie von Juden, konvertierten Juden und deren Nachkommen aus Neapel 1510 kristallisiert sich die Ausmerzung einer offenbar als gefährlich empfundenen uneindeutigen reli-

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giösen Lebensführung als ein gemeinsames Ziel spätmittelalterlicher Judenvertreibungen heraus. Die Tatsache, dass jüdische Konvertiten zum Christentum zum Teil in ihrer alten Kultur verblieben, ja „regelrecht zwischen Kirche und Synagoge oszillierten“, wodurch „die Grenze zwischen den religiösen Gemeinschaften unscharf wurde“, führten christliche europäische Herrscher auf den Einfluss der Juden zurück, die die Konvertiten dazu verführen wollten, ins Judentum zurückzukehren. Die Ausweisungen zielten dementsprechend darauf, die Kontakte zwischen Konvertiten und Juden zu unterbinden und damit auf eine Disambiguierung religiöser Identität. Sowohl im Alhambra-Edikt von 1492 als auch in den Edikten Ramons de Cardona für Neapel im Jahr 1510 kommt dies gar expressis verbis zum Ausdruck. Die sich im späteren Mittelalter steigernden Bemühungen um religiöse Disambiguierung sieht SCHELLER eingebettet in ein generelles Bestreben nach Vereinheitlichung der Kirche und Vereindeutlichung der Unterscheidung „zwischen wahr und falsch in der Religion“, die sich etwa auch in der Etablierung scholastischer Distinktionsmethoden und im Konziliarismus niederschlug. Dass die Verunklarung der Leitdifferenz des Glaubens keineswegs nur als prekär wahrgenommen, sondern durchaus auch kreativ anverwandelt werden konnte, zeigt Rabea KOHNEN, die die bewusste Auflösung religiöser Identitäten als Differenzmarker zwischen Eigenem und Anderem in der mittelhochdeutschen Brautwerbungsepik untersucht. Im heute gemeinhin in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datierten ‚Salman und Morolf‘ macht sie unterschiedliche „Techniken der Ambiguitätserzeugung“ aus, die vermeintlich apodiktische Grenzen zwischen Christen, ‚Sarazenen‘ und Juden verunklaren. So werden die ‚Sarazenen‘ in auffälliger Weise als tugendhaft, fromm und gerecht, ihre Religion als akzeptabel und dem Christentum nicht unähnlich dargestellt. Die sarazenischen Antagonisten, die anderswo in der Regel als gewissen- und gottlose Kreaturen erscheinen, reflektieren im ‚Salman und Morolf‘ die „Idealvorstellung des Eigenen“ und können geradezu als „die besseren Christen“ angesehen werden. In ähnlicher Weise werden auch die Titelhelden der Erzählung mittels Mehrfachkodierung in eine religiöse Grauzone gerückt. Schon in der impliziten Identifikation des Christen Salman mit dem jüdischen König Salomon sei diese Erzählstrategie angelegt. Vor allem aber in der erschütternden Episode, in der Morolf kaltblütig einen Juden ermordet und sich zum Zweck der Camouflage dessen Haut ausleiht, würden „die Äußerlichkeit, Veränderbarkeit, Vielschichtigkeit und Ambiguität religiöser Identität“ vor Augen gestellt. Während Salman und Morolf mal mit dem Christentum, mal mit dem Judentum assoziiert werden, bleibt der Leser über die religiöse und moralische Identität der Prinzessin Salme durchweg im Unklaren. Bar jeglicher Skandalisierung kann sie mehrfach zwischen den Religionen hin- und herwechseln. Der Text spielt mit gängigen Differenzierungen, kehrt sie um und verwischt sie, um mithilfe von Ambiguitäten gängige narrative Muster zu durchbrechen, Irritation und Komik zu erzeugen. Gerade

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dadurch bestätigt er aber freilich die Bedeutung jener Differenzierungen für die sozialen Diskurse seiner Zeit. Vom Leser verlange er „weniger Ambiguitätstoleranz als vielmehr eine spezifische Ambiguitätskompetenz“, urteilt KOHNEN. Religiöse Ambiguität nicht von Personen, sondern von Orten rückt schließlich im Beitrag Ute VERSTEGENS in den Fokus. Sie thematisiert die multireligiöse Nutzung von Kult- und Verehrungsstätten im syro-palästinischen Raum in Spätantike und Mittelalter und wirft die Frage auf, welche Schwierigkeiten die räumlichen Konvergenzen vor dem Hintergrund der Leitdifferenz der Religion mit sich brachten. Neben dem Sergios-Heiligtum im syrischen Resafa, dessen gemeinsame Verehrung durch Christen und Muslime vom 8. bis ins 13. Jahrhundert belegt ist, dienen vor allem Pilgerstätten in Jerusalem als eindrückliche Exempel. Einer der wenigen Orte, die von allen drei monotheistischen Religionen verehrt werden, ist das Davidsgrab auf dem Sion, das bis ins 13. Jahrhundert in christlicher Hand war, anschließend in muslimischen und 1948 in jüdischen Besitz überging. Durch eine zusätzliche Ebene der Ambiguität zeichnet sich die wenig bekannte Grotte der heiligen Pelagia auf dem Ölberg aus, in der alle drei Religionen die Ruhestätte einer jeweils anderen als heilig verehrten Frauengestalt sehen. Doch auch solch zentrale christliche Glaubensorte wie die Jerusalemer Auferstehungskirche und die Bethlehemer Geburtskirche zeugen von ausgehaltener Ambiguität: In beiden hatten sich im 10. Jahrhundert feste muslimische Gebetsräume etabliert, und in letzterer wurde gar die Ostersamstagsliturgie des heiligen Feuers spätestens seit dieser Zeit unter performativer Beteiligung von Muslimen verrichtet. Zwar macht VERSTEGEN vereinzelte Situationen aus, in denen der ambige Status der Verehrungsstätten zu Reibungen führte, diese entzündeten sich aber vor allem an den Glaubenspraktiken der anderen Gruppen, nicht am multireligiösen Status der Orte per se. Alles in allem scheint die räumliche Konvergenz für die in Betracht stehenden religiös differenten Bevölkerungsgruppen kein grundsätzliches Problem dargestellt zu haben, das Maß der Ambiguitätstoleranz war hier offenbar beachtlich hoch. Mit Paul PREDATSCHS Studie zur „doppelte[n] Ambiguität von Ethnizität“ gerät die Volkszugehörigkeit als soziale Leitdifferenz in den Blick. In einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung zum Terminus ‚Ethnie‘ und angelagerten Begriffen wie ‚Volk‘ und ‚Stamm‘ in der Frühmittelalterforschung seit dem 18. Jahrhundert legt er zunächst offen, wie ambivalent die genannten Begrifflichkeiten stets gebraucht wurden und werden. Das Spektrum reicht von „holistisch-identitären“ Vorstellungen von Ethnien als primordial-überzeitlichen Handlungsträgern bis zu ihrer Konzeptionalisierung als rein sozial konstituierte Gebilde. Da die Quellenbefunde in der Tat nur das letztere zuließen, sei Ethnizität, bei der es sich ohnehin um ein modernes Konzept handle, entgegen nach wie vor gängigen historiographischen Narrativen für die Beschreibung frühmittelalterlicher Beziehungssysteme und Migrationsbewegungen nur von untergeordnetem Wert. Beispiele aus dem 3. bis 8. Jahrhundert machen erkennbar, dass vermeintlich ethnische ‚Labels‘ wie Franci, Gothi, Romani oder Iutae

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z. B. auch einer politischen, religiösen, ökonomischen oder professionalen Unterscheidung dienen konnten und also selbst hochgradig ambige sind. PREDATSCH gibt außerdem zu bedenken, dass nicht nur die historiographische, sondern auch die zeitgenössische Konstruktion einer Gruppe von außen und damit verbundene Zuschreibungen an dieselbe keineswegs eine faktische oder gefühlte Entsprechung in einem Innen haben mussten. Er spricht sich für eine historische Betrachtung von Gruppierungen aus, die die Vielfalt sozialer Leitunterscheidungen integriert und dementsprechend dem Konzept der Intersektionalität Rechnung trägt. Ganz ähnlich wie PREDATSCH muss auch Michelle WALDISPÜHL feststellen, dass die bisherige Forschung zu ihrem Gegenstand selbst bei äußerst problematischer Sachund Quellenlage dazu neigte, eindeutige ethnische Zuordnungen anzustellen. Im berühmten Reichenauer Verbrüderungsbuch finden sich unter fast 40.000 Nameneinträgen etwa 740 ‚nordgermanische‘, ganz überwiegend wohl zu Pilgerreisenden gehörend. Der größte Teil dieser Eintragungen steht in Eintragskollektiven des 11. und 12. Jahrhunderts und wurde von deutschen Schreibern vorgenommen, wobei es zu phono-graphematischen und lexikalischen Transfers der Anthroponyme kam, die sich in ambigen Namensformen niederschlagen. In linguistischer Perspektive geht WALDISPÜHL der Frage nach, wie und ob sich die betreffenden Anthroponyme tatsächlich systematisch als ‚deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘ klassifizieren lassen und auf welche Weise die Einträge zustande kamen. Als grundlegend für ein solches Unterfangen gilt ihr die Unterscheidung zwischen der etymologischen Ebene des Anthroponyms (type) sowie des einzelnen Belegs im Verbrüderungsbuch (token). Da auf ein ‚nordgermanisches‘ Anthroponym vielfach eine ganze Reihe verschiedener Schreibweisen kommt, die fast durchweg jeweils einer Schreiberhand zugeordnet werden können und in der großen Mehrzahl deutschsprachige Interferenzen aufweisen, ließe sich darauf schließen, dass die Einträge größtenteils durch das Diktat nordgermanischer Namensträger an deutsche Schreiber entstanden. Unter den sogenannten ‚nordgermanischen‘ Namen lassen sich allerdings auch solche ausmachen, die sowohl im nordischen als auch im deutschen Onomastikon vorkommen und nicht eindeutig zugeordnet werden können. Diese Belege müssen als ambig stehenbleiben und reflektieren somit in geradezu paradigmatischer Weise auf die ambiguitätsproduzierenden Effekte (nicht nur) mittelalterlicher Sprach- und Kulturkontakte. In aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen des frühen 21. Jahrhunderts hat sich neben der ethnischen vor allem eine Leitdifferenz der sozialen Ordnung als besonders brisant und umkämpft erwiesen: diejenige von männlich und weiblich. Christof ROLKER untersucht, wie geschlechtlich uneindeutige Körper im gelehrten Recht und der gerichtlichen Praxis des Mittelalters beurteilt wurden. Insbesondere durch die Bologneser Juristen Azo († 1220) und Rolandino Passeggeri († um 1300) sei die Geschlechterdifferenz, die in den Digesten und Institutionen noch eine sekundäre Rolle gespielt habe, im Personenstandsrecht des Spätmittelalters zur „primo divisio“ aufgewertet worden. Die Existenz von Hermaphroditen wurde dabei zwar offen und ohne

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Skandalisierung eingestanden, als juristische Geschlechter wurden aber doch nur das männliche und das weibliche gehandelt. Im Zweifelsfall sollte sich eine Person selbst dem einen oder dem anderen zurechnen, wobei körperliche Merkmale immer weiter in den Hintergrund traten. Anhand von vier Fallbeispielen, einem erbrechtlichen und drei eherechtlichen Konfliktfällen des 14. Jahrhunderts, führt ROLKER vor, wie diese Theorien vor Gericht umgesetzt wurden. Uneindeutige Genitalanatomien waren in der gerichtlichen Praxis des Spätmittelalters offenbar weder ein Skandalon noch ein Hindernis für das Leben als Mann oder Frau. Dem körperlichen Geschlecht wurde insbesondere in Hinblick auf die Gültigkeit einer Ehe zwar durchaus Bedeutung beigemessen – die Möglichkeit zum Vollzug der Ehe musste gewährleistet sein –, eine uneindeutige Anatomie widersprach aber nicht der eindeutigen Zuordnung zu einem sozialen Geschlecht. Da hermaphroditische Körper offenbar nicht als ambivalent wahrgenommen worden seien, könne von Ambiguitätstoleranz allerdings kaum die Rede sein, erklärt ROLKER. Lediglich die Möglichkeit eines einmaligen, „sozial kontrollierten“ Wechsels von einem Geschlecht zum anderen, die im Mittelalter unter bestimmten Umständen gegeben war, könne es insbesondere im Vergleich mit dem 16. und 17. Jahrhundert rechtfertigen, von Ambiguitätstoleranz zu sprechen. Ausgehend von den Kontroversen über das Armutsmodell der Bettelorden im 13. und frühen 14. Jahrhundert fragt Christian HOFFARTH nach der Bedeutung der Leitdifferenz arm/reich für das religiöse und soziale Denken des Mittelalters. Die aus der Bibel abgeleitete Unterscheidung der gesamten Menschheit in Arme und Reiche habe im späteren Mittelalter neben anderen, häufig dreigliedrigen sozialen Deutungsschemata gestanden. Franziskaner und Dominikaner hätten das binäre Modell aber vorgezogen, da sie mittels dessen Simplizität der Marginalisierung der unfreiwillig Armen in der ungeahnt komplex gewordenen Stadtgesellschaft entgegenwirken konnten. Anhand zentraler Schriften zur Verteidigung der freiwilligen Armut aus den Federn Thomas von Aquins, Bonaventuras und Petrus Olivis erkundet HOFFARTH, „welchen Wert die mendikantischen Autoren dieser Differenz beimaßen und wie sie sich gegenüber etwaigen Verunklarungen positionierten.“ Erscheinungen von Ambiguität innerhalb der Ordnung von Arm und Reich machten die genannten Theologen demnach vor allem an zwei Stellen aus, nämlich erstens beim Armutsbegriff selbst, der materiell, aber auch rein moralisch verstanden werden konnte, und zweitens bei den kirchlichen Gemeingütern und der klösterlichen Gütergemeinschaft, die individuelle Armut mit kollektivem Reichtum verbanden. In Bezug auf beides könne das ursprüngliche mendikantische Armutsideal als Disambiguierungsstrategie verstanden werden. Das Maß an Toleranz, das spätere Vordenker der Bettelorden „Verunklarungen der Leitdifferenz arm/reich entgegenbrachten“, sei allerdings „abhängig vom Ziel ihres Denkens“ gewesen. Auch Ann-Kathrin HUBRICH nimmt insbesondere Strategien der Disambiguierung in den Blick. Sie interpretiert die künstlerische Ausgestaltung von Gerichtsorten in

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der Frühen Neuzeit als Reflex auf Verunklarungen der Leitunterscheidung Recht/Unrecht. Die Verlagerung der Rechtsprechung von öffentlichen Orten unter freiem Himmel in geschlossene Gerichtsräume und der damit einhergehende Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Entscheidungsprozess am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit habe ein juridisches Arkanum hervorgebracht. Hatte die Rechtsfindung ihre gleichsam metaphysische Legitimation zuvor durch die Öffentlichkeit des Prozesses gewonnen, lief das Rechtssystem durch den räumlichen Abschluss nun Gefahr, nicht mehr glaubhaft und eindeutig zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können. Diese Lücke sei mit Gerechtigkeitsbildern an den Orten der Rechtsprechung geschlossen worden, die daher als Medien der Disambiguierung verstanden werden könnten. Als charakteristische Beispiele dienen die zwischen 1573 und 1607 ausgeführten Bildprogramme des Lüneburger Niedergerichts sowie der Großen Ratsstube ebendort. Die aus biblischem Repertoire geschöpften religiösen Historiendarstellungen im nach außen offenen Niedergericht führten gezielt die Reziprozität von Recht und Unrecht vor Augen, definierten beide in Abgrenzung zueinander. In den Bildern würde zudem die Öffentlichkeit vergegenwärtigt und dadurch wieder in den Rechtsfindungsprozess einbezogen. Durch die ikonographisch vergleichbare Ausstattung der innenliegenden Ratsstube, in der unter anderem das Niedergericht selbst visualisiert ist, entsteht sodann eine gegenseitige epistemologische Bezüglichkeit zwischen Innen und Außen, wodurch zuletzt sowohl die Gefahr der Ambiguitätsbildung durch Ausschluss der Öffentlichkeit als auch die prinzipielle Unschärfe der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht außer Kraft gesetzt werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass binäre Leitdifferenzen in der Tat eine konstitutive Funktion für die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter gehabt zu haben scheinen. Die zentralen Unterscheidungen waren jedoch nicht deckungsgleich mit denjenigen der Frühen Neuzeit oder gar der Moderne. So spielten beispielsweise zumindest im Frühmittelalter Ethnien als Differenzmarker offenbar kaum eine Rolle, und noch im Spätmittelalter war die späterhin apodiktische Geltung erlangende zweigliedrige Unterscheidung des körperlichen Geschlechts wenigstens in der Rechtstheorie ungebräuchlich. Für im Mittelalter als wesentlich geltende Leitunterscheidungen wie diejenige der Religion, des sozialen bzw. juristischen Geschlechts, des ökonomischen oder rechtlichen Status indes lassen sich vielerlei Situationen der Verunklarung ausmachen, die situativ entstehen, aber auch intentional hervorgebracht werden konnten. Eine pauschale Beurteilung von Ambiguität als etwas Negativem kann der Vormoderne nicht unterstellt werden. Wann und wo eine Leitdifferenz überhaupt als verunklart wahrgenommen und also der Status einer Person, eines Ortes, eines Konzepts als ambige empfunden wurde, hing überdies offenbar stets ab von der gesellschaftlichen Position und damit der Blickrichtung der Beobachter und Akteure. Problematisiert wurde empfundene Ambiguität nur dann, wenn in ihr eine Gefahr für die soziale Ordnung gesehen wurde. In solchen Fällen griffen die Akteure zu unterschiedlichsten

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Mitteln der Disambiguierung, die von gewaltsamen Maßnahmen über lokale Einhegungs- und Abgrenzungsstrategien bis hin zu ideellen Umdeutungen und semantischen Neubesetzungen reichten. Das Mittelalter erweist sich also einmal mehr als erstaunlich plural und divers – nicht nur in seinem kulturellen und sozialen Gefüge, sondern auch in den kreativen Mechanismen der Ordnungsproduktion.

Franziska Klein

Zwischen Grenzschärfung und Grauzonentoleranz Religiöse Ambiguität und jüdische Konvertiten im England des 13. Jahrhunderts Zusammenfassung: Die Unterscheidung von Christen und Nicht-Christen bildete im europäischen Mittelalter eine weitreichende Differenzierungskategorie, die erhebliche Auswirkungen nicht nur im religiösen, sondern auch im politischen oder juristischen Bereich hatte. Dieser Beitrag untersucht die Relevanz der Kategorien der Ambiguität und Uneindeutigkeit für diese Unterscheidung am Beispiel der Konversion vom Judentum zum Christentum vor allem im England des 13. Jahrhunderts. Es wird anhand verschiedener Konfliktsituationen aufgezeigt, wie Ambiguität in Alltagssituationen zwar tolerabel gewesen sein mag, in vor allem obrigkeitlichen Entscheidungssituationen aber häufig nicht mehr. Darüber hinaus wird die konkrete Politik der englischen Könige Heinrichs III. und Eduards I. auf diese Kategorien hin befragt und dargelegt, wie die beiden Monarchen im Allgemeinen mit Hilfe ihrer domus conversorum einen Fokus auf Disambiguierung legten, in besonderen Fällen, so bei Konvertiten in ihren eigenen Diensten, aber Grauzonen tolerierten und Eigenschaften nutzten, die an anderer Stelle konfliktauslösend sein konnten. Die englischen Könige bewegten sich damit zwischen Grenzschärfung und Grauzonentoleranz. Dieser Beitrag spürt diesem ambigen Verhältnis zur Ambiguität nach. Schlüsselwörter: Konversion, Konvertiten, Judentum, Christentum, England, Grenzgänger, Zwangstaufen Non erat conveniens, ut praedictus conversus et Judaeus haberet tantam potestatem super Christianos.1 Mit diesen Worten begehrte Thomas Cantilupe (ca. 1218–1282), Bischof von Hereford, einem zeitgenössischen Chronisten zufolge gegen Eduard I. von England (1239–1307) auf.2 Sie richteten sich nicht gegen den König selbst – der || 1 Acta Sanctorum Octobris. Ex Latinis et Graecis, aliarumque gentium Monumentis, servata primigenia veterum Scriptorum phrasi, collecta, digesta, commentariisque et observationibus illustrata. Tomus I. Quo dies primus et secundus continentur, hrsg. v. Joannes STILTINGO u.a., Antwerpen 1765, ND Brüssel 1970, S. 547. 2 Bei dem Chronisten, dem dieser Bericht aus den Acta Sanctorum zugeschrieben wird, handelt es sich um Ralph de Hengham (1235–1311). Er war Mitglied des königlichen Rates und Richter am Court of Common Pleas. Vgl. Robert C. STACEY, The Conversion of Jews to Christianity in Thirteenth-century || Franziska Klein M.A., Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen, Universitätsstraße 12, 45141 Essen, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-002

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war unbestreitbar keineswegs Jude –, sondern gegen dessen und seines Vaters langjährigen Getreuen Sir Henry von Winchester.3 Dieser Henry war tatsächlich als Jude geboren und unter Anwesenheit seines Paten und Königs Heinrichs III. (1207–1272) getauft worden, welcher ihn auch später zum Ritter schlug.4 Nach dem Willen Eduards sollte er eine entscheidende Rolle in den königlichen Verfahren gegen christliche und jüdische Münzverbrecher einnehmen.5 Henry war hierfür kein ungeeigneter Kandidat, war er doch zuvor schon an Ermittlungen gegen Münzverbrecher beteiligt gewesen.6 Aber in den Augen seines Zeitgenossen disqualifizierte den Konvertiten seine jüdische Herkunft auch noch nach Jahren des Königsdienstes und des christlichen Lebens, mehr noch, die Differenz zwischen Juden und Christen als solche scheint in diesem Augenblick in der Figur Henrys von Winchester aufgehoben zu sein. Henry war unbestreitbar – und unbestritten – Christ, conversus eben, aber gleichzeitig doch auch noch Jude.7 Ein Konvertit und Jude, der sprachlich gegen die ‚Christen‘ abgesetzt wird und damit als nicht vollständig in die christliche Gemeinschaft inkludiert gelten kann.8 Diese Beschreibung erscheint geradezu als die Konstruktion von etwas Drittem, einer ambigen Figur, die beide Seiten – Judentum und

|| England, in: Speculum 67 (1992), S. 263–283, hier S. 277 und zu Ralph de Hengham Paul BRAND, Hengham, Ralph (b. in or before 1235, d. 1311), in: Oxford Dictionary of National Biography 2004, Online-Ausgabe 2008, http://www.oxforddnb.com/view/article/12924 (aufgerufen am 1.10.2015). 3 Die Namen der englischen Könige werden im Folgenden in ihrer deutschen Form wiedergegeben, die Namen anderer Personen, insbesondere von Konvertiten, werden zur besseren Unterscheidung und zur Vermeidung von Verwechslungen in ihrer englischen Form genutzt. Wenn im Folgenden die Rede von ‚Konvertiten‘ ist, so wird, wenn nicht anders angegeben, um der verbesserten Lesbarkeit willen das generische Maskulinum verwendet und damit weibliche Konvertiten eingeschlossen. Lebensdaten von Konvertiten können in der Regel mangels entsprechender Überlieferung nicht angegeben werden. Zu Henry von Winchester siehe Belege unten. 4 Foedera, conventiones, literae, et cujuscunque generis acta publica, Bd. 1, hrsg. v. Thomas RYMER u. Robert SANDERSON, bearb. von Adam CLARKE, John CALEY u. Frederick HOLBROOK, London 1815, Teil 2, S. 557. 5 In den Acta Sanctorum wird berichtet, dass Christen ad ejus dictum et testimonium sive recordum ihr Leben verlieren könnten. Acta Sanctorum (Anm. 1), S. 547. Wie genau diese Rolle definiert war, ist in der Forschung umstritten. STACEY plädiert für die Position eines Richters, BRAND etwas wörtlicher für eine Position als entscheidender Zeuge. STACEY (Anm. 2), S. 277 u. Paul BRAND, Jews and the Law in England, in: The English Historical Review 115 (2000), S. 1138–1158, hier S. 1152–1153. 6 Siehe diese Darstellung Henrys von Winchester unten, besonders Anm. 116. 7 Dies meint offenkundig keine Form des praktizierten Judentums als Religion, sondern eine von Geburt bestehende, ethnisch-kulturelle Verankerung, deren Relevanz auch die Taufe nicht auslöschen konnte, was wiederum eine Unterscheidung von anderen Christen zur Folge hatte, wodurch ein neuer Status konstituiert wurde. Die Bedeutung solcher im Kern erblicher Verortungen kann an dieser Stelle nicht gesondert und umfassend diskutiert werden, stellt aber sicherlich einen nicht unwichtigen Ansatz dar. 8 Vgl. dazu auch die Ausführungen von SCHELLER bezüglich der inkludierenden Exklusion im Sprachgebrauch gegenüber jüdischen Konvertiten im spätmittelalterlichen Trani. Benjamin

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Christentum – in sich vereint und damit keiner vollständig zugehören kann.9 „By the middle of the thirteenth century in England, there was clearly an irreducible element to Jewish identity in the eyes of many Christians, which no amount of baptismal water could entirely eradicate, at least from a layman.“10 Es stellt sich die Frage, wie zuverlässig die anfangs zitierte Quelle das Geschehen wiedergibt. Es handelt sich zwar um den Bericht eines Mitglieds des Rates, dieser ist aber in narrative Strukturen, in das Dossier eines Heiligen, eingewoben und kann damit auch Konstruktion mit zweifelhaftem Wert sein. Im hier relevanten Kontext ist dies jedoch von geringerer Bedeutung, denn die Episode dient vor allem einem Zweck: Sie illustriert den Kern des Problems, dem sich diese Analyse widmen wird, der Ambiguität jüdischer Konvertiten bezüglich ihrer religiösen Zugehörigkeit und der Verunklarung der Unterscheidung von Juden und Christen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Sie ist damit ein Beleg dafür, dass genau diese Form von Ambiguität in der Wahrnehmung des (späten) Mittelalters eine Rolle spielte. Im Folgenden soll die Frage der kulturellen Ambiguitätstoleranz11 und ihrer Grenzen im Mittelalter in Bezug auf die zentrale Unterscheidung christlich/nicht-christlich am Beispiel der ursprünglich jüdischen Konvertiten im England des 13. Jahrhunderts untersucht werden.12 STOLLBERG-RILINGER machte – auch in Anlehnung an BAUERS Studie des Islams als einer Kultur der Ambiguität13 – deutlich, dass Disambiguierung in Bezug auf religiöse

|| SCHELLER, Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spätmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion (Europa im Mittelalter 22), Berlin 2013, S. 311–335. 9 Zur Theorie des Dritten siehe einführend Albrecht KOSCHORKE, Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, in: Eva ESSLINGER u.a. (Hgg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 9–31. 10 STACEY (Anm. 2), S. 278. 11 Der Begriff der Ambiguitätstoleranz stammt aus der Psychologie. NORTON beispielsweise definiert Ambiguitätstoleranz als „a tendency to perceive or interpret information marked by vague, incomplete, fragmented, multiple, probable, unstructured, uncertain, inconsistent, contrary, contradictory, or unclear meanings as actual or potential sources of psychological discomfort or threat.“ R. NORTON, Measurement of Ambiguity Tolerance, in: Journal of Personality Assessment 39 (1975), S. 607–619, hier S. 608; siehe zum Konzept im Allgemeinen u. a. Jack REIS, Ambiguitätstoleranz. Beiträge zur Entwicklung eines Persönlichkeitskonstruktes, Heidelberg 1997. 12 In den konkreten Problemfällen kann es dabei sowohl darum gehen, dass Unklarheit über den tatsächlichen Taufstatus eines Menschen bestand und dieser bis zur Klärung unbestimmt war, als auch darum – und dies sind die schwieriger aufzulösenden Probleme –, dass zwar der Taufstatus kirchenrechtlich bzw. nach jüdischem Recht eindeutig, Selbst- und Fremdzuschreibungen oder Verhaltensweisen aber abweichend oder uneindeutig waren. 13 Thomas BAUER, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. BAUER prägt einen sehr weiten Begriff kultureller Ambiguität: „Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander

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Zugehörigkeiten in der Vormoderne keineswegs immer und unter allen Umständen Handlungsziel der beteiligten Akteure sein musste.14 Es gilt daher zu fragen, in welchen konkreten Situationen Disambiguierung erforderlich wurde, in welchen dagegen Ambiguität tolerierbar erschien. Die Annahme liegt nahe, dass eine Handlungslogik des Entweder/Oder immer genau dann greifen muss, wenn ein konkreter Entscheidungsbedarf besteht. Aus dieser Überlegung folgt die Frage, unter welchen Umständen und von wem die Entscheidungsfrage gestellt wurde. Ambiguität ist keineswegs eine Eigenschaft, die ein Gegenstand oder eine Person per se besitzt, sondern sie ist immer Ergebnis der Konfrontation eines interpretierenden Akteurs mit einem zuzuordnenden Etwas. „Anders gesagt, ein Etwas kann nicht für sich alleine ambig sein, es braucht etwas (z. B. eine Person), für das dieses Etwas mehrdeutig ist.“15 Vielleicht wäre es daher auch sinniger, von ambigen Handlungen eines Konvertiten oder von Zuschreibungen der Ambiguität zu sprechen, anstatt von der ‚Ambiguität des Konvertiten‘.16

1 Ambiguität und jüdische Konversion Die Überlieferung zu Fragen der Konversion im Mittelalter ist umfangreich, gerade auch in den englischen Quellen des 13. Jahrhunderts sind zahlreiche Konvertiten be-

|| abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskussionen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließlich Geltung beanspruchen kann.“ Ebd. S. 27. Siehe als Überblick zum Begriff der Ambiguität aus verschiedenen Forschungsperspektiven und -disziplinen auch Matthias BAUER u. a., Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 40 (2010), S. 7–75. 14 Barbara STOLLBERG-RILINGER, Einleitung, in: Andreas PIETSCH u. Barbara STOLLBERG-RILINGER, Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 214), Heidelberg 2013, S. 9–26, hier S. 11. 15 René ZIEGLER, Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie. Begriffsverständnis und Begriffsverwendung, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 40 (2010), S: 125-171, hier S. 125–126. 16 Vgl. dazu die Kritik an der unzulässigen Reifizierung kryptoreligiöser Strukturen bei Maurus REINKOWSKI, Keine Kryptoreligion, aber doch kryptoreligiös. Zur Frage einer realen Existenz von Kryptojuden und Kryptochristen im islamisch gesprägten Mittelmeerraum und Nahen Osten, in: Andreas PIETSCH u. Barbara STOLLBERG-RILINGER, Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 214), Heidelberg 2013, S. 75–98, hier S. 95.

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legt. Da diese Überlieferung jedoch nur wenige explizite Antworten auf die hier relevanten Fragen bereithält, ist es notwendig, aus dem vorliegenden Material, vor allem aus den Ergebnissen und Beschreibungen von Handlungen, zu extrapolieren.17 Die Untersuchung basiert auf der Annahme, dass Ambiguitätstoleranz in Bezug auf jüdische Konvertiten im mittelalterlichen England sowohl Gegenstand normativer Grundsatzfragen und -entscheidungen als auch abhängig von den politischen Umständen und Interessen des Königs18 sein konnte. Die englische Krone betrieb im Allgemeinen eine Politik der Disambiguierung, im Besonderen aber wurden Grauzonen durchaus toleriert.19 Besonders lassen sich Unterschiede zwischen der Normsetzung christlicher – und jüdischer – Obrigkeiten bzw. Führungsschichten und der Alltagspraxis verschiedener Akteure beobachten. Wo normativ eine einzelne Unterscheidung greifen sollte, lassen sich im Alltag Mehrfachkodierungen20 und flexible Grenzen beobachten.21 Auf analytischer Ebene erscheint dabei die Untersuchung von Ambiguität und Uneindeutigkeit stets problembehaftet und muss mit Vorsicht vorge-

|| 17 Zu den englischen Konvertiten des 13. Jahrhunderts und der entsprechenden Quellenlage siehe u.a. Michael ADLER, Jews of Medieval England, London 1939; Donald F. LOGAN, Thirteen London Jews and Conversion to Christianity: Problems of Apostasy in the 1280s, in: Historical Research 45 (1972), S. 214–229; STACEY (Anm. 2); Joan G. GREATREX, Monastic Charity for Jewish Converts: the Requisition of Corrodies by Henry III., in: Studies in Church History 29 (1992), S. 133–143; Reva BERMAN BROWN u. Sean MCCARTNEY, Living in Limbo: The Experience of Jewish Converts in Medieval England, in: Guyda ARMSTRONG u. Ian N. WOOD, Christianizing Peoples and Converting Individuals (International Medieval Research 7), Turnhout 2000, S. 169–191; Lauren FOGLE, Between Christianity and Judaism: The Identity of Converted Jews in Medieval London, in: Essays in Medieval Studies 22 (2005), S. 107–116. Für die Extrapolation impliziten Wissens aus Handlungen haben sich vor allem praxeologische Ansätze bewährt. Siehe stellvertretend für und einführend in eine breite neuere Forschung Andreas RECKWITZ, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301 u. Sven REICHARDT, Praxeologische Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Geschichte 22 (2007), S. 43–65. 18 ‚König‘ und ‚Krone‘ werden im Folgenden als Kollektivakteur verstanden, also als ein Konglomerat von Handelnden, bestehend aus der Person des Königs, seinen Ratgebern, Kanzleischreibern u. a., deren einzelne Handlungen nicht zuverlässig zu differenzieren sind. 19 Unter „Grauzonen“ sollen dabei Grenzräume, liminale Zonen, verstanden werden, die strikte Grenzziehungen und Trennungen unterlaufen, die nicht eindeutig zuordenbar sind oder in denen Uneindeutigkeit akzeptiert bzw. praktiziert wird. 20 Siehe dazu Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS u. Therese STEFFEN (Hgg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte (Stauffenburg Discussion 4), Tübingen 1997, S. 7. 21 Zum Unterschied obrigkeitlicher und alltagspragmatischer Grenzziehungen siehe Haidee LORREY, Religious Authority, Community Boundaries and the Conversion of Jews in Medieval England, in: Ian P. WEI, Donald MOWBRAY u. Rhiannon PURDIE, Authority & Community in the Middle Ages, Stroud 1999, S. 85–99, besonders S. 95: „But we can see that in both cases, individuals operated with more fluent boundaries than those which religious authorities sought to impose upon them as members of a community. “

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nommen werden, da sie sich in einem Zusammenspiel von Selbst- und Fremdzuschreibungen, von historischer Untersuchung und zeitgenössischem Empfinden leicht verirren kann. Eng verwandt mit der Frage nach Ambiguität sind dabei auch die soziale Marginalisierung und Marginalität zahlreicher Konvertiten. Dies soll jedoch nicht der zentrale Fokus dieser Untersuchung sein, sondern bleibt im Wesentlichen weiteren Studien vorbehalten. Die Analyse des Gegenstandes erfolgt in drei Schritten. Zunächst wird nach den Ursachen von Ambiguität gefragt, um im Anschluss Zuschreibungen derselben anhand von Konfliktbeispielen und Zuordnungsentscheidungen in konkreten Handlungszusammenhängen in England zu untersuchen. Schließlich wird die Politik der englischen Könige des 13. Jahrhunderts in Bezug auf Grenzschärfung und Grauzonentoleranz am Beispiel der domus conversorum, einer von Heinrich III. gegründeten Einrichtung für konvertierte Juden, und des Königsdienstes in den Blick genommen. Am Beispiel Henrys von Winchester wurde das Problem der Ambiguität bei jüdischen Konvertiten bereits angedeutet. Sein Landsmann Robert Grosseteste (vor 1170– 1253), Bischof von Lincoln sowie ausgewiesener Philosoph und Theologe,22 verurteilte bereits im frühen 13. Jahrhundert akademisch den Versuch von Juden zu Zeiten der Urkirche, sowohl dem alten wie dem neuen Gesetz zugleich zu folgen.23 Sed dum volunt et Iudei esse et christiani, nec Iudei sunt nec christiani.24 Ob Grossetestes Werk sich auch auf aktuelle Probleme bezog, ist umstritten, es macht aber in jedem Fall deutlich, dass ein Problembewusstsein bezüglich religiöser Ambiguität bestand und dass das gleichzeitige Befolgen beider Lehren, des Christentums und des Judentums, auf deutliche Ablehnung stieß und sogar zur Zuschreibung einer Rolle außerhalb der bekannten Schemata führen konnte.25 Grosseteste war nicht der Erste und nicht der || 22 Zu Grosseteste siehe vor allem die zuletzt erschienenen Sammelbände Nicholas TEMPLE, John Shannon HENDRIX u. Christian FROST (Hgg.), Bishop Robert Grosseteste and Lincoln Cathedral: Tracing Relationships between Medieval Concepts of Order and Built Form, Farnham u. a. 2014; John L. FLOOD, James R. GINTHER u. Joseph Ward GOERING (Hgg.), Robert Grosseteste and his Intellectual Milieu: New Editions and Studies (Papers in Medieval Studies 24), Toronto 2013 u. Jack CUNNINGHAM (Hg.), Robert Grosseteste: His Thought and its Impact (Papers in Medieval Studies 21), Toronto 2012. 23 Robert Grosseteste, De Cessatione Legalium, hrsg. v. Richard C. DALES u. Edward B. KING (Auctores Britannici Medii Aevi 7), London 1986, S. 7; zuletzt auch in englischer Übersetzung: Robert Grosseteste, On the Cessation of the Laws, hrsg. u. übers. v. Stephen M. HILDEBRAND (The Fathers of the Church, Medieval Continuation 13), Washington D. C. 2012. Siehe den Bezug auf diese Stelle auch bei Richard SCHENK OP, Robert Grosseteste und die Hypothese einer königlichen Konversionspolitik. Überlegungen zur Frage nach dem praktischen Kontext mittelalterlicher Religionstheorien, in: Friedrich NIEWÖHNER u. Fidel RÄDLE (Hgg.), Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit (Hildesheimer Forschungen 1), Hildesheim, New York 1999, S. 25–41, hier S. 30. 24 Grosseteste (Anm. 23), S. 176. 25 Zur Diskussion über den Zeitbezug Grossetestes siehe SCHENK (Anm. 23). Entscheidend für den Zweck dieser Betrachtung ist allein seine Ablehnung uneindeutiger Zuordnungen zu den Religionsgemeinschaften. Diese darf wohl als zeitlos verstanden werden.

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Einzige, der die Juden um die Zeit Christi mit den englischen Juden des 13. Jahrhunderts parallelisierte. Entsprechendes ist beispielsweise auch in anglo-normannischen Gedichten zu finden.26 Noch deutlicher als Grosseteste wurde sein jüngerer Zeitgenosse Rabbi Meir von Rothenburg (Meir ben Baruch, ca. 1220–1293), auf dessen gedankliche Nähe zu englischen Quellen dieser Zeit bereits LORREY hingewiesen hat.27 Meir berichtet von einer Art Konvertit, der weder Christ noch Jude gewesen sei und der umherwanderte und mal als Christ und mal als Jude lebte, ganz, wie es ihm augenblicklich besser zugutekam.28 Nicht weit von diesem Typus entfernt waren auch jene jüdischen Söhne, die laut Rabbi Judah ben Samuel (1150–1217) ihren Eltern mit Konversion zum christlichen Glauben drohten, sollten sie ihren Lebensweg nicht tolerieren.29 Von diesen wäre wohl nach Vollzug der Drohung auch kaum ein eindeutig christliches Leben zu erwarten gewesen. Sie waren nicht die Einzigen, denen die jüdischen Gemeinden mit Skepsis gegenüberstanden. Meirs Schüler Rabbi Ascher ben Jechiel (1250/1259–1327) berichtet zum Beispiel von zwangsgetauften Juden, die ihren Glaubensgenossen bereits vor diesem Ereignis suspekt waren. Dies mag aber auch Rückprojektion sein.30 Aber eben nicht nur jüdische, auch christliche Autoritäten und Obrigkeiten problematisierten die Beobachtung ambigen Verhaltens. Geradezu paradigmatisch sind die Beschlüsse des vierten Laterankonzils (1215). Dieses setzte sich nicht nur mit kirchlichen Strukturen, Häretikern und Juden auseinander, sondern auch mit Konvertiten. Diese, so die Konzilsväter, müssten zur Observanz des Glaubens gezwungen werden, behielten doch manche „Reste der früheren Lebensform bei“, zögen „den alten Menschen nicht ganz aus“ und „entstellen durch solche Vermischung den

|| 26 Siehe das Beispiel bei Maureen BOULTON, Anti-Jewish Attitudes in Anglo-Norman Religious Texts. Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Michael FRASSETTO (Hg.), Christian Attitudes toward the Jews in the Middle Ages: A Casebook (Routledge Medieval Casebooks 37), New York, London 2007, S. 151– 165, hier S. 161–162. 27 LORREY (Anm. 21), S. 93–94. Im Folgenden werden mehrfach Beispiele aus verschiedenen Regionen Europas angeführt. Diese sind aufgrund der engen Verbindungen und kulturellen Nähe der englischen Juden zu ihren kontinentalen Glaubensgenossen und im Sinne eines größeren Bildes von Relevanz. Zur Verknüpfung der englischen Juden mit dem Kontinent siehe auch Paul R. HYAMS, The Jews in Medieval England, 1066-1290, in: Alfred HAVERKAMP u. Hanna VOLLRATH (Hgg.), England and Germany in the High Middle Ages. In Honour of Karl J. Leyser, London 1996, S. 173–192, hier S. 173. 28 Siehe Jacob KATZ, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-gentile Relations in Medieval and Modern Times (Scripta Judaica 3), Oxford 1961, S. 74–75 und Ephraim E. URBACH, The Tosaphists: Their History, Writings and Methods, Bd. 1, Jerusalem 1980, S. 245. 29 Ebd. 74. 30 Siehe dazu Edward FRAM, Perception and Reception of Repentant Apostates in Medieval Ashkenaz and Premodern Poland, in: AJS Review 21 (1996), S. 299–339, hier S. 315.

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Glanz der christlichen Religion.“31 Den Konvertiten wird hier, ähnlich wie im Eingangsbeispiel, eine Art Zwischenstatus zugeschrieben, nicht ganz angekommen unter den Christen und immer noch etwas in ihrem alten Glauben verhaftet.32 Christliche und jüdische Quellen bieten zahlreiche Anhaltspunkte, wie es zu solchen Klassifizierungen kommen konnte, die die klare Trennung zwischen den Religionsgruppen herausforderten. So behielten Konvertiten nicht selten ihren alten Wohnort bei und blieben mit ihren ehemaligen Glaubensgenossen verbunden. Die englische Mabel la Converse wurde 1280 sogar von ihrem jüdischen Vater als Erbin bedacht und war offenbar so gut mit der jüdischen Gemeinde vernetzt, dass sie den Behörden sogar mitteilen konnte, wer genau ihr das Erbe vorenthielt.33 Aus dem Sefer Hasidim ist bekannt, dass es jüdische Konvertiten gab, die wohltätige Spenden für jüdische Arme erbrachten und solche, die Ähnliches für den lokalen Rabbi taten.34 Ein anderer wollte eine große Summe für eine Torah-Rolle spenden.35 MALKIEL betonte sogar die „normalcy of frequent social interaction between Jews and apostates“,36 wobei mit ‚apostates‘ in diesem Fall, der jüdischen Sicht entsprechend, Konvertiten zum Christentum gemeint sind. Aber nicht nur Konvertiten, auch Christen christlicher Herkunft hatten solch engen Kontakt zu Juden. So lebten Christen und Juden im England des 13. Jahrhunderts Seite an Seite, Bettelmönche teilten sich zeitweilig eine Wand mit einer schola judaeorum, das Haus eines Juden grenzte an eine christliche Kapelle.37 Es ist belegt, dass Christen ihr Fleisch bei jüdischen Metzgern kauften, dass Christen eine jüdische

|| 31 Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), hrsg. v. Josef WOHLMUTH, Paderborn u. a. 2000, S. 267, Bestimmung 70. 32 Vgl. zu diesem Bild auch Paola TARTAKOFF, Between Christian and Jew. Conversion and Inquisition in the Crown of Aragon, 1250–1391, Philadelphia 2012, S. 68, die sich mit Konvertiten in Aragon auseinandergesetzt hat. 33 London, The National Archives, C 54/97 m. 4; Calendar of the Close Rolls Preserved in the Public Record Office, Bd. 2: Edward I. (1279–1288), hrsg. v. H. C. Maxwell LYTE, London 1902, S. 29; siehe auch STACEY (Anm. 2), S. 280. 34 Beim Sefer Hasidim, dem Buch der Frommen, handelt es sich um eine Zusammenstellung rabbinischer Lehren und Beobachtungen des Rabbis Yehudas HeHasids (ca. 1150–1217). Yehuda ben Samuel HeChasid, Das Buch der Frommen: nach der Rezension in Cod. de Rossi No. 1133, hrsg. v. Jehuda WISTINETZKI u. Jakob FREIMANN, Frankfurt a. M. 1924, ND Jerusalem 1969, S. 408; siehe zu den Beispielen David MALKIEL, Jews and Apostates in Medieval Europe – Boundaries Real and Imagined, in: Past and Present 194 (2007), S. 3–34, hier S. 26. 35 KATZ (Anm. 31), S. 75. 36 MALKIEL (Anm. 34), S. 26. 37 Close Rolls of the Reign of Henry III. Preserved in the Public Record Office, Bd. 15: Henry III. (1268– 1272), hrsg. v. Alfred Edward STAMP, London 1938, S. 522 u. ebd. Bd. 14, S. 146. Siehe dazu STACEY (Anm. 2), S. 265.

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Hochzeit besuchten38 und dass Juden ihren christlichen Nachbarn ihre Güter zur Aufsicht gaben, wenn es in der Stadt zu Schwierigkeiten kam.39 Die Plea Rolls des Exchequer of the Jews verzeichnen Strafen für mehrere Christen, weil sie im Judenviertel aufgefunden wurden, als sie Silber dorthin brachten oder dort kämpften.40 Letzteres verweist gleichzeitig auf die obrigkeitlichen Reaktionen auf diese alltagspraktische Nähe – den Versuch der Unterbindung derselben.41 In einem Kontext, in dem die Grenze zwischen Judentum und Christentum in der täglichen Interaktion ohnehin sehr durchlässig war und sich Obrigkeiten über die mangelnde Unterscheidbarkeit von Juden und Christen echauffierten,42 waren Zuschreibungen von Ambiguität bei Konvertiten besonders problematisch – und vielleicht in dieser Art überhaupt erst möglich –, da sie eben jene Grenze weiter unterminierte. Ein Blick auf die expliziten oder zu erschließenden Konversionsmotive der ehemaligen Juden kann die Problematik weiter erhellen. So gab es zwar zweifelsohne Konversionen aus Glaube und Überzeugung, eine große Anzahl an Konversionen, vielleicht sogar die Mehrzahl, war aber Folge ökonomischer, sozialer oder politischer Missstände und Ambitionen. So ist es im Falle der Joan von Winchester denkbar, dass sie konvertierte, um sich von ihrem Ehemann trennen zu können, ähnlich wie 1252 bei der neuen Christin Amitee.43 Elias L’Eveske, einst Anführer der englischen Juden, hatte es sich hingegen endgültig mit seinen Glaubensgenossen verdorben und trat

|| 38 Suzanne BARTLET, Women in the Medieval Anglo-Jewish Community, in: Patricia SKINNER (Hg.), The Jews in Medieval Britain. Historical, Literary and Archaeological Perspectives, Woodbridge u. a. 2003, S. 113–127, hier S. 120. 39 Die Rückgabe der Güter verlief nicht immer so friedlich. Siehe Paul BRAND, The Jewish Community of England in the Records of English Royal Government, in: Patricia SKINNER (Hg.), The Jews in Medieval Britain. Historical, Literary and Archaeological Perspectives, Woodbridge u.a. 2003, S. 73–83, hier S. 75. 40 Calendar of the Plea Rolls of the Exchequer of the Jews Preserved in the Public Record Office, Bd. 3: Edward I. (1275–1277), hrsg. v. Hillary JENKINSON, London 1938, S. 172–173. 41 Siehe dazu die Bestimmungen des vierten Laterankonzils (Anm. 31) und die Judengesetzgebung Heinrichs III. und Eduards I., z. B. Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 7: 1251–1253, S. 312–313 u. Close Rolls Edward I. (Anm. 33), Bd. 1: 1272–1279, S. 565. 42 Siehe zu diesem Phänomen vor allem David NIRENBERG, Enmity and Assimilation. Jews, Christians, and Converts in Medieval Spain, in: Common Knowledge 9 (2003), S. 137–155 u. Solomon GRAYZEL, Popes, Jews, and Inquisition from „Sicut“ to „Turbato“, in: Abraham I. KATSH u. Leon NEMOY (Hgg.), Essays on the Occasion of the Seventieth Anniversary of the Dropsie University (1909), Philadelphia 1979, S. 151–188. 43 Calendar of the Liberate Rolls Preserved in the Public Record Office, Bd. 3: 1245–1251, hrsg. v. H. C. Maxwell LYTE, London 1916, S. 70; Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 7: 1251–1253, S. 276. Siehe dazu auch STACEY (Anm. 2), S. 271. Ähnliche, eine solche Interpretation unterstützende Belege führt auch SHATZMILLER an mit dem ergänzenden Hinweis auf rabbinische Traditionen. Joseph SHATZMILLER, Jewish Converts to Christianity in Medieval Europe 1200–1500, in: Michael E. GOODICH (Hg.), Cross Cultural Convergences in the Crusader Period. Essays Presented to Aryeh Grabois on His Sixty-Fifth Birthday, New York, Berlin 1995, S. 297–318, S. 307.

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die Flucht durch Konversion an. Warf man ihm anfangs noch Korruption vor, soll er am Ende sogar den Mord an einem anderen Juden in Auftrag gegeben haben.44 Geflüchtet sind durch das Wasser der Taufe auch Juden aus dem Tower von London, um dem Tod zu entgehen.45 Besonders viele Konversionen scheinen sich in England ereignet zu haben, als Heinrich III. die Juden seines Reiches mit einer exzessiven Steuerpolitik an den Rand des Ruins getrieben hatte. In den 1240er und 1250er Jahren wirkt es, als seien die sozialen Absicherungen der Juden zusammengebrochen, so dass für die Ärmsten und Schutzlosen nur wenige Möglichkeiten blieben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.46 Hinzu kamen die vollkommen unfreiwilligen, die erzwungenen Taufen. Solche sind in England während der Verfolgungen nach der Krönung Richards I. (1157–1199) und während der Barons’ Wars (1264–1267) unter dem Regime von Simon de Montfort nachgewiesen.47 Für das beginnende 13. Jahrhundert geht GRAYZEL davon aus, dass solche Zwangstaufen die überwiegende Mehrheit der Übertritte vom Judentum zum Christentum darstellten.48 Solche Umstände machen die – kirchenrechtlich geforderte – vollständige Zurückweisung jüdischer Lebensweisen äußert unwahrscheinlich, zumal nicht wenige Täuflinge wohl gar nicht erst über das nötige Wissen im christlichen Glauben verfügten. In ihrem Fall gilt besonders, was OELTJEN für die spanischen Conversos festgehalten hat, nämlich dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass manche täglichen Praktiken, besonders im häuslichen Umfeld, „were seen as ritually ‚Jewish‘ by outsiders, but were viewed by conversos themselves more as a matter of ‚what one did‘, without any religious sentiment or intention“49 und damit Zuschreibungen von Ambiguität verstärkten und scheinbar bestätigten.

|| 44 Dieser Fall wird in der Forschung immer wieder diskutiert. Siehe STACEY (Anm. 2), S. 272; BERMAN BROWN u. MCCARTNEY (Anm. 17), S. 177; SHATZMILLER (Anm. 40), S. 305. 45 Calendar of the Patent Rolls Preserved in the Public Record Office, Bd. 3: Henry III. (1247–1258), hrsg. v. H. C. Maxwell LYTE, London 1908, S. 224, 457; Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 7: 1251– 1253, S. 395, 494. 46 STACEY (Anm. 2), S. 270; Siehe zu Konversionsgründen auch die Beispiele bei Alexandra GUERSON, Seeking Remission: Jewish Conversion in the Crown of Aragon, c. 1378–1391, in: Jewish History 24 (2010), S. 33–52 u. TARTAKOFF (Anm. 32). 47 William of Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, in: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II, and Richard I. (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 82), Bd. 1, hrsg. v. Richard HOWLETT, London 1884, S. 298–299 u. LOGAN (Anm. 17), S. 223. 48 GRAYZEL (Anm. 42), S. 159: „Considering that, at that time, almost all conversions from Judaism were the result of riots, with the knife literally at the Jew’s throat.“ 49 Natalie OELTJEN, A Converso Confraternity in Majorca: La Novella Confraria de Sant Miquel, in: Jewish History 24 (2010), S. 56.

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Manche Juden ließen sich gar mehrfach taufen und führten so das Konzept des einmaligen Eintritts in die christliche Gemeinschaft durch das Sakrament der Taufe, welches, einmal akzeptiert, unwiderruflich gültig war, geradezu ad absurdum.50 Eine letzte Verschärfung dieser Problematik birgt die jüdische Haltung zu den neuen Christen. Diese wurden nicht nur von Christen christlicher Herkunft mit Argwohn betrachtet,51 sondern auch von ihren ehemaligen Glaubensgenossen nicht selten im Kern weiterhin als Juden angesehen, wenn auch Ablehnung durchaus zum Spektrum der vorhandenen Reaktionen gehörte. Nach Rashi: „Israel, obwohl sündigend, bleibt Israel.“52 Die geringe Größe jüdischer Gemeinden in England, die meist nur etwa 50 bis 100 Personen umfassten, musste nahezu zwangsläufig zu sehr engen Beziehungsgeflechten innerhalb der Einzelverbände führen und machte somit die geforderte Entfremdung von den ehemaligen Glaubensgenossen sehr unwahrscheinlich,53 zumal die englischen Juden noch einer Besonderheit unterworfen waren: Sie und die königliche Familie waren die beiden einzigen Gruppen in England, deren Muttersprache Französisch war.54 Eine Differenzierung zwischen Konvertiten und Christen lässt sich auch anhand ihrer sprachlichen Markierung erkennen. Andernorts wurden sie als Neofiti, ehemalige Juden oder conversos bezeichnet, in England trugen sie den Beinamen le bzw. la Convers(e) oder schlicht conversus/a. Doch anders, in irgendeiner Weise differenziert und hervorgehoben bedeutet noch nicht unbedingt per se ambig. Die Bezeichnung verweist aber zumindest auf ein Bewusstsein, eine dauerhafte Markierung ihrer jüdischen Herkunft und hält diese präsent. In ihnen dann tatsächlich noch Überreste einer jüdischen Kultur, Religion oder Zuordnung zu sehen, ist kein weiter Schritt. Die große Problematik religiöser Ambiguität im Mittelalter lag in der Rolle der Religion als zentrales Kriterium gesellschaftlicher Zugehörigkeiten. „In a society

|| 50 Ein besonders interessantes Exempel hierfür war der englische Mehrfachkonvertit Martin, der sich einmal sogar König Heinrich III. von England als Paten aussuchte. Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 7: 1251–1253, S. 121. Siehe außerdem u.a. die Beispiele bei: MALKIEL (Anm. 34), S. 24–25. 51 Vgl. z. B. mit Fokus auf Aragon TARTAKOFF (Anm. 32), S. 68: „Christians must have wondered whether conversion could truly trump ethnicity and whether Jewishness could really be left behind.“ 52 Shlomo Yitzchaki (1040–1105), genannt Rashi, war ein französischer Rabbi und bekannter Kommentator des Talmuds. Gerald J. BLIDSTEIN, Who is not a Jew? The Medieval Discussion, in: ILR 2 (1976), S. 369–390, hier S. 385. Trotz teils erheblicher Deutungsunterschiede zwischen den zahlreichen Rabbis muss doch grundsätzlich konstatiert werden, dass sogar freiwillig Konvertierten eine bestimmte jüdische Zugehörigkeit zugeschrieben wurde, umso mehr unfreiwillig Getauften. Siehe ebd. 53 Vgl. BERMAN BROWN u. MCCARTNEY (Anm. 17), S. 172. 54 Reva BERMAN BROWN u. Sean MCCARTNEY, The Exchequer of the Jews Revisited: The Operation and Effect of the Scaccarium Judeorum, in: The Medieval History Journal 8 (2005), S. 303–322, S. 304–350. So verfassten Konvertiten im 13. und 14. Jahrhundert Petitionen auch auf Französisch, auf Englisch sind bisher keine bekannt.

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where religion was the foundation of all legal, political and social structures, conversion was not a simple matter“.55 Eine Verunklarung dieser Zuordnung musste die Obrigkeiten vor Probleme stellen, zumal sie in christlicher Vorstellung häretischem Verhalten gleichkam. Zuschreibungen von Ambiguität gegenüber Konvertiten lassen sich also diskursiv zumindest in den Texten religiöser Autoritäten präzise fassen, und bestimmte Konversionsgründe und Verhaltensweisen unterstreichen diesen Eindruck.

2 Konfliktfälle Wie sich die beschriebenen Problematiken in der Praxis auswirken konnten, sollen die folgenden Fälle illustrieren. Besonders aufschlussreich sind in diesem Kontext Konfliktsituationen, in denen Ambiguität deutlich wird, weil Vereindeutigung gefordert oder angestrebt wird, mit anderen Worten Situationen, in denen Ambiguitätstoleranz in irgendeiner Form an ihre Grenzen gelangt. Nicht jede Konversion eines Juden – oder dessen Willensbekundung zur Konversion – wurde auf christlicher Seite unhinterfragt als freudiges Ereignis angenommen, bestimmte Umstände schienen Skepsis gegenüber den ehrbaren Absichten der Täuflinge hervorzurufen. In England war es, wohl nicht zuletzt ob seiner besonders starken Stellung als alleiniger Schutzherr der Juden, vor allem der König, der Untersuchungen der Umstände anordnete, unter denen ein Übertritt zum Christentum erfolgt war. Als Isaac von Norwich 1252 wegen verschiedener criminibus pacem et coronam regis tangentibus im Tower von London gefangen saß, befahl König Heinrich III. nicht nur eine Untersuchung von dessen Verbrechen, sondern betonte zunächst, dass die zwei Constables des Towers verpflichtet wurden ad inquisitionem […] de conversione Isaac Norwici Judei.56 Ein solches Vorgehen fügt sich nahtlos in die bereits beschriebene christliche Skepsis gegenüber manchen Konversionsgründen, zum Beispiel dem Versuch, einer Strafe zu entgehen. Auffällig ist, dass Isaacs jüdischer Name, kein christlicher, gebraucht wurde. Ebenfalls nicht einfach akzeptiert wurde einige Jahre früher die angebliche Taufe des Hugh von Norwich – hier mit christlichem Namen –, den Heinrich III. eigens in seine neu errichtete domus conversorum57 sandte, ad experiendum cujusmodi sit conversationis. Die Verantwortlichen in Heinrichs Einrichtung sollten prüfen, quod baptizatus fuerit et sit honeste vite et conversationis.58 Jegliche Uneindeutigkeit bezüglich der Konversionen der beiden Männer – und damit

|| 55 GUERSON (Anm. 46), S. 34. 56 London, The National Archives, C 66/64 m 22d; siehe auch Patent Rolls Henry III. (Anm. 45), S. 224. 57 Siehe die ausführliche Betrachtung unten. 58 Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 2: 1231–1234, S. 440.

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ihrer Wahrnehmung als Juden oder Christen – sollte offenkundig ausgeräumt werden und war wichtig genug, um die Aufmerksamkeit der Krone zu erregen. Noch größere Aufmerksamkeit rief aber ein anderer Fall hervor, bei dem nicht nur eine Einzelperson, sondern gleich fünfzehn Menschen jüdischer Abstammung – vor allem Frauen – im Fokus standen. Hier ging es um die Frage, ob Taufen stattgefunden hatten, und damit, ob es sich bei den Betreffenden um Juden handelte oder um Christen. Letzteres hätte bedeutet, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Lebensweise aus christlicher Sicht als Apostaten rechtskräftig zu verurteilen gewesen wären. Es handelte sich also wiederum um die bereits bekannte Problemlage, dass die religiöse Verortung bestimmter Personen aus einer obrigkeitlichen Perspektive uneindeutig war, die Grenze zwischen Juden und Christen damit verunklart. Die Uneindeutigkeit, das ist entscheidend, lag dabei nicht in der Selbstzuschreibung der Betreffenden. Diese scheint hier eindeutig jüdisch gewesen zu sein, äußere Umstände und Fremdzuschreibungen sorgten jedoch für ein verunklartes Bild.59 Überliefert ist diese Begebenheit in mehreren Briefen des Erzbischofs von Canterbury John Pecham (ca. 1220/1225–1292), der erheblichen Eifer gegen die vermeintliche apostasia angeblicher jüdischer Konvertiten an den Tag legte.60 Diese Wortwahl zeugt bereits vom Kern des Problems. Zwar war Pecham überzeugt, dass die Juden getauft worden und dann wieder zum Judentum zurückgekehrt seien, was selbst bei einer Taufe unter Nötigung formaljuristisch Apostasie bedeutet hätte. Ob jene Taufe aber tatsächlich je stattgefunden hat, muss offen bleiben.61 In einem ersten Brief wandte sich der Erzbischof im November 1281 an König Eduard I. Er erbat Ermittlungen zu einigen Juden, die die Taufe genommen hätten und dann doch wieder, ad vomitum redierunt, superstitionem Judaicam.62 Pecham zitiert hier das sehr häufig im Kontext jüdischen relapsus verwandte Bild vom Hund, der zu seinem Erbrochenen

|| 59 Die Selbstzuschreibung zumindest einiger Betroffener wird aus Quellen zu anderen Zusammenhängen deutlich, die hier nicht weiter diskutiert werden können. Siehe LOGAN (Anm. 17), S. 218. 60 Einen Teil der Briefe hat LOGAN seinem Aufsatz zum Thema beigegeben. LOGAN (Anm. 17), S. 227– 229, davon im Original in den National Archives London noch verfügbar sind London, The National Archives, C 85/3/71 u. SC 1/24/46. Der dritte von LOGAN transkribierte Brief, vom 14.11.1282, scheint gemeinsam mit dem entsprechenden Briefentwurf während einer Reklassifizierung im Archiv verlorengegangen zu sein. Dazu Registrum Epistolarum Fratris Iohannes Peckham Archiepiscopi Cantuariensis, hrsg. v. Charles Trice MARTIN, Bd. 1, London 1882, S. 239. 61 Innozenz III. hat im Jahre 1201 in einer Dekretale definiert, dass nur Taufen unter absolutem Zwang, d. h. vor allem unter ausdrücklichem und andauerndem Widerspruch des Täuflings, ungültig waren. Selbst Taufen unter Nötigung waren juristisch gültig, wenn sie still erduldet wurden. Siehe dazu z. B. GRAYZEL (Anm. 42), S. 158–159. LORREY (Anm. 21), S. 93 geht von erfolgten Taufen aus: „Even though eleven of these investigated relapsed apostates did, at one point, doubt their attachment to Judaism, they determined at some time after their conversion that Christianity did not hold a greater attraction for them.“ 62 Registrum Epistolarum (Anm. 60), S. 239.

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zurückkehre.63 Geführt werden sollten diese Ermittlungen vom Erzdiakon von Rochester, John of St. Denis, Custos der königlichen domus conversorum, qui ad hoc dicitur deputari, ut vos super hujusmodi apostatis certificet, der also offenkundig für solche Fälle zuständig war.64 Etwa ein Jahr später, eine entsprechende Untersuchung scheint erfolgt zu sein, richtete sich Pecham erneut an Eduard, diesmal mit einer Liste von dreizehn Namen jüdischer Frauen und Männer und der Aufforderung, sie durch den weltlichen Arm verfolgen zu lassen.65 Eduard kam dem nach. Als sich jedoch herausstellte, dass die Angeklagten zu den Londoner Juden entflohen waren und sich so dem Zugriff durch den Sheriff entzogen hatten und im Einflussbereich des Constables des Towers waren, verläuft die Überlieferung ins Ungewisse. Pecham beschwerte sich bei Eduard und verlangte die Ausstellung eines speziellen Schreibens non obstante, welches dem Sheriff das Eingreifen im Hoheitsgebiet des Constables erlaubt hätte.66 Ob Eduard dies je ausgestellt hat, ist nicht belegt. Aus dem Folgejahr ist jedoch noch ein bislang nicht beachtetes, weiteres Schreiben Pechams überliefert, in dem er Eduard auffordert, eine Gruppe in London gefangener Apostaten nicht aus dem Gefängnis zu entlassen, wie dieser offenbar plante. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um dieselben Personen. Eduards Reaktion ist nicht überliefert, aber noch Jahre später beschwerte sich der Klerus über die mangelnde Effektivität des königlichen Vorgehens.67 Die dreizehn Beschuldigten scheinen zwar inhaftiert, aber dann von königlicher Seite nicht weiter belangt worden zu sein. Denkbar ist, dass Eduard, nachdem sie sich klar dem Bereich der Juden zugeordnet hatten und bestritten, je getauft worden zu sein, selbst kein weiteres Interesse an einer weitergehenden Verfolgung hatte, vor allem, da der Erzbischof ja bestrebt war, gegen seine Juden68 vorzugehen, also in königliche Einflusssphären vordrang. An dieser Episode zeigen sich erneut das große Konfliktpotential und die nicht zu unterschätzenden Probleme, die durch unklare Zuordnungen von Juden und Christen entstehen konnten. Sie verweist zudem auf das Potential solcher Fälle, die Jurisdiktion des Königs über seine Juden in Frage zu stellen.69 || 63 Zur Geschichte dieses Ausspruchs siehe MALKIEL (Anm. 34), S. 17. 64 Wie Anm. 62. 65 London, The National Archives, C 85/3/7, Transkription bei LOGAN (Anm. 17), S. 227. Ursprünglich enthielt die Liste fünfzehn Namen, zwei wurden gestrichen. Anders als bei LOGAN postuliert, scheint sich der Ausdruck Iudei Londinie im Original nicht auf alle benannten Juden, sondern nur auf den Ausdruck domo Elie zu beziehen. 66 Brief bei LOGAN (Anm. 17), S. 228. 67 Registrum Epistolarum (Anm. 60), S. 705. Siehe zu den weiteren Beschwerden die ausführliche Untersuchung bei LOGAN (Anm. 17), hier S. 219, der letzteres Dokument nicht aufführt. 68 Ipsi Iudei et omnia sua regis sunt. Leges Edwardi Confessoris, in: Die Gesetze der Angelsachsen, Bd. 1: Text und Übersetzung, hrsg. v. Felix LIEBERMANN, Halle an der Saale 1903, S. 650, Paragraph 25. 69 Im Falle von zwei der angeklagten Frauen hat je ein weiterer Prozess stattgefunden. Im Falle der Milka, Ehefrau des Sakerell, wurde im Rahmen eines Besitzstreites bereits im Jahre 1277 von einer Jury aus zwölf Christen und zwölf Juden festgestellt, dass sie nie zum christlichen Glauben konvertiert sei.

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Zweifelsohne getauft, aber in seiner Selbstzuschreibung als Jude umso klarer, war Benedict von York. Als Richard I. gekrönt wurde, kam es zu Ausschreitungen gegen Juden, denen auch besagter Benedict zum Opfer fiel.70 Um sein Leben zu schützen, ließ er sich taufen, trat aber alsbald mit der Bitte vor den König, weiterhin als Jude leben und seinen Glauben praktizieren zu dürfen. Richard gewährte ihm dies. Dennoch scheint Benedicts eindeutige Selbstzuschreibung nicht zu eindeutiger Fremdzuschreibung durch seine Zeitgenossen geführt zu haben. Denn Benedict wurde nicht lange darauf das Begräbnis auf einem jüdischen Friedhof verwehrt. Seine uneindeutige religiöse Identität wurde hier offenkundig zu einem Problem öffentlicher Ordnung. Er war weder auf einem christlichen noch auf einem jüdischen Friedhof willkommen. Die Begründung der Pipe Rolls, er sei zum Christen geworden und dann zurückgekehrt, hätte aus jüdischer Sicht keinen Ausschluss bedeuten müssen.71 Dennoch stand Benedict außerhalb der Ordnung.

3 Die englische domus conversorum Mögen Verunklarungen im alltäglichen Umgang noch tolerierbar gewesen sein,72 stellten sie aber, sobald rechtliche Fragen, beispielsweise bezüglich Steuern, Ämtern oder obrigkeitlichen Abhängigkeiten hinzukamen, die gesellschaftliche Ordnung in Frage. Christliche Obrigkeiten drängten dann auf Vereindeutigung und Strafen für Abweichler. Allerdings reagierte die englische Krone auf solche Probleme nicht nur im Nachhinein, vielmehr versuchte sie, durch Maßnahmen der Grenzschärfung und Disambiguierung im Vorfeld präventiv tätig zu werden. Als wichtigste Institution dieser Politik diente die von Heinrich III. im Jahre 1232 gegründete domus conversorum, in der zum Christentum konvertierte Juden untergebracht, mit dem Notwendigen versorgt

|| Swetecote und ihr Mann Moses de Horndon wehrten sich 1288 gegen den Vorwurf, Swetecote sei zum christlichen Glauben übergetreten. Obwohl beide Fälle zugunsten der angeklagten Frauen ausgegangen zu sein scheinen, sind die wiederkehrenden Vorwürfe doch durchaus bemerkenswert. Siehe LOGAN (Anm. 17), S. 218. 70 William of Newburgh (Anm. 47), S. 299. 71 BERMAN BROWN u. MCCARTNEY (Anm. 17), S. 176–177 u. MALKIEL (Anm. 34), S. 17. Selbst Apostaten waren rechtlich nicht grundsätzlich von einem Begräbnis als Jude ausgeschlossen. Siehe dazu MALKIEL (Anm. 34), S. 27; Benedict war als Zwangsgetaufter, der sich unmittelbar wieder zum Judentum bekannte, theoretisch eigentlich ein unstrittiger Fall. Praktisch scheinen Fremdzuschreibungen hier deutlich stärker gewirkt zu haben. 72 Was STOLBERG-RILLINGER für die Frühe Neuzeit konstatiert, ist auch für das Mittelalter von Erkenntniswert: „Religiöse Uneindeutigkeit war in vielen Fällen üblich, alltäglich, nicht erklärungsbedürftig. Solange keine Konflikte auftraten, die zur Vereindeutigung zwangen, blieb diese Uneindeutigkeit im sozialen Umgang gewöhnlich latent.“ STOLLBERG-RILINGER (Anm. 14), S. 24.

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und im christlichen Glauben unterrichtet wurden. Bislang wurde diese Einrichtung vor allem als Instrument der Judenmission verstanden.73 Vor der geschilderten Ambiguitätsproblematik drängt sich indes vielmehr der Eindruck auf, dass die domus ein Ort der Grenzziehung und -schärfung war.74 Heinrich gründete dieses Haus nicht weit vor den Toren Londons, zwischen der alten Templerkirche und der neuen, an einer Straße, die damals Newestrate, New Street, hieß und heute den Namen Chancery Lane trägt.75 Seine Wohnstiftung für jüdische Konvertiten, die einzige überhaupt, von der sicher belegt ist, dass sie von einem König gegründet wurde,76 stattete er mit einer Kapelle und angrenzenden Gebäuden aus.77 Über das gesamte 13. Jahrhundert und auch später sollte daran weitergebaut werden. Finanziert wurde die Einrichtung durch den König, der sowohl verschiedene Schenkungen vornahm als auch regelmäßig Geldzuwendungen veranlasste.78 Hinsichtlich der Finanzierung bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der Frage nach Grenzschärfung vor allem, dass Heinrich und sein Sohn Eduard I. der

|| 73 Paradigmatisch dafür sind ADLER (Anm. 17) u. Peter BROWE, Die Judenmission und die Päpste (Miscellanea Historiae Pontificie 6), Rom 1942, S. 170–178. 74 Siehe dieses Bild in Hinblick auf Katechumenenhäuser auch bei Benjamin SCHELLER, Die Grenzen der Hybridität. Konversion, religiöse Mehrfachidentitäten und obrigkeitliches Handeln im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Ruth von BERNUTH, Werner RÖCKE u. Julia WEITBRECHT (Hgg.), Zwischen Ereignis und Erzählung. Konversion als Medium der Selbstbeschreibung in Mittelalter und Früher Neuzeit (Transformationen der Antike 39), Berlin, Boston 2016, S.297–316; Lance Gabriel LAZAR, Working in the Vineyard of the Lord. Jesuit Confraternities in Early Modern Italy, Toronto, Buffalo, London 2005, S. 110. 75 Siehe das Gründungsdokument bei RYMER (Anm. 4); Während sich die Newstreet 1232 in einem Vorort Londons befand, westlich der Stadt, liegt die Chancery Lane heute im Herzen Londons, nur wenige Meter nördlich des berühmten Temple-Bezirks. Baulich sind leider keine relevanten Überreste mehr vorhanden, heute steht an ihrer Stelle die Maughan-Library des King’s College, zuvor errichtete die englische Regierung an gleicher Stelle das Public Record Office. Eine Tradition der Gelehrsamkeit blieb also über die Jahrhunderte erhalten. Siehe Adrian LAWES, Chancery Lane 1377–1977. The Strong Box of the Empire, London 1996. 76 Es kann nicht oft genug betont werden, dass sich weder in Oxford noch in Bristol ein solches Haus befand. Obwohl die Forschung dies mehrfach ausdrücklich festgestellt hat, blieb dieser Mythos bestehen. Siehe Joe HILLABY, A Domus Conversorum at Bristol?, in: Jewish Historical Studies: Transactions of the Jewish Historical Society 42 (2009), S. 1–5; H. E. SALTER: Was there a Domus Conversorum in Oxford?, in: Miscellanies. The Jewish Historical Society of England 2 (1935), S. 29–32 u. die Darstellung des Mythos bei Cecil ROTH, A History of the Jews in England, 3. Aufl. Oxford 1978, S. 43. 77 Matthaei Parisiensis, Monachi Sancti Albani, Chronica Majora, Bd. 3: A. D. 1216 to A. D. 1239 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 57), hrsg. v. Henry RICHARDS LUARD, London 1876, S. 242. 78 Zur Gründung versprach Heinrich der domus conversorum 700 Mark jährlich, eine sehr hohe Summe in dieser Zeit und bei der finanziellen Lage des Königs. Siehe Nicholas VINCENT, Jews, Poitevins, and the Bishop von Winchester, 1231–1234, in: Diana WOOD (Hg.), Christianity and Judaism. Papers read at the 1991 Summer Meeting and the 1992 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, Oxford 1992, S. 119–132, hier S. 125, der die Zahlung als „a lavish endowment at the best of times and one which in the circumstances of 1232 was positively ridiculous“ bewertet.

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domus conversorum häufig Güter aus ehemals jüdischem Besitz zuerkannten.79 Damit mussten die Juden des Reiches zumindest indirekt jüdische Konvertiten finanzieren, die aus ihrer Sicht Apostaten waren. Noch gesteigert wurde dies im Jahre 1280, als Eduard neue Statuten für die Einrichtung festlegte. Im Rahmen dessen gewährte er der domus die Einnahmen aus einer Kopfsteuer, zahlbar durch alle Juden seines Landes, die älter als zwölf Jahre waren.80 Dies lag sicherlich sehr nahe,81 wer wäre schließlich besser geeignet gewesen, für die neuen Christen zu zahlen als diejenigen, die im alten Glauben verharrten? Die auf diese Weise vorgenommene Konfrontation von Juden und Konvertiten musste zudem negative Assoziationen, ja Ablehnung bei den Juden provozieren.82 Auf die Spitze getrieben wurde dies durch den Einsatz von Konvertiten als Steuereintreiber, was, wie im Falle des William le Convers in Oxford, sogar zu Ausschreitungen führte.83 Die genaue Zahl der Bewohner der domus conversorum ist für weite Teile des 13. Jahrhunderts nicht bekannt. Für das Jahr 1291/92 existiert eine Liste von 96 Bewohnern, Männern, Frauen und Kindern, die in den Aufzeichnungen der englischen Kanzlei conversi regis, Konvertiten des Königs genannt werden.84 Aufgrund der überlieferten Quellen zu Zahlungen, Einnahmen und Abrechnungen kann die Anzahl der Bewohner seit 1232 auf mindestens 70 zu jeder Zeit geschätzt werden.85 Zahlreiche Personen scheinen ihr gesamtes Leben in der Einrichtung verbracht zu haben, obwohl keine Residenzpflicht bestand.86 Dies mag nicht zuletzt mit den Schwierigkeiten vieler ehemaliger Juden zusammengehangen haben, einen festen Platz innerhalb ihrer neuen christlichen Glaubensgemeinschaft zu finden. Beim Wechsel von der Minderheits- in die Mehrheitsgesellschaft mussten sicherlich erhebliche Hürden überwunden werden. Es sei an dieser Stelle noch einmal an das eingangs erwähnte || 79 Siehe z. B. Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 5: 1242–1247, S. 174, 177; Zefira Entin ROKÉAH, Medieval English Jews and Royal Officials. Entries of Jewish Interest in the English Memoranda Rolls, 1266–1293, Jerusalem 2000, Nr. 856. 80 London, The National Archives, C 66/99 m 17, siehe auch die Zusammenfassung in Calendar of the Patent Rolls Preserved in the Public Record Office, Bd. 1: Edward I. (1272–1281), hrsg. v. H. C. Maxwell LYTE, London 1901, S. 371–372, 376 unter fehlerhaftem Bezug auf die Patent Rolls auch bei ADLER (Anm. 17), S. 348–350. 81 Beispielsweise wurde die römische Casa über eine Synagogensteuer finanziert. LAZAR (Anm. 74), S. 115. 82 Ähnliches beobachtet auch GUERSON (Anm. 46), S. 34, die im Kontext königlicher Privilegien für Konvertiten auf Kosten von Juden Spannungen zwischen Juden und conversos, aber auch zwischen Juden und König beobachtet. 83 Vgl. Patent Rolls Edward I. (Anm. 80), Bd. 2: 1281–1292, S. 397 u. ADLER (Anm. 17), S. 301. 84 London, The National Archives, C 54/126 m 14, siehe auch die Transkription der Namen bei ADLER (Anm. 17), S. 350–352. 85 Siehe dazu die Überlegungen bei STACEY (Anm. 2), S. 269. Laut dem Bericht des Matthew Paris fand sich binnen kurzer Zeit eine reichliche Anzahl zusammen, numerus copiosus. Matthaei Parisiensis (Anm. 77), S. 242. 86 STACEY (Anm. 2), S. 274.

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Beispiel des Henry von Winchester erinnert, der selbst als Ritter das Etikett des ‚Konvertiten und Juden‘ getragen zu haben scheint. Gleichzeitig war das Leben in einer Wohnstiftung aber keineswegs ehrenrührig, weshalb nicht unbedingt vorausgesetzt werden darf, dass die Konvertiten überhaupt danach strebten, ein Leben jenseits des Hauses zu führen. Ein weiteres Hindernis, welches die ehemaligen Juden von einem stabilen Platz innerhalb der christlichen Gesellschaft trennte, war ihre häufig prekäre finanzielle Lage. Nicht nur, dass Konversionen ohnehin oft Resultate problematischer Lebenslagen waren: Wenn Juden in England, aber auch in vielen anderen Ländern, die Taufe nahmen, verloren sie ihr gesamtes Hab und Gut. Zum einen sollte ein Christ nicht von dem profitieren, was er als Jude in Sünde erwirtschaftet hatte, zum anderen galt jüdisches Gut in England als königliches Gut, welches dem Herrscher nicht durch Konversion entzogen werden durfte.87 Für arme Konvertiten war dies zwar irrelevant. Es hatte aber zur Folge, dass auch diejenigen, die zuvor nicht arm waren, nach der Taufe der Hilfe bedurften. Jeder Konvertit bekam ein Stipendium von 10,5d pro Woche, jede Konvertitin 8d. Damit konnte der lebensnotwendige Bedarf gedeckt werden, vorausgesetzt, die Zahlung wurde regelmäßig geleistet, denn Vorräte ließen sich so nur schwer anlegen.88 Diese Praxis hatte, jenseits ihres caritativen Selbstwerts, entscheidende Konsequenzen. Durch die Zahlungen wurden die ehemaligen Juden an die Institution gebunden, es entstand ein Abhängigkeitsverhältnis, welches der Einrichtung – und damit mittelbar dem König – Kontrolle über die Konvertiten verschaffte und so für eine gewisse stabile Verortung der ehemaligen Juden auf christlicher Seite sorgen konnte. Um Zahlungen empfangen zu können, mussten die Konvertiten vor Ort erscheinen, was zu einem dauerhaften Kontaktverhältnis, welches natürlich im Falle einer Residenz innerhalb der Einrichtung ohnehin gegeben war, führte. Dies erleichterte die Aufsicht über die Konvertiten und die dauerhafte Überprüfung eines redlichen christlichen Lebenswandels, während gleichzeitig ein nicht unbedeutendes Druckmittel zur Hand war. Sehr ähnliche Praktiken lassen sich in verdichteter Form auch anhand der späteren Katechumenenhäuser, beispielsweise in Italien, beobachten.89 Eine feste Bindung an den christlichen Glauben und die christliche Gemeinschaft sollte aber nicht nur mit materiellen Mitteln erreicht werden. Ein zentrales Charakteristikum der domus conversorum war der Unterricht im christlichen Glauben. Grenzgänger zwischen den religiösen Gemeinschaften entstanden nicht zuletzt auch dadurch, dass die Betreffenden unter Umständen gar nicht wussten oder wissen || 87 Vgl. GRAYZEL (Anm. 42), S. 172. 88 Zum Wert dieses Stipendiums vergleiche die Angaben bei Christopher DYER, Standards of Living in the Later Middle Ages. Social Change in England c. 1200–1520, Cambridge 1998. 89 Siehe dazu u. a. Natalie E. ROTHMAN, Becoming Venetian: Conversion and Transformation in the Seventeenth-Century Mediterranean, in: Mediterranean Historical Review 21 (2006), S. 39–75 und SCHELLER (Anm. 74).

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konnten, wie sie sich als Christen zu verhalten hatten.90 Damit war solche religiöse Uneindeutigkeit nicht zuletzt in sozialen und nicht ausschließlich genuin religiösen Verhaltensweisen begründet. Im Laufe des Mittelalters wurde mehrfach ein verpflichtender Katechumenat angeregt, umgesetzt wurde dies aber lange nicht.91 Dem religiösen Wissensdefizit steuerte die königliche Institution der domus conversorum entgegen, deren Ziel es unter anderem war, dass die Konvertiten in ipsa fidei firmitate roborentur92, also im christlichen Glauben gestärkt würden. Durch den Unterricht sollte also auch vorgebeugt werden, es wurde also eine wesentliche Ursache von Ambiguitätszuschreibung an Konvertiten bekämpft. Dies geschah integriert in und vermittels eines semi-monastischen Lebensstils. Die Einwohner der domus waren einer Regel unterworfen, wie es sonst auch für Hospitäler üblich war. Über deren Einhaltung wachte der Custos.93 Das Kloster war eine „quintessential Christian institution“94, im Judentum gab es nichts Vergleichbares. Indem man die Konvertiten also in einer der Kerninstitutionen des Christentums nachempfundenen Einrichtung unterbrachte, distanzierte man sie gleichzeitig umso mehr von ihrem alten Glauben. Und da vor allem Nähe Uneindeutigkeit evoziert, konnte dies ein probates Mittel sein, um die hier geschilderten Probleme zu entschärfen. Die domus erfüllte auf diese Weise eine Sozialisations- und Akklimatisierungsfunktion.95 Gleichzeitig mag sie neue soziale Bindungen bereitgestellt haben, nachdem die Konvertiten mit ihrem Schritt in die christliche Gemeinschaft und der Isolation von ihren ehemaligen Glaubensgenossen viele alte Bindungen hatten aufgeben müssen.96 Die Isolation selbst wiederum diente in ganz besonderem Maße der Disambiguierung der religiösen Identität der ehemaligen Juden nach außen. Gerade || 90 Siehe dazu TARTAKOFF (Anm. 32) S. 80: „They were baptized in haste and possessed only superficial knowledge of Christianity. In an effort to ameliorate the state of Jewish conversion, some Christians instructed new converts in Catholic doctrine and practice.“ Zum Konzept des Konvertiten als Grenzgänger siehe u.a. Martin PRZYBILSKI, Leben auf der Grenze. Die mentale Landkarte des jüdischen Konvertiten in der Literatur des europäischen Hoch- und Spätmittelalters, in: Ulrich KNEFELKAMP u. Kristian BOSSELMANN-CYRAN (Hgg.), Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder, Berlin 2007, S. 188– 199 und SCHELLER (ANM. 74). Die Beschreibung von Konvertiten als Grenzgänger findet sich in der Forschung bereits bei GRAIZBORD, der dies in die mehrfach zitierte Feststellung fasste, sie seien „neither full insiders nor full outsiders“ gewesen. David L. GRAIZBORD, Souls in Dispute. Converso Identities in Iberia and the Jewish diaspora, 1580–1700, Philadelphia 2004, S. 104. Ähnlich auch Shlomo SIMONSOHN, The Apostolic See and the Jews, Bd. 7: History, Toronto 1991, S. 369. 91 Siehe dazu überblicksartig BROWE (Anm. 73), S. 138–150. 92 C 66/99 m 17 (Anm. 80). 93 Matthaei Parisiensis (Anm. 77), S. 242. 94 STACEY (Anm. 2), S. 274. 95 Richard HUSCROFT, Expulsion. England’s Jewish Solution, Stroud 2006, S. 87, konstatiert, dass die domus conversorum dazu konzipiert gewesen sei „to prepare Jewish converts for their new life as practising Christians.“ 96 Vgl. STACEY (Anm. 2), S. 275.

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der alltägliche Umgang mit Juden, also das Verbleiben in alten Lebenskontexten, war ja einer der wesentlichen Gründe für die Zuschreibung von Ambiguität. In einer eigenen Institution, einer eigenen Gemeinschaft zusammengefasst, konnte dies besser kontrolliert und unterbunden werden. Dies berührt aber gleichzeitig ein spannendes Paradoxon der Einrichtung. Auf der einen Seite handelte es sich um eine eindeutig christliche Institution, mit der entsprechenden Symbolik aufgeladen und klar verortet. Auf der anderen Seite muss die Frage gestellt werden, welche Auswirkungen es hat, wenn eine distinkte Gruppe in einer Institution zusammengefasst wird und mit der Mehrheitsgruppe, in der sie eigentlich aufgehen soll, dadurch nur wenig Berührung hat. Es liegt nahe, dass die domus selbst, aller christlicher Symbolik zum Trotz, ein Halbraum war, „a kind of halfway house, a converso world which must have retained a distinctly Jewish flavour.“97 Die Konvertiten wurden nicht nur von ihren ehemaligen Glaubensbrüdern- und schwestern getrennt, sondern auch von den anderen Christen, und das in vielen Fällen ihr Leben lang. In gewisser Hinsicht hielt das Haus seine Bewohner in einer Grauzone fest, wobei auch soziale Marginalität eine wichtige Rolle einnehmen konnte. Allerdings sorgte es gleichzeitig dafür, dass diese Grauzone unter königlicher Kontrolle und damit christlicher Aufsicht blieb: Grenzschärfung und Grauzonentoleranz. Dies galt jedoch nicht für alle Bewohner der Einrichtung in gleicher Weise. Eduard I. versuchte, die ehemaligen Juden durch Berufsausbildungen innerhalb der domus conversorum für ein Leben außerhalb der Institution vorzubereiten.98 Indem man Konvertiten von vornherein versorgte, unterstützte und damit auch kontrollierte, sollte die Frage nach dem Umgang mit Ambiguität gar nicht erst relevant werden.

4 Toleranz im Königdienst Anders verhielt es sich mit den Konvertiten im Dienste der Krone. Außer dem eingangs erwähnten Henry von Winchester standen eine ganze Reihe von ehemaligen Juden im 13. Jahrhundert im Königsdienst. Belegt ist dies schon vor der Gründung der domus conversorum und auch noch nach der Vertreibung der Juden aus England im Jahre 1290.99 Sie hatten nicht selten Positionen inne, die großes Vertrauen von königlicher Seite erforderten und trugen häufig bedeutende finanzielle Verantwortung.

|| 97 STACEY (Anm. 2), S. 274; ähnlich auch bei BERMAN BROWN u. MCCARTNEY (Anm. 17), S. 183 „Viewed in a positive light, the converts might have prefered the limbo of the small world they made for themselves, perched as it was between both Jewish and Christian society.“ 98 C 66/99 m 17 (Anm. 80). 99 Solche Beschäftigungen ehemaliger Juden an Königshöfen können zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in Europa nachgewiesen werden. Siehe dazu u. a. Gerd MENTGEN, Versorgung und Broterwerb getaufter Juden im Mittelalter, in: Sigrid HIRBODIAN u. a. (Hgg.), Pro multis beneficiis.

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Schon in den 1220er Jahren war der Konvertit Philip Balestarius, der Armbrustschütze, für die Waffen im Tower von London verantwortlich, besonders für die Aufsicht und Reparatur der Armbrüste.100 Militärische Fertigkeiten bzw. Eignung scheinen keine Seltenheit unter den ehemaligen Juden gewesen zu sein, sodass sie gerade als Armbrustschützen und Sergeant-at-Arms, serviens regis ad arma, Karriere machen konnten. Insbesondere für den Posten des Sergeant-at-Arms scheinen Konvertiten als sehr gut geeignet empfunden worden zu sein. Er erforderte spezielle Ausbildung und bemerkenswerte Loyalität, umfasste er doch die Rolle des königlichen Leibwächters.101 Die berittenen Kämpfer gehörten damit in das unmittelbare Umfeld des Königs.102 Zu ihren zentralen Aufgaben zählte es, den König in voller Waffenmontur zu begleiten und des Nachts vor seiner Tür zu wachen, stets bereit, sein Leben mit dem ihrigen zu verteidigen. Gleichzeitig standen diese Männer unter dem direkten Zugriff ihres Herrn, der sie auch auf Missionen entsandte.103 So wurde Roger le Convers beispielsweise in diplomatischer Funktion nach Spanien gesandt und führte verschiedene militärische und zivile Verwaltungsaufgaben aus. Sein Lohn waren zahlreiche Gunsterweise, Zahlungen und Geschenke, und auch sein Sohn John le Convers wurde am Hof protegiert und ging mit hohen Geldsummen um.104 Der besondere Nutzen von Konvertiten mag sich für den König nicht zuletzt aus ihrem Status als Grenzgänger ergeben haben.105 Als Konvertiten konnten sie auf keine mächtigen Netzwerke zurückgreifen, bewegten sie sich doch am Rande der christlichen Gesellschaft, hatten kaum hilfreiche familiäre Bindungen und konnten daher keine eigenmächtigen Ambitionen verfolgen. Ihr Wohl und Wehe hing von der königlichen Gunst und damit

|| Festschrift für Friedhelm Burgard: Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums (Trierer historische Forschungen 68), Trier 2012, S. 205–222 u. Franklin J. PEGUES, The Lawyers of the Last Capetians, Princeton, New Jersey 1962, S. 124–150. 100 Besonders seine Lohnzahlungen sind ausführlich dokumentiert. Calendar of the Liberate Rolls Preserved in the Public Record Office, Bd. 1: Henry III (1226–1240), hrsg v. H. C. Maxwell LYTE, London 1916, S. 4, 8, 15, 24, 32, 39, 44, 67, 80, 93, 111, 130, 170, 182, 184, 191, 259, 470; Liberate Rolls (a. a. O.), Bd.: 2 Henry III (1240–1245), S. 7, 122; dazu ADLER (Anm. 17), S. 296–297. 101 Siehe dazu u. a. ROTH (Anm. 76), S. 122. 102 Chris GIVEN-WILSON, The Royal Household and the King’s Affinity. Service, Politics, and Finance in England, 1360–1413 New Haven 1986, S. 54: „The king’s sergeant-at-arms were men of some standing.“ 103 ROTH (Anm. 76), S. 122. 104 Siehe z. B. Liberate Rolls Henry III. (Anm. 43), Bd. 4: 1251-1260, S. 228, 526; Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 10: 1256–1259, S. 53, 165; Patent Rolls Henry III. (Anm. 45), Bd. 4: 1258–1266, S. 13; Liberate Rolls Henry III. (Anm. 43), Bd. 5: 1260–1267, S. 99; Liberate Rolls Henry III. (Anm. 43) Bd. 6: 1267–1272, S. 883; Patent Rolls Henry III. (Anm. 45), Bd. 5: 1266–1272, S. 328; Patent Rolls Edward I. (Anm. 80), Bd. 1: 1272–1281, S. 448; Patent Rolls Edward I. (Anm. 80), Bd. 2: 1281–1292, S. 238. 105 Zu diesem Status und seinen Auswirkungen siehe Anm. 90.

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von ihrer Loyalität ab.106 Eigenschaften, die sie in anderen Kontexten verdächtig machten, konnten hier zur Qualität werden. Einer der erfolgreichsten Konvertiten am englischen Hof war der schon mehrfach erwähnte Henry von Winchester, für den auch die beste Überlieferungslage besteht.107 Nachdem Heinrich III., dessen Namen er annehmen durfte, ihn aus der Taufe gehoben hatte, bewährte sich Henry offenkundig in dessen Diensten, so sehr, dass er ihn später sogar zum Ritter schlug.108 Henrys Herkunft ist unbekannt, sein jüdischer Name nicht überliefert, sodass nur wenige zuverlässige Aussagen über sein vorheriges Leben getroffen werden können. Eindeutig belegt ist, dass sich Henry als Geldverleiher betätigt hat, denn er erhielt nach seinem Übertritt von seinem königlichen Taufpaten Schuldscheine zurück, die ihm wegen seiner Taufe entzogen worden waren. Zwar durfte er für diese keine Zinsen verlangen, dennoch scheint er seit dieser Rückgabe – aller Wahrscheinlichkeit nach auch schon zuvor – in zahlreiche Geschäfte mit dem jüdischen Geldverleiher Moses de Clara verwickelt gewesen zu sein.109 Sein neuer Status als Christ erlaubte es ihm dabei auch, selbst Geld zu leihen, was ihm als Jude zuvor verboten war.110 Henry bewegte sich also im Umfeld einer eigentlich sehr ungern gesehenen, später sogar verbotenen jüdischen Geschäftstätigkeit. Es scheint an dieser Stelle keinen Bruch zu seinem alten Leben gegeben zu haben: etwas, was jüdischen Konvertiten an anderer Stelle vorgeworfen wurde. Henry zog offenbar, in den Worten des vierten Laterankonzils, „den alten Menschen nicht ganz aus“, wenn auch primär in einem sozioökonomischen Sinne.111 Zuschreibungen von Uneindeutigkeit, wie es sie gegen ihn laut Henghams Bericht ja gegeben haben soll, sind in diesem Kontext durchaus zu erwarten, zumal sich soziale und religiöse Zuordnungen aufgrund der übergreifenden Bedeutung religiöser Verortung für den Bereich des Sozialen im Mittelalter in der Praxis nicht immer strikt abgrenzen lassen.

|| 106 Vgl. dazu z. B. die sizilianischen Palastsarazenen. Benjamin SCHELLER, Migrationen und kulturelle Hybridisierungen im normannischen und staufischen Königreich Sizilien (12.–13. Jahrhundert), in: Michael BORGOLTE u. Matthias M. TISCHLER (Hgg.), Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend: Europa, Ostasien, Afrika, Darmstadt 2012, S. 167–186. 107 Allein die Chancery Rolls bieten etwa 30 Einträge zu Henry. Zu seiner Person siehe auch STACEY (Anm. 2), S. 276–278. 108 Siehe Anm. 4. 109 Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 8: 1253–1254, S. 24; Calendar of the Charter Rolls Preserved in the Public Record Office, Bd. 2: Henry III u. Edward I. (1257-1300), hrsg. v. H. C. Maxwell LYTE, London 1906, S. 40; Plea Rolls Exchequer of the Jews (Anm. 37), Bd. 4: 1277–1279, S. 238, 352, 392, 694, 760. Siehe auch STACEY (Anm. 2), S. 277. Auch Roger le Convers hatte Schulden bei einem Juden: Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 11: 1259–1261, S. 355. Geldverleih war per se ein besonders problematischer Geschäftszweig, der im Mittelalter mit judaizare gleichgesetzt werden konnte, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit des Verleihers. Siehe dazu Sara LIPTON, Images of Intolerance: The Representation of Jews and Judaism in the Bible Moralisée, Berkeley 1999, S. 45. 110 Siehe dazu MALKIEL (Anm. 34), S. 26. 111 Siehe Anm. 31.

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Die Nähe zum König scheint Henry aber durchaus einen gewissen Schutz verschafft zu haben.112 Henrys jüdische Herkunft spielte aber nicht nur für die beschriebenen Geldgeschäfte eine wichtige Rolle. 1259 musste er darüber Rechnung ablegen, welches Einkommen er von den Juden erzielt hatte, war also wohl in irgendeiner Form für die Krone in Finanzfragen gegenüber Juden tätig – erneut also finanzielle Kompetenzen in der Hand eines ehemaligen Juden, der nachweislich ökonomisch bewandert war. Die – zweifelsohne vorhandene – Finanzkompetenz der englischen Juden konnte in der Person der Konvertiten im Dienste der Krone genutzt werden.113 Henrys Nutzen gründete sich noch auf eine weitere Kompetenz jüdischer Konvertiten, die ihnen auch sonst eine herausragende Rolle im jüdisch-christlichen Kulturtransfer bescherte: die Kenntnis des Hebräischen, eine Fertigkeit, die zu dieser Zeit fast nur Juden zu eigen war.114 Dies befähigte Henry, für seine Könige als Notar am jüdischen Exchequer zu wirken und im Jahre 1261 gemeinsam mit einem Kollegen die königlichen archae, in denen unter anderem Schuldscheine aus jüdisch-christlichen Geldgeschäften, häufig eben in hebräischer Sprache, verwahrt wurden, zu inventarisieren.115 Die Beauftragung eines Konvertiten war die einzige Möglichkeit Heinrichs III., seine finanziellen Interessen in dieser Angelegenheit nicht direkt in die Hände eines Juden geben zu müssen. Verbindungen wie die mit Moses de Clara waren es wahrscheinlich, die Henry besonders dazu befähigten, für seinen König Ermittlungen wegen Münzverbrechen, genauer wegen des Abschlagens von Edelmetallsplittern von Münzen, gegen Juden und Christen zu führen. Begnadigt wegen etwaiger Umtriebe in diesen Dingen, agierte er offenbar auf Seiten der Krone.116 So kaufte er auch 1279 Güter von für Münzverbrechen gehängten Juden auf und erhielt einen königlichen Schutzbrief, der es

|| 112 Vgl. FOGLE (Anm. 17), S. 109. 113 ROKÉAH (Anm. 79), Nr. 1259. Zu den englischen Juden siehe einführend ROTH (Anm. 76); Robert C. STACEY, Jewish Lending and the Medieval English Economy, in: Richard H. BRITNELL u. Bruce M. S. CAMPBELL (Hgg.), A Commercialising Economy. England 1086 to c. 1300, Manchester, New York 1995, S. 78–101 u. Robin R. MUNDILL, The King’s Jews. Money, Massacre and Exodus in Medieval England, London, New York 2010. 114 Stephen G. BURNETT, Jüdische Vermittler des Hebräischen und ihre christlichen Schüler im Spätmittelalter, in: Ludger GRENZMANN u. a. (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge 4), Berlin, New York 2009, S. 173–188, hier S. 174 u. PRZYBILSKI (Anm. 90), S. 188. 115 Close Rolls Henry III. (Anm. 37), Bd. 7: 1251–1253, S. 164. 116 BRAND (Anm. 5), S. 1151 über Henry von Winchester: „As a Christian convert from Judaism with a knowledge of Hebrew who had continued to have business dealings with unconverted fellow-Jews he was the ideal candidate to enter Jewish communities and collect evidence for the government.“; „As a Christian he was also able to do the same thing in Christian communities.“ BRAND vermutet zudem, dass Henry für den König Beweise gegen Münzfälscher sammelte, BRAND (Anm. 5), S. 1149– 1150. Close Rolls Edward I. (Anm. 33), Bd. 1: 1272–1279, S. 517.

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ihm nicht nur erlaubte, dies- und jenseits des Meeres mit den Waren zu handeln, sondern der ihn auch der Hilfe aller Untertanen und Freunde seines Königs versichern sollte.117 Der konvertierte Jude Henry von Winchester mag sich zwar bezüglich seines religiösen Bekenntnisses klar auf christlicher Seite verortet haben, in seinem Verhalten und den für seine Dienste relevanten Fähigkeiten blieben weite Teile seines alten Lebens aber offenbar präsent. Als Konvertit kannte Henry beide Welten und konnte sich zwischen ihnen bewegen. Umstände, die an anderer Stelle zu Skepsis und Verfolgung führen konnten, ja für die Zuschreibung von Ambiguität wesentlich mitverantwortlich waren, wurden in seinem Fall zum Nutzen des Königs kultiviert. Henry von Winchester durfte sich in einer Grauzone bewegen, stand er doch unter Befehl und Aufsicht des Königs. Umso wahrscheinlicher wird die Authentizität der eingangs geschilderten Ratssitzung. Dies würde in der Konsequenz bedeuten, dass Ambiguität in diesem Fall genau dann problematisiert wurde, als sie politische Fragen und Interessenlagen berührte – in diesem Fall, als ein Konvertit entscheidende Autorität über andere Christen ausüben sollte. Uneindeutigkeit und Ambiguität waren in Bezug auf Konvertiten vom Judentum zum Christentum im England des 13. Jahrhunderts, wie auch andernorts in Europa, offenkundig relevante Faktoren. Sie mögen in der Alltagspraxis tolerabel gewesen sein, sobald religiöse Zuordnungen aber weitergehende Konsequenzen hatten, wurde Vereindeutigung gefordert: ein Vorgang, der für Obrigkeiten ohnehin zentral gewesen zu sein scheint. Damit waren Versuche der Disambiguierung solange nicht notwendig, wie Zuordnungsfragen latent blieben. Durch die Krone angestellte Untersuchungen zur Konversion zweier (ehemaliger) Juden zeugen jedoch von dem Versuch, von Beginn an klare Grenzen zu ziehen, während die Frage der Beerdigung Benedicts von York und der Prozess gegen die dreizehn vermeintlichen Apostaten in London aufzeigt, wie Uneindeutigkeiten und Fremdzuschreibungen als Bedrohungen der öffentlichen Ordnung wahrgenommen werden konnten. Die englische Krone schien auf der einen Seite eine Politik der Grenzschärfung zu betreiben, die sogar den Betrieb einer Institution einschloss, die man als Einrichtung der Ambiguitätsprävention kontextualisieren kann, die selbst allerdings paradoxerweise wieder einen Halbraum bildete, gleichzeitig lässt sich aber auch eine verstärkte Toleranz von Grauzonen im unmittelbaren Umfeld und Dienst der Krone beobachten. Der Umgang mit Ambiguität bei jüdischen Konvertiten war also alles andere als eindeutig.

|| 117 Patent Rolls Edward I. (Anm. 80), Bd. 1: 1272–1281, S. 320. Der Umgang von Konvertiten mit jüdischen bzw. ehemals jüdischen Gütern im Auftrag des Königs ist auch anderweitig belegt: ROKÉAH (Anm. 79), Nr. 1151 zeigt, wie John le Convers über den Empfang von Konvertitengut Rechnung ablegen musste und ebd. Nr. 1259 zeigt, dass Henry von Winchester dem König Rechenschaft darüber ablegen musste, welches Einkommen er aus der Jewry erzielt hatte.

Benjamin Scheller

Vertreibung als Disambiguierung Die Ausweisungen der Juden aus England (1290), Frankreich (1394), Spanien (1492) und dem Königreich Neapel (1510) im Vergleich Zusammenfassung: Europa war im Mittelalter nicht durch eine christliche Einheitskultur geprägt, sondern vielerorts lange Zeit durch religiös-kulturelle Pluralität. Allerdings häuften sich seit dem 12. Jahrhundert Verfolgungen und Vertreibungen von Juden und Muslimen, sodass in den meisten europäischen Regionen, in denen zuvor wenigstens eine dieser beiden religiösen Minderheiten existierte, am Ende des Mittelalters nur noch Christen lebten. Für diese religiöse Entpluralisierung spielte die Problematik religiöser Ambiguität eine wichtige Rolle. Seit dem 12. Jahrhundert kam es in Europa vermehrt zu Konversionen von Juden und Muslimen zum Christentum. Konvertiten wurden von ihrer christlichen Umwelt jedoch vielfach als Personen mit ambiger religiöser Identität wahrgenommen, die die Grenze zwischen Christen und Nicht-Christen und damit eine Leitunterscheidung der sozialen Ordnung unklar werden ließ. Die Judenvertreibungen aus England 1290, Frankreich 1394, Spanien 1492 und die Vertreibung von Juden, konvertierten Juden sowie deren Nachkommen aus dem Königreich Neapel 1510 müssen daher als radikale Versuche religiöser Disambiguierung verstanden werden. Schlüsselwörter: Judentum, Konversion, Vertreibung, religiöse Verfolgung, Pluralität, Entpluralisierung, Apostasie Das Mittelalter war ein Zeitalter religiöser Pluralität. Mit diesen wenigen Worten lässt sich eine der zentralen Einsichten formulieren, zu denen die Mittelalterforschung in den letzten ca. zwanzig Jahren gekommen ist. Zwar bestand die Bevölkerung des mittelalterlichen Europa in ihrer Mehrheit aus Christen. Dennoch lag Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, genannt Novalis (1772–1801) falsch, als er Europa 1799 in seiner berühmten Schrift „Die Christenheit oder Europa“ als „ein christliches Land“ bezeichnete.1 Denn im Europa des Mittelalters lebten neben, mit und unter den Christen vielerorts auch Anhänger der beiden anderen monotheistischen Religionen, Judentum und Islam.

|| 1 Novalis, Werke und Briefe, hrsg. v. Alfred KELLETAT, München 1968, S. 389. || Prof. Dr Benjamin Scheller, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen, Universitätsstraße 12, 45141 Essen, e-mail: [email protected]

https://doi.org/10.1515/9783110608250-003

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Diese religiöse Pluralität war allerdings nicht allerorts, vor allem aber nicht zu allen Zeiten gleich stark ausgeprägt. Vielmehr lässt sich die Epoche des Mittelalters unter dem Gesichtspunkt der religiösen Pluralität regelrecht in zwei Phasen gliedern: eine erste Phase, die bis in das 12. Jahrhundert andauerte, in der religiöse Pluralität durch Prozesse der Migration und Expansion entstand und sich ausprägte, und eine zweite Phase ab dem späten 12. Jahrhundert, in der religiöse Pluralität durch Konversionen und die Vertreibung von Juden und Muslimen immer stärker schwand. Juden sind in Italien und auf der iberischen Halbinsel bereits seit den Jahrhunderten um die Zeitenwende belegt. Vor allem ab der Zeit Karls des Großen wanderten sie dann sukzessive auch in das nordwestliche Europa, sodass es Mitte des 12. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas jüdische Gemeinden gab.2 Muslime dagegen lebten während des Mittelalters ausschließlich in Südeuropa: auf der iberischen Halbinsel, im Süden Italiens und auf dem Balkan. Ihre Präsenz in Europa war vor allem die Folge militärischer Expansion.3 Zu Beginn des 8. Jahrhundert eroberten die Umayyaden weite Teile der iberischen Halbinsel. Seit 756 bildete sie als Emirat und später Kalifat von Cordoba ein eigenständiges Reich unter islamischer Herrschaft, das seit dem 11. Jahrhundert in Teilreiche zerfiel, die zunächst unter die Herrschaft der nordafrikanischen Almoraviden und dann der Almohaden kamen. Als christliche Königreiche, insbesondere Kastilien, Aragon und Portugal, die iberische Halbinsel bis 1492 nach und nach eroberten, geriet ab 1085 eine immer größere Zahl der dortigen Muslime unter christliche Herrschaft und lebte als sogenannte Mudéjares, von arabisch mudaǧǧan oder Mudajjan (Person, der es erlaubt wurde, zu bleiben), noch lange Zeit in Spanien und Portugal.4 Auch auf Sizilien etablierte sich der Islam von Nordafrika aus durch militärische Eroberung. Die Insel fiel zwischen 827 und 902 an die arabische Dynastie der Aglabiden, die seit dem Jahr 800 im nordafrikanischen Ifriqiya herrschte, das dem Gebiet der römischen Provinz Africa (Tunesien, Ost-Algerien und Tripolitanien) entsprach. || 2 Michael TOCH, Juden, in: Michael BORGOLTE (Hg.), Migration im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin u.a. 2014, S. 239–250; DERS., The Economic History of European Jews: Late Antiquity and Early Middle Ages, Leiden 2013; Robert CHAZAN, The Jews of Medieval Western Christendom: 1000–1500, Cambridge 2006; Elke-Vera KOTOWSKI, Julius H. SCHOEPS u. Hiltrud WALLENBORN (Hg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, 2 Bde., Darmstadt 2001; Friedrich BATTENBERG, Das Europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650, Darmstadt 1990. 3 Robert DURAND, Musulmans et chrétiens en Méditerranée occidentale: Xe–XIIIe siècles, Rennes 2000; Henri BRESC, Mudejars de pays de la Couronne d’Aragon et Sarrasins de la Sicilie normande: Le problème de l’acculturation, in: Charles Emmanuel DUFOURCQ u. a. (Hgg.), Jaime I y su época. 10 Congreso de Historia de la Corona de Aragón, Bd. 3, Zaragoza 1979, S. 51–60. 4 Georg BOSSONG, Das Maurische Spanien, München 2007; Montgomery W. WATT, A History of Islamic Spain, Repr. Edinburgh 2001; vgl. auch Leonard Patrick HARVEY, Islamic Spain, 1250 to 1500, Chicago 1994.

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Infolge der Eroberung ganz Süditaliens durch die normannische Dynastie Hauteville kam Sizilien im späten 11. Jahrhundert dann wieder unter christliche Herrschaft. Aber auch hier sollten Muslime noch längere Zeit, bis Mitte des 13. Jahrhunderts, ansässig bleiben.5 Auf dem Balkan schließlich fassten Muslime zwischen dem zehnten und dem zwölften Jahrhundert Fuß. Verschiedene türkische Stämme – Bulgaren, Petschenegen, Kumanen und andere – bildeten in dieser Zeit im Donaugebiet muslimische Gemeinschaften aus. Im christlichen Königreich Ungarn lebte zeitgenössischen Chronisten zufolge Ende des 12. Jahrhunderts eine große Zahl von Muslimen.6 Um die gleiche Zeit, im Jahr 1182, ordnete König Philipp II. von Frankreich jedoch erstmals die Vertreibung aller Juden aus seinem Reich an. Zwar wurde diese Vertreibung der Juden aus Frankreich wie die zweite von 1306 später widerrufen, nicht jedoch die dritte Vertreibung von 1394.7 Aus England wurden die Juden 1290 ausgewiesen.8 Im Jahr 1492 vertrieben die Katholischen Könige, Ferdinand II. von Aragón und Isabella von Kastilien, die Juden aus ihren Reichen. 1510 mussten die Juden, aber auch konvertierte Juden und ihre Nachkommen, das Königreich Neapel verlassen.9 Seit dem 13. Jahrhundert sahen sich die Juden vielerorts in Europa zudem gezwungen, zu konvertieren. Zwischen 1290 und 1292 nahmen die Juden fast aller bedeutenden Judengemeinden des Königreichs Neapel unter dem Druck der Inquisition

|| 5 Michele AMARI, Storia dei Musulmani di Sicilia, 5 Bde., Catania 1933–1937; Alex METCALFE, Muslims and Christians in Norman Sicily. Arabic Speakers and the End of Islam, London 2003; DERS., The Muslims of Sicily under Christian Rule, in: DERS. u. Graham A. LOUD, (Hgg.), The Society of Norman Italy, Leiden 2002, S. 289–317; Henri BRESC u. Annelise NEF, Les Mozarabes de Sicile (1100–1300), in: Martin CUOZZO (Hg.), Cavallieri all Conquista del Sud. Studi sull’Italia Normanna in Memoria di Leon-Robert Ménager, Bari 1998, S. 134–156. 6 Ivan HRBEK, Ein arabischer Bericht über Ungarn (Abū Hāmid al-Andalusī al-Garnātī, 1080–1170), in: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 5 (1955), S. 205–230, hier S. 208; Nora BEREND, At the Gate of Christendom: Jews, Muslims and Pagans in Medieval Hungary, c. 1000–c. 1300, Cambridge 2001, S. 64–68. 7 Robert CHAZAN, Medieval Jewry in Northern France. A Political and Social History, Baltimore 1973; Gilbert DAHAN (Hg.), L’expulsion des Juifs de France: 1394, Paris 2004; Céline BALASSE, 1306. L’expulsion des juifs du royaume de France, Bruxelles 2008. 8 Robin R. MUNDILL, Medieval Anglo-Jewry: Expulsion and Exodus, in: Friedhelm BURGARD, Alfred HAVERKAMP u. Gerd MENTGEN (Hgg.), Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 1999, S. 75–97; Robert C. STACEY, The Conversion of Jews to Christianity in Thirteenth-Century England, in: Speculum 67 (1992), S. 263–283. 9 Haim BEINART, The Expulsion of the Jews from Spain, Oxford, Portland 2002; Nadia ZELDES, The Former Jews of this Kingdom: Sicilian Converts after the Expulsion, 1492–1515, Leiden, 2003, S. 21– 26; Benjamin SCHELLER, Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spätmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion, Berlin 2013, S. 292–306.

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kollektiv die Taufe.10 Ein knappes Jahrhundert später, 1391, konvertierten in einer Welle von Pogromen, die Kastilien und die Krone von Aragón durchlief, hunderttausende von spanischen Juden. Die Juden Portugals wurden 1496 auf Anordnung des Königs samt und sonders zwangsgetauft.11 Auch die Muslime gerieten seit dem 13. Jahrhundert zunehmend unter Druck. Aus Sizilien siedelte sie Kaiser Friedrich II. in zwei Kampagnen zwischen 1223/24 und 1246/47 auf das süditalienische Festland nach Lucera in Apulien um. Im Jahr 1300 ließ König Karl II. sie dort gefangen setzen und als Sklaven verkaufen.12 Zehn Jahre nachdem sie das letzte muslimische Reich auf der iberischen Halbinsel, das Emirat von Granada erobert hatten, stellten die Katholischen Könige 1502 die Mudéjares von Granada und Kastilien vor die Wahl, entweder zum Christentum überzutreten oder das Reich zu verlassen. Da sie ihnen gleichzeitig untersagten, nach Aragón, Valencia, Katalonien oder Nordafrika auszuwandern, hatte dies die Folge, dass die andalusischen und kastilischen Mudéjares größtenteils konvertierten. Nach der Eroberung Navarras durch Spanien mussten die dortigen Muslime ebenfalls die Taufe nehmen, 1521 schließlich traten auch die Muslime Valencias unter pogromartigen Umständen größtenteils zum Christentum über. Fünf Jahre später befahl Karl V., dass alle Muslime Spaniens Christen werden oder das Land verlassen müssten.13 Zwar entstand auf dem Balkan infolge der osmanischen Eroberungen seit dem 14. Jahrhundert abermals eine Region, die von erheblicher religiöser Pluralität geprägt war. Christen, Muslime und Juden, darunter viele Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen aus der iberischen Halbinsel, sollten dort bis in die jüngste Vergangenheit in enger Nachbarschaft leben.14 Doch kann kein Zweifel bestehen, dass Europa am Ende des Mittelalters religiös wesentlich weniger plural war als 250 Jahre zuvor. Wenn überhaupt jemals, dann war Europa am Übergang zur Neuzeit „ein christliches Land“.

|| 10 Benjamin SCHELLER, Die Bettelorden und die Juden. Mission, Inquisition und Konversion im Südwesteuropa des 13. Jahrhunderts: ein Vergleich, in: Wolfgang HUSCHNER u. Frank REXROTH (Hgg.), Gestiftete Zukunft im mittelalterlichen Europa, Berlin 2008, S. 89–122; SCHELLER (Anm. 9). 11 Philippe WOLFF, The 1391 Pogrom in Spain: Social Crisis or Not?, in: Past & Present 50 (1971), S. 4–18; David M. GITLITZ, Secrecy and Deceit: The Religion of the Crypto-Jews, Philadelphia 1996, S. 6–53; David NIRENBERG, Enmity and Assimilation: Jews, Christians, and Converts in Medieval Spain, in: Common Knowledge 9 (2003), S. 137–155. 12 Benjamin SCHELLER, Assimilation und Untergang: Das muslimische Lucera in Apulien und sein gewaltsames Ende im Jahr 1300 als Problem der Globalgeschichte des Mittelalters, in: DERS. u. Tillman LOHSE (Hgg.), Europa in der Welt des Mittelalters. Ein Colloquium für und mit Michael Borgolte, Berlin u. a. 2014, S. 141–162. 13 Leonard Patrick HARVEY, Muslims in Spain, 1500 to 1614, Chicago u. a. 2005; Isabelle POUTRIN, La Conversion des musulmans de Valence (1521–1525) et la doctrine de l’Église sur les baptêmes forcés, in: Revue Historique 310 (2008), S. 819–856. 14 Yaron BEN-NAEH, Jews in the Realm of the Sultans, Tübingen 2008.

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Die Gründe für diesen Prozess religiöser Entpluralisierung sind bis dato alles andere als klar. Die Forschung hat eine Reihe von Ursachen dafür herausgearbeitet, dass sich die Situation der Juden und der Muslime in den genannten Regionen Europas im Spätmittelalter verschlechterte. Ohne Zweifel spielten neue Negativstereotypen hierfür eine große Rolle. Erinnert sei hier an die Ritualmord- und Hostienschändungsvorwürfe gegen Juden, die im 12. bzw. 13. Jahrhundert aufkamen.15 Eine wichtige Rolle soll außerdem die Entstehung eines christlichen Bank- und Kreditwesens seit dem 12. Jahrhundert gespielt haben, das die Juden ihrer Funktion beraubt und sie in den Augen der Christen „überflüssig“ gemacht habe.16 Immer wieder vorgebracht wurden ferner verschiedene Versionen von „Sündenbock- bzw. Blitzableitertheorien“, denen zufolge Juden und Muslime in politischen oder sozialen Krisen zur Zielscheibe von Verfolgung und Vertreibung wurden. Als Grund für die spätmittelalterlichen Vertreibungen religiöser Minderheiten hat man zudem die Entstehung von Zentralmonarchien benannt, die in Wechselbeziehung zu Prozessen religiöser Vereinheitlichung gestanden haben.17 Allerdings sind Versuche, übergreifende Tendenzen zu identifizieren, um den Prozess religiöser Entpluralisierung zu erklären, der sich in Europa seit ca. 1200 beobachten lässt, eher in der Minderheit. Und selbst bezüglich der Erklärung einzelner Vertreibungen oder Massenkonversionen besteht in der Forschung alles andere als Einigkeit. In ihrem unlängst erschienenen Buch über die Vertreibung der Juden aus Frankreich 1306 hat Céline BALASSE nicht weniger als 18 verschiedene Forschungsmeinungen zu den Ursachen dieser einen, temporären Vertreibung skizziert.18 Und selbstverständlich fand jede der Massenkonversionen unter je eigenen, kontingenten Umständen statt.19 Dennoch lässt sich gerade bei den spätmittelalterlichen Vertreibungen religiöser Minderheiten ein verbindendes Element ausmachen: das Problem der religiösen Ambiguität, das heißt ambiger religiöser Identitäten bzw. Zugehörigkeiten. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. Dabei soll an dieser Stelle ausdrücklich betont sein, dass || 15 E. M. ROSE, Royal Power and Ritual Murder: Notes on the Expulsion of the Jews from the Royal Domain of France, 1182, in: Katherine Ludwig JANSEN, Guy GELTNER u. Anne Elisabeth LESTER (Hgg.), Center and Periphery: Studies on Power in the Medieval World in Honor of William Chester Jordan, Leiden 2013, S. 51–64. 16 Markus J. WENNINGER, Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien u. a. 1981. 17 Sophia MENACHE, The King, the Church and the Jews: Some Considerations on the Expulsions from England and France, in: Journal of Medieval History 13 (1987), S. 223–236. 18 BALASSE (Anm. 7), S. 239–245; David ABULAFIA, Monarchs and Minorities in the Christian Western Mediterranean around 1300: Lucera and its Analogues, in: Scott L. WAUGH u. Peter D. DIEHL (Hgg.), Christendom and its Discontents: Exclusion, Persecution and Rebellion 1000–1500, Cambridge 1996, S. 234–260. 19 Jonathan ELUKIN, Living together, Living apart: Rethinking Jewish-Christian Relations in the Middle Ages, Princeton, NJ 2007, S. 120.

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es mitnichten darum gehen soll, den Prozess religiöser Entpluralisierung im Europa des Spätmittelalters monokausal zu erklären und die sehr unterschiedlichen politischen und sozialen Umstände, unter denen es in den verschiedenen Regionen Europas im Spätmittelalter dazu kam, einer homogenisierenden Deutung zu unterwerfen. Vielmehr soll es darum gehen, einen Aspekt herauszuarbeiten, der immer wieder eine wichtige Rolle bei Vertreibungen religiöser Minderheiten im Spätmittelalter spielte, auf den die Forschung zu den einzelnen Vertreibungen daher auch bereits wiederholt hingewiesen hat, dessen Tragweite jedoch nur in einer übergreifenden, vergleichenden und daher notwendigerweise von einer Fülle von Einzelumständen abstrahierenden Zusammenschau deutlich werden kann. Dabei wird es zunächst um den Zusammenhang von religiösen Konversionen und religiöser Ambiguität gehen. Abschließend wird zu zeigen sein, dass religiöse Ambiguität eine wichtige Rolle für die Entscheidung europäischer Monarchen des Spätmittelalters spielte, religiöse Minderheiten zu vertreiben. Es würde allerdings den Rahmen sprengen, an diesem Ort sämtliche Vertreibungen des Spätmittelalters zu behandeln. Daher sollen vier Judenvertreibungen exemplarisch in den Blick genommen werden: die Vertreibungen aus England (1290), Frankreich (1394), Spanien (1492) und die Vertreibung der Juden, konvertierten Juden und der Nachkommen konvertierter Juden aus dem Königreich Neapel 1510.

1 Ambige religiöse Identitäten: Konversionen und ihre Folgen Zentral für die Frage nach der Toleranz gegenüber ambigen religiösen Identitäten und Praktiken ist das Problem der religiösen Konversion. Denn es war vor allem eine Gruppe von Menschen, denen ihre christliche Umwelt im Europa des Hoch- und Spätmittelalters eine uneindeutige religiöse Identität zuschrieb: Konvertiten vom Judentum oder Islam zum Christentum.20 Während aus dem früheren Mittelalter nur wenige Konversionen von Juden oder Muslimen zum Christentum überliefert sind, werden die Belege für religiöse Konversionen seit dem 12. Jahrhundert zahlreicher. Dabei lassen sich ganz unterschiedliche Motive beobachten. Übertritte zum Christentum konnten die Folge religiöser Bekehrungserlebnisse sein. Viele Konversionen jedoch erfolgten aus sehr profanen Motiven. Muslimische Sklaven in Kastilien und den Reichen der Krone von Aragon ließen

|| 20 SCHELLER (Anm. 10); DERS., Die Grenzen der Hybridität. Konversion, uneindeutige religiöse Identitäten und obrigkeitliches Handeln im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Werner RÖCKE u. Julia WEITBRECHT (Hgg.), Zwischen Ereignis und Erzählung. Konversion als Medium der Selbstbeschreibung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin u. a. 2016, S. 297–315.

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sich in der Hoffnung taufen, so ihre Freilassung zu erreichen.21 Jüdische und muslimische Adoleszenten wurden Christen, um der väterlichen Autorität zu entfliehen.22 Andere konvertierten, um aus der Haft freizukommen.23 Die überwältigende Mehrheit der Juden und Muslime, die im Spätmittelalter zum Christentum übertraten, fasste diesen Entschluss nicht freiwillig, sondern unter Androhung von Gewalt und anderer Zwangsmittel. Seit dem Beginn des 13. Jahrhundert gab es für sie in den christlichen Reichen Europas kaum noch eine Möglichkeit, ihren Glauben, den sie niemals hatten aufgeben wollen, weiter zu praktizieren, ohne das Risiko einzugehen, als Apostaten verfolgt und verurteilt zu werden. Die Kirche hatte sich seit der Spätantike immer wieder gegen Zwangstaufen ausgesprochen. Die päpstliche Judenschutzbulle ‚Sicut Iudeis‘, die Papst Calixt III. (Papst 1119–1124) erstmals promulgierte, wiederholte dieses Verbot bis in das 15. Jahrhundert und begründete es damit, dass Juden, die zum Übertritt gezwungen werden, selten gute Christen würden: „Es ist nämlich nicht zu erwarten, dass jemand, der bekanntermaßen nicht aus eigenem Antrieb, sondern gegen seinen Willen zur christlichen Taufe gelangt, dem wahren christlichen Glauben anhängt.“24 Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts gibt es Belege für zwangsgetaufte Juden, denen ihre weltlichen Herren gestatteten, weiterhin als Juden zu leben. Der bekannteste Fall sind die Juden von Regensburg, die 1096 zwangsgetauft wurden, denen Heinrich IV. im Jahr darauf jedoch gestattete, weiterhin ihren angestammten Glauben zu praktizieren, da ihre Taufe unter Zwang erfolgt war.25 Auch der englische Jude Benedict von York, der während der Pogrome zwangsgetauft worden war, zu denen es 1189 am Rande der Krönung König Richards I. kam, erhielt von diesem die Erlaubnis, weiterhin als Jude zu leben. Allerdings soll Benedict, der kurz darauf starb, zeitgenössischen Chronisten zufolge weder auf einem jüdischen noch auf einem christlichen Friedhof ein Begräbnis gefunden haben.26 Die Kirche untersagte zwar die Taufe unter

|| 21 Solomon GRAYZEL, The Church and the Jews in the 13th Century, New York 1966, Nr. 17, S. 19. 22 David MALKIEL, Jews and Apostates in Medieval Europe: Boundaries Real and Imagined, in: Past and Present 194 (2007), S. 3–34, hier S. 30; Ibn Dschubair, Tagebuch eines Mekkapilgers, hrsg. v. Regina GÜNTHER, Lenningen 2004, S. 256. 23 Alexandra GUERSON, Seeking Remission: Jewish Conversion in the Crown of Aragon, c. 1378–1391, in: Jewish History 24 (2010), S. 33–52, hier S. 33. 24 Shlomo SIMONSOHN, The Apostolic See and the Jews, Bd. 1 (Pontifical Institute of Medieval Studies: Studies and Texts, 94), Leiden 1988, Nr. 49, S. 51–52: Veram quippe Christianitatis fidem habere non creditor, qui ad Christianorum baptismum non spontaneous, sed invitus cognoscitur pervenire. Übersetzung nach Julius H. SCHOEPS u. Hiltrud WALLENBORN (Hgg.), Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter, Darmstadt 2001. 25 Johann F. BÖHMER, Regesta Imperii III. Salisches Haus 1024–1125, Tl. 2: 1056–1125, 3. Abt.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich IV. 1056 (1050)–1106. 1. Lief.: 1056 (1050)–1065, bearb. v. Tillmann STRUVE, Köln u. a. 1984, Nr. 1409. 26 S. hierzu KLEIN, in diesem Band.

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Androhung von Gewalt. Ob eine dem Verbot zum Trotz erfolgte Zwangstaufe gültig war, war unter den Zeitgenossen jedoch offenbar umstritten. Im Jahr 1201 traf Papst Innozenz III. allerdings eine folgenreiche Entscheidung bezüglich der Gültigkeit von Taufen unter Zwang. In einer Dekretale unterschied der Papst zwei Typen von unfreiwilligen und erzwungenen Taufen (invitum et invitum, coactum et coactum) und damit gleichzeitig Täuflinge, die während des Taufaktes allen Gewaltandrohungen zum Trotz mit Worten äußerten, dass sie nicht getauft werden wollten, von Täuflingen, die solche Einwände während des Taufaktes nicht vorbrachten. Nur erstere hätten die Taufe unter absolutem Zwang empfangen und könnten daher ihrer überkommenen Religion weiterhin anhängen. Letztere dagegen hätten die Taufe unter bedingtem Zwang empfangen. Diese sei daher gültig.27 Die Forschungsdiskussion zur großen Mehrzahl der Konvertiten, deren Übertritt nicht freiwillig erfolgt war, konzentrierte sich lange Zeit auf die Frage, ob diese oder ihre Nachkommen dennoch „richtige“ Christen geworden seien oder eben nicht, und hat sich mit der Zeit zusehends als aporetisch erwiesen. So sind etwa bei der Beurteilung der Conversos auf der iberischen Halbinsel – also der Juden, die während der Pogrome von 1391 die Taufe genommen hatten, und ihrer Nachkommen – immer wieder diametral gegensätzliche Positionen formuliert worden.28 Dabei sind sowohl assimilierte Konvertiten in den Quellen belegt als auch solche, die versuchten, weiterhin die Religion zu praktizieren, die sie niemals hatten aufgeben wollen. Zwischen diesen entgegengesetzten Polen gab es ein breites Spektrum. Im Falle der spanischen Conversos reichte es von religiösen Eiferern über „low-profile Christians“ und unauffällige Judaisierer bis hin zu streng gläubigen Judaisierern.29 Bis in das 16. Jahrhundert gibt es praktisch keine Belege für eine systematische Katechese von Konvertiten.30 Außerdem bestanden seitens der christlichen Mehrheit oftmals Vorbehalte gegenüber ihren neuen Glaubensbrüdern und -schwestern. Die ‚Siete Partidas‘, das berühmte Gesetzbuch, das König Alfons der Weise von Kastilien zwischen 1251 und 1256 zusammenstellen ließ, drohte Christen mit Strafe, die jüdische oder muslimische Konvertiten beleidigten oder bedrängten.31 Dennoch wurden Konvertiten und teilweise auch noch ihre Nachkommen vielfach als Conversos, Neofiti oder Neuchristen oder mit offen abwertenden Bezeichnungen wie ‚beschnittene Hunde‘ oder Marranos etikettiert. Diese evozierten auf die eine

|| 27 Solomon GRAYZEL, The Confession of a Medieval Jewish Convert, in: Historia Judaica 17 (1955), S. 89–120; DERS., Popes, Jews, and Inquisition: From ‚Sicut‘ to ‚Turbato‘, in: Abraham I. KATSH u. Leon NEMOY (Hgg.), Essays on the Occasion of the Seventieth Anniversary of the Dropsie University, Philadelphia 1979, S. 151–188. 28 SCHELLER (Anm. 9), S. 12. 29 GITLITZ (Anm. 11), S. 85–88. 30 SCHELLER (Anm. 20). 31 Medieval Iberia. Readings from Christian, Muslim, and Jewish Sources, hrsg. v. Olivia R. CONSTABLE, Philadelphia 1997, S. 270, 273.

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oder andere Weise, dass die Konvertiten oder ihre Vorfahren einst „Ungläubige“ gewesen waren, und schrieben ihnen so eine doppelte und damit uneindeutige religiöse Identität zu, in der sich Elemente der vormaligen mit Elementen der neuen religiösen Zugehörigkeit verbanden.32 Viele Konvertiten, vielleicht sogar die meisten, fanden sich daher als Grenzgänger zwischen den religiösen Gemeinschaften wieder, unabhängig davon, ob sie den Übertritt freiwillig oder aus Zwang, aus religiösen oder weltlichen Motiven, als Einzelner oder aber als Teil eines Kollektivs vollzogen hatten, ob sie tatsächlich im Verborgenen weiter ihre frühere Religion praktizierten oder nicht. Sie waren: „[n]either full outsiders nor full insiders“.33 Seit Mitte des 12. Jahrhunderts nahmen weltliche und geistliche Autoritäten die ambige religiöse Identität von Konvertiten zunehmend als Bedrohung des christlichen Glaubens wahr. Um 1140 stellte König Roger II. von Sizilien als erster weltlicher Herrscher seit dem römischen Kaiser Gratian im Jahr 383 Apostasie explizit unter Strafe. Damit reagierte er auf Vorwürfe, dass die sogenannten Palastsarazenen, konvertierte Muslime, die wichtige Aufgaben in der Finanzverwaltung des Königreichs innehatten, nur äußerlich als Christen lebten, insgeheim jedoch dem Islam anhingen.34 Grundsätzlich befasste sich ein Beschluss des 4. Laterankonzils von 1215 mit der ambigen religiösen Identität von Konvertiten und den Gefahren für den christlichen Glauben, die aus ihr angeblich zu resultieren drohten: Manche, die freiwillig zum Wasser der heiligen Taufe hinzugetreten sind, ziehen, wie wir erfahren haben, den alten Menschen nicht ganz aus, um den neuen umso vollkommener anzuziehen, denn sie behalten Reste der früheren Lebensform bei und entstellen durch solche Vermischung den Glanz der christlichen Religion. Da aber geschrieben steht: Verflucht, wer das Land auf zwei Wegen betritt, und da man kein Kleid anziehen darf, das aus Leinen und Wolle gewebt ist, bestimmen wir: ‚Solche Leute müssen von den Kirchenoberen unbedingt von der Observanz der alten Lebensform abgebracht werden, damit, wer durch freie Willensentscheidung zur christlichen Religion gefunden hat, durch heilsamen Zwang bei ihrer Einhaltung verbleibt […].35

|| 32 SCHELLER (Anm. 9), S. 311–335. 33 David L. GRAIZBORD, Souls in Dispute. Converso Identities in Iberia and the Jewish Diaspora, 1580– 1700, Philadelphia 2004, S. 104. 34 Le Assise di Ruggerio II, hrsg. v. Ortensio ZECCHINO (Pubblicazioni della Facoltà giuridica dell’Università di Napoli 209), Napoli 1984, Nr. 13; vgl. Benjamin SCHELLER, Migrationen und kulturelle Hybridisierungen im normannischen und staufischen Königreich Sizilien (12.–13. Jahrhundert), in: Michael BORGOLTE u. Matthias TISCHLER (Hgg.), Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien und Afrika, Darmstadt 2012, S. 167–186, S. 177–178. 35 Josef WOHLMUTH (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), Paderborn u. a. 2000, S. 266: Quidam, sicut accepimus, qui ad sacri undam baptismatis voluntarii accesserunt, veterem hominem omnino non exuunt, ut novum perfectius induant, cum prioris ritus reliquias retinentes, christianae

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Mit Anklängen an das 3. und das 5. Buch Mose (Lev. 19, 19; Deut. 22, 11) werden Konvertiten hier als Mischwesen charakterisiert, die weder ihre frühere religiöse Identität bewahrt noch eine neue, sondern eine doppelte religiöse Identität angenommen haben und dadurch die Einheit des christlichen Glaubens gefährden. Die Bestimmung, dass Konvertiten, deren religiöser Lebensführung es an Eindeutigkeit gebrach, zur Observanz des Christentums gezwungen werden müssten, fand vielerorts noch im 13. Jahrhundert Eingang in das weltliche Recht. Der Schwabenspiegel etwa bestimmte: „Wird ein Jude Christ und will er danach wieder zum jüdischen Glauben zurückkehren, sollen ihn geistliche und weltliche Gerichte zwingen, Christ zu bleiben. Und wenn er den Christenglauben verleugnet und davon nicht ablassen will, soll man ihn wie einen Ketzer verbrennen“36. Die ‚Siete Partidas‘ Alfons’ X. von Kastilien bedrohten Christen, die zu Judentum oder Islam übergingen, mit der Todesstrafe.37 Auch hier muss davon ausgegangen werden, dass es in dieser Bestimmung vor allem um „rückfällige“ Konvertiten ging. Seit ungefähr derselben Zeit sahen sich Konvertiten vom Judentum zum Christentum, die einer religiösen Lebensführung verdächtigt wurden, die nicht eindeutig christlich war, in vielen Reichen Europas mit der Inquisition konfrontiert.38 Damit gerieten gleichzeitig auch ihre früheren Glaubensbrüder und -schwestern in neuer Weise unter Verfolgungsdruck. Im Jahr 1266 erließ Papst Clemens IV. die Bulle ‚Turbato Corde‘. In dieser wies er die Inquisitoren an, nicht nur gegen Christen, die zum Judentum übergegangen waren, sondern auch gegen Juden vorzugehen, die unter dem Verdacht standen, sie hierbei unterstützt oder gar dazu angestiftet zu haben.39 Mit ersteren kann der Papst || religionis decorem tali commixtione confundant. Cum autem scriptum sit: maledictus homo qui terram duabus viis ingreditur, et indui vestis non debeat lino lanaeque contexta, statuimus, ut tales per praelatos ecclesiarum ab observantia veteris ritus omnimodo compescantur, ut quos christianae religioni liberae voluntatis arbitrium obtulit, salutiferae coactionis necessitas in eius observationae conservet […]. 36 Christine MAGIN, „Wie es umb der iuden recht stet“. Der Status der Juden in spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern (Göttinger Philosophische Dissertationen 7), Göttingen 1999, S. 174–175. 37 CONSTABLE (Anm. 31), S. 270, 273. 38 SCHELLER (Anm. 10). 39 SIMONSOHN (Anm. 24), Nr. 230, S. 236–237: […] Turbato corde audivimus et narramus, quod quamplurimi reprobi Christiani, veritatem Catholice fidei abnegantes, se ad ritum Iudaicum dampnabiliter transtulerunt, quod tanto magis reprobum fore dinoscitur, quanto ex hoc Christi nomen sanctissimum quadam familiari hostilitate securius blasphematur. Cum autem huic pesti dampnabili, que, sicut accepimus, non sine subversione predicte fidei nimis excrescit, congruis et festinis deceat remediis obviari, universitati vestre per apostolica scripta mandamus, quatinus infra terminos vobis ad inquirendum contra hereticos auctoritate sedis apostolice designatos super premissis tam per Christianos quam etiam per Iudeos inquisita diligenter et sollicite veritate, contra Christianos, quos talia inveneritis commisisse, tamquam contra hereticos procedatis; Iudeos autem, qui Christianos utriusque sexus ad eorum ritum execrabilem hactenus induxerunt, aut inveneritis de cetero inducentes, pena debita puniatis; contradictores per censuram ecclesiasticam, appellatione postposita, compescendo; invocato ad hoc, si opus fuerit, auxilio brachii secularis.

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nur „rückfällige“ Konvertiten gemeint haben. Denn es gibt keine Belege dafür, dass es zu jener Zeit in nennenswerter Zahl andere Christen gegeben hätte, die zum Judentum „übergingen“. Im Jahr 1274 ließ Papst Gregor X. die Bulle abermals ergehen, diesmal mit einem Wortlaut, in dem explizit die Rede von Konvertiten war, die zum Judentum zurückgekehrt waren.40 Die Bulle ‚Turbato Corde‘ zielte also nicht nur auf Konvertiten ab, deren religiöse Lebensführung nicht eindeutig christlich war, sondern auch auf jene ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern, die solche Uneindeutigkeit begünstigten oder gar zu ihr verleiteten. Sie wurde 1288 und 1290 abermals erlassen und gab der Verfolgung von Juden, die unter dem Verdacht standen, konvertierten Juden geholfen zu haben, auch in Regionen und Königreichen Europas Auftrieb, in denen die päpstliche Inquisition niemals etabliert worden war.41 Seit dieser Zeit lassen sich immer wieder Wechselbeziehungen zwischen der Auseinandersetzung um die religiöse Lebensführung von Konvertiten, der Rolle, die ihre früheren Glaubensbrüder und -schwestern dabei spielten und der Vertreibung religiöser Minderheiten beobachten. Dies gilt für die Vertreibung der Juden aus England 1290, aus Frankreich 1394, aus Spanien 1492, die Vertreibung von Juden, konvertierten Juden und ihrer Nachkommen aus dem Königreich Neapel 1510 sowie für die Ausweisung bzw. Massenkonversion der Muslime von Granada 1501, eventuell auch für die Umsiedlung der Muslime Siziliens auf das süditalienische Festland im 13. Jahrhundert. Auf diese Zusammenhänge ist vereinzelt bereits hingewiesen worden, ohne dass sie jedoch vergleichend und in systematischer Perspektive betrachtet worden wären. Ein solcher Vergleich soll im Folgenden versucht werden. Aus Raumgründen muss er sich auf die Analyse des Zusammenhangs von Ambiguität und Vertreibung bei den genannten Judenvertreibungen der Jahre 1290, 1394, 1292 und 1510 beschränken.

2 England 1290 Die erste Judenvertreibung des Mittelalters, die nicht nach einigen Jahren wieder aufgehoben wurde, war die Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290. Am 18. Juli dieses Jahres erließ König Edward I. ein Edikt, mit dem alle Juden aus England verbannt wurden. Sie mussten das Königreich bis November verlassen, erhielten freies Geleit auf ihrem Weg in die Hafenstädte und die Erlaubnis, ihre bewegliche Habe mitzunehmen. Auch bei den Vertreibungen der Juden aus Frankreich 1394, Spanien 1492 und der Vertreibung der Juden, konvertierten Juden und ihrer Nachkommen aus dem

|| 40 SIMONSOHN (Anm. 24), Nr. 236, S. 244–245. 41 SIMONSOHN (Anm. 24), Nr. 260, S. 266; STACEY (Anm. 8), S. 281.

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Königreich Neapel 1510 erhielten die Verbannten drei Monate Zeit, das Land zu verlassen, freies Geleit bis zur Grenze und die Erlaubnis, so viel ihrer beweglichen Habe mitzunehmen, wie sie transportieren konnten, bzw. diese zu verkaufen. Die katholischen Könige gestatteten den Juden Spaniens 1492 sogar, ihre Häuser und ihren Landbesitz zu verkaufen und den Erlös mit ins Exil zu nehmen. Allerdings konterkarierten sie dies dadurch, dass sie die Ausfuhr von gemünztem Edelmetall verboten. Anders als im Falle der anderen genannten Judenvertreibungen ist das englische Vertreibungsedikt von 1290 nicht erhalten. Wir wissen daher nicht, welche Begründung für die Vertreibung es enthielt. Am 5. November 1290, also nach der Vertreibung, begründete König Edward I. sie damit, dass die englischen Juden gegen das Wucherverbot verstoßen hätten, das mit dem ‚Statutum de Iudaismo‘ 1275 verkündet worden war.42 Es gibt allerdings eine Reihe von Belegen dafür, dass im Jahrzehnt vor der Vertreibung eine andere Frage weit oben auf der Agenda des Königs stand: die religiöse Lebensführung jüdischer Konvertiten zum Christentum und der Einfluss von Jüdinnen und Juden auf diese. Ein auf den November 1286 datiertes Schreiben Papst Honorius’ IV. an den Erzbischof von Canterbury, John Peckham, und seine Suffragane, thematisiert vermeintliche Verfehlungen der Juden Englands. Die mit weitem Abstand detaillierteste Passage behandelt dabei ihren Einfluss auf ehemalige Glaubensbrüder und -schwestern, die zum Christentum konvertiert sind: Die erwähnten Juden erdreisten sich nicht nur, die Sinne der Gläubigen zu ihrer pestbringenden Sekte zu locken, sie scheuen auch nicht davor zurück, jene durch vielfältige Gaben zum Abfall vom Glauben zu verleiten, die geleitet von heilbringendem Rat dem Irrtum des Unglaubens abgeschworen haben und zum Lichte des katholischen Glaubens herbeigeeilt sind. Einige von jenen, die durch die listige Bosheit derselben Juden verführt wurden, leben gemeinsam mit ihnen und nach ihrem Ritus und Gesetz in den Pfarreien, in deren Kirchen sie durch die heilige Quelle der Taufe wiedergeboren wurden und führen dort in Beleidigung unseres Erlösers und zur Schande der Gläubigen und zum Abbruch des christlichen Glaubens ein schändliches Leben. Außerdem bringen die genannten Juden viele von diesen (Konvertiten) in andere Orte, wo sie niemand kennt, damit sie gewissermaßen als Unbekannte zu ihrem treulosen Unglauben zurückkehren können. In ihrer Gemeinheit unterlassen es die genannten Juden auch nicht, Rechtgläubige einzuladen und nachdrücklich dazu anzustiften, an allen Sabbat-Tagen und anderen ihrer Festtage in ihren Synagogen ihren Gottesdienst zu hören, ihn den Gewohnheiten ihres Ritus entsprechend zu feiern und der Schriftrolle oder dem Buch, in dem ihr Gesetz geschrieben steht, Ehrerbietung zu erweisen. Deswegen judaisieren viele Christen mit den Juden in der gleichen Weise.43

|| 42 Robin R. MUNDILL, England’s Jewish Solution. Experiment and Expulsion, 1262–1290 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Ser. 4, 37), Cambridge 1998, S. 255. 43 Solomon GRAYZEL, The Church and the Jews in the XIIIth Century, New York 1989, Nr. 50, S. 159: Praefati quoque Judaei non solum mentes Fidelium ad eorum sectam pestiferam allicere moliuntur;

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Dem Papst zufolge waren die konvertierten Juden Englands also schwankend in ihrem neuen Glauben und stets gefährdet, von diesem abzufallen. Verantwortlich hierfür waren in den Augen des Papstes jedoch weniger die Konvertiten selbst als die Juden, die ihre ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern verleiteten, zum Judentum zurückzukehren und so eine ambige religiöse Landschaft entstehen ließen, in der Juden, rückfällige Konvertiten und „geborene“ Christen in enger Nachbarschaft lebten, die Konvertiten regelrecht zwischen Kirche und Synagoge oszillierten und die Grenze zwischen den religiösen Gemeinschaften unscharf wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Vorwürfe des Papstes auf Beschuldigungen basierten, die Erzbischof John Peckham selbst gegenüber Honorius IV. vorgebracht hatte.44 Peckham wiederum hatte bereits 1281 bei König Edward I. Klage gegen rückfällige Konvertiten erhoben und den König aufgefordert, diese dazu zu zwingen, die Vorschriften des christlichen Glaubens zu befolgen.45 Fünf Jahre später hatten sich die Prioritäten offenkundig verschoben. Angeklagt wurden nun nicht mehr in erster Linie die Konvertiten wegen ihrer uneindeutigen religiösen Lebensführung, sondern die Juden, denen man vorwarf, diese Uneindeutigkeit herbeizuführen, indem sie konvertierte Jüdinnen und Juden zur Apostasie anstifteten und sie dabei unterstützten. Auf Initiative des Erzbischofs von Canterbury forderte der Papst den englischen Klerus 1286, also vier Jahre vor der Vertreibung der Juden aus England, dazu auf, sich

|| verum etiam illos, qui salubri ducti consilio infidelitatis abjurantes errorem ad lucem Catholicae Fidei convolarunt, donis multimodis ad apostatandum inducere non verentur, quorum aliqui dolosa Judaeorum ipsorum seducti malitia publice illis cohabitant; et juxta ritum et legemn ipsorum in Parochiis, in quarum Ecclesiis renati sacro fonte Baptismatis extiterunt, immo nequissimam vitam ducunt in nostri Redemptoris injuriam, Fidelium scandalum, et derogationem Fidei Christianae: ac etiam nonnullos ex talibus iidem Judaei ad alia loca nequiter destinant, ut ibi tamquam incogniti ad suam perfidiam revertantur. Non ommitit Judaeorum ipsorium nequitia, quin Fidei orthodoxae cultores quolibet die Sabbati, ac aliis solemnitatibus eorundem invitet, ac instanter inducat, ut in Synagogis suis ipsorum officium audiant, illudque juxta sui ritus consuetudinem solemnizent rotulo involuto membranis, seu libro, in quibus lex eorum conscripta consistit, reverentiam exhibentes: quamobrem plerique Christicolae cum Judaeis pariter judaizant. 44 GRAYZEL (Anm. 43), S. 160. 45 Registrum epistolarum fratris Johannis Peckham, archiepiscopi cantuariensis, hrsg. v. Charles T. MARTIN, London 1882–85, Nr. 198, S. 239: Non sine dolore cordis et angustia est nostris auribus inculcatum quod nonnulli, sexus utriusque, tam in civitate London’ quam alibi, qua a Judaica perfidia ad Christianam religionem conversi fuerant, ad vomitum redierunt, superstitionem Judaicam, ut primitus non sine contemptu fidei Christianae nequiter mutantes. Quodcirca celsitudini vestrae humiliter supplicamus quatenus praecipere dignemini dilecto filio […] archidiacono Roffensi, qui ad hoc dicitur deputari, ut vos super hujusmodi apostatis certificet, et circa illos si placet jubeatis exerceri quod dect regiam majestatem. Licet enim Judaei ad professionem Christianae fidei compelli nequeant, postquam tamen, ad ipsam fidem sunt conversi, et sacramentum baptismatis meruerunt, ipsam tenere, servare et secundum eam perpetuo vivere sunt modis compellendi.

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dem in den Weg zu stellen „und durch geistliche und weltliche Strafen sowie auf andere Weise (Hervorhebung B. S.)“, die sie in ihren Predigten ankündigen sollten, wie es ihrem Amt gebührt, Abhilfe zu schaffen, „damit diese Krankheit durch die Anwendung von Medizin geheilt werde.“46 Im Königreich England hatte die Frage der religiösen Identität konvertierter Juden die geistlichen und weltlichen Eliten schon seit längerem beschäftigt. Im Jahr 1232 hatte König Heinrich III. die domus conversorum gegründet, die die Aufgabe hatte, die Konvertiten bei der Ausbildung einer stabilen, eindeutig christlichen religiösen Identität zu unterstützen und Konvertiten mit ambiger religiöser Identität zumindest unter die Kontrolle des Königs zu bekommen.47 Unter Edward I. jedoch wurden „rückfällige“ Konvertiten abermals zu einem „major issue among Christians”, und zwar in einem Maße, dass es Robert Stacey zufolge nur eine geringfüge Übertreibung wäre, von einer „grand peur“ während der 1280er Jahre zu sprechen. Der Schluss liegt nahe, dass diese Angst den Entschluss zumindest beeinflusst haben muss, sämtliche Juden Englands 1290 außer Landes zu verweisen.48

3 Frankreich 1394 Gut ein Jahrhundert nach der Vertreibung der englischen Juden erließ König Karl VI. von Frankreich am 17. September 1394 ein Edikt, mit dem es den Juden für alle Zeiten untersagt wurde, im Königreich Frankreich ihren Wohnsitz zu haben.49 Das Vertreibungsedikt begründet die Entscheidung des Königs, die Juden seines Reichs zu exilieren, mit „Verbrechen, Exzessen und Verstößen, vor allem gegen den christlichen Glauben“, die die Juden vermeintlich begangen hätten.50 Man hat immer wieder angenommen, dass hiermit vor allem ein spezifischer Vorwurf gemeint war, der gegen || 46 GRAYZEL (Anm. 44), S. 160: per inhibitiones, et poenas spirituales et temporales, aliosque modos, de quibus expedire videritis, in praedicationibus vestris, et aliis ad hoc temporibus congruis per vos, et alios expromendos studeatis juxta officii vestri debitum sic efficaciter et solicite providere, ut morbus hujusmodi per adhibendae medicinae remedium amputetur. 47 S. hierzu den Beitrag von F. KLEIN in diesem Band. 48 STACEY (Anm. 8), S. 281–282. 49 Les Édits d’expulsion des Juifs, 1394–1492–1496–1501, hrsg. v. Béatrice LEROY, Biarritz 1998, S. 13–14 50 Édits d’expulsion des Juifs, hrsg. v. LEROY (Anm. 49), S. 13–14: Charles par la grace de Dieu Roy de France. A tous ceulx que ces letters verront, Salut. […] Nous aïons esté de longtemps et par pluseurs foiz informez par personnes dignes de foy, et aussi noz Procureurs et Officiers, de plusiers grans plaintes et clameurs qui leur venoient chascun jour des excès et déliz que le diz Juifs faisoient et font chacun jour sur les Christians; et pour ce noz diz Procureurs et Officiers aïent faictes pluseurs Informacions par lesquelles il appert manifestement iceulx Juifs et Juives avoir commis et perpetré pluseurs crimes, excès et deliz, et en maintes manieres avoir délinqué, espécialmant contre notre foy, et aussi contre contenu en noz dictes Lettres à eulx octroyées: savor faisons que Nous ces choses considérées, et pour aucunes

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Juden in Frankreich vorgebracht worden war, kurz bevor der König und seine Ratgeber den Beschluss fassten, sie zu vertreiben.51 Anfang 1394 wurden in Paris Vorwürfe gegen eine Gruppe von prominenten Juden laut, sie hätten einen konvertierten Juden namens Denis Machaut entführt und ihm Geld gegeben, um ihn dazu zu veranlassen, zum Judentum zurückzukehren. Daraufhin kam es zu einem Prozess gegen die Juden, der vor verschiedenen Gerichten geführt und schließlich vor das Parlement von Paris gebracht und dort entschieden wurde. Zunächst hatten sowohl der Bischof von Paris als auch der Prokurator des Königs, der Kastellan von Paris, beansprucht, für den Fall zuständig zu sein. Daraufhin wurde der Fall an den Stadtvogt von Paris übergeben, der die Juden zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilte. Die Verurteilten appellierten jedoch an das Parlement, das das Urteil abänderte. Die Juden sollten inhaftiert bleiben, bis der verschwundene Konvertit wieder auftauchte, und an drei aufeinander folgenden Sonntagen in Vierteln mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil ausgepeitscht werden. Nach der ersten öffentlichen Auspeitschung wurde allerdings auch dieses Urteil abgeändert, in eine hohe Geldbuße, Beschlagnahmung des Besitzes der Juden und – dem Zeugnis des königlichen Advokaten Jean Lecoq zufolge – die Verbannung der Delinquenten aus dem Königreich Frankreich.52 Der konvertierte Jude Denis Machaut, welcher im Zentrum der Ereignisse stand, ist erstmals 1393 belegt, als seine jüdische Ehefrau, die nicht konvertiert war, vor dem

|| autres causes et considéracions qui à ce Nous meuvent et doivent mouvoir, Nous par saine et meure délibéracion de pluseurs de nostre Sanc et autres de nostre Grant Conseil, avons déliberé, voulu, conclu, et détreminé, et par ces Présentes délibérons, voulons, concluons et déterminons par maniere d’établissement ou constitucion irrévocable, que doresenavant nul Juif ou Juifve ne habitent, demuernt ou conversent en notre dit Royaume ne en aucune oartie d'icelluy, tant en Langedoyl comme en languedoc; et pour ce avons ordonné noz autres Lettres esquelles est contenu la maniere de l’exécution des choses dessus dictes. 51 Roger KOHN, Les Juifs en France du Nord dans la seconde moitié du XIVe Siècle. Un État de la Question, in: Gilbert DAHAN (Hg.), L’expulsion des Juifs de France: 1394, Paris 2004, S. 13–29, hier S. 25. 52 Questiones Johannis Galli, hrsg. v. Marguerite BOULET-SAUTEL (Bibliothèque des Ecoles Françaises d’Athènes et de Rome. 1ère série, fasc. 156), Paris 1944, S. 422: Et dictos Judeos condemnavit a faire revenir ledit Denis de Machault par detention de leurs corps, et se ilz ne le font venir la court aura advis qu’elle fera de leurs corps, Oultre la court condampna lesditz Juifs a estre battuz par trois samediz et en trois lieux: c’est assavoir en l’eschauffault des Halles et ung eschauffault qui sera fait en Greve et ung qui sera fait en la place maubert. Item les condamna en dix mil livres parisis, et chacun pour tout, et a tenir prison jusques a plein paiement, desquelles dix mille livres seront baillees et aulmonees conq cens livres a l’Ostel Dieu de Paris, et le residu qui monte IX mil cinq cens livres sera employé et converti a faire ung pont de pierre, qui commencera a une tour qui est a petit Pont et ce adressera devant l’uys derrière d’icelluy Hostel Dieu, et fera une croix de pierre ou sera escript que ce pont aura esté fait pour la punition d’iceulx Juifz. Oultre la cour les bannist du et confisuqe leurs biens, c’est assavoir celle confiscation apres ce que les dix mil livres seroient paiees pour l'employer a fiare ledit pont et non autre part.

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Stadtvogt von Paris verlangte, dass ihre vier Kinder, die zwischen wenigen Monaten und zwölf Jahren alt waren, in ihre Obhut übergeben werden sollten. Der Stadtvogt entschied jedoch, dass das Jüngste der Kinder in die Obhut des konvertierten Vaters, die anderen drei in die christlicher Familien gegeben werden sollten. Dort sollte Denis Machaut, nicht aber seine Frau, sie besuchen dürfen. Nach einiger Zeit sollten die Kinder außerdem befragt werden, ob sie Christen werden oder Juden bleiben wollten.53 Die Vorwürfe, mit denen sich die Juden von Paris 1394 konfrontiert sahen, haben offensichtlich eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Vorwürfen gegen die Juden Englands gut hundert Jahre früher. Und abermals folgt ein königliches Vertreibungsedikt in kurzem zeitlichem Abstand auf die Vorwürfe gegen Juden, sie hätten konvertierte Juden dazu verleitet, vom Christentum abzufallen und zu ihrem früheren Glauben zurückzukehren. Zwar ist es richtig, dass die Strafen, zu denen das Parlement die beschuldigten Pariser Juden verurteilte, sich nur gegen diese richteten und dass die gegen diese ausgesprochene Verbannung nicht mit einer allgemeinen Vertreibung gleichzusetzen ist.54 Doch schließt dies nicht aus, dass der Fall Denis Machaut 1394 den Anstoß für die Vertreibung der Juden aus Frankreich gegeben hat, nicht zuletzt, weil die Bestrafung der Pariser Juden, die beschuldigt wurden, Machaut angestiftet zu haben, zum Judentum zurückzukehren, offensichtlich eine Wirkung entfalten sollte, die weit über den Kreis der Beschuldigten hinausreichte – hatte das Parlement doch ursprünglich beschlossen, dass die angeklagten Juden vor den Augen der gesamten jüdischen Bevölkerung von Paris ausgepeitscht werden sollten.

4 Spanien 1492 Die Vertreibung der Juden aus Spanien durch Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon im Jahr 1492 gehört zu den einschneidendsten Ereignissen in der Geschichte der interreligiösen Beziehungen in Europa und ist so intensiv erforscht worden wie keine andere Vertreibung von religiösen Minderheiten in der Geschichte des Mittelalters. Das sogenannte Alhambra-Edikt, mit dem Isabella und Ferdinand anordneten, dass die Juden ihrer Reiche diese binnen drei Monaten verlassen mussten, datiert auf den 31. März 1492, wurde jedoch erst einen Monat später veröffentlicht. Die Arenga des Edikts legt ausführlich die Motive der Königin und des Königs für die Vertreibung der Juden dar: „Es ist uns bekannt geworden, dass es in Unseren Königreichen einige schlechte Christen gibt, die judaisiert haben und von unserem heiligen || 53 KOHN (Anm. 51), S. 26. 54 Èlie NICOLAS, Typologie des sources chrétiennes, in: Gilbert DAHAN (Hg.): L’expulsion des Juifs de France: 1394, Paris 2004, S. 95–121, hier S. 107.

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katholischen Glauben abgefallen sind, und der Hauptgrund dafür liegt in der Verbindung von Juden und Christen.“55 Mit den „schlechten Christen“ waren die Conversos gemeint, also die Abkömmlinge jener Juden, die 1391 und zwischen 1412 und 1416 massenhaft die Taufe genommen hatten. Das Edikt schildert die schädlichen Effekte, die „Kontakt und Gespräch“ zwischen Juden und Conversos auf die religiöse Lebensführung letzterer gehabt hätten, mit großer Detailfreude und in düstersten Farben und listet dabei eine große Zahl von Praktiken auf, mit denen die Juden Spaniens die Conversos dazu gebracht haben sollen, jüdische Riten auszuüben: Es ist nämlich erwiesen, dass diese sich immer und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bemühen, Unseren heiligen katholischen Glauben zu untergraben und ihm die gläubigen Christen zu entfremden, sie ihm zu entziehen und ihrem verdammten Glauben und ihrer Überzeugung zuzuführen, indem sie Christen in den Zeremonien und Bräuchen ihrer Religion unterweisen, Versammlungen abhalten, in denen sie ihnen vorlesen und sie lehren, was sie nach ihrem Gesetz glauben und halten sollen, für ihre und ihrer Söhne Beschneidung sorgen, ihnen Bücher in die Hand geben, aus denen sie ihre Gebete rezitieren, und die Fasten ausrufen, an denen sie fasten sollen, indem sie mit ihnen zusammenkommen, um ihnen die Geschichten ihres Gesetzes vorzulesen und sie ihnen einzuschärfen, indem sie ihnen ihren Ostertermin mitteilen und sie anweisen, was sie halten und tun müssen, indem sie ihnen aus ihren Häusern Mazzot und rituell geschlachtetes Fleisch bringen, sie lehren, worauf sie zu achten haben, sowohl bei den Speisen als auch bei den übrigen Dingen zum Halten des Gesetzes, und sie überreden, soweit sie können, das Gesetz Mose zu halten und zu bewahren, und indem sie ihnen zu verstehen geben, daß es keine andere Religion oder Wahrheit gibt außer dieser – und dieses ist erwiesen nach zahlreichen Aussagen und Geständnissen sowohl von den Juden selbst als auch von solchen, die sich von ihnen betrügen und irreführen ließen.56

Mit den „zahlreichen Aussagen und Geständnissen“ waren Zeugenaussagen und Geständnisse gemeint, die im Rahmen von Inquisitionsprozessen gemacht wurden. Seit

|| 55 BEINART (Anm. 9), S. 49: […] nos fuemos ynformados que en nuestros reynos auia algunos malos christionos [!] que judaysauan e apostotuan de nuestra santa fe catolica, de lo qual era mucha cabsa la communicaçion de los judios con los christianos […]. Vgl. SCHOEPS u. WALLENBORN (Anm. 24), Nr. 110, S. 219. 56 BEINART (Anm. 9), S. 50–51: […] los quales xe prueua que procuran sienpre por quantas vias e maneras pueden de subuertir e subtraer de nuestra santa fe catolica a los fieles christianos e los apartar della e atraer e pervertir a su dannada creençia e opinioninstruyendolos en las çeromonias e obdervançias de su ley, hasiendo ayuntamientos donde les leen e ensennan lo que han de créer e guardar segun su ley, procurando de çircunçidar a allos e a sus fijos, dandoles libros por donde rezasen sus oraçiones e declarandoles los ayunos que han de ayunar e jutandose con ellos a leer e ensennarles las estorias de su ley, notyficandoles les pascuas antes que vengan, avisandoles de lo que en ellas han de guardar e haser, danoles e leuandoles de su casa el pan çençenno e carnes mertas con çerimonias, ynstruyendoles de las cosas de que se han de apartar, asy en los comeres como en las otras cosas por observançia de su ley, e persuadiendoles en quanto pueden a que tengan e guradan la ley Muysen e hasiendoles entender que non ay otra ley ni verdad, saluo aquella, lo qual consta por muchos dichos e confisiones asy de los mismos judios commo de los que fueron peruertidos y engannados por ellos […]. Vgl. SCHOEPS u. WALLENBORN (Anm. 24), Nr. 110, S. 219.

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Beginn des 15. Jahrhunderts hatten Inquisitoren auf der iberischen Halbinsel immer wieder den Vorwurf erhoben, Juden stifteten konvertierte Juden zum Abfall vom Glauben und zur Rückkehr zum Judentum an. So behaupteten etwa im Jahre 1413 Inquisitoren auf Mallorca, Juden, die von dort nach Nordafrika geflüchtet seien, übten einen schädlichen Einfluss auf die Conversos der Insel aus. Vor allem veranlassten sie Konvertitinnen, nach Nordafrika auszuwandern und dort wieder als Jüdinnen zu leben.57 Auch in den Akten der Spanischen Inquisition sind für die 14 Jahre zwischen ihrer Einführung 1478 und der Vertreibung der Juden aus Spanien entsprechende Vorwürfe belegt.58 An dieser Stelle sei abermals betont, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie glaubwürdig die Dokumente der Inquisition sind, wie verbreitet „kryptojüdische“ Praktiken unter den Conversos waren und inwieweit solche tatsächlich von Jüdinnen und Juden begünstigt oder veranlasst wurden.59 Entscheidend ist jedoch, dass die christlichen Zeitgenossen die religiöse Praxis, Lebensführung und damit Identität der Conversos als zutiefst ambig wahrnahmen. So schreibt der Chronist Fernando de Pulgar über die Conversos von Toledo zum Jahr 1485, als die Inquisition dort begann, gegen sie zu ermitteln: In der Stadt Toledo wurden einige Männer und Frauen entdeckt, die heimlich jüdische Riten praktizierten. In großer Unwissenheit und mit großer Gefahr für ihre Seelen befolgten sie weder das eine noch das andere Gesetz, denn sie waren nicht beschnitten, wie es die Juden sind […]. Und einige von ihnen hielten den Sabbat und einige jüdische Fasten, jedoch nicht jeden Sabbat und alle Fasten, und wenn sie einen Ritus befolgten, dann befolgten sie einen anderen nicht, sodass sie gegen beide Gesetze verstießen. In einigen Fällen geschah es, dass der Ehemann einige jüdische Zeremonien befolgte und die Ehefrau eine gute Christin war und dass ein Sohn und eine Tochter gute Christen sein konnten und ein anderer es mit jüdischen Ansichten hielt, sodass in einem Haus eine Vielfalt an Überzeugungen bestand und einer die seine vor den anderen verbarg.60

|| 57 Fritz (Yitzhak) BAER, Die Juden im christlichen Spanien, Bd. 1.1: Urkunden und Regesten. Aragonien und Navarra, Berlin 1929–1936, S. 790, Nr. 485. 58 Records of the Trials of the Spanish Inquisition in Ciudad Real, Bd. 1: 1483–1485, hrsg. v. Haim BEINART, Jerusalem 1974. Vgl. Renée L. MELAMMED, Heretics or Daughters of Israel? The Crypto-Jewish Women of Castile, New York u. a. 1999, S. 16–30. 59 Herman P. SALOMON, Crypto-Judaism or Inquisitorial Deception?, in: The Jewish Quarterly Review 89 (1/2) (1998), S. 131–154; GITLITZ (Anm. 11), S. 76–82. 60 Pulgar, Crónica, hrsg. v. Mata CARRIAZO, Madrid 1943, 2, S. 210: se falláron en la cibdad de Toledo algunos homes é mugeres que escondidamente facian ritos judaicos. Los quales con grand ignorancia é peligro de sus ánimas, ni guardaban una ni otra ley: porque no se circuncidaban como judios segun es amones tado en el testamento viejo. É aunque guar daban el Sábado é ayunaban algunos ayunos de los judios, pero no guardaban todos los Sábados, ni ayunaban todos los ayunos, é sí facian un rito, no facian otro. De manera que en la una y en la otra ley prevaricaban: é fallóse en algunas casas el marido guardar algunas cerimonias judáicas, é la muger ser buena cristiana, y el un fijo ser buen cristiano, y el otro tener opinion judaica: é dentro de una casa haber diversidad de creencias, y encubrirse unos de otros.

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Das Alhambra-Edikt von 1492 schildert die Vertreibung der Juden aus Spanien als ultima ratio, zu der das königliche Paar gegriffen habe, nachdem andere, weniger radikale Maßnahmen wirkungslos geblieben wären, die den angeblich schädlichen Einfluss der spanischen Juden auf die religiöse Lebensführung der Conversos unterbinden sollten, nämlich räumliche Segregation, die Einsetzung der spanischen Inquisition und lokale bzw. regionale Vertreibungen: Auf dem Reichstag, den wir seinerzeit im Jahre 1480 in Toledo gehalten haben, haben wir befohlen, dass die erwähnten Juden in allen Städten, Dörfern und Orten Unserer Königreiche und Besitztümer gesonderte Judenviertel erhalten und nur dort wohnen sollten, in der Hoffnung, dass durch ihre Absonderung Besserung erzielt werde. Außerdem haben Wir dafür Sorge getragen, eine Inquisition in Unseren genannten Königreichen und Besitztümern einzusetzen. Diese ist, wie Ihr wisst, schon seit zwölf Jahren tätig, und durch sie sind viele Sünder gefunden worden, wie man weiß und wie die Inquisition sowie zahlreiche andere geistliche und weltliche Personen berichten. […] Und obwohl Uns das meiste schon zuvor bekannt war und wir wissen, dass das wahre Heilmittel für alle diese Übelstände darin besteht, den Kontakt zwischen den erwähnten Juden und den Christen völlig abzubrechen und sie aus Unserem Reich zu vertreiben, wollten wir Uns damit begnügen, sie aus den Städten, Dörfern und Orten Andalusiens auszuweisen, denn dort richteten sie offenbar den größten Schaden an; […] Und da wir erfahren haben, dass sich weder diese Maßnahmen noch die Prozesse, die gegen einige von diesen Juden, die sich der oben genannten Verstöße gegen Unseren heiligen katholischen Glauben schuldig gemacht hatten, geführt worden sind, als wirksames Heilmittel erwiesen haben […] daher sind Wir, nach Beratung und Empfehlung von Geistlichen, hohem und niederem Adel in Unserem Reich, kundigen und gewissenhaften Männern aus Unserem Rat, nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangt, sämtliche Juden und Jüdinnen aus unseren Königreichen auszuweisen, sodass kein einziger von ihnen jemals zurückkehren soll.61

|| 61 BEINART (Anm. 9), S. 49–52: […] en las cortes que hesimos en la cibdad de Toledo el anno pasado de mill e quatroçientos e ochenta annos, mandamos apartar a los dichos judios en todas las cibdades, villas e lugares de los nuestros reynos e sennorios e dalles juderias e lugares apartados done biuyen, esperando que con su apartamiento se remediaria, e otrosy ouymos procurado de dado horden como se hiziese ynquisiçion en los dichos nuestros reynos e sennorios, la qual commo sabeys, ha mas de dose annos que se e fase, e por ella se han fallado muchos culpantes segund es notorio e segund somos ynformados de los ynquisidores e de otras muchas personas religiosas e ecylesiasticas e sglares […] Y commo quiera que mucha de parte desto fuemmos ynformados antes de agora por muchos y conesçemos quel remedio verdadero de todos estos dannos e ynconvinientes estaua en apartar del todo la communicaçion de los dichos judios con los christianos e echarlos de todos nuestros reynos, quisimonos contentar con mandarlos salir de todos la çibdades e villas e lugares de Andaluzia, donde paresçia que auian fecho mayor danno […] y porque somos ynformados que aquello ni las justiçias que se han fecho en elgunos de los dichos judios que se han hallado muy culpantes en los dochos crimines e delitos contra nuestra santa fe catolica, no basta para entero remedio […] Po rende nos con el consejo y paresçer de algunos prelados grandes e caualleros de nuestros reynos e de otras personas de çiençia e conçiençia de nuestro consejo aviendo avido sobre ello mucha deliberaçion, acordamos de mandar salir todos los dichis judios e judias de nuestros reynos e que jamas tormen ni bueluan a ellos ni a algunos dellos. Vgl. SCHOEPS u. WALLENBORN (Anm. 24), Nr. 110, S. 219–220.

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Noch deutlicher als in England und Frankreich hundert bzw. zweihundert Jahre zuvor werden die Juden in Spanien Ende des 15. Jahrhunderts von den christlichen Obrigkeiten als Verursacher religiöser Ambiguität porträtiert, da sie, so der Vorwurf der auch hier erhoben wird, Konvertiten vom Judentum zum Christentum dazu verleiteten, weiterhin jüdische Riten zu praktizieren. Anders als bei den Vertreibungen von 1290 und 1394 wird dieser Vorwurf im Vertreibungsedikt von 1492 jedoch explizit als Grund für die Entscheidung genannt, die Juden aus den spanischen Königreichen auszuweisen. Diese Vertreibung sollte eine Disambiguierung der religiösen Praxis und Identität der Konvertiten vom Judentum zum Christentum in den spanischen Königreichen nach sich ziehen, die frühere, weniger radikale Maßnahmen nicht hatten bewirken können.

5 Das Königreich Neapel 1510 Ähnliches gilt für das Königreich Neapel 18 Jahre später, freilich mit dem Unterschied, dass dort 1510 nicht nur die Juden des Königreichs, sondern auch konvertierte Juden und ihre Nachkommen vertrieben wurden. Das Königreich Neapel war 1503 durch Ferdinand II. von Aragon erobert worden. Damit wurde es nach Jahrzehnten der direkten Herrschaft der aragonesischen Dynastie, zuletzt einer Sekundogenitur, zu einer spanischen Provinz. Am 21. November 1510 publizierte der spanische Vizekönig von Neapel, Ramón de Cardona, zwei Edikte, mit denen König Ferdinand der Katholische anordnete, dass alle Juden aber auch alle Conversos, die von Juden abstammten, das regno verlassen mussten. Dabei bezog sich das Edikt, mit dem die Juden vertrieben wurden, ausdrücklich auf das Beispiel der Vertreibung der Juden aus Spanien.62 Gefährliche Ansteckung und Befleckung, so heißt es, resultiere aus Kontakten und Nachbarschaft zwischen den ungläubigen Feinden des katholischen Glaubens, also den Juden, und den gläubigen Christen. Dies gelte vor allem für Kontakte und Nachbarschaft zwischen Juden und „Christianos Conversos“, die von Juden abstammten, da erstere letzteren „jüdischen Aberglauben“ und jüdische Zeremonien vorlebten. Die Erfahrung in den Königreichen Spaniens habe dies eindeutig erwiesen. Aufgrund göttlicher Gnade seien diese Königreiche mittlerweile jedoch von Häresie gereinigt worden, wozu die Vetreibung der Juden, die dort gelebt hatten, erheblich

|| 62 Giuseppe GALASSO, Il Mezzogiorno Spagnolo (1494–1622) (Storia d’Italia 15/2), Turin 2005; Viviana BONAZZOLI, Gli Ebrei del Regno di Napoli all'Epoca della loro Espulsione. II Parte: Il Periodo Spagnolo (1501–1541), in: Archivio Storico Italiano 139 (1981), S. 179–287, v. a. S. 190–196; SCHELLER (Anm. 9), S. 269–271, 291–300.

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beigetragen habe, denn aus der von ihnen ausgehenden Ansteckung seien viele Irrtümer erwachsen.63 Anders als die Vertreibung der Juden konnte die der genannten Conversos nicht nach dem Vorbild in den Spanischen Königreichen erfolgen. Doch wurde auch sie mit deren angeblich schädlichem Einfluss auf die gläubigen Christen legitimiert. Auf der einen Seite, so hieß es, sei es allgemein bekannt, dass die Conversos Apuliens und Kalabriens, die von Juden abstammten, öffentlich wie Juden lebten. Auf der anderen Seite gebe es außerdem Conversos aus Spanien, die von dort in das Königreich Neapel geflohen seien, nachdem die Inquisition sie verurteilt bzw. vor ihr Tribunal zitiert hatte.64 Dass auch konvertierte Juden und ihre Nachkommen aus dem regno vertrieben werden sollten, scheint auf den ersten Blick der Begründung der Vertreibung der Juden zu widersprechen. Denn die Ausweisung der Juden sollte dem Wortlaut des Edikts zufolge ja den Zweck haben, vor allem die Conversos vor der „Ansteckungsgefahr“ zu schützen, die von ihnen angeblich ausging. Wie sollte dies möglich sein, wenn die Conversos nun ihrerseits ausgewiesen wurden, um die „geborenen“ Christen vor ihrem schädlichen Einfluss zu schützen? Die Antwort hierauf gibt eine sogenannte „Interpretation“ des Vertreibungsedikts für die neapolitanischen Conversos, die zwar verloren ist, sich jedoch aus Bittgesuchen an den Hof des Vizekönigs rekonstruieren lässt.65 Diese Gesuche zeigen: Das Vertreibungsedikt galt nicht für solche Conversos, die mit „Cristiani de Natura“

|| 63 Cesare COLAFEMMINA, The Jews in Calabria (Studia Post-Biblica 33), Leiden, Boston 2012, S. 553– 554: E como dela communication y cohabitacion delos Infieles enemigos dela dicha sancta fe Catholica con los fideles christianos se sigua peligrosa contagion y manzilla en ellos specialmenete delo Iudios con los christianos conversos de su generacion descendientes por causas delas supersticiones y ceremonias iudaycas que ellos guardan y procuran con los que desciende de su linage de iudios que las guraden, como la experiencia claramente lo ha mostrado en estos Reynos de Spanya que por la divina clementia han sindo alimpiados de toda heregia quanto en nos ha seido, para lo qual ha mucho aprovechado la expulsion delos Iudios que en ellos bivian, de cuya contagion muchos errores se causavan. 64 COLAFEMMINA (Anm. 63): E porque es publicho y notorio que les conversos descendentes de linage de iudios que biven y moran en las provincias de Calabria y Apulla naturales del dicho reyno biven publicamente como iudios aziendo y guardando muzios ritos y cerimonis [!] iudaycas, ea si mismo es notorio que en tiempo de los reyes passados desse reyno fueron destos reynos des Spanna a esso dicho reyno alcunos conversos naturales de los reynos de Spanna que fueron condemnados y otros citados por los enquisidores dela heredica pravidat y non comparecieron por lo qual son vistos ser meritamente suspectos dela fe. E porque dela communication y cohabitacion delos susos dichos con oos [!; los] fideles christianos se potria seguir contagion en manzella en algunos delos dichos fideles christianos […] havemos acordado de mandar salir desso reyno todos lo dichos conversos que biven y moran en las dichas provincias de Calabria y Apulla y los dichaos conversos condemnados y citados que en tiempo de los reys passados fueron de Spanna a esso dicho reyno. 65 Cesare COLAFEMMINA, Documenti per la Storia degli Ebrei in Puglia nell’Archivio di Stato di Napoli, Bari 1990, Nr. 271, 275–277, 283f, 286.

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verheiratet oder Kleriker waren.66 Offensichtlich durften also jene Konvertiten und Nachkommen von Konvertiten bleiben, die sich sichtbar in die christliche Gesellschaft integriert hatten. Alle anderen dagegen sollten wie die Juden das Reich verlassen. Im Königreich Neapel waren bereits in den Jahren um 1292 tausende Juden unter dem Druck der Inquisition zum Christentum übergetreten.67 Betroffen waren vor allem die Judengemeinden Kampaniens und Apuliens, die größtenteils mehr oder minder kollektiv die Taufe nahmen. In Apulien sind diese Konvertiten, aber auch ihre Nachkommen, bis in das 16. Jahrhundert als Neofiti, Christiani Novi bzw. Cristiani Novelli belegt. Ihre religiöse Lebensführung wurde vor allem in den ersten dreißig Jahren nach der Konversion und dann noch einmal Mitte des 15. Jahrhunderts als uneindeutig inkriminiert, zunächst durch die Inquisition und dann im Kontext urbaner Konflikte durch städtische Akteure. Deutlich länger waren jedoch die Phasen, aus denen wir keinerlei Belege dafür haben, dass eine vermeintlich uneindeutige religiöse Lebensführung der Konvertiten und ihrer Nachkommen von ihrer christlichen Umwelt beobachtet worden wäre. Ende des 15. Jahrhunderts kam es im Königreich Neapel jedoch zu einer zweiten Welle von Zwangstaufen, als die Invasion des französischen Königs Karl VIII. 1495 in vielen Städten des regno Pogrome auslöste, die sich gegen Juden, aber auch gegen die Nachkommen der Konvertiten von 1292 richteten. Das Vertreibungsedikt von 1510 betraf daher Juden, kürzlich konvertierte Juden und die Nachkommen der Juden, die vor über zweihundert Jahren konvertiert waren. Die spanische Vizeregierung hatte nach der Eroberung des Königreiches Neapel 1503 zunächst nicht vorgehabt, ein Vertreibungsedikt zu erlassen, sondern nach spanischem Vorbild die Inquisition einzuführen, die gegen Konvertiten und Nachkommen von Konvertiten vorgehen sollte, die im Verdacht standen zu ‚judaisieren‘.68 Das Tribunal für Sizilien sollte auch für das Königreich Neapel zuständig sein. Dieser Plan stieß jedoch auf massiven Widerstand der Bevölkerung von Neapel, Adel und Volk, die sich gegen die spanische Herrschaft erhob. Das Vertreibungsedikt vom November 1510 war daher Ergebnis eines Kompromisses, mit dem der Konflikt zwischen dem neapolitanischen Adel und Volk und Ferdinand dem Katholischen beigelegt wurde: Der König verzichtete auf die Einführung der spanischen Inquisition und ordnete stattdessen die Vertreibung von Juden und Conversos aus dem Reich an. Zeitgenössischen Chronisten zufolge, gehörten zu den Initiatoren des Aufstandes auch die spanischen Conversos, die sich in Neapel niedergelassen hatten. Darüber hinaus gibt es auch Indizien dafür, dass die indigenen Neuchristen des Königreichs eine Rolle beim Widerstand gegen die Einführung der Spanischen Inquisition im

|| 66 SCHELLER (Anm. 9), S. 303–306. 67 Hierzu und zum Folgenden SCHELLER (Anm. 9), passim. 68 Hierzu und zum Folgenden SCHELLER (Anm. 9), S. 292–300.

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regno spielten. Für die Konvertiten und Nachkommen der Konvertiten im Königreich Neapel war das Vertreibungsedikt von 1510 auf jeden Fall das kleinere Übel verglichen mit der Einführung der Spanischen Inquisition. Denn seine interpretacio eröffnete vielen von ihnen die Möglichkeit, der Vertreibung zu entgehen, ohne dass eine zentralisierte Institution etabliert worden wäre, die ihre religiöse Lebensführung und Identität dauerhaft überprüft und damit unter Generalverdacht gestellt hätte. Viele Nachkommen konvertierter Juden sind denn auch in Apulien und andernorts im Königreich Neapel bis zum Ende des 16. Jahrhunderts und teilweise auch darüber hinaus in den Quellen nachgewiesen. Dabei bezeichnete man sie auch weiterhin, zumindest okkasionell, als Neuchristen – war also offensichtlich bereit, ihre ambige religiöse Identität zu tolerieren.

6 Schluss In England und Frankreich erhoben geistliche und weltliche Autoritäten im Vorfeld der Judenvertreibungen von 1290 bzw. 1394 den Vorwurf, Juden verleiteten Konvertiten vom Judentum zum Christentum dazu, wieder als Juden zu leben. Dabei zeichneten sie das Bild einer ambigen religiösen Landschaft, in der Juden, rückfällige Konvertiten und „geborene“ Christen in enger Nachbarschaft lebten, Konvertiten zwischen Kirche und Synagoge oszillierten und die Grenze zwischen den religiösen Gemeinschaften zusehends unscharf wurde. Auch in den Vertreibungsedikten aus Spanien und Neapel aus den Jahren 1492 und 1510 wird die vermeintlich uneindeutige religiöse Lebensführung von jüdischen Konvertiten bzw. deren Nachkommen als massive Bedrohung des christlichen Glaubens charakterisiert. Und wie zuvor in England werden die Juden als Urheber dieser religiösen Ambiguität inkriminiert, da sie konvertierte Juden und ihre Nachkommen dazu verleiteten, jüdische Bräuche und religiöse Riten zu praktizieren. Gleichzeitig stellen die Vertreibungsedikte von 1492 und 1510 explizit einen Zusammenhang zwischen der Vertreibung der Juden und der ambigen religiösen Identität von Konvertiten bzw. deren Nachkommen her. Denn sie begründen die Vertreibung der Juden damit, dass nur so ihr vermeintlich schädlicher Einfluss auf Konvertiten und ihre Nachkommen unterbunden werden könne. Es spricht daher einiges dafür, dass die Vertreibungen der Juden aus England 1290, Frankreich 1394, Spanien 1492 und der Juden, konvertierten Juden und ihrer Nachkommen aus dem Königreich Neapel 1510 als radikale Versuche religiöser Disambiguierung verstanden werden müssen, was natürlich nicht bedeutet, dass nicht auch andere Faktoren eine Rolle gespielt hätten. Doch woher rührte dieses Bestreben nach Disambiguierung? Diese Frage abschließend umfassend zu erörtern, würde den Rahmen sprengen, daher nur einige knappe Bemerkungen.

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Auf der einen Seite schwand in vielen Regionen Europas im Spätmittelalter die Toleranz gegenüber religiöser Ambiguität offensichtlich erheblich, gleichzeitig wuchs die Zahl derjenigen, deren religiöse Lebensführung als ambig wahrgenommen wurde. Die Unterscheidung von rechtgläubig und ungläubig war im Europa der monotheistischen Trias von zentraler Bedeutung für die soziale Ordnung. Ein Drittes war in ihrem Rahmen nicht denkbar, sondern nur als Verstoß gegen die soziale Ordnung. Monotheistische Religionen sind, um mit Jan Assmann zu sprechen, „Differenzreligionen“. Sie beruhen regelrecht auf der Unterscheidung, „und zwar weniger auf der Unterscheidung zwischen dem Einen Gott und den vielen Göttern“ als auf der „Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion.“69 Wie klar diese Unterscheidung von den einzelnen monotheistischen Religionen jedoch ausgearbeitet und akzentuiert wurde, unterlag erheblichem historischen Wandel. Innerhalb des als Kirche organisierten lateinischen Christentums lassen sich seit der Zeit des Reformpapsttums verstärkte Bestrebungen beobachten, möglichst weitgehend zu klären, was diesseits und jenseits der Unterscheidung von wahr und falsch in der Religion lag. Dem dienten die großen kirchenrechtlichen Sammlungen, deren erste, das sogenannte ‚Decretum Gratiani‘ (um 1140) den bezeichnenden Titel ‚Concordia Discordantium Canonum‘ trug und deren Autor, mithilfe der neuen scholastischen Methode die zuvor vielfältigen und widersprüchlichen kirchlichen Normen zu vereinheitlichen strebte. Zu ihnen gehörten bezeichnenderweise auch die Normen hinsichtlich der Taufe von Juden und deren Gültigkeit.70 Neue Institutionen, die das Ziel der kirchlichen Einheit herbeiführen sollten, waren auch die allgemeinen Konzilien, deren erstes 1123 stattfand und auf deren viertem, 1215, beschlossen wurde, dass Konvertiten mit uneindeutiger religiöser Lebensführung dazu gezwungen werden sollten, „den alten Menschen vollständig auszuziehen“.71 Die immer stärker hierarchische, verrechtlichte und institutionalisierte Kirche war zusehends um die Einheit der Christenheit bemüht und schärfte dabei offenkundig die Grenze zu dem und denen, was bzw. die nicht als christlich zu gelten hatten. Diejenigen, die diese Grenze verunklarten, und das, was nicht eindeutig auf einer der Seiten dieser Grenze zu liegen schien, gerieten damit immer stärker unter Beobachtung. Auf der anderen Seite wurden Konversionen zum Christentum seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert immer zahlreicher. Konvertiten fanden jedoch vielfach keinen Zugang zur Gesellschaft der christlichen Mehrheit. Als Gruppe mit ambiger religiöser Zugehörigkeit und Identität, die zwischen den Glaubensgemeinschaften zu

|| 69 Jan ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München u. a. 2003, S. 12–13. 70 Kenneth PENNINGTON, Gratian and the Jews, in: Bulletin of Medieval Canon Law 31 (2014), S. 111–124. 71 S. o., Anm. 35.

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oszillieren schien, wurden sie immer stärker als Bedrohung für die um Einheit bemühte Christenheit und damit der sozialen Ordnung als ganzer wahrgenommen. Die Folge waren vielerorts neue Bestrebungen, die Grenze zwischen Juden und Christen klarer zu ziehen und die Individuen eindeutig auf einer der Seiten dieser Grenze zu platzieren, durch Praktiken wie Segregation, Kennzeichnung und – als radikalste Strategie der Disambiguierung – durch Vertreibung.

Rabea Kohnen

In fremde Häute schlüpfen Vom Spiel mit religiöser Identität in ‚Salman und Morolf‘ Zusammenfassung: In der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählung ‚Salman und Morolf‘ werden Ambiguitäten der Differenz rechtgläubig/andersgläubig forciert, wodurch das Werk auf verschiedene Arten lesbar wird. Durch Spiegelungen, Mehrfachkodierung und den gezielten Einsatz von Leerstellen geraten die religiösen Identitäten und Wertungen der handelnden Figuren in Bewegung, wovon in besonderer Weise die beiden Hauptfiguren Morolf und Salme betroffen sind. In diesen Mehrdeutigkeitseffekten und den Strategien ihrer Erzeugung liegt ein großer Teil der Attraktivität des Werkes begründet, die sich dem Leser nur erschließt, wenn er über Kompetenz im Umgang mit literarischer Ambiguität verfügt. Schlüsselwörter: Brautwerbungsdichtung, Sarazenen, Christentum, Identität, Erzähltechnik, Mehrdeutigkeit

1 Einleitung Die Leitdifferenz rechtgläubig/andersgläubig ist für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters von großer Bedeutung. Mit den frühen Adaptationen der französischen Chansons de geste beginnt auch im deutschen Sprachraum die Auseinandersetzung mit den ‚Sarazenen‘, also den christlichen Konstrukten orientalischer Muslime. Diese begegnen in allen möglichen Facetten – als brutale Schlächter und tierhafte Wilde, aber auch als vorbildliche Ritter und verführerische Damen.1 Darüber

|| 1 Dieses Phänomen ist über die deutschsprachige Literatur hinausgehend von großem Interesse und der Diskurs innerhalb der Germanistik auch Beiträgen aus Nachbarwissenschaften verpflichtet, von denen ich nur exemplarisch die folgenden nennen will: John V. TOLAN, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002; Linn T. RAMEY, Christian, Saracen and Genre in Medieval French Literature. Imagination and Cultural Interaction in the French Middle Ages (Studies in Medieval History and Culture 3), New York 2001; Jacqueline DE WEEVER, Sheba’s Daughters. Whitening and || Anmerkung: Der vorliegende Aufsatz geht auf mehrere Kapitel meiner Dissertation zurück und führt die dort angestellten Überlegungen unter der Perspektive der Ambiguität weiter (Rabea KOHNEN, Die Braut des Königs. Zur interreligiösen Dynamik der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen (Hermaea N. F. 133), Berlin, Boston 2013). || Jun.-Prof. Dr. Rabea Kohnen, Fakultät für Philologie, Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-004

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hinaus wird ein beständiges Interesse sichtbar, von Grenzüberschreitungen zu erzählen: Das Thema der Konversion (in der Regel vom sarazenischen Glauben zum Christentum) zieht sich als roter Faden durch Jahrhunderte und Gattungen.2 Auch in den Brautwerbungserzählungen spielen Glaubensübertritte eine zentrale Rolle. Zu dieser Textgruppe gehören sieben Werke, die wahrscheinlich zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind.3 Sie alle verbindet jedoch ein ähnlicher Kernplot: Ein junger König ist auf der Suche nach einer passenden Braut, die er nur in weiter Ferne und unter großen Gefahren erringen kann.4 In den meisten Fällen erfolgt diese Werbung über eine religiöse Grenze hinweg – ein christlicher König wirbt um eine sarazenische Prinzessin und mit der Liebeshandlung und ihren Konflikten verbindet sich eine tiefergehende religiös-politische Ebene. Die Brautwerbungserzählungen nutzen diese Basisanordnung auf sehr unterschiedliche Weisen. Eine von ihnen namens ‚Salman und Morolf‘ generiert ihren eigenen Witz daraus, dass sie die bekannten Oppositionen und Motive bis zu ihrer Subversion überdreht. In besonderem Maß trifft dies auf die beiden Hauptfiguren zu, die sowohl in ihrer religiösen Identität als auch in den Möglichkeiten der Bewertung ihres Handelns mehrdeutig angelegt sind. Über die unvermeidliche Ambiguität jedes narrativen Zusammenhanges zeigen sich hier Formen programmatischer Ambiguität.5

|| Demonizing the Saracen Woman in Medieval French Epic (Garland Reference Library of the Humanities 2077), New York 1998. 2 Ein in diesem Zusammenhang besonders beliebtes Erzählregister ist das der ‚verliebten sarazenischen Prinzessin‘, das in den französischen Chansons de geste und ihren Adaptationen vielfältig Verwendung findet. Siehe dazu Rabea KOHNEN, Akkumulation und Überblendung. Zu seriellen Strategien des Erzählens im ‚Herzog Herpin‘, in: Rolf PARR u. a. (Hgg.), Wiederholen/Wiederholung, Heidelberg 2015, S. 175–194. 3 Zu notwendigen Relativierungen bei der Datierung siehe Rüdiger BRANDT, ‚Spielmannsepik‘: Literaturwissenschaft zwischen Edition, Überlieferung und Literaturgeschichte. Ein nicht immer unproblematisches Verhältnis, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 37,2 (2005), S. 9–49. 4 Trotz ihrer enormen Bedeutung klammere ich hier die intensive Forschungsdiskussion zum sogenannten ‚Brautwerbungsschema‘ und seinen Wurzeln im mündlichen Erzählen aus und verweise nur in aller Kürze auf die folgenden Titel: Sarah BOWDEN, Bridal-Quest Epics in Medieval Germany. A Revisionary Approach (Modern Humanities Research Association, Texts and Dissertations 85), London 2012; Lorenz DEUTSCH, Die Einführung der Schrift als Literarisierungsschwelle. Kritik eines mediävistischen Forschungsfaszinosums am Beispiel des ‚König Rother‘, in: Poetica 35 (2003), S. 69– 90; Armin SCHULZ, Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sogenannten ‚Spielmannsepik‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 124 (2002), S. 233–249; Christian SCHMID-CADALBERT, Der ‚Ortnit AW‘ als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985. 5 Zu dieser Unterscheidung siehe Marina MÜNKLER: Narrative Ambiguität: Semantische Transformationen, die Stimme des Erzählers und die Perspektiven der Figuren. Mit einigen Erläuterungen am Beispiel der ‚Historia von D. Johann Fausten‘, in: Oliver AUGE, Christiane WITTHÖFT (Hgg.), Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption, Berlin/Boston

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2 ‚Salman und Morolf‘ Die Geschichte des Stoffes von Salomo und Morolf reicht weit zurück und hat sehr unterschiedliche Gestaltungen erfahren.6 Die erste Erwähnung der Figur Morolfs stammt bereits aus dem 12. Jahrhundert, fassbar wird sie aber erst im lateinischen ‚Dialogus Salomonis et Marcolfi‘, dessen älteste Handschrift aus dem 15. Jahrhundert stammt. Eingebettet in eine kleine Rahmenhandlung, steht hier ein Streitgespräch zwischen dem weisen König Salomo und dem gewitzten Bauern Markolf im Mittelpunkt, wobei dieser jeder Aussage des biblischen Königs eine derbe Antwort zu geben weiß. Der Witz liegt häufig in den obszönen oder anderweitig anstößigen Wendungen, die das Gespräch durch Markolfs Einfallsreichtum und Dreistigkeit nimmt.7 In der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählung ist Morolf kein Bauer, sondern der Bruder des Königs, aber er hat wenig von seinem derben Humor eingebüßt.8 Auch für diesen Text sind keine Handschriften vor dem 15. Jahrhundert erhalten, und auch hier spricht vieles dafür, seine Entstehung nicht allzu weit vor den Beginn der Überlieferung zu datieren.9 Der Text schafft den Sprung in den Druck, und der Stoff von Salomo und Morolf entfaltet in der Frühen Neuzeit weitere Produktivität – unter

|| 2016, S. 113–156. MÜNKLER arbeitet an ihrem Beispiel vormoderne Strategien der Ambiguitätserzeugung heraus und erweitert damit den Ansatz von Michael SCHEFFEL, an den sie sich im Wesentlichen durchaus anschließt, mit Blick auf historische Gegenstände. Siehe dazu Michael SCHEFFEL: Formen und Funktionen von Ambiguität in der literarischen Erzählung. Ein Beitrag aus narratologischer Sicht, in: Frauke BERNDT und Stephan KAMMER (Hg.), Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg 2009, S. 89–103. Zur literaturwissenschaftlichen Verhandlung von Ambiguität siehe neben den Beiträgen in diesen beiden Bänden auch Julia ABEL, Andreas BLÖDORN und Michael SCHEFFEL (Hgg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier 2009 und Wolfgang KLEIN und Susanne WINKLER (Hgg.), Ambiguität (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158), Stuttgart 2010. 6 Siehe Sabine GRIESE, ‚Salomon und Markolf‘. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Studien zu Überlieferung und Interpretation (Hermaea 81), Tübingen 1999. 7 Walter BENARY (Hg.), Salomon et Marcolfus. Kritischer Text mit Einleitung, Anmerkungen, Übersicht über die Sprüche, Namen- und Wörterverzeichnis (Sammlung mittellateinischer Texte 8), Heidelberg 1914. Siehe einführend Michael CURSCHMANN, Dialogus Salomonis et Marolfi, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 80–86. 8 Salman und Morolf, hg. von Alfred KARNEIN (Altdeutsche Textbibliothek 85), Tübingen 1979; einführend Michael CURSCHMANN, Salman und Morolf, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 8, Sp. 515–523. 9 „Die fünf [spielmännischen] Epen sind in den Textformen, in denen sie überliefert sind, literaturgeschichtlich in funktionaler, literatursoziologischer, mentalitätsgeschichtlicher, stilgeschichtlicher und manch anderer Hinsicht ausschließlich den Zeiträumen zugehörig, in welche die einzelnen Überlieferungsträger verweisen. Lediglich stoffgeschichtlich kann bzw. muss man von dieser Zuordnung eine Ausnahme machen. Dass es sich jedoch um ältere, zum Teil sehr alte Stoffe handelt, kann nicht dazu führen, dass man weiter mit fiktiven Vorformen operiert und diese zum Bestandteil einer deutschen Literaturgeschichte zwischen (ungefähr) 1150 und 1190 macht.“ BRANDT (Anm. 3), S. 41.

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anderem in der Gattung des Fastnachtsspiels.10 Im Folgenden werde ich mich jedoch auf die Brautwerbungserzählung konzentrieren, deren Handlung ich jetzt kurz umreißen will. König Salomo herrscht zu Beginn des Textes über Jerusalem und hat an seiner Seite die atemberaubend schöne Königin Salme, die er gegen den Willen ihres Vaters Crispian aus Indien geraubt hatte. Sie wurde in Jerusalem getauft, in der christlichen Religion und im Brettspiel unterrichtet. Dann setzt die eigentliche Handlung mit dem sarazenischen König Fore ein, der auf der Suche nach einer geeigneten Ehefrau ist und deshalb eine Ratsversammlung einberuft. Als Salmes Name fällt, ist auch ihr ebenfalls anwesender Vater begeistert, und man beschließt, Salme aus der Christenheit zu retten. Nachdem König Salman abgelehnt hat, Salme kampflos zu übergeben, zieht Fore mit einem großen Heer nach Jerusalem. In der Schlacht können die Christen siegen, und König Salman kann seinen Widersacher persönlich gefangen nehmen. Obwohl Morolf ihm klugerweise heftig davon abrät, überlässt Salman seiner schönen Frau die Pflege des Gefangenen. Es kommt, wie es kommen muss, und Fore kann Salme mit Hilfe eines magischen Rings in sich verliebt machen. Sie lässt ihn gehen und folgt ihm ein halbes Jahr später durch eine ausgeklügelte List in seine Heimat Wendelsee. Daraufhin beauftragt Salman seinen schlauen Bruder Morolf damit, die entflohene Ehefrau wieder zurückzubringen. Dieser geht als erstes zu dem alten Juden Berman und bittet ihn um Hilfe. Als ihn dieser jedoch in sein Haus lässt, tötet Morolf ihn kaltblütig und zieht ihm die Haut ab, um daraus eine Verkleidung als Pilger für sich anzufertigen. Mit einem kleinen U-Boot reist er dann nach Wendelsee, wo er das neue Königspaar bei der Messe antrifft. Er bittet den König um Verpflegung und Unterkunft und wird herzlich von ihm willkommen geheißen. Königin Salme aber ist misstrauisch und fordert Morolf zu einem Schachspiel heraus. Durch ein paar strategisch platzierte Fürze kann er Salme so sehr ablenken, dass er gewinnt. Direkt danach erkennt sie ihn an seinem Gesang und will ihn töten lassen. König Fore gewährt ihm eine Nacht Schonfrist, die er für seine Flucht nutzt. Er wird erneut gefangen und kann wieder fliehen, nicht ohne das königliche Schlafzimmer neu zu arrangieren, so dass die Königin am nächsten Morgen in den Armen eines nackten Kaplans aufwacht und der König auf dem Fußboden und mit Mönchstonsur einen jungen Geistlichen umschlingt. In Jerusalem sammelt Morolf ein Heer und reist mit seinem Bruder nach Wendelsee zurück. Dieses Mal geht Salman verkleidet in die Burg, wo er Affer, der schönen Schwester von König Fore, begegnet, aber sofort entdeckt wird. Als König Fore Salman fragt, wie er im umgekehrten Fall mit ihm verfahren würde, spricht Salman sein eigenes Todesurteil aus. In letzter Minute kann Morolf seinen Bruder jedoch – schon unter dem Galgen – mit dem christlichen Heer retten und die Sarazenen || 10 Siehe dazu GRIESE (Anm. 6), S. 233–276.

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vernichtend schlagen. Die Christen kehren mit Salme und Affer nach Jerusalem zurück. Wenige Jahre später wiederholt sich die ganze Geschichte mit einem anderen sarazenischen König namens Princian, der ebenfalls um Salme wirbt, sie ebenfalls raubt und ebenfalls gegen Salman und Morolf unterliegt. Bei dieser ‚Rettungsmission‘ erhält Morolf Hilfe von einer nahen Verwandten, einer Meerjungfrau, die mit ihrem Sohn und weiteren Zwergen unter einem Berg vor der Küste des sarazenischen Königreiches lebt. Nach der entscheidenden Schlacht und dem Sieg der Christen verheeren diese das gesamte sarazenische Herrschaftsgebiet und kehren nach Jerusalem zurück. Dort erbittet sich Morolf von Salman, dessen untreue Frau töten zu dürfen, um sich weiteren Ärger zu ersparen. Nachdem der König eingewilligt hat, bringt Morolf die schöne Salme in der Badewanne um. Affer hingegen, die Schwester des Königs Fore, kann Morolf überzeugen, den mächtigen Salman zu heiraten und als Königin über Jerusalem zu herrschen, womit der Text endet. Schon bei diesem kurzen Überblick merkt man, dass man es mit einem eigenwilligen Text zu tun hat, mit einem seltsamen Antihelden und einer Erzählwelt, die voller Überraschungen steckt. Dabei werden, so meine These, Ambiguitäten der Differenz rechtgläubig/andersgläubig genauso forciert wie die der möglichen Bewertungen des Verhaltens der Figuren. So ist Morolf je nach Perspektive Held oder Schurke, Salme Opfer oder Täterin. Im Folgenden möchte ich mich daher den narrativen Techniken zuwenden, die diese Ambiguitäten entstehen und sichtbar werden lassen: Spiegelungen, Mehrfachkodierung und der gezielte Einsatz von Leerstellen.

3 Techniken der Ambiguitätserzeugung 3.1 Spiegelungen In der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters begegnet nur selten echtes Interesse an den religiös ‚Anderen‘. Das Bild, das sich die Autoren und ihr Publikum von den orientalischen Muslimen machten, ist stark von sich überlagernden Vorstellungen aus der lateinisch-historiographischen Tradition und den französischen Heldenepen geprägt.11 Es kann daher nicht verwundern, dass ‚die Sarazenen‘

|| 11 Aus der umfangreichen Forschungsdiskussion seien hier zusätzlich zu den Hinweisen in Anmerkung 1 nur exemplarisch die folgenden Titel genannt: Nikolas JASPERT, Die Wahrnehmung der Muslime im lateinischen Europa der späten Salierzeit, in: Bernd SCHNEIDMÜLLER und Stefan WEINFURTER (Hgg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV, Darmstadt 2007, S. 307–340; Ines HENSLER, Ritter und Sarrazin. Zur Beziehung von Fremd und Eigen in der hochmittelalterlichen Tradition der Chansons de geste (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 62), Köln 2006.

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als Antagonisten, Verbündete und Geliebte variabel einsetzbare Figuren sind.12 Ihre konkrete Ausgestaltung, ihre Religion, ihre Moralvorstellungen und ihre äußere Erscheinung fußen dabei kaum auf der Kenntnis des historischen Islams und seiner Anhänger, sondern sind Spiegelungen der eigenen Identitätsentwürfe. Doch der Spiegel ist nie glatt und klar, sondern zeigt immer ein verzerrtes Bild des Eigenen bis zur kompletten Verkehrung: Wo die Christen an einen Gott glauben, verehren die Sarazenen unzählige (mindestens aber drei) Abgötter, wo die Christen den fairen Kampf suchen, setzten die Sarazenen auf hinterhältige Verschwörung, und so weiter.13 Diese Form der Negativspiegelung findet sich ganz typisch in der ‚Chanson de Roland‘ und – etwas anders gestaltet – im ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad wieder.14 Die Sarazenen als hässliche, grausame, gottverlassene und schuldlos zu tötende Gegner sind durchaus ein gängiger Topos. Doch es gibt auch andere Texte, in denen schöne, aufrichtige, mutige und heldenhafte Sarazenen zu ebenbürtigen Gegnern der Christen werden, in denen die Verdammnis ihrer Seelen betrauert wird, wie im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach.15 Das ‚Andere‘ – und dies ist beileibe keine neue Erkenntnis – ist vor allem eins: eine Projektionsfläche für die Ideale und Abgründe des Eigenen. In ‚Salman und Morolf‘ wird dies besonders weit getrieben. Denn die sarazenischen Antagonisten, die uns hier begegnen, sind aus christlicher Perspektive in jeder Hinsicht vorbildliche Herrscher.16 Die Sarazenen sind fromm: So erscheinen Morolf ihre Messen außergewöhnlich lang, und Fore lässt sich vor dem Schlafengehen von

|| 12 „The Saracen was remarkable, above all, for his or her ability to transform into whatever literary device the Christian author most needed. If a hideous renegade was called for, a Saracen fit the role. Likewise, if a model of courtliness and chivalry was on the menu, the Saracen filled the part superbly.“ RAMEY (Anm. 1), S. 44. 13 Siehe dazu das Kapitel ‚Der Sarrazin als Gegenbild zum christlichen Ritter‘ in HENSLER (Anm. 11), S. 178–204, sowie die darauf folgenden Einzelanalysen. 14 Stephanie SEIDL, Narrative Ungleichheiten. Heiden und Christen, Helden und Heilige in der ‚Chanson de Roland‘ und im ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad, in: Uta GOERLITZ und Wolfgang HAUBRICHS (Hgg.), Integration oder Desintegration? Heiden und Christen im Mittelalter, München 2009, S. 46–64. 15 Barbara SABEL, Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur (Imagines medii aevi 14), Wiesbaden 2003. 16 Bereits 1933 hat Siegfried STEIN dem Autor „große Sympathie“ für die sarazenischen Figuren attestiert (Die Ungläubigen in der mittelhochdeutschen Literatur von 1050 bis 1250. Unveränderter Nachdruck der 1933 veröffentlichten Inaugural-Dissertation, vom Verfasser der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg 1932 vorgelegt, Darmstadt 1936 (Libelli 108), hier S. 48ff.), worin ihm Stephen J. KAPLOWITT gefolgt ist (The Heathens in Salman und Morolf, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 213 (1976), S. 95–99). Der Einschätzung Maria DOBOZYs „Since the epic presents the Christian perspective, the heathen are naturally considered evil“ kann ich daher nicht folgen (Maria DOBOZY, Function of Knowledge and Magic in Salman und Morolf, in: Edward R. HAYMES und Stephanie Cain VAN D’ELDEN (Hgg.), The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 448), Göppingen 1986, S. 27–41 (hier S. 28).

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zwölf Kaplänen segnen, die auch im Schlaf über ihn wachen sollen.17 Die Sarazenen sind großzügig: Besonders Princian – also der zweite König, der sich für die Ehefrau König Salomos interessiert – nimmt sich Morolfs an, als er als armer, kranker Bettler vor ihm erscheint. Er geht ihm nicht nur persönlich vor der Burg entgegen, sondern er sorgt auch dafür, dass er gut versorgt und überaus reich beschenkt wird, was Morolf ihm mit ein paar Fürzen aus nächster Nähe dankt.18 Die Sarazenen sind gerecht: Fore urteilt nicht selbst über Salmans Schicksal, sondern lässt ihn entscheiden, was er an seiner Stelle mit Fore tun würde – und so sein eigenes Todesurteil aussprechen.19 Auch ein Teil von Morolfs Späßen mit den Sarazenen funktioniert nur, wenn man eine moralische Äquivalenz von Christentum und sarazenischem Glauben annimmt: Er arrangiert das königliche Schlafzimmer so um, dass der König am nächsten Morgen mit Mönchstonsur in den Armen eines jungen Kaplans auf dem Boden und die Königin im Bett mit einem weiteren nackten Kaplan erwacht. Und schlimmer noch: Als der schlaftrunkene König der kunigin minnen will, fängt er sich einen heftigen Fausthieb von dem jungen Geistlichen ein.20 Komik kann diese Szene aber nur entfalten, wenn die zeitgenössischen christlichen Rezipienten den Sarazenen ähnliche Sexualnormen unterstellen, Sex außerhalb der Ehe, mit Geistlichen oder zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern ein Tabu darstellt. Noch entscheidender ist aber die Darstellung des sarazenischen Glaubens, der nicht nur dem Christentum, sondern auch dem historischen Islam erstaunlich nahekommt, denn die Sarazenen im ‚Salman und Morolf‘ glauben an einen einzigen, namenlosen Gott. Mir ist kein weiterer deutscher Text aus dem Mittelalter bekannt, der das so klar formuliert, und auch in der lateinischen historiographischen Tradition sind die Beispiele rar. In dieser kaum verzerrten Spiegelung werden Christen und Sarazenen im Grunde austauschbar, denn auch wenn sie nicht an denselben einen Gott glauben, sind die Religionen im Text inhaltlich nicht zu unterscheiden. Und es geht sogar noch weiter, denn beide Seiten zeigen immer wieder Respekt für die Religion des anderen. So kann der sarazenische Kämmerer Morolf durch den got, den du gleubest an, bitten, kurz vor dem Tor zu warten (Strophe 638), Princian Morolf mit den Worten kere dime got enpholhen (Strophe 662) verabschieden, oder Fore Salman an seine christliche truwe (Strophe 444a), verstanden als im Christentum verbürgte Aufrichtigkeit oder Verbindlichkeit, gemahnen. In der Erzählwelt des ‚Salman und Morolf‘ erscheinen die sarazenischen Antagonisten nicht nur als vorbildliche und tugendhafte Könige, sondern auch als Anhänger

|| 17 Strophen 194–202 und 322. 18 Strophen 640–662. 19 Strophen 444–448. 20 Strophen 323–335.

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einer durchaus akzeptablen Religion, deren Unterschiede zum Christentum zwar impliziert sind, aber nicht konkretisiert werden. Im Anderen spiegelt sich hier relativ ungebrochen die Idealvorstellung des Eigenen. Wie sieht es aber auf der anderen Seite mit den christlichen Helden aus?

3.2 Mehrfachkodierung Auch hier kommt Bewegung in die bekannten Entwürfe des Eigenen und des Anderen. Auf den ersten Blick sind Salman und sein Bruder Morolf ganz offensichtlich Christen – und nicht irgendwelche Christen, sondern höchst wichtige. König Salman wird in der ersten Strophe des Werkes mit den Worten Zu Jherusalem wart ein kint geborn, / das sich zu faugte wart erkorn / uber alle christen diet (Strophe 1) eingeführt und damit christologisch stilisiert. Zu dieser Rolle Salmans als Beschützer der gesamten Christenheit passt auch das ‚setting‘ des Textes: Jerusalem ist wie zur Zeit der Kreuzzüge als christliches Zentrum in einem andersgläubigen Gebiet geschildert, und weitere Zutaten, wie die Beteiligung von Tempelherren beim Kampf gegen die Sarazenen, unterstreichen ein solches Szenario, das für die Brautwerbungserzählungen durchaus typisch ist. In Spannung dazu steht aber das historische und intertextuelle Wissen, das Autor und Publikum über die Figur Salomos haben, der als jüdischer König des Alten Testaments bekannt ist. Natürlich gibt es durch das ganze Mittelalter hindurch Aneignungsbewegungen – man denke nur an Salomo auf der Reichskrone – Salomo bleibt aber (auch ikonographisch) als vor-christliche Figur wahrnehmbar und präsent. Die Identifizierung von Salman mit dem biblischen König Salomo reicht über den Namen der Figur hinaus: Er erscheint als König von Jerusalem, der an seiner Weisheit gemessen wird und zugleich dem Topos des Minnesklaven folgend gestaltet ist.21 Die genealogische Linie, die von Salman und Morolf zu ihrem Vater David gezogen wird, zeigt die Figur in ihrer historisch spezifischen Position.22 Damit muss sich die Frage stellen, wie der Text mit der historischen Religionszugehörigkeit Salomos zum Judentum um-

|| 21 Siehe dazu Claudia BORNHOLDT, in was zu schouwen also not. ‚Salman und Morolf‘ bildlich erzählt, in: Horst WENZEL und C. Stephen JAEGER (Hgg.), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten (Philologische Studien und Quellen 195), Berlin 2006, S. 226–247, hier besonders S. 235; Friedrich MAURER, Der Topos vom ‚Minnesklaven‘. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter, in: Deutsche Vierteljahresschrift 27 (1953), S. 182–206, wiederabgedruckt in: Friedrich MAURER, Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze, Bern 1971, S. 224–205. 22 Während seiner Gefangenschaft bei König Fore nimmt Salman einem Spielmann die Harfe aus der Hand und denkt beim Spielen an kunig Davit den vatter sin, / der vor der alten Troige / herdacht das erste seiten spiel (Strophe 468).

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geht. Auf den ersten Blick scheint der Text dieses Detail als unproblematisch auszublenden, auf den zweiten finden sich jedoch weitere Momente, die die religiöse Identität Salmans und Morolfs nicht klären, sondern verunklaren. Als Morolf seine zweite Flucht aus Fores Burg plant, bietet er seinen Wächtern an, ihnen zu erzählen was ich in der judischeit / und inn der heidenschafft erlitten haben (Strophe 309). Natürlich muss er hier nicht auf im Text selbst erzählte Ereignisse Bezug nehmen, aber es bleibt die Frage, wo die als Raum gedachte judischeit in Parallele zur heidenschafft überhaupt vorzustellen ist. Die Antwort muss wohl lauten: in der vagen Erzählzeit der Kreuzzüge vermutlich nirgendwo, zur ebenfalls aufgerufenen Zeit des Alten Testamentes gerade in dem politischen und geographischen Raum, der im aktuellen Erzählzusammenhang christlich besetzt ist: in und um Jerusalem. Der Bruch in der Raumzeitregie wird hier also wahrnehmbar gemacht und damit Morolfs und auch Salomons christliche Identität hinterfragbar.23 Dass diese religiöse Identität nicht auf Eindeutigkeit angelegt ist, sondern aus verschiedenen Schichten besteht, die sich wie Verkleidungen übereinanderlegen, zeigt die Episode, der der vorliegende Beitrag seinen Titel verdankt. Bevor Morolf aufbricht, um Salme von Fore zurückzuholen, geht er in das Stadtzentrum von Jerusalem und besucht einen alten Juden namens Berman. Unter dem Vorwand, ihn um Rat fragen zu wollen, wird Morolf in Bermans Haus eingeladen, wo er über ihn herfällt: Er [Berman] name in [Morolf] balde bi der hant, er furte in inn ein kamennate und wolt im raten da zu hant. Morolff zoch uß ein messer scharff und lang, er stach es dem juden durch sin hertz, das es im an der hende wider want. (Strophe 161)

Danach häutet Morolf sein Opfer und schlüpft in dessen Haut: Morolff Salmons drut oberthalb dem gurtel loste er dem juden abe die hut. er balsamte sie und leite sie an sinen lip. Er sprach: „nu will ich nimmer erwinden, ich finde dann das wunder schone wip.“ (Strophe 162)

|| 23 Siehe hierzu das Kapitel ‚Fälschungen und abgewiesene Alternativen‘ meiner Dissertation (Anm. auf S. 1), auf das die vorliegende Darstellung in Teilen direkt zurückgeht.

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Diese grausame, befremdliche und gerade in ihrer lakonischen Erzählweise intensive Szene hat bislang kaum interpretative Aufmerksamkeit erfahren.24 Diese Zurückhaltung erstaunt umso mehr vor dem Hintergrund der intensiven Berücksichtigung des Themas ‚Haut‘ in aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen.25 Auch in der Mediävistik sind Fragen nach den Zusammenhängen von Haut und Identität, Körpergrenze und Berührung sowie der (kulturellen) Lesbarkeit von Haut bereits verhandelt worden.26 Die im ‚Salman und Morolf‘ gezeigte Praxis des Häutens einer zuvor getöteten Person zum Zwecke der Aneignung ihrer Haut als Verkleidung scheint dabei zwar nicht einzigartig,27 aber doch außergewöhnlich zu sein.

|| 24 Sarah S. POOR, die sich bislang als einzige intensiver mit ihr beschäftigt hat, erklärt das Schweigen der Forschung als „willful blind spot“ (S. 149) und führt ihn auf mehrere Gründe zurück: das Fehlen eines jeden Erzählerkommentars, der den Leser in eine bestimmte Richtung führen könne, die Konzentration der Forschung auf die Struktur des Textes und zuletzt auf das geringe Prestige, das ‚Salman und Morolf‘ genießt, werde er doch zumeist als (schlechte) Unterhaltungsliteratur unterhalb der Schwelle bewusster Gestaltungsabsicht und tieferer Aussagen gelesen (S. 149f). POOR liest die Szene zum einen (und da berühren sich unsere Analysen stark) als eine Auseinandersetzung mit religiöser Identität, zum anderen (und dort trennen sich unsere Wege aus mehreren Gründen) als eine Bewältigungsform traumatischer Erfahrungen während der Kreuzzüge: „We have seen how Morolf’s Jewish skin is connected to both the conscious and the unconscious cultural desire to suppress and punish the seemingly omnipresent Jewish other, a connection that might also be read as a way of negotiating the trauma of actual violent confrontations with Jews during the crusade era.“ Sara S. POOR, Why Surface Reading is not Enough. Morolf, the Skin of the Jew, and German Medieval Studies, in: Exemplaria 26 (2014), S. 146–160, hier S. 156f. 25 Als Einstiegspunkte in die Thematik siehe Claudia BENTHIEN, Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse 2. Aufl. , Hamburg 2001, Ulrike ZEUCH (Hg.), Verborgen im Buch, Verborgen im Körper. Haut zwischen 1500 und 1800, Wolfenbüttel 2003, Ernst G. JUNG (Hg.), Kleine Kulturgeschichte der Haut, Darmstadt 2007. 26 Siehe dazu insbesondere die Beiträge aus Katie WALTER (Hg.), Reading Skin in Medieval Literature and Culture, New York 2013. Mit Fokus auf der Instrumentalisierung der Tätowierung für die Reflexion von Schriftkultur siehe auch die diachron angelegte Studie von Ulrike LANDFESTER, Stichworte. Tätowierung und europäische Schriftkultur, Berlin 2012. 27 Es gibt eine interessante Parallelstelle in ‚Morant und Galie‘, in der der Verräter Ruhart die Haut eines Pilgers auf ähnliche Weise stiehlt, um Morant am Karlshof zu verleumden. Auch dieses Werk wurde in der Germanistischen Forschung kaum beachtet, jüngst aber von Nadine KROLLA wieder an den aktuellen Diskurs herangeführt: Nadine KROLLA, Erzählen in der Bewährungsprobe: Studien zur Interpretation und Kontextualisierung der Karlsdichtung ‚Morant und Galie‘, Berlin 2012. Im Märe ‚Frau Metze‘ des armen Konrad wird die Häutung eines Juden durch Morolf außerdem erneut erwähnt (Heinrich NIEWÖHNER (Hg.), Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. VON DER HAGENS Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts, Bd. 1, 2. Aufl., hg. von Werner SIMON, mit den Lesarten besorgt von Max BOETERS und Kurt SCHACKS, Dublin, Zürich 1967, Nr. 11, S. 70–83). Die Praktik, sich abgezogene Menschenhäute für bestimmte kultische, medizinische und/oder identitätsmodifizierende Zwecke umzulegen, kennt man sonst auch noch im Umfeld des Kultes von Xipe Toec bei den Azteken. Siehe dazu Kurt WEGENER, Xipe Totec (… der sich häutet, unser Herr) – ein Gott der Azteken, in: JUNG (Anm. 25), S. 60–66.

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Vor dem Hintergrund der biblischen und antiken Vorbilder (der Skalpierung der sieben Brüder im zweiten Makkabäerbuch, der Häutung des Silens Marsyas durch Apoll, das Martyrium des Apostels Bartholomäus) überrascht vor allem das geringe Interesse am Geschundenen. Hier wird kein Fehlverhalten bestraft, keine Ordnung wiederhergestellt, keine Lust an der ultimativen Entblößung befriedigt, wie es kulturund literaturgeschichtlich zu erwarten wäre28 – vielmehr steht die Technik des Häutens und des Einkleidens in fremde Haut im Mittelpunkt, die list Morolfs, das geschickte Abziehen, Einbalsamieren und Überstreifen.29 Gleichzeitig ist das Schlüpfen in die fremde Haut eine Chiffre für die Art und Weise, wie der Text Austauschbarkeit von Identitäten, Permeabilität religiöser Gruppen und die aufs Technische reduzierbare Form der Selbst- und Fremdverortung von Figuren in ihnen imaginiert. Indem religiöse Zugehörigkeit als Technik, kulturelle Praktik und jederzeit umkehrbare Setzung gezeigt wird, wird die Ambiguität dieser Zugehörigkeit zum Thema des Werkes. Aus der Perspektive Morolfs ist die Haut Bermans eine Verkleidung wie jede andere, mit Blick auf die Komposition des Gesamttextes erscheint sie jedoch auch paradigmatisch motiviert und auf die unsichere religiöse Identität der weiblichen Hauptfigur beziehbar, die im weiteren Verlauf genauer beleuchtet werden wird.30 Hier leiht sich der Sohn König Davids und Bruder König Salomos, der historisch betrachtet Jude sein müsste und in der Erzählung zum Christen wird, für sein Vorhaben eine jüdische Scheinidentität.31 Sarah S. POOR stellt in diesem Zusammenhang fest: „Morolf disguises himself in his ‚true‘ skin, his actual identity“,32 und auch mir scheint die Pointe der Szene unabhängig von ihrer handlungslogischen Nützlichkeit zu sein. Dabei sehe ich jedoch weniger die Offenlegung einer wahren Identität unter

|| 28 Zu diesen Text- und Bildtraditionen sowie den erwähnten Funktionen des Häutens siehe das Kapitel ‚Häutungen. Enthüllung, Folter, Metamorphose‘ aus dem Band von BENTHIEN (Anm. 25), S. 76– 110. 29 In diesem Sinn wird die Episode sowohl zeitgenössisch in ‚Frau Metze‘ (siehe Anm. 27) als auch in der germanistischen Forschung als Ausweis von Morolfs ‚Technikkompetenz‘ gelesen. Siehe dazu Henning WUTH, Morolfs Tauchfahrt. Überlegungen zur narrativen Bedeutung von ‚Technik‘ in ‚Salman und Morolf‘, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 235 (1998), S. 328–344, hier besonders S. 340. 30 Sehr überzeugend hat Regina TÖPFER eine solch gegenseitige Erhellung verschiedener Szenen am Beispiel des ‚Willehalm‘ gezeigt (Enterbung und Gotteskindschaft. Zur Problematik der Handlungsmotivierung im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 63–81. 31 Wie Sara S. POOR (Anm. 24, S. 153) herausgestellt hat, ist gerade das Tragen einer jüdischen Hülle auf der Handlungsebene dysfunktional, wenn man die Gefahren bedenkt, denen sich diese religiöse Gruppe gerade auf Reisen ausgesetzt sah. Für seine zahlreichen späteren Verkleidungen, zum Beispiel als Krämer, Spielmann, Metzger oder Bettler, benötigt Morolf dann auch keine menschliche Hüllen mehr, sondern nur ein paar typische Accessoires. 32 POOR (Anm. 24), S. 154.

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der Oberfläche des Textes als entscheidenden Effekt, sondern vielmehr die eindringliche Vorführung des Spiels von Sein und Schein des Glaubens, der Äußerlichkeit, Veränderbarkeit, Vielschichtigkeit und Ambiguität religiöser Identität.33 Doch Salman und Morolf sind nicht nur als Christen gezeichnet und benannt und über die intertextuellen Verweise auf die Geschichte des biblischen Salomons auch mit dem Judentum assoziiert, sie werden darüber hinaus durch verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Bereich des Wunderbaren in Verbindung gebracht. Als Salman und Morolf auf der Reise zu König Princian sind, um Salme zum zweiten Mal nach Hause zu bringen, kommen sie im sarazenischen Herrschaftsgebiet und mitten im Meer an einen hohlen Berg, in dessen Tiefen sich ein Schloss befindet, das eine Meerjungfrau mit ihrem Sohn Madelger und weiteren Zwergen bewohnt.34 Diese werden als ‚wild‘ bezeichnet, was im Mittelhochdeutschen immer auch anders, jenseits der Zivilisation, oft auch außerhalb der Grenzen des Christentums meint. Doch Morolf wird von diesen Wesen nicht nur freundschaftlich empfangen, es stellt sich auch ein verwandtschaftliches Verhältnis heraus. Madelger, der Sohn der Merminne, nennt Morolf ‚Oheim‘ und Morolf seinerseits die Merminne ‚Muhme‘.35 Durch die Verwandtschaft zu diesen nicht ganz menschlichen, wilden Wesen aus dem Reich der Sarazenen wird die religiöse Identität Morolfs und damit auch die seines Bruders Salman, dem faugte uber alle christen diet, weiter ambiguiert. Mit dieser Problematisierung religiöser Identität geht das in moralischer Hinsicht mehr als fragwürdige Verhalten der Protagonisten einher. Salman ist ängstlich und schickt in gefährlichen Situationen immer wieder seinen Bruder vor, er spricht vorschnell, wenn er sich selber zum Tod verurteilt, er ist seiner schönen Frau bis zur völligen Verblendung verfallen. Morolf zeichnet sich nicht nur durch derbe, aber im Grunde harmlose Späße aus, er ist auch ein absolut gewissenloser Mörder: Neben dem Juden Berman gehen nicht nur mehrere Torwächter, sondern am Ende auch die weibliche Hauptfigur Salme auf sein Konto oftmals völlig sinnloser oder zumindest durchaus vermeidbarer Tötungen.36 || 33 Ein seltsamer kleiner Baustein für die Diskussion um Aktualität und Alterität scheint mir die Ähnlichkeit zu sein, die zwischen dieser Episode und dem Verhalten des Massenmörders ‚Buffalo Bill‘ im Thriller ‚The Silence of the Lambs‘ (Reg. Jonathan Demme. Orion Pictures 1991. Film) besteht. Dieser zwingt seine allesamt weiblichen Opfer dazu, ihre Haut mit einer speziellen Lotion zu pflegen (diese Technik des balsamen scheint über die Jahrhunderte hinweg als besonders grausiger Aspekt zu funktionieren), bevor er ihnen Teile der Haut abzieht, um sich daraus eine neue Hülle und eine Identität als Frau zu schaffen. Hier verläuft die Verhandlung von Identität nicht über die Differenz der Religion, sondern der des Geschlechts, der Zusammenhang zwischen Grausamkeit, Gewalt, Haut und (Wahrheit von) Identitäten ist aber durchaus parallel konstruiert. 34 Die Episode mit der merminne umfasst insgesamt die Strophen 728–740. 35 ‚Morolff, lieber oheim min‘ (Strophe 733); nu rate, liebe mume min (Strophe 735). 36 Die Tötung Salmes in der Badewanne hat eine ähnlich makabre Prägung: Morolff sprach: ‚ich sage dir minen sinne. / kunig, du solt din fraue baden / niit me dan vor fremde minne.‘ / Salmon der wart der rede fro, / ein bat hieß er bereiten / in einem schonen marmelstein. // Dar inne ging die fraue wol gethan.

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Dass hier die Rollen der ‚Guten‘ und der ‚Bösen‘, der Protagonisten und Antagonisten ins Wanken geraten, zeigt sich schon darin, dass die Handlungsrollen nicht klar definiert sind. Die für die Gruppe der Brautwerbungserzählungen typische Liebesgeschichte zwischen dem christlichen König und der sarazenischen Prinzessin ist in diesem Text nicht einfach verkehrt, sondern gezielt verunklart. Die ‚eigentliche‘ Brautwerbung liegt der erzählten Geschichte voraus, die sarazenischen Antagonisten erscheinen in der zumeist positiv-christlich besetzten Rolle des Brautwerbers, und die schöne Salme wird so oft zwischen den Männern und über die Religionsgrenze hinund hergeschoben, dass nur ihr gewaltsamer Tod das andauernde Spiel zu beenden vermag. Bis dahin wird auch oder sogar gerade bei dieser weiblichen Hauptfigur, die so entscheidend für den Text ist, Ambiguität forciert, und zwar indem überall dort Leerstellen gesetzt werden, wo ihre Gedanken und ihr Fühlen ein Urteil über die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Handelns der Männer in ihrem Umfeld sprechen würde.37

3.3 Leerstellen Zu Beginn des Werkes wird Salmans große Liebe zu seiner Frau betont, die in ihrer Schönheit alle anderen überstrahlt. Ir kele die was wiß als der sne, es wart nie schoner frauwen me. ir münt recht als ein robin bran. da spieltent ir die augen als irem adel wol gezam.

|| / da knuwete vor sie der listige man, / er dette ir laßen an der median, / daz sage ich uch nit nach won. / er druckte sie also susse, / das ir die sele lachende von irem munde schiet. / sie wuhste nit, wie es geriet. (Strophen 777–778). Anschließend setzt Morolf der noch sterbenden oder schon toten Frau einen Becher an den Mund und verhöhnt sie damit, dass er ihr nie mehr ein weiteres Getränk anbieten würde, wenn sie dieses verschmähe (Strophe 778). Zur Frage einer möglichen Korrektur der Morolf-Figur im Straßburger Druck bzw. einer Weiterarbeit im Spannungsfeld von Gewalt und Komik siehe Rabea KOHNEN, Alternate Endings und Varianz. Überlegungen zu Morolfs Himmelfahrt, in: Anja BECKER und Jan MOHR (Hgg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), Berlin 2012, S. 171–195. 37 Der von Wolfgang ISER im Rückgriff auf Roman INGARDEN in die Literaturwissenschaft eingeführte Begriff der Leerstelle bezeichnet sowohl jeder sprachlichen Aussage inhärente Unterdeterminierung als auch ein spezifisches Merkmal literarischer Texte, durch das (gezielte) Auslassen von Informationen mehrdeutige Lektüremöglichkeiten zu eröffnen. Zum Zusammenhang von Leerstellen und Ambiguität siehe Shlomith RIMMON: The Concept of Ambiguity. The Example of James, Chicago 1977, sowie darauf bezugnehmend MÜNKLER (Anm. 5), S. 128–129.

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Ir hare was den gelwen siden glich, sie was schone und auch miniclich. wolgestaltet was ir der lip. sie was geheissen Salome und was ein wonder schones wip. (Strophen 5 und 6)

Ein Hals weiß wie Schnee, ein rubinroter Mund, funkelnde Augen, Haare wie goldene Seide, ein wohlgeformter Körper. Der Text nimmt sich viel Raum, um die Schönheit Salmes und im Folgenden auch die ihrer Kleidung und ihre betörende Wirkung auf die Männer am Hof zu beschreiben.38 In einem Werk, das so exotischen Dingen wie U-Booten und Meerjungfrauen kaum eine deskriptive Zeile gönnt, fallen die 14 Strophen zur Beschreibung der weiblichen Hauptfigur durchaus auf, zumal diese in den folgenden drei Strophen mit ihrer Kleidung und ihrem Schmuck fortgesetzt wird. Umso mehr muss es erstaunen, dass wir an dieser Stelle absolut nichts über ihre Gedanken und Gefühle erfahren, obwohl sich der Text mehrfach über die große Liebe Salmans zu seiner Ehefrau und seine Freuden im Schlafzimmer auslässt.39 Das Objekt der Begierde aber bleibt stumm: Wurde sie auf eigenen Wunsch und nur gegen den Willen ihres Vaters aus Indien entführt? Bestand dort bereits eine Liebesbeziehung zwischen Salme und Salman, oder wurde sie gewaltsam geraubt? Hat sie sich freiwillig zum Christentum bekehrt oder geschah es aus Zwang? Und auch bei den weiteren vier Wechseln zwischen dem Lager der Christen und dem der Sarazenen wird ihr eigenes Interesse ausgespart oder verunklart. Als König Salman seiner Frau den gefangenen König Fore zur Aufsicht übergibt, berichtet der

|| 38 Die Figur Salmes wurde in der Forschung sehr unterschiedlich bewertet, wobei sich das negative Bild der Figur insbesondere an ihre Rolle als Verführerin knüpft: „Die zentrale Frauengestalt, Salme, zunächst mit allen positiven Eigenschaften einer adeligen Herrin geschildert, entpuppt sich immer wieder als große Untreue, als kühl kalkulierende Überläuferin und selbst als blutrünstiges Mordweib, das sich mit seiner strahlenden Schönheit und seiner überbordenden Sexualität nahezu jeden Mann gefügig machen kann“ (SCHULZ (Anm. 4), S. 242). Auch Walter HAUG bewertet Salme als eigentliche Triebfeder hinter dem oft brutalen Geschehen (Walter HAUG, Brautwerbung im Zerrspiegel: ‚Salman und Morolf‘, in: Danielle BUSCHINGER (Hg.), Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. Mélanges de littérature médiévale et de linguistique allmande offerts à Wolfgang Spiewok à l’occasion de son soixantième anniversaire par ses collègues et amis, Amiens 1998, S. 179–188, hier besonders 186). Kritisch zu dieser einseitigen Bewertung haben sich Otto Neudeck (Grenzüberschreitung als erzählerisches Prinzip. Das Spiel mit der Fiktion in ‚Salman und Morolf‘, in: Wolfgang FRÜHWALD und Dietmar PEIL (Hgg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, S. 87–114, hier besonders S. 98) und jüngst auch Sarah BOWDEN (Anm. 4, S. 75–82) geäußert. 39 So zum Beispiel in direktem Anschluss an die Eingangspassage mit der Beschreibung Salmes und der Erzählung eines Kirchgangs, bei dem sie alle Blicke auf sich zieht: Also kundet uns diß lieht: / kunig Salmon was sin frauwe liep. / gantzer freuden er mit ir pflag, / da er in der kemenaten / an iren sne wißen armen lag. (Strophe 19).

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Text keineswegs, dass Salme sich von sich aus in ihren Verehrer verliebt, sondern vielmehr wird sie durch einen magischen Ring verzaubert, den Fore ihr schenkt: Da sie das fingerlin angesach, von dem zauber das geschach vil schiere geliebte ir das golt dem richen kunig Foren dem wart sie ußer der massen holt. (Strophe 96)

Darüber hinaus bringt sie den seltsamen Fingerring direkt zu ihrem Schwager Morolf und fragt ihn, ob eine Gefahr von dem Schmuckstück ausginge. Erst als er das verneint, steckt Salme ihn sich an, besiegelt damit ihre Liebe zu dem sarazenischen König und geht im Folgenden auf seinen Fluchtplan ein.40 Nachdem Salman und Morolf gemeinsam König Fore besiegt haben, kehrt Salme willig in Salmans Arme zurück – allerdings erst, als Morolf sie mit dem Tod bedroht.41 Und auch in der Doppelung des Plots finden sich die gleichen Motivationen: Wieder wird Salme durch einen Zauber in ihren sarazenischen Verehrer verliebt gemacht und wieder kehrt sie unter Androhung des Todes scheinbar glücklich zu ihrem christlichen Ehemann zurück. Die wenigen Einblicke, die uns der Text auf Salmes Innenleben gewährt, zeigen jedoch ihre Zuneigung zu ihren beiden sarazenischen Ehemännern und ihre Abneigung gegen das Leben an Salmans Seite und ihre Furcht vor seinem Bruder Morolf.42 Eng verbunden mit der Unklarheit in Bezug auf Salmes Gefühle gegenüber ihren Ehemännern ist die Frage nach ihrer eigenen religiösen Identität. Bei ihrem Vater Crispian in Indien lebt sie als Sarazenin und wird erst von Salman in Jerusalem getauft, im Psalter und Schachspielen unterrichtet.43 Dementsprechend kann ein alter Ratgeber König Fore auch die cristen kuniginne in Jerusalem als ihm angemessene Braut empfehlen, sie wird also auch von den sarazenischen Figuren als Christin wahrgenommen.44 Crispian kann daraufhin berichten, dass dies seine ihm geraubte Tochter wäre: In der Darstellung ihres Vaters erscheint sie zwar als mit einem Christen verheiratet und von Christen umgeben, ihre eigene Religion bzw. einen Wechsel derselben thematisiert er jedoch nicht.45 Aber er ist bereit, König Fores Absicht voll zu

|| 40 Strophen 97–99. 41 Strophen 530–538. 42 So erklärt Salme Fore, sie forcht […] noch vil sere / Morolff sinen [Salmans] dinstman (Strophe 101) und bittet ihn darum, sie schnell zu sich zu holen, ‚wan ich bin ungern / des konig Salmons wip‘ (Strophe 114) – beides wird jedoch schon unter dem Einfluss des Zauberrings geäußert. 43 Strophen 3 und 4. 44 Strophe 28. 45 ‚sie muß mich iemer riuwen, / das si hat den cristen man‘ (Strophe 34), ‚sie muß mich umer ruwen, / sol sie in der cristenheit sin‘ (Strophe 36).

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unterstützen. Nachdem er Salme in sein Land gebracht hat, kehrt sie offenbar wieder zu ihrer alten Religion zurück – zumindest begegnet Morolf ihr auf dem Weg zum sarazenischen Gottesdienst. Bei ihren weiteren Wechseln zwischen der christlichen und der sarazenischen Gemeinschaft wird nichts mehr über ihre Religion erfahrbar. Ist sie eine bekehrte Christin? Oder doch eine nur vorübergehend anders agierende Sarazenin? Oder einfach immer das, was gerade ihr Umfeld prägt? In der Figur Salmes verschwimmen die Religionsgrenzen gerade dadurch, dass nach dem Eröffnen beider Möglichkeiten nichts mehr über das Thema gesagt wird.

4 Schluss Mit ‚Salman und Morolf‘ begegnet uns ein Text, in dem vieles anders ist als in seiner direkten und weiteren literarischen und diskursiven Umwelt. Die Rollen von Pro- und Antagonisten changieren, die Sarazenen sind die besseren Christen, die Christen eigentlich irgendwie auch Juden und/oder Fabelwesen, der Held schreckt vor keinem Mord und keiner Gräueltat zurück, und keiner weiß, was in der Frau vorgeht, die jeder besitzen will. Gerade indem hier bekannte Motive und Konstellationen aufgenommen und systematisch überdreht werden, erzeugt ‚Salman und Morolf‘ literarischen Reiz und seinen eigentlichen Witz. Die vom Erzähler in seinen Kommentaren durchweg beförderte Lesart, der christliche Held Morolf sei ein nobler Held, seine Gegenspielerin Salme hingegen ein böses Weib, findet ihre Freude an entfesselter Komik, derben Späßen und unfassbarer Brutalität, die sich gegen die naiven Sarazenen und einen hilfsbereiten Juden richtet, die wegen ihres anderen Glaubens für fast alles legitime Ziele abgeben. Doch diese Lesart kann jederzeit kippen und es scheinen genug Stolpersteine inseriert, die ein solches Kippen – punktuell oder auch mit Blick auf das gesamte Werk – ansteuern. Vor allem aber scheint die forcierte Ambiguität literarisch höchst attraktiv zu sein, ermöglicht sie doch, bekannte Figurenkonstellationen und Plotstrukturen spielerisch nicht nur umzukehren, sondern durch die Doppeldeutigkeit in einer Art Schwebe zu lassen, die diametral entgegengesetzte Lektüren des gleichen Textes erlaubt, ja diese immer wieder anstößt. Damit bietet dieses Werk, das auf den ersten Blick zugleich witzig, abstoßend und etwas wirr erscheint und in der Forschung als oberflächliche und etwas geschmacklose Unterhaltungsliteratur verschrien ist, in der Tiefe erstaunlichen Reflexionsraum. Von seinen Lesern fordert der Text weniger Ambiguitätstoleranz als vielmehr eine spezifische Ambiguitätskompetenz, die aus den angewandten narrativen Strategien literarischen Genuss zu ziehen vermag.

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Andersgläubigkeit als Herausforderung Mittelalterliche Pilgerzentren des östlichen Mittelmeerraums als Orte multireligiöser Praxis. Ein Beitrag zum Ambiguitätsdiskurs in den Kulturwissenschaften Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag untersucht multireligiöse Kult- und Verehrungsstätten als potentielle Schauplätze von Ambiguitätstoleranz im Mittelalter. Im Fokus stehen überregional wie lokal bedeutende Pilgerheiligtümer im syro-palästinischen Raum (Jerusalem, Resafa, Ṣaydnāyā), die durch Angehörige verschiedener monotheistischer Religionsgemeinschaften oder auch Bekenntnisgruppen einer Religionsgemeinschaft aufgesucht wurden. Gefragt wird sowohl nach pluralen Raumarrangements als auch nach der konkreten Praxis des Umgangs mit Pilgerinnen und Pilgern, die nicht der jeweiligen religiösen Gemeinschaft am Ort angehörten. Schlüsselwörter: Raum, Religion, Wallfahrt, heilige Stätten, Pilgerzentren, Jerusalem Die Benediktinerabtei Einsiedeln im zentralschweizerischen Kanton Schwyz ist urkundlich seit dem 14. Jahrhundert als bedeutender Wallfahrtsort für christliche Pilger belegt, die Ursprünge der Wallfahrt reichen vermutlich bis ins Hochmittelalter zurück.1 Heute ist der zentrale Anknüpfungspunkt der Wallfahrt ein wundertätiges Marienbild (Abb. 1), das in seiner aktuellen Form um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstand und als Ersatz für eine ältere, wohl romanische Marienfigur aufgestellt wurde, die einen Brand der Klosterkirche im Jahr 1465 nicht überdauert hatte. Das schwarze Inkarnat der Gottesmutter und des Jesusknaben, wohl entstanden durch Verrußung der ursprünglich lebensecht farbig gefassten Hautpartien der Skulptur, ist seit dem 17. Jahrhundert als ein wichtiges Charakteristikum dieses verehrten Bildes belegt, weshalb die Statue auch als „Schwarze Madonna“ bezeichnet wird.2

|| 1 Vgl. Anja BUSCHOW OECHSLIN u. Werner OECHSLIN, Die Kunstdenkmäler des Kantons Schwyz, Neue Ausgabe III.I. Einsiedeln I. Das Benediktinerkloster Einsiedeln (Kunstdenkmäler der Schweiz 100), Bern 2003; Die Schwarze Muttergottes von Einsiedeln, Einsiedeln 2010, hier S. 11 (zum ersten Quellenbeleg der Wallfahrt aus dem Jahr 1311); P. Othmar LUSTENBERGER, Die Wallfahrt nach Einsiedeln. Die Anfänge der Marienverehrung und der Beginn der Wallfahrt, in: Phänomen Wallfahrt. Geschichte – Riten – Bräuche, Beromünster 2008, S. 9–18. 2 Linus BIRCHLER, Das Einsiedler Gnadenbild. Seine äussere und innere Geschichte, in: Einsidlensia. || Prof. Dr. Ute Verstegen, LS Christliche Archäologie, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Kochstr. 6, 91054 Erlangen, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-005

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Abb. 1: Einsiedeln (Schweiz), Benediktinerabteikirche Maria Himmelfahrt, Schwarze Madonna. Foto: Alwin GASSER/pixelio.de, Image-ID: 675749

Es ist sicherlich auch auf dieses Charakteristikum des Marienbildes zurückzuführen, dass das Einsiedler Wallfahrtswesen in den vergangenen Jahrzehnten eine erstaunliche Ausweitung erfahren hat, die auf dem Status der Schweiz als Einwanderungsland gründet. Während die organisierten katholischen Pilgerfahrten aus Schweizer Kantonen und aus Süddeutschland einen deutlichen Rückgang verzeichnen, ist Einsiedeln von Migranten und Migrantinnen zum neuen Wallfahrtsziel erkoren worden. So findet seit 2011 jährlich im August eine Wallfahrt afrikanischstämmiger Katholikinnen und Katholiken aus der gesamten Schweiz nach Einsiedeln statt, die dort „gemeinsam für ihre neue Heimat, für die afrikanischen Länder und ihre Angehörigen beten“.3

|| Gnadenbild, Restaurierung der Stiftskirche, ältere Klosterbauten (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich 13,2), Zürich 1993, S. 9–28; Irmgard SIEDE, Le Madonne Nere di Einsiedeln e Altötting. Devozione – copie – pellegrinaggio, in: Lalla GROPPA u. Oliviero GIRARDI (Hgg.), Nigra sum. Culti, santuari e immagini delle Madonne nere d’Europa, Ponzano Monferrato 2012, S. 185–195. 3 http://www.africath.ch/index.php?cat=Willkommen&page=Wallfahrten (16.2.2017).

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Überraschend ist, dass das Marienbild auch von einer weiteren wichtigen Einwanderergruppe der Schweiz Verehrung empfängt, nämlich von tamilischen Christen und Hindus, die, verursacht durch den Bürgerkrieg in Sri Lanka, seit den 1990er Jahren in der Schweiz leben.4 Bemerkenswert an den hinduistischen tamilischen Pilgern ist die Umdeutung Marias zu einer allgemeinen Muttergottheit, die um Schutz, Hilfe und Wunscherfüllung ersucht wird. Befragungen von tamilischen Hindus in Einsiedeln lassen erkennen, dass sie die Einsiedler Madonna weder als christliche Gottesmutter noch als eine spezifische Gottheit der Hindu-Traditionen, etwa als Kali, verstehen.5 Zwar teilt das Einsiedler Bild mit Kali den Aspekt der schützenden Mutter sowie ikonographisch die schwarze Färbung des Inkarnats, sie wird von den Pilgern aber nicht mit dieser gleichgesetzt.6 Auch scheinen Aspekte der christlichen Ortstradition und Legenden Einsiedelns keine Rolle für die Bewertung des Orts als heiliger Stätte durch die tamilischen Hindus zu spielen, sondern es werden hierfür neue, eigene Belege angeführt, die die Wundertätigkeit und Wirksamkeit einer Anbetung der Schwarzen Madonna bestätigen.7 Der Benediktinerkonvent am Ort hat bislang auf diese Entwicklungen nicht ausgrenzend eingewirkt, sondern kommt den Anforderungen der tamilischen Besucherinnen und Besucher beispielsweise durch die Anbringung von Hinweistafeln in ihrer Sprache entgegen.8 Die Verehrung der Einsiedler Madonna durch verschiedene, nicht nur christliche religiöse Gruppen ist ein Beispiel für religiöse Transformationsprozesse, wie sie sich in den heutigen migrationsgeprägten Gesellschaften in Europa und Nordamerika vollziehen. Multireligiöse Kultanbindungen an christlichen Wallfahrtsorten sind allerdings kein ausschließlich aktuelles Phänomen, sondern lassen sich bereits in der

|| 4 Christopher MACDOWELL, A Tamil Asylum Diaspora. Sri Lankan Migration, Settlement and Politics in Switzerland (Refugee and Forced Migration Studies 1), Oxford, Providence 1997, S. 233–236; Barbara MESSERLI, Maria wird zur Göttin. Hindu-TamilInnen verehren die christliche Madonna, Lizentiatsarbeit Universität Bern 1998; Martin BAUMANN, Jörg STOLZ (Hgg.), Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens, Bielefeld 2007, S. 29, 234; Mike QERKINI, „Schwarz bin ich, doch schön…“, http://www.forumkirche.ch/archiv/artikel-139.html (16.2.2017); Bärbel BEINHAUER-KÖHLER, Im Zwischenraum. Plurale Raumarrangements aus religionswissenschaftlicher Perspektive, in: Bärbel BEINHAUER-KÖHLER, Bernadette SCHWARZ-BOENNEKE u. Mirko ROTH (Hgg.), Viele Religionen – ein Raum?! Analysen, Diskussionen und Konzepte, Berlin 2015, S. 55–76, hier S. 68. – Zu Wallfahrten an Marienorte in Indien: John B. CARMAN, When Hindus Become Christian. Religious Conversion and Spiritual Ambiguity, in: Jerald D. GORT, Henry JANSEN u. Hendrik M. VROOM (Hgg.), Religions View Religions. Explorations in Pursuit of Understanding (Currents of Encounter 25), Kenilworth 2006, S. 241–263. 5 MACDOWELL (Anm. 4), S. 233. Vgl. BAUMANN u. STOLZ (Anm. 4), S. 29, 234. 6 http://www.religions-infocus.com/themen/trendreligion-christentum/die-geheimnisvolleschwarze/sogar-von-tamilen-verehrt (30.12.2015, am 16.2.2017 nicht mehr online). 7 MACDOWELL (Anm. 4), S. 234. 8 http://www.kirche-heute.ch/kirche-heute/beitraege/1titel/2012-26-Einsiedeln.php (16.2.2017).

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Spätantike und im Mittelalter nachweisen.9 Sie sind besonders häufig in Kontaktzonen von auch religiös differenten Herrschaftsgebieten zu beobachten und in der Regel eher in Peripheriezonen als in religiösen oder politischen Zentren zu verorten.10 Im östlichen Mittelmeerraum entwickelten sich entsprechende Phänomene pluraler religiöser, aber auch konfessioneller Praxis vor allem im Zuge der islamischen Eroberung der vormals oströmischen, von Christen bewohnten Gebiete ab dem 7. Jahrhundert sowie auf den Territorien der Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land, in Griechenland, Zypern oder Kreta, wo es zu christlich-muslimischen, aber auch lateinischorthodoxen Parallelnutzungen kam.11

|| 9 Aus der in den letzten Jahren stark angestiegenen Zahl an Untersuchungen zur Thematik der multireligiösen Raumnutzung seien hier nur einige zentrale Beiträge und Sammelbände genannt: Dionigi ALBERA u. Bojan BASKAR (Hgg.), Religions traversées. Lieux saints partagés entre chrétiens, musulmans et juifs en Méditerranée, Arles 2009; Glenn BOWMAN (Hg.), Sharing the Sacra. The Politics and Pragmatics of Intercommunal Relations around Holy Places, New York, Oxford 2012; Dionigi ALBERA u. Maria COUROUCLI (Hgg.), Sharing Sacred Spaces in the Mediterranean. Christians, Muslims, and Jews at Shrines and Sanctuaries, Bloomington 2012; Elazar BARKAN u. Karen BARKEY (Hgg.), Choreographies of Shared Sacred Sites. Religion, Politics, and Conflict Resolution, New York 2014; Maria COUROUCLI, Shared Sacred Spaces, in: Peregrine HORDEN u. Sharon KINOSHITA (Hgg.), A Companion to Mediterranean History (Wiley Blackwell Companions to World History), Chichester, West Sussex 2014, S. 378–391; Ute VERSTEGEN, Multireligiöse Gebetsräume. Historische Szenarien eines aktuellen Phänomens, in: INSITU 6 (2014), H. 1, S. 5–18; Bärbel BEINHAUER-KÖHLER, Bernadette SCHWARZBOENNEKE u. Mirko ROTH (Hgg.), Viele Religionen – ein Raum?! Analysen, Diskussionen und Konzepte, Berlin 2015; Dionigi ALBERA, Isabelle MARQUETTE u. Manoël PENICAUD (Hgg.), Lieux saints partagés, Arles 2015; Nour FARRA-HADDAD, Shared Religious Rituals and Pilgrimages Sites. A Movement Beyond the Christian-Muslim Divide, in: Jean-Guy GOULET, Liam D. MURPHY u. Anastasia PANAGAKOS (Hgg.), Religious Diversity Today. Experiencing Religion in the Contemporary World 2, Santa Barbara, Denver, 2016, S. 89–110. – Speziell zur Spätantike: Ute VERSTEGEN, Trennung, Überlagerung und Kollision. Beobachtungen zur parallelen Nutzung von sakralen Räumen in frühchristlicher Zeit, in: Klaus HERBERS u. Larissa DÜCHTING (Hgg.), Sakralität und Devianz. Konstruktionen, Normen, Praxis (Beiträge zur Hagiographie 16), Stuttgart 2015, S. 57–82. – V. a. der rechtlichen Problematik widmet sich: Silvio FERRARI (Hg.), Between Cultural Diversity and Common Heritage. Legal and Religious Perspectives on the Sacred Places of the Mediterranean, Farnham u. a. 2014. 10 COUROUCLI (Anm. 9), S. 378. 11 Arieh KOFSKY u. Guy G. STROUMSA (Hgg.), Sharing the Sacred: Religious Contacts and Conflicts in the Holy Land. First–Fifteenth Centuries CE, Jerusalem 1998; Benjamin Z. KEDAR, Convergences of Oriental Christian, Muslim, and Frankish Worshippers. The Case of Sadnaya, in: Yitzhak HEN (Hg.), De sion exibit lex et verbum domini de Hierusalem. Essays on Medieval Law, Liturgy and Literature in Honour of Amnon Linder (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 1), Turnhout 2001, S. 59–69; Josef W. MERI, The Cult of Saints Among Muslims and Jews in Medieval Syria, Oxford 2002; Elizabeth KEY FOWDEN, Sharing Holy Places, in: Common Knowledge 8 (2002), H. 1, S. 124–146; Ora LIMOR, Sharing Sacred Space. Holy Places in Jerusalem Between Christianity, Judaism, and Islam, in: Iris SHAGRIR, Ronnie ELLENBLUM u. Jonathan RILEY-SMITH (Hgg.): In Laudem Hierosolymitani. Studies in Crusades and Medieval Culture in Honour of Benjamin Z. Kedar. Aldershot 2007, S. 219–231; Souzana CHOULIA, Holy Places Used Successively or Simultaneaously by Different Religions, in: Maria Kazaku (Hg.), Egeria. Mediterranean Medieval Places of Pilgrimage, Athen 2008, S. 59–64; Michele

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Der vorliegende Beitrag soll sich im Rahmen des methodischen Diskurses zu Ambiguität und Polyvalenz mit der Frage nach der Bedeutung der Religion als Leitdifferenz auseinandersetzen und die multiple Nutzung von religiösen Kult- und Verehrungsstätten durch Angehörige verschiedener Religionsgemeinschaften als ein mögliches Feld der Ambiguitätstoleranz beleuchten.12 Ursprünglich in der individu-

|| BACCI, „Mixed“ Shrines in the Late Byzantine Period, in: L. J. BELJAEV (Hg.), Archaeologia Abrahamica. Исследования в области археологии и художественной традиции иудаизма, христианства, и ислама/Studies in Archaeology and Artistic Tradition of Judaism, Christianity and Islam, Moskau 2009, S. 433–444; Mattia GUIDETTI, The Byzantine Heritage in the Dar al-Islam. Churches and Mosques in al-Ruha Between the Sixth and Twelfth Centuries, in: Muqarnas 26 (2009), S. 1–36; Olga GRATZIOU, Evidenziare la diversità. Chiese doppie nella Creta veneziana, in: Chrysa A. MALTEZU, Angeliki TZAVARA und Despina VLASSI (Hgg.), I greci durante la venetocrazia. Uomini, spazio, idee (XIII–XVIII sec.), Venedig 2009, S. 757–854; Eftichia ARVANITI, Double-Identity Churches on the Greek Islands under the Venetians. Orthodox and Catholics Sharing Churches (Fifteenth to Eighteenth Century), in: Trine STAUNING WILLERT u. Lina MOLOKOTOS-LIEDERMAN (Hgg.), Innovation in the Orthodox Christian Tradition? The Question of Change in Greek Orthodox Thought and Practice, Farnham 2012, S. 53–72; Dorothea WELTECKE, Multireligiöse Loca Sancta und die mächtigen Heiligen der Christen, in: Der Islam 88 (2012), H. 1, S. 73–95; Catherine HOLMES, ‚Shared worlds‘. Religious Identities. A Question of Evidence, in: Jonathan HARRIS (Hg.), Byzantines, Latins, and Turks in the Eastern Mediterranean World after 1150, Oxford 2012, S. 31–59; Mattia GUIDETTI, The Contiguity Between Churches and Mosques in Early Islamic Bilād al-Shām, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 76 (2013), S. 229–258; Margit MERSCH, Churches as ‚Shared Spaces‘ of Latin and Orthodox Christians in the Eastern Mediterranean (14th–15th cent.), in: Georg CHRIST (Hg.), Union in Separation. Trading Diasporas in the Eastern Mediterranean (1200–1700), Rom 2014, S. 498–524; VERSTEGEN, Multireligiöse Gebetsräume (Anm. 9); DIES., How to Share a Sacred Place. The Parallel Christian and Muslim Usage of the Major Christian Holy Sites at Jerusalem and Bethlehem, Manuskript 2012 (erscheint in: Johannes PAHLITZSCH (Hg.), Monks, Merchants and Artists). – Leider nicht mehr konsultiert werden konnte die erst nach Abgabe dieses Texts erschienene, für künftige Untersuchungen grundlegende Arbeit: Mattia GUIDETTI, In the Shadow of the Church. The Building of Mosques in Early Medieval Syria (Arts and Archaeology of the Islamic World 8), Leiden, Boston 2016. 12 Grundlegende neuere methodische Überlegungen zu Begriff und Konzept von Ambiguität: Wolfgang KLEIN u. Susanne WINKLER (Hgg.), Ambiguität (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158), Stuttgart, Weimar 2010; Thomas BAUER, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011; Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2012; Andreas PIETSCH u. Barbara STOLLBERG-RILINGER (Hgg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 214), Gütersloh 2013; Johannes PAULMANN, Matthias SCHNETTGER u. Thomas WELLER (Hgg.), Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 108), Göttingen 2016. – Zentrale methodische Überlegungen enthalten auch mehrere Beiträge des Bandes: Michael BORGOLTE (Hg.), Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule (Europa im Mittelalter 16), Berlin 2010 (zu monotheistischen Religionen und religiösen Räumen insbesondere M. BORGOLTE, S. 314– 327). Im Rahmen des vorliegenden Beitrags ist es allerdings nicht möglich, das Diskursfeld von kultureller Hybridisierung ebenfalls einzubeziehen.

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alpsychologischen Forschung entwickelt, umschreibt der Begriff der Ambiguitätstoleranz zunächst die Fähigkeit von Individuen, Uneindeutigkeit wahrzunehmen und nicht negativ zu bewerten.13 Thomas BAUER hat diese Beobachtungen auf kulturhistorische Fragestellungen übertragen und herausgearbeitet, dass sich auch kollektive Entitäten in ihrem Umgang mit Vagheit und Polyvalenz unterscheiden können.14 Das Aufeinandertreffen von Angehörigen unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften an einem Ort und vielleicht sogar in einem Raum kann generell auf mehreren Veranlassungen gründen. Im Kontext multireligiöser Raumnutzungen repräsentieren die in diesem Beitrag untersuchten Pilgerzentren dabei nur einen Aspekt. Ein weiterer kann durch die Nutzung desselben Raumes oder nah miteinander verbundener Räumlichkeiten während regelmäßig vollzogener Gemeinschaftsriten verschiedener, in einer Siedlung ansässiger Religionen oder Konfessionen gegeben sein. Die in der Folge der Reformation entstandenen Simultankirchen für die katholische und protestantische Gemeinde eines Orts sind ein Beispiel für eine entsprechende turnusmäßige multikonfessionelle Nutzung von Sakralräumen.15 Aber auch für die Frühzeit des Islam ist beispielsweise überliefert, dass Versammlungsräume für das muslimische Freitagsgebet in Vorräumen oder Seitenräumen von bestehenden frühchristlichen Kirchenbauten eingerichtet werden konnten, während die christliche Gemeinde ihr Gotteshaus weiter nutzte.16 Ich habe darüber an anderer Stelle bereits ausführlicher gehandelt und möchte mich an dieser Stelle daher auf Phänomene multireligiöser Religionsausübung an spätantiken und mittelalterlichen Pilgerorten konzentrieren.17

|| 13 Sebastien GRENIER, Anne-Marie BARRETTE u. Robert LADOUCEUR, Intolerance of Uncertainty and Intolerance of Ambiguity. Similarities and Differences, in: Personality and Individual Differences 39 (2005), S. 593–600; Jack REIS, Ambiguitätstoleranz. Beiträge zur Entwicklung eines Persönlichkeitskonstruktes, Heidelberg 2007. 14 Vgl. BAUER (Anm. 12), S. 13. 15 Bernard VOGLER, Simultaneum, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 31 (2000), S. 280–283; Norbert KERSKEN, Konfessionelle Behauptung und Koexistenz. Simultankirchen im 16. Jahrhundert, in: Joachim BAHLCKE, Karen LAMBRECHT u. Hans-Christian MANER (Hgg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, Leipzig 2006, S. 287–304; Heinz HENKE, Wohngemeinschaften unter deutschen Kirchendächern. Die simultanen Kirchenverhältnisse in Deutschland – eine Bestandsaufnahme, Leipzig 2008; Matthias SCHRÖDER, Gott loben – Wand an Wand. Simultankirchen mit Trennmauern gestern und heute, in: Mathias GASCHOTT u. Jochen ROTH (Hgg.), Vestigia II. Aufsätze zur Kirchen- und Landesgeschichte zwischen Rhein und Mosel, Regensburg 2013, S. 239–272; VERSTEGEN, Multireligiöse Gebetsräume (Anm. 9), S. 16–18. 16 GUIDETTI, Byzantine Heritage (Anm. 11); GUIDETTI, Contiguity Between Churches and Mosques (Anm. 11); VERSTEGEN, How to Share (Anm. 11). 17 Vgl. VERSTEGEN, Multireligiöse Gebetsräume (Anm. 9). Gekürzte, in Details jedoch ergänzte Fassung dieses Texts: Ute VERSTEGEN, Normalität oder Ausnahmesituation? Multireligiöse Raumnutzungen aus historischer Perspektive, in: BEINHAUER-KÖHLER, SCHWARZ-BOENNEKE u. ROTH (Anm. 9), S. 77–98.

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1 Multireligiöse Religionsausübung an spätantiken und mittelalterlichen Pilgerorten: Methodische Vorüberlegungen Hinsichtlich multireligiöser Praxis an Pilgerorten lassen sich mehrere Szenarien unterscheiden: So kann sich eine gemeinsame Nutzung an verehrten religiösen Stätten entwickeln, an denen mehrere Glaubensgemeinschaften ein und dieselbe Ortstradition oder auch eine bestimmte Person, z. B. an ihrem Grab oder vermittels eines heiligen Bildes, verehren. Es können aber auch voneinander unabhängige Traditionen verschiedener Religionen an einer Stätte anbinden. Nicht selten geben vor allem die „heiligen Orte“ der zweiten Kategorie Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen, da sie von den verschiedenen Interessensgruppen mit Ausschließlichkeitsansprüchen vereinnahmt werden. Das Kernexempel eines solchen interreligiösen Konfliktherds ist der Jerusalemer Tempelberg, der Juden und Muslimen aufgrund diverser Traditionen gleichermaßen als heilige Stätte gilt.18 Benjamin KEDAR, Ora LIMOR, Dorothea WELTECKE und zuletzt Bärbel BEINHAUERKÖHLER unternahmen Typologisierungsversuche, um die pluralen Nutzungen religiöser Räume noch weiter untergliedern zu können.19 KEDAR unterschied insbesondere drei Kategorien nach Art der Kultausübung durch die beteiligten Gruppen: – Erstens eine rein räumliche Konvergenz, wobei die Angehörigen der verschiedenen religiösen Gruppen zwar an einem Ort oder in einem Raum zusammenkommen, ihre religiösen Riten jedoch separat praktizieren. Diese gleichzeitige, aber dennoch getrennte Kultausübung kann von den beteiligten Gruppen gleichrangig vollzogen werden oder auch hierarchisch geprägt sein, wenn eine der Gruppen die andere(n) quasi in ihren Räumlichkeiten duldet. – Zweitens die Dominanz einer Gruppe („ungleiche Konvergenz“), während die Mitglieder der zweiten nicht oder kaum an der Ausübung religiöser Riten beteiligt sind, sondern lediglich als passive „Zuschauer“ anwesend sein dürfen. Kennzeichnend für diesen Fall, so ist zu ergänzen, ist in der Regel, dass hier ein eigentumsrechtlicher Anspruch auf die heilige Stätte durch die dominierende Gruppe gegeben ist und ihr die Verwaltung und der Betrieb der Stätte obliegen.20

|| 18 Roger FRIEDLAND u. Richard D. HECHT, The Bodies of Nations. A Comparative Study of Religious Violence in Jerusalem and Ayodhya, in: History of Religions 38 (1998), S. 101–149; Moussa ABOU RAMADAN, The Haram Al-Sharif in Jerusalem. An Israeli Law Perspective, in: FERRARI (Anm. 9), S. 175–190; BEINHAUER-KÖHLER (Anm. 4), S. 65–66. 19 KEDAR (Anm. 11); LIMOR (Anm. 11); WELTECKE (Anm. 11); BEINHAUER-KÖHLER (Anm. 4). 20 Zur Komplexität entsprechender rechtlicher Regelungen vgl. den Überblick bei FERRARI (Anm. 9).

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Drittens eine gleichrangige Partizipation („egalitäre Konvergenz“) unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften an einem gemeinsam vollzogenen religiösen Ritus. Ein charakteristisches Beispiel für diesen seltenen Typ sind gemeinsame Gebete oder Prozessionen mit dem Ziel der Kontingenzbewältigung, wie sie für Damaskus beispielsweise für das Jahr 1311 während der Pest oder für Jerusalem für das Jahr 1317 im Zuge einer großen Hungersnot überliefert sind.21 Häufig zeigt sich, dass für diese Sonderriten gewissermaßen ‚neutraler‘ Grund wie der öffentliche Stadtraum unter freiem Himmel genutzt wurde, um nicht auf den Sakralraum einer der beteiligten Gemeinschaften angewiesen zu sein.

Dorothea WELTECKE erweiterte KEDARS Systematisierung um weitere Analysekategorien.22 Sie betonte, es sei prinzipiell danach zu fragen, wer oder was das Objekt der Verehrung sei, zu welcher Zeit die einzelnen Gruppen jeweils besonderes Interesse an der religiösen Verehrung zeigten und welchen Wandlungsprozessen die Stätten unterlagen, ferner welche individuellen und institutionellen Akteure beteiligt gewesen seien (z. B. in Hinblick auf die soziale Position oder Geschlechtszugehörigkeit), welche politischen Machtverhältnisse in der betreffenden Region herrschten und nicht zuletzt, welchen religiösen Untergruppen, wie beispielsweise einer bestimmten Konfession, die Beteiligten angehörten. Differenziert werden müssten darüber hinaus auch die Motivationen, die die einzelnen Gläubigen zum Besuch der Stätten bewegten, denn diese konnten sich je nach Glaubenszugehörigkeit unterscheiden oder auch überschneiden. Zu solchen Motivationen für eine Wallfahrt oder den Besuch einer Heiligen Stätte können z. B. die Reinigung von Sünden, die Heilung von Krankheit, eine ausbleibende Schwangerschaft, die Bitte um wirtschaftliche Prosperität oder politischen Erfolg zählen. Hinzuzufügen wäre meines Erachtens schließlich die Analyse der eigentlichen religiösen Praktiken, die einerseits durch die religiöse Prägung und den Habitus der jeweiligen Pilger bestimmt sind, andererseits aber aus Lokaltraditionen an einer spezifischen heiligen Stätte erwachsen, die bei einem Erstbesuch durch Nachahmung anderer Pilger oder durch Erläuterung von Führern oder Wachpersonal zur Kenntnis der Besucher gelangen.23 Nicht zuletzt ist zu untersuchen, mittels welcher Arrangements auf architektonischer und medialer Ebene versucht wurde, eine gemeinsame Nutzung der betreffenden Orte durch Angehörige verschiedener religiöser Gruppen zu ermöglichen bzw. welche Adaptionen im Fall des Hinzukommens einer neuen

|| 21 KEDAR (Anm. 11); MERI (Anm. 11), S. 36; LIMOR (Anm. 11), S. 220. Zu Zypern: HOLMES (Anm. 11). Grundlegend ferner: Alexandra CUFFEL, Environmental Disasters and Political Dominance in Shared Festivals and Intercessions Among Medieval Muslims, Christians and Jews, in: Margaret CORMACK (Hg.), Muslims and Others in Sacred Space, Oxford 2013, S. 108–146. 22 WELTECKE (Anm. 11), S. 77–80. 23 COUROUCLI (Anm. 9), S. 379–380.

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Religionsgemeinschaft an einem tradierten Erinnerungsort oder auch bei der ‚Konversion‘ eines Bauwerks, z. B. von einer primär christlichen zur muslimischen Nutzung, vorgenommen wurden. Neben der Frage nach den Konvergenzebenen der beteiligten religiösen Gruppen sollen im vorliegenden Beitrag daher mehrere Fallbeispiele multireligiöser Pilgerorte auf die lokal spezifischen Ausformungen individueller und kollektiver religiöser Praxis sowie auf plurale Raumarrangements hin analysiert werden. In methodischer Hinsicht ist schließlich vorauszuschicken, dass sich Hinweise auf multireligiöse Praxis an spätantiken und mittelalterlichen Pilgerzentren in der Regel nicht normativen Quellengruppen entnehmen lassen, sondern ‚en passant‘ im Rahmen von Pilgerzeugnissen, Chroniken oder Briefen Erwähnung finden. Häufungen solcher Beobachtungen für eine spezifische Pilgerstätte sind zwar klare Indizien für eine multireligiöse Nutzung während eines bestimmten Zeitraums, umgekehrt schließt aber ein Fehlen entsprechender Berichte, z. B. bei wenig besuchten Monumenten, das faktische Vorkommen nicht aus.

2 Resafa/Al-Ruṣāfa, Sergios-Heiligtum Als Erstes soll ein frühislamisches Beispiel für eine muslimische Kultanbindung an einen bedeutenden christlichen Lokalkult vorgestellt werden. Das Sergios-Heiligtum in Resafa in der nordsyrischen Wüstensteppe ist eine der wenigen Anlagen, in denen sich eine simultane Nutzung durch Christen und Muslime in spätantik-frühislamischer Zeit im archäologischen Befund sicher nachweisen lässt.24 Die Stadt, die in byzantinischer Zeit sogar den Namen des verehrten Märtyrers trug – Sergioupolis (Sergiosstadt) –, war Zentrum des Kults für Sergios, einen römischen Militäroffizier, der im Zuge der Christenverfolgung 312 im lokalen Limeskastell hingerichtet worden sein soll.25 Im Verlauf des 4. Jahrhunderts entwickelte sich eine Wallfahrt zum

|| 24 Im Kontext multireligiöser Nutzung habe ich dieses Fallbeispiel bereits untersucht in: VERSTEGEN, Trennung, Überlagerung und Kollision (Anm. 9), S. 71–74. Darauf basiert auch der vorliegende Text. – Zur Interpretation dieses Heiligtums unter dem Fokus seiner multireligiösen Nutzung auch: WELTECKE (Anm. 11), S. 80–83; GUIDETTI, Contiguity Between Churches and Mosques (Anm. 11), S. 248– 249; Dorothee SACK, St. Sergios in Resafa. Worshipped by Christians and Muslims Alike, in: Michael BLÖMER, Achim LICHTENBERG u. Rubina RAJA (Hgg.), Religious Identities in the Levant from Alexander to Muhammed. Continuity and Change (Contextualizing the Sacred 4), Turnhout 2015, S. 271–280. 25 Ausgrabungen erbrachten Spuren eines Kastells aus dem 1. Jahrhundert, Kleinfunde deuten auf die Präsenz römischen Militärs ab der Mitte des 1. Jahrhunderts hin. Vgl. Michaela KONRAD, Flavische und spätantike Bebauung unter der Basilika B von Resafa, Damaszener Mitteilungen 6 (1992), S. 313–402; DIES., Der spätrömische Limes in Syrien. Archäologische Untersuchungen in den Grenzkastellen von Sura, Tetrapyrgium, Cholle und Resafa (Resafa 5), Mainz 2001, S. 14; SACK (Anm. 24), S. 272–273.

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Sergiosgrab mit großer, überregional wirksamer Anziehungskraft, die dazu führte, dass der Ort im 5. und 6. Jahrhundert ausgebaut und mit einem imposanten Mauerring und neuen Kirchen versehen wurde.26 Förderungen erhielt das Heiligtum von keinen Geringeren als dem oströmischen Kaiserpaar Justinian (reg. 527–565) und Theodora (gest. 548) höchstselbst, dem sasanidischen König Chosrau II. (reg. 590– 628) sowie dem mit Ostrom verbündeten christlich-monophysitischen Ghassanidenfürsten al-Munḏir III. ibn al-Ḥāriṯ (reg. 569–581).27 Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts begann man in der Südostecke der Stadt mit dem Bau einer Kirche (der heute sogenannten Basilika A), die in der Folgezeit die Reliquien des Heiligen aufnehmen sollte.28 Diese ursprünglich als dreischiffige Weitarkaden-Pfeilerbasilika mit gerade ummantelter Ostapsis konzipierte Kirche wurde nach Erdbebenschäden im 6. Jahrhundert gesichert und leicht im Aufbau verändert.29 Das eigentliche Heiligengrab befand sich dort in einer turmartig überhöhten und kostbar mit Stuck, Malerei und Mosaiken verzierten Reliquienkapelle im nördlichen Apsisnebenraum. Der Sarkophag mit den Gebeinen des Sergios war im Zentrum dieses Raumes auf einem Sockel aufgestellt, von einem Baldachin überfangen und von der Kirche aus durch eine offene Säulenstellung zu sehen. Reste von hüfthohen Abschrankungen verweisen darauf, dass die Pilger nicht selbst an den Sarkophag treten konnten, sondern auf seiner Rückseite vorbeigehen und möglicherweise mit den Reliquien in Berührung gebrachtes und dadurch geheiligtes Wasser oder Öl abfüllen

|| 26 Harry SPANNER u. Samuel GUYER, Rusafa. Die Wallfahrtsstadt des Heiligen Sergios, Berlin 1926; Thilo ULBERT, Die Basilika des Heiligen Kreuzes in Resafa-Sergiupolis (Resafa 2), Mainz 1986; Thilo ULBERT, Beobachtungen im Westhofbereich der Großen Basilika von Resafa, Damaszener Mitteilungen 6 (1992), S. 403–416; Elizabeth KEY FOWDEN, The Barbarian Plain. Saint Sergius Between Rome and Iran (The Transformation of the Classical Heritage 28), Berkeley 1999, S. 60–100; Gunnar BRANDS, Die Bauornamentik von Resafa-Sergiupolis. Studien zur spätantiken Architektur und Bauausstattung in Syrien und Nordmesopotamien (Resafa 6), Mainz 2002; Stephan WESTPHALEN, Resafa. Untersuchungen zum Straßennetz in byzantinischer Zeit, in: Akten des 14. Internationalen Kongresses für Christliche Archäologie. Wien 1999, Città del Vaticano 2006, S. 783–793; Thilo ULBERT, Resafa – Pilgerzentrum und Grenzbefestigung, in: Mamoun FANSA u. Beate BOLLMANN (Hgg.), Die Kunst der frühen Christen in Syrien. Zeichen, Bilder und Symbole vom 4. bis 7. Jahrhundert, Mainz 2008, S. 68–77; SACK (Anm. 24), S. 272–275. 27 Darauf weist z. B. auch bereits WELTECKE (Anm. 11), S. 81 hin. 28 Die Reliquien waren um 430 zunächst aus dem außerhalb der Stadt liegenden Grab in die sogenannte Basilika B transloziert worden. Zum Bau der Basilika A: ULBERT, Basilika des Heiligen Kreuzes (Anm. 26); zur Datierung: BRANDS (Anm. 26), S. 48–56. 29 Auf den Kapitellen dieser Sicherungsmaßnahme sind die Namen der um 520 amtierenden Bischöfe Sergios und Maronios angebracht, die auch in zwei weiteren Bauinschriften genannt werden, die sich in der Apsis der Kirche und am Bema befanden. Vgl. BRANDS (Anm. 26), S. 49.

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konnten.30 Es war eine gängige Pilgerpraxis, solche Flüssigkeiten in kleinen Fläschchen oder Ampullen (sogenannte Eulogien) mitzunehmen und entweder amuletthaft zum persönlichen Schutz oder als Mittel zur Krankheitsheilung einzusetzen.31 Auf der Nordseite schloss sich an die Kirche ein auf drei Seiten von Portiken umgebener offener Hof an, der im Osten durch eine Apsis mit Seitenräumen abgeschlossen war. Diese in der frühchristlichen Architektur ungewöhnliche Anlage diente wahrscheinlich bei großen Pilgerfesten wie dem Todestag des Sergios am 7. Oktober dazu, größere Menschenmassen aufzunehmen, die in der Kirche nicht unterzubringen waren. Die arabische Eroberung Syriens 636 tat dem Sergioskult in Resafa keinen Abbruch, im Gegenteil. Nun wurde der Ort durch Hišām b. ʿAbd al-Malik (reg. 724–743), einen Kalifen der Umayyadendynastie, sogar als Residenzort ausgebaut.32 Unter Wiederverwendung einer großen Anzahl von Spolien aus einem nahe gelegenen Kirchenbau, der sogenannten Basilika B, erfolgte der Bau einer Freitagsmoschee in unmittelbarer Nachbarschaft der bestehenden Basilika A (Abb. 2).33 Die Moschee, bestehend aus einem quergelagerten, dreischiffigen Betraum und einem vorgelagerten Hof, wurde von Norden in den großen Pilgerhof der Kirche eingeschoben. Wie Dorothee SACK in ihrer Bauuntersuchung der Moschee nachweisen konnte, befanden sich in der Qiblawand (die islamische Gebetsrichtung anzeigende Wand) des Betraumes zwei Durchgänge in den Hof. Einer lag zwischen den beiden Mihrabnischen, ein zweiter in einem Gelenkraum im Südosten.34 Auch Muslime hatten auf diese Weise die Möglichkeit, zur Sergios-Memoria in der Südostecke des Hofs zu gelangen, vielleicht auch an bestimmten Feierlichkeiten im Hof teilzunehmen.35 Auf die räumliche Nähe || 30 ULBERT, Basilika des Heiligen Kreuzes (Anm. 26), S. 43–60, bes. S. 54–55, ferner S. 137–144; SACK (Anm. 24), S. 275. 31 Zu Objekten, die sich möglicherweise einer entsprechenden Praxis in Resafa zuschreiben lassen: KEY FOWDEN (Anm. 26), S. 38–39. Vgl. auch: Benjamin FOURLAS u. Vasiliki TSAMAKDA (Hgg.), Wege nach Byzanz, Mainz 2011, S. 218–219, Kat. Nr. II.1.9. Kritisch hingegen zur Durchführung dieser Praxis in monophysitisch geprägten Pilgerorten: Bissera V. PENTCHEVA, The Sensual Icon. Space, Ritual, and the Senses in Byzantium, University Park, Penn. 2010, S. 25. 32 Dorothée SACK, Resafa – Sergiupolis, Rusafat Hišam. Nuevos avances en la investigación, Madrider Mitteilungen 50 (2009), S. 433–448; Dorothee SACK, Mohammed SARHAN u. Martin GUSSONE, Resafa-Sergiupolis/Rusafat Hisham, Syrien. Pilgerstadt und Kalifenresidenz. Neue Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven, in: Zeitschrift für Orientarchäologie 3 (2010), S. 102–129; SACK (Anm. 24), S. 276–277. 33 Dorothée SACK, Die Große Moschee von Resafa – Ruṣāfat Hišām (Resafa 4), Mainz 1996; KEY FOWDEN (Anm. 26), S. 174–185; BRANDS (Anm. 26), S. 9. Die Datierung dieser Maßnahme in die Zeit des Hisham basiert auf historischen Quellen sowie auf Fundmünzen, die im Fundamentbereich der Moschee gefunden wurden. 34 SACK (Anm. 33), S. 41–42. 35 SACK (Anm. 33), S. 69 geht nicht von Funktionen aus, die ähnliche Durchgänge in anderen frühislamischen Moscheen besaßen (Verbindung der Moschee zu einer Kalifenresidenz, Eingang für den Imam).

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zum Sergiosgrab wurde augenscheinlich großer Wert gelegt, da man sogar in Kauf nahm, dass der Baugrund für die Errichtung der Moschee eigentlich ungeeignet war.36 Die Koexistenz der christlichen und muslimischen Kultstätten und damit die Wichtigkeit des Kultplatzes für beide Religionen sind bis in die letzte Siedlungsphase der Stadt belegt, die wahrscheinlich erst im Zuge des Mongoleneinfalls 1258/9 aufgegeben wurde. Während zum Erhalt der christlichen Bauten der Basilika A – z. B. durch Anbauten von Strebepfeilern – große Anstrengungen unternommen wurden, bestand zuletzt nur noch eine kleine, wohl am Ende des 12. Jahrhunderts errichtete muslimische Gedenkstätte im Bereich des ehemaligen Hofs.37 Die Große Moschee war bereits dem Verfall preisgegeben worden.

Abb. 2: Resafa/Al-Ruṣāfa (Syrien), Sergios-Heiligtum. Grundriss von Basilika A und Moschee. Bild: Nach BRANDS (Anm. 26), Abb. 8. Hervorhebungen: VERSTEGEN

|| 36 SACK (Anm. 33), S. 68. 37 SACK (Anm. 33), S. 69; SACK (Anm. 24), S. 279.

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Von der bis zuletzt großen Anziehungskraft des Sergioskults in Resafa zeugt ein 1982 im Bereich der Basilika A zutage getretener Silberschatz aus fünf liturgischen Objekten unterschiedlicher Provenienz, deren Entstehungszeit etwa in das ausgehende 12. oder beginnende 13. Jahrhundert anzusetzen ist und die vermutlich im Kontext des Mongoleneinfalls versteckt wurden.38 Inschriften weisen darauf hin, dass die Gefäße dem Heiligen Sergios als Votivgaben übereignet wurden und dass es sich bei den Stiftern um syrisch-orthodoxe Christen, beispielsweise einen Arzt aus Edessa, handelte. Dies ist deshalb bemerkenswert, da das Sergiosheiligtum nicht der syrischorthodoxen Kirche unterstand. Der Hortfund kann daher aus christlicher Perspektive als ein Beispiel für multikonfessionelle Stiftungspraxis an einem Pilgerort gelten.

3 Verehrung durch drei Religionen: Grabstätten verehrter Personen in Jerusalem Im Folgenden ist der Blick nun auf Jerusalem zu richten, da die wechselhafte Geschichte der unterschiedlichen, mehreren Religionen als heilig geltenden Stätten dieser Stadt vielfältige Beispiele für multireligiöse und multikonfessionelle Nutzungen hervorgebracht hat. Mehrere Stätten werden von zwei, einige wenige sogar von allen drei lokalen monotheistischen Religionsgemeinschaften – Juden, Christen und Muslimen – als heilig betrachtet. Zu den von allen drei Religionen verehrten Stätten zählen Gräber heiliger bzw. heiligmäßiger Personen.39 Das wichtigste Beispiel hierfür ist das Davidsgrab auf dem Sion, das seit dem 10. Jahrhundert in der christlichen Tradition in einem Seitenraum der Sionskirche lokalisiert wurde.40 Wie Pilgerberichte zeigen, wurde die Zuschreibung an den alttestamentlichen König David erst im Laufe des 13. Jahrhunderts auch von jüdischer Seite aufgenommen, bis der Raum gegen Ende des 13. Jahrhunderts in muslimischen Besitz kam und in Anbindung an dieselbe Tradition in eine muslimische Gebetsstätte umgeformt wurde. Während auch Juden und Christen zunächst weiterhin Zugang zu dem Raum hatten, wurde ihnen der Besuch des Davidsgrabs ab dem 16. Jahrhundert verwehrt. Die hohe Bedeutung, die dem Davidsgrab heute in der jüdischen Sakraltopographie der Stadt zukommt, ist erst eine

|| 38 Thilo ULBERT, Der kreuzfahrerzeitliche Silberschatz aus Resafa-Sergiupolis (Resafa 3), Mainz 1990. 39 LIMOR (Anm. 11). Vgl. auch MERI (Anm. 11), der Beispiele aus dem syrischen Bereich anführt, sowie Anna POUJEAU, Sharing the Baraka of the Saints. Pluridenominational Visits to the Christian Monasteries in Syria, in: ALBERA u. COUROUCLI (Anm. 9), S. 202–218. – Zu jüdisch-muslimisch verehrten Grabstätten vgl. Pamela BERGER, Jewish-Muslim Veneration at Pilgrimage Places in the Holy Land, in: Religion and the Arts 15 (2011), S. 1–60. 40 Vgl. LIMOR (Anm. 11), S. 224–226, auch zur Quellenüberlieferung. Vgl. auch Max KÜCHLER, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt (Orte und Landschaften der Bibel 4,2), Göttingen 2007, S. 634–636, 639–641.

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sehr junge Entwicklung, die dadurch möglich wurde, dass die Anlage nach 1948 in israelischen Besitz überging.41 Ein zwar nur kleiner, dennoch sehr ungewöhnlicher Memorialort befindet sich auf dem Ölberg in unmittelbarer Nähe der Himmelfahrtsstätte Jesu. In der sogenannten Grotte der Pelagia verehren die drei lokalen Religionen dasselbe Grab einer weiblichen Heiligen, wobei es sich bei der Verehrten allerdings jeweils um eine andere für die jeweilige Religion wichtige Person handelt: die christliche Asketin Pelagia, die jüdische Prophetin Hulda und die muslimische Mystikerin Rābiʿa al-ʿAdawiyya.42 Das gemauerte Grab befindet sich in einer Nische innerhalb einer unterirdisch liegenden Kammer, die heute von Westen über eine Treppe durch einen vorgeschalteten, als Moschee genutzten Raum zugänglich ist. Als älteste Tradition lässt sich seit dem 6. Jahrhundert die Zuschreibung des Raumes als Inklusen- und spätere Grabkammer einer christlichen Eremitin namens Pelagia fassen, deren Grab bereits im 6. Jahrhundert von Pilgern besucht wurde und das auch über das gesamte Mittelalter ein christliches Wallfahrtsziel blieb. Mittelalterliche Pilgerberichte zeugen davon, dass sich die Besucher durch den engen Spalt zwischen Grab und Wand zwängten, um Sündenvergebung zu erlangen.43 1456 schilderte beispielsweise ein russischer Jerusalempilger aus Nowgorod, dass die Gläubigen nach einem Sündenbekenntnis versuchten, das Grab einzeln dreimal zu umrunden.44 Im 12. Jahrhundert kam die Verehrung für Rābiʿa al-ʿAdawiyya (gest. 801), eine bedeutende islamische Mystikerin des 8. Jahrhunderts aus Basra, hinzu, deren Grab von Muslimen bis heute an dieser Stelle verehrt wird, ohne dass geklärt wäre, wie der Körper der in Basra verstorbenen Mystikerin nach Jerusalem gelangt sein soll. Erst im 14. Jahrhundert lässt sich schließlich die dritte Tradition nachweisen, nach der Juden dasselbe Grab als Bestattungsplatz der alttestamentlichen Prophetin Hulda (2 Kön 22,14–20 und 2 Chr 34,22–28) ansehen, obwohl auch hier eine Kollision mit der ‚klassischen‘ jüdischen Überlieferung zu verzeichnen ist, nach der Hulda innerhalb der Mauern Jerusalems ihre letzte Ruhestätte gefunden haben soll.45 Anknüpfungspunkte für die Entstehung der neuen muslimischen und jüdischen Traditionen an der christlichen Memorialstätte gaben nach LIMOR jeweils bestimmte Aspekte der Pelagia-Legende wie die besondere Keuschheit der Protagonistin, die sich mit Eigenheiten aus den Lebensschilderungen der beiden anderen Frauen deckten, so dass je nach religiöser Prägung eine Identifikation mit den ‚eigenen‘ muslimischen oder jüdischen ‚Heiligen‘ erfolgte.

|| 41 Doron BAR, Mizrahim and the Development of Sacred Space in the State of Israel 1948–1968, in: Journal of Modern Jewish Studies 8 (2009), H. 3, S. 267─285. 42 Jon SELIGMAN u. Rafa ABU RAYA, A Shrine of Three Religions on the Mount of Olives. Tomb of Huldah the Prophetess; Grotto of Saint Pelagia; Tomb of Rabiʿa al-ʿAdawiyya, in: Atiqot 42 (2001), S. 221–236; KÜCHLER (Anm. 40), S. 874–875; LIMOR (Anm. 11), S. 227─229. 43 LIMOR (Anm. 11), S. 228 mit Quellenangaben. 44 LIMOR (Anm. 11), S. 231. 45 LIMOR (Anm. 11), S. 228.

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4 Christlich-muslimische Verehrungsstätten: Ṣaydnāyā und Jerusalem Engt man den Fokus etwas ein und betrachtet nur vorrangig durch Christen und Muslime besuchte Stätten, geraten vor allem diejenigen Orte in den Blick, an denen Christen Leben und Passion Jesu und Mariens kommemorierten, da der Prophet ʿĪsā und seine jungfräuliche Mutter Maryam auch bedeutende Persönlichkeiten der koranischen Überlieferung sind.46 Besuche der entsprechenden Stätten haben in der muslimischen Pilgerpraxis eine lange Tradition und wurden teilweise sogar schon Mohammed selbst, seinem engsten Umkreis oder seinen Nachfolgern zugeschrieben.47 In Hinblick auf das eingangs gezeigte Einsiedler Beispiel soll hier nur an eine relativ bekannte Marienwallfahrtsstätte im Kloster Ṣaydnāyā nördlich von Damaskus erinnert werden, wo sich spätestens seit dem 12. Jahrhundert die Verehrung einer wundertätigen Marienikone fassen lässt (Abb. 3).48 Burchard von Straßburg, als Diplomat im Auftrag des Stauferkaisers Friedrich I. in der Levante unterwegs, berichtete um 1175, dass sich in der Kirche in einer Nische hinter dem Altar ein durch ein Gitter

|| 46 Suleiman A. MOURAD, On the Qurʾanic Stories about Mary and Jesus, in: Bulletin of the Royal Institute for Inter-Faith Studies 1 (1999), S. 13–24; DERS., Mary in the Qurʾān. A Reexamination of her Presentation, in: Gabriel S. REYNOLDS (Hg.), The Qurʾān in its Historical Context. Routledge Studies in the Quran, New York 2008, S. 163–174; Michael MARX, Glimpses of a Mariology in the Qurʾan, in: Angelika NEUWIRTH, Nicolai SINAI u. Michael MARX (Hgg.), The Qurʾān in Context. Historical and Literary Investigations into the Qurʾānic Milieu, Leiden 2011, S. 533–563; Suleiman A. MOURAD, Jesus in the Qurʾan and Other Early Islamic Texts, in: James H. CHARLESWORTH (Hg.), Jesus Research. New Methodologies and Perceptions. The Second Princeton-Prague Symposium on Jesus Research, Princeton 2007 (Princeton-Prague Symposia Series on the Historical Jesus 2), Grand Rapids 2014, S. 753–765; Hosn ABBOUD, Mary in the Qurʾan. A Literary Reading. Routledge Studies in the Qurʾan, Hoboken 2014. 47 Suleiman BASHEAR, Qibla Musharriqa and Early Muslim Prayer in Churches, in: The Muslim World 81 (1991), S. 267–282. Zur muslimischen Wallfahrt zu Marienorten in langer historischer Perspektive: Dionigi ALBERA, Combining Practices and Beliefs. Muslim Pilgrims at Marian Shrines, in: BOWMAN (Anm. 9), S. 10–24; Willy JANSEN u. Meike KÜHL, Shared Symbols. Muslims, Marian Pilgrimages and Gender, in: European Journal of Women’s Studies 15 (2008), H. 3, S. 173–188. 48 Bernard HAMILTON, Our Lady of Saidnaya. An Orthodox Shrine Revered by Muslims and Knights Templar at the Time of the Crusades, in: Robert N. SWANSON (Hg.), The Holy Land, Holy Lands, and Christian History (Studies in Church History 36), Woodbridge 2000, S. 207–215; Michele BACCI, A Sacred Space for a Holy Icon. The Shrine of Our Lady of Saydnaya, in: Alexei M. LIDOV (Hg.), Ierotopija – Hierotopy. The Creation of Sacred Spaces in Byzantium and Medieval Russia, Moskau 2006, S. 1–15; Mat IMMERZEEL, The Monastery of Our Lady of Saydnaya and its Icon, in: Eastern Christian Art 4 (2007), S. 13–26; Eugenio GAROSI, The Incarnated Icon of Ṣaydnāyā. Light and Shade, in: Islam and Christian–Muslim Relations 26 (2015), H. 3, S. 339–358.

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geschütztes Marienbild befinde, das unablässig Öl absondere, durch welches Christen, Muslime und sogar Juden geheilt würden.49 Dieses Öl wurde in einem unter der Ikone aufgestellten Becken aufgefangen. An hohen Festtagen, insbesondere an Mariä Himmelfahrt und am Tag der Geburt Mariens versammelten sich in Ṣaydnāyā alle Muslime der Region, um gemeinsam mit den Christen zu beten. Der koptische Autor Abū al-Makārim (vor 1160–nach 1190) berichtete, etwa vier- bis fünftausend Menschen seien bei dieser Gelegenheit dort zusammengekommen, wobei er neben Muslimen ausdrücklich Christen verschiedener Bekenntnisgruppen anführt („Nestorianer, Melkiten, Syrer und andere“).50 Alle hätten Gefäße mit dem heiligen Öl erhalten. Bemerkenswert ist, dass Burchard feststellt, die muslimischen Pilger hätten die Ikone gemäß ihrer eigenen religiösen Praxis (cerimonialia sua) verehrt, wenngleich unklar bleibt, welche Formen der Religionsausübung er konkret damit meint.51

Abb. 3: Pilger verehren das Marienbild von Ṣaydnāyā. Meister der Cité des Dames oder BoucicautMeister, um 1411/1412. Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. Fr. 2810, fol. 171 v. Bild: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52000858n/f346.item (Detail)

Das Kloster befand sich auf der Spitze eines Berges inmitten üppiger Vegetation mit zahlreichen Weinbergen, deren Produkt als besonders qualitätvoll galt. Mittelalterliche Quellenzeugnisse erwähnen in diesem Zusammenhang die ungewöhnliche

|| 49 Burchard von Straßburg, De statu Egypti vel Babylonie 6, in: Itinera Hierosolymitana Crucesignatorum (saec. XI–XIII), hrsg. v. Sabine DE SANDOLI, Jerusalem 1979–1984, Bd. 2, S. 46. 50 Nach der englischen Übersetzung bei HAMILTON (Anm. 48), S. 209. 51 Vgl. das Quellenzitat in: Paul DEVOS, Les premières versions occidentales de la légende de Saidnaia, in: Analecta Bollandiana 65 (1947), S. 245–278, hier S. 265.

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Situation, dass sich auch Muslime während ihres Aufenthalts in Ṣaydnāyā den Genuss von Wein erlaubten.52 Trotz des Bekanntheitsgrades der Stätte und überlieferten Zuwendungen durch die muslimischen Statthalter aus Damaskus wurden vonseiten der Muslime offenbar nie Anstrengungen unternommen, das Kloster und die wundertätige Ikone in den eigenen Besitz zu überführen. Versuche, das Heiligtum zu zerstören, scheint es von muslimischer Seite allerdings gegeben zu haben.53 Im Folgenden soll mit der Jerusalemer Grabes- und Auferstehungskirche noch ein Beispiel dafür vorgestellt werden, welche räumlichen Arrangements Christen und Muslime für ihre konkurrierenden Interessen am Besitz und Besuch eines jesuanischen Erinnerungsorts im Zeitraum zwischen der muslimischen Eroberung der Region in den 630er Jahren und der Kreuzfahrerzeit fanden.54 Bis heute ist die Jerusalemer Grabeskirche – in den östlichen Traditionen Auferstehungskirche (Anastasis) genannt – das wichtigste Pilgerziel fast aller christlichen Konfessionen, da sie in ihren Mauern die beiden Erinnerungsorte an Jesu Kreuzestod sowie Begräbnis und Auferstehung umfasst. Die heiligen Stätten liegen inmitten eines unübersichtlichen Bautenkonglomerats, in dem sich mehrere religiöse Gemeinschaften die Eigentumsrechte teilen (Abb. 4).55 1852 wurde auf Veranlassung der osmanischen Regierung eine Status quo-Regelung für Besitzanteile und die Zeitfenster liturgischer Abläufe getroffen. Der durch den deutschen Architekten und Bauforscher Conrad SCHICK angefertigte Plan (Abb. 5) verzeichnet die seit der Status quo-Regelung gültigen Besitzanteile der verschiedenen christlichen Konfessionen56: Grün markiert sind z. B. die Bereiche der griechisch-orthodoxen Kirche, gelb die der armenischen und violett die eines katholischen Franziskanerklosters. Die schwarz eingetragenen Areale wie die Fassade oder

|| 52 Magister Thietmar, Peregrinatio (1217–1218). Vgl. Mag. Thietmari Peregrinatio ad fidem codicis Hamburgensis, hrsg. v. J. C. M. LAURENT, Hamburg 1857, S. 19. Vgl. auch GAROSI (Anm. 48), S. 343. 53 Vgl. HAMILTON (Anm. 48), S. 210; GAROSI (Anm. 48), S. 346–348 (mit Quellenbelegen). GAROSI kommt insbesondere zu dem Schluss, arabisch-christliche Quellen hätten – anders als westliche – dezidiert vermieden, Elemente der Legende um die wundertätige Ikone aufzunehmen, die aus islamischer Perspektive als häretisch angesehen worden wären. 54 Vgl. Amikam ELAD, Medieval Jerusalem and Islamic Worship. Holy Places, Ceremonies, Pilgrimage (Islamic History and Civilization 8), Leiden 1995. Zahlreiche Hinweise zum Folgenden auch in VERSTEGEN, Multireligiöse Gebetrsräume (Anm. 9); DIES., How to Share (Anm. 11). 55 Glenn BOWMAN, In Dubious Battle on the Plains of Heav’n. The Politics of Possession in Jerusalem’s Holy Sepulchre, in: History and Anthropology 22 (2011), S. 371–399; Glenn BOWMAN, The Politics of Ownership. State, Governance and the Status Quo in the Anastasis (Holy Sepulchre), in: BARKAN u. BARKEY (Anm. 9), S. 202–240. 56 Erstpubliziert in Hermann GUTHE, Die zweite Mauer Jerusalems und die Bauten Constantins am heiligen Grabe. Nach russischen Berichten und mit Originalbeiträgen C. Schick’s, in: Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins 8 (1885), S. 245–287, hier Taf. VII.

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das Grab Christi befinden sich in gemeinsamem Besitz aller Gemeinschaften, was beispielsweise größte Probleme aufwirft, wenn es darum geht, sich auf Restaurierungsmaßnahmen an diesen Stellen zu einigen.57

Abb. 4: Jerusalem, Grabeskirche. Luftbild von Süden. Foto: Ilan ARAD, 2012. Israel Heritage Building Foto Nr. 1-3000-2013. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bb/Church_of_the_Holy_Sepulchre__Ilan_Arad.jpg. Lizenz: CC-BY-SA-3.0, vgl. http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

|| 57 Vgl. Raymond COHEN, Saving the Holy Sepulchre. How Rival Christians Came Together to Rescue their Holiest Shrine, New York 2008.

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Abb. 5: Jerusalem, Grabeskirche. Grundriss mit Eintragung der räumlichen Besitzanteile der verschiedenen christlichen Konfessionen gemäß der Status quo-Regelung von 1852. Plan von Conrad SCHICK, 1885. Bild: nach KRÜGER (Anm. 54), Abb. 185

Schon im ausgehenden 4. Jahrhundert berichtete die Pilgerin Egeria davon, dass in der Jerusalemer Grabeskirche für die von weither angereisten christlichen Pilger während der Gottesdienste Simultanübersetzungen in ihre Muttersprachen angeboten wurden.58 Mit der dogmatischen Ausdifferenzierung der christlichen Lehre und der damit verbundenen Entstehung separater Kirchengemeinschaften unterschieden sich – vor allem ab dem 5. Jahrhundert – die Pilger nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch nach ihrer jeweiligen Kirchenzugehörigkeit. Erstaunlicherweise sind

|| 58 Itinerarium Egeriae 47,3–4. Vgl. Egeria, Itinerarium – Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus, De locis sanctis – Die Heiligen Stätten. Übersetzt und eingeleitet von Georg RÖWEKAMP unter Mitarbeit von Dietmar THÖNNES (Fontes Christiani 20), Freiburg, Basel, Wien 1995, S. 302–303.

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der schriftlichen Überlieferung kaum Hinweise darauf zu entnehmen, dass die Konfessionszugehörigkeit der Pilger zu Restriktionen in der Begegnung mit der heiligen Stätte führen konnte.59 Wenig bekannt ist zudem, dass im Ensemble der Grabeskirche über mehrere Jahrhunderte bis zur Kreuzfahrerzeit auch eine muslimische Institution ansässig war.60 Dies wird sowohl durch christliche als auch durch muslimische Quellenzeugnisse belegt. Um 935 verfasste der christlich-melkitische Patriarch von Alexandria Eutychius (Saʿīd b. al-Baṭrīq, gest. um 940) in seinem Annalenwerk eine legendarisch gefärbte Schilderung, derzufolge ʿUmar b. al-Ḥaṭṭāb, ein enger Vertrauter Mohammeds und von 634 bis 644 zweiter Kalif, ein Gebet auf den Stufen vor dem Eingang in die Jerusalemer Auferstehungskirche verrichtet habe. Zu seiner eigenen Zeit, so Eutychius, würden sich Muslime in ʿUmars Tradition an dieser Stelle zum Gebet versammeln und dazu rufen. Sie beteten auf der Treppe, „die vor dem Tore Konstantins ist. Sie nahmen die Hälfte des Hofes, bauten dort eine Moschee und nannten sie ‚Moschee von Omar‘.“61 Interessant ist, dass Eutychius eine vergleichbare Tradition auch für die Bethlehemer Geburtskirche anführt:62 Dort habe ʿUmar mit Erlaubnis des Jerusalemer Patriarchen Sophronios das Gebet in einem südlichen Raumabschnitt der Kirche verrichtet, der sich in der Folge zu einem Gebetsort für muslimische Gläubige entwickelte, wobei ʿUmar der Kirche angeblich vertraglich besondere Privilegien zugesichert habe. Anlass für die Ausführungen des Eutychius war offenbar, dass man sich zu seiner Zeit, also gegen 935, nicht mehr an diese Vereinbarungen hielt. Der Autor beschwert sich nämlich darüber, dass in diesem Raumbereich der Geburtskirche Mosaiken oder Malereien mit wahrscheinlich christlicher Thematik von den Muslimen entfernt und durch Koranverse ersetzt worden seien und dass zudem die muslimischen Gläubigen nicht nur einzeln nacheinander zum Gebet eintraten, was man anscheinend als tragbar erachtet hätte, sondern offenbar zu den regulären Gebetszeiten zusammenkamen, und sogar der Ruf des Muezzins zum Gebet erfolgte. Sowohl in der Jerusalemer Auferstehungskirche als auch in der Bethlehemer Geburtskirche hatten sich im ersten Drittel des 10. Jahrhunderts also offensichtlich

|| 59 Zwei Kapitel im vor 619 abgeschlossenen Pratum Spirituale des Johannes Moschos erzählen von gescheiterten Versuchen des dux Palaestinae Gebemer und der Patrizierin Kosmiane, das Heilige Grab zu betreten. Der Grund für ihr Scheitern lag im ‚falschen‘, monophysitischen Bekenntnis. Erst nach Hinwendung zum chalcedonensischen Glauben wurde ihnen der Zutritt gewährt. Vgl. Jo. Mosch. prat. 48 (Migne, Patrologia Graeca 87, col. 2904). 60 Heribert BUSSE, Die ʿUmar-Moschee im östlichen Atrium der Grabeskirche, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 109 (1993), S. 73–82; KÜCHLER (Anm. 40), S. 447; VERSTEGEN, Multireligiöse Gebetsräume (Anm. 9). 61 Das Annalenwerk des Eutychios von Alexandrien. Ausgewählte Geschichten und Legenden kompiliert von Saʿid ibn Baṭrīq um 935 A.D, 2 Bde., hg. v. Michael BREYDY (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium 471/472, Scriptores Arabici 44/45), Louvain 1985, Bd. 2, S. 120. Deutsche Übersetzung bei BUSSE (Anm. 60), S. 76 und KÜCHLER (Anm. 40), S. 447. 62 Das Annalenwerk des Eutychios von Alexandrien (Anm. 61), Bd. 2, S. 120.

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feste Versammlungsräume für Muslime etabliert, deren Kontrolle nicht mehr den christlichen Hauptverwaltern der Bauten oblag.63 Da die aus dem 4. Jahrhundert stammende, durch den römischen Kaiser Konstantin und seine Mutter Helena initiierte Kirchenanlage in Jerusalem durch Ausgrabungs- und Bauforschungsergebnisse gut bekannt ist, lässt sich der von Eutychius beschriebene Standort der Moschee rekonstruieren (Abb. 6).64 Sie befand sich direkt hinter dem Hauptzugang im ehemaligen Ostatrium der Kirche, in das man von der Straße über eine breite Treppe gelangte. Hinter diesem wahrscheinlich von Säulengängen umzogenen Hof folgte eine große fünfschiffige Emporenkirche und nach einem weiteren Hof schließlich als Zielpunkt der gesamten Anlage die Auferstehungsrotunde mit dem Grab Christi im Zentrum. Reste der südlichen Umfassungsmauer dieses Ostatriums sind noch heute vor Ort innerhalb des im 19. Jahrhundert errichteten Russischen Hospizes erhalten. Sie liefern allerdings keine baulichen Indizien mehr für die ehemalige Existenz einer Moschee an dieser Stelle. So fehlt beispielsweise jeglicher Hinweis auf eine die islamische Gebetsrichtung anzeigende Nische. Dass sich im Ostatrium jedoch tatsächlich eine Moschee befand, wird im Fall der Auferstehungskirche auch durch eine muslimische Quelle bestätigt. Links des Mittelportals zum Atrium war bis 1897 eine arabische Inschrift eingelassen, die die Weisungen enthielt, „diese Moschee zu beschützen und gut zu erhalten. Man lasse keinen Nichtmuslim eintreten, auch nicht zur Entrichtung der Kopfsteuer (istiḫrāǧ) oder für jedes andere Motiv.“65 Aufgrund paläographischer Kriterien ist das Objekt etwa in die 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts, das heißt in fatimidische Zeit, zu datieren und könnte darauf hindeuten, dass der Ort auch nach Wiedererrichtung der 1009 durch den fati-

|| 63 Vgl. zu dieser Situation in Jerusalem und Bethlehem bereits: Ute VERSTEGEN, Geteiltes Gedenken. Parallelnutzungen von Sakralorten durch Christen und Muslime in Jerusalem und Bethlehem, in: G. Ulrich GROSSMANN u. Petra KRUTISCH (Hgg.), The Challenge of the Object. 33rd Congress of the International Committee of the History of Art Nuremberg 15th–20th July 2012 (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 32), Nürnberg 2013, Bd. 3, S. 1136–1140; VERSTEGEN, How to Share (Anm. 11). 64 Aus der umfangreichen Literatur zur Grabeskirche seien genannt: Louis Hugues VINCENT u. Félix M. ABEL, Jérusalem – recherches de topographie, d’archéologie et d’histoire II. Jérusalem nouvelle, fasc. 1/2, Paris 1914, Bd. 1/2, S. 40–300; Bd. 5, Taf. III-XXXIII; Jürgen KRÜGER, Die Grabeskirche zu Jerusalem. Geschichte, Gestalt, Bedeutung, Regensburg 2000; KÜCHLER (Anm. 40), S. 409–483. 65 VINCENT u. ABEL (Anm. 64), Bd. 4, S. 931, Abb. 382 (Umzeichnung); Bd. 5 Taf. VI (Foto); Haim Z. HIRSCHBERG, Concerning the Mount of Olives in the Gaonic Period, in: Bulletin of the Jewish Palestine Exploration Society 13 (1946/1947), S. 156–164 (mit Zeichnung, Datierung abweichend Ende 9./Anfang 10. Jh.); BUSSE (Anm. 60), S. 75–76; Moshe GIL, A History of Palestine. 634–1099, Cambridge 1997, S. 146–147; KÜCHLER (Anm. 40), S. 411, 447 (deutsche Übersetzung, dort mit Lücke); VERSTEGEN, Normalität (Anm. 17), S. 83. Für den Hinweis auf die vollständige Lesung und Deutung des Textformulars danke ich Amikam ELAD, Jerusalem. Das Original der Inschrift befindet sich heute im Museum für islamische Kunst in Istanbul.

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midischen Kalifen al-Ḥākim bi-Amr Allah (reg. 996–1021) zerstörten Auferstehungskirche weiter (oder wieder) als Moschee genutzt wurde.66 Spätestens mit den Neubauten, die die Kreuzfahrer an dieser Stelle im 12. Jahrhundert ausführten, muss diese Moschee aufgegeben worden sein. Nach der Wiedereinnahme Jerusalems durch die muslimischen Truppen entstand 1193 als Ersatz die neue, nun südlich der Grabeskirche gelegene ʿUmar b. al-Khaṭṭāb-Moschee (oder Jāmiʿal-Afḍal). Sie flankierte die Treppe zum nun nach Süden verlegten Hauptzugang des kreuzfahrerzeitlichen Baues, wohl unter Fortführung der Tradition der Legende vom Gebet ʿUmars auf den Stufen am Eingang der Auferstehungskirche.67

Abb. 6: Jerusalem, Grabeskirche. Rekonstruktion des ehemaligen Standorts der Moschee (hervorgehoben) im Osthof der Kirchenanlage. Der Pfeil weist auf den ehem. Anbringungsort der arabischen Inschrift (oben rechts) hin. Grafik: VERSTEGEN. Vorlagen nach: VINCENT u. ABEL (Anm. 64), Bd. 5, Taf. VI

|| 66 BUSSE (Anm. 60), S. 76. 67 Vgl. Johannes PAHLITZSCH, The Transformation of Latin Religious Institutions into Islamic Endowments by Saladin in Jerusalem, in: DERS. u. Lorenz KORN (Hgg.), Governing the Holy City. The Interaction of Social Groups in Jerusalem Between the Fatimid and the Ottoman Period, Wiesbaden 2004, S. 47–69, hier S. 52–53; Lorenz KORN, The Structure of Architectural Patronage in Ayyubid Jerusalem, in: PAHLITZSCH u. KORN, S. 71–89, hier S. 77–78; Mahmoud K. HAWARI, Ayyubid Jerusalem (1187–1250). An Architectural and Archaeological Study (BAR International Series 1628), Oxford 2007, S. 49–51.

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Im 10. Jahrhundert hatte die direkte Nähe von Kirchenbau und Moschee mindestens zweimal zu Konflikten zwischen den Religionsgemeinschaften geführt, als es, von der Moschee ausgehend, 939 und 966 zu Brandschatzungen und Plünderungen der Kirchenanlage durch Muslime kam.68 Die Quellenüberlieferung zeigt jedoch, dass zur selben Zeit Muslime im Rahmen christlicher liturgischer Feierlichkeiten in der Auferstehungskirche anwesend oder sogar in den zeremoniellen Ablauf einbezogen waren. Christliche und muslimische Quellen bezeugen nämlich seit dem 9. Jahrhundert den bis heute am Ostersamstag in der Ostervigil gefeierten Ritus des Heiligen Feuers in der Anastasisrotunde, bei dem sich von selbst ein Licht im Inneren der verschlossenen Grabesaedicula entzündet und von dort aus an die Gläubigen weitergereicht wird.69 Der Haupttenor der muslimischen Quellen besteht fast durchweg darin, diesen Ritus als Scharlatanerie zu kritisieren und technische Erklärungsmodelle für das beobachtete Geschehen zu suchen (insbesondere die Übertragung des Feuers mittels eines dünnen, nahezu unsichtbaren und mit Öl überzogenen Metallfadens).70 Interessant sind aber die – spätestens ab dem 10. Jahrhundert einsetzenden – einhelligen Angaben christlicher und muslimischer Autoren zur Anwesenheit von Muslimen während des Geschehens, ja sogar zur performativen Beteiligung muslimischer Autoritäten am rituellen Ablauf. Im Brief des Konstantinopler Klerikers Niketas an den byzantinischen Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (reg. 913–959) aus dem

|| 68 Eutychii Patriarchae Alexandrini Annales (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium 50/51; Scriptores Arabici ser. 3, 6/7), hrsg. von Louis CHEIKHO, Bernard CARRA DE VAUX u. H. AZ-ZAYYAT, 2 Bde., Paris 1960, Bd. 2, S. 87; Histoire de Yahya-ibn-Sa'ïd d’Antioche continuateur de Sa'ïd-ibn-Bitriq (Patrologia orientalis 23), hrsg. von Ignace KRATCHKOVSKY u. Alexander VASILIEV, Paris 1932, S. 801– 803. – Vgl. VINCENT u. ABEL (Anm. 64), Bd. 1, S. 245–247. 69 VINCENT u. ABEL (Anm. 64), Bd. 1, S. 228–230; Marius CANARD, La destruction de l’église de la Résurrection par le Calife Ḥākim et l’histoire de la descente du feu sacré, in: Byzantion 35 (1965), S. 16–43, hier 27–41; GIL (Anm. 64), S. 466–468; Ignatij KRATCHKOVSKY, Le „Feu béni“ d’après le récit d’Al-Bīrūnī et d’autres écrivains musulmans du Xe au XIIIe siècle, in: Proche Orient Chrétien 49 (1999), S. 257–276; Andrew JOTISCHKY, Holy Fire and Holy Sepulchre. Ritual and Space in Jerusalem from the Ninth to the Fourteenth Centuries, in: Frances ANDREWS (Hg.), Ritual and Space in the Middle Ages. Proceedings of the 2009 Harlaxton Symposium (Harlaxton Medieval Studies 21), Donington 2011, S. 44–60; Thomas PRATSCH, Der Platz der Grabeskirche in der christlichen Verehrung im Osten, in: DERS. (Hg.), Konflikt und Bewältigung. Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem im Jahre 1009 (Millennium-Studien 32), Berlin 2011, S. 57–66, hier S. 62–66; Alexei M. LIDOV, The Holy Fire and Visual Constructs of Jerusalem, East and West, in: Bianca KÜHNEL, Galit NOGA-BANAI u. Hanna VORHOLT (Hgg.), Visual Constructs of Jerusalem (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 18), Turnhout 2014, S. 241–249. – Die ältesten Beschreibungen dieser Zeremonie enthalten der um 870 entstandene Pilgerbericht des fränkischen Mönchs Bernhard sowie ein Kapitel über die verschiedenen Arten des Feuers im „Buch der Tiere“ des 868/69 verstorbenen muslimischen Autors alǦāḥiẓ. 70 Ausführliche Besprechungen der Quellen z. B. bei CANARD (Anm. 69); KRATCHKOVSKY (Anm. 69); GIL (Anm. 64), S. 466–467.

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Jahr 947 ist beispielsweise überliefert, dass ein in diesem Jahr eigens aus Bagdad angereister Emir der Zeremonie auf der Empore der Rotunde beiwohnte.71 Der Besuch des Bagdader Amtsträgers hatte eigentlich zum Ziel gehabt, die Abhaltung des christlichen Feuerritus auch für die Zukunft zu untersagen, was jedoch mit wirtschaftlichen Argumenten (Verlust von Steuerreinnahmen) sowie durch eine hohe Strafzahlung verhindert werden konnte. Die Schilderung des Augenzeugen Niketas legt nahe, dass während der Zeremonie neben dem angereisten Emir noch weitere Muslime in der Anastasis anwesend waren, darunter der örtliche arabische Statthalter, der von Niketas ebenfalls als Emir tituliert wird. Auch der iranische Gelehrte al-Bīrūnī (973–1048) beschrieb, die Muslime hätten bei der Zeremonie von den Emporen auf das Heilige Grab hinabgeblickt.72 Geistliche und weltliche muslimische Repräsentanten, der Muezzin und der Imam „der Moschee“ sowie der Statthalter Jerusalems, hätten Lampen mitgebracht und diese auf das Grab Christi gestellt, während es noch verschlossen war.73 Die Christen hätten bereits zuvor ihre Flammen und Lampen gelöscht, danach habe man gewartet, bis ein klares weißes Licht erschienen sei, das eine Lampe entzündet habe, und vom Licht dieser Lampe habe man alle Beleuchtungskörper in der Kirche und der Moschee entfacht und einen Bericht über die Ereignisse an den Kalifen gesandt. Al-Bīrūnīs Beschreibung zeugt von einer erstaunlichen Verschränkung zwischen christlichem und muslimischem Anteil an der Zeremonie, und anscheinend war auch die Moschee der Auferstehungskirche eng in das Geschehen eingebunden. Eine andere, bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts das Jerusalemer Stadtbild prägende Zeremonie, an der Muslime beteiligt waren, war die Palmsonntagsprozession, die ausgehend von al-ʿĀzariyya, der Lazaruskirche in Betanien, in die Auferstehungskirche zog und einen großen Olivenbaum mit sich führte. Der Beschreibung der Prozession im Geschichtswerk des christlich-melkitischen Schriftstellers Yaḥyā b. Saʿīd al-Anṭākī (gest. 1066) lässt sich entnehmen, dass es dabei zu einer Involvierung der muslimischen Autoritäten in die christlichen Festtraditionen gekommen war. Der Chronist berichtet, alle Straßen seien mit Menschen angefüllt gewesen, die Kreuze || 71 Lettre du Clerc Nicétas à Constantin VII Porphyrogenète sur le feu sacré (Avril 947), ed. P. RIANT, in: Archives de l’Orient Latin 1 (1881), S. 375–382; CANARD (Anm. 69), S. 33; KRATCHKOVSKY (Anm. 69), S. 263–264; GIL (Anm. 64), S. 466–468; PRATSCH (Anm. 69), S. 62–64. 72 CANARD (Anm. 69), S. 36f; KRATCHKOVSKY (Anm. 69), S. 263–264; GIL (Anm. 64), S. 466; PRATSCH (Anm. 69), S. 64. 73 Aus den publizierten Texten von al-Bīrūnī wird leider nicht klar, ob die muslimischen Amtsinhaber während der Zeremonie in der Grabesaedicula warteten oder außerhalb. Möglicherweise findet sich schon hier ein Reflex der später und bis heute gängigen Praxis, dass die christlichen ‚Veranstalter‘ (speziell der griechisch-orthodoxe Patriarch) die politischen Machthaber aufforderten, das Innere des Heiligen Grabes zu Beginn der Zeremonie zu inspizieren und zu bezeugen, dass alles ‚mit rechten Dingen‘ zugehe. In osmanischer Zeit übernahmen hochrangige Amtsinhaber, heute israelische Soldaten diese Rolle, vgl. Oded PERI, Christianity under Islam in Jerusalem. The Question of the Holy Sites in Early Ottoman Times, Leiden 2001, S. 119–120.

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getragen, gebetet und gesungen hätten, während der muslimische Statthalter mit seinem gesamten Gefolge vorangeritten sei und der Prozession den Weg gebahnt habe.74 Im Jahr 1007/8 wurde diese Prozession durch den Fatimidenkalifen al-Ḥākim bi-Amr Allah untersagt. Mit diesem Verbot kam nicht nur die Präsenz eines christlichen religiösen Rituals im öffentlichen Raum Jerusalems zum Erliegen, sondern es wurde auch eine öffentliche Beteiligung von Muslimen an einer christlichen Tradition unterbunden.

5 Zusammenfassung Für die untersuchten multireligiös genutzten Pilgerstätten lassen sich für die Zeit zwischen dem 7. Jahrhundert und dem Spätmittelalter insbesondere Belege für eine parallele Nutzung durch mehrere religiöse Gemeinschaften im Sinne einer räumlichen Konvergenz konstatieren. In allen untersuchten Fällen handelt es sich um Kultanbindungen muslimischer oder jüdischer Traditionen an einen vorhandenen christlichen Sakralort. In bestehenden christlichen Bauten wurden vor der Kreuzfahrerzeit offenbar spezifische Raumbereiche definiert, in denen Muslime eigene Gebetsstätten einrichteten. Dort konnten sich wahrscheinlich die Mitglieder der lokalen muslimischen Bevölkerung zu den regelmäßigen Gebetszeiten versammeln, aber auch muslimische Pilger fanden hier einen individuellen Betort. Sowohl in Resafa als auch in Jerusalem existierten separate Raumeinheiten für Christen und Muslime, sodass beide Gemeinschaften im Regelfall wenig in Kontakt mit den Frömmigkeitspraktiken der anderen Religion kamen. Die Institutionalisierung einer neuen Religionsgemeinschaft am Ort konnte, das zeigt das Beispiel der Quellenüberlieferung des Eutychius aus dem 10. Jahrhundert, dabei durchaus Probleme aufwerfen. In der arabischen Inschrift, die am Zugang in die Moschee im Atrium der Jerusalemer Auferstehungskirche angebracht war, wird die Religionszugehörigkeit als klares Ausschlusskriterium formuliert und eine Grenze für Nicht-Muslime installiert. Für Jerusalem und Ṣaydnāyā ist gesichert, für Resafa anzunehmen, dass es darüber hinaus bei den lokal bedeutenden Sonderfeiern zu gemeinsam praktizierten Riten kam, wobei eine liturgische Dominanz der christlichen ‚Betreiber‘ der Stätten zu vermuten ist. Für Jerusalem zeigt die Quellenüberlieferung des 10./11. Jahrhunderts, dass auch bei christlichen Prozessionen und liturgischen Feiern wie dem Osterfeuer Angehörige der lokalen politischen und religiösen muslimischen Eliten in die zere-

|| 74 VINCENT u. ABEL (Anm. 64), S. 230 (mit französischer Übersetzung); GIL (Anm. 64), S. 465; CUFFEL (Anm. 21), S. 116–117.

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moniellen Abläufe involviert waren, während andere Muslime nur als Zuschauer anwesend waren. Hinsichtlich einer Separierung der Religionsgruppen bei den gemeinsamen Feiern verweisen die Quellen zur Zeremonie des Heiligen Feuers in der Anastasis auf einen Aufenthalt von Muslimen auf der Empore, also in Abstand zum Hauptort des Geschehens im Erdgeschoss der Anastasisrotunde. Inwieweit bei gemeinsamen Festteilnahmen unterschiedliche Frömmigkeitspraktiken wie beispielsweise die differierende Gebetsrichtung von Christen und Muslimen eine Rolle spielten, wurde in den untersuchten Texten erstaunlicherweise nicht thematisiert; aus der Untersuchung der Bauten ergeben sich hierfür auch keine Hinweise. Generell finden sich in den Quellen nur sehr selten Hinweise auf eine formale Intoleranz gegenüber den Praktiken der anderen Religion, beispielsweise wenn ein Muslim berichtet, dass ein offensichtlich neu ins Heilige Land gekommener Kreuzritter ihn mehrfach körperlich bedrängt habe, doch in die richtige, christliche Richtung zu beten.75 Andersgläubigkeit war zumindest für die lokal ansässigen Bevölkerungsgruppen in der untersuchten Region also offenbar eine weniger problematische Herausforderung, als der Titel des Beitrags suggerieren könnte. Interessant ist, dass sich generelle muslimische Kritik an Wallfahrtsteilnahmen beispielsweise daran entzündete, dass die räumlichen Gegebenheiten, wie eine mangelnde Möglichkeit zur Geschlechtertrennung, zu unmoralischem Verhalten verleiteten.76 Ein erstaunliches Exempel für Ambiguitätstoleranz bildet die „Grotte der Pelagia“ auf dem Jerusalemer Ölberg, die seit dem 13. Jahrhundert drei verschiedene religiöse Zuschreibungen durch Christen, Juden und Muslime erlangte, welche parallel innerhalb des jeweiligen religiösen Systems Gültigkeit behielten. Dass sich eine solche Parallelität ausbilden konnte, mag zum einen an der relativ peripheren Lage des zudem sehr kleinen Heiligtums liegen. Zum anderen ist für die Jerusalemer Sakrallandschaft ohnehin ein gewisser Trend zu multiplen Zuschreibungen von Ortstraditionen charakteristisch, und zwar im Rahmen der Multiplikation von Erinnerungsstätten, die mit Kernereignissen der jeweiligen religiösen Narrative verbunden werden.77 Innerhalb der Ausformung der christlichen Sakrallandschaft Jerusalems

|| 75 Bärbel BEINHAUER-KÖHLER, Die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem als ‚multireligiöser Gebetsraum‘? Perspektiven eines arabischen Ritters im 12. Jahrhundert, in: Mitgliederrundbrief des Freundeskreises Ehemaliger, Marburg 2011, S. 30–37, http://www.uni-marburg.de/fb05/alumni/rundbrief/rundbr 1112.pdf (16.2.2017). 76 Vgl. CUFFEL (Anm. 21), S. 121–124. 77 Klaus BIEBERSTEIN, „Zum Raum wird hier die Zeit“. Drei Erinnerungslandschaften Jerusalems, in: Martin EBNER u. Paul D. HANSON (Hgg.), Die Macht der Erinnerung (Jahrbuch für Biblische Theologie 22), Neukirchen-Vluyn 2007, S. 3–39; DERS., Jerusalem, in: Christoph MARKSCHIES, Hubert WOLF u. Barbara SCHÜLER (Hgg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 64–88; Martin FUSS, Die Konstruktion der Heiligen Stadt Jerusalem. Der Umgang mit Jerusalem in Judentum, Christentum und Islam (Stuttgarter biblische Beiträge 68), Stuttgart 2012, S. 273–277, 303–312. – Vgl. die noch unpublizierte Habilitationsschrift der Autorin: Ute VERSTEGEN, Heiliger Ort – sakraler Raum. Kontinuität

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lassen sich bereits im 6. Jahrhundert erste Tendenzen hierzu erkennen. Ab dem 11. Jahrhundert entwickelte sich auf muslimische Initiative und geprägt durch die Auslegung der entsprechenden Koransure mit der „Wiege Jesu“ (Mahd ʿĪsā) auf dem Tempelberg ein zweiter Verehrungsort der Geburt Jesu,78 der von Muslimen ebenso aufgesucht wurde wie die in christlichem Besitz befindliche Bethlehemer Geburtskirche.79 Das islamische Interesse an den Orten des christlichen Heilsgeschehens brachte damit auch die ersten Vorboten der Traditionsaufspaltungen mit sich, wie sie für die Jerusalemer Sakrallandschaft ab dem Hochmittelalter prägend wurden und die sich heute darin zeigen, dass die Angehörigen der verschiedenen christlichen Bekenntnisgruppen in manchen Fällen unterschiedliche Stätten besuchen, wenn sie ein und desselben neutestamentlichen Ereignisses gedenken wollen.

|| und Wandel in der Inszenierung der Herrenorte in Jerusalem, Habilitationsschrift Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 2013. 78 ELAD (Anm. 54), S. XXII–XXIII, 71, 96; Andreas KAPLONY, Fatimidische Religionspolitik um die „Wiege Jesu“ in Jerusalem, in: Bulletin Schweizerische Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen 3 (1996), S. 4–8; DERS., Die fatimidische „Moschee der Wiege Jesu“ in Jerusalem, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 113 (1997), S. 123–132; DERS., The Haram of Jerusalem 324–1099. Temple, Friday Mosque, Area of Spiritual Power (Freiburger Islamstudien 22), Stuttgart 2002, S. 600–601. 79 Zur multireligiösen Nutzung der Bethlehemer Geburtskirche vgl. PERI (Anm. 73); VERSTEGEN, Geteiltes Gedenken (Anm. 63); VERSTEGEN, How to Share (Anm. 11).

Paul Predatsch

Zur doppelten Ambiguität der Ethnizität Forschungen zu Migration und Humandifferenzierungen im Frühmittelalter Zusammenfassung: Ethnizität ist ein prominentes Konzept, das Forschungen zu Migration im Frühmittelalter noch immer weitgehend strukturiert. Angesichts komplexer Begriffsgeschichten von ‚Ethnie‘, ‚Volk‘, ‚Kultur‘ und anderen ähnlichen Ausdrücken, denen holistische Tendenzen tief eingeschrieben sind, und einer Geschichte der Forschungen zu frühmittelalterlichen Migrationen, die sich seit Längerem zu Vorstellungen von Ethnien als subjektiv erfahrenen sozialen Gruppen bekennt und in langen Forschungsdebatten Ethnizitätskonzepte relativiert, differenziert und dynamisiert hat, jedoch frühere holistisch-identitäre Konzepte von Ethnien als überzeitliche und wesentliche Handlungsträger der frühmittelalterlichen Geschichte noch immer nicht vollständig aus Darstellungen und Argumentationen verbannt hat, ist der Ethniebegriff der Frühmittelalterforschung zutiefst ambigue. Häufig wird zudem mit dem Ethnizitätskonzept das moderne Ordnungsschema einer viele Lebensbereiche umfassenden kollektiven Identität auf historische Interaktionssituationen übertragen und in frühmittelalterlicher Elitenliteratur gefunden, während es in der Masse verfügbarer dokumentarischer Quellen oft weit weniger als handlungsleitend greifbar ist. Anhand einiger Beispiele für Forschungen zu frühmittelalterlichen Migrationen und Gruppenkonstruktionen soll aufgezeigt werden, dass eine konsequente Anwendung der Konzepte von Ethnien als subjektiv erfahrene soziale Gruppen bisherige Interpretationen der Quellen als Hinweise auf ethnische Strukturierung der Ereignisse und Verhältnisse problematisch erscheinen lässt. Schlüsselwörter: Ethnizität, Völker, Migration, Identität, Methodenkritik, Frühmittelalter

1 Doppelt ambig: Ethnizität Längst ist Migration ein etabliertes Themenfeld der historischen Forschung zum Mittelalter. Ihre gegenwärtige Erforschung im deutschsprachigen Raum steht einerseits

|| Paul Predatsch, M. Ed., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-006

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in engem Bezug zur interdisziplinären Globalgeschichte der Vormoderne, die besondere Schwerpunkte auf weiträumige Kontakte legt, andererseits in einer langen Tradition der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden Veränderungen der europäischen Spätantike und des Frühmittelalters, die einst mit dem Narrativ der ‚Völkerwanderung‘ beschrieben worden sind.1 Publikationen zu Migration im Frühmittelalter greifen dabei habituell ethnische Ordnungskategorien auf, sei es um den ethnozentrischen bis gar völkischen Zugriff der älteren Forschung zu kritisieren, um die historischen sozialen Bedingungen und Konsequenzen ethnischer Gruppierungen durch Fremd- und Selbstzuordnung zu untersuchen oder um Ethnizität als gemeinschafts- und staatenbildende identitäre Leitdifferenz in Migrationskontexten zu beleuchten. Die Erforschung von Migration unter anderen Gesichtspunkten als der Ethnizität – etwa mit Blick auf Familiennetzwerke, Berufsgruppen, ökonomische oder soziale Positionen von Migranten in den Kontexten, aus denen sie

|| 1 Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag gehalten im November 2014, der Vorüberlegungen zu einer im Entstehen befindlichen Dissertation über Migrationen nach Lucca und in das karolingische Norditalien präsentierte. Um den Ergebnissen dieser Arbeit nicht vorzugreifen, wurden hier andere historische Beispiele herangezogen. Für Überblicke zur historisch-soziologischen Migrationsforschung allgemein siehe Sylvia HAHN, Historische Migrationsforschung, Frankfurt a. M., New York 2012, S. 24–70; Dirk HOERDER, Geschichte der deutschen Migration: vom Mittelalter bis heute, München 2010, S. 7–18; Christiane HARZIG u. Dirk HOERDER, What is Migration History?, Cambridge 2009, S. 1–6; Dirk HOERDER, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium (Comparative and International Working-class History), Durham 2002, S. 1–21; Harald KLEINSCHMIDT, Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung, Göttingen 2002, S. 13–43. Zu Migration als Gegenstand einer Globalgeschichte des Mittelalters siehe etwa die Beiträge in Michael BORGOLTE (Hg.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch (Europa im Mittelalter 26), Berlin 2014; Michael BORGOLTE u. a. (Hgg.), Europa im Geflecht der Welt. Mittelalterliche Migrationen in globalen Bezügen (Europa im Mittelalter 20), Berlin 2012; Michael BORGOLTE u. Matthias M. TISCHLER (Hgg.), Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika, Darmstadt 2012. Nach Ethnizität in Spätantike und Frühmittelalter und ihren komplexen Dynamiken fragen hingegen Helmut REIMITZ, History, Frankish Identiy and the Framing of Western Ethnicity, 550–850 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 101), Cambridge 2015; Walter POHL und Gerda HEYDEMANN (Hgg.), Post-Roman Transitions. Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 14), Turnhout 2013; Walter POHL u. Gerda HEYDEMANN (Hgg.), Strategies of Identification. Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 13), Turnhout 2013; Walter POHL, Clemens GANTNER u. Richard PAYNE (Hgg.), Visions of Community in the Post-Roman World. The West, Byzantium and the Islamic World, 300–1100, Farnham, Burlington 2012; Walter POHL u. Helmut REIMITZ (Hgg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (The Transformation of the Roman World 2), Leiden 1998.

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kamen oder in die sie einwanderten –, ist dagegen für das Frühmittelalter noch marginal.2 Ethnizität ist ein prominentes Leitmotiv in der historischen Migrationsforschung zum Frühmittelalter, häufig aber wird sie auch als Leitdifferenz3 frühmittelalterlicher, zumal migrantisch geprägter Gesellschaften betrachtet. Ethnizität ist jedoch in zweifacher Hinsicht ambigue: Ähnlich wie die doppelte Theoriebindung historischer Forschung, die bereits Johannes FRIED am Beispiel des Verhältnisses der sozialen Ordnungskategorien von gens und regnum entwickelte,4 besteht eine Ambiguität ethnischer Gruppierung sowohl auf der Ebene der historischen Akteure des Frühmittelalters als auch auf der Ebene der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung und Beschreibung. In der Diskussion wurde oft nicht deutlich herausgestellt, was unter dem Wort ‚Ethnie‘ verstanden wurde, oder alle begrifflichen Differenzierungen und problematisierenden Betrachtungen führten zwar zu einem veränderten Blick auf Gruppierungen der historischen Akteure, nicht aber zur Ablehnung des Konzeptes ethnischer Identität als der zentralen Kategorie frühmittelalterlicher Gesellschaften. Ob historisch behauptete oder wissenschaftlich beobachtbare soziale Gruppen als Ethnien aufgefasst werden können, gilt es erst zu erweisen. Welche sozialen Kategorien rufen die Akteure in ihren Interaktionen tatsächlich regelmäßig auf und bezieht sich ein historisch belegter Gruppenname überhaupt auf ein frühmittelalterliches Konzept, das mit dem modernen Begriff ‚Ethnie‘ beschreibbar ist, oder sind nicht vielleicht mit Stand, Geschlecht, Politie, Orthodoxie, Recht etc. ganz andere Ordnungskriterien entscheidend für die Bildung und Stabilisierung historischer sozialer Gruppen? Die Eindeutigkeit und Stabilität ethnischer Unterscheidungen durch die historischen Akteure hat die Forschung schon lange relativiert und schließlich ganz aufgegeben, aber auch die große gesamtgesellschaftliche Relevanz ethnischer Unterscheidungen, an der weiterhin festgehalten wird, wäre vor dem Hintergrund dieser Fragen lediglich eine Hypothese – und dabei eine Hypo-

|| 2 Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Migration unter Berücksichtigung einer Vielzahl sozialer Unterscheidungen und Gruppierungen etwa bei KLEINSCHMIDT, Menschen in Bewegung (Anm. 1), S. 46–53; DERS., Migration und Identität. Studien zu den Beziehungen zwischen dem Kontinent und Britannien vom 5. bis zum 8. Jahrhundert (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 60), Ostfildern 2009; Patrick AMORY, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489–554 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Ser. 4, 33), 2. Aufl., Cambridge 2003. 3 Niklas LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 19, 57. In der Begrifflichkeit Luhmanns sind soziale Systeme geprägt von zentralen binären Codes, die ihre Leitdifferenz ausmachen. In der Forschung werden mit dem Begriff der Leitdifferenz jedoch inzwischen häufiger solche Unterscheidungen bezeichnet, die für alle oder eine Vielzahl sozialer Systeme relevant sind und damit eine Gesellschaft als Ganze durchdringen. 4 Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 73–104.

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these, die nicht nur sehr weitreichend ist, sondern auch in problematischen Kontinuitätslinien der Forschungsgeschichte steht. Explizite ethnische Gruppierungen konkreter Personen – verstanden als die Aktualisierung von und die Zuordnung zu ethnisch verfassten sozialen Gruppen, also als doing ethnicity – sind jedenfalls in frühmittelalterlichen Quellen jenseits von Herrschertiteln und Elitenliteratur vergleichsweise selten aufzufinden, was nicht zur Hypothese von der großen Bedeutung ethnischer Kategorien passen will. Zudem sind Gruppenzuordnungen ambig im Hinblick auf die Frage nach der praktischen Relevanz dieser Unterscheidungen in anderen sozialen Interaktionen: Ist eine Gruppierung, die in einer bestimmten Situation vorgenommen wurde und Konsequzenzen hatte, auch in anderen Interaktionen relevant? Welche Ordnungskategorien einer solchen Unterscheidung zugrunde liegen, ist einer Gruppierung in der Regel auch nicht zu entnehmen. Nicht überall, wo Franci oder Langobardi draufsteht, so könnte man formulieren, waren auch Ethnien drin. Wer verwandte diese Namen für welche Entitäten und worauf wurden Appellativa wie gens oder populus bezogen? Handelte es sich dabei überhaupt um identitäre Ethnien, die für Selbst- und Fremdwahrnehmung historischer Akteure von ebenso großer Bedeutung waren wie für ihre Interaktionen mit anderen? Im Folgenden sollen beide Aspekte der doppelten Ambiguität des Ethnizitätsbegriffes näher beleuchtet werden: In einem ersten Abschnitt wird die Ambiguität des Ethnienbegriffes in der Forschung zu Migrationen im Frühmittelalter im Mittelpunkt stehen; dieser Begriff hat vor dem Hintergrund einer langen Forschungsgeschichte innerhalb der historischen Disziplinen und durch diverse Anlehnungen an Theorien zu sozialen Gruppen und Humandifferenzierungen aus anderen akademischen Feldern Bedeutungsaspekte aus verschiedenen Diskurszusammenhängen aufgenommen. Anschließend soll anhand einiger Beispiele aus der Forschung aufgezeigt werden, welche Hinweise auf die Ambiguität von historischen Gruppenzuordnungen und ihren ethnischen Charakter die Überlieferung selbst enthält.

2 Ambiguität des Ethnienbegriffs in der Forschung Das Konzept der Ethnizität ist in der historischen Forschung zu Migrationen im Frühmittelalter weit verbreitet, gleichzeitig jedoch begrifflich unscharf, was durch die Forschungsdebatten und -programme der letzten Jahrzehnte eher noch verstärkt wurde.5 Diese Ambiguität lässt sich gewiss zum Teil erklären mit der langen Forschungstradition, mit Überschneidungen im Gebrauch mit einer Reihe verwandter Begriffe, die im || 5 Vgl. etwa das Resümee der begrifflichen und konzeptionellen Überlegungen im Rahmen des Wiener Forschungsprogramms ‚Ethnische Identitäten im Europa des Frühmittelalters‘ von Walter POHL, Introduction – Strategies of Identification: A Methodological Profile, in: DERS. u. HEYDEMANN (Hgg.), Strategies of Identification (Anm. 1), S. 1–64.

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Laufe dieser Forschungsgeschichte mehr oder weniger prominent und mit sehr unterschiedlichen Konnotationen für verschiedene Vorstellungen und Aspekte sozialer Gemeinschaften verwandt worden sind, aber auch mit der Übernahme von Konzepten aus anderen, nicht nur wissenschaftlichen Diskurszusammenhängen. Eine knappe Begriffsskizze soll diese Bezüge aufzeigen.6 Seit dem Zeitalter nationaler Kriege und Revolutionen um 1800 bezeichnete etwa der Begriff ‚Volk‘ mit wechselnden Schwerpunkten eine vermeintliche Einheit aus Sprache, Kultur, Population, Abstammung, Staat und Gesellschaft; seit der Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch verlor sein Nahe-Synonym ‚Ethnie‘ zusehends diesen holistischen Bedeutungsaspekt und setzte sich in der wissenschaftlichen Literatur und Publizistik durch. Der Begriff ‚Ethnizität‘ kann die bloße Existenz oder die Relevanz ethnischer Kategorien bezeichnen, das Bewusstsein davon oder den instrumentellen Umgang mit ethnischen Zugehörigkeiten oder Zuschreibungen. Ethnien werden heute mit unterschiedlichen Schwerpunkten beschrieben als Gemeinschaften mit Zusammengehörigkeitsgefühl und geteiltem Glauben an gemeinsame Abstammung und Geschichte, denen von außen oder von ihren Mitgliedern bestimmte Merkmale, Symbole sowie erlernte und tradierte Verhaltensmuster zugeschrieben werden; welche dieser Aspekte für eine ethnische Unterscheidung bedeutungsvoll sind und welche Objekte und Handlungen als Marker einer ethnischen Zugehörigkeit gelten, wird dabei ebenso als sozial wandelbar beschrieben wie die behaupteten Grenzen einer Ethnie. Ethnizität stehe dabei zugleich in komplexen Interferenzbeziehungen mit anderen subjektiv wahrgenommenen, zugleich sozial vermittelten Kategorien. Diese konkurrierenden Zuordnungen würden in konkreten Interaktionssituationen durch habituelle Marker präsent gemacht und beeinflussten so situativ die Interaktion, indem sie das Verhältnis zwischen den Interaktanten vorstrukturierten und etwa bestimmte Verhaltensweisen näherlegten als andere. Ethnien würden in diesem Zusammenhang stabilisiert, relevant gemacht, aber auch verändert durch konsequenzhaftes iteratives Selbst- und Fremdlabelling, durch Differenzbehauptungen und Alteritätskonstruktion sowie durch Wechselbeziehungen individueller Selbstbilder und Partizipationsbedürfnisse mit Interaktionserfah-

|| 6 Vgl. hierzu und im Folgenden Stefan HIRSCHAUER, Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, in: Zeitschrift für Soziologie 43 (2014), S. 170–191; Bettina BEER, Kultur und Ethnizität, in: Ethnologie. Einführung und Überblick (Ethnologische Paperbacks), 8. Aufl., Berlin 2013, S. 53–73; Bruno LATOUR, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2007; Samuel SALZBORN, Ethnizität und ethnische Identität. Ein ideologiekritischer Versuch, in: Zeitschrift für kritische Theorie 22/23 (2006), S. 99–119; Sebastian BRATHER, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 42), Berlin 2004, S. 29–117; Robert BARTLETT, Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), S. 39–56.

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rungen innerhalb der Gruppe und mit ausgeschlossenen ‚Anderen‘. In der wissenschaftlichen Diskussion existiert zudem ein Spektrum von Annahmen über Wandelbarkeit und Stabilität, über individuelle Handlungsmacht und soziale Kontroll- und Sanktionsmacht sowie über Konstruktcharakter und Natürlichkeit von Ethnien: Während konstruktivistische Konzepte vom situativ bestimmten, instrumentellen Ein- und Ausschluss Einzelner ausgehen und bei ihrer Betrachtung ethnische Gruppen tendenziell in Beziehung zu anderen ethnischen Gruppen und anderen sozialen Gruppen setzen, sind Merkmale von Ethnien und diskriminatorische Verhaltensmuster ihrer Mitglieder zentraler Gegenstand primordialer Sichtweisen, denen Ethnizität und ethnische Differenziertheit der Menschen als gegeben gelten. Entscheidend beruhe ethnische Zugehörigkeit, so ein weit verbreiteter Konsens, allerdings auf einem subjektiven Gemeinsamkeitsglauben, der sich nur aus Selbstaussagen der Akteure ableiten lasse, und damit nicht auf intersubjektiv beobachtbaren Merkmalen. In Abgrenzung zu biologistischen ‚Rasse‘-Konzepten, die ebenfalls etwa seit dem späten 18. Jahrhundert in politischen Diskurszusammenhängen soziale Gruppen und ihre beobachteten oder unterstellten Besonderheiten aus Abstammungsgemeinschaften herleiteten, wurde der Begriff der ‚Kultur‘ gebraucht.7 Dieser Ausdruck kann heute sowohl universalistisch verstanden als auch auf ethnische, nationale oder soziale Partikularismen bezogen werden. Er ist zunächst Sammelbezeichnung für erlernte Techniken von Ackerbau und Viehzucht bis hin zu Literatur und darstellenden und bildenden Künsten, kann auch ein Set vermeintlich stabiler Merkmale von Menschen gemeinsamer Sozialisation bezeichnen oder, im Plural, Gruppen von Menschen, die sich anhand solcher Merkmalsets identifizieren und unterscheiden lassen. Wissenschaftlich gilt Kultur als abstrahiertes System oder Bündel erlernter und tradierter Muster beobachtbaren Verhaltens oder symbolhafter Wissensweitergabe, dessen Dynamik und Widersprüchlichkeiten hervorgehoben werden.8 Vom Konzept der ‚Nation‘ wird die Ethnie zuweilen nur durch ihren kleineren Maßstab sowie eine unterstellte Staatsferne und Möglichkeit zur räumlichen Dispersion abgegrenzt. Schon aus dieser kurzen Skizze der begrifflichen Vielfalt beim Reden über horizontal abgegrenzte soziale Großgruppen lässt sich die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Analyse- und Darstellungsinstrumentarium ableiten. Die komplexe und beziehungsreiche Struktur dieser Konzepte spiegelt sich auch im Bereich der Forschungen zu Migrationen und Humandifferenzierungen im Frühmittelalter. Allerdings macht die folgende forschungsgeschichtliche Skizze auch Anzeichen einer konzeptionellen und begrifflichen Besonderheit erkennbar. Historisch stehen Forschungen zu frühmittelalterlichen Migrationen im deutschsprachigen Raum in der

|| 7 Vgl. BRATHER, Ethnische Interpretationen (Anm. 6), S. 52–89. Ganz anders die Abgrenzung zwischen den Begriffen race und ethnicity in der anglophonen Welt – vgl. BARTLETT, Medieval and Modern Concepts (Anm. 6), S. 39–42. 8 Vgl. BEER, Kultur (Anm. 6), S. 54–62, 68–71.

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Tradition der Vorstellungen der idealistischen Philosophie, die im Kontext der Herausbildung von Nationen-Staaten seit dem späten 18. Jahrhundert auch den Begriff der Völkerwanderung für die Migrationsbewegungen des Frühmittelalters prägte.9 Diese romantisch-nationalen Konzepte werden häufig mit der Metapher über Europa rollender Kulturkugeln beschrieben; sie seien gekennzeichnet durch „ethnische Fundierung, soziale Homogenisierung und interkulturelle Abgrenzung“.10 Völker würden dargestellt als abgeschlossene, überzeitlich kontinuierlich existierende, objektive Entitäten; ihr Zuschnitt und ihre Gestalt – ebenso wie die Zugehörigkeit des Individuums zu einem Volk – seien diesem Konzept zufolge das zwangsläufige Ergebnis von Geographie und Geschichte. Die entstehende Geschichtswissenschaft sollte im deutschsprachigen Raum diese Konzepte idealistischer Philosophie aufnehmen und erweitern um die Zuschreibung eines je eigenen Wesens und ‚geistiger Prinzipien‘, die die historische Entwicklung eines vermeintlich seit prähistorischer Zeit existierenden Nationen-Volkes zu seiner gegenwärtigen Form bestimmte.11 Ungebrochen schien aus dieser Perspektive die überzeitliche Existenz der in der Gegenwart affirmativ beschriebenen Nationen oder Völker, sodass etwa die Worte ‚deutsch‘ und ‚germanisch‘ im Zuge dieser Entwicklungen nahezu Synonyme werden konnten.12 Migrationen in der eigenen Zeit galten als marginales Phänomen und wurden als Prozess der Loslösung von einer Nation und problematischer Eingliederung in eine andere gesehen, der weder Existenz noch Wesen oder Grenze beider Nationen-Völker-Staaten in Frage stellen konnte; in der fernen Vergangenheit jedoch wurden Migrationen

|| 9 Patrick GEARY, Völkerwanderung as Cross-Cultural Interaction, in: BORGOLTE u. a. (Hgg.), Europa im Geflecht der Welt (Anm. 1), S. 45–54; Matthias SPRINGER, Völkerwanderung, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 32 (2006), S. 509–516, online: De Gruyter, http://www.degruyter.com/view/GAO/RGA_6244. 10 Peter J. HEATHER, Empires and Barbarians, London 2009, S. 589; Wolfgang WELSCH, Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. Ein Diskurs mit Johann Gottfried Herder, in: Via Regia. Blätter für internationale kulturelle Kommunikation 20 (1994), online: Europäisches Kulturund Informationszentrum in Thüringen, http://www.via-regia.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch _transkulti.pdf. 11 Georg G. IGGERS, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, S. 11–61. 12 Peter J. HEATHER, Ethnicity, Group Identity, and Social Status in the Migration Period, in: Ildar GARIPZANOV, Patrick GEARY u. Przemysław URBAŃCZYK (Hgg.), Franks, Northmen, and Slavs. Identities and State Formation in Early Medieval Europe, Turnhout 2008, S. 17–49, hier S. 17; Joachim EHLERS, Erfundene Traditionen? Zum Verhältnis von Nationsbildung und Ethnogenese im deutschen und französischen Mittelalter, in: Heinrich BECK u. a. (Hgg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanischdeutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 34), Berlin, New York 2004, S. 131–162, online: De Gruyter, http://www.degruyter.com/view/GAO/RGA-E34_9, hier S. 133; verschiedene Aspekte und Traditionslinien der Identifikation von ‚Germanen‘ und ‚Deutschen‘ untersuchen auch die übrigen Beiträge in diesem Band; Patrick J. GEARY, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton, NJ 2002, S. 15–40.

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ganzer Völker Teil der eigenen national-staatlichen Geschichten Europas, die eben keinen Identitätswechsel, sondern nur einen Ortswechsel einer mit sich selbst identisch bleibenden Gruppe bedeutet hätten.13 Parallel zu dieser textquellengestützten Forschung entstand seit den europäischen Kriegen um 1800 eine ‚vaterländische Altertumskunde‘, die mit archäologischen Methoden die historisch nicht greifbare Urgeschichte der vermeintlichen Völker Europas zu erschließen und die zeitgenössische Existenz und Ausdehnung der ihnen zugeordneten Nationen-Staaten zu rechtfertigen suchte. Längere Zeit blieben diese Forschungen vor allem Gegenstand bildungsbürgerlicher Debatten, doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie durch die Aufsehen heischende Berichterstattung über Grabungskampagnen im Mittelmeerraum, durch die Beteiligung von Laien an Grabungen in den deutschsprachigen Regionen und nicht zuletzt durch den staatlichen Schulunterricht schnell popularisiert.14 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfestigte sich diese Behauptung einer Kontinuität zwischen vermeintlichen (prä-)historischen Gruppen und modernen Nationen-Staaten und wurde vor allem im Bereich der Archäologie ergänzt um die zum Grundsatz erhobene Behauptung einer siedlungsräumlichen Homogenität von Kulturen.15 Neben der Verbindung aus Raum und Kultur wurde zunehmend auch eine tatsächliche gemeinsame Abstammung Teil des || 13 Dirk HOERDER, Imago Mundi und Funds of Knowledge – Migranten schaffen Kulturen, in: BORGOLTE u. a. (Hgg.), Europa im Geflecht der Welt (Anm. 1), S. 9–29, hier S. 11; HARZIG u. HOERDER, Migration History (Anm. 1), S. 1–6. 14 Vgl. Tillmann LOHSE, Die Völkerwanderungskarte als europäischer Erinnerungsort. Ein Blick in die Geschichtsatlanten und -schulbücher des 18. bis 21. Jahrhunderts, in: DERS. u. Benjamin SCHELLER (Hgg.), Europa in der Welt des Mittelalters. Ein Colloquium für und mit Michael Borgolte, Berlin/Boston 2014, S. 33–78; BRATHER, Ethnische Interpretationen (Anm. 6), S. 11–27; Dietrich HAKELBERG, Nationalismus einer Elite. „Heidnisches Teutschland“ und „vaterländische Altertumskunde“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Elisabeth VOGEL, Antonia NAPP u. Wolfgang LUTTERER (Hgg.), Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung. Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive (Identitäten und Alteritäten 14), Würzburg 2003, S. 15–35, online: Universität Freiburg, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:25-opus-79926; Sebastian BRATHER, Ethnische Identitäten als Konstrukte der Frühgeschichtlichen Archäologie, in: Germania 78 (2000), S. 139–177, hier S. 140–149. Von Theodor MOMMSEN etwa sind die Aussprüche überliefert, Ur- und Frühgeschichte sei „Wissenschaft der Analphabeten“ und „Arbeitsgebiet für Landpastoren und pensionierte Offiziere“ – siehe BRATHER, Ethnische Interpretationen (Anm. 6), S. 2–3, mit Belegen und weiteren Beispielen. 15 Siehe etwa Gustaf KOSSINNA, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie, Würzburg 1911, S. 3: „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen“; vgl. dazu Heiko STEUER, Über die historischen Aussagemöglichkeiten der Archäologie zu „Völkern und Reichen“, in: Matthias BECHER u. Stefanie DICK (Hgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter (MittelalterStudien 22), München 2010, S. 55–85; Hubert FEHR, Volkstum as Paradigm. Germanic People and Gallo-Romans in Early Medieval Archaeology since the 1930s, in: Andrew GILLETT (Hg.), On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages (Studies in the Early Middle Ages 4), Turnhout 2002, S. 177–200; Heiko STEUER, Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995 – Begründung und Zielsetzung des

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Konzeptes ethnischer Gruppen – bis hin zum Phantasma völkisch-biologistischer Konzeptionen.16 Nach dem Ende der Weltkriege entwickelte man jedoch in vielen Wissenschaftskontexten eine andere Sicht auf menschliche Gruppen – seien sie ethnischen oder anderen Zuschnitts. Ethnologen beobachteten zunehmend, dass die empfundene Zugehörigkeit zu einer Gruppe keineswegs zusammenhängen muss mit Übereinstimmungen vermeintlich messbarer Eigenschaften zwischen Person und Gruppe, dass Personen sich oft wechselnden oder mehreren Gruppen zuordnen oder diesen zugeordnet werden, dass dabei Fremd- und Selbstzuordnung auseinanderfallen und beide instrumentell gebraucht werden können und dass diese vermeintlich identitären Zuschreibungen schließlich weitgehend als situative Konstrukte angesehen werden müssen.17 Auch die Verknüpfung von vermeintlich kontinuierlich existierender Gruppe mit je spezifischer, mehr oder weniger stabiler Kultur wurde in dieser Zeit relativiert und ein Wandel im archäologischen Befund unterschiedlicher Zeiten nicht mehr als Ergebnis einer Invasion einer neuen Gruppe erklärt.18 Gruppenkonzepte wurden so schnell dynamisiert, und es entstanden rege Debatten um ihre Durchlässigkeit, Wandelbarkeit und kontinuierliche Existenz. In der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft jedoch lässt sich zunächst eine starke methodische und konzeptionelle Kontinuität beobachten;19 noch längere Zeit

|| Arbeitsgesprächs, in: DERS. (Hg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 29), Berlin, New York 2001, S. 1–54, online: De Gruyter, http://www.degruyter.com/view/GAO/RGAE29_2. 16 Vgl. etwa die Darstellung zur Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik bei Hans-Walter SCHMUHL, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-WilhelmInstitut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945 (Geschichte der KaiserWilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 9), Göttingen 2005. 17 Maßgeblich waren Werke wie Fredrik BARTH, Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference (Scandinavian University Books), London 1969; Elie KEDOURIE, Nationalism (Hutchinson University Library. Politics), London 1961; Edmund LEACH, Political Systems of Highland Burma, London 1954 – vgl. hierzu etwa HEATHER, Empires and Barbarians (Anm. 10), S. 3–35; DERS., Ethnicity (Anm. 12), S. 17–26; Nick WEBBER, The Evolution of Norman Identity, 911–1154, Woodbridge 2005, S. 1–9. In der Mediävistik wurde die Einsicht schon früh vertreten von Patrick J. GEARY, Ethnic Identity as a Situational Construct in the Early Middle Ages, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 113, 1983, S. 15–26. 18 Grahame CLARK, The Invasion Hypothesis in British Archaeology, in: Antiquity 40 (1966), S. 172–189, online: Durham University, http://antiquity.ac.uk/ant/040/Ant0400172.htm, hier S. 173, kritisierte den vorschnellen, seiner Ansicht nach fast zwanghaften Rückschluss von einem beobachtbaren Wandel in den Überresten einer Region auf Eroberung und Verdrängung durch eine Gruppe von Außen als „invasion neurosis“. 19 Vgl. etwa Christoph CORNELISSEN, Der wiedererstandene Historismus. Nationalgeschichte in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, in: Konrad Hugo JARAUSCH u. Martin SABROW (Hgg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002,

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blieb die Mediävistik in diesem Sinne vor allem eine historische Politik- und Staatswissenschaft, die Stämme ungebrochen als „überzeitliche Handlungsträger“ wahrnahm und andere soziale oder kulturelle Phänomene nur am Rande berücksichtigte. Erst allmählich sollten geweitete Perspektiven über homogenisierende LateineuropaNarrative hinaus zur Wahrnehmung komplexer Gruppenidentitäten und -geschichten führen.20 Das Werk „Stammesbildung und Verfassung“ von Reinhard WENSKUS kann in vielerlei Hinsicht als typisch gelten für diesen von Innovation und Kontinuität gleichermaßen geprägten wissenschaftlichen Kontext der Nachkriegsjahrzehnte:21 Im Vergleich mit dem „in neuerer Zeit herausgearbeiteten ethnischen Bewußtsein der sogenannten ‚Naturvölker‘“ wollte WENSKUS den „‚Gentilismus‘ als die besondere völkerwanderungszeitliche Form des ethnischen Bewußtseins“ herausarbeiten.22 Frühmittelalterliche Stämme müssten als „soziales Gebilde“ beschrieben werden beruhend auf dem „Bewußtsein der Zusammengehörigkeit auf Grund des Glaubens an

|| S. 78–108, online: Bayerische Staatsbibliothek, http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/ 0004/bsb00044410/image_76; STEUER, Deutsche Prähistoriker (Anm. 15), bes. S. 8–23; Frank-Rutger HAUSMANN, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945) (Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1), Dresden 1998, S. 12, 96, 202. 20 Thomas DUVE, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, in: Rechtsgeschichte – Legal History. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 20 (2012), S. 18–71, online: Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, https://dx.doi.org/10.12946/rg20/018-071, bes. S. 39–45; Bernd SCHNEIDMÜLLER, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 485–500, das Zitat hier S. 493; Frank-Rutger HAUSMANN, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius – sechzig Jahre danach, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 35 (1994), S. 291–319. 21 Reinhard WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961. So urteilt etwa František GRAUS, Rez. Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, Köln 1961, in: Historica 7 (1963), S. 185–191, hier S. 190, „daß W. hier einer Modeströmung der deutschen Historiographie erlegen ist.“ Ähnlich bemerkt auch J. M. WALLACE-HADRILL, Rez. Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, Köln 1961, in: The English Historical Review 79 (1964), S. 137–139, online: Oxford University Press, https://dx.doi.org/10.1093/ehr/LXXIX.CCCX.137-c, S. 138: „Dr. Wenskus’s conclusion is not out of line with modern German views on the matter […]. Much of this thesis of ‚Heerkönigtum‘ was developed by Schlesinger and others in the volume on kingship published as Vorträge und Forschungen III.“ In manchen heutigen Darstellungen wird dem Werk allerdings ausgesprochen epochenmachende Bedeutung zugeschrieben – etwa Herwig WOLFRAM, Wie schreibt man heute ein Germanenbuch und warum immer noch eins?, in: BECHER u. DICK (Hgg.), Völker, Reiche und Namen (Anm. 15), S. 15–43; HEATHER, Empires and Barbarians (Anm. 10), S. 16–21; Helmut CASTRITIUS, Stammesbildung, Ethnogenese, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 29 (2006), S. 508–515, online: De Gruyter, http://www.degruyter.com/view/GAO/RGA_5434, besonders S. 509–511; Klaus ROSEN, Völkerwanderung, in: Der Neue Pauly (2006), online: Brill, http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/volkerwanderung-e12206590, Abschnitt III; AMORY, People and Identity (Anm. 2), S. 33–39. 22 WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung (Anm. 21), S. 2; das vorangegangene Zitat ebd.

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eine gemeinsame Abstammung“.23 Diese Einsichten in den sozialen Charakter von Ethnien waren damals auch im deutschsprachigen Raum keineswegs neu. Schon Max WEBER hatte sie vierzig Jahre vor Erscheinen von „Stammesbildung und Verfassung“ formuliert.24 Fast ein Dutzend „Aspekte des Stammesbegriffs“25 untersuchte WENSKUS und kam dabei immer wieder zu dem Schluss, dass das hergebrachte Bild frühmittelalterlicher Stämme vor allem ein Produkt der Wahrnehmungen in der Geschichtswissenschaft des national-staatlichen Zeitalters sei. Entsprechend deutlich grenzte er sich immer wieder rhetorisch von der älteren Forschung ab. Besonders breit rezipiert wurde seine Betrachtung zum „Stamm als Traditionsgemeinschaft“26: WENSKUS entwickelte hier das Konzept des ‚Traditionskerns‘, einer kleinen Elitegemeinschaft um ein uraltes Königsgeschlecht, die als kulturelles und soziales Zentrum eines Stammes Träger seiner historisch ungebrochenen Existenz sei und die von einer periphären Anhängerschaft unterschieden werden müsse. Diese Trennung in Zentrum und Peripherie – nicht räumlich, sondern ausschließlich sozial und kulturell verstanden – begründete er ausführlich unter anderem mit dem wiederholten Anschluss neuer Gruppen an den Traditionskern im Zuge der Ethnogenese. Dass Stämme auch auf diesem Wege gewachsen sein müssten, sei schon deshalb vorauszusetzen, weil die Populationen der kleinen Landschaften, die als ‚Urheimat‘ der verschiedenen Stämme identifiziert worden seien, unmöglich groß genug gewesen sein könnten, um allein durch Geburtenüberschüsse die später dokumentierte Größe der jeweiligen Stämme erreichen zu können: Bornholm sei nicht groß genug für alle Ur-Burgunder, und Vendsyssel, Thy und Himmerland am Nordende Jütlands seien nicht groß genug für alle Ur-Wandalen, Ur-Teutonen und Ur-Kimbern. Trotz seiner grundsätzlichen Er-

|| 23 Wilhelm E. MÜHLMANN, Methodik der Völkerkunde, Stuttgart 1938, S. 229, zit. bei WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung (Anm. 21), S. 12; das vorangegangene Zitat ebd. MÜHLMANN ist der Hauptbezugspunkt für Wenskus’ Kenntnis der ethnologischen Diskussionen; zu ihm vgl. Christoph SEIDLER, Wissenschaftsgeschichte nach der NS-Zeit: das Beispiel der Ethnologie. Die beiden deutschen Ethnologen Wilhelm Mühlmann (1904–1988) und Hermann Baumann (1902–1972), Magisterarbeit an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg. i. Br. 2003, online: Universität Hamburg, http://www.ethnoim-ns.uni-hamburg.de/download/seidler_ma_arbeit.pdf, S. 28–74, 94–101. HEATHER, Ethnicity (Anm. 12), S. 27, Anm. 11, behauptet, WENSKUS habe die aufkommenden sozialanthropologischen Theorien seiner Zeit, die Ethnizität radikal als situatives soziales Konstrukt auffassten, zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht zitiert. 24 Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 2002, S. 237: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, ‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht.“ 25 Vgl. das so überschriebene Kapitel in WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung (Anm. 21), S. 14–112. 26 Ebd, S. 54–82.

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kenntnis der Subjektivität und historischen Gebundenheit sozialer Gruppen sowie ihrer wandelbaren Zusammensetzung und Struktur war die kontinuierliche Identität von Stammesnamen, Stammesüberlieferung und Stammeselite seit einem angenommenen Aufbruch aus einer skandinavischen ‚Urheimat‘ in ferner undokumentierter Vorzeit für WENSKUS demnach historische Tatsache.27 Um diesen Traditionskern herum, der weitgehend dem hergebrachten holistischen Stammesbild als primordiale identitäre Abstammungsgemeinschaft entspricht, die keiner Arbeit bedürfe, um zu entstehen oder fortzuexistieren,28 verortet WENSKUS ein System von komplexen und wandelbaren sozialen Gruppen. WENSKUSʼ neuer Stammesbegriff steht damit deutlich zwischen einer historischen Soziologie der Migrationen im Frühmittelalter, die Ethnien als komplexe und sozial gemachte, in iterativen Interaktionen stabilisierte oder auch destabilisierte Gruppen auffasst, und dem ethnischen Kollektivismus der Geschichtswissenschaft früherer Jahrzehnte. Gerade aufgrund dieser Ambiguität konnte das Konzept einer Ethnogenese um einen Traditionskern trotz seiner holistisch-identitären Implikationen noch für Jahrzehnte ein wichtiger Bezugspunkt der Diskussion bleiben und auch durch weitere Differenzierungen und Relativierungen dazu beitragen, die ethnische Sichtweise auf das Frühmittelalter weiterhin zu rechtfertigen.29 Verstärkt wird die Ambiguität des Ethnizitätsbegriffs zwischen holistisch|| 27 Ebd., S. 72–75. 28 Vgl. LATOUR, Reassembling the Social (Anm. 6), bes. S. 27–62. 29 Das Ethnogenese-Konzept wurde im Kontext der Nationes-Forschungen der 1970er und 1980er Jahre nicht nur zur Erklärung der Stammesbildung, sondern auch zur Entstehung eines nationalen, „die ethnische Vielfalt überwölbende[n] Gemeinschaftsbewußtsein[s]“ herangezogen – so etwa Helmut BEUMANN, Europäische Nationenbildung im Mittelalter. Aus der Bilanz eines Forschungsschwerpunktes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 39 (1988), S. 587–593, hier S. 588. In jüngerer Zeit will WOLFRAM, Germanenbuch (Anm. 21), S. 37, den Traditionskern-Begriff „nicht länger gebrauchen noch gar verteidigen, sondern bloß seine einstige Verwendung erklären.“ Zu Recht werde heute die suggerierte Objekthaftigkeit des Begriffes ebenso kritisiert, wie die Missachtung des Einflusses von außen auf Ethnogenesen – sowohl auf den ‚Zuschnitt‘ einer entstehenden gens als auch auf den Inhalt ihrer narrativen Tradition. Auch POHL hat einige Weiterentwicklungen des Konzeptes vorgeschlagen, besteht aber zugleich darauf, dass es keine brauchbaren Gegenentwürfe gebe; vgl. Walter POHL, Ethnicity, Theory, and Tradition: A Response, in: GILLETT (Hg.), Barbarian Identity (Anm. 15), S. 221–239. Vgl. im gleichen Sinne auch CASTRITIUS, Stammesbildung, Ethnogenese (Anm. 21), S. 511–515. Kritik an diesem Konzept als konservative Fortführung des national-staatlichen Historismus’ und germanischer Altertumskunde bei Walter GOFFART, Does the Distant Past Impringe on the Invasion Age Germans?, in: GILLETT (Hg.), Barbarian Identity (Anm. 15), S. 21–37, hier S. 30–37; Alexander Callander MURRAY, Reinhard Wenskus on „Ethnogenesis“, Ethnicity, and the Origin of the Franks, in: GILLETT (Hg.), Barbarian Identity (Anm. 15), S. 39–68; der Althistoriker und Vandalen-Forscher Castritius, der das Ethnogenese-Konzept selbst verwendet – vgl. Helmut CASTRITIUS, Überlegungen zu Herkunft und Ethnogenese der Franken, in: Sebastian BRATHER, Dieter GEUENICH u. Christoph HUTH (Hgg.), Historia archaeologica (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 70) Berlin, New York 2009, S. 217–224, online: De Gruyter, http://www.degruyter.com/view/GAO/RGA-E70_4.5 –, meint, diese und die weiteren Beiträge in GILLETT (Hg.), Barbarian Identity (Anm. 15), seien wegen ihrer harschen Kritik an Wenskus’ Konzepten „[für] eine ernsthafte

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identitären Aspekten einerseits und der tatsächlich befolgten Auffassung von Ethnien als sozialen Gebilden noch durch eine darstellerische Eigenheit vieler Texte, die sich affirmativ auf das Ethnogenese-Konzept bezogen, welche Walter GOFFART als „‚disclaiming and retaining‘-strategy“30 bezeichnet hat: Schon WENSKUS hatte sich immer wieder rhetorisch gegen hergebrachte Stammesbilder gewandt, dann jedoch oft trotzdem an überkommenen Konzepten festgehalten. So charakterisierte er etwa die Auffassung vom Stamm als Abstammungsgemeinschaft als historisch unzutreffend und nur diskursiv konstruiert, ging an anderer Stelle dann aber wieder stillschweigend von der historischen Realität stabiler biologischer Abstammungsgemeinschaften aus.31 Bei seinem Versuch, das Ethnogenese-Modell durch die Integration des BOURDIEU’schen Habitus-Begriffs32 weiterzuentwickeln, gibt auch Walter POHL zu, dass das Konzept eines ethnisch strukturierten Habitus im Frühmittelalter nicht weit trägt: „On the level of large gentes and regna, stable criteria that would have enabled outside observers to tell the difference and insiders to feel different were at best an exception.“33 Jedoch fügt er hinzu: „On the other hand, we should not altogether discard the possibility that ethnic groups might in some cases be recognised by outward signs of individuals.“34 Wer in solcher Weise wider eigene Erkenntnisse noch immer die feinen ethnischen Unterschiede in frühmittelalterlichen Gesellschaften zentral setzen will, während er gegen wissenschaftlich seit Jahrzehnten überholte essentialistisch-holistische Vorstellungen von Völkern als objektiv gegebene Abstam-

|| Diskussion ungeeignet“ und ihre Hinweise auf konzeptionelle Kontinuitäten seiner Modelle seien „[u]nerträglich und auch nachweislich falsch“, ohne diesen Nachweis jedoch zu führen – CASTRITIUS, Stammesbildung, Ethnogenese (Anm. 21), S. 514. 30 GOFFART, Distant Past (Anm. 29), S. 33, Anm. 46. 31 So etwa wenn er darüber sinniert, ob die Existenz verschiedener ‚Gautypen‘ der menschlichen Physiognomie, die durch lange regionale Endogamie entstünden und noch heute für jeden erkennbar seien, die Zuordnung einer Person zu einer bestimmten Ethnie erschwert haben könnte – siehe WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung (Anm. 21), S. 32–33. 32 Entwickelt in: Pierre BOURDIEU, La distinction, Paris 1979. 33 Walter POHL, Telling the Difference. Signs of Ethnic Identity, in: DERS. u. REIMITZ (Hgg.), Strategies of Distinction (Anm. 1), S. 17–69, hier S. 64. 34 POHL, Telling the Difference (Anm. 33), S. 65 – meine Hervorhebungen. Weiter unten – ebd., S. 67 – zeigt sich diese Doppelstruktur erneut, wenn es über gentile Eliten heißt: „Their concerns and outlook, however, were far from being purely ethnic. They were part of an international warrior culture that basically shared its values and life-style, and they were the ones who could gain most from an adoption to Roman ways of life.“ Einerseits wird damit behauptet, dass habituelle Unterschiede zwischen verschiedenen ethnisch separierten Elitengruppen kaum auszumachen seien, andererseits wird ihr Verhältnis dann nicht in vertikaler Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, sondern in horizontaler Abgrenzung zum Habitus einer römischen Elite betrachtet, deren Habitus sie aber ebenfalls übernommen hätten. Die römisch-imperiale Elite beschreibt Pohl andernorts ebenfalls als Ethnie: Walter POHL, Romanness. A Multiple Identity and its Changes, in: Early Medieval Europe 22 (2014), S. 406–418, online: Wiley Online Library, https://dx.doi.org/10.1111/emed.12078.

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mungs- und Schicksalsgemeinschaften anschreibt, muss sich die Kritik gefallen lassen, dass er „Dämme gegen Flüsse errichtet, die schon seit vielen Jahrzehnten ausgetrocknet sind“35, statt neue Köge einzudeichen. Gerade hier konnte eine Kritik sowohl der Ethnogenese-Forschung als auch der ethnischen Interpretation in der Archäologie ansetzen: Beide konzentrierten sich auf die Interpretation ihrer Quellen unter dem Gesichtspunkt der Ethnizität und gingen von einer großen sozialen Relevanz ethnischer Kategorien in allen Epochen aus, die sie teils in die Nähe einer überzeitlichen Konstante menschlicher Gesellschaften rückten.36 Wohl unter anderem in Reaktion auf das als unproduktiv bewertete Verharren einiger Teile der Mediävistik sowie der Ur- und Frühgeschichte bei ethnozentrischen Herangehensweisen, aber sicher auch in Reaktion auf die politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüche in den Jahrzehnten um die zweite Jahrtausendwende entstand indessen eine mediävistische Europaforschung, die mit den Eurozentrismen und Holismen der Nachkriegszeit brechen wollte und sich vergleichenden Methoden oder Fragen des Kulturaustausches zuwandte; ihr Gegenstand blieb zunächst oft Europa, dessen Hybridität und innere Heterogenität sie aber immer deutlicher erkannte.37 Die Hinwendung zum Migrationsthema ist ein zentrales Element dieser globalhistorischen Neuausrichtung der Mediävistik.38 Dabei kann Ethnizität nicht ungeprüft als zentrales Ordnungskriterium für menschliche Gesellschaften und Interaktionen gelten, ist doch in der ethnologischen und soziologischen Diskussion längst erkannt worden, dass Interaktanten stets mehreren Kategorien unterschiedli-

|| 35 Achim HACK, Rez. Walter Pohl und Bernhard Zeller (Hgg.), Sprache und Identität im Frühen Mittelalter, Wien 2012, online: H-Soz-Kult (04.07.2012), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-009. 36 Vgl. etwa Walter POHL, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 2005, S. 19: „Das Bedürfnis nach ethnischer Zuordnung entsteht meist erst unter besonderen Bedingungen, etwa Grenzzonen mit starker Fluktuation, in Großstädten mit gemischter Bevölkerung und in großen politischen Einheiten mit unzureichenden Identitätsangeboten. Dieses Phänomen ist am Beispiel der USA gut erforscht, wo Einwandererfamilien oft nach mehreren Generationen die alte Identität wieder in den Vordergrund rücken und mit teils neuen Merkmalen wiederauffüllen. Ähnliche Kriterien treffen für das spätrömische Imperium zu“. 37 SCHNEIDMÜLLER, Deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 20); Michael BORGOLTE, Mediävistik als vergleichende Geschichte Europas, in: Hans-Werner GOETZ u. Jörg JARNUT (Hgg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (MittelalterStudien 1), München 2003, S. 313–323; DERS., Vor dem Ende der Nationalgeschichten? Chancen und Hindernisse für eine Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 561–596; DERS., Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit (Beihefte der Historischen Zeitschrift, N. F. 22), Berlin 1996, bes. S. 477–482. 38 So schon in der programmatischen Forderung zur Übertragung der Konzepte der Globalgeschichte auch auf die Vormoderne bei Jerry H. BENTLEY, Cross-Cultural Interaction and Periodization in World History, in: The American Historical Review 101 (1996), S. 749–770, hier S. 752.

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cher Ordnungsschemata zugeordnet werden und dass die Implikationen dieser Zuschreibungen in komplexen Interferenzbeziehungen stehen.39 Die Einsicht, dass Gruppen soziale Gebilde sind, ist in der Forschung häufig wiederholt worden, und dies hat im Laufe von Jahrzehnten auch zu veränderten Darstellungen und Herangehensweisen geführt. Allerdings haben die zahllosen Differenzierungen, Relativierungen und Dynamisierungen der Konzepte ethnischer Identität nicht eben zur Klarheit beigetragen.40 Wo Selbstaussagen der Akteure fehlen, kann ethnische Zugehörigkeit nicht an anderen Merkmalen etwa von Überresten oder in Textquellen abgelesen werden. Weder eine Fibelform, wie dies für die Archäologie vor allem von Sebastian BRATHER auch längst herausgearbeitet wurde,41 noch eine Rechtsformel sind gleichzusetzen mit einer ethnischen Aussage, wenn man die begrifflichen Überlegungen der letzten Jahrzehnte ebenso ernst nehmen will wie die Einsicht, dass ein subjektives Zusammengehörigkeitsgefühl Grundlage ethnischer Zugehörigkeit ist. Obwohl historische Aussagen über Ethnizität im breiten dokumentarischen Quellenmaterial aber äußerst selten sind, wird sie von der Forschung immer wieder zu einem zentralen Ordnungskriterium frühmittelalterlicher Gesellschaften erklärt, das die Selbstwahrnehmung des Einzelnen und sein Verhältnis zu Anderen maßgeblich bestimmt hätte.42 Ethnien || 39 Vgl. HIRSCHAUER, Un/doing Differences (Anm. 6). 40 So ist im Grunde völlig dunkel, was Ethnizität noch sein soll, wenn man all die Einschränkungen und Relativierungen betrachtet, die POHL, Introduction – Strategies of Identification (Anm. 5), S. 49–52 auflistet. Es entsteht der Eindruck, dass weite Teile der historischen Gesellschaften des Frühmittelalters auch ohne das Konzept der Ethnizität beschreibbar wären, die dann in diesem Rahmen als überflüssige Hypothese verworfen werden könnte. Vgl. LATOUR, Reassembling the Social (Anm. 6), S. 12. 41 BRATHER, Ethnische Interpretationen (Anm. 6). 42 Dem ethnischen Paradigma weitgehend verpflichtet scheint etwa Helmut REIMITZ, The Art of Truth. Historiography and Identity in the Frankish World, in: Richard CORRADINI u. a. (Hgg.), Texts and Identities in the Early Middle Ages (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 13), Wien 2006, S. 87–104, online: Österreichische Akademie der Wissenschaften, http://hw.oeaw.ac.at/ ?arp=0x00137120, hier S. 87, wenn er postuliert, frühmittelalterliche Quellen müssten zuvorderst als historische Instrumente des Ethnizitätshandelns betrachtet werden: „the extant texts cannot be interpreted as sources which simply reflect ethnic structures, but should be understood above all as media through which ethnic identities were devised and propagated.“ Warum „above all“? Auch in seiner neueren Studie begrenzt REIMITZ, History, Frankish Identiy and the Framing of Western Ethnicity (Anm. 1), seine Quellengrundlage weitgehend auf narrative Quellen, obwohl wenigstens für einen Gutteil der behandelten drei Jahrhunderte auch umfangreiches dokumentarisches Material jenseits auch der Herrscherurkunden aus den verschiedenen Regionen Zentraleuropas vorgelegen hätte. Dass in diesen unberücksichtigten Quellen vermeintliche Ethnonyme äußerst selten auftauchen, schürt den Verdacht, dass etwa Franci keine horizontal von anderen unterschiedene und aufgrund von Selbstaussagen stabilisierte ethnische Gemeinschaft sind, sondern eine sowohl vertikal von anderen Bevölkerungsgruppen als auch horizontal von anderen ähnlichen Gruppen abgegrenzte Elitengemeinschaft. Ein Identitätsgefühl und eine Identitätspolitik mag es innerhalb dieser Gruppe wohl gegeben haben, wie sich mit narrativen Quellen belegen lässt, ob sie aber weite Teile der Population

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sind jedoch nur eine Form von sozialen Gruppen unter vielen, und Ethnizität ist ein modernes Konzept – man kann nach vergleichbaren Konzepten und Phänomenen in der Vormoderne suchen, muss sich dabei aber des Anachronismus und der Gefahr einer Verwechselung zwischen verschiedenen Gruppentypen (ethnische, politische, ständische, religiöse, lokale, …) ebenso bewusst sein, wie der Problematik, dass Gemeinsamkeitsglauben als wesentliche Grundlage heutigen Ethnizitätsverständnisses sich im Grunde nur aus Selbstaussagen der Akteure erschließen lässt – und damit weder aus Mitteilungen späterer Historiographen noch zeitgenössischer politischer Eliten; weder aus Bestattungsformen noch aus Rechtsbräuchen; weder aus dem Dekor von Töpferwaren noch aus der Sprache, die ein historischer Akteur spricht. Andererseits kann man sich auch vom Primat der Ethnizität in der Forschung verabschieden und sich anderen Kategorien sozialer Organisation widmen.

3 Ethnische Ambiguität in historischen Situationen: Drei Fallbeispiele aus dem Frühmittelalter Ist man zu diesem Schritt jedoch noch nicht bereit und fragt nach Ethnizität in den Quellen, so zeigt sich schnell, dass Bekundungen von Gemeinsamkeitsglauben, lesbare habituelle Marker ethnischer Unterscheidung, ständige Fremd- und Selbstzuordnung zu ethnischen Gruppen, die für funktionierende Interaktionen nicht optional sind, dort selten greifbar sind. Anhand dreier kurzer Beispiele soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass der Vergleich von Quellenbefunden mit heutigen Konzepten Ethnizitätsbehauptungen der Forschung häufig eher erschüttert als stützt. Dabei wird zunächst anhand der frühesten Belege gefragt, ob der Gruppenname Franci plausibel als Selbstbezeichnung einer ethnischen Gruppe gelten kann. Sodann wird die Instabilität und Perspektivität vermeintlich ethnischer Unterscheidungen im italischen Theoderich-Reich in den Blick genommen und aufgezeigt, dass die vorhandenen Unterscheidungen zwischen ‚Goten‘ und ‚Römern‘ auch als politische, religiöse oder professionale Unterscheidungen gelesen werden können, die jeweils andere Personengruppen der einen oder der anderen Seite zuschlagen. Schließlich soll zusammengetragen werden, wie Behauptungen stabiler Gruppenidentität in Bedas Bericht

|| unabhängig von sozialer Stellung umfassten, wäre zu prüfen. Die Vorstellung von der Welt als „devided among Christian peoples“ (ebd., S. 2 und öfter) mag an Höfen und in der Literatur verbreitet gewesen sein, aber war sie es auch auf Höfen und im Handel? Auch die Forschungsarbeiten seines akademischen Lehrers POHL bleiben dem Ethnizitätskonzept verhaftet – vgl. die in Anm. 1 genannte Literatur.

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von der vorgeblich ethnisch strukturierten Migration des 5. Jahrhunderts vom Kontinent auf die Britischen Inseln in Konfrontation mit archäologischen, philologischen und anderen textlichen Zeugnissen unzuverlässig erscheinen. Folgte man zunächst der Annahme, Ethnizität sei als Leitdifferenz frühmittelalterlicher Gesellschaften zu betrachten, die für den Einzelnen Identität und Gemeinschaft stiftet, zugleich aber für funktionierende soziale Interaktionen obligatorisch sei und nicht etwa durch andere Unterscheidungen überlagert oder ersetzt werden könne, so wäre zu erwarten, dass Ethnizität gerade in den Kontexten frühmittelalterlicher Migrationen besonders prominent greifbar wird. Sie müsste nämlich dort zum Problem werden, wo als selbstverständlich wahrgenommene kulturelle Praktiken durch Alteritätserfahrungen in der Begegnung mit anderen Praktiken als partikular erkannt werden. Ethnonyme gelten der Ethnogenese-Forschung als zentraler Bestandteil des Traditionskerns sozialer Gruppen, die auf dem Glauben an gemeinsame Abstammung und einem Zusammengehörigkeitsgefühl beruhen, und müssten gerade in der Begegnung mit vermeintlich ‚Anderen‘ zur Markierung der Grenze zwischen der eigenen Gruppe und anderen Gruppen vermehrt auftreten. Doch schon dieses Element muss nicht zwangsläufig der hypothetischen Kerntradition der mit ihnen bezeichneten sozialen Gruppe entspringen. So ist die Bezeichnung Franci erstmals Ende des 3. Jahrhunderts in der höfischen Panegyrik des Römischen Reiches belegt.43 Ob sie dem zeitgenössischen Kontext der Grenzregionen am Niederrhein entnommen wurde, ob dort überhaupt eine entsprechende soziale Gruppe bestand und ob diese nach ethnischen Kriterien gebildet wurde, ist angesichts der Quellenlage kaum zu verifizieren. Vieles spricht eher dafür, dass in der Grenzregion ein dichtes Netzwerk von Interaktionen bestand zwischen Provinzialrömern, der imperialen Heeresorganisation und der Bevölkerung, die in den Regionen jenseits des fluiden limes lebte. Erst im Laufe von Jahrhunderten solch enger Beziehungen bildeten sich in den Grenzregionen des Imperiums überhaupt soziale Strukturen heraus, die dem Bild einer politisch-militärisch verfassten sozialen Gruppe unter monarchischer Führung entsprochen haben könnten.44 Dabei sind Unterschiede zwischen verschiedenen in den Quellen beschriebenen Gruppen archäologisch kaum auszumachen. Die Zuschreibung Franci könnte demnach gänzlich der imperialen Perspektive imperial-höfischer Panegyrik entspringen: Franci wurden dort jene Gegner des Imperiums genannt, die

|| 43 Panegyrici Latini XI, 5.4: Francos ad petendam pacem cum rege uenientes; 7.2: itidemque his gens Chaibonum Erulorumque deleta et Transrhenana uictoria et domitis opressa Francis bella piratica – siehe Panegyrici Latini. Lobreden auf römische Kaiser. Lateinisch und deutsch, hrsg. u. übers. v. Brigitte MÜLLER-RETTIG, Bd. 1, Darmstadt 2008, S. 30–33; vgl. CASTRITIUS, Überlegungen zu Herkunft und Ethnogenese (Anm. 29), S. 217. In dieser Lobrede auf den römischen Kaiser Maximian aus dem Jahr 291 werden Franci zu den Plünderern gezählt, die im Kontext des Aufstandes des Usurpators Carausius in Britannien und Nordgallien die Küsten von Nordsee und Ärmelkanal unsicher machten und die Maximinian besiegt habe. 44 HEATHER, Empires and Barbarians (Anm. 10), S. 35–92.

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in der Grenzregion der Germania inferior aktiv waren.45 Nicht das Zusammengehörigkeitsgefühl der bezeichneten Personen oder ihr Glaube an gemeinsame Abstammung, sondern die Provinzgliederung des Imperiums, die antike Tradition ethnographischen Wissens und Schreibens und Feindkunde mit politisch-militärischer Perspektive wären dann für das dokumentierte Labelling ausschlaggebend gewesen. Die ethnographische Tradition der antiken Literatur verknüpfte eine unterstellte gemeinsame Abstammung mit geographischen, religiösen, politischen oder beruflichen Kategorien, sodass vielschichtige Bezüge voller topischer Elemente entstanden, aus denen die einer Zuschreibung zugrunde liegende Ordnungskategorie – Ethnie, Berufsgruppe, Bevölkerung einer Provinz oder einer Region, spezifische bewaffnete Gruppe, Heiden, Häretiker oder Fremde – sich kaum noch ablesen lässt.46 Wie komplex der Umgang mit solchen Zuschreibungen in der historischen Praxis war, zeigt das Beispiel des Theoderich-Reiches: Theoderich selbst entstammte wie eine Reihe römischer Kaiser der höchsten Elite einer mediterranen Militär-Community, die vor allem an den Schwerpunkten kriegerischer Auseinandersetzungen der Zeit in den Grenzregionen auf dem Balkan konzentriert war; in Abgrenzung zum eher zivilen politischen Establishment, das als ‚römisch‘ identifiziert wurde, galten diese Communities als ‚gotisch‘. Im Kontext der Eroberung Italiens durch Theoderichs Truppen wurde offenbar gerade diese ‚gotische‘ Gemeinschaft in Heer und Militärverwaltung betont, der ‚römischen‘ Zivilbevölkerung Italiens entgegengestellt und dadurch im Innern stabilisiert.47 Dieses offiziöse Bild einer zunächst professionalen, zunehmend aber viele soziale Subsysteme betreffenden, eigenständigen Gruppe mit stabilem, weitgehend endogam reproduziertem personalen Substrat gibt allerdings vor allem die Perspektive der politisch-militärischen Oberen wieder; es ist kaum in Deckung zu bringen mit den personellen Fluktuationen im Heer und der nur unscharfen Trennung zu ‚römischer‘ Zivilbevölkerung und -verwaltung.48 Die Label ‚Gote‘ und ‚Römer‘ waren daher ihrerseits vielschichtig und wandelbar: Theoderich bezog ‚Römer‘ stets noch auf Zivilisten oder die zivile Elite Italiens, die er von ‚Goten‘, das heißt den Militärs, absetzte, während Justinian zur gleichen Zeit statt der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen beruflichen Statusgruppen zunehmend kaisertreue ‚Römer‘ von abtrünnigen ‚Goten‘ unterschied. Entsprechend belegen viele Biographien in der Zeit des Gotenreiches und der Gotenkriege eine gewisse Mobilität zwischen den Grup-

|| 45 Vgl. Sebastian BRATHER, Acculturation and Ethnogenesis along the Frontier. Rome and the Ancient Germans in an Archeological Perspective, in: Florin CURTA (Hg.), Borders, Barriers, and Ethnogenesis. Frontiers in Late Antiquity and the Middle Ages (Studies in the Early Middle Ages 12), Turnhout 2005, S. 139–171, bes. S. 150–159, der weiter argumentiert, dass die imperiale Ethnographie jene, die die Germania superior bedrohten, in gleicher Weise Alamanni genannt habe. 46 AMORY, People and Identity (Anm. 2), S. 13–42. 47 Ebd., S. 277–313, 43–85. 48 Ebd., S. 86–148.

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pen und häufige Bezüge zu beiden Seiten der Unterscheidung römisch/gotisch in einer Familie oder einer Person; zudem wechselten die Selbst- und Fremdbezeichnungen, als die Labels ihre Bedeutung änderten.49 Nur kurze Zeit nach der justinianischen Eroberung Italiens in den 550er Jahren ist die Identifikation ‚Gote‘ dann völlig aus den Quellen verschwunden – schließlich gab es nun keine ‚Goten‘, das heißt also Aufständische oder Kaisergegner, mehr.50 In den Jahren 489 bis 554 lassen sich in Italien knapp 400 Personen greifen, die anhand von Merkmalen wie philologisch germanischen Vornamen oder Sprachkenntnissen, Militärdienst oder Zugehörigkeit zum arianischen Glauben oder Klerus als ‚Goten‘ hätten identifiziert werden können – zeitgenössische Zuschreibungen dieser Art sind außerhalb der Prokopios-Werke derweil äußerst selten überliefert.51 Die Quellen zeigen jedoch, wie ambig die Zuordnungen einzelner Personen oder Familien zu den beiden angeblich damals real geglaubten Abstammungsgemeinschaften sind. Die Brüder Cyprianus und Opilio etwa gehören beide der italischen senatorischen Elite an, ihre Familie lässt sich jedoch weder als ‚römisch‘ noch als ‚gotisch‘ kategorisieren: Ihr Vater Opilio hatte noch vor 489 als erster Vertreter der Familie einen Senatorenrang erreicht, und auch Opilio der Jüngere erreichte als advocatus mit dem Posten des comes sacrarum largitionum ein hohes Amt im italischen Reich, das eine fundierte Ausbildung voraussetzte; er galt als vir inlustris, wurde mit Reichsgeschäften betraut und auf diplomatische Mission nach Byzanz geschickt. Es muss wohl angenommen werden, dass er als Unterzeichner der Akten des römischen Konzils von Orange im Jahr 529 den römischen Ritus befolgte. Sein Bruder Cyprianus ist seit 504 im Heer belegt, er unterhielt persönliche Kontakte zu Theoderich und stieg über verschiedene Posten – darunter ebenfalls das Amt eines comes sacrarum largitionum – zum magister officiorum und schließlich in den Patrizier-Stand auf. Er galt als Romanae stirpis und wurde als Römer identifiziert, habe aber drei Sprachen gesprochen; auch seine Söhne erlernten die nostra lingua der Gotenpolitie und erfuhren militärische Ausbildung. Beider Namen entstammen der lateinisch-griechischen Tradition des alten Imperiums.52 In einer Familie also sind zivile und militärische Ämter, Senatorenrang und ‚römische‘ Herkunft, katholischer Glaube, antik-imperiale Bildung und soldatische Ausbildung, als Sprachen Latein, Griechisch und Gotisch, Missionen im italischen Reich und nach Byzanz sowie enge persönliche Kontakte zu den ‚gotischen‘ Herrschern greifbar. Diese Vielschichtigkeit möglicher Zuschreibungen lässt sich kaum in Deckung bringen mit dem Bild von getrennten Ethnien als umfassende Zusammengehörigkeitsgemeinschaften auf der Grundlage des Glaubens an gemeinsame Abstammung. Die Beschreibung von ‚Goten‘

|| 49 Ebd., S. 149–194. 50 Ebd., S. 12. 51 Vgl. die Prosopographie ebd., S. 348–486. 52 Ebd., S. 369–371, 401–402, 444.

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und ‚Römern‘ als getrennte stabile Gruppen scheint vor allem eine Praktik der Obrigkeit in Byzanz und Rom sowie der höfischen Literatur gewesen zu sein und sich stark auf politische Loyalität bezogen zu haben. Auch im Kontext der vieldiskutierten Migrationen auf die Britischen Inseln seit dem 5. Jahrhundert scheinen ethnische Ordnungskategorien für die historischen Akteure nur bedingt Grundlage für handlungsleitende Unterscheidungen gewesen zu sein.53 Zwar beschreibt auch Beda im frühen 8. Jahrhundert in seiner Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum die Migranten vom Kontinent so, als hätte sich ihre soziale Verfasstheit durch die Migration nicht gewandelt, jedoch fehlen Parallelquellen dafür, dass umfangreiche und differenzierte politisch-militärische Strukturen, wie sie lange nach der Migrationssituation greifbar sind, schon während der eigentlichen Migrationsereignisse oder gar schon zuvor bestanden hätten. Beda selbst hatte zudem angesichts der Vielzahl migrantischer Politien oder Gruppen unterschiedlicher Größe im Südosten Großbritanniens seiner eigenen Zeit größte Mühen, die von seinen Vorgängern übernommene Einteilung dieser Migranten in bloß drei vermeintliche Ethnien durchzuhalten und auch in der kontinentalen Vergangenheit der von ihm beschriebenen Gruppen aufzuzeigen. Solche historiographischen Texte des Mittelalters legen insofern in ihrer Verwendung von Gruppennamen und Gruppenappellativa wie gens, natio oder populus bereits eine anachronistische und perspektivische Veränderung der Bedeutung dieser Begriffe hin zu politischen Strukturen mit ethnischer Grundierung nahe und dies umso mehr, da sie die Kategorien der Gruppierung nicht offenlegen. So wird der Gruppenname der Sachsen – wenn er auch etymologisch kaum noch zu deuten ist und sein semantischer Bezug auf das Sax als Waffe umstritten54 – in den britischen Quellen des 5. und 6. Jahrhunderts zumeist für migrantische Krieger gebraucht und hat somit eine vorrangig professionale Bedeutung im Gegensatz etwa zu Nachbarschafts-, Abstammungs- oder Vertragsgruppen. Angesichts dieser Schwierigkeiten berichtet Beda in recht vagem Ton, dass im Jahr 449 u. Z. zusammen mit den gentes oder populi Anglorum und Saxonum ein populus mit Namen Iutae auf die Insel migriert sei, dessen Herkunft er lose auf dem Kontinent in der Nähe der Landschaft Angulus verortet; neben der Iutarum natione in Wessex seien auch die gentes Cantuarii et Victuarii aus den Iutae hervorgegangen, deren Gruppennamen Beda beide von ihren Siedlungsgebieten in Kent und auf der Insel Wight ableitet.55 Der Gruppenname Iutae ist dabei eine Innovation Bedas gegenüber früheren Quellen; seine Herkunft ist schwer zu deuten, er könnte aber neben der notorischen Deutung als ‚Jüten‘ aus Jütland auch auf verschiedene Gruppennamen im Rheinland oder in || 53 Zum Folgenden vgl. KLEINSCHMIDT, Migration und Identität (Anm. 2), S. 1–55. 54 Matthias SPRINGER, Die Sachsen, Stuttgart 2004, S. 122–130; anders: Heinrich TIEFENBACH, Matthias SPRINGER u. Torsten CAPELLE, Sachsen, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 26 (2004), S. 24–53, online: De Gruyter, http://www.degruyter.com/view/GAO/RGA_4821, hier S. 30–31. 55 Hier wie im Folgenden: KLEINSCHMIDT, Migration und Identität (Anm. 2), S. 89–174.

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Friesland zurückgehen. Er schien jedoch offenbar schon den Zeitgenossen des frühen Mittelalters merkwürdig, die ihn, den frühen Transliterationen in Vernakularsprachen nach zu urteilen, ganz unterschiedlich aussprachen und deuteten. Andere frühmittelalterliche Historiographen erwähnen ganz im Gegensatz zur ethnisch deutbaren Invasionserzählung Bedas zwar, dass auf den britischen Inseln unterschiedliche Gruppen leben, berichten aber nicht von einem singulären Migrationsereignis. Tatsächlich sprechen viele Belege in Schriftquellen, archäologischen Funden und Sprachgeschichte für eine große Kontinuität der Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen in Kent, zu denen auch alte und rege Austauschbeziehungen zwischen den Regionen beiderseits des Ärmelkanals gehörten. Siedlungs- und Grabarchäologie haben zudem ergeben, dass durchaus Unterschiede zwischen den Überresten aus den verschiedenen Siedlungszentren im Kent des 5. und 6. Jahrhunderts bestehen, was eine migrantische Invasion durch eine homogene ethnisch verfasste soziale Gruppe Iutae mit gemeinsamen Bräuchen und Techniken in der Mitte des 5. Jahrhunderts noch unwahrscheinlicher macht. Archäologische Funde und namenkundliche Forschung deuten vielmehr darauf hin, dass Menschen aus einer Vielzahl von Regionen entlang der Nordseeküste und des Rheins nach Großbritannien migriert sind und je eigene Traditionen mitbrachten. Offenbar als erster Historiograph fasste Beda sie trotz ihrer Heterogenität unter dem Label Iutae zusammen. Er verband den Gruppennamen zudem mit einer linearen Herrschergenealogie, die als Oiscingas bekannt sei, in deren Zentrum Beda zufolge Hengist stehe – einer der Anführer der vorgeblichen Großgruppe von Neuankömmlingen des Jahres 449 – und die bis auf Wodan zurückgehe. Der Vorstellung eines ethnisch charakterisierbaren Herrscherhauses als Traditionskernträger der Iutae widerspricht jedoch schon die historische Praxis, derzufolge Herrscher in Kent – wenn sie nicht ohnehin ganz allgemein als Könige der Sachsen oder Angeln angesprochen wurden – unter Rückgriff auf den antik-römischen Landschaftsnamen meist als reges Cantiae oder Cantuariorum bezeichnet wurden. Ihre Vertreter trugen zudem beginnend mit Hengists Nachfolger Oisc im 5. Jahrhundert zunächst philologisch gotische Namen, die auch in der italischen Elite belegt sind, während seit dem frühen 7. Jahrhundert Namen greifbar sind, die in den Eliten des Merowingerreiches verbreitet waren, und schließlich Namen aus der Elite Ostangliens, wohin auch nachweislich Heiratsbeziehungen bestanden. Im Kontext der Heirat des kentischen Herrschers Eorcenberht mit Seaxburh, der Tochter des ostanglischen Königs Anna, könnte im Übrigen Mitte des 7. Jahrhunderts auch die Tradition der Wodansabstammung vom wuffingischen Herrscherhaus in Ostanglien auf das oiscingische in Kent übertragen worden sein. Während also Deutungen des Gruppennamens Iutae sowie historische Untersuchen der Linguistik und Ortsnamenkunde auf Beziehungen an die südliche Nordseeküste, ins Rheinland sowie sogar nach Schwaben und Thüringen verweisen und auch archäologisch Verbindungen aus Kent in weite Regionen Kontinentaleuropas aufgezeigt werden können, lassen sich die Namen der von Beda überlieferten kentischen Herrschergenealogie als Hinweise auf Beziehungen zu Eliten im italischen Theoderich-Reich, im Merowingerreich oder in Ostanglien

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verstehen. Bedas genealogische Listen überdecken jedoch durch ihre Linearität diese Traditionsbrüche und Bündniswechsel des Herrscherhauses in Kent ebenso wie innere dynastische Konflikte – diese sind auch bei Beda offenkundig durch sein Verschweigen des vom Königssohn Eormenrēd abstammenden Zweigs der Familie, dem immerhin eine Reihe von Heiligen angehörte und dessen Mitglieder sich mit bedeutenden Klostergründungen hervorgetan hatten – sowie die politische Zersplitterung und Schwäche der regalen Herrschaft in Kent gegenüber lokalen Eliten Ende des 7. Jahrhunderts. Insgesamt bietet Beda nur vage und zum Teil widersprüchliche Informationen zu den Iutae. Auch in der Zusammenschau mit anderen Quellen können sie das Bild einer kulturell und sprachlich homogenen sozialen Gruppe nicht stützen, die in der Mitte des 5. Jahrhunderts aus einer spezifischen Region auf dem Kontinent nach Großbritannien migriert sei, schon zuvor eine eigene Herrschaft gebildet und seither auf der Grundlage von Zusammengehörigkeitsgefühl, Glauben an gemeinsame Abstammung sowie einem von ihrer Elite getragenen Traditionskern aus Ethnonym und Herkunftsmythos Bestand gehabt hätte. Wäre die Unterscheidung in Iutae und Nicht-Iutae für die kentische Gesellschaft des Frühmittelalters also eine zentrale, für das Funktionieren sozialer Interaktionen nicht optionale Unterscheidung gewesen, so könnte sie sich kaum in beobachtbaren Faktoren niedergeschlagen haben, sondern hätte ausschließlich auf einem performativ aktualisierten Gemeinsamkeitsglauben beruht – darauf aber können wir den Quellen keine Hinweise entnehmen, bis Beda seine vagen und widersprüchlichen historiographischen Berichte zu Pergament bringt.

4 Schluss Ethnizität, so hat die Forschung erkannt, ist weder ein unwandelbares noch ein überzeitliches Konzept; sie ist allerdings auch ein Konzept der Moderne des nationalstaatlichen Zeitalters. Entsprechungen im Frühmittelalter zu suchen und diese schnell in einer Vielzahl frühmittelalterlicher Gruppennamen zu entdecken, ist problematisch. Wer oder was zu welcher Zeit Franci, Gothi, Romani oder Iutae waren – ob diese Gruppen tatsächlich auf Ethnizität als einem Zusammengehörigkeitsgefühl gründeten, das nicht durch andere Kategorien wie Stand, Profession oder Ritus bereits erklärt wäre –, lässt sich diesen Wörtern selbst nicht entnehmen. Dabei ist zu klären, in welchen Kontexten, nach welchen Ordnungskriterien und von welchen Sprechern Personen oder Phänomene mit einem solchen Label versehen werden. Welche Konsequenzen ergeben sich für die beobachteten Interaktionen? Sind Labels im Rückblick, von Außen oder nur auf dem Pergament zugewiesen oder sind sie in der Situation selbst belegt? Stehen Labels überhaupt für soziale Gruppen, welches sind ihre Sprecher, Anti-Gruppen und Grenzen? Welche Lebensbereiche betrifft eine aufgerufene soziale Gruppe?

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Diese Fragen können nur mit quellennaher, akteurszentrierter Forschung beantwortet werden, die konkrete Interaktionen in den Blick nimmt. Migrationssituationen bieten sich besonders hierfür an, da vermeintliche ethnische Humandifferenzierungen hier prominent auftreten müssten. Eine solche Untersuchung müsste aber auch verhindern, dass schon der Zuschnitt ihres Gegenstandes eine ethnische Deutung nahelegt – denn wer die Migration der Goten untersucht, wird in der Regel auch eine ethnisch konditionierte Migration finden. Ein lokaler Zuschnitt etwa kann als methodische Kontrolle des ethnischen Kurzschlusses sinnvoll sein. Darüber hinaus ist eine Vielfalt an Aspekten zu untersuchen: So sind historisch-semantische Untersuchungen zu Gruppenlabels ebenso denkbar wie die Auswertung größerer Corpora von Qualifizierungen, mit denen die Quellen Personennamen versehen, um zu ermitteln, welche Unterscheidungen bei der Nennung einer Person getroffen wurden. Die Konsequenzen, die solche differenzierenden Beschreibungen etwa von Stand, Geschlecht, Amt und anderen zugeschriebenen Eigenschaften für konkrete Interaktionen haben konnten, müssen herausgearbeitet werden. Solche Untersuchungen sind jedoch dort nicht möglich, wo kaum zeitgenössische Quellen vorliegen. Sollen aber Aussagen über Ethnizität getroffen werden, die nicht auf der doppelten Rückprojektion von Konzepten von der Forschung auf die Historiographie und von den mittelalterlichen Historiographen auf die berichteten Ereignisse basieren, braucht es einen historischen Kontext, der ausreichend Belege bietet.

Michelle Waldispühl

‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘? Personennamen im Reichenauer Verbrüderungsbuch vor dem Hintergrund von Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit Zusammenfassung: Anhand von Beispielen aus dem ‚nordischen‘ Personennamenkorpus im Reichenauer Verbrüderungsbuch geht dieser Beitrag der Frage der einzelsprachlichen Bestimmung von Namenbelegen nach, die im mehrsprachigen Umfeld verschriftet wurden. Grundlegend ist dabei, zwischen der linguistischen Betrachtung der formalsprachlichen Merkmale des effektiven Namenbelegs (token) und dessen zugehörigen Anthroponyms (type) zu trennen. Es zeigt sich allerdings, dass eine eindeutige sprachliche Zuordnung je nach Gewichtung einzelner Faktoren wie sprachlicher Form, Beleglage des Anthroponyms und handschriftlichem Überlieferungskontext mehr oder weniger klar ist, bei einigen Beispielen sogar als ambig stehen bleiben muss. Schlüsselwörter: historische Linguistik, Libri vitae, Personennamen, Sprachkontakt, historische Lexikologie

1 Einleitung Das Reichenauer Verbrüderungsbuch enthält mehr als 38.232 Nameneinträge1 und bietet damit eine reiche Quelle für Geschichtswissenschaft und Namenforschung. Es wurde im 9. Jahrhundert im Kloster Reichenau konzipiert und angelegt und liegt heute in der Zentralbibliothek in Zürich.2 Als umfangreichstes Verbrüderungsbuch der Karolingerzeit besteht es aus 72 Blättern (Konvolut aus älteren Pergament- und

|| 1 Vgl. Dieter GEUENICH, Die Namen des Verbrüderungsbuchs. Ihre Aufnahme, Lemmatisierung und Wiedergabe in den Registern, in: Johanne AUTENRIETH, Dieter GEUENICH u. Karl SCHMID (Hgg.), Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (MGH. Libri Memoriales et Necrologia. N. S. I), Hannover 1979, S. XLII. 2 Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27. Faksimile: www.e-codices.unifr.ch/de/zbz/Ms-Rhhist0027 (15.2.2017). Ausgabe: AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1). || Dr. Michelle Waldispühl, Göteborgs universitet, Institutionen för språk och litteraturer, Box 200, 405 30 Göteborg, Schweden https://doi.org/10.1515/9783110608250-007

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jüngeren Papierblättern)3 und enthält ein Inhaltsverzeichnis sowie einen alphabetischen Index. Die ersten Listen aus dem 9. Jahrhundert verzeichnen Namen von Mönchs- und Klerikergemeinschaften, Domstiften, Wohltätern und Freunden des Klosters.4 Bei diesen ersten Listen wurde Platz freigelassen, um sie weiterzuführen. Im Laufe von drei Jahrhunderten kamen weitere Namen, zuerst auf den in der ursprünglichen Anlage frei gebliebenen Zeilen, später auch in den Marginalien und interlinear, dazu. Die Namen einer Handschriftenseite stammen in den meisten Fällen nicht nur von verschiedenen Händen, sondern gehören unterschiedlichen chronologischen Schichten an.5 Das Manuskript wurde auf dem Altar oder in der Sakristei des Münsters aufbewahrt und war bis ins 15. Jahrhundert in Gebrauch, wobei die intensivste Nutzung im 9. bis 11. Jahrhundert zu verzeichnen ist.6 Unter den Namen finden sich auf 20 Seiten verteilt ca. 740 nordgermanische Namen aus dem 11. und 12. Jahrhundert,7 die wohl zur Mehrheit von Pilgern auf dem Weg nach Rom und anderen christlichen Zentren der Zeit stammen.8 Dieses Korpus ist unter diversen Gesichtspunkten relevant: Die Namen zeugen von Mobilität skandinavischer Christen nicht lange nach deren Christianisierung, von religiösen Praktiken wie Pilgerreise und Gedenkwesen, dem Gebrauch des lateinischen Alphabets und natürlich von Namenvorkommen und -gebrauch. Nicht zuletzt bietet das Korpus || 3 Kodikologische Angaben vgl. Johanne AUTENRIETH, Beschreibung des Codex, in: AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1), S. XV–XLI. 4 Zu den Listen vgl. Karl SCHMID, Wege zur Erschließung des Verbrüderungsbuches, in: AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1), S. LX–LXIII. 5 Bisher wurde erst die ursprüngliche Anlage aus dem 9. Jahrhundert systematisch paläographisch untersucht (vgl. AUTENRIETH (Anm. 3)). Die systematische paläographische Auswertung der jüngeren Eintragungsschichten ist ein Desiderat (vgl. auch SCHMID (Anm. 4), S. LXXXV). Zur Paläographie der nordischen Nameneinträge vgl. unten. 6 Vgl. AUTENRIETH (Anm. 3), S. XXXVII; Alfons ZETTLER, ‚Visio Wettini‘ und Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Peter ERHART u. Jakob KURATLI (Hgg.), Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, St. Gallen 2010, S. 68. 7 Zuerst zu den nordgermanischen Einträgen vgl. Franz Joseph MONE, Altnordische Namen, in: Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit 4 (1835), S. 97–100. Zur Forschungsgeschichte vgl. im Folgenden. 8 Bisher gibt es noch keine sicheren Nachweise von in den Namen genannten historischen Personen. Anzunehmen ist, dass nicht alle in den Listen Verzeichneten physisch anwesend waren, sondern dass sich darunter auch Namen von Verstorbenen oder Zuhausegebliebenen finden. Eine mögliche Verbindung von drei Namen zum in einer Reihe Runeninschriften überlieferten Jarlabanke-Clan aus Uppland, Schweden, schlägt der schwedische Archäologe Rune EDBERG vor: Rune EDBERG, Spår efter en tidig Jerusalemsfärd, in: Fornvännen 101 (2006), S. 342–347 und DERS., Östens pilgrimsfärd än en gång, in: Fornminnesnytt 5 (2012), S. 9–11. Kritisch zu dieser Hypothese: Hans-Peter NAUMANN, Die nordischen Pilgernamen von der Reichenau im Kontext der Runennamenüberlieferung, in: Wilhelm HEIZMANN u. Kurt SCHIER (Hgg.), Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kulturund Literaturgeschichte (RGA-Ergänzungsbände 68), Berlin, New York 2009, S. 776 f., 794–800. Mittels einer systematischen paläographischen Untersuchung und Datierung der Reichenauer Namen sowie eines linguistischen Vergleichs mit den Runenbelegen gilt es, die Hypothese neu zu prüfen.

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aus sprachwissenschaftlicher Sicht höchst interessantes Material für systemlinguistische Fragestellungen und Sprachkontaktstudien, denn ein großer Teil der Namen wurde von lokalen deutschen Schreibern eingetragen. Schon in der ersten Ausgabe der Namen 1835 im Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit erwähnt Franz Joseph MONE „hochdeutsche Formen“ und Übersetzungen ins Deutsche, die „[…] vom Abschreiber her [rühren].“9 Nach ihm haben auch Jacob GRIMM10, Finnur JÓNSSON11 und Hans-Peter NAUMANN12 festgestellt, dass sich das mehrsprachige Umfeld in den Namenformen niedergeschlagen hat. Sie vermuteten alle, dass einige Namen ‚verdeutscht‘ oder gar per Diktat verschriftet wurden. In den bisherigen Studien fehlt jedoch zum einen die explizite Problematisierung dessen, was im Kontext dieser im mehrsprachigem Umfeld verschrifteten Namenbelege unter ‚nordgermanisch‘ und ‚deutsch‘ zu verstehen ist und zum anderen Aussagen darüber, wie die einzelsprachliche Zugehörigkeit sowie Entlehnungsrichtung und -prozesse bei diesen linguistisch verwandten Sprachen bestimmt werden. Dies hat nicht nur sprachwissenschaftliche Relevanz, sondern ist mitunter deshalb von Bedeutung, weil aus der sprachlichen Zugehörigkeit kulturelle Implikationen abgeleitet werden. Im vorliegenden Beitrag diskutiere ich deshalb nach einem Forschungsüberblick zu den nordgermanischen Namen im Reichenauer Verbrüderungsbuch Möglichkeiten und Probleme der sprachlichen Bestimmung von Personennamen, die Zeichen von Sprachkontakt aufweisen. Es handelt sich um Überlegungen, die für ein Editionsprojekt der Namen grundlegend sein sollen, auf welches ich ebenfalls kurz eingehen werde. In der Anwendung auf drei Beispiele soll es neben der Frage, wie Ambiguitäten in der Zuordnung methodisch zu handhaben sind, auch darum gehen, inwiefern sich daraus Schlüsse auf die Verschriftungssituation und zugrunde liegende kulturelle Verhältnisse ziehen lassen.

|| 9 Vgl. MONE (Anm. 7), S. 100. 10 Jacob GRIMM, Om oldnordiske egenavne i en i Reichenau skreven necrolog fra de 9de og 10de aarhundrede, foredraget af forfatteren i mødet den 16de september 1844, in: Antiquarisk Tidsskrift 1843– 45, S. 67–73. 11 Finnur JÓNSSON u. Ellen JØRGENSEN, Nordiske Pilegrimsnavne i Broderskabsbogen fra Reichenau, in: Aarbøger for nordisk Oldkyndighed og Historie 13 (1923), S. 1–36. 12 Hans-Peter NAUMANN, Die altnordischen Personennamen im Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, in: Harald BURGER, Alois M. HAAS u. Peter von MATT (Hgg.), Verborum Amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 1992, S. 701–730, und DERS. (Anm. 8).

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2 Nordgermanische Personennamen im Reichenauer Verbrüderungsbuch 2.1 Bestimmung der sprachlichen Zugehörigkeit in der bisherigen Forschung In der ersten Ausgabe der hier zu behandelnden Namengruppe im Jahr 1835 erläutert Franz Joseph MONE13 die Selektionskriterien für die nordgermanischen Namen aus dem Gesamtkorpus der Reichenauer Namen nicht explizit. Er schreibt in seiner Einleitung, dass er die Namen „im Allgemeinen nordisch heißen und die isländischen besonders anführen“ müsse, „da sie nicht alle unter Island“ stünden.14 Er nimmt hier Bezug auf die eine Liste mit dreizehn Namen, die mit der Überschrift hiſlant t(er)ra versehen ist.15 Daraus lässt sich schließen, dass er die sprachliche Bestimmung über die geographische Verortung der Namen(träger/innen) vorgenommen bzw. sprachliche und geographische Bestimmung gleichgesetzt hat. Im gleichen Passus lässt er verlauten, dass die lateinischen und deutschen Namen in seiner Ausgabe kursiv abgedruckt seien. Weshalb jedoch überhaupt lateinische und deutsche Belege in seinem Abdruck der altnordischen Namen mitaufgenommen sind, kommentiert er nicht. MONES Publikation dient primär der Dokumentation der Namen, die kursorische Auswertung beschränkt sich auf knapp eine Spalte. Darin lässt er das im vorliegenden Beitrag zu diskutierende methodische Problem allerdings nicht unerwähnt: Es zeigen sich Formen, über deren Heimat ich zweifelhaft bin. Das nordische björn ist immer pirin, pirn, bern geschrieben; war das die nordische Aussprache oder eine Anlehnung an die teutsche Schreibung? Ist daher espirn der nordische Mannsnamen ásbjörn oder der teutsche Frauennamen aspirn, ospirn?16

|| 13 Vgl. MONE (Anm. 7), S. 97–100. 14 Ebd., S. 97. 15 Die Liste befindet sich am linken oberen Rand (XA1-2) auf fol. 93r (p. 159). Allerdings ging MONE davon aus, dass alle Namen auf dieser Manuskriptseite unter die Überschrift subsumiert würden, da er nicht mit dem damals verschollen geglaubten Original der Handschrift, sondern mit einer späteren Abschrift aus einer einzigen Hand arbeitete, in der die ursprünglichen Hände nicht erkenntlich sind, vgl. Franz Joseph MONE, Necrologium Augiense, in: Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit 4 (1835), Sp. 17–20, hier Sp. 20. Erst die Edition von Ellen JØRGENSEN (in JÓNSSON u. JØRGENSEN (Anm. 11)), die auf Basis des wiedergefundenen Originals erfolgt ist, schafft Klarheit über die verschiedenen Hände und Listen. Vgl. auch NAUMANN (Anm. 12), S. 701–703. 16 MONE (Anm. 7), S. 100.

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MONE macht hier auf die ambige Gestalt der Reichenauer Belege aufmerksam: Das Namenglied existiert in den Onomastika beider Sprachen eigentlich in unterschiedlicher Form, die einzelsprachliche Zuordnung wird durch die Kontaktsituation jedoch verwischt. Zudem führt MONE Beispiele an, in denen eindeutige, von den deutschen Schreibern verursachte Interferenzen, d. h. „hochdeutsche“ Formen und Übersetzungen von nordischen Namen ins Deutsche zu erkennen sind. Dabei unterscheidet er phonologische Interferenzen (uo für nordisch ó in thuoba für tófi; tuoka für tóki; asmuot für asmóth), graphematische Interferenzen (‫ۦ‬chۧ für nordisch ‫ۦ‬kۧ) und Übersetzungen ins Deutsche (vuolf für úlfr, ruodolf für rólfr, halbtene für halfdán [sic]).17 Ein Jahrzehnt nach MONEs Abdruck der Namen machte Jacob GRIMM das Material in einem Vortrag vor ‚Det Kongelige Nordiske Oldskriftselskab‘ in Kopenhagen dem nordischen Forscherkreis bekannt. Auch er geht in seinem Beitrag nicht auf die Frage der sprachlichen Bestimmung der Namen ein, sondern fokussiert ausgehend vom Namenmaterial auf seine damals noch jungen Hypothesen zu den mittlerweile kanonischen Lautgesetzen der ersten und zweiten Lautverschiebung.18 Er führt MONEs Überlegungen insofern weiter, als er drei Typen von Repräsentationsweisen („tredobbelt fremgangsmaade“) der Namen unterscheidet.19 Beim ersten Typ wird die nordische Schreibweise beibehalten, mit der einzigen Anpassung, dass „runisch“ ‫ۦ‬þۧ als ‫ۦ‬thۧ geschrieben wird. Typ zwei umfasst jene Formen, welche die nordische Aussprache beibehalten, jedoch in deutscher Graphie erscheinen. Als Beispiel dieses Typs fügt Grimm die Wiedergabe des nordischen Phonems /ϴ/ durch das Graphem ‫ۦ‬zۧ an. Zum dritten Typ schließlich gehören ins deutsche Sprachsystem übersetzte Namen. Grimm schließt seine Ausführungen mit der Bemerkung, dass derselbe Name auf drei verschiedene Weisen erscheinen könne, wie er im Beispiel thorkil, zorkil, durchil, verdeutlicht.20 Auf eine explizite Klärung, was unter ‚nordisch‘ zu verstehen ist, hofft man auch bei der sich auf die Originalhandschrift stützenden Ausgabe von Finnur JÓNSSON und Ellen JØRGENSEN aus dem Jahr 1923, in der sie die von MONE angenommene Anzahl von 400 Namenbelegen auf ca. 670 erhöhten, vergebens.21 Es ist von nordischen Namen („nordiske Navne“22) im Reichenauer Verbrüderungsbuch und von Nordländern

|| 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. GRIMM (Anm. 10), S. 69–72. 19 Ebd., S. 69. 20 Hier gibt es allerdings einige Unklarheiten. Zum einen konnte ich den Beleg zorkil weder in MONES Liste noch in der Ausgabe von AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1) und folglich auch nicht in der alphabetischen Belegliste bei NAUMANN (Anm. 12), S. 728 ausfindig machen. Zum andern kann durchil sicherlich nicht als lexikalische oder semantische Übersetzung angesehen werden, da es im deutschen Lexikon/Onomastikon keine Entsprechung gibt, vgl. unten. 21 Vgl. JÓNSSON u. JØRGENSEN (Anm. 11). 22 Ebd., S. 4.

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(„Nordboerne“23), welche die Reichenau als Pilger aufsuchten, die Rede. Eine Definition, wie die Namen als nordisch und dementsprechend deren Träger als Nordländer identifiziert wurden, findet sich nicht. Etwas merkwürdig mutet in diesem Zusammenhang die Bemerkung an, es sei nicht auszuschließen, dass es unter den nordischen Namen auch nicht-nordische gäbe.24 Klärung dafür findet man jedoch gegen Ende des Artikels, wo Finnur JÓNSSON die Möglichkeit erwähnt, dass deutsche Männer und Frauen zusammen mit den nordischen Pilgern eine Reisegemeinschaft gebildet hätten und sich deshalb auch deutsche Namen unter den nordischen fänden.25 Finnur JÓNSSON und JØRGENSEN gingen somit selbstverständlich davon aus, dass Träger/innen von Namen in paläographisch zusammengehörigen Einheiten (Listen) Personengruppen bildeten. Diese Einheit, genauer genommen „alle von gleicher Hand in einem Zuge eingeschriebenen Namen samt ihren Zusätzen“ definiert Karl SCHMID in der Neuedition des Reichenauer Verbrüderungsbuches 1979 als ‚Eintrag‘.26 Wenn auch eine Diskussion dazu, wie die nordischen von nicht-nordischen Namen abgegrenzt wurden, fehlt, lässt die Methodik von Finnur JÓNSSONS philologischer Namenanalyse einige Schlüsse über die zugrundeliegende Begriffs-bestimmung zu.27 Er beginnt seine Ausführungen mit den dreizehn isländischen Namen, den einzigen

|| 23 Ebd., S. 5. 24 Ebd., S. 13 f. „[…] ligesom det på forhånd ikke er usandsynligt, at der blandt de nordiske navne kan findes ikke-nordiske.“ 25 Ebd., S. 35. 26 SCHMID (Anm. 4), S. LXXXI. Ich ziehe es hier allerdings vor, von ‚paläographischen Einheiten‘ oder ‚Listen‘ anstatt von ‚Einträgen‘ zu sprechen, da der Begriff ‚Eintrag‘ in der philologisch-linguistischen Forschung den Prozess wie auch das Resultat einer Niederschrift bezeichnet. Wenn ich im Folgenden von ‚Nameneintrag‘ spreche, meine ich keine Namengruppe, sondern den im Manuskript auffindbaren Namenbeleg. SCHMID verdeutlicht zudem das methodische Prinzip, dass von einer Namengruppe einer paläographischen Einheit auf eine Personengruppe geschlossen wird, lässt aber nicht unerwähnt, dass sprachwissenschaftliche und namenkundliche Auswertungen ergänzend und auch gelegentlich als Korrektiv fungieren (ebd., S. LXXXI–XCII). Die Diskussion um die philologisch begründete Gruppenspezifik historischer Personen bildet eine wichtige Schnittstelle zwischen Philologie und Geschichtswissenschaft. Beispielsweise ist bekannt, dass Einträge von Listen ins Verbrüderungsbuch nicht unmittelbar geschehen mussten, sondern Listen auf Zetteln gesammelt und von einem Schreiber zu einem späteren Zeitpunkt in die Handschrift übertragen wurden. Zur Problematik etwa Wolfgang HAUBRICHS, Aspekte des philologischen Nachweises der Gruppenspezifität von Personennamen. Methodische Beobachtungen an einem Inschriftencorpus aus dem Poitou, in: Dieter GEUENICH, Wolfgang HAUBRICHS u. Jörg JARNUT (Hgg.), Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters (RGA-Ergänzungsbände 32), Berlin, New York 2002, S. 265–279; Steffen PATZOLD, Probleme der ethnischen Identifikation. Der Beitrag der Geschichtswissenschaft zu einem interdisziplinären Personennamenlexikon am Beispiel der Namen des Frankenreichs (Hagiographie/Historiographie), in: Eva BRYLLA, Mats WAHLBERG, in Zusammenarbeit mit Dieter KREMER u. Botolv HELLELAND (Hgg.), Proceedings of the 21st International Congress of Onomastics Sciences, Uppsala 19–24 August 2002, Bd. 4, Uppsala 2008, S. 135–151. 27 Vgl. JÓNSSON u. JØRGENSEN (Anm. 11), S. 15–36.

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Namen, bei welchen die gens („folkheden (nationaliteten)“28) als Überschrift genannt ist. Die restlichen Namen teilt er in solche ein, deren Ursprung gemäß seiner Einschätzung unzweifelhaft nordisch, und andere, deren Deutung unklar oder deren Herkunft nicht-nordisch (deutsch oder lateinisch) ist. Zu den nordischen Belegen stellt Finnur JÓNSSON jeweils ein altwestnordisches (an.) Lemma, d. h. er etymologisiert die Namen, und ordnet die Belegformen den Sprachregionen Isländisch, Dänisch, Schwedisch oder Norwegisch zu. Diese Klassifizierung nimmt er offenbar anhand von Vergleichen mit Belegformen aus anderen nordischen Quellen vor. Zwar nennt er diese nur in Einzelfällen, das Vorgehen kommt dennoch in Aussagen wie „nur in Ortsnamen [belegt]“29 oder „der Name ist insbesondere aus N[orwegen] bekannt“30 zum Ausdruck. Die Angaben hat Finnur JÓNSSON damals verfügbaren Namenbüchern entnommen.31 Gibt es zu einem nordischen Namen deutsche Entsprechungen, fügt er die entsprechenden Formen an.32 Unter den nicht-nordischen Namen listet Finnur JÓNSSON beispielsweise Adaluuine (8C4) auf, mit der Bemerkung, der Name ließe sich im Nordischen nirgends finden und er sei unzweifelhaft deutsch.33 Andere Belege sind weniger klar. Da äußert er Vermutungen über die Deutung, indem er sie zu nordischen Belegen stellt („Orina […] kann = Arina D[änemark], Arna S[chweden] sein“.34 Finnur JÓNSSONs Klassifizierung der nordischen Namen erfolgte somit in zwei Schritten. Zum einen etymologisierte er den Namenbeleg, indem er ihn einem altwestnordischen Lemma zuordnete, und zum anderen stellte er weitere Namenbelege hinzu, welche zur Klärung der nordischen Spezifik eines Lemmas herangezogen wurden. Die lautlichen und morphologischen Auffälligkeiten der als nordisch zu identifizierenden Namen beschreibt er im Anschluss an die Namensammlung summarisch, wobei er insbesondere auf die auffälligsten „Verdeutschungen“ in den schriftlichen

|| 28 Ebd., S. 15. 29 Ebd., S. 16: „[…] kun i stednavne“, Übersetzung MW. 30 Ebd., S. 23. „[…] navnet er særlig kendt fra N“, Übersetzung MW. 31 Auf diese Hilfsmittel kommt Finnur JÓNSSON (in JÓNSSON u. JØRGENSEN (Anm. 11), S. 36) im letzten Abschnitt des Artikels zu sprechen. Dazu gehörten Erik Henrik LIND, Norsk-isländska dopnamn ock fingerade namn från medeltiden, Uppsala u. Leipzig 1905–1915; Magnus Fredrik LUNDGREN, Erik BRATE u. Erik Henrik LIND, Svenska personnamn från medeltiden (Nyare bidrag till kännedom om de svenska landsmålen ock svenskt folkliv 10:6/7), Uppsala 1892–1934 und Oluf August NIELSEN, Olddanske personnavne (Universitets-jubilæets danske samfunds skriftserie 15), Kjøbenhavn 1883. Die beiden ersteren beurteilt Finnur JÓNSSON als vortrefflich, letzteres allerdings als unvollkommen und unkritisch. 32 Z. B. Alfger bei an. Alfgeirr, der in Reichenau als Alger (152C5) belegt ist, vgl. JÓNSSON in JÓNSSON u. JØRGENSEN, Anm. 11, S. 16. Woher diese Angaben stammen, wird nicht erwähnt. Ich gehe davon aus, dass JÓNSSON auf Ernst FÖRSTEMANN, Altdeutsches Namenbuch. I: Personennamen, 2., völlig umgearb. Aufl., Bonn 1900, zurückgegriffen hat. 33 Vgl. JÓNSSON in JÓNSSON u. JØRGENSEN (Anm. 11), S. 27. 34 Ebd., S. 31. „Orina […] kan være = Arina D, Arna S“, Übersetzung MW. Orina 152X2.

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Wiedergaben eingeht, z. B. ‫ۦ‬uo, ůۧ für nordisch /u:/ und als morphologische Auffälligkeiten z. B. die schwache deutsche Endung -o bei den Maskulina Boso, Tocho, Zoro, sowie Übersetzungen, z. B. deutsch gunt- für nordisch gunn- erwähnt.35 Diese Beobachtungen sind allerdings in der Belegsammlung bei den jeweiligen Namenformen leider nicht dokumentiert. Problematisch ist zudem, dass die sprachlichen Beobachtungen generalisierend und größtenteils aus skandinavistischer Perspektive angestellt werden und damit eventuelle sprachliche Schreiberspezifika unberücksichtigt bleiben. Erst Hans-Peter NAUMANN geht in der bisher ausführlichsten Dokumentation und Auswertung der nordischen Namen aus dem Jahr 1992 explizit auf den Überlieferungskontext als philologisches Selektionskriterium der „Namen nordischer Herkunft“ ein.36 Er konnte sich für seine Arbeit auf methodische Überlegungen stützen, die seitens der historischen Erforschung der Verbrüderungsbücher in den 70er- und 80er-Jahren vorangetrieben wurden. Außerdem lag ihm die Neuausgabe des Reichenauer Verbrüderungsbuchs innerhalb der neuen Reihe ‚Libri memoriales et Necrologia‘ der ‚Monumenta Germaniae Historica‘ aus dem Jahr 1979 als Arbeitsgrundlage vor.37 So unterscheidet er „nach Art und Kontext der Einschreibungen“ drei Überlieferungsformen: 1) Nordische Namen innerhalb deutscher Namenkollektive, 2) Einträge von Einzelnamen, und 3) Eintragskollektive zwischen zwei und mehreren Dutzenden von Namen, und bezieht sich auf Karl SCHMIDs oben genannte Definition von ‚Eintrag‘.38 NAUMANN erklärt, dass er bei der Erhebung der Namen von paläographischen Einheiten ausgegangen sei, was zur Folge hatte, dass in der von ihm bestimmten Gesamtzahl von 740 Namen belegen nicht nur „linguistisch als nordgermanisch bestimmbare“, sondern auch deutsche sowie christlich-lateinische bzw. griechische Bildungen enthalten sind, die sich „in Eintragskollektiven nordischer Spezifik“ finden lassen.39 NAUMANN listet die Namenbelege im dem Artikel angehängten Verzeichnis einmal nach paläographischen Einheiten, d. h. Listen (mit Angabe der zu unterscheidenden Hände), und einmal alphabetisch geordnet auf.40 Diese Vorgehensweise ist insbesondere für historische wie auch namensoziologische Zusammenhänge, auf die NAUMANN im Weiteren auch eingeht, zu begrüßen.

|| 35 Ebd. S. 23–27. 36 Vgl. NAUMANN (Anm. 12), S. 703. Zusätzlich zu den Namen im Reichenauer Verbrüderungsbuch erfasst Naumann eine 15 nordische Namen enthaltende Liste, die auf einem Nachtragsblatt des ‚Evangelistar der Reichenauer Münsterschatzkammer‘ angebracht ist und bei Walter BERSCHIN, Eremus und Insula St. Gallen und die Reichenau im Mittelalter. Modell einer lateinischen Literaturlandschaft, Wiesbaden 1987, S. 54 f. ediert ist. Zur Liste vgl. NAUMANN 1992 (Anm. 12), S. 705, 726. 37 Vgl. AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1). 38 Vgl. NAUMANN (Anm. 12), S. 704. 39 Vgl. ebd., S. 705. 40 Ebd., S. 724–728.

‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘? | 137

Allerdings lässt NAUMANN offen, wie die linguistische Bestimmung als nordgermanisch erfolgt ist. Wenn er auch in den onomastischen Ausführungen zu Bildungsweise und Motivik der belegten Namen auf Lemma-Niveau argumentiert,41 so vermisst man in der im Anhang befindlichen Liste die Angabe dieser abstrakten Ebene. Somit wird nicht diskutiert und folglich auch nicht transparent, wie die Belege den jeweiligen Lemmata zugeordnet und damit sprachlich spezifiziert sind. Dies ist insbesondere deshalb nicht unbedeutend, weil die Dekodierung der Namen bei einer Vielzahl der Belege unklar oder die sprachliche Zuordnung ambig ist, was schon Finnur JÓNSSON in seiner Analyse deutlich machte. NAUMANN erwähnt zwar das Problem einer unklaren Zuordnung, insbesondere die Abgrenzung zwischen deutschen und nordischen Namen(-formen) bei zweigliedrigen Namen, und macht klar, dass der nordische Überlieferungskontext den Ausschlag für eine sprachliche Zuordnung gegeben habe.42 Er zieht in seinen Ausführungen gelegentlich die Nachschlagewerke ‚Danmarks gamle personnavne‘ (DGP) und ‚Sveriges medeltida personnamn‘ (SMP) bei und verweist bei der Diskussion der regionalen Herkunftsbestimmung der Namenformen auf die jeweilige Beleglage sowohl von Anthroponymen als auch spezifischen Namenformen in Dänemark und Schweden.43 In seinem Artikel von 2009 zieht er zudem die wikingerzeitliche runische Beleglage bei, die in Lena PETERSONs ‚Runnamnslexikon‘ von 2007 erfasst ist.44 Um die Analyseschritte bei den einzelnen Namenbelegen nachzuvollziehen, bleibt einem in vielen Fällen allerdings nichts anderes übrig, als selber in den jeweiligen Referenzwerken nachzuschlagen. Zudem fehlen Angaben über den deutschsprachigen Kontext, was insbesondere bei Zweifelsfällen wichtig wäre. Was die Sprachkontakterscheinungen betrifft, erwähnt NAUMANN, dass eine systematisch linguistische Auswertung, welche die Kontaktphänomene und die graphematische Ausgangslage berücksichtigt, noch ausstehend ist.45 Er selber geht, wieschon Finnur JÓNSSON, allgemein und generalisierend auf die schriftlichen Repräsentationsformen und die Kontaktphänomene ein, ohne nach Händen oder Listenzugehörigkeit der Belegformen zu differenzieren.46

|| 41 Ebd., S. 717–720. 42 „Vor allem bei zweigliedrigen germanischen Namen ist gelegentlich schwer zu entscheiden, ob eine deutsche oder nordische Repräsentationsform vorliegt, wobei über die Provenienz aber letztlich der nordische Gesamtkontext des betreffenden Eintrags den Ausschlag gibt.“ Ebd., S. 716. 43 Ebd., S. 719. DGP = Gunnar KNUDSEN, Marius KRISTENSEN u. Rikard HORNBY, Danmarks gamle Personnavne. I. Fornavne, København 1936–1948. SMP = Kungliga vitterhets historie och antikvitetsakademien (Stockholm) Personnamnskommitté, Sveriges medeltida personnamn. Ordbok, Uppsala 1967. Online: http://www.sprakochfolkminnen.se/sprak/namn/personnamn/sverigesmedeltida-personnamn/smp---natutgava-och-fullstandigt-register.html (15.12.2015). 44 Lena PETERSON, Nordiskt runnamnslexikon, 5. überarb. Aufl., Uppsala 2007. 45 Vgl. NAUMANN (Anm. 12), S. 715. 46 Ebd., 715 f.

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Hans FIX, der sich zuletzt zu den nordgermanischen Namen in Reichenau geäußert hat, geht auch nicht explizit darauf ein, wie die Sprachbestimmungen ‚deutsch‘ und ‚nordgermanisch‘ voneinander abzugrenzen sind.47 Allerdings ist sein Beitrag in methodischer Hinsicht insofern richtungsweisend, als er sich auf eine Liste von dreizehn isländischen Namen (die sogenannte hiſlant t(er)ra-Liste, fol. 93r/p. 159A1) sowie auf ein linguistisches Problem, die Wiedergabe der maskulinen Endungen im Nominativ Singular begrenzt. Zudem bezieht er den deutschsprachigen Hintergrund des Schreibers mit ein und verweist in seinen Ausführungen auf Grammatiken des Altisländischen wie auch des Mittelhochdeutschen und berücksichtigt namenkundliche Referenzwerke für das Deutsche.

2.2 Methodische Überlegungen für eine Neubearbeitung Finnur JÓNSSONs und JØRGENSENs sowie NAUMANNS Bearbeitung leisten wertvolle Grundlagen für die philologische und namenkundliche Erschließung des nordgermanischen Namenkorpus im Reichenauer Verbrüderungsbuch. NAUMANNs Differenzierung der paläographischen Einheiten macht die materielle Zusammengehörigkeit der Namen deutlich und schafft damit nicht nur für linguistische und onomastische Studien die nötige objektive Basis, sondern auch für prosopographische oder sozialgeschichtliche Fragestellungen. Finnur JÓNSSON seinerseits leistet fachkundige Analysen der Namen aus skandinavistischer Perspektive. Die obigen Ausführungen legen allerdings offen, dass in diversen Punkten Nachholbedarf besteht. Um die Namenbelege als geschlossenes Korpus auswertbar zu machen, sei es linguistisch, namenkundlich oder historisch, müssen sie nicht nur gemäß ihrer ‚Überlieferungsform‘ (d. h. ihrer paläographischen Grundlage) zusammengestellt, sondern auch auf Lemma-Niveau, d. h. bezüglich ihrer Zugehörigkeit zu einem Anthroponym (type) klassifiziert werden. Einen Großteil dieser Arbeit hat Dieter GEUENICH im lemmatisierten Namenregister in der Ausgabe des Reichenauer Verbrüderungsbuchs schon geleistet.48 Allerdings fehlt da, soweit ich sehe, die sprachliche Spezifizierung, beziehungsweise die Angabe, auf welcher Sprachstufe das Lemma jeweils angesetzt ist. Das Namenglied germ. *þōr beispielsweise erscheint zumeist als thōr, gelegentlich aber auch als thór.49 Während es sich hier um die rein graphische Wiedergabe des Langvokals nach verschiedenen Konven-

|| 47 Hans FIX, Die isländischen Pilger auf der Reichenau und der Nominativ Singular, in: Hubert SEELOW (Hg.), Altnordische Tradition und christliches Mittelalter: Begegnungen mit dem Fremden (im Druck). 48 AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1), S. 31–214. 49 Ebd. S. 161.

‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘? | 139

tionen handelt, ó wird gewöhnlich für das Altnordische verwendet und ō für das Althochdeutsche und ältere Sprachstufen, so gestaltet sich die Interpretation eines Lemmas wie Cormac hingegen schwieriger, da diese Form auf den aus dem Gälischen stammenden Namen verweist, der jedoch ins Isländische entlehnt wurde und da als Kormakr erscheint bzw. lemmatisiert wird.50 Die detaillierte Beschreibung der sprachlichen Spezifik der Namen im Reichenauer Verbrüderungsbuch steht insgesamt noch aus. Weiter lässt sich aus der gegenwärtigen Editionslage nicht systematisch erschließen, wie die Namenbelege im Licht der Beleglage der jeweiligen einzelsprachlichen Onomastika zu sehen sind: In welchen Quellen und Regionen sind die entsprechenden Anthroponyme belegt? Welche Formvarianten treten regional oder in bestimmten sozialen Schichten auf? Sowohl Finnur JÓNSSON51 als auch NAUMANN52 stellen nur vereinzelte Bezüge zur Beleglage in Skandinavien her. NAUMANN wertet die regionale Spezifik gewisser Namen zwar aus, es fehlt jedoch, wie oben erwähnt, eine transparente Aufstellung der Vorgehensweise. In diesem Zusammenhang gilt es auch, das anglo-skandinavische Namenkorpus, das bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben ist, als Vergleichsmaterial beizuziehen.53 Hinzu kommt, dass die Überlieferung der Anthroponyme in deutschsprachigen Quellen bisher nur am Rande hinzugezogen wurde, und vorwiegend nur bei jenen Belegen, die nicht als ‚nordisch‘ galten. Eine angemessene Bewertung der Kontaktphänomene zwischen Deutsch und den nordgermanischen Sprachen ist jedoch nur auf der Grundlage der Beleglage beider Sprachregionen möglich. Das Reichenauer Namenkorpus ‚nordischer Spezifik‘ ist also einer neuen Bearbeitung zu unterziehen, die oben genannte Anliegen berücksichtigt und zudem modernen editorischen Anforderungen gerecht wird. In dieser Bearbeitung, die im Rahmen meines Forschungsauftrags in Arbeit ist, werden die Daten in einer relationalen

|| 50 Vgl. Assar JANZÉN, De fornvästnordiska personnamnen, in: Assar JANZÉN (Hg.), Personnamn (Nordisk kultur 7), Stockholm 1947, S. 140. 51 Vgl. JÓNSSON in JÓNSSON u. JØRGENSEN (Anm. 11). 52 Vgl. NAUMANN (Anm. 12). 53 Es besteht aufgrund der historischen Beziehungen zwischen Skandinavien und England (vgl. etwa Mia MÜNSTER-SWENDSEN, Educating the Danes: Anglo-Danish Connections in the Formative Period of the Danish Church, c. 1000–1500, in: Jón Viðar SIGURÐSSON u. Thomas SMÅBERG (Hgg.), Friendship and Social Networks in Scandinavia, c. 1000–1800 (Early European Research 5), Turnhout 2013, S. 153–174) durchaus die Möglichkeit, dass unter den bisher als Namen ‚nordischer Spezifik‘ behandelten Namen auch anglo-skandinavische zu finden sind. Für eine Liste (fol. 15v/p. 4X5–B5) ist eine englische Herkunft nicht nur aus paläographischen, sondern auch linguistischen Gründen klar (John INSLEY, persönliche Mitteilung).

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Datenbank elektronisch erfasst und sollen anschließend in eine Open-access-Plattform überführt werden.54 Folgende methodischen Überlegungen sind grundlegend für die neue Edition: Ausgangslage bilden wie in den bisherigen Bearbeitungen des Namenkorpus die paläographischen Einheiten. Für diese sollen zusätzlich die jeweiligen paläographischen Charakteristika dargelegt und nach Möglichkeit in die Reichenauer Schreibtradition eingeordnet werden. Die Lemmatisierung der Namenbelege erfolgt auf drei Abstraktionsstufen, die sich an jenen orientieren, die Gulbrandt ALHAUG für seine Untersuchung von dialektal überlieferten norwegischen Personennamen entwickelt hat.55 Die niedrigste Stufe bildet der Beleg in diplomatisch übertragener Originalschreibung, wobei etwaige eintragungstechnische (z. B. Tilgungen, Korrekturen) und graphetische (z. B. Abkürzungen, Majuskeln) Besonderheiten beschrieben werden.56 Um der Überlieferungssituation im mehrsprachigen Umfeld gerecht zu werden und die Belege für Sprachkontaktstudien aufzubereiten, werden für jeden Beleg die jeweiligen graphematischen, phonologischen, morphologischen und lexikalischen Charakteristika erfasst und möglichst einzelsprachlich bestimmt. Hier soll es auch möglich sein, Ambiguitäten als solche auszuzeichnen, das heißt sprachliche Überschneidungen zu deklarieren und unsichere Zuordnungen offenzulegen. Auf mittlerer Abstraktionsstufe werden die diversen Variantenschreibungen in einem phonetischen ‚Sublemma‘ zusammengefasst. Dabei richte ich mich, wo möglich und sprachlich gerechtfertigt, nach den in den einschlägigen regionalen Namenlexika angesetzten Zitierformen.57 Auf der höchsten Abstraktionsstufe wird ein etymologisches Lemma angesetzt. Basierend auf der arealen Überlieferungslage des Anthroponyms wird eine Entscheidung für die sprachliche Bestimmung getroffen. Ist es ein im Norden vorkommender

|| 54 In einem weiteren Schritt könnten auch andere außerskandinavisch überlieferte Namenbelege systematisch erfasst und einbezogen werden. Vgl. zu weiteren Gedenkbüchern mit Namen nordischer Spezifik NAUMANN (Anm. 8), S. 778–779. In denselben Zeitraum fallen einige wenige Namen aus byzantinischen Quellen, verzeichnet in: Roland SCHEEL, Skandinavien und Byzanz. Bedingungen und Konsequenzen mittelalterlicher Kulturbeziehungen (Historische Semantik 23), Göttingen 2015. 55 Vgl. Gulbrand ALHAUG, Lemmatisering av namnevariantar – ein nivåmodell basert på norsk materiale, in: Studia anthroponymica Scandinavica. Tidskrift för nordisk personnamnsforskning 10 (1992), S. 115–150. 56 Die meisten dieser Punkte sind bei AUTENRIETH, GEUENICH u. SCHMID (Anm. 1), S. 180–214 und/oder bei NAUMANN (Anm. 12), S. 724–726 schon verzeichnet, worauf die erneute Autopsie der handschriftlichen Belege aufbauen kann. Anhand einer elektronisch durchsuchbaren Datenbank ergibt sich jedoch die Möglichkeit, nicht nur für jeden Beleg alle Auffälligkeiten gesammelt zu verzeichnen, sondern auch alle Belege für eine spezifische Auffälligkeit abzurufen und so allfällige Schreibtraditionen und -prinzipien systematisch zu beschreiben. 57 Vgl. DGP, SMP (Anm. 43), LIND (Anm. 31).

‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘? | 141

Name, wird ein altwestnordisches Lemma angesetzt, konzentriert sich die Überlieferung auf Quellen auf deutschsprachigem Gebiet, erscheint das Lemma in einer althochdeutschen Zitierform. Anthroponyme, die in beiden Regionen vorkommen, werden dementsprechend ausgezeichnet und beiden Lemmata zugeordnet. In allen Fällen wird in der Datenbank die rekonstruierte germanische Form angegeben und, falls möglich, auf das entsprechende Lemma in der ‚Nomen et Gens‘-Datenbank58 verlinkt. Die sprachliche Bestimmung erfolgt somit einmal für den type, d. h. das etymologische Anthroponym, sowie für den jeweiligen Beleg auf token-Niveau. Die Erfassung in der Datenbank lässt jedoch auf beiden Ebenen Spielraum für eine mehrfache Zuordnung. Im Folgenden zeige ich das Vorgehen der sprachlichen Bestimmung und die damit verbundenen möglichen Probleme anhand dreier etymologischer Namenlemmata (types) und deren jeweiligen Belegen (tokens) auf.

3 Drei Beispiele 3.1 Altnordisch (an.) Þrketil Þrketil ist ein rein nordischer, d. h. vor allem in nordischen Quellen überlieferter Männername mit dem Erstglied Þr- < germ. *þunra- ‚Thor (Theonym)‘59 und dem Zweitglied -ketil ‚Kesselhut, Helm‘ .60 Unter dem Lemma an. Þrketil, das GEUENICH als thōr katil angibt,61 sind folgende 18 Belege in 10 Variantenschreibungen zu verzeichnen: Dorchil (p. 140X1), Drochil (p. 161C4, p. 161D4), Druchil (p. 156X4), Drukel (p. 151C4, p. 151C4), Drukil (pp. 138X4, 152X3, 152X5), Durchgetil (p. 8C3), Durchil (pp. 151A4, 151B2, 151C1, 151X1, 161B2), Thorkil (p. 159X2), Trucul (p. 94X3), Truggel (p. 162B2).62

|| 58 Online-Datenbank von Personennamen kontinentaleuropäischer gentes vom 4. bis 8. Jahrhundert. Universität Tübingen. „Projekt Nomen et Gens.“ Seminar für mittelalterliche Geschichte Universität Tübingen 2008, http://www.neg.uni-tuebingen.de (19.12.2017). Zum Konzept der Datenbank vgl. Walter KETTEMANN, Vom Überlieferungsbefund zur Ergebnispräsentation. Konzeption und Organisation der datenbankbasierten Projektarbeit, in: Dieter GEUENICH u. Ingo RUNDE (Hgg.), Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische, soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten ihrer Träger (Deutsche Namensforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2), Hildesheim 2006, S. 41–53. 59 Vgl. JANZÉN (Anm. 50), S. 93–94. 60 Ebd., S. 106, 43. 61 GEUENICH (Anm. 1), S. 161 (th 155). 62 Vgl. ebd.

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Gestützt auf morphologische und phonetische Kriterien lassen sich aus den Belegen die Sublemmata Thorketil, Thorkil und Throkil bestimmen (Zuordnung vgl. Tabelle 1). In Thorketil zeigt sich die zweigliedrige morphologische Struktur des älteren Þrketil. Bei den beiden anderen Formen ist das unbetonte Zweitglied kontaminiert, was sowohl im Westnordischen63 als auch im Ostnordischen (Schwedischen64 und Dänischen65) vorkommt. Die Variante Throkil mit Metathese or > ro ist spezifisch dänisch und erscheint ab Anfang des 12. Jahrhunderts.66 Die metathetischen Formen bilden mit 10 Belegen die größte Gruppe, gefolgt von Thorkil (7 Belege) und Thorketil (1 Beleg). Die Varianten stammen von elf verschiedenen Schreibern.67 In Tabelle 1 sind neben Datierung68 auch die Kontaktphänomene69 angegeben. Tab. 1: Reichenauer Variantenschreibungen für an. Þrketil verteilt auf die einzelnen Schreiber

Sublemma

Belege

Schreiber

Datierung

Kontaktphänomene

Thorketil (Anzahl Belege: 1)

Durchgetil (Anzahl Belege: 1)

HA_8

evtl. vor 1100

l (thor > durch), pg ([k] → ‫ۦ‬gۧ)

Thorkil (7)

Dorchil (1)

HA_140A

evtl. vor 1100

Durchil (5)

HA_151A_1 61B

Um 1100

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [k] → ‫ۦ‬chۧ)

Thorkil (1)

HA_159B

Um 1100

Trucul (1)

HA_94

evtl. vor 1100

Throkil (10)

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ, [k] → ‫ۦ‬chۧ) -

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬tۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ, [k] → ‫ۦ‬cۧ, [i] →

|| 63 Vgl. LIND (Anm. 31), Sp. 1184–1187. 64 Vgl. SMP (Anm. 43), Lemma Thorkil, ab dem 12. Jahrhundert belegt (Lexikoneintrag noch unpubliziert). 65 Vgl. DGP (Anm. 43), S. 1389–1395. 66 Vgl. ebd.; Rikard HORNBY, Fornavne i Danmark i middelalderen, in: Assar JANZÉN (Hg.), Personnamn (Nordisk kultur 7), Stockholm 1947, S. 191. 67 Bestimmung nach NAUMANN (Anm. 12). 68 Nach NAUMANN (Anm. 12), S. 707, der sich insbesondere auf die kodikologischen Angaben bei AUTENRIETH (Anm. 3) stützt. Eine genauere Datierung sollte aus einem noch zu leistenden paläographischen Befund abgeleitet werden. 69 pg = phono-graphematisch, l = lexikalisch (= Übersetzung oder volksetymologische Umdeutung). Die Angaben gehen auf Grund der Bestimmung des Anthroponyms als nordgermanisch von einer nordgermanischen Ausgangsform (Gebersprache, L1) und einer ‚deutschen‘ Zielform (Zielsprache, L2) aus.

‚Deutsch‘ oder ‚nordgermanisch‘? | 143

Sublemma

Belege

Schreiber

Drukil (1)

HA_138

Drukil (2)

HA_152A

Drukel (2)

HA_151B

Druchil (1)

HA_156B

Drochil (2)

HA_161D

Truggel (1)

HA_162B

Datierung

Kontaktphänomene

Um 1100

‫ۦ‬uۧ)

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ)

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ) pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ, [i] → ‫ۦ‬eۧ)

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ, [k] → ‫ۦ‬chۧ)

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬dۧ, [k] → ‫ۦ‬chۧ)

pg ([ϴ] → ‫ۦ‬tۧ, [o(:)] → ‫ۦ‬uۧ, [k] → ‫ۦ‬ggۧ, [i] → ‫ۦ‬eۧ)

Betrachtet man die Verteilung der Variantenschreibungen auf die einzelnen Schreiber, fällt zum einen auf, dass beinahe alle Varianten je einem Schreiber geschuldet sind. Nur eine Form, Drukil, wurde von zwei verschiedenen Händen (HA_138 und HA_152A) benutzt. Zum andern zeigt sich, dass die einzelnen Schreiber sich jeweils an eine Schreibvariante hielten, wenn der Name in ihren Listen mehrmals vorkam. Die diversen Schreibungen können somit als idiosynkratische Schreibungen betrachtet werden. Was die Namenformen betrifft, zeigen sich im Vergleich mit den Schreibungen in nordischen Quellen mit der einzigen Ausnahme von Thorkil (159X2) deutliche deutschsprachige Einflüsse und zwar vor allem auf phono-graphematischer Ebene. Dieser Kontakttyp zeichnet sich insgesamt als häufigster Vertreter im Reichenauer Korpus der nordgermanischen Namen ab.70 Eine detaillierte Auswertung der sprachlichen Charakteristika wird an anderer Stelle folgen, ich gehe im vorliegenden Beitrag nur kursorisch auf die wichtigsten Interferenzen ein. Aus nordgermanischer Perspektive augenfällig sind die Schreibungen des stimmlosen dentalen Frikativs [ϴ] im Anlaut mit ‫ۦ‬dۧ. Diese Schreibvariante kommt in Skandinavien erst in spätmittelalterlichen schwedischen Quellen vor, in früherer Zeit überwiegen neben der einheimischen

|| 70 Vgl. Michelle WALDISPÜHL, Flerspråkiga medeltida pilgrimer? En kontaktonomastisk pilotstudie av de nordiska personnamnen från Reichenau, in: Tom SCHMIDT u. Inge SÆRHEIM (Hgg.), Namn som kjelder, Uppsala 2017, S. 260–274.

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Schreibung ‫ۦ‬þۧ die Varianten ‫ۦ‬tۧ und ‫ۦ‬thۧ.71 Es scheint daher plausibel, dass diese Schreibungen per Diktat und nicht via Abschrift von Listen aus skandinavischer Hand entstanden sind. Eine zweite phonographische Integration ins Deutsche, die Anzeichen auf eine mündliche Vermittlung gibt, sind die ‫ۦ‬chۧ-Schreibungen, welche in Skandinavien ebenso weniger häufig sind als im deutschsprachigen Gebiet.72 Mit der Ausnahme von Thorkil (159X2) sind die Namen somit mit großer Wahrscheinlichkeit in einem primären Verschriftungskontext per Diktat von deutschen Schreibern notiert worden. Bei Thorkil (159X2) gibt eine Korrektur, die Tilgung eines ‫ۦ‬kۧs zwischen ‫ۦ‬uۧ und ‫ۦ‬kۧ,73 gar ein Indiz dafür, dass genau hier mit einer schriftlichen Vorlage gearbeitet wurde. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass auch die anderen Namenbelege in einem sekundären Verschriftungsprozess von einer schon vorhandenen Liste abgeschrieben wurden und außerdem kann eine Korrektur auch bei mündlicher Vermittlung geschehen. Die sprachlich-philologische Analyse bietet also eigentlich eine deutliche Ausgangslage für die Interpretation von ‚deutsch‘ und ‚nordgermanisch‘: Das Anthroponym ist auf Grund der Beleglage wie auch aus lexikalisch-etymologischen Gründen nordgermanisch, die Mehrheit der Schreibvarianten im Reichenauer Verbrüderungsbuch zeigen hingegen deutliche deutsche Merkmale. Die deutschen Einflüsse sind somit sekundär im Verschriftungskontext zu sehen. Nur ein einziger Beleg zeigt keine linguistischen Spuren eines deutschen Einflusses, abgesehen vom Schrifttypus, der eher in die süddeutsche Schreibtradition gehört, und in der Tilgung offenbart sich die Bearbeitung des schriftlichen Eintrags. Der Schluss auf eine schriftliche Vorlage anstelle einer mündlichen stellt sich allerdings als weniger offensichtlich heraus, wenn man den Beleg nicht nur im Kontext der Varianten desselben Lemmas, sondern im Kontext der Varianten derselben Liste, d. h. aller Belege desselben Schreibers betrachtet. Die Liste weist folgende Namenbelege auf: Gunnor. Osâ. Tiure. Trugiles. Trugis. Ketil. Darri. Alf. Dola. Hemming. Zorth. Esa. Sporri. Thola. Folkis. Sorli. Gude. Thorkil. Zure. Zuri. Asegut. Zure. Steini. Tuole. Aslath. Estret. Askelet.74 Wenn auch die Identifikation einiger dieser Namen bisher noch unklar ist, so kann man dennoch feststellen, dass auch in dieser Liste die deutschen Kontaktphänomene nicht fehlen. Beispielsweise erscheint ein deutsches Digraph ‫ۦ‬uoۧ für den nordischen Langvokal [o:] in Tuole (zum Sublemma Tuli < Tóli) sowie die Schreibung ‫ۦ‬zۧ für den stimmlosen, dentalen Frikativ [ϴ] in Zure (zum Lemma Þórir, bzw. Sublemma Thuri). Die Betrachtung des Belegs im unmittelbaren Überlieferungskontext zeigt also hier, dass der aus sprachlicher Sicht sowohl auf type- als auch auf token-Niveau als nordgermanisch zu || 71 Vgl. DGP (Anm. 43), SMP (Anm. 43), LIND (Anm. 31). Inwiefern aus diesen Formen Schlüsse auf eine mögliche skandinavische Aussprache zu ziehen sind, gilt es im Rahmen des Gesamtkorpus noch zu klären. 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. GEUENICH (Anm. 1), S. 206. Vgl. auch NAUMANN (Anm. 8), S. 726. 74 Vgl. NAUMANN, ebd.

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bestimmende Beleg Thorkil zusammen mit Namen erscheint, die auf token-Niveau deutsche Merkmale aufweisen und daher eher mündlich als schriftlich vermittelt worden waren. Man könnte hier in der Interpretation soweit gehen und konstatieren, dass die nordgermanische Form von einem vor Ort anwesenden, schriftkundigen Nordgermanen vermittelt wurde und vielleicht auch deshalb gerade dieser Beleg Korrekturen aufweist. Die große Variation in den Belegen für an. Þrketil ist allerdings primär im Licht der mittelalterlichen volkssprachlichen Schreibpraxis, bei der schreiberspezifische Variation der Normalfall und nicht die Ausnahme darstellt,75 zu sehen. Es gab keinen überregionalen Standard mit normierten Wortschreibungen, an dem sich mittelalterliche Schreiber orientierten, weshalb wir grundsätzlich davon ausgehen können, dass sowohl Schreiber als auch Leser zu dieser Zeit toleranter waren gegenüber sprachlicher Variation und folglich auch Ambiguität als dies in Gesellschaften mit standardisierten Sprachen der Fall ist. Hinzu kommt im vorliegenden Fall eine Überschichtung durch die Kontaktsituation, die bei den Schreibern wohl zu Unsicherheit und daraus resultierend zu kreativen, individuellen Schreiblösungen geführt hat.

3.2 an. Vilborg Bei Vilborg handelt es sich um einen zweigliedrigen Frauennamen, dessen Erstglied zu germ. *vilja ‚Wille, Wunsch, Verlangen‘ und das Zweitglied zu germ. *burg (< *berga- ‚bergen‘) gestellt wird.76 Das Anthroponym findet sich sowohl im deutschen als auch im nordgermanischen Onomastikon.77 Für dieses Lemma lässt sich in den Listen mit nordgermanischer Spezifik im Reichenauer Verbrüderungsbuch nur ein Beleg finden: VVilliburg (159A2). Es handelt sich um einen der dreizehn Namenbelege aus der Liste mit der Überschrift hiſlant t(er)ra.78

|| 75 Vgl. etwa Michael ELMENTALER, Prinzipien und Motive des Schreibens in vormoderner Zeit, in: Elvira GLASER, Annina SEILER u. Michelle WALDISPÜHL (Hgg.), LautSchriftSprache. Beiträge zur vergleichenden historischen Graphematik, Zürich 2011, S. 17–30. 76 Vgl. FÖRSTEMANN (Anm. 32), Sp. 347, 1596. GEUENICH (Anm. 1), S. 173 (w 368) lemmatisiert wili burg. 77 Im Deutschen mehrfach belegt als Uuilleburc, Uuilleburch, Uuilleburg, Uuilliburg, Uuilliburc (vgl. FÖRSTEMANN (Anm. 32), Sp. 1569–1570; Adolf SOCIN, Mittelhochdeutsches Namenbuch nach oberrheinischen Quellen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, Basel 1903, S. 128). Der Name ist im Reichenauer Verbrüderungsbuch 14 Mal vertreten und kommt in diversen Listen ohne ‚nordgermanische Spezifik‘ vor (vgl. GEUENICH, ebd.). Die skandinavischen Belege des Namens lassen sich in mittelalterlichen schwedischen und norwegisch-isländischen Quellen finden (schwed. Wilborg, sechs Belege, Aussagen über Variantenschreibungen lassen sich noch nicht treffen, da der Artikel unpubliziert ist, vgl. SMP (Anm. 43) und isl.-norw. Vilborg, vgl. LIND (Anm. 31), Sp. 107–108, allerdings nicht in dänischen, vgl. DGP (Anm. 43). 78 GEUENICH (Anm. 1), S. 173 (w 368).

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Betrachtet man die Namenform VVilliburg aus skandinavistischer Perspektive, zeigen sich eine als phono-graphematisch zu klassifizierende Interferenz aus dem Deutschen (aisl. [o] → ‫ۦ‬uۧ) sowie eine meiner Meinung nach eher als lexikalisch anzusehende Interferenz in der Übersetzung des Erstglieds aisl. Vil- durch das deutsche Kognat VVilli-. Dieser Name ist jedoch genau in dieser Form auch im deutschen Onomastikon belegt. Aus germanistischer Sicht erweisen sich deshalb überhaupt keine fremdsprachlichen Auffälligkeiten, weder was die phono-graphematische noch was die lexikalische Form angeht. Das einzige Argument, diesen Namenbeleg als ‚nordgermanisch‘ zu klassifizieren, liefert hier der Überlieferungskontext, d. h. die Zugehörigkeit zu einer durch die Überschrift geografisch spezifizierten Liste, in der darüber hinaus Namenbelege vorkommen, die bezüglich Beleglage eindeutiger im nordgermanischen bzw. spezifisch isländischen Onomastikon verortet werden können (wie z. B. Keiloc 159A2 zu Geirlaug). Ein Vergleich der Schreibungen dieser dreizehn Namen mit denjenigen aus der isländischen Überlieferung legt außerdem diverse eindeutig phono-graphematische Integration ins Deutsche seitens des Schreibers offen.79 Aus dieser kontextuellen Analyse lässt sich die primäre Verschriftungssituation so rekonstruieren, dass Isländer ihre Namen vorsprachen und der deutsche Schreiber sie gemäß den Möglichkeiten seines schreibsprachlichen Repertoirs notierte. Diese kontextbedingten Argumente sprechen somit eher dafür, dass wir bei VVilliburg von einer isländischen Namenform [ʋilbiɔrg] ausgehen können, die im Zuge der Verschriftung vom Schreiber mit dem deutschen Kognat in Verbindung gebracht und verdeutscht notiert wurde. Allerdings bleibt nicht ausgeschlossen, dass dem/der isländischen Sprechenden80 die deutsche Namenform bekannt war und sie/er den Namen schon beim Vorlesen ins Deutsche übertragen hatte. Selbst die Möglichkeit, dass eine Trägerin des deutschen Namens zusammen mit den Träger/innen der isländischen Namen in einer Liste auftaucht, ist nicht auszuschließen. Dieser Beleg muss bezüglich sprachlicher Bestimmung und Interpretation als ambig stehen bleiben.

3.3 an. Karlshǫfuð Karlshǫfuð ist ein zweigliedriger Männername, dessen Erstglied zu germ. *karla‚Mann‘ und Zweitglied zu germ. *-haubida ‚Kopf‘ gestellt werden kann. Der Name ist || 79 Zur Systematik dieser Kontaktphänomene vgl. Michelle WALDISPÜHL, Historische Rufnamen im Kontakt. Integration in die mittelhochdeutsche Schreibsprache der altisländischen Pilgernamen auf der Reichenau (im Druck). Zuletzt zu denselben Namen FIX (Anm. 47). 80 Es handelt sich zwar um einen Frauennamen, da jedoch auch eine Situation vorstellbar ist, in der eine allenfalls schon bestehende Liste vorgelesen wurde, formuliere ich genderneutral.

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im nordgermanischen, insbesondere im westnordischen Onomastikon belegt, im deutschen nicht.81 Zu erwähnen ist allerdings, dass die beiden Namenelemente im Lexikon der nordgermanischen Sprachen wie auch des Deutschen als Appellative vorkommen (an. karl ‚Mann, freier Mann‘ und hǫfuð ‚Kopf‘; mhd. karl ‚Mann, Ehemann, Geliebter‘ und houbet ‚Kopf‘).82 Dieser Name ist in den Reichenauer Listen nur einmal verzeichnet: Ka(r)leshoub(it) (151X3).83 Das Anthroponym ist, vom vorliegenden Beleg absehend, ausschließlich in nordischen Quellen belegt und kann somit als ‚nordgermanisch‘ klassifiziert werden. Was die formalsprachlichen Merkmale der Belegform betrifft, zeigen sich jedoch, wo überhaupt voneinander abgrenzbar, keine nordgermanischen, sondern als deutsch zu klassifizierende Charakteristika. Während das Erstglied als Simplex in derselben Form in beiden Sprachregionen vorkommt und deshalb kein Anlass für eine sprachliche Integration in die andere Sprache bestand, ist houbit ein rein deutsches Lexem mit Diphthong [ou] und Endung -it (> mhd. -et). Das altnordische Kognat zu ahd. houbit ist laut KLUGE u. SEEBOLD haufuð, wobei daneben die monophthongische Form -hǫfuð existiert, welche direkt mit lat. caput zu vergleichen ist.84 Es handelt sich hier um eine lexikalisch-semantisch korrekte Übersetzung des nordgermanischen Namenteils ins Deutsche. Da sich die phonologische Struktur des nordgermanischen Zweitglieds -hǫfuð bei drei Lauten eher deutlich ([ǫ]-[ou], [v]-[b], schwachtonig [u]-[i])85 vom deutschen appellativischen Kognat unterscheidet, ist eher nicht davon auszugehen, dass ein deutscher Schreiber den Namenteil aus der gesprochenen Vorlage adhoc mit dem || 81 Vgl. für das Deutsche: FÖRSTEMANN (Anm. 32), Sp. 359–360. Das Erstglied kommt jedoch in anderen Namen sowie als eingliedriger Name vor; zahlreiche isländisch-norwegische Namenbelege vgl. LIND (Anm. 31), Sp. 678–679; einige wenige Belege gibt es auch im Altdänischen vgl. DGP (Anm. 43), Sp. 729, im Schwedischen jedoch fehlen Belege. Der eingliedrige Name Karl kommt in allen skandinavischen Onomastika vor. 82 Außerdem existiert im Altnordischen karlshǫfuð auch als Appellativum mit der Bedeutung ‚(geschnitzter) Männerkopf‘, vgl. Walter BAETKE, Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. 2., durchges. Aufl, Berlin Ost 1976, S. 319. 83 r ist als Korrektur über a eingefügt, ƀ steht aus Platzmangel am Seitenrand über u und ist als -bit aufgelöst, vgl. GEUENICH (Anm. 1), S. 205, 118 (k 10); NAUMANN (Anm. 12), S. 725. 84 Zur Etymologie vgl. Friedrich KLUGE u. Elmar SEEBOLD, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25., durchges. und erw. Aufl., Berlin 2012 (online). 85 Ob auch das Lautpaar [ð]-[t] hier hingehört, ist momentan noch nicht klar. Da die dentalen Frikativlaute [ð] und [ϴ] im Lautsystem des Deutschen nicht existierten, gibt es in der Schreibsprache auch keine Grapheme. Ein systematischer Vergleich von Verschriftungsweisen der nordgermanischen Namen muss erst noch zeigen, ob ein deutscher Schreiber [ð] als systemfremden Laut identifizierte und in der Verschriftung als solchen kennzeichnete oder mit [t] gleichsetzte. Gemäß meinen bisherigen Analysen (vgl. WALDISPÜHL, Anm. 79) zeichnet es sich eher ab, dass nordgerm. [ð] von deutschen Schreibern als [d] wahrgenommen wurde. Allerdings treten stimmhafte Plosive im Auslaut, von der mhd. Auslautverhärtung betroffen, nicht selten stimmlos auf.

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einheimischen Lexem houbit in Beziehung gesetzt haben könnte. Wahrscheinlicher ist meiner Ansicht nach eine elaboriertere Sprachvermittlung, die wechselseitig (bilinguale) deutsch-nordgermanische Sprachkompetenzen, d. h. lexikalische Kenntnisse der entsprechenden nordgermanischen Sprache und des Deutschen, oder zumindest eine Vermittlung der Semantik via Gesten (z. B. durch Zeigen auf den Kopf) erfordert. Die Überlieferungslage spricht dabei eher dafür, dass diese Vermittlung von den Pilgern ausgegangen ist. Der Beleg Ka(r)leshoub(it) findet sich in einer Liste (151C2–5,X1–4,A5–X5) zusammen mit diversen deutschen Namen (Alberich, Folkerich, Ruodolf, Pertolt). Interpretiert man dies dahingehend, dass es sich um eine gemischte Reisegruppe mit deutsch- und nordgermanisch-sprachigen Pilgern handelte, wäre es nicht undenkbar, dass in dieser Gruppe mehrsprachige Kommunikation und mündlicher Sprachkontakt vorkamen. Dieser Kontakt könnte das Interesse für die Anderssprachigkeit geweckt, das metasprachliche Bewusstsein gestärkt und damit die Übersetzung des Namens angeregt haben.

4 Schluss Im Zusammenhang mit der Frage, wie die sprachlichen Labels ‚nordgermanisch‘ oder ‚deutsch‘ auf die im Kontext von Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt verschrifteten Personennamen im Reichenauer Verbrüderungsbuch anzuwenden sind, bin ich in diesem Beitrag ebenfalls darauf eingegangen, inwiefern die Namenbelege über die Verschriftungssituation sowie sprachliche Kompetenzen seitens der Akteure Aufschluss geben. Für die Bestimmung sprachlicher Merkmale bewährte sich die analytische Trennung zwischen (etymologischem) type-Niveau und graphematischem token-(Beleg-) Niveau. In den drei Analysebeispielen hat sich gezeigt, dass ausgehend von der areallinguistischen Verortung des Anthroponyms die formalsprachlichen Merkmale des Namenbelegs als ‚eigen‘ bzw. ‚fremd‘ (d. h. als Sprachkontaktphänomen) festgelegt und beschrieben werden können. Durch diese klare Trennung wird es bei der weiteren Bearbeitung des Namenkorpus möglich sein, die Kontaktphänomene in einer Datenbank systematisch zu erfassen und auszuwerten. Es ging aus den Beispielsanalysen jedoch auch hervor, dass ambige Formen vorkommen können, bei denen eine sprachliche Bestimmung weder auf Beleg- noch auf Lemma-Niveau vollständig klar ist. Die beiden Sprach(grupp)en ‚nordgermanisch‘ und ‚deutsch‘ sind miteinander verwandt, d. h. sie weisen sprachliche Ähnlichkeiten auf und waren (bzw. sind) für Sprechende der jeweiligen Sprachen partiell gegenseitig verständlich. Die Sprachen teilen sich nicht nur gewisse Phoneme, Lexeme oder Morpheme, sondern es gibt ebenfalls Anthroponyme, die sprachenübergreifend vorkommen. Dieser Umstand erschwert oder verhindert in einigen Fällen die eindeutige

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Zuordnung zu einem Sprachraum und bedeutet, dass diese Fälle isoliert nicht als Belege für kontaktlinguistische Untersuchungen in Frage kommen können. Diese für die strikt strukturalistisch verfahrende Sprachwissenschaft methodisch problematische Lage legt jedoch offen, dass Sprachgrenzen in der Realsprache unscharf sind. In den Beispielanalysen wurde zudem klar, dass der Überlieferungskontext in der Handschrift in jedem Fall hinzuzuziehen ist. Keiner der nordischen Namenbelege erscheint als Einzeleintrag, alle gehören zu einer Gruppe von Namen, einer Liste, die von einem Schreiber eingetragen wurde. Der Vergleich aller Namenbelege des Lemmas Þrketil über verschiedene Listen hinweg hat ergeben, dass es beinahe so viele Variantenschreibungen wie Schreiber gibt. Dieser hohe Grad an schreiberbasierter Variation steht allerdings in der zeitgenössischen Tradition volksprachigen Schreibens und stellt deshalb keine Merkwürdigkeit dar. Mittelalterliche Schriftkundige waren mit Variation in der Schrift, bzw. aufgrund eines fehlenden überregionalen Standards insgesamt mit volkssprachiger Vielfalt vertraut, was mitunter auch einen Einfluss auf die sprachliche Ambiguitätstoleranz hatte. Der Beleg VVilliburg, der auf token-Niveau als deutsch erscheint, konnte unter Berücksichtigung des Listenkontexts mit großer Wahrscheinlichkeit als Kontaktphänomen, d. h. als korrekte Übersetzung des aisl. Kognats Vilborg, bestimmt werden, wenn auch andere Interpretationsmöglichkeiten letztlich nicht völlig ausgeschlossen werden können. Hingegen ließ sich unter Einbezug des Überlieferungskontexts die nordische Spezifik des Namenbelegs Thorkil, der mit nordischen Schreibungen übereinstimmt, wieder relativieren, da Belege in derselben Liste deutsche Kontakteinflüsse aufweisen. Ob dies an einer nicht mehr rekonstruierbaren Überlieferungskette liegt, in der verschiedene Listen auf Zetteln zusammengefügt wurden und in einer sekundären Abschrift ins Reichenauer Verbrüderungsbuch gelangten, ob ein schriftkundiger Skandinavier bei der Niederschrift anwesend war, der den Namen auf genau diese Weise niedergeschrieben haben wollte, oder ob wir es gar mit einer mehrsprachigen Person zu tun haben, muss offen bleiben. Im Fall des korrekt aus dem Nordgermanischen ins Deutsche übersetzten Ka(r)leshoub(it) diente der Listenkontext als stützendes Argument für mehrsprachige Bewusstheit oder gar mögliche Deutschkompetenzen bei nordischen Pilgern. In derselben Liste kommt neben den nordischen Namen eine Reihe von deutschen Namen vor. Das Argument hält aber nur stand, wenn wir davon ausgehen, dass von einer Liste auf eine real gemeinsam reisende Personengruppe geschlossen werden kann. Diese Annahme steht jedoch in einem gewissen Widerspruch zum eben erwähnten Kontext der Thorkil-Liste. Es hat sich aber sicherlich als grundlegend erwiesen, dass die jeweiligen Listen in erster Linie individuell zu betrachten und zu untersuchen sind. Erst in einem zweiten Schritt können wir Tendenzen vergleichen und generelle Schlüsse auf sprachliche und historische Vorgänge ziehen. Der Ka(r)leshoub(it)-Beleg ist als Ausdruck eines Sprachbewusstseins für das Deutsche als fremde Sprache zu deuten, wohingegen die diversen und divergierenden Integrationsweisen bei den anderen Namen vielmehr Ausdruck von fehlendem

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Fremdsprachen- und sprachlichem Metawissen sind. In der großen Vielfalt an Schreibern und Pilgern überrascht es jedoch nicht, unter den verschiedenen Akteuren eine Heterogenität bezüglich Sprachwissen vorzufinden. Eine interessante weiterführende Frage wäre, wie die volkssprachigen Varietäten und deren Unterschiede von Zeitgenossen wahrgenommen wurden und ob eine ambige Sprachwahrnehmung, d. h. ein (aus heutiger Sicht) ‚unscharfes‘ Konzept von Einzelsprachen, Konsequenzen für eine offenere Zuordnung von Sprache (bzw. genauer: sprachlicher Zugehörigkeit), geographischer Herkunft und sozialer Identität zur Folge hatte. Im Rahmen dieser Frage bilden die Rufnamen eine Spezialkategorie, da sie einerseits direkt auf ein Individuum referieren und dieses identifizieren, somit eng an dessen soziale Identität geknüpft sind, und andererseits bekanntlich Moden ausgesetzt waren und nicht nur aus ererbtem, sondern auch entlehntem Nameninventar geschöpft wurden.

 

Christof Rolker

Genitalien vor Gericht ‚Uneindeutiges‘ Geschlecht in der gerichtlichen Praxis des 14. Jahrhunderts Zusammenfassung: Geschlechtlich uneindeutige Körper sind und waren historisch in vielfacher Weise „unsichtbar“ – zugleich haben und hatten sie erhebliches Skandalisierungspotential. Mein Beitrag untersucht die Bedingungen sowohl für die Skandalisierung als auch für das sehr alltägliche, unauffällige doing gender von „Hermaphroditen“ in den spätmittelalterlichen Gesellschaften Westeuropas. Für beides, sowohl die (oft sexualisierte) Skandalisierung als auch die Alltäglichkeit des Umgangs mit uneindeutigen Körpern, gibt es viele Belege aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten, die es verbieten, große Zeiträume pauschal als „tolerant“ oder „intolerant“ gegenüber geschlechtlich uneindeutigen Körpern zu kategorisieren. Dennoch lassen sich um 1500 Veränderungen beobachten, die nicht nur (aber dort sehr deutlich) im Bereich des gelehrten Wissens und der Strafnormen eine fundamentale Veränderung im Umgang mit geschlechtlich uneindeutigen Körpern bedeuteten. Meine These ist, dass es vor allem die Neudefinition devianter weiblicher Sexualität war, die diese Veränderungen bis in alltägliche Zusammenhänge hinein prägte: Veränderte medizinische Erklärungen weiblicher Sexualität, eine neue Aufmerksamkeit für die nun (wieder) so genannte „Tribadie“ und eine Neudefinition des Sodomie-Deliktes kreisten immer wieder auch um geschlechtlich uneindeutige Körper – und veränderten massiv die Bedingungen, unter denen Menschen mit uneindeutigen bzw. doppelten Geschlechtsorganen lebten. Schlüsselwörter: Rechtsgeschichte, gender studies, Geschlecht, Hermaphroditen, Rechtstheorie, Norm und Praxis Dass die Geschlechterdifferenz zu den zentralen Unterscheidungen gehörte, die die mittelalterlichen Gesellschaften strukturierte, scheint evident. Ebenso ist die Annahme sehr plausibel, dass ‚Ambiguität‘ in Bezug auf das Geschlecht zum Problem werden konnte, „wo sie Leitdifferenzen der gesellschaftlichen Ordnung verwischt und verunklart“.1 Ob die Geschlechterdifferenz im engeren Sinne als binäre Unterscheidung rekonstruiert werden kann, ist hingegen schon weit weniger klar. Denn || 1 Siehe Benjamin SCHELLER u. Christian HOFFARTH, Einleitung in diesem Band zu (binären) Leitdifferenzen im Anschluss an Niklas LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, S. 19. || Prof. Dr. Christof Rolker, Zentrum für Mittelalterstudien, Otto-Friedrich-Universität, Kapuzinerstraße 16, 96045 Bamberg, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-008

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während (auch) in mittelalterlichen Gesellschaften in der Tat sehr viele Eigenschaften, Aufgaben und Tätigkeiten von Menschen nach überzeitlich stabilen Mustern als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ klassifiziert wurden, ist eine solche binäre Klassifizierung von Körpern keineswegs selbstverständlich. Sowohl unter den Erdrandbewohnern als auch in der Mitte der christlichen Oikumene rechnete man in der Vormoderne mit Hermaphroditen, also mit Menschen, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane hatten. Anders als andere Wundervölker hatten diese Hermaphroditen auch einen eigenen Rechtsstatus; insbesondere wurde ihnen ein rechtliches Geschlecht zugesprochen und damit bestimmte Rechte als Mann oder Frau. Gleichzeitig wurde dabei immer wieder thematisiert, dass zwar das rechtliche, nicht das körperliche Geschlecht klar binär sei. Und auch wenn dies zu den ‚Wundern‘ (mirabilia) der Schöpfung gerechnet werden konnte, war die Zeugung hermaphroditischer Nachkommen Gegenstand der gleichen Theorien, die auch die Zeugung von männlichen und weiblichen Kindern erklärten, wie überhaupt mittelalterliche Modelle körperlicher Geschlechtlichkeit oft Übergänge und Abstufungen postulieren. In diesen Zusammenhang gehören auch mehr oder minder spontane Geschlechtswechsel, deren Ursachen in der vormodernen Medizin in ähnlicher Weise wie die Ausbildung doppelten Geschlechts erklärt wurden.2 Ob man diese Befunde nun als Beleg eines one sex-model versteht (LAQUEUR) oder von Hermaphroditen als „drittem Geschlecht“ spricht (NEDERMAN/TRUE),3 das körperliche Geschlecht erscheint hier jedenfalls nicht als stabil binär, im deutlichen Gegensatz zu vielen (wenngleich keineswegs allen) modernen Modellen von Geschlecht. Solche im Anschluss an FOUCAULT4 vor allem von LAQUEUR popularisierten Überlegungen waren der Ausgangspunkt einer sich aktuell immer noch ausdifferenzierenden Forschung zur Geschichte nicht nur von gender, sondern auch von sex. Dabei sind hinsichtlich der mittelalterlichen Ambiguitätstoleranz konträre Thesen formuliert worden. Einerseits, so insbesondere FOUCAULT, seien vormoderne Gesellschaften einschließlich der mittelalterlichen besonders intolerant gegenüber Menschen mit her-

|| 2 Zu antiken und frühneuzeitlichen medizinischen Zeugungstheorien und Erklärungen für Geschlechtswechsel siehe Helen KING, The One-Sex Body on Trial. The Classical and Early Modern Evidence (The History of Medicine in Context), London 2013. Für mittelalterliche Beispiele siehe als Überblick z. B. Ortrun RIHA, Pole, Stufen, Übergänge – Geschlechterdifferenz im Mittelalter, in: Frank STAHNISCH u. Florian STEGER (Hgg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart 2005, S. 159–180. 3 Thomas Walter LAQUEUR, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge, Mass. 1990; Cary J. NEDERMAN u. Jacqui TRUE, The Third Sex. The Idea of the Hermaphrodite in TwelfthCentury Europe, in: Journal of the History of Sexuality 6 (1996), S. 497–517. 4 Michel FOUCAULT, La volonté de savoir (Histoire de la sexualité 1), Paris 1976, DERS., Les anormaux, Paris 1999 [zuerst 1974/75] und (besonders stark rezipiert) DERS., Introduction, in: DERS. (Hg.), Herculine Barbin, Being the Recently Discovered Memoirs of a Nineteenth-Century French Hermaphrodite. A Scandal at the Convent, New York 1980, S. vii–xvii.

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maphroditischer Anatomie gewesen und hätten diese bereits aufgrund ihrer körperlichen Differenz verfolgt und vernichtet – weil ihre bloße Existenz das „Gesetz, das die Geschlechter trennt“ verletzt habe, wie FOUCAULT es ausdrückte.5 Andererseits ist, teilweise ebenfalls von und vor allem im Anschluss an FOUCAULT die These formuliert worden, vormoderne Gesellschaften hätten gerade für Hermaphroditen fast schon „ein irdisches Paradies“ dargestellt,6 was allerdings weniger auf Körper, sondern auf die FOUCAULT zu diesem Zeitpunkt stärker umtreibende Frage der ‚Identität‘ gemünzt war.7 Der Umgang mit Hermaphroditen scheint daher ein lohnender Gegenstand für die Frage nach mittelalterlicher Ambiguitätstoleranz in Bezug auf die Geschlechterdifferenz. Menschliche Körper können zwar nicht ambig sein, aber die Figur des Hermaphroditen ist immer wieder so konstruiert worden, dass sie einen Menschen bezeichnet, der nach den jeweils gängigen Verfahren nicht oder nicht ohne Weiteres als männlich oder weiblich kategorisiert werden kann und in diesem Sinne eine ambivalente Stellung einnahm. Aus diesem Grund sind Hermaphroditen im Anschluss an FOUCAULT, LAQUEUR und DASTON/PARK immer wieder in den Mittelpunkt einer Historisierung des körperlichen Geschlechts gestellt worden,8 wie auch die mittlerweile zahlreichen Monographien zu ‚Hermaphroditen‘ von der Antike bis in die Neuzeit erkennen lassen.9 Zeitlich übergreifende Darstellungen berücksichtigen das Mittelalter

|| 5 FOUCAULT, Volonté (Anm. 4), S. 53: „Longtemps les hermaphrodites furent des criminels, ou des rejetons du crime, puisque leur disposition anatomique, leur être même embrouillait la loi qui distinguait les sexes et prescrivait leur conjonction.“ Ähnlich auch DERS., Les anormaux (Anm. 4), S. 62: „[…] qu’au Moyen Âge, et jusqu’au XVIe siècle (début au moins du XVIIe siècle aussi), les hermaphrodites étaient, en tant qu’hermaphrodites, considérées comme monstres et exécutés, brûlés, leurs cendres jetées au vent.“ 6 Vgl. Osvaldo CAVALLAR u. Julius KIRSHNER, Lo sguardo medico-legale di Paolo Zacchia sugli ermafroditi, in: Alessandro PASTORE u. Giovanni ROSSI (Hgg.), Paolo Zacchia: alle origini della medicina legale, 1584–1659, Mailand 2008, S. 100–137, hier S. 103 zu FOUCAULT und seiner „presentazione del medioevo come una sorta di paradiso terrestre graziato dalla libertà di scelta degli ermafroditi“. 7 Vgl. FOUCAULT, Introduction (Anm. 4), v. a. S. xii („happy limbo of non-identity“). 8 Grundlegend: FOUCAULT, Les anormaux und DERS., Introduction (beide Anm. 4); LAQUEUR (Anm. 3); Lorraine DASTON u. Katharine PARK, The Hermaphrodite and the Orders of Nature. Sexual Ambiguity in Early Modern France, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 1 (1995), S. 419–438, ND in Louise FRADENBURG u. Carla FRECCERO (Hgg.), Premodern Sexualities, New York 1995, S. 117–136. Für neue Forschungen siehe die in den nächsten Anm. genannte Literatur. 9 Siehe aus den letzten Jahren z. B. Ulrike KLÖPPEL, XXOXY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität (GenderCodes 12), Bielefeld 2010; Heinz-Jürgen VOSS, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010; Patrick GRAILLE, Le troisième sexe: être hermaphrodite aux XVIIème et XVIIIème siècles, Paris 2011; Kathrin ZEHNDER, Zwitter beim Namen nennen. Intersexualität zwischen Pathologie, Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung, Bielefeld 2011; Richard CLEMINSON u. Francisco VÁZQUEZ GARCÍA, Sex, Identity and Hermaphrodites in Iberia, 1500–1800,

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tendenziell nur kursorisch,10 aber zumindest Einzelstudien liegen auch für mittelalterliche Modelle von Geschlecht vor.11 Sowohl solche Einzelstudien als auch vor allem die zeitlich übergreifenden Darstellungen basieren dabei in aller Regel auf gelehrten medizinisch-naturwissenschaftlichen Quellen (Zeugungstheorien, Anatomie, teilweise Chirurgie, für die Neuzeit auch Anthropologie, Evolutionsbiologie, Genetik und verwandte Forschungsgebiete).12 Über die soziale Stellung von Menschen ‚zwischen‘ den Geschlechtern ist damit noch wenig gesagt. Sowohl FOUCAULT als auch LAQUEUR hatten hierfür den Zusammenhang zwischen medizinischer Theorie und Strafgerichtsbarkeit als entscheidend angesehen und argumentiert, dass sich anhand der unterschiedlichen Behandlung von ‚Hermaphroditen‘ einerseits in der Medizin und andererseits vor Gericht die (relativ plötzliche) Ausbildung des modernen Geschlechtersystems erkennen lasse. Auch hier gilt, dass diese Modelle ohne Quellenbelege aus dem Mittelalter formuliert wurden; sicher falsch sind die von FOUCAULT aus der spätaufklärerischen Literatur übernommenen Schauermärchen, nach denen Hermaphroditen im Mittelalter aufgrund ihrer Anatomie gerichtlich verfolgt und mit dem Tode bestraft worden seien.13

|| London 2013; KING (wie Anm. 2); Geertje MAK, Doubting Sex. Inscriptions, Bodies and Selves in Nineteenth-Century Hermaphrodite Case Histories, Manchester 2013; Erika NUSSBERGER, Zwischen Tabu und Skandal: Hermaphroditen von der Antike bis heute, Wien, Köln, Weimar 2014; Fabienne IMLINGER, Hermaphroditische Anatomien, Würzburg 2015; Marian ROTHSTEIN, The Androgyne in earlymodern France. Contextualizing the power of gender, New York 2015. 10 Siehe für jeweils sehr knappe bis nicht vorhandene Darstellungen LAQUEUR (wie Anm. 3), S. 63, VOSS, S. 76–83 und NUSSBERGER (beide Anm. 9). 11 Joan CADDEN, Meanings of Sex Difference in the Middle Ages. Medicine, Science, and Culture (Cambridge History of Medicine), Cambridge 1993; RIHA (wie Anm. 1); Andrea MOSHÖVEL, „Der hât ainen weibischen muot …“. Männlichkeitskonstruktionen bei Konrad von Megenberg und Hildegard von Bingen, in: Martin DINGES (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter 49), Frankfurt 2005, S. 52–65; Irina METZLER, Hermaphroditism in the Western Middle Ages. Physicians, Lawyers and the Intersexed Person, in: Sally CRAWFORD und Christina LEE (HGG.), Bodies of Knowledge. Cultural Interpretations of Illness and Medicine in Medieval Europe (Studies in Early Medicine 1), Oxford 2010, S. 27–39; Monica Helen GREEN, Bodily Essences. Bodies as Categories of Difference, in: Linda KALOF (Hg.), A Cultural History of the Human Body in the Medieval Age (A Cultural History of the Human Body 2), Oxford u. New York 2010, S. 149–171 sowie DIES., Caring for Gendered Bodies, in: Judith M. BENNETT u. Ruth Mazo KARRAS (Hgg.), The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe, Oxford 2013, S. 345–361. 12 Eine wichtige Ausnahme ist Maaike VAN DER LUGT, Sex Difference in Medieval Theology and Canon Law. A Tribute to Joan Cadden, in: Medieval Feminist Forum 46 (2010), S. 101–121 und DIES., L’humanité des monstres et leur accès aux sacrements dans la pensée médiévale, in: Anna CAIOZZO u. AnneEmmanuelle DEMARTINI (Hgg.), Monstre et imaginaire social. Approches historiques, Grâne 2008, S. 135–161. Siehe auch unten, Anm. 15. 13 FOUCAULT, Volonté (Anm. 4), S. 53 und DERS., Les anormaux (Anm. 4), S. 62 (beide zitiert oben, Anm. 5); zur Widerlegung siehe Christof ROLKER, The Two Laws and the Three Sexes: Ambiguous Bodies in Canon Law and Roman Law (12th to 16th Centuries), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung 100 (2014), S. 178–222, v. a. S. 181–187.

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Noch wichtiger ist aber ein Einwand, den Ulrike KLÖPPEL formuliert hat:14 Zwischen medizinischen Modellen von Geschlecht – ob nun eher dichotom oder eher kontinuierlich – und auch nur der medizinischen Praxis besteht kein notwendiger enger Zusammenhang. Die Pathologisierung von Zwittern in der jüngeren Geschichte konnte sich jedenfalls mit Leugnung der Existenz von Hermaphroditen verbinden (ihrer Klassifizierung als bloße ‚Pseudo-Hermaphroditen‘), aber auch mit Modellen, die durchaus ‚Zwischenstufen‘ zwischen den Geschlechtern vorsahen. Schon für die Neuzeit, erst recht aber für das Mittelalter wäre es daher riskant, die soziale Position von zwischengeschlechtlichen Menschen aus medizinischen bzw. naturkundlichen Quellen allein ableiten zu wollen. Zum Glück stehen auch andere Quellen in reicher Zahl zur Verfügung. Der menschliche Körper und seine Geschlechtlichkeit waren im Mittelalter keineswegs nur für Mediziner, sondern ebenso sehr für Theologen und Juristen ein wichtiger Gegenstand,15 von den mannigfaltigen Verhandlungen der Geschlechterbeziehungen und des geschlechtlichen Körpers in der Literatur ganz zu schweigen.16 So wertvoll eine Erweiterung der Quellengrundlage um andere gelehrte Diskurse allerdings sein mag, ist damit das Problem der sozialen Relevanz dieser Diskurse nicht gelöst. Im Fall der juristischen Debatten bietet es sich allerdings an, nicht nur das gelehrte Recht, sondern auch die gerichtliche Praxis zu untersuchen, um den Umgang mit ‚uneindeutigem‘ Geschlecht im späten Mittelalter zu analysieren.17 Dies soll im Folgenden, soweit es die Quellenlage erlaubt, versucht werden. Nur für die Lehre vom Stand der Person (status) soll dabei einleitend skizziert werden, welche Entwicklung das gelehrte römische Recht im Lauf des Mittelalters vollzog, aber auch dies mit einem Blick auf die Rezeption dieser Lehre jenseits der juristischen Fakultäten. Anschließend sollen vier Fälle des 14. Jahrhunderts vorgestellt werden, in denen Menschen mit doppeltem, ‚uneindeutigem‘, wechselndem körperlichem Geschlecht mit den Gerichten ihrer Zeit in Berührung kamen.

|| 14 Siehe Ulrike KLÖPPEL, Transformationen der medizinischen Problematisierung ‚uneindeutigen‘ Geschlechts seit dem 18. Jahrhundert, in Männlich-weiblich-zwischen, 15/12/2015, http://intersex.hypotheses.org/1695. 15 Siehe zur Theologie v. a. Caroline Walker BYNUM, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1991 sowie DIES., The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336 (Lectures on the History of Religions N. S. 15), New York 1995, sowie VAN DER LUGT (Anm. 12). 16 Prägnant RIHA (Anm. 2), S. 160–162. 17 Für die normativen Quellen selbst siehe ROLKER (Anm. 13) und http://intersex.hypotheses.org/.

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1 Fit et alia divisio ...: Geschlecht und der Stand einzelner Personen im mittelalterlichen gelehrten Recht Aussagen zum rechtlichen Status einzelner Personen finden sich unter anderen in den jeweils ersten Büchern der Institutionen und der Digesten. Beide Werke sind für das mittelalterliche gelehrte Recht von besonderer Bedeutung, weil sie an den Universitäten als autoritative Rechtsquellen anerkannt wurden. In den Institutionen wie auch den Digesten wurden Personen dabei zuallererst nach Freiheit und Unfreiheit unterschieden.18 Dies war und blieb die summa divisio des antiken wie des mittelalterlichen römischen Rechts, unabhängig von der Verbesserung der rechtlichen Lage der Sklaven unter christlichem Einfluss.19 Der allumfassende Anspruch und die sehr weitreichenden Rechtsfolgen dieser Unterscheidung sind sowohl sprachlich (summa) als auch durch die Thematisierung am Anfang der beiden Werke hinreichend deutlich markiert. Die Unterscheidung der Geschlechter folgt erst etwas später und ist auch sprachlich als weniger weitreichend gekennzeichnet, wenn es klassisch heißt, dass die Rechtsstellung der Frauen in ‚vielen‘, aber eben nicht in allen Rechtsbereichen, schlechter als die der Männer sei.20 Der Unterschied der Geschlechter war nach antiker Auffassung also kein status (wie die Freiheit), sondern nur ein Unterschied innerhalb eines solchen status. Dass die Differenz zwischen Freien und Unfreien in dieser Weise als primäre, die Geschlechterdifferenz nur als sekundäre Differenz artikuliert wird, scheint gut zu LUHMANNS Vorstellung von stratifikatorischen Differenzierungen in vormodernen Gesellschaften zu passen.21 Aus mediävistischer Perspektive ist es daher umso interessanter, dass das mittelalterliche gelehrte Recht zwar einerseits in fast allen Punkten den spätantiken Kodifizierungen folgte und diese über Jahrhunderte tradierte und immer neu kommentierte – aber ausgerechnet in Bezug auf die Geschlechterdifferenz zu einer anderen Gewichtung kam. Nachdem die entscheidenden Texte (insbesondere die Digesten) im

|| 18 Digesta 1, 5, 3 und wortgleich Institutiones 1, 3, 9: Summa itaque de iure personarum divisio haec est, quod omnes homines aut liberi sunt, aut servi. Hier zitiert nach Corpus iuris civilis, hrsg. v. Theodor MOMMSEN u. Paul KRÜGER, 3 Bde., Berlin 1872, Bd. 1, S. 15. 19 Vgl. Max KASER, Das römische Privatrecht (Handbuch der Altertumswissenschaft X, 3, 3), 2 Bde., München 1955/59, hier Bd. 2: Die nachklassischen Entwicklungen, S. 112–126. 20 Digesta 1, 5, 9, zitiert nach MOMMSEN u. KRÜGER (Anm. 18), Bd. 1, S. 15: In multis iuris nostris articulis deterior est conditio foeminarum, quam masculorum. 21 Während ‚Geschlecht‘ bei LUHMANN bekanntlich keine prominente Rolle spielt, hat er sich zur langfristigen historischen Entwicklung von stratifikatorischen Differenzen wiederholt ausgelassen, siehe z. B. Niklas LUHMANN, Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum, in DERS., Soziologische Aufklärung VI. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 2005, S. 121–136.

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12. Jahrhundert neue Verbreitung gefunden hatten und zu Basistexten der erst entstehenden universitären Rechtswissenschaften geworden waren, ist diese Entwicklung bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts deutlich zu erkennen. Der einflussreiche Bologneser Rechtslehrer Azo († 1220) wiederholt in seinem Institutionen-Kommentar die summa divisio, wertet aber zugleich die Unterscheidung nach Geschlecht auf, indem er im Kontext der Unterscheidung von Freien und Unfreien sofort hinzufügt:22 „Man teilt Menschen noch anders ein, weil die einen Männer, die anderen Frauen und wieder andere Hermaphroditen sind.“ Azo zieht hier zur Erläuterung der Institutionen offensichtlich die Digesten heran, und das mag auch die Erwähnung der Hermaphroditen erklären;23 die entscheidende Veränderung ist die Aufwertung der Geschlechterdifferenz als ‚anderer‘ Unterscheidung neben der nach Freiheit oder Unfreiheit. So sprichwörtlich einflussreich wie Azo mit seinen Auslegungen auch sonst war (Chi non ha Azzo, non va al palazzo!), so weithin setzte er sich auch mit dieser Verschiebung der Aufmerksamkeit in der Rechtswissenschaft durch. Schon aufgrund der fortdauernden Verwendung seiner Summe im Rechtsunterricht war seine Interpretation des menschlichen status im gelehrten Recht über Jahrhunderte präsent. Der englische Rechtstext Fleta (hier nicht von Bracton abhängig) beispielsweise übernimmt Azos Unterteilung wörtlich.24 Die von Azos Schüler Accursius († 1260/62) kompilierte ‚Glossa ordinaria‘ hingegen folgt Azo hier nicht.25 Einen Schritt weiter als Azo ging dafür Rolandino Passagerii († ca. 1300), dessen ‚Summa artis notariae‘ ein eminent praxisorientiertes Werk war; bis ins 17. Jahrhundert diente es Notaren und anderen Verwaltungsfachleuten als praktisches Vademecum, das insbesondere auch in der Ausbildung intensiv genutzt wurde. Zum Status einer Person

|| 22 Azonis iurisconsultissimi in ius civilem Summa […], Lyon 1564, hier fol. 281r: Fit et alia divisio hominum, quia alii sunt masculi, et alii foemine, alii hermaphroditi. 23 Azo hatte im Zusammenhang mit der Ehe Standesungleicher Digesta 1, 5, 9 (siehe oben, Anm. 20) zitiert, Hermaphroditen werden in den Digesten unmittelbar danach erwähnt (Digesta 1, 5, 10). Siehe MOMMSEN u. KRÜGER (Anm. 18), Bd. 1, S. 15: Queritur: hermofrodium cui comparamus? et magis puto eius sexum aestimandum, qui in eo praevalet. 24 Fleta I, 5, 3, zitiert nach Fleta, Seu commentarius juris anglicani […], London 1685, hier S. 2: Est etiam quaedam divisio hominum, quod alii masculi, alii foeminae, et alii hermaphroditae [sic]; hermaphrodita enim tam masculo quam foeminae comparatur, secundum praevalescentiam sexus incalescentis. Bracton spricht nicht von einer solchen divisio, wenn er auf Hermaphroditen eingeht. Vgl. Bracton, De legibus et consuetudinibus Angliae/On the Laws and Customs of England. Translation with Revisions and Notes by Samuel E. THORNE, hrsg. v. George E. WOODBINE, Cambridge, Mass. 1968– 77, hier Bd. 2, S. 32. 25 Die Glosse zu Dig. 1, 5 oder Inst. 1, 3, 9 geht nicht auf die Geschlechterdifferenz als divisio ein. Vielmehr ist zu Dig. 1, 5, 10 nur von der körperlichen Beschau zwecks Feststellung des überwiegenden Geschlechts die Rede: Inquisitio ista est utilis, ut sciamus an possit ea facere, que viris non mulieribus permittuntur, hier zitiert nach Corpus iuris civilis Iustiniane cum commentariis Accursii […] studio et opera Ioannis Fehi […], 6 in 7 Bde., Lyon 1627, Bd. 1, col. 49.

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fasst die ‚Summa‘ das römische Recht knapp zusammen und beginnt dabei wie folgt:26 Hinsichtlich der Personen werden sechs Einteilungen vorgenommen. Die erste Einteilung ist diese: Alle Menschen sind entweder männlich, oder weiblich, oder Hermaphroditen.

Während die sechsfache Unterscheidung durchaus dem klassischen römischen Recht entspricht, war die Formulierung, dass alle Menschen ‚Männer, Frauen oder Hermaphroditen‘ seien, an dieser Stelle offensichtlich Azos Institutionen-Summe entlehnt, die auch sonst für Rolandino als Vorlage nachweisbar ist. Anders als Azo, und deutlich anders als es in den Justinianischen Kodifikationen zu lesen ist, wird der Unterschied der Geschlechter gleich zur ersten divisio erklärt. Die in den Digesten gar nicht eigens als divisio ausgewiesene Unterscheidung der Geschlechter steht hier also an erster Stelle, während die in den Digesten an erster Stelle genannte Unterscheidung nach Freiheit und Unfreiheit an die dritte Stelle gesetzt wird. Die gleiche Definition findet sich auch in der ‚Summa‘ des Raimund von Wiener Neustadt (14. Jh.),27 der vor allem deshalb erwähnt werden soll, weil sein Werk noch weniger akademisch ist als das des Rolandino. Hatte dieser das römische Recht bereits den Bedürfnissen von Notaren angepasst, die im mediterranen Raum eine wichtige Rolle in der freiwilligen Gerichtsbarkeit spielten, ging Raimund von Wiener Neustadt so weit, die weitgehend gleichen Inhalte zweisprachig, das heißt auch in der Volkssprache zu vermitteln.28 Wie die prominente Erwähnung der Hermaphroditen deutlich macht, wird hier gerade nicht postuliert, dass es nur zwei körperliche Geschlechter gebe; Ausgangspunkt der rechtlichen Behandlung aller Menschen ist, dass diese Männer, Frauen oder Hermaphroditen sein konnten und das Recht somit mit (wenigstens) drei Ausprägungen des körperlichen Geschlechts rechnen musste. Die binäre Unterscheidung der Geschlechter, von der sehr weitreichende Rechtsfolgen abhingen, war also ein Akt der Zuweisung. Zwar hält etwa Rolandinos Summa fest, dass die dreifache Einteilung (divisio trimembris) nach dem körperlichen Geschlecht in der Praxis durch die

|| 26 Summa artis notariae Do. Rolandini Rodulphini […] cui, per excellentiam, Aurorae nomen est, Lyon 1559, hier S. 803: De personis et personarum divisionibus. Ex personis sex divisiones fiunt. Prima divisio est talis: Omnes homines aut sunt masculi, aut foeminae, aut hermaphroditi. 27 Die Summa legum brevis levis et utilis des sogenannten Doctor Raymundus von Wiener-Neustadt, hrsg. v. Alexander GÁL, Weimar 1926. 28 Ebd., S. 153: De condicione hominum generali. Prima divisio personarum. Omnes homines aut sunt masculi aut femelle aut hermofrodite [sic]. / Das gemein wesen oder stat der menschen. Allen menschen sein entweders man oder frawen oder ermofrodite [sic] (verstee ains teils man, eins tails weib).

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Zuweisung zu einem von genau zwei rechtlichen Geschlechtern weitgehend neutralisiert war.29 Streng genommenen wurde auch nicht behauptetet, dass es Hermaphroditen gebe bzw. dass diese als eigenes Geschlecht zu verstehen seien; aber mindestens rechnete das Recht damit, dass beides doch der Fall sein könne. Entscheidend ist aber, dass die binäre Unterscheidung im Recht explizit nicht mit einer behaupteten binären Unterscheidung zweier körperlicher Geschlechter verknüpft wird. Im Vergleich zu modernen Rechtssystemen, die wiederholt genau das getan haben, erscheint die Verknüpfung von körperlichem und juristischem Geschlecht im römischen Recht des Mittelalters damit als eine recht lose Verbindung. Im Vergleich zu den antiken Kodifikationen aber ist vor allem auffällig, dass das spätmittelalterliche gelehrte Recht die Kategorie ‚Geschlecht‘ erheblich aufwertete. Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht wurde zum status im rechtlichen Sinne. Dass sich diese Entwicklung gerade nicht in den gelehrtesten Werken vollzog, sondern in den eher elementaren – z. B. in Azos Institutionen-Summe, nicht in seiner Glossierung der Digesten – und oft in eindeutig praxisorientierten Werken – wie Rolandinos ‚Summa artis notariae‘ – spricht dafür, sie für mehr als nur dogmengeschichtliche Volten anzusehen. Auch in Bezug auf einzelne Rechtsmaterien, insbesondere im Zusammenhang mit Testamenten, Eheschließung, Taufe, Weihe und Belehnungen, fanden Hermaphroditen immer wieder Beachtung im römischen wie im kirchlichen Recht des Mittelalters.30 Überwiegend aber begnügten sich die mittelalterlichen Juristen mit dem Verweis darauf, dass auch Menschen zwischen den Geschlechtern für alle juristischen Zwecke als Mann oder Frau gelten konnten. Als relevante Indizien für die Zuweisung zum einen oder anderen Geschlecht galten die Genitalanatomie, Bartwuchs, Soziabilität und geschlechtstypische Verhaltensweisen. Dabei fällt auf, dass Fruchtbarkeit im Sinne des Zeugens oder Gebärens von Kindern nicht als Kriterium erwogen wurde, insbesondere also auch nicht als Nachweis für die Rechtsstellung als Mann bzw. Frau verlangt wurde. Ohnehin aber scheinen die gelehrten Rechte keinen Konsens erreicht zu haben, welche körperlichen oder sonstigen beobachtbaren Merkmale über die Zuweisung von Geschlecht im rechtlichen Sinne entscheiden sollten; stattdessen folgten gelehrtes Recht und gerichtliche Praxis über Jahrhunderte einer Lösung, die zuerst Hostiensis († 1271) formuliert hatte: Im Zweifelsfall solle die betreffende Personen

|| 29 Summa artis notariae (Anm. 26), S. 806: Hermaphroditi sunt illi, qui habent utrunque [sic] sexum, scilicet masculinum et foemininum. Et in istis talibus talis datur regula: Quia aut magis incalescunt in fominino sexu, et tunc censentur foeminae, aut magis incalescunt in masculino, et tunc censentur masculi. Et sic ita divisio trimembris potest reduci ad bimembrem, quia si magis incalescunt in masculino sexu, sunt in primo membro, si magis incalescunt in foeminino sunt in secondo. 30 Siehe ROLKER (Anm. 13).

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wählen, welchem Geschlecht sie sich zurechne, und diese Wahl (und ihre Dauerhaftigkeit) durch einen Eid bekräftigen.31 Je weiter sich das Rechtsinstitut des Geschlechtseids durchsetzte, desto weniger interessierten sich die Juristen für die konkreten körperlichen Merkmale von Geschlecht. Eine gewisse Ausnahme bildete allerdings das Weiherecht. Im Vergleich zu männlichen Zeugen, Erblassern oder Ehemännern mussten Priester erhöhte Anforderungen an ihre körperliche Männlichkeit nachweisen; das Kirchenrecht sprach vom ‚makellosen‘ männlichen Körper des Kandidaten. Dazu gehörten auch die Zeugungsorgane, deren Unversehrtheit den Kanonisten auch mit Blick auf die immer wieder verurteilte Praxis der Selbstkastration wichtig war. Doppelte, „hermaphroditische“ Genitalien fielen nach der überwiegenden Lehrmeinung in die Gruppe der Weihehindernisse, die eine Weihe zwar verboten, aber nicht unmöglich machten. Ein Hermaphrodit, der überwiegend männlich sei, sei zwar als Mann in der Lage, eine gültige Weihe zu empfangen; allerdings war es verboten, sie ihm zu spenden. Dieses Verbot wird dabei unterschiedlich begründet, von Laurentius Hispanus († 1248) z. B. mit der Außenwirkung: propter populi scandalum seien Hermaphroditen nicht zu weihen oder, falls schon geweiht, nicht zu promovieren.32 In ähnlicher Weise diskutieren spätere Kanonisten dann noch den Fall, dass das Kardinalskollegium versehentlich einen Hermaphroditen zum Papst wählen könnte; auch hier gilt, dass Frauen und weibliche Hermaphroditen nicht Papst werden können, männliche Hermaphroditen nicht gewählt werden dürfen, was juristisch gesehen ein erheblicher Unterschied ist: Verbotswidrige Wahlen und Weihen können

|| 31 Summa aurea ad X 2, 20 De testibus, hier zitiert nach Henrici de Segusio, Cardinalis Hostiensis, Summa aurea, Venedig 1574, Sp. 612: Quid de hermaphrodito, qui habet utrunque [sic] sexum, scilicet hominis et mulieris, dic servandum, quod qualitas sexus incalescentis ostenditur, ut ff. e. repetundarum 4, q. 3. § Hermaphroditum iudicatur n. secundum sexum, qui in eo prevalet, ut ff. de statu hominis queritur de hermaphrodito. Quid si utriusque membri officio uti potest, secundum quid de facto fuit in villa mea, scilicet Secusiae? Respondeo: eligat cui se dicat, secundum quid episcopus Tauriensis diocesanus noster de ipso fecit et iuret quod de caetero alio non utetur, quia nec fungi debet duplici officio, maxime tam diverso. 32 Laurentius Hispanus ad C. 27, q. 1, c. 23, v. diaconissa, hier zitiert nach VAN DER LUGT, L’humanité (Anm. 12), S. 20, Anm. 84: [. . .] hermafroditum autem dico non promovendum propter populi scandalum licet in eo plus incalescat sexus virilis et ad alia virilia admittatur ut IIII q. III. In der Praxis kam es sicher nur in Konfliktfällen zu Überprüfungen; für frühneuzeitliche Fälle konnte Brendan Röder nachweisen, dass kirchliche Autoritäten dabei die Entscheidung regelmäßig Ärzten und Chirurgen übertrugen und (anders als in den Laien betreffenden Fällen) strikt auf Geheimhaltung der körperlichen Untersuchungen achteten. Siehe dazu vorerst Brendan RÖDER, Hermaphroditen als Geistliche?, Männlich-weiblich-zwischen, 14/01/2016, http://intersex.hypotheses.org/2237 und künftig seine Dissertation. Dass Gerüchte über ‚hermaphroditische‘ Geistliche im Kontext innerkirchlicher Konflikte gezielt zu deren Diskreditierung gestreut wurden, ist auch aus dem Mittelalter überliefert, z. B. im Fall des umstrittenen Erzbischofs Albrecht von Bremen, siehe Die Bremer Chronik von Rinesberch, Schene und Hemeling, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Bremen, hrsg. von Hermann MEINERT (Chroniken der deutschen Städte 37), Bremen 1968, S. 1–234, hier S. 169.

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durch eine spätere Dispens geheilt werden und so eine gültige Amtsausübung ermöglichen, wobei dies im Falle von Papstwahlen als sehr theoretische Möglichkeit gelten muss.

2 Vier Hermaphroditen vor Gericht Während der letztgenannte Fall des hermaphroditischen Papstes ohne jeden Bezug zur Praxis diskutiert wurde, gilt dies für die Weihe von Menschen mit ‚uneindeutigem‘ Geschlecht schon weniger, und erst recht war die Ehe der Hermaphroditen keine akademische, sondern eine ganz praktische, alltagsrelevante Frage. Dies jedenfalls legen Fälle wie die im Folgenden vorzustellenden nahe, ein Erbfall und drei Ehen von ‚Hermaphroditen‘, die immerhin problematisch genug waren, dass sie vor Gericht und damit in die Akten (und andere Quellen) kamen. Überliefert sind in allen vier Fällen nicht die Gerichtsakten selbst, wohl aber Gutachten oder erzählende Quellen.

2.1 Mulier de villa prope Bernam: Ehefrau, dann Ehemann Das erste Beispiel ist das einer leider namenlosen Frau aus einem Dorf in der Nähe von Bern (villa prope Bernam).33 Wie die Kolmarer Annalen zum Jahr 1300 berichten, habe sie zehn Jahre lang mit ihrem Ehemann gelebt. Die Ehe sei dann aber vom geistlichen Gericht aufgelöst worden, weil es nicht möglich gewesen sei, sie zu vollziehen.34 Die dauerhafte impotentia coeundi war nach mittelalterlichem Kirchenrecht in der Tat einer der wenigen Gründe, eine nicht vollzogene Ehe für nichtig zu erklären, zumindest unter bestimmten Bedingungen.35 Für unsere Zusammenhänge interessant ist die Fortsetzung der Geschichte: Die Frau reiste, möglicherweise um die Auflösung ihrer Ehe anzufechten, nach Rom; auf dem Weg aber, in Bologna nämlich, || 33 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. hist. 4° 145, fol. 135r: Mulier in virum mutata. 1300. Prope Bernam in villa mulier x annis viro cohabitat; quia cognosci a viro non potuit, iudicio spirituali a viro separatur; Romam profisciens, Bononiae a chirurgo cunnus eius scinditur, egreditur virga virilis cum testiculis; domum reversa uxorem ducit, opera rustica facit, cum uxorem congreditur legittime et sufficienter Der Text wurde ediert in MGH SS 17, S. 225, erstmals analysiert hat ihn Miri RUBIN, The Person in the Form. Medieval Challenges to Bodily ‚Order‘, in: Sarah KAY u. Miri RUBIN (Hgg.), Framing Medieval Bodies, Manchester 1994, S. 100–122, hier S. 101–104. 34 Das zuständige Gericht war das des Ortsbischofs bzw. seiner Vertreter; die Ortsangabe prope Bernam lässt offen, ob das Geschehen im Bistum Konstanz oder im Bistum Chur zu verorten ist, da die Aare die Grenze zwischen beiden Bistümern bildete und nicht klar ist, ob das Dorf dies- oder jenseits derselben lag. Akten der Offizialatsgerichtsbarkeit sind aus beiden Bistümern erst für das 15. Jahrhundert überliefert. 35 Siehe immer noch James A. BRUNDAGE, Impotence, Frigidity and Marital Nullity in the Decretists and Early Decretalists, in: Peter LINEHAN (Hg.), Proceedings of the Seventh International Congress of

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schnitt ihr ein Chirurg die Vulva auf, und es kam ein Penis samt Hoden zum Vorschein. Nach Hause zurückgekehrt, nahm er eine Frau, tat bäuerliche Arbeit und hatte mit seiner Frau in rechter und hinreichender Weise Umgang.

In den gleichen Ort, in der die Frau ihre Familie, ihren ehemaligen Ehemann, ihre Nachbarn zurückgelassen hatte, kehrte sie nun also als Mann zurück und bewährte sich in jeder Hinsicht in dieser Rolle. Nur grammatisch blieb sie weiblich (reversa), anatomisch, juristisch und sozial ist der Statuswechsel gelungen. Dass dieser durch einen chirurgischen Eingriff eingeleitet wurde, ist erstaunlich genug, stellt die Glaubwürdigkeit der Quelle aber keineswegs in Frage. Für ‚Hermaphroditen‘ sahen zeitgenössische chirurgische Handbücher genau den in den Kolmarer Annalen beschriebenen Eingriff vor. Griechischen und arabischen Autoritäten folgend, rechneten gelehrte Ärzte mit Hermaphroditen, deren männliche Geschlechtsorgane im Inneren des Körpers verborgen waren und deren ‚Heilung‘ durch einen entsprechenden Schnitt herbeizuführen sei: „Häufig werden sie durch einen Schnitt in das schwächere Glied geheilt“, heißt es in Avicennas Canon medicinae von Hermaphroditen.36 Avicennas Werk war bereits im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt worden, wurde in Bologna nachweislich kommentiert und war spätestens 1405 Pflichtlektüre der dortigen Medizinstudenten.37 Mondino de Liuzzi († 1326) kommentierte den Canon in Bologna ungefähr in der Zeit, zu der die erwähnte mulier auf dem Weg nach Rom dort vorbeikam.38 Eine Generation später übernahm Guy de Chauliac († 1368), der zeitweilig auch in Bologna war, seine Aussagen zur ‚Heilung‘ von ‚weiblichen Hermaphroditen‘ explizit aus Avicennas Canon.39 Auch bei Albucasis hätte er Ähnliches finden können.40 Dass in Bologna diese Operation tatsächlich

|| Medieval Canon Law, Cambridge, 23–27 July 1984 (MIC. Subsidia 8), Città del Vaticano 1988, S. 407–423. 36 Liber 3, Fen. 20, tr. 1, cap. 37, hier zitiert nach Avicenna, Liber canonis totius medicinae, Lyon 1522, fol. 248ra: De hermaphrodito. Illi qui est hermaphroditus non est membrum viri neque membrum mulieris. Et de illis est qui habet utrumque sed unum eorum est occultius et debilius et alio est econtrario et descendit sperma ex uno eorum absque alio. Et de illis est in quo ambo sunt equalia. Et pervenit ad me quod de illis est qui agit et patiatur sed parum verificant hoc. Et multotiens curantur per incisionem membri occultoris et regimen vulneris eius. 37 Siehe das Curriculum von 1405, ediert in Statuti delle Università e dei collegi dello studio bolognese, hrsg. v. Carlo MALAGOLA, Bologna 1888, S. 274. 38 Mondini de Leuciis Expositio super capitulum De generatione embrionis Canonis Avicennae cum quibusdam quaestionibus, hrsg. v. Romana MARTORELLI VICO (Fonti per la storia d’Italia 118), Rom 1993. 39 Ars chirurgica Guidonis Cauliaci lucubrationes chirurgicae […], Venedig 1546, hier fol. 38rb: De hermaphroditis. […] In muliere autem est une species in quo supra vulvam apparate virga et testiculi et multoties curantur per incisionem, ut dicit Avicenna. 40 Albucasis on Surgery and Instruments. A Definite Edition of the Arabic Text with English Translation and Commentary, hrsg. v. Martin S. SPINK und Geoffrey L. LEWIS, Berkeley, Los Angeles 1973, S. 454. Zur im Vergleich zu Avicenna etwas späteren Rezeption siehe Monica Helen GREEN, Moving

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durchgeführt wurde, ist somit durchaus plausibel. Auch sonst sind es seit dem späten 13. Jahrhundert gerade die Bereiche Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, in denen Chirurgen in Theorie und Praxis ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen.41 Wichtiger als der chirurgische Eingriff aber war, dass der Wechsel des anatomischen Geschlechts durch einen denkbar deutlichen Wechsel des sozialen Geschlechts vollendet wurde – die ehemalige mulier bewährte sich nun offenbar durch Heirat, körperliche Arbeit und Erfüllung ehelicher Pflichten als Mann. Dass die opera rustica von den Annalen hier hervorgehoben werden, ist in doppelter Hinsicht interessant: Einerseits zeigt dies, dass Männlichkeit in einer Agrargesellschaft ganz entscheidend auch an der Fähigkeit zu körperlicher Arbeit festgemacht wurde; andererseits muss die Frau schon vor ihrer Reise nach Bologna über die entsprechende Kraft und Ausdauer verfügt haben. Ihre Weiblichkeit scheint dadurch nicht in Frage gestellt worden zu sein, nach der Verwandlung in einen Mann hingegen wurden diese körperlichen Eigenschaften als Bestätigung der Männlichkeit verstanden und vielleicht sogar verlangt. Der Bericht der Kolmarer Annalen weist also sowohl auf die Rolle des veränderten Körpers wie auf die veränderte Sichtweise auf diesen Körper hin.

2.2 Berengaria habet virgam virilem et testiculis ad modum hominis Aus Aragon ist aus dem Jahr 1331 ein etwas anderer Fall überliefert: Ein gewisser Guillem Castelló aus Castelló dʼEmpúries versuchte vor dem geistlichen Gericht in Tarragona, die Ehe mit seiner Frau Berengaria auflösen zu lassen, weil diese körperlich nicht in der Lage sei, die ehelichen Pflichten zu erfüllen.42 Kirchenrechtlich gesehen, war dies dem eben geschilderten Fall vergleichbar (impotentia coeundi). Das Gericht ordnete, wie dies für Fälle (männlicher) Impotenz auch sonst als übliche Praxis belegt ist,43 eine körperliche Beschau an. Ein vom Gericht bestellter Chirurg, der die Frau gemeinsam mit einer Frau namens Cotona untersuchte, bestätigte unter Eid, dass Berengaria die Ehe nicht vollziehen könne. Für unsere Zusammenhänge wichtig

|| from Philology to Social History. The Circulation and Uses of Albucasis’s Latin Surgery in the Middle Ages, in: Florence Eliza GLAZE u. Brian NANCE (Hgg.), Between Text and Patient. The Medical Enterprise in Medieval and Early Modern Europe, Florenz 2011, S. 331–372. 41 Katharine PARK, Secrets of Women. Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection, New York 2006; Monica Helen GREEN, Making Women’s Medicine Masculine. The Rise of Male Authority in Pre-modern Gynaecology, Oxford 2008; DIES. (Anm. 40), S. 363. 42 Michael Rogers MCVAUGH, Medicine Before the Plague. Practitioners and Their Patients in the Crown of Aragon, 1285–1345 (Cambridge Studies in the History of Medicine), Cambridge 1993, hier S. 206. 43 Jacqueline MURRAY, On the Origins and Role of ‚Wise Women‘ in Causes for Annulment on the Grounds of Male Impotence, in: Journal of Medieval History 16 (1990), S. 235–249.

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ist seine weitergehende Aussage, dass sie doppelte Geschlechtsorgane besaß, also außer der Vulva auch einen Penis und Hoden.44 Darauf hatte der Ehemann seine Klage nicht gestützt, und das Kirchenrecht hätte dafür auch keine Basis geboten; es ist eher ein Nebenergebnis der Untersuchung. Viel mehr Raum nimmt die ausführliche Bekräftigung der dauerhaften Unmöglichkeit des Vollzugs der Ehe ein,45 genau der Punkt, auf den sich die Klage stützte und der kirchenrechtlich auch relevant war. Leider ist nicht überliefert, wie der Fall entschieden wurde, aber es ist sehr plausibel, dass die Ehe in der Tat aufgelöst wurde – nicht, weil Berengaria ein Hermaphrodit war, sondern wie im Fall der mulier aus der Nähe von Bern aufgrund der Unmöglichkeit des Vollzugs der Ehe (impotentia coeundi). Ob Berengaria, oder dann vielleicht Berengario, stattdessen als Mann leben und heiraten konnte, ist nicht bekannt.

2.3 Giovanni Malaspina Ein dritter ‚Hermaphrodit‘, dessen körperliches Geschlecht im 14. Jahrhundert Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen war, war als Sohn von Morello di Franceschino Malaspina, des Markgrafen von Mulazzo in der Toskana, geboren und aufgezogen worden.46 Dass es Zweifel hinsichtlich seines Geschlechts gab, erfahren wird aus dem Testament des Vaters, in dem dieser um 1370 seine drei Söhne Antonio, Giovanni und Bernabò zu Erben seiner Güter, damit auch seiner Lehen eingesetzt hatte.47 Im Falle von Giovanni war dies aber an die Bedingung geknüpft, dass dieser sich als ‚überwiegend männlich‘ herausstelle; sollte er hingegen ‚überwiegend weiblich‘ sein, oder kein Geschlecht als überwiegend feststellbar sein, sollte er stattdessen mit den Einnahmen aus den väterlichen Gütern abgefunden werden; das Lehen sollte dann auf die anderen beiden Brüder übergehen. Morello di Franceschino Malaspina berücksichtigte die offenbar bereits bekannten Zweifel daran, dass Giovanni ein Mann oder jedenfalls (wie er es im Einklang mit dem römischen Recht ausdrückte) ‚überwiegend männlich‘ sei, und damit insbesondere zweifelhaft war, ob er in der Lage war, ein Lehen zu empfangen. Vermutlich waren es Giovannis Brüder, oder einer derselben, die nach dem Tod des Vaters genau dies bestritten und damit einen || 44 Gerona, Archivo Histórico Provincial de Girona, manual de Bernat Sunyer, fol. 52v, zitiert nach MCVAUGH (Anm. 42), S. 206: […] quod dicta Berengaria habet virgam virilem et testiculos ad modum hominis. 45 Ebd.: […] quod dictus Guillelmus nec alter homo posse iacere secum [Berengaria] nec habere rem carnaliter nec ipsa posset reddere ullatenus debitum coniugalis nec concipere nec infantare. 46 Siehe Julius KIRSHNER u. Osvaldo CAVALLAR, Da pudenda a prudentia: il consilium di Baldo degli Ubaldi sul caso di Giovanni Malaspina, in: Diritto e processo 6 (2010), S. 97–112; die Autoren bereiten eine kommentierte Edition und Studie der einschlägigen Quellen vor. 47 Das Testament ist als Insert in dem entscheidenden Consilium erhalten; bis zum Erscheinen der kommentierten Edition (siehe die letzte Anm.) verwende ich Baldus de Ubaldis, Consiliorum volumina quinque, Venedig 1580, hier Bd. 3, fol. 67v–68r.

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Rechtsstreit über Giovannis Geschlecht auslösten. Das entscheidende Gutachten wurde von niemand geringerem als Baldus de Ubaldis († 1400) verfasst, dem vermutlich wichtigsten Gelehrten des Römischen Rechts im 14. Jahrhundert. Im Prozess muss es zu einer körperlichen Beschau gekommen sein, jedenfalls zählt Baldus als körperliche Zeichen der Männlichkeit Giovannis einen Bart sowie Hoden auf, als Zeichen seiner Weiblichkeit hingegen das Fehlen eines Penis; außerdem heißt es, Giovanni könne weder zeugen noch gebären. Bartolo zitiert eine ganze Reihe Argumente, warum dies insgesamt gegen Giovannis Männlichkeit spräche und damit gegen seine Fähigkeit, ein Lehen zu empfangen; er selbst kommt aber zu einem anderen Urteil: Zum einen sei es im Kontext des Lehnsrechts relevant, dass Giovanni in der Lage sei, zu reiten und Waffen zu führen.48 Zum anderen komme es, wenn der körperliche Befund so uneindeutig sei, gerade nicht auf naturphilosophische oder sonstige gelehrte Definitionen an, sondern es reiche eine Alltagstheorie von Geschlecht: Wenn ein normaler Mensch Giovanni für einen Mann halten könne, reiche dies aus.49 Das ist, gerade für einen hochgelehrten Juristen wie Baldus, eine erstaunliche Argumentation. Baldus selbst hat den Fall in späteren Kommentaren aufgegriffen und dabei seine Argumentation in etwas anderer Form generalisiert: Wenn der körperliche Befund keine Klarheit schaffe, dann könne der betroffene Mensch in der Tat selbst wählen, unter der einzigen Bedingung, dass diese Wahl dauerhaft sein müsse.50 Letztlich reiche es, dass ein Hermaphrodit keine Frau sei, um im lehensrechtlichen Sinne als Mann und damit lehensfähig zu gelten. Unter ausdrücklicher Berufung auf sein eigenes Gutachten schreibt Baldus: „Der Hermaphrodit kann meiner Meinung nach [im Lehen] nachfolgen, denn es genügt, dass er keine Frau ist.“51

2.4 Katharina alias Hans Ein letzter Fall, wieder eine Ehe betreffend:52 In Rottweil, so berichtet es ein Konstanzer Chronist, der durchaus Augenzeuge gewesen sein könnte, habe ein Mann namens Hell eine Tochter namens Katharina gehabt. Als diese heranwuchs, || 48 Sed quantum ad feuda adtinet, est considerandum autem quod: aut incalescit in animo virili et expediendi domino feudi, ut in equitando et faciendo facta armorum, et in prudentia consilii, et tunc masculus debeat iudicari; aut est fragilis nature, modicum potens et muliebris, et tunc femina debeat iudicari, zitiert nach KIRSHNER u. CAVALLAR (Anm. 46), S. 112. 49 […] non intelligatur de masculis secundum quid, sed de sinpliciter masculis, id est, de hiis quos vulgus appellat masculos, zitiert nach KIRSHNER u. CAVALLAR (Anm. 46), S. 112. 50 Baldus folgt hier Hostiensis (Anm. 31). 51 […] dico quod succedit, quia sufficit quod non sit mulier. Et ita de facto consului in quadam successione marchionum de Malaspinis, zitiert nach KIRSHNER u. CAVALLAR (Anm. 46), S. 112. 52 Stadtarchiv Konstanz, A I 1, hier fol. 127ra. Siehe zum Folgenden ausführlicher Christof ROLKER, Der Hermaphrodit und seine Frau. Körper, Sexualität und Geschlecht im Spätmittelalter, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 593–620.

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da legte sie Männerkleidung an und sagte, sie sei ein Mann, und nannte sich selbst Hans. Dieser Hans nahm danach eine schöne junge Frau zur Ehefrau, beide waren etwa 20 Jahre alt; und Hans wuchsen Brüste, so wie auch seiner Frau. Daraufhin schickten die Bürger von Rottweil die beiden Eheleute nach Konstanz zum geistlichen Gericht, mit der Frage, ob es eine rechte Ehe sei. Hans wurde beschaut, er hatte einen Penis und eine Vulva. Also wurden die beiden zusammen wieder nach Hause geschickt.53

Was hier im Jahre 1388 vor den Konstanzer Bischof (oder seinen Offizial) gebracht wurde, war keine Klage, sondern das Ersuchen um Auskunft, ob es sich um eine ‚rechte‘, gültige Ehe handele. Der Wechsel von Name, Kleidung und Geschlecht war dem Gericht aus der Anfrage bekannt, und wahrscheinlich in Analogie zu ImpotenzVerfahren ordnete das Konstanzer Gericht eine körperliche Beschau an. Anders als in Aragon wird hier kein Chirurg erwähnt (dessen Anwesenheit in Konstanz auch erheblich unwahrscheinlicher gewesen sein dürfte), aber der Befund ist vergleichbar: Katharina alias Hans besaß sowohl männliche als auch weibliche Genitalien. Anders als im Fall der Berengaria gab es aber keine Zweifel, ob die ehelichen Pflichten erfüllt werden konnten; wohl deshalb ist auch, abgesehen von der einfachen Beschau, keine weitere Überprüfung überliefert, wie sie aus Impotenz-Verfahren bekannt sind.54 Insofern Impotenz ein Ehehindernis war, bezog das Gericht damit, dass es das Paar „zusammen“ nach Rottweil sandte, deutlich Stellung – hätte das Gericht Katharina alias Hans für impotent gehalten, hätte es nicht bestätigen dürfen, dass es sich um eine gültige Ehe handelte. Solche Zweifel scheinen aber nicht, insbesondere auch nicht von der Ehefrau, vorgetragen worden zu sein, und so blieb es bei der Feststellung, dass Katharina alias Hans außer einer Vulva auch einen Penis besaß und somit als Mann verheiratet sein konnte. Anscheinend wurde Hans also als überwiegend männlicher Hermaphrodit beurteilt. Doppelte Genitalien, so bestätigt es auch dieser Fall, waren jedenfalls nicht nur in der Theorie, sondern auch in der gerichtlichen Praxis des 14. Jahrhunderts kein Ehehindernis.

|| 53 Stadtarchiv Konstanz, A I 1, hier fol. 127ra: Anno Domini 1388 in die sancti Martini do kam ain wunderliche sach gen Costentz uff den kor und koment dar mit erber lüt von dem rat ze Rotwil. Item es ward ze Rotwil ain tochter geboren von ainem burger, hiess der Hell, und ward in dem toff gehaissen Katharina; und do sy wůchs, do lait sy mannes klaider an und sprach, sy wär ain man, und nampt sich selber Hans; und der selb Hans nam dar nach ain wip, das was ain schön tochter, und warent baid uff ain alter uff 20 jar; und Hansen wůchsent sin brüst als och sinem wip. Dar nach schiktent die burger von Rotwil die selben zway elichen menschen gen Costentz uff gaistlich gericht, das man erfür, ob es ein e mocht gesin. So ward Hans beschowet; der hätt ainen zagel und ain fud. Also wurdent sy wider haim gewist zesamen. 54 MURRAY (Anm. 43).

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3 Geschlechter vor Gericht Ein Erbfall, zwei aufgelöste Ehen und zwei neu geschlossene: So unterschiedlich die Körper wie auch die Rechtsfälle sein mögen, sie alle legen nahe, dass ‚uneindeutiges‘ körperliches Geschlecht im Sinne doppelter oder sich verändernder Genitalien vor Gericht nicht im besonderen Maße als Problem wahrgenommen wurde. Der lapidare Tonfall, den etwa der Konstanzer Chronist an den Tag legt, ist symptomatisch.55 In keinem Fall neigen die hier untersuchten normativen oder erzählenden Quellen zu Skandalisierungen, wie sie im Zusammenhang mit ähnlichen Ereignissen aus anderen Kontexten nur zu gut vertraut sind. Insbesondere finden sich keine Neigungen, die hermaphroditischen Anatomien als Zeichen göttlichen Zorns zu lesen, wie dies in der seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wieder anwachsenden Prodigienliteratur der Fall war.56 Auch eine Sexualisierung der Figur des Hermaphroditen, wie sie in drastischer Form zum Beispiel aus der Feder eines Antonio Beccadelli bekannt ist, ist nicht zu beobachten.57 Erst recht nicht wird eine ungewöhnliche Genitalanatomie in mehr oder minder direkten Zusammenhang mit Sodomie oder Tribadie gebracht, wie dies in zahlreichen literarischen und medizinischen Texten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts regelmäßig der Fall ist.58 Ausgesprochen aufschlussreich ist ferner ein Be-

|| 55 Vgl. auch GREEN, Bodily Essences (Anm. 11), die einen „lack of anxiety over hermaphrodites“ für das Mittelalter konstantiert, im Gegensatz zur „acute male anxiety about the very issues showcased by the new interpretation of the hermaphrodite“ im 16. und 17. Jahrhundert, die DASTON u. PARK (Anm. 8), hier S. 419 ausgemacht haben („early modern singularity“). 56 Vgl. allgemein Jean CEARD, La Nature et les prodiges: l’insolite au XVIe siècle, Paris 1996. Siehe zu ‚hermaphroditischen‘ Prodigien insbesondere auch die vorzügliche Analyse bei Sven LIMBECK, „Ein seltzam wunder vnd monstrum, welches beide mannlichen vnd weiblichen geschlecht an sich hett“. Teratologie, Sodomie und Allegorese in der Medienkultur der frühen Neuzeit, in: Lev Mordechai THOMA und Sven LIMBECK (Hgg.), „Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle“. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 199–247. 57 Antonio Beccadelli, Hermaphroditus. Lateinisch und deutsch, hrsg. v. Fritz Rudolf FRIES (ReclamBibliothek 1416), Stuttgart 1991. Die Epigramme Beccadellis thematisieren diverse sexuelle Handlungen keineswegs von Hermaphroditen, sondern von Männern (mit Männern, Frauen und Knaben). Um so auffälliger ist es, dass die Figur des Hermaphroditen durch die (im dritten Epigramm auch explizt thematisierte) Titelgebung als Chiffre für diese Handlungen verwendet wird. 58 Vgl. für die Neuzeit Emma DONOGHUE, Imagined More than Women. Lesbians as Hermaphrodites, 1671–1766, in: Women’s History Review 2 (1993), S. 199–216. Dieser Tribadie-Diskurs ist im Mittelalter unbekannt, selbst die Begrifflichkeit von tribas, tribade usw. für sexuelle Handlungen zwischen Frauen ist erst ab dem 16. Jahrhundert wieder belegt, siehe z. B. Marie-Jo BONNET, Sappho, or the Importance of Culture in the Language of Love. Tribade, Lesbienne, Homosexuelle, in: Anna LIVIA und Kira HALL (Hgg.), Queerly Phrased. Language, Gender, and Sexuality, Oxford 1997, S. 47–166. Auch Sodomie im Sinne mann-männlichen sexuellen Begehrens wird in mittelalterlichen medizinischen Texten nur ausgesprochen selten überhaupt mit körperlichen Besonderheiten erklärt (und nie mit einer hermaphroditischen Anatomie), siehe Sven LIMBECK, Phlegmatiker, Kinäden und Sodomiten.

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fund, der so nicht aus den normativen Quellen abgeleitet werden könnte: Die Anforderungen an einen Hermaphroditen, der als Mann leben wollte, waren im 14. Jahrhundert offenbar nicht allzu hoch. Die drei Hermaphroditen, die ein Interesse daran hatten, als Mann zu erben bzw. zu heiraten, konnten dies jedenfalls allesamt tun, obwohl sie nach den Maßstäben des Gerichts eindeutig ‚uneindeutige‘ Körper hatten – einen Bart, aber keinen Penis, wie Giovanni della Malaspina, oder weibliche Brüste, einen Penis und eine Vulva, wie Katharina alias Hans in Rottweil, oder erst nur weibliche und dann auch männliche Genitalien wie der Mensch aus einem Dorf bei Bern. Das gelehrte Recht, die gerichtliche Praxis und offenbar auch Freunde, Nachbarn und Verwandte waren sich hier allem Anschein nach einig: Das körperliche Geschlecht eines Menschen war durchaus wichtig, aber weder war es nur in den Genitalien zu finden, noch war es unbedingt dauerhaft, noch machte eine ‚uneindeutige‘ Anatomie eine eindeutige Zuweisung zu einem sozialen Geschlecht unmöglich. Insbesondere konnten auch Menschen ohne Penis bzw. mit Vulva als Mann akzeptiert werden, was auf eher niedrige anatomische Anforderungen an ‚Männlichkeit‘ schließen lässt. Die Anforderungen scheinen auch von den jeweiligen Rollen, in denen die in Frage stehende ‚Männlichkeit‘ erforderlich war, abzuhängen: Um ein Lehen erben zu können, scheint bei Giovanni die äußere Erscheinung (Bart) und das rollengerechte Handeln (Reiten, Waffen führen) wichtig gewesen zu sein, nicht unbedingt die Genitalanatomie. Für Ehemänner waren die Anforderungen andere, in anatomischer Hinsicht höher, aber abermals nicht unerreichbar hoch: Solange ein Mensch einen Penis vorweisen konnte, reichte dies offenbar aus, dass er eine Frau heiraten konnte, auch wenn er (wie der namenlose Mensch aus der Nähe von Bern) schon einmal als Frau verheiratet gewesen war oder (wie Katharina alias Hans) außer einem Penis noch eine Vulva und übrigens auch Brüste hatte. Giovanni Malaspina war also ‚männlich‘ genug, um sein Erbe anzutreten, hätte vermutlich aber nicht als Mann heiraten können. Noch einmal deutlich höhere Hürden hätten wohl für die Priesterweihe bestanden, für die Giovanni zumindest eine Dispens vom Makel der körperlichen Versehrtheit (ex defectu corporis) hätte einholen müssen. Während die letzten beiden Punkte Spekulation bleiben müssen, darf man doch hoffen, dass die vier zitierten Fälle in der Tat etwas über gesellschaftliche Erwartungshaltungen hinsichtlich Körper und Geschlecht erkennen lassen. Denn so klein die Zahl der Quellen sein mag, es spricht doch einiges dafür, dass sie jeweils nicht nur die Reaktionen der Autoren aufgenommen haben, denen wir die erhaltenen Quellen verdanken. Der unaufgeregte bis lapidare Tonfall der hier zitierten Texte ändert nichts daran, dass alle vier Fälle eine gewisse Aufmerksamkeit erregt haben dürften. Schon dass die Fälle vor Gericht verhandelt wurden und dass dies verschriftlicht

|| Bemerkungen zur Homosexualität im medizinisch-naturkundlichen Fachschrifttum des Mittelalters, in: Forum Homosexualität und Literatur 21 (1994), S. 21–44.

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wurde, ist Indiz für eine gewisse Aufmerksamkeit; und bevor die hier zitierten Überlieferungen überhaupt einsetzten, müssen eine ganze Reihe Menschen (Ehepartner, Verwandte, Nachbarn) von den ungewöhnlichen Anatomien in irgendeiner Form gewusst haben. Dieses Wissen wird nicht zuletzt die Form des mehr oder minder unkontrollierten Gerüchts angenommen haben. Dazu kommt, dass in drei der vier Fälle handfeste Konflikte (Ehetrennungen bzw. Erbstreitigkeiten) verhandelt wurden – Situationen also, in denen Gerüchte, üble Nachrede und Vorwürfe sexueller Natur durchaus erwartbar waren, wenn man die gut untersuchten Verhandlungen vor kirchlichen Gerichten des Spätmittelalters zum Vergleich heranzieht.59

4 Ambiguitätstoleranz? Sprechen diese Befunde nun für Ambiguitätstoleranz? Um dies zu beantworten, lohnt sich eine dreifache Unterscheidung von körperlichem Geschlecht, Status (als Mann oder Frau) und Verhalten in Anlehnung an die Unterscheidung, die WEST/ZIMMERMAN zwischen körperlichem Geschlecht (sex), alltagsrelevanter Geschlechterkategorie (sex category) und geschlechtskonformem Verhalten treffen.60 Angesichts der im Mittelalter deutlich anderen Beziehung zwischen dem körperlichen Geschlecht und sozialen Arrangements scheint mir dabei ‚Status‘ ein passenderer Begriff als sex category zu sein, um nach Ambiguitätstoleranz zu fragen. Dementsprechend wäre ‚Geschlecht‘ für das Mittelalter dann als die Unterscheidung von Männern, Frauen und Hermaphroditen zu verstehen, also nicht als binäre Unterscheidung wie bei WEST/ZIMMERMAN, hingegen ‚Status‘ diejenige binäre rechtliche Unterscheidung, die weitgehend mit der alltäglichen Unterscheidung von Frauen und Männern übereinstimmte.61 Eine sex category, die gleichzeitig die üblichen Unterscheidungen der Geschlechter aufnahm und eine alltägliche Kategorisierung von Menschen darstellte, ist hingegen für das Mittelalter nicht sinnvoll zu rekonstruieren. Die Verhaltensnormen, auf die sich doing gender im Sinne von WEST/ZIMMERMAN bezieht, sind hingegen auch

|| 59 Siehe z. B. Lawrence R. POOS, Sex, Lies, and the Church Courts of Pre-Reformation England, in: Journal of Interdisciplinary History 25 (1994/95), S. 585–607. 60 Candace WEST und Don H. ZIMMERMAN, Doing Gender, in: Gender and Society 1 (1987), S. 125–151. 61 Vgl. WEST u. ZIMMERMAN (wie Anm. 60), S. 127: „Sex is a determination made through the application of socially agreed upon biological criteria for classifying persons as females or males. The criteria for classification can be genitalia at birth or chromosomal typing before birth, and they do not necessarily agree with one another. Placement in a sex category is achieved through application of the sex criteria, but in everyday life, categorization is established and sustained by the socially required identificatory displays that proclaim one’s membership in one or the other category. In this sense, one’s sex category presumes one’s sex and stands as proxy for it in many situations, but sex and sex category can vary independently; that is, it is possible to claim membership in a sex category even when the sex criteria are lacking.“

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im Mittelalter als binär anzunehmen; dementsprechend sind sie mit dem Status als Mann oder Frau verknüpft (und nicht, wie bei WEST/ZIMMERMAN, mit der sex category). Für das Mittelalter ist also zwischen dem (nicht unbedingt binären) körperlichen Geschlecht und der entsprechenden Kategorisierung einerseits sowie dem binären rechtlichen Status und ebenso binär geschlechtlich codierten Verhaltensnormen andererseits zu unterscheiden. Was bedeutet dies für Ambiguitätstoleranz? Sowohl im gelehrten Recht als auch in der gerichtlichen Praxis wurden ‚hermaphroditische‘ Körper zunächst einmal nicht als ambivalent wahrgenommen, gerade weil es keine Erwartung eines strikt binären und lebenszyklisch stabilen körperlichen Geschlechts (sex) gab. Positiv ausgedrückt: Insofern das Vorkommen von Hermaphroditen und Geschlechtswechsel als selten, allenfalls als wunderlich (so der Konstanzer Chronist), jedenfalls aber als möglich erachtet wurden, waren auch doppelte bzw. wechselnde Zeichen körperlichen Geschlechts nicht unbedingt ambivalent, sondern konnten als eindeutig verstanden werden – als eindeutig hermaphroditisch nämlich. Bloße Unsicherheit hinsichtlich der Zuordnung eines ‚Hermaphroditen‘ zum männlichen oder weiblichen Geschlecht allein stellte noch keine binäre Leitdifferenz in Frage, insofern das körperliche Geschlecht nicht binär war – und wahrscheinlich auch kein Leitdifferenz, insofern die Verbindung zwischen körperlichem Geschlecht und der Ordnung der Geschlechter eher lose war. Ambiguität in diesem Sinne konnte hingegen dort entstehen, wo die Vielfalt der Körper die Zuordnung des in der Tat binären rechtlichen und sozialen Status als Mann oder Frau erschwerte oder gar in Frage stellte. Die zitierten Fälle zeigen ja, dass es aufgrund körperlicher Merkmale eines Menschen strittig sein konnte, ob dieser z. B. mit einer Frau verheiratet sein oder ein Lehen empfangen konnte. Auch auf dieser Ebene, auf der sehr wohl von Ambiguität gesprochen werden kann, haben die untersuchten Quellen aber wenig Hinweise auf eine Problematisierung der jeweiligen Körper geliefert. Eine wahrgenommene Infragestellung von gesellschaftlichen Leitdifferenzen ist erst einmal nicht zu erkennen. Die normativen Quellen zeigen, dass es geordnete Verfahren der Status-Zuweisung gab, und die zitierten Chroniken und Gutachten legen nahe, dass auch im Alltag die fallweise durchaus fragliche oder sogar wechselnde Zuordnung eines Status vergleichsweise unproblematisch war. Das ist überwiegend ein Negativbefund, zumal auf schmaler Quellenbasis, spricht aber eher für Ambiguitätstoleranz. Schließlich ist drittens der große Bereich des doing gender, der alltäglichen Erfüllung mannigfaltiger geschlechtsspezifischer Erwartungshaltungen, zu betrachten. In diesem Bereich ist in der mittelalterlichen Gesellschaft mit wenig Toleranz zu rechnen, durchaus auch im Sinne gerichtlicher Sanktionierung. Die hier untersuchten Beispiele sind aber nicht geeignet, den Grad von Toleranz oder Intoleranz zu untersuchen. Die deutlichste Verletzung von geschlechtsspezifischen Normen ist im Bereich von Ehe und Sexualität erkennbar gewesen: Die oben zitierten Frauen mit doppelten Geschlechtsorganen (Berengaria und die mulier de villa prope Bernam) waren

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im kirchenrechtlichen Sinne impotent, ebenso Giovanni de Malaspina. Dies war für das jeweilige Individuum zweifelsohne eine gravierende Infragestellung der eigenen geschlechtlichen Identität, die gesellschaftlichen Reaktionen lassen aber nicht erkennen, dass darin eine Gefahr für die Geschlechterordnung oder auch nur eine Ambivalenz gesehen wurde. Eine impotentia coeundi konnte bei Männern, Frauen und Hermaphroditen fallweise festgestellt werden, eine weitergehende Problematisierung hermaphroditischer Körper (zum Beispiel die Annahme, alle Hermaphroditen seien von der Ehe auszuschließen) ist nirgends erkennbar. Auch sonst lassen die hier zitierten Quellen nicht erkennen, dass die ‚Hermaphroditen‘ die Erwartungshaltungen des sozialen Geschlechts, dem sie jeweils zugeordnet waren, verletzt hätten bzw. durch ambivalentes Verhalten in Frage gestellt hätten. Das muss nicht heißen, dass es keine Ambivalenzen oder Devianz im Bereich des doing gender gegeben habe, aber insgesamt scheinen diese (oder Reaktionen auf diese) unterhalb der Schwelle geblieben zu sein, mit deren Übersteigung sie Spuren in den Quellen hinterlassen hätten. Für Ambiguitätstoleranz muss das nicht sprechen, allenfalls gegen die Annahme extremer Intoleranz. Insgesamt mangelt es damit an Ambivalenz, der gegenüber Toleranz oder Intoleranz festgestellt werden könnte: Das körperliche Geschlecht (sex) der ‚Hermaphroditen‘ war nicht ambivalent, und von Verhalten, das hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Verhaltenserwartungen (und damit gender) ‚ambivalent‘ gewesen wäre, ist in den hier untersuchten Quellen nicht die Rede. Der einzige Bereich, in dem nach Ambiguitätstoleranz gefragt werden kann, ist der Umgang mit der zumindest strittigen Zuordnung zu einem Status als Mann oder Frau. Zwar erscheint diese Zuordnung in den zitierten Quellen vergleichsweise unproblematisch, aber immerhin sind Konflikte erkennbar, die eine genauere Analyse rechtfertigen. Einerseits ist am Befund nicht zu rütteln, dass eine ungewöhnliche Genitalanatomie in keiner der untersuchten Quellen in besonderer Weise skandalisiert, also z. B. in besonderer Weise sexualisiert oder als Prodigium gedeutet wurde, und diese Befunde gelten auch für viele andere mittelalterliche Quellen.62 Andererseits ist es für die zitierten ‚Geschlechtswechsel‘ (genauer: Statuswechsel) doch plausibel, dass selbst sehr seltene Wechsel dieser Art grundsätzlich geeignet waren, die Dauerhaftigkeit einer fundamental wichtigen Statuszuweisung in Frage zu stellen. So unproblematisch der Statuswechsel im Falle von Katharina alias Hans oder der als Mann aus Bologna zurückgekehrten Frau gewesen zu sein scheinen, so riskant dürften solche Wechsel allgemein gewesen sein. Zwar nicht aus dem 14. Jahrhundert, wohl aber aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind missglückte Statuswechsel bekannt, die drastische Folgen bis hin zu Anklagen wegen Sodomie und dementsprechend Todesurteile zur

|| 62 Vgl. CADDEN, RIHA, MOSHÖVEL und METZLER (alle Anm. 11) zu medizinischen, VAN DER LUGT (Anm. 12) zu theologischen und kanonistischen sowie ROLKER (Anm. 13) zu kanonistischen und romanistischen Quellen.

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Folge haben konnten.63 Auch wenn eine hermaphroditische Anatomie selbst weder ambivalent noch eine Infragestellung der Geschlechterordnung war, kann man dies von Statuswechseln sehr wohl zumindest vermuten. Die bloße Tatsache, dass mehr als nur zwei Kategorien bereitstanden, um einem Menschen ein Geschlecht zuzuordnen, muss keine Toleranz bedeutet haben.64 Bevor hier also vorschnell auf Ambiguitätstoleranz geschlossen wird, sollte genau beachtet werden, was denn ‚toleriert‘ wurde, wenn Katherina als Hans lebte und heiratete bzw. die von ihrem Mann getrennte Ehefrau in Bologna zum Mann wurde und als solcher neu heiratete. Beides sind Statuswechsel in Richtung Mann, wie auch sonst in so gut wie allen anderen vormodernen Quellen, in denen es um Geschlechtsbzw. Statuswechsel geht. Das gilt für weibliche Heilige, die als Mann lebten oder Bartwuchs entwickelten,65 für wundersame Geschlechtswechsel in der Dichtung von Ovid bis zu ‚Ide et Olive‘66 ebenso wie für die von Plinius bis Montaigne gesammelten Berichte von spontanen Verwandlungen von Frauen in Männer.67 Auch Berichte von geschlechtsverändernden Operationen sind in der Vormoderne stets solche über Frauen, die zu Männern gemacht wurden.68 Dieser Befund ist umso wichtiger, als die mittelalterliche Intoleranz gegenüber geschlechtlich ambivalentem Verhalten vor allem eine Intoleranz gegenüber der Verletzung von Männlichkeitsnormen war. Zwar standen, insbesondere im religiösen Bereich, auch für mittelalterliche Männer einige positiv konnotierte Rollen zur Verfügung, in denen sie sich ‚weibliche‘ Attribute zulegen konnten (z. B. der ‚mütterliche‘ Bischof oder der ‚jungfräuliche‘ Mönch). Überwiegend aber war es beschämend bis gefährlich, wenn einem Mann ‚weibliche’ Attribute zugelegt wurden. Für Frauen hingegen war, auch jenseits der religiösen Sphäre, || 63 Die cause célèbre von Marie/Marin Le Marcis, 1603 in Paris zum Tode verurteilt, wurde schon in frühneuzeitlichen Nachschlagewerken kanonisiert und in der Forschung immer wieder zitiert. Siehe FOUCAULT, Les anormaux (Anm. 4), S. 63–64, LAQUEUR (Anm. 3), S. 136–138, DASTON u. PARK (Anm. 8), S. 124–128 und fast die gesamte in Anm. 9 angeführte Literatur. Der früheste überlieferte Status-Wechsel, dessen Misslingen zu einem Todesurteil führte, ist aus dem 16. Jahrhundert überliefert, siehe ROLKER (Anm. 13), S. 212–213. 64 Auch das ergibt sich aus den Überlegungen von KLÖPPEL (Anm. 14) 65 Siehe Vern L. BULLOUGH u. Bonnie BULLOUGH, Cross Dressing, Sex, and Gender, Philadelphia 1993, Kap. 3. 66 Siehe Diane WATT, Behaving Like a Man? Incest, Lesbian Desire, and Gender Play in Yde et Olive and its Adaptations, in: Comparative Literature 50 (1998), S. 265–285. 67 Siehe unter anderem DASTON u. PARK (Anm. 8), v. a. S. 128–130. 68 Zur medizinischen Literatur siehe METZLER (Anm. 11), S. 35–36 und RUBIN (Anm. 33), S. 105; die einschlägigen Autoritäten (Avicenna, Albucasis, Guy de Chauliac) sprechen immer nur von der ‚Heilung‘ von weiblichen Hermaphroditen durch operative Eingriffe. Dies gilt auch für entsprechende erzählende Quellen, z. B. für den frühesten mir bekannten Bericht dieser Art: Diodorus Siculus, Griechische Weltgeschichte, übersetzt von G. WIRTH, 10 Bde., Stuttgart 1991–2008, hier Bd. 10, S. 179. Auch in der Novellen-Literatur ist das Motiv der chirurgischen Geschlechtsumwandlung stets als Verwandlung in einen Mann gestaltet, siehe z. B. Giovanfrancesco Straparola, Le piacevoli Notti […], o. O. 1556, S. 146–148.

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eine Zulegung bestimmter männlicher Attribute häufiger positiv besetzt, namentlich in der Figur der ‚männlichen‘ virago. Deutlich ist diese Asymmetrie auch im Bereich der sexuellen Devianz: In Bezug auf die männliche Sexualität waren Effemination und Sodomie wenn nicht deckungsgleich, so doch in hinreichend gefährlicher Nähe, dass das eine den Verdacht auf das andere wecken konnte. Für Frauen, die mit Frauen sexuell verkehrten, haben mittelalterliche Quellen hingegen keinen eigenen Begriff, insbesondere auch nicht den der Tribade. Erst recht nicht werden diese Frauen als körperlich deviant beschrieben, wie dies im Tribadie-Diskurs der Neuzeit regelmäßig der Fall war.69 Diese Asymmetrie bedeutete auch, dass ein Statuswechsel in Richtung Mann im Mittelalter erheblich weniger riskant war. Dies dürfte ein Grund sein, warum als Frauen lebende ‚Hermaphroditen‘ im 14. Jahrhundert männlichen Status anstreben konnten, ohne den gleichen Risiken ausgesetzt zu sein, wie dies im 16. und 17. Jahrhundert der Fall gewesen zu sein scheint.70 Ein zweiter Grund, warum diese Statuswechsel erfolgreich sein konnten, liegt in den relativ niedrigen Anforderungen an die Körper von Männern, insbesondere von Ehemännern, im späten Mittelalter:71 Zwar mussten sie plausiblerweise in der Lage sein, ihre ‚eheliche Pflichten‘ erfüllen zu können. Darüber hinaus jedoch war die mittelalterliche Ehe eine niedrigschwellige Institution, die keine besonderen körperlichen Anforderungen stellte. Das Mindestalter für gültige Ehen war niedrig, bis zur Geschlechtsreife beider Partner konnten solche Ehen auch nicht wegen Impotenz angefochten werden. Unfruchtbarkeit, und erst recht bloße Kinderlosigkeit, waren nach mittelalterlichem Kirchenrecht keine Ehehindernisse und kein Trennungsgrund. Zeugungsfähigkeit mag auch im Mittelalter wichtig für männliche Ehre gewesen sein,72 aber Kinderlosigkeit konnte als Josephsehe auch positiv gedeutet werden. Für den Zugang zur Ehe für ‚Hermaphroditen‘ war dies insofern wichtig, als sie nicht, wie dies aus der Frühen Neuzeit verschiedentlich bekannt ist, aufgrund vermuteter oder tatsächlicher Unfruchtbarkeit grundsätzlich von der Ehe ausgeschlossen wurden.73 Schließlich ist der Zugang zur Ehe nicht nur als Explanandum, sondern Explanans anzusehen: In Gesellschaften, in denen körperliches Geschlecht und sexuelles || 69 DONOGHUE (Anm. 58). 70 Siehe oben (Anm. 63). 71 Die deutlich höheren Anforderungen an männliche Körper in der Frühen Neuzeit betont Cathy MCCLIVE, Masculinity on Trial. Penises, Hermaphrodites and the Uncertain Male Body in Early Modern France, in: History Workshop Journal 68 (2009), S. 45–68. 72 Klaus VAN EICKELS, Männliche Zeugungsunfähigkeit im mittelalterlichen Adel, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29 (2010), S. 73–95. 73 Siehe aus der deutschsprachigen Kommentarliteratur des 18. Jahrhunderts z. B. Germanus Philoparchus, Des klugen Beamten […] Siebender Theil, Nürnberg 1752, hier S. 100 (eindeutig gegen Baldus de Ubaldis; zu diesem siehe KIRSHNER u. CAVALLAR [Anm. 46]). Zu Heinrich Christoph Schweser alias Germanus Philoparchus (1647–1727) und seinem Kommentar siehe Christof ROLKER,„Kluge Beamte“, die ihre Meinung ändern, Männlich-weiblich-zwischen, 16/11/2015, http://intersex.hypotheses.org/1062.

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Begehren nicht durch ‚Identitäten‘ stabilisiert und keine „personalen Eigenschaften“ waren,74 konnte auch die Ehe keine solchen Identitäten voraussetzen. Wohl aber konnte sie, und dies scheint mir bei der Ehe der ‚Hermaphroditen‘ der Fall zu sein, ihrerseits Geschlecht und Begehren stabilisieren. Ein Mensch, der mit einer Frau verheiratet war, war ein Mann; mehr als die unsicher zu lesenden, möglicherweise sogar wechselnden körperlichen Zeichen sicherte die Ehe die Dauerhaftigkeit des männlichen Status des Ehemanns. Die Ergebnisse lassen sich knapp zusammenfassen. Die bloße Tatsache, dass (medizinische) Geschlechtermodelle mehr als nur zwei Kategorien kannten, muss keine ‚Toleranz‘ bedeuten, und auch die Aufnahme dieser Modelle in rechtliche Normsysteme allein erlaubt keine Aussagen über das Leben von Menschen zwischen den Geschlechtern. Die Beispiele von „Genitalien vor Gericht“ aus dem 14. Jahrhundert, in denen Chroniken und Gutachten den Umgang mit Menschen mit ungewöhnlicher Genitalanatomie erkennen lassen, haben denn auch Hinweise geliefert, die weder den medizinischen noch den normativen Quellen hätten entnommen werden können. Erzählende und normative Quellen zusammen aber erlauben, bei aller Vorsicht angesichts der schmalen und zufälligen Überlieferung, den Schluss, dass hermaphroditische Körper nicht als ‚ambivalent‘ problematisiert wurden. Bei den ‚Geschlechtswechseln‘, die durchaus als Herausforderung einer gesellschaftlichen Leitdifferenz verstanden werden konnten, ist genau zu beachten, was hier ‚toleriert‘ wurde: Nicht Geschlechtswechsel wurden toleriert, sondern unter bestimmten Bedingungen war es als Hermaphroditen gelesenen Menschen möglich, einmalig und sozial kontrolliert ihren Status in Richtung Mann zu verändern. Im Vergleich insbesondere zum 16. und 17. Jahrhundert kann man hier von gesellschaftlicher ‚Ambiguitätstoleranz‘ sprechen. Diese Toleranz war aber sicher kein Ausdruck flexibler Geschlechterarrangements, sondern Teil einer festen, möglicherweise auch deshalb weniger leicht zu irritierenden Geschlechterordnung, die im historischen Vergleich eher niedrige Anforderungen an die Körper von (Ehe-)Männern stellte und in der die Institution der Ehe nicht geschlechtliche ‚Identitäten‘ voraussetzte, sondern selbst das körperliche Geschlecht stabilisierte.

|| 74 Dies mit Sven LIMBECK, Geschlechter in Beziehung. Die heterosexuelle Konstruktion gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Mittelalter, in: Therese Frey STEFFEN (Hg.), Masculinities – Maskulinitäten. Mythos, Realität, Repräsentation, Rollendruck, Stuttgart u. Weimar 2002, S. 146–176, hier S. 146: „Kulturhistorisch und -geographisch überwiegen Zeiten und Räume, in denen sich die heterosexuelle Matrix reproduziert, ohne auf die Hilfskonstruktion der sexuellen Identitäten zurückzugreifen. Dies verbindet, von anderen diskursiven Kontinuitäten abgesehen, die Antike mit dem Früh- und Hochmittelalter. Für diese Epochen läßt sich das Begehren sinnvollerweise als ein Handeln in Beziehungen verstehen, das eng mit Sprache korreliert oder selbst Sprache ist. Das Begehren vollzieht sich exzentrisch, außerhalb der Körpergrenzen, und erzeugt die Subjekte und Objekte mit geschlechtlichen Signaturen. Geschlecht ist also keine personale Eigenschaft, sondern Effekt einer sprachlichen Handlung.“

Christian Hoffarth

Die Reichtümer derer, die die Welt für Bettler hielt Mendikantische Armut als Disambiguierungsstrategie Zusammenfassung: Im lateineuropäischen Mittelalter bildete die binäre Unterscheidung der Menschheit in Arme und Reiche ein gängiges soziales Deutungsmuster. Das Nebeneinander Bedürftiger und Begüterter schien biblischen Kategorien zu entsprechen und galt daher grundsätzlich als göttlich legitimiert. Vor dem Hintergrund einer sich ökonomisch ausdifferenzierenden Gesellschaft geriet diese dualistische Vorstellung seit dem 12. Jahrhundert allerdings mehr und mehr in Bewegung, was nicht zuletzt zu einer immer stärkeren Marginalisierung der Armen führte. Die zur selben Zeit sich immer schärfer artikulierenden Vorwürfe an den Klerus, das evangelische Armutsgebot zu missachten, können in ebendiesen Kontext eingeordnet werden. Der Beitrag wirft die Frage auf, welche Rolle dem sich just in jener Gemengelage herausbildenden mendikantischen Armutskonzept im Wandel der Ordnungen und Deutungen des Sozialen zukam. Anhand apologetischer Schriften mendikantischer Autoren des 13. Jahrhunderts, namentlich von Thomas von Aquin, Bonaventura und Petrus Olivi ergründet er, welchen Wert die Vordenker der Bettelorden der Leitdifferenz arm/reich beimaßen, wie sie auf potentielle Verunklarungen reagierten und wo sie ihre eigenen Gemeinschaften im gesellschaftlichen Gefüge von Armut und Reichtum verorteten. Auf diese Weise wird erkennbar, dass das ursprüngliche mendikantische Armutsideal und seine radikaleren Vertreter im 13. und 14. Jahrhundert auf eine Disambiguierung des Armutsbegriffs und auf die schematische Reduktion sozialer Komplexität zielten. Schlüsselwörter: Ideengeschichte, Armut, Reichtum, Eigentum, Bettelorden, Eschatologie Die Kirchengüter werden unter die Armen verteilt. Nein nein nein. Solche gotteslästerlichen Dinge will ich gar nicht lesen. Für die Armen. Was sollen die denn mit dem vielen Geld? Schließlich sind die Armen arm, darum heißen sie ja auch Arme. Das dreht ja die Welt herum. (Friedrich der Weise bei der Lektüre der Gemeindeordnung der Stadt Wittenberg, in: Dieter FORTE, Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung, Frankfurt a. M. 52009, S. 103)

|| Dr. Christian Hoffarth, Institut für Personengeschichte, Hauptstraße 65, 64625 Bensheim, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-009

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Am 7. Mai 1318 loderte auf dem Marktplatz von Marseille der Scheiterhaufen. Fünf provenzalische Franziskaner sollten zur Strafe für ihren Ungehorsam gegenüber dem Papst und den Ordensoberen den Feuertod sterben. Angesichts der drohenden Qualen unterwarf sich einer von ihnen im allerletzten Augenblick doch noch der Inquisition und widerrief seine Häresie. Er entging der Hinrichtung, sein Urteil wurde in lebenslange Haft umgewandelt. Die anderen vier indes wollten von ihren Überzeugungen nicht lassen und ließen in den Flammen ihr Leben.1 Mit der öffentlichen Exekution der vier Franziskaner aus Narbonne und Béziers, Angehörige des rigoristischen Ordensflügels der sogenannten Spiritualen,2 wurden die seit dem frühen 13. Jahrhundert schwelenden Konflikte um die franziskanische Armut auf eine neue Ebene gehoben.3 Schon seit Gregor IX. (um 1170–1241, Papst seit 1227) hatten sich Päpste mittels allerlei Kunstgriffen und Verfügungen immer wieder, und oft erfolgreich, darum bemüht, die strenge Armutspraxis der Franziskaner abzumildern.4 Doch erst der 1316 auf die Cathedra Petri gehobene Johannes XXII. (um

|| 1 Einen zeitgenössischen Bericht bietet Angelo Clareno: Et facta de ipsis inquisitione iuxta domini papae mandatum, exceptis .xxv. fratribus, omnes consenserunt fratrum consiliis et voluntatibus. Et fratres imposuerunt eis paenitentias secundum rigorem iustitiae ordinis; illos autem .xxv. tradiderunt in manibus inquisitoris, ex quibus quatuor combusti sunt pro eo quod asserebant regulam sancti Francisci esse idem quod Evangelium Christi; quod solemniter promissum cadit in praeceptum, eo quod tale votum habet vim praecepti, specialiter in his, quae regula praeceptorie vel inhibitorie mandat; et talia dicebant, non cadunt sub dispensatione alicuius asserebant etiam quod summus pontifex non potuerat fratribus minoribus, qui promiserunt Christi Evangelium, concedere cellaria, granaria et olearia; et quod papa peccaverat concedendo, et ipsi recipiendo. Et quia ab hac assertione non potuerunt per aliquam revocari, ideo sententiam ignis acceperunt. Alter autem immuratus est perpetuo, quia, licet finaliter revocaverit, tamen pluribus diebus multum pertinax in defensione suae assertionis fuerat. Angelo Clareno, Liber chronicarum sive tribulationum ordinis minorum 6, 431–438, hrsg. v. Giovanni BOCCALI, Assisi 1998, S. 730–732. 2 Die beiden großen Studien zu den Franziskanerspiritualen sind: David BURR, The Spiritual Franciscans. From Protest to Persecution in the Century after Saint Francis, University Park 2001 und Raoul MANSELLI, Spirituali e Beghini in Provenza, Rom 1959. Pionierarbeit leistete Franz EHRLE, Die Spiritualen, ihr Verhältnis zum Franciscanerorden und zu den Fraticellen, in: Archiv für Litteraturund Kirchengeschichte des Mittelalters 1 (1885), S. 509–569; 2 (1886), S. 106–164; 3 (1887), S. 553–623; 4 (1888), S. 1–190. 3 Eine Gesamtdarstellung der franziskanischen Armutskontroversen von den Anfängen des Ordens bis ins frühere 14. Jahrhundert bei: Malcolm D. LAMBERT, Franciscan Poverty. The Doctrine of the Absolute Poverty of Christ and the Apostles in the Franciscan Order 1210–1323, London 1961. 4 Die wichtigsten päpstlichen Stellungnahmen und Interventionen zur franziskanischen Armut vor Johannes XXII. finden sich in den folgenden Bullen: Gregor IX, Quo elongati (1230), hrsg. v. Herbert GRUNDMANN, in: Archivum Franciscanum Historicum 54 (1961), S. 20–25; Innocenz IV., Ordinem vestrum (1245), hrsg. v. Joannes Hyacinthus SBARALEA, in: Bullarium Franciscanum 1, Rom 1759, S. 400–402; Nikolaus III., Exiit qui seminat (1279), hrsg. v. Johannes Hyacinthus SBARALEA, in: Bullarium Franciscanum 3, Rom 1765, S. 404–417.

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1244–1334, Papst seit 1316) ging zur unerbittlichen Verfolgung jener Minderbrüder über, die nach wie vor der radikalen Weltentsagung des Ordensstifters anhingen.5 Auch dem Scheiterhaufen in Marseille gab der Streit um die freiwillige Armut den Zunder. Wofür konkret die Spiritualen belangt worden waren, kann der im Oktober des Vorjahres von Johannes XXII. erlassenen Dekretale ‚Quorundam exigit‘ entnommen werden.6 Mit dieser richtete sich der Papst gegen eine Gruppe radikaler südfranzösischer Franziskaner, die trotz anderslautender Anweisungen ihrer Oberen darauf bestanden hätten, „kurze, enge, ungebräuchliche und grobe“ Gewänder zu tragen,7 und den Betrieb von Getreidespeichern und Weinkellern in ihren Konventen für unvereinbar mit dem franziskanischen Armutsideal hielten.8 Unter Androhung der Exkommunikation schärfte der Papst den Abweichlern ein, sich ihren Oberen zu unterwerfen, das gängige Ordenskleid an- und ihre irrigen Ansichten abzulegen.9 Auf Grundlage dieser Bestimmungen führten im Spätjahr 1317 zunächst der Ordensgeneral Michael von Cesena (um 1270–1342), dann der Inquisitor der Provence Michel

|| 5 Zur Verfolgung der Spiritualen und der ihnen nacheifernden Bewegung der Beguins unter Johannes XXII.: BURR (Anm. 2), S. 179–259; zu den letzteren auch: Louisa A. BURNHAM, So Great a Light, so Great a Smoke. The Beguin Heretics of Languedoc, Ithaca 2008. 6 Johannes XXII., Quorundam exigit, hrsg. v. Konrad EUBEL, in: Bullarium Franciscanum 5, Rom 1898, S. 128–130. 7 Ebd., S. 128: […] fratribus aliqui habitus propterea curtos, strictos, inusitatos et squalidos, novitate plenos ac dissidii non ignaros, cum a communitate ordinis discreparent, assumerent, nec eos ad ministrorum, custodum et guardianorum eorundem mandatum requisti deponerent nec alios, prout eiusdem ordinis communitas deferebat, habitus iuxta eorundem ministrorum, custodum et guardianorum arbitrium ducerent resumendos […]. 8 Ebd., S. 130: Eodem modo, eisdem quodammodo rationibus invitati, cum praefatorum ministrorum et custodum sub certa forma […] cum guardiani et duorum de conventu loci discretorum sacerdotum et antiquorum in ordine fratrum consilio et assensu praefatus Clemens iudicio duxerit relinquendum, an sit multum credibile ex iam expertis, quod fratris ipsi absque granariis et cellariis non possint vitae necessaria invenire […]: nos de praefatorum fratrum nostrorum consilio eorundem ministrorum et custodum sub eadem forma iudicio praesentium auctoritate committimus determinare, videlicet arbitrari atque praecipere eo casu, qualiter, ubi, quando, quomodo et quotiens granum, panem et vinum pro vitae fratrum necessariis fratres ipsi quaerere debeant, conservare, sive reponere, etiamsi reponenda sint in praedictis granariis et cellariis conservanda […]; ac insuper, quod illorum sequendo arbitrium, determinationem sive iudicium illisque parendo nec sint nec dici possint vel debeant nec ipsi seipsos autument suae regulae vel constitutionum sui ordinis transgressores. 9 Ebd.: Ideoque omnes et singulos fratres antedicti ordinis Minorum qui strictos, curtos et difformes habitus ab ipsius generalis ministri et aliorum fratrum de dicta communitate habitibus corum nobis et fratribus nostris vel alias in Romana curia detulerunt vel deferunt, monemus et hortamur in Domino, eis nihilominus in virtute obedientiae ac sub excommunicationis poena per apostolica scripta mandantes, quatenus ad mandatum ipsius generalis deponant […].

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Monachus die Befragung der Angeklagten durch, die den vier Uneinsichtigen schließlich das Todesurteil einbrachte.10 Warum aber beharrten die Spiritualen bis zuletzt auf ihrer Position, warum wollten und konnten sie nicht widerrufen? Weshalb war die Frage nach Schnitt und Material des Habits und der Einlagerung von Nahrungsvorräten für sie eine Sache von Leben und Tod? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt zurück auf die Ursprünge der Bettelorden und zu den Eigenheiten mendikantischer Armutsauffassung. Im Folgenden möchte ich im Sinne des vorliegenden Bandes argumentieren, dass das mendikantische Armutsmodell, wie schon Franz von Assisi (1181/82–1226) und Dominikus (um 1170–1221) es verstanden, aber insbesondere, wie auf sie folgende franziskanische und dominikanische Denker des 13. Jahrhunderts es ausbuchstabierten, als Reflex auf Ambiguierungen des Armutsbegriffs gelesen werden kann. Es wird zu zeigen sein, dass die langwierigen und folgenreichen Kontroversen um die Armut der Bettelorden, inklusive der gewaltvollen Marseiller Episode von 1318, als Konflikte um das rechte Maß an Toleranz gegenüber Uneindeutigkeiten im dualistisch gedachten Gefüge von Armut und Reichtum verstanden werden können. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt versuchen, die prinzipielle ideengeschichtliche Bedeutung der Differenz von Arm und Reich für das Mittelalter im Allgemeinen und für die Bettelorden im Speziellen in groben Zügen zu umreißen. Anschließend sollen einige zentrale Kontroversschriften aus den Armutsdebatten des 13. Jahrhunderts daraufhin untersucht werden, welchen Wert die mendikantischen Autoren dieser Differenz beimaßen und wie sie sich gegenüber etwaigen Verunklarungen positionierten.

1 Arm und Reich als Leitdifferenz der sozialen Ordnung Jacques LE GOFF hat in seiner großen Studie über die Erfindung des „dritten Ortes“ im Mittelalter beschrieben, wie seit dem 12. Jahrhundert die bis dato für die Repräsentation der sozialen und religiösen Ordnung vorherrschenden Zweierschemata nach und nach durch Dreierschemata abgelöst wurden.11 Binäre Unterscheidungen wie Klerus/Laien, Mönch/Weltgeistlicher und potens/pauper wurden um eine dritte, mittlere Kategorie ergänzt, um so den veränderten Verhältnissen, insbesondere durch den || 10 In seiner Verurteilungssentenz wiederholt Michel Monachus die in ‚Quorundam exigit‘ vorgebrachten Anklagepunkte: Michael Monachus, Inquisitoris sententia contra combustos in Massilia, hrsg. v. Sylvain PIRON, in: Oliviana 2 (2006), http://oliviana.revues.org/index36.html. 11 Vgl. Jacques LE GOFF, Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München 1990, S. 273–276. Vgl. auch DERS., Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts, Weingarten 1987, S. 43–55.

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Aufstieg des Bürgertums in der städtischen Gesellschaft, gerecht zu werden.12 Dieselbe Entwicklung hin zu „einer gesellschaftlich und geistig differenzierten Welt“ seit dem 11. und 12. Jahrhundert, durch die die „moralische Statik“ des alten Dualismus von Arm und Reich aufgebrochen wurde, hatte auch schon Karl BOSL ausgemacht.13 BOSLS bekannte begriffsgeschichtliche Untersuchung über das Gegensatzpaar Reich und Arm – im gelehrten Sprachgebrauch des Mittelalters in der Regel realisiert als potens/pauper, dives/pauper, dives/egens bzw. divites/egeni – mit einer Fülle von Quellenbeispielen aus dem frühen und hohen Mittelalter führt allerdings auch vor Augen, wie stark die schematische Differenzierung der Gesellschaft nach bedürftigen und bemittelten Menschen in der Vorstellung des lateineuropäischen Christentums verwurzelt war.14 Sie war Ausdruck eines fundamental dualistischen Denkens,15 das seinen für das gesamte Mittelalter wahrscheinlich folgenreichsten Niederschlag in der Zweischwerterlehre fand, nach der die Weltordnung auf der Unterscheidung zwischen priesterlicher und säkularer Gewalt basierte.16 Wie die Theorie von den zwei Schwertern, geschöpft aus Lk 22,38, so hatten auch die Gegensatzpaare pauper/dives, pauper/potens usw. ihren Ursprung in der Heiligen Schrift oder, genauer, in der Vulgata.17 Im Alten Testament bezeichnet Armut zum einen den Zustand spiritueller Bedürftigkeit, des Verlangens nach Gott und göttlicher

|| 12 Vgl. LE GOFF, Geburt (Anm. 11), S. 273–274. Zur sogenannten „kommerziellen Revolution“ im Spätmittelalter, die eine ökonomische Ausdifferenzierung der Stadtgesellschaft zur Folge hatte, siehe Raymond DE ROOVER, The Commercial Revolution of the 13th Century, in: Bulletin of the Business Historical Society 16 (1942), S. 34–39. 13 Vgl. Karl BOSL, Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum „Pauperismus“ des Hochmittelalters, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft (FS Otto Brunner), hrsg. v. Historischen Seminar der Universität Hamburg, Göttingen 1963, S. 60–87, hier S. 87. 14 Vgl. dazu auch Otto Gerhard OEXLE, „Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins“. Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung, in: Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 45–70, hier S. 67; Barbara FRENZ, Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Geistesgeschichte, Quellensprache, Gesellschaftsfunktion (Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A 52), Köln, Weimar, Wien 2000, S. 39–61. 15 Vgl. Karl BOSL, Armut Christi. Ideal der Mönche und Ketzer, Ideologie der aufsteigenden Gesellschaftsschichten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophische Klasse, Sitzungsberichte 191, Heft 1), München 1981, S. 6. 16 Zur Zweischwerterlehre des Mittelalters zuletzt umfassend: Volker MANTEY, Zwei Schwerter. Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund (Spätmittelalter und Reformation 26), Tübingen 2005. 17 Vgl. Jean LECLERCQ, Aux origines bibliques du vocabulaire de la pauvreté, in: Michel MOLLAT (Hg.), Etudes sur l’histoire de la pauvreté (Moyen Âge – XVIe siecle) (Publications de la Sorbonne. Série Etudes, tome I– II 1), S. 35–43; Maria Lodovica ARDUINI, Biblische Kategorien und mittelalterliche Gesellschaft: „Potens“ und „Pauper“ bei Rupert von Deutz und Hildegard von Bingen (XI. bzw. XII. Jh.),

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Gerechtigkeit, zum anderen alle Formen von Unglück, Elend und Unterdrückung, Krankheit und Schwäche, Mittel-, Schutz- und Machtlosigkeit.18 In den Büchern Mose und in der Weisheitsliteratur wird sie vor allem als schändlich und selbstverschuldet, als gerechte Strafe für falsches Handeln und somit negativ beurteilt.19 Reichtum hingegen wird als verdienter Lohn für gute Arbeit und kluges Handeln sowie als Segen Gottes verstanden.20 Bei den Propheten und in den Psalmen allerdings scheint dieses Urteil ins Gegenteil verkehrt, der Zustand der Armut basiert hier auf Vernachlässigung und Ungerechtigkeit, die Beziehung zwischen Armen und Reichen ist vorwiegend eine von Unterdrückten und Unterdrückern.21 Gott erscheint dementsprechend als Beschützer der Armen, die Reichen werden der Gewaltanwendung und des Machtmissbrauchs bezichtigt.22 In diesen Wertungen ist bereits die im Neuen Testament vorherrschende Haltung zum gerechten Verhältnis zwischen Arm und Reich präfiguriert. In den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Apostelbriefen gelten die Armen als von Gott bevorzugt, gilt Armut als Kondition der Christusnachfolge.23 Vielfach ergehen Warnungen über die Gefahren des Reichtums; um zum Heil finden zu können, wird den Reichen auferlegt, durch Spenden und Almosen für die Armen zu sorgen.24 Der auf dem Konzept der christlichen Caritas basierende Austausch zwischen Bedürftigen und Begüterten kann denn auch, insbesondere mit Blick auf den Eingang der biblischen Kategorien in das mittelalterliche Denken, als Kernstück der christlichen Morallehre hinsichtlich der Gliederung der Menschheit in Arm und Reich angesehen werden.25

|| in: Albert ZIMMERMANN (Hg.), Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, 2. Hlbbd. (Miscellanea Mediaevalia 12/2), Berlin, New York 1979, S. 467–497, bes. S. 477–479. 18 Vgl. ARDUINI (Anm. 17), S. 476. 19 Vgl. ebd., S. 472; Diethelm MICHEL, Armut II. Altes Testament, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4 (1979), S. 72–76, hier S. 72. 20 Vgl. Jürgen EBACH, Eigentum I. Altes Testament, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9 (1982), S. 404–407, hier S. 405. 21 Vgl. ARDUINI (Anm. 17), S. 473–475; MICHEL (Anm. 19), S. 73–76. 22 Vgl. ARDUINI (Anm. 17), S. 474–475. 23 Paradigmatisch hierfür sind das Gleichnis vom Nadelöhr (Mt 19,24; Lk 18,25; Mk 10,25) sowie Jesu Antwort an den reichen Jüngling in Mt 19,21: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen (vgl. auch Mk 10,21 u. Lk 18,22). Das Verhältnis von Reichen und Armen und der Vorrang der letzteren vor Gott genießen zumal in den Büchern des Lukas, seinem Evangelium und der Apostelgeschichte, einen besonderen Rang. Vgl. nur Hans-Georg GRADL, Zwischen Arm und Reich. Das lukanische Doppelwerk in leseorientierter und textpragmatischer Perspektive (Forschung zur Bibel 107), Würzburg 2005. 24 Vgl. Leander E. KECK, Armut III. Neues Testament, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4 (1979), S. 76–80. 25 Im Mittelalter diente das Gebot der Caritas als Argument zur Legitimation der Existenz von Armen und Reichen. Diese Haltung findet sich prominent im theologischen Schrifttum (vgl. Emmanuel BAIN, Église, richesse et pauvreté dans l’Occident médiéval. L’exégèse des Évangiles aux XIIe–XIIIe siècles

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Für die Frage nach Ambiguitätsphänomenen bei prinzipiell binär gedachten Leitdifferenzen ist von besonderer Bedeutung, dass mit der Rede von pauper/dives bzw. potens in der Heiligen Schrift stets ein Gesamt angesprochen wird. Zwischen den beiden Kategorien gibt es keinen Raum für Abstufungen oder ein Drittes.26 Genauso wenig ist in den biblischen Texten eine Auflösung der kategorialen Differenzierung intendiert. Eine Ausnahme davon bildet allein die in der Apostelgeschichte beschriebene Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde, die zwar auf das soziale Denken des Christentums bis ins frühe Mittelalter einen enormen Einfluss ausübte,27 als Vorbild aber bald ganz in den Bereich des Klosterlebens abgeschoben wurde und erst im Spätmittelalter wieder eine wesentlich darüber hinausreichende Wirkung entfalten konnte.28 Den aus der biblischen Tradition geschöpften und im Mittelalter dominierenden Standpunkt zum Gefüge von Armut und Reichtum und der Existenz armer und reicher Menschen brachte indes der heilige Augustinus (354–430) auf das einprägsame Diktum: Pauperes et diuites Deus de uno limo fecit, et pauperes et diuites una terra supportat.29 In seinen Predigten über das Johannesevangelium, in der er diese Sentenz formuliert, richtet sich der Kirchenvater gegen die Sekte der Donatisten, die Klage darüber geführt hatten, dass die Katholiken ihnen auf Basis weltlicher Gesetze Landgüter entzogen hätten.30 Augustinus hält ihnen entgegen, dass sie durch ihre Häresie den Schutz durch weltliches Recht eingebüßt hätten und ihnen daher keine Rechtsmittel zur Verfügung stünden, aufgrund derer sie Anspruch auf irdische Güter erheben könnten. Nach göttlichem bzw. natürlichem Recht nämlich könne es schlichtweg keine Eigentumsansprüche geben. Darüber hinaus sei die Bereicherung durch Annahme von Besitztümern moralisch verwerflich, und dies nicht zuletzt deshalb – das

|| (Collection d’etudes médiévales de Nice 16), Turnhout 2014), aber zum Beispiel auch in Tugendschriften wie Fürstenspiegeln (vgl. Petra SCHULTE, „Arm und Reich“ in der politischen Theorie des frankoburgundischen Spätmittelalters, in: Günther SCHULZ (Hg.), Arm und Reich. Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 229), Stuttgart 2015, S. 53–73, hier S. 57). 26 Siehe etwa Spr 22,2.7.16; Ps 48,3; Sir 10,25. 27 Vgl. David GANZ, The Ideology of Sharing. Apostolic Community and Ecclesiastical Property in the Early Middle Ages, in: Wendy DAVIES u. Paul FOURACRE (Hgg.), Property and Power in the Early Middle Ages, Cambridge 1995, S. 17–30. 28 Vgl. dazu zuletzt ausführlich: Christian HOFFARTH, Urkirche als Utopie. Die Idee der Gütergemeinschaft im späteren Mittelalter von Olivi bis Wyclif (Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne 1), Stuttgart 2016. 29 Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus CXXIV, VI, 25, hrsg. v. D. Radbodus WILLEMS (CCSL 36), Turnhout 1954, S. 66. 30 Zum Hintergrund: Alexander W. H. EVERS, Augustine on the Church (Against the Donatists), in: Shelley REID u. Mark VESSEY (Hgg.), A Companion to Augustine, New York 2012, S. 375–385.

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bringt der zitierte Satz zum Ausdruck –, weil die Existenz armer und reicher Menschen der göttlichen Ordnung entspräche.31 Augustinus bekräftigt also die biblische Leitdifferenz und bestätigt zudem in seinem pauperes et diuites una terra supportat nachdrücklich die Zusammensetzung der Christenheit aus exakt zwei Gruppen: Armen und Reichen. Über das ‚Decretum Gratiani‘ fand Augustins Diktum Eingang in den Rechtsdiskurs des späteren Mittelalters,32 und seit dem 12. Jahrhundert drang die juristische Paarformel arm und reich allmählich auch in stadtrechtliche und stadtchronistische Texte ein.33 Zwar apostrophiert sie auch in diesem Kontext die Gesamtheit der Gesellschaft, sie fungiert hier aber vornehmlich als Gleichheitsformel, die auf die rechtliche und soziale Gleichstellung der wirtschaftlich und politisch stratifizierten Gruppen verwies.34 Dieser topischen Formelhaftigkeit dürfte es sich denn auch verdanken, dass im genannten städtischen Schrifttum, trotz der gleichzeitigen Ausdifferenzierung der Wahrnehmungs- und Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit, die Wendung arm und reich über das gesamte Spätmittelalter hinweg geradezu ubiquitär blieb.35 Da die Formel nicht dazu bestimmt war, die hierarchische Schichtung der Gesellschaft zu repräsentieren, stand sie nicht in Konkurrenz zu den komplexeren, vielfach dreigliedrigen Modellen, die mittels sozialer Allegorese freilich ebenfalls aus der Bibel gewonnen und von den Kirchenvätern für das Mittelalter ausbuchstabiert worden waren.36

|| 31 Augustinus (Anm. 29), VI, 25, S. 66: […] quo iure defendis uillas? diuino an humano? Respondeant: Diuinum ius in scripturis habemus, humanum ius in legibus regum. Vnde quisque possidet quod possidet? nonne iure humano? Nam iure diuino, Domini est terra et plenitudo eius; pauperes et diuites Deus de uno limo fecit, et pauperes et diuites una terra supportat. Iure tamen humano dicit: Haec uilla mea est, haec domus mea, hic seruus meus est. Iure ergo humano, iure imperatorum. Quare? Quia ipsa iura humana per imperatores et reges saeculi Deus distribuit generi humano. Vultis legamus leges imperatorum, et secundum ipsas agamus de uillis? Si iure humano uultis possidere, recitemus leges imperatorum; uideamus si uoluerunt aliquid ab haereticis possideri. […] Leguntur enim leges manifestae, ubi praeceperunt imperatores, eos qui praeter ecclesiae catholicae communionem usurpant sibi nomen Christianum, nec uolunt in pace colere pacis auctorem, nihil nomine ecclesiae audeant possidere. 32 Vgl. Decretum Gratiani, Dist. 8, c. 1, ed. Aemilius FRIEDBERG, Decretum Magistri Gratiani (Corpus Iuris Canonici 1), Leipzig 1879, Sp. 13. Zum Diskurs über die Arm-Reich-Differenz bei den Kanonisten: Pierre MICHAUD-QUANTIN, Le vocabulaire des categories sociales chez les canonistes et les moralists du XIIIe siècle, in: Daniel ROCHE u. C. Ernest LABROUSSE (Hgg.), Ordres et classes. Colloque d’histoire sociale saint-cloud 24–25 Mai 1967 (congrès et colloques 12), Paris 1973, S. 73–86, hier S. 80–81. 33 Vgl. dazu FRENZ (Anm. 14), S. 22–71. 34 Vgl. ebd., S. 22–23. 35 Vgl. ebd., S. 39; Bernd FUHRMANN, Die Wahrnehmung von Reichtum und Armut im Spätmittelalter und im frühen 16. Jahrhundert, in: SCHULZ (Hg.) (Anm. 25), S. 25–47, hier S. 26. 36 Vgl. Otto Gerhard OEXLE, Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter, in: Lutz FENSKE, Werner RÖSENER u. Thomas ZOTZ (Hgg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter (FS Josef Fleckenstein), Sigmaringen 1984, S. 483–500, hier S. 487–494.

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Doch auch zur schematischen Darstellung der gesellschaftlichen Ordnung blieb die binäre Unterscheidung divites/pauperes neben den Dreierschemata wie etwa minores/mediocres/maiores gerade im städtischen Raum des Spätmittelalters durchaus in Gebrauch. Insbesondere im Kontext der Caritas, zur Verbreitung des Almosengebots und im Aufruf zur Armenliebe, bauten Prediger – namentlich der in den Städten angesiedelten Bettelorden – auf den einprägsamen Dualismus von Arm und Reich.37 Zumindest bei den Franziskanern lässt sich die in ihren Predigten zum Ausdruck kommende Neigung zu binären Modellen der Gesellschaft im Übrigen bis auf ihre Wurzeln, das heißt auf die Perspektiven ihres Gründervaters zurückführen. Franz von Assisi zog zweigliedrige Gesellschaftsschemata den dreigliedrigen vor, die „ihm wahrscheinlich als typische Modelle für Gelehrte als Werkzeuge für die ob ihrer Wissenschaftlichkeit aufgeblasenen Kleriker oder für Kulturbeflissene [erschienen]“ und mit denen ihn abstoßende „hierarchische Vorstellungen verknüpft [waren]“.38 Die Präferenz für dualistische Gegenüberstellungen lässt sich auch im frühfranziskanischen Schrifttum und zumal in den Franziskusviten beobachten, etwa wenn Thomas von Celano (um 1190–1265) erklärt, dass es in den Anfängen der Bewegung keine Rolle gespielt habe, ob ein Anwärter auf den Eintritt in die Gemeinschaft dives, pauper, nobilis, ignobilis, vilis, carus, prudens, simplex, clericus, idiota, laicus in populo christiano gewesen sei.39 Entsprechend der hervorragenden Bedeutung, die das franziskanische Denken der Armut beimaß, steht die Unterscheidung zwischen Reichen und Armen in dieser paarweisen Reihung an erster Stelle. Noch deutlicher als etwa in der angeführten Predigt des Augustinus kommt hier überdies eine Wertung zum Ausdruck: Zwischen Arm und Reich ist kein Unterschied zu machen, die beiden Gruppen stehen gleichwertig nebeneinander, beide haben ihre Berechtigung. Wenn Thomas von Celano die Aufnahme von Armen in die franziskanische Gemeinschaft anspricht, so ist damit allerdings noch ein anderes Differenzproblem angeschnitten, das im Kontext der Bettelorden von höchster Brisanz ist. Die Rede ist von der geistes- wie sozial- und wirtschaftsgeschichtlich bedeutungsvollen Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut.40 Das Wesentliche dieser Unterscheidung hat Annette KEHNEL bestechend auf den Punkt gebracht: „Der unfreiwillig

|| 37 Vgl. Miri RUBIN, Charity and Community in Medieval Cambridge, Cambridge 1987, S. 9. 38 Jacques LE GOFF, Franz von Assisi, Stuttgart 2006, S. 137. 39 Thomas von Celano, Vita prima S. Francisci Assisiensis, 31, hrsg. v. Collegium S. Bonaventurae (Analecta Franciscana 10,1), Florenz 1926, S. 25 (1 Cel 31). Idiota und laicus sind als zwei Gegensätze zu clericus zu verstehen, insofern damit einmal der geistliche Stand einer Person, dann aber auch ihr Gebildetsein referenziert werden kann. Das dichotome Schema ist demnach also bis zuletzt durchgehalten. Zum Gebrauch antithetischer Wortpaare in Hinblick auf die Ordnung des Sozialen in den Franziskusviten vgl. auch LE GOFF (Anm. 38), S. 151. 40 Zum Verhältnis zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut s. etwa Michel MOLLAT, Die Armen im Mittelalter, München 1984, S. 112–116.

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Arme hat keine Alternativen zu seinem Zustand. Für den freiwillig Armen hingegen ist die Armut bereits eine Alternative.“41 Insofern die selbstgewählte Armut die „durch Differenz strukturierte[n] Normalität“ bedroht, ist sie „eine auf Dauer gestellte Grenzüberschreitung“.42 Die freiwillige Armut selbst bringt also ein Ambiguitätsproblem hervor, das sich zwar, so KEHNEL, nicht in der Verunklarung der sozialen Differenz von Arm und Reich erschöpft, sondern letztlich die Grenze zwischen prälapsarischer ‚Nicht-Ordnung‘ und postlapsarischer Ordnung betrifft,43 aber eben doch auf der intentionalen Missachtung der strukturlogischen Distinktion zwischen Armut und Reichtum basiert. In der Ideologie des Franziskus und seiner frühen Anhänger galt der in dieser Weise konstituierte Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut zunächst allerdings als gänzlich nivelliert, waren die Minderbrüder sicut alii pauperes44, waren sie „echte Arme“.45 Die weitere konfliktträchtige Ausformung des franziskanischen Selbstbewusstseins, insbesondere in Hinblick auf die heilsgeschichtliche Rolle des Ordens, brachte im Laufe des 13. Jahrhunderts jedoch eine starke Aufwertung der freiwilligen Armut mit sich. Paradigmatisch hierfür kann die Auffassung des großen Ordensgenerals Bonaventura stehen, der in seinem Kommentar zum Evangelium des Lukas erklärte, dass allein die freiwillig Armen im Sinne von Lk 16,9 „Freunde“ seien, die ihre Wohltäter „in die ewigen Hütten“ aufnehmen könnten.46 Zugleich verstanden sich die Minoriten aber auch als Advokaten der unfreiwillig Armen, indem sie durch ihr Beispiel zeigten, dass Armut nicht verwerflich sei, und in ihrer Predigt zur Caritas mahnten.47 Diese Ansprüche der Bettelorden, ihre Implikationen gegenüber dem traditionellen Armutsverständnis des Klerus, ihre sozialen Auswirkungen und ihre Kollision mit || 41 Annette KEHNEL, Der freiwillig Arme ist ein potentiell Reicher. Eine Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut, in: DIES. u. Gert MELVILLE (Hgg.), In proposito paupertatis. Studien zum Armutsverständnis bei den mittelalterlichen Bettelorden (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter 13), Münster 2001, S. 203–228, hier S. 203. 42 Ebd., S. 225. 43 Vgl. ebd., S. 224–225. 44 So die Formulierung in der ersten, nicht-bullierten Ordensregel. Siehe Regula non bullata II, hrsg. v. David E. FLOOD, Die Regula non bullata der Minderbrüder, Werl 1967, S. 116. 45 LE GOFF (Anm. 38), S. 132. 46 Vgl. Bonaventura, Commentarius in Evangelium S. Lucae, in: Opera Omnia, Bd. VII, Quaracchi 1895, XVI, 15–16, S. 408: In aeterna tabernacula alios recipiunt qui adeo perfecti sunt, ut merita eorum etiam aliis valeant, et propter quae merita sibi et aliis aeterna tabernacula acquirant. Unde super illud: „Facite vobis amicos“, dicit Glossa: „Non quoslibet pauperes, sed eos qui possunt in aeterna tabernacula recipere“. Tales enim non sunt pauperes involuntarii, sed pauperes spiritu […]. Vgl. dazu Pietro DELCORNO, Following Francis at the Time of the Antichrist: Evangelical Poverty and Worldly Riches in the Lectura super Lucam of Peter of John Olivi, in: Franciscan Studies 74 (2016), S. 147–176, hier S. 167–168. 47 Vgl. dazu beispielhaft unten, Bonaventuras Ausführungen über das Verhältnis der Franziskaner zu den unfreiwillig Armen.

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der Wirklichkeit, waren es denn schließlich auch, die im Zentrum der antifraternalistischen Angriffe auf die Mendikantenarmut seit Mitte des 13. Jahrhunderts standen. In den aus diesen sich entspinnenden Diskursen lässt sich die Bedeutung der binären Leitdifferenz von Arm und Reich und ihrer Ambiguierung für das Selbstverständnis der Bettelorden genauer fassen.

2 Wilhelm von Saint-Amour, Thomas von Aquin und Ambiguität als Argument Zum ersten Mal sahen sich die Bettelorden im sogenannten Mendikantenstreit an der Universität Paris ab 1254 massiver Kritik von außen ausgesetzt.48 Zwar hatten sich die Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der Bettelorden und des Weltklerus zuvörderst an der Frage nach den seelsorgerlichen und akademischen Kompetenzen der Mendikanten entzündet, die antifraternalistischen Polemiken der Weltgeistlichen, an vorderster Front Wilhelms von Saint-Amour (um 1202–1272) und Gerhards von Abbeville (um 1220/25–1272), waren jedoch als Attacken gegen die mendikantische Lebensweise und Ideologie in toto angelegt.49 Angesichts dessen kann es kaum überraschen, dass der publizistische Schlagabtausch zwischen den Parteien letzthin zu

|| 48 Zum Mendikanten- oder Bettelordensstreit existiert eine ausufernde Menge an Literatur. Verwiesen sei hier nur auf die Bibliographie in William of Saint-Amour, De periculis novissimorum temporum, hrsg v. Guy GELTNER (Dallas Medieval Texts and Translations 8), Paris, Leuven, Dudley 2008, S. 30–34, die neuerdings zu ergänzen ist mit den einschlägigen Arbeiten STECKELS: Sita STECKEL, Predigen über die Prediger. Religiöse Identität und Rhetorik im Kontext des Bettelordensstreits, in: Georg STRACK u. Julia KNÖDLER (Hgg.), Rhetorik in Mittelalter und Renaissance. Konzepte – Praxis – Diversität, München 2011, S. 231–254; DIES., Professoren in Weltuntergangsstimmung. Religiöse Debatte und städtische Öffentlichkeit im Pariser Bettelordensstreit, 1252–1257, in: Susanne EHRICH u. Jörg OBERSTE (Hgg.), Pluralität – Konkurrenz – Konflikt. Religiöse Spannungen im städtischen Raum der Vormoderne, Regensburg 2013, S. 51–80; DIES., Auslegungskrisen. Grenzarbeiten zwischen Wissenschaft, Recht und Religion im französischen Bettelordensstreit des 13. Jahrhunderts, in: Martin MUSLOW u. Frank REXROTH (Hgg.), Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne, Frankfurt a. M. 2014, S. 39–90; DIES., Ein brennendes Feuer in meiner Brust. Prophetische Autorschaft und polemische Autorisierungsstrategien Guillaumes de SaintAmour im Pariser Bettelordensstreit (1256), in: Christel MEIER u. Martina WAGNER-EGELHAAF (Hgg.), Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, Berlin 2014, S. 129–168; DIES., „Gravis et clamosa querela“. Synodale Konfliktführung und Öffentlichkeit im französischen Bettelordensstreit 1254–1290, in: DIES., Christoph DARTMANN u. Andreas PIETSCH (Hgg.), Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik (Historische Zeitschrift. Beihefte NF 67), Berlin/Boston 2015, S. 159–202. 49 Vgl. Guy GELTNER, Introduction, in: DERS. (Anm. 48), der die apokalyptische Grundierung des Antifraternalismus Wilhelms von Saint-Amour unterstreicht. Ideologische und ekklesiologische Grundsatzdifferenzen als Substrat des Bettelordenstreits identifizierte und untersuchte zuerst Yves

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einem Gutteil auf das Armutskonzept der Bettelorden gravitierte, stellte jenes doch ihr vorrangiges Distinktionsmerkmal dar. In seinem ‚Tractatus brevis de periculis novissimorum temporum‘ wettert Wilhelm von Saint-Amour 1256 gegen die Bettelarmut der Mendikanten.50 Sich freiwillig zum Bettler zu machen, argumentiert er, verstoße gegen das Vorbild Christi und der Apostel.51 Diejenigen, die sich so arm machten, dass sie ihren täglichen Bedarf an Temporalien durch Betteln erwerben müssten, würden zu „Schmeichlern, Verleumdern, Lügnern, Dieben und Abweichlern von der Gerechtigkeit.“52 Keineswegs allerdings lehnt Wilhelm die freiwillige Aufgabe des Individualbesitzes als solche ab, vielmehr sieht er diese in Einklang mit Christi Antwort an den reichen Jüngling als opus perfectionis an.53 Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes im Anschluss an den Akt der Entäußerung gäbe es für den nach Vollendung strebenden Religiosen allerdings nur zwei gangbare Wege: einerseits durch seiner eigenen Hände Arbeit, andererseits durch den Eintritt in ein Kloster, wo er mit allen lebensnotwendigen Gütern versorgt sei.54 Zur theologischen und rechtlichen Legitimation der letzteren Variante verweist Wilhelm auf die Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde55 sowie auf das an diese angelehnte Kapitel ‚Quare predia fidelium‘ des ‚Decretum Gratiani‘, in dem bestimmt ist, dass Bischöfe und ihre Schatzmeister all diejenigen, die in einer vita communis zu leben wünschten, aus den Gütern der Kirche mit allem Lebensnotwendigen versorgen sollten, damit es unter ihnen niemanden geben könne, der Mangel leidet.56 Die Prävalenz des Lebens in individueller Armut bei gleichzeitiger gemeinschaftlicher Verfügung über alle notwendigen Temporalien akzentuiert er weiter durch den Hinweis auf die Gemeinschaft Christi und seiner Apostel, die laut Joh 12,6 eine Geldbörse mit sich geführt und daraus sich selbst wie andere || CONGAR, Aspects ecclésiologiques de la querelle entre mendiants et séculiers dans la seconde moitié du XIIIe siècle et le début du XIVe, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 28 (1961), S. 35–151. 50 Wilhelm von Saint-Amour (Anm. 48). 51 Vgl. ebd., S. 101: Quod autem dominus mendicaverit vel eius apostoli nusquam invenitur. 52 Ebd., S. 97: […] quoniam ille, qui de mendicitate vivere volunt, fiunt adulatores et detractores et mendaces et fures et a iustitia declinantes. 53 Vgl. ebd, S. 98: Sed dicet quis, nonne opus perfectionis est relinquere omnia pro Christo et postea pro Christo mendicare? Respondemus, omnia pro Christo relinquere et sequi Christum imitando in bonis operibus opus perfectionis est, Luce XVIII: vende omnia que habes et da pauperibus et sequere me […]. 54 Vgl. ebd.: Qualiter ergo vivendum est, viro perfecto postquam reliquerit omnia? Respondemus, aut operando corporaliter minibus aut intrando monasterium, ubi habeat necessaria vite. 55 Vgl. Apg 2,44–45; 4,32–37. Zur Bedeutung für die verschiedenen Formen der vita regularis im Mittelalter siehe HOFFARTH (Anm. 28). 56 Vgl. Wilhelm von Saint-Amour (Anm. 48), S. 98: De secundo dicitur Act. IIII, errant illis omnia communia et nullus egebat inter eos; super quo edita est constitutio ecclesiastica [C.] XII, questione II, Videntes, ubi dicitur de rebus ecclesie, „episcopi et fideles dispensatores eorum, omnibus communi vita degere volentibus, ministrare cuncta necessaria debent, prout melius potuerint, ut nemo egens inter eos inveniatur.“ Vgl. Decretum Gratiani, C. 12, q. 1, c. 16, hrsg. v. FRIEDBERG (Anm. 32), Sp. 682–683.

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Bedürftige versorgt hätten.57 In Einklang damit erklärt der Theologe unter Verweis auf weitere Stellen der Heiligen Schrift und der ‚Glossa ordinaria‘ denn auch, dass Armut im Sinne von Bedürftigkeit ein ebenso großes Hindernis für einen gottgefälligen Lebenswandel sei wie Reichtum.58 Wilhelm von Saint-Amour als Wortführer der antimendikantischen Partei verurteilt mithin das Konzept der sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Armut der Bettelorden, da es im Widerspruch zur Autorität des Evangeliums und der religiösen Vervollkommnung im Wege stünde. Als probates Gegenmodell beschreibt er die klassische vita communis des benediktinisch geprägten Mönchtums und betont dabei die durch jene gewährleistete vollkommene Mangellosigkeit. Von diesem Modell des gemeinsamen Lebens hatten sich freilich die Bettelorden, das weiß auch Wilhelm, in bewusster Abgrenzung von den älteren Mönchsgemeinschaften von Beginn an deutlich distanziert. Schon die beiden großen Stifterfiguren, Franziskus und Dominikus, hatten in ihrer persönlichen radikalen Armutsausübung wie in ihrer Opposition gegen Aufweichungen der gemeinschaftlichen Armut ihrer Orden ein derart ambiges Verhältnis zu irdischen Gütern nachdrücklich zurückgewiesen.59 Demgemäß betonen die frühen normativen Texte beider Orden die Bedeutung des vollkommenen Verzichts auf jegliche Aneignung von Temporalien.60 Und || 57 Vgl. Wilhelm von Saint-Amour (Anm. 48), S. 98: Io. XII dicitur de Iuda quod fur erat et loculos habebat, Glossa: „loculorum domini custos“, Augustinus, [C] XII, q. I: „habebat dominus loculus a fidelibus oblate conservans, et suorum necessitatibus et aliis indigentibus tribuebat.“ Zur Bedeutung der Geldbörse Christi in den Armutsdebatten des 13. Jahrhunderts: Robert J. KARRIS, The Place of the Money Bag in the Secular-mendicant Controversy at Paris, in: Franciscan Studies 68 (2010), S. 21–38. 58 Vgl. Wilhelm von Saint-Amour (Anm. 48), S. 97–98: Item, super illud II Thes. I, rogamus vos, fratres, ut cognoveritis eos, qui laborant in evangelio, dicit Glossa, „sicut divitie negligentiam salutis pariunt, ita egestas, dum saturari querit, a iustitia declinat.“ Et Prov. XXX: mendicitatem et divitias ne dederis mihi. Et infra: ne egestate compulsus furer, et periurem nomen dei mei, Glossa: „ne copia vel inopia rerum transeuntium in oblivionem decidam eternorum.“ 59 Für Franziskus vgl. etwa seine Weigerung, für seine Gemeinschaft eine der älteren Ordensregeln anzunehmen (davon berichtet Legenda Perusina 18, hrsg. v. Marino BIGARONI, „Compilatio Assisiensis“ dagli Scritti di fra Leone e Compagni su S. Francesco d’Assisi. Dal Ms. 1046 di Perugia. II edizione integrale riveduta e corretta con versione italiana a fronte e variante (Pubblicazioni della Biblioteca Francescana di Chiesa Nuova – Assisi 2), 2. Aufl., Porziuncola 1992, S. 56) sowie die Episode, in der er in Assisi eigenhändig den Abriss eines Hauses unternahm, das die dortigen Bürger zur Unterbringung der Minderbrüder während eines Generalkapitels errichtet hatten (ebd., 56, S. S. 140–142). Für Dominikus vgl. die sorgfältige Zusammenschau der Quellen bei Achim WESJOHANN, Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten (Vita regularis. Abhandlungen 49), Berlin 2012, S. 446–451. 60 Für die Franziskaner siehe Regula bullata, hrsg. v. Kajetan ESSER, Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi. Neue textkritische Edition, 2., erw, u. verb. Aufl. besorgt von Engelbert GRAU (Spicilegium Bonaventurianum 13), Grottaferrata (Rom) 1989, 6, S. 368: Fratres nihil sibi approprient nec domum nec locum nec aliquam rem; für die Dominikaner siehe Antoninus H. THOMAS (Hg.), De oudste constituties van de Dominicanen. Voorgeschiedenis, tekst, bronnen, ontstaan en ontwikkeling (1215–1237)

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bei aller Mäßigung, die die gelebte Armut der Mendikantengemeinschaften Mitte des 14. Jahrhunderts bereits erfahren hatte,61 lehnten auch deren damalige Vordenker die klassische Haltung des zönobitischen Mönchtums gegenüber dem Güterbesitz für sich und ihre Orden nach wie vor energisch ab. Im individuellen Bekenntnis zur Armut bei kollektivem Reichtum sahen sie eine intolerable Verunklarung der Leitdifferenz von Arm und Reich; dies belegen die Gegenschriften, zu denen sie die Vorstöße Wilhelms von Saint-Amour und seiner Parteigänger provozierten. Vonseiten des Predigerordens formulierte Thomas von Aquin (1225–1274) die wirksamste und pointierteste Verteidigung der freiwilligen Bettelarmut. Seine erste Schrift zum Thema entstand in direkter Reaktion auf ‚De periculis‘ bereits 1256 und trägt den Titel ‚Contra impugnantes Dei cultum et religionem‘.62 Darin bemüht er sich um eine systematische Widerlegung der Behauptung, dass eine völlige Aufgabe von Individualbesitz aus freien Stücken nur bei Eintritt in eine klösterliche Gütergemeinschaft theologisch rechtens sei, und plädiert für die überlegene Heilswirksamkeit radikaler freiwilliger Armut. Mittels einer kommentierten Kompilation zahlreicher Bibelstellen und dazugehöriger Glossen sowie patristischer Zitate führt der Aquinate zunächst den Beweis, „dass zur perfectio evangelica nicht nur die habituelle Armut gehört, sondern auch die tatsächliche, die im Verzicht auf materiellen Besitz besteht.“63 Er bezieht damit deutlich Stellung in einer Debatte, die beinahe so alt war, wie das christliche Mönchtum selbst, ob nämlich das Armutsgebot des religiosen Standes wörtlich, als Aufforderung zum Verzicht auf weltliche Güter zu verstehen sei, oder ob es lediglich auf die innere Haltung gegenüber Temporalien abziele.64 Für Thomas steht fest, dass die wirkliche faktische Preisgabe des materiellen Besitzes essentieller Bestandteil des Vervollkommnungsstrebens sein müsse. Durch eine allein ideelle Loslösung von der innerlichen Anhänglichkeit an irdische Güter sei das Gebot der evangelischen Armut

|| (Revue d’histoire ecclésiastique. Bibliothèque 42), Löwen 1965, Dist. II, c. 26, S. 360: Possessiones seu redditus nullo modo recipiantur. 61 Für die Franziskaner siehe etwa Bernd SCHMIES, Gelobte und gelebte Armut. Mittelalterliche Minderbrüder zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Heinz-Dieter HEIMANN u. a. (Hgg.), Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn u. a. 2012, S. 285–305; für die Dominikaner siehe William A. HINNEBUSCH, The History of the Dominican Order. Origins and Growth to 1500, Bd. 1, New York 1966, S. 157–168. 62 Thomas von Aquin, Contra impugnantes Dei Cultum et religionem, hrsg. v. Commissio LEONINA (Opera Omnia 41A), Rom 1970, S. 51–166. 63 Ebd., VI, 2, S. 97: […] ad perfectionem evangelicam pertinere non solum paupertatem habitualem, sed etiam actualem, quae fit per abiectionem rerum temporalium. 64 Vgl. dazu Gabriela SIGNORI, Et nec verbo quidem audeat dicere aliquid suum. Eigenbesitz in der Geschichte des abendländischen Mönchtums, in: Franz J. FELTEN, Annette KEHNEL u. Stefan WEINFURTER (Hgg.), Institution und Charisma (FS Gert Melville), Köln, Weimar, Wien 2009, S. 139–148.

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nur unvollständig erfüllt.65 Schon an dieser Stelle dreht sich also die Argumentation um eine Frage der Ambiguität, insofern ‚Armut‘ ökonomisch-pragmatisch oder moralisch-ideell verstanden werden konnte. Der Aquinate stellt sich gegen die vorsätzliche Ambiguierung des Armutsbegriffs durch Verschiebung seines semantischen Gehalts ins Moralische.66 Seine weiteren Ausführungen sollen sodann belegen, „dass die perfectio, die darin besteht, alle Eigentümer hinter sich zu lassen, nicht den gemeinschaftlichen Besitz von Reichtümern erfordert.“67 In der darauf folgenden Beweisführung geht er über diese zurückhaltende These allerdings weit hinaus, indem er der sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Armut klar den Vorrang gegenüber der Gütergemeinschaft einräumt. Mit dem Kirchenvater Hieronymus (347–420) erklärt er: „Sie sind als Mönche reicher als sie als Laien waren; unter dem armen Christus besitzen sie Reichtümer, die sie unter dem reichen Teufel nicht hatten; und die Kirche seufzt über die Reichtümer derer, die die Welt für Bettler hielt.“68 Auch hier gilt Thomas’ Kritik augenscheinlich der Verunklarung des Armutsbegriffs, nun allerdings konkret als Folge der üppigen Gütergemeinschaften der Klöster. Indem die Mönche vorgaben, in der Nachfolge Christi gemäß dem Evangelium als Arme zu leben, dabei aber in Überfluss schwelgten, brachten sie die Grenze zwischen Arm und Reich zum Verschwimmen und belasteten dadurch die Kirche, die – so die Überzeugung des Aquinaten und seinesgleichen – im Geiste der ecclesia primitiva darum bemüht sein musste, ein möglichst hohes Maß an Armut zu bewahren.69 Da eine derartige Bedrü-

|| 65 Vgl. Thomas von Aquin (Anm. 62), VI, 3, S. 97: Marc. X, 23 super illud, quam difficile qui pecunias habent etc., Glossa: aliud est pecuniam habere, aliud amare. Multi habent et non amant, multi non habent et amant, item alii habent et amant, alii vero nec habere nec amare se gaudent: qui tutiores sunt, qui cum apostolo dicere possunt: mihi mundus crucifixus est, et ego mundo. Ergo actualis paupertas et habitualis simul praeferenda est habituali paupertati. Item. Idem potest haberi Matth. XIX, 23, per Glossam super illud, dives difficile intrabit in regnum caelorum. Glossa: de omnibus tutius est nec habere nec amare divitias. 66 In seinen späteren Beiträgen zur Debatte, insbesondere im Traktat ‚De perfectione spiritualis vitae‘ wird Thomas dieses Urteil allerdings modifizieren und erklären, dass für Prälaten eine Abkehr von irdischen Gütern secundum animi praeparationem ausreiche, ohne dass dadurch ihre Vollkommenheit gestört würde. Vgl. dazu Ulrich HORST, Evangelische Armut und Kirche. Thomas von Aquin und die Armutskontroversen des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, NF 1), Berlin 1992, S. 71–75. 67 Thomas von Aquin (Anm. 62), VI, 4, S. 99: […] quod ista perfectio qua aliquis propria relinquit, non requirit possessionem divitiarum in communi. 68 Ebd. : […] sint ditiores monachi quam fuerant saeculares; possideant opes sub Christo paupere, quas sub locuplete Diabolo non habuerant; et suspiret eos Ecclesia divites, quos tenuit mundus ante mendicos. 69 Der Frage nach der Bedeutung der evangelischen Armut für die Kirche insgesamt geht Thomas in ‚Contra retrahentes‘ nach. Dabei stellt er eine Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Armut der frühen Kirche und den Zuständen seiner Zeit fest. Historisch verortet er den Bruch der Kirche mit der

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ckung der Kirche aber freilich nur von Orden ausgehen könne, die Gemeinbesitz haben, sei es für Religiose grundsätzlich rühmlicher, frei von Gemeinbesitz zu sein.70 Thomas könnte in diesem Zusammenhang etwa an die Zisterzienser gedacht haben, die in ihrer Interpretation der ‚Regula benedicti‘ die Armut als eines der tragenden Prinzipien ihres Gemeinschaftslebens neben Arbeit und Askese gestellt hatten, nichtsdestoweniger aber schon seit dem 12. Jahrhundert durch Eigenwirtschaft wie durch Schenkungen reiche Besitztümer anhäuften.71 Nicht in den Besitztümern selbst liege indessen das große Übel, so Thomas weiter, sondern in ihrem Missbrauch.72 In Anbetracht seiner Erklärung, dass der Gemeinbesitz von Religiosen ein Heilshindernis darstelle, folgt daraus, dass nach Dafürhalten des Dominikaners die gemeinschaftliche Aneignung von Reichtümern durch individuell Arme einen Abusus derselben darstellt. Seine Missbilligung gilt also in der Tat nicht etwa im Sinne einer sozioökonomischen Gesellschaftskritik der Kluft zwischen armen und reichen Menschen, sondern der Verunklarung der kategorialen Unterscheidung. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Diskussion sowie sich verändernder Voraussetzungen in seinem eigenen Orden sollte der Aquinate seine Armutslehre in der Folgezeit noch mehrfach revidieren und neu formulieren.73 Dabei rang er darum, die Lebensweise seiner Gemeinschaft theologisch zu legitimieren und ihr eine ekklesiologische Grundlage zu schaffen, ohne dabei anderen Institutionen der Kirche ihre Berechtigung abzusprechen. Damit einher gingen auch Modifikationen seiner Ein-

|| perfecta paupertas wie viele seiner Zeitgenossen bei der Konstantinischen Schenkung. Zwar entschuldigt er den Abfall der Kirche von der Armut der ecclesia primitiva ein Stück weit als Konzessionsangebot an die schwächeren Menschen, denen der vollständige Verzicht auf das Irdische nicht möglich gewesen sei. Gleichwohl lässt er keine Zweifel daran, dass die gemeinschaftliche Armut auch Ideal der Gesamtkirche sein müsse. Vgl. Ulrich HORST (Anm. 66), S. 87–91. 70 Thomas von Aquin (Anm. 62), VI, 4, S. 99: Ergo magis est laudabile in religionibus possessionibus communibus carere quam eas habere. 71 Vgl. Johannes MÜLLER, Die Zisterzienser und die „Pauperes Christi“-Bewegung, in: Angelika LOZAR (Hrsg.), Das geistliche Erbe. Wege und Perspektiven der Vermittlung, Berlin 2003, S. 61–80; Franz J. FELTEN, Arbeit, Armut und Askese und die Folgen bei den frühen Zisterziensern, in: Cistercienser Chronik 108 (2000), S. 59–87. 72 Vgl. Thomas von Aquin (Anm. 62), VI, 5 ad 1, S. 100–101: Ad illud quod primo obiicitur, mendicitatem et divitias ne dederis mihi, dicendum, quod sicut divitiae non sunt in culpa, sed divitiarum abusus; ita mendicitas sive paupertas non est in culpa, sed paupertatis abusus […]. Quod ergo dicit Salomon, mendicitatem et divitias etc., intelligitur de paupertate involuntaria: quod patet ex hoc quod sequitur: et egestate compulsus inopia transeuntium rerum in oblivionem decidat aeternorum. Ex quo patet quod absusum divitiarum et paupertatis sapiens fugiendum docet, non ipsas divitias vel paupertatem. 73 Zur Armutslehre des Thomas von Aquin insgesamt vgl. HORST (Anm. 66); Jan G. J. VAN DEN EIJNDEN, Poverty on the Way to God. Thomas Aquinas on Evangelical Poverty (Publications of the Thomas Instituut te Utrecht, NS 2), Löwen 1994.

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schätzung der monastischen Gütergemeinschaft, die man als Ausdruck einer gesteigerten Ambiguitätstoleranz deuten könnte.74 In jedem Fall aber hatte der heilige Thomas in seinem ersten, ungestümen Werk zur Verteidigung der Armen in Hinblick auf ambige Auslegungen des Armutsbegriffs und unscharfe Unterscheidungen zwischen Arm und Reich Denkmuster formuliert, die auch in den weiteren Beiträgen aus den Reihen der Bettelorden zu den Auseinandersetzungen über die mendikantische Lebensweise stets greifbar bleiben sollten.

3 Bonaventura: Eine Kasuistik der Ambiguitätstoleranz und die Sicherheit der Eindeutigkeit Nachdem die Schrift, die den Stein ins Rollen gebracht hatte, namentlich ‚De periculis‘ des Wilhelm von Saint-Amour, 1265 von einer päpstlichen Kommission unter Alexander IV. (um 1199–1261, Papst seit 1254) als häretisch verurteilt und ihr Verfasser aus Paris exiliert worden war,75 stellte sich Gerhard von Abbeville an die Spitze der antimendikantischen Partei des Weltklerus. Sein wichtigster Beitrag zur Debatte ist der 1269 veröffentlichte Traktat ‚Contra adversarium perfectionis christianae‘,76 der in Reaktion auf die Schrift ‚Manus quae contra omnipotentem tenditur‘ des Franziskaners Thomas von York (1220–1268) entstand.77 Wie schon sein Freund Wilhelm von Saint-Amour argumentiert Gerhard, dass es keineswegs ein Zeichen der Perfektion sei, ein Leben ohne Verfügung über weltliche Güter zu führen. Zwar sei es für den Einzelnen durchaus möglich, frei von Privatbesitz

|| 74 Vgl. Horst (Anm. 66), S. 123–125. 75 Vgl. Guy GELTNER, The Making of Medieval Antifraternalism. Polemic, Violence, Deviance & Remembrance, Oxford 2012, S. 22–23. 76 Tractatus Gerardi de Abbatisvilla „Contra adversarium perfections christianae“, hrsg. v. Sophronius CLASEN, in: Archivum Franciscanum Historicum 31 (1938), S. 279–329; 32 (1939), S. 89– 200. Verfasst hatte Gerhard die Schrift bereits 1257, aufgrund der Verurteilung Wilhelms von SaintAmour konnte er es sich zu diesem Zeitpunkt aber nicht erlauben, sie zu veröffentlichen. Vgl. James Athanasius WEISHEIPL, Friar Thomas d’Aquino. His Life, Thought and Work, with Corrigenda and Addenda, Washington D. C. 1983, S. 265. Zu Gerhards Argumentation s. etwa Virpi MÄKINEN, Property Rights in the Late Medieval Discussion on Franciscan Poverty (Recherches de Théologie et Philosophie médiévales. Bibliotheca 3), Leuven 2001, S. 34–53. 77 Zu Thomas von York und seiner Rolle im Mendikantenstreit: Andrew G. TRAVER, Thomas of York’s Role in the Conflict between Mendicants and Seculars at Paris, in: Franciscan Studies 57 (1999), S. 179–202.

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zu sein, in einer Gemeinschaft aber wäre ein solcher Zustand gar nicht denkbar.78 Da alle Gläubigen gemeinsam den Leib Christi bildeten, der die Kirche sei, hätten alle Anteil am Gemeinbesitz der Kirche.79 Diese Form des Verhältnisses zu irdischen Gütern ist nach Gerhard Voraussetzung für den Aufstieg zum Gipfel der Vollkommenheit, alle anderen Weisen, sich gegenüber Temporalien zu verhalten, und insbesondere diejenige der Bettelorden, sind Zeichen von Unvollkommenheit.80 Darüber hinaus sei die aus freien Stücken gewählte Bettelarmut zutiefst verwerflich, da die freiwillig Armen den unfreiwillig Armen Almosen entzögen.81 Bemerkenswerterweise legt hier nun also Gerhard den Mendikanten zur Last, die soziale Ordnung durcheinanderzubringen oder, zugespitzt auf das Leitthema dieses Bandes, die Differenz zwischen Bedürftigen und Nicht-Bedürftigen zu unterlaufen. Auf Gerhards neuerliche Attacken gegen die mendikantische Armut reagierte noch im selben Jahr der franziskanische Generalminister Bonaventura von Bagnoregio (1221–1274) mit seiner berühmten ‚Apologia pauperum‘.82 Diese zielt, wie in der Forschung häufig bemerkt,83 auf einer pragmatischen Ebene zweifellos auf einen Kompromiss sowohl zwischen den strengen Idealen des Franziskus und der Lebenspraxis des Ordens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als auch zwischen den sich zur höchsten Armut bekennenden Mendikanten und dem auf Basis von Gemeingütern lebenden Klerus. In der direkten Konfrontation mit den Gegnern der Bettelarmut führt Bonaventura zu deren restlosen Widerlegung aber daneben doch auch gezielt den Nachweis über den Heilswert und die ekklesiologische Präeminenz der Nachfolge Christi in völliger Besitzlosigkeit.84 Dies tritt deutlich zutage etwa in seiner Antwort auf Gerhards Behauptung, dass sich Religiose durch den Verzicht auf Privat-

|| 78 Vgl. Gerhard von Abbeville (Anm. 76), S. 123–124: Condemnasne eos, qui loculos non habent nec laborant de labore manuum […]. Non condemno, sed laudo; nec tamen habentibus rationibus supradictis in perfectione praefero, quia non est discipulis supra magistrum. Etsi enim homo solus sine loculis possit vivere, ut sibi nihil reservet, sed tamen de congregatione, cui tanta competunt, credibile non est. 79 Vgl. ebd., S. 124: Si enim una totius Ecclesiae est res publica, omnes loculos habent, etsi non proprios, tamen communes cum Ecclesia, sicut et tu, cum tractares de mendicitate, dixisti, ‚quod ubicumque accipis, a Christo accipis‘ qui est Dominus rei publicae omnium Christianorum. Ista res publica sunt loculi Christi. Ergo, si Christi membrum es, cum Christo loculos habes. 80 Vgl. ebd., S. 114: […] apice perfectionis – quod enim citra est, imperfectum est – bona temporalia Ecclesiae a perfectis viris praecepit Dominus et voluit possidere. 81 Vgl. ebd., S. 186. 82 Bonaventura, Apologia pauperum, in: Opera Omnia, Bd. VIII, Quaracchi 1898, S. 233–330. Weitere Retourkutschen schickten wiederum Thomas von Aquin mit dem Opusculum ‚De perfectione spiritualis vitae‘ sowie Johannes Peckham mit seinem ‚Tractatus pauperis‘. 83 Vgl. etwa John R. H. MOORMAN, The Sources for the Life of S. Francis of Assisi, Manchester 1940, S. 143–144. 84 Eine ausgewogene Interpretation bietet Kevin L. HUGHES, Bonaventure’s Defense of Mendicancy, in: Jay M. HAMMOND, John A. Wayne HELLMANN u. Jared I. GOFF (Hgg.), A Companion to Bonaventure (Brill’s Companions to the Christian Tradition 48), Leiden/Boston 2014, S. 509–542.

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besitz für die Verfügung über Gemeingüter qualifizierten, da sie mit ersterem die Habgier ausgerottet hätten und auf dieser Grundlage mittels der gemeinschaftlich besessenen Güter die Caritas befördern könnten.85 Oberflächlich betrachtet, schienen diese Worte nicht falsch, meint der Franziskaner. Genauer besehen, enthielten sie aber ein tödliches Gift. Denn wenn der alleinige Anlass für die Aufgabe des Privatbesitzes für einen Christen darin bestehen sollte, Gewalt über Gemeingüter zu gewinnen, dann sei „Armut nichts anderes als ein Weg zum Überfluss“. Dies wiederum würde bedeuten, dass das Leben Christi und seine Lehren falsch gewesen seien.86 Fordere das Armutsgebot des Evangeliums außerdem lediglich, auf Privatbesitz zu verzichten, da dies als Voraussetzung für die gemeinschaftliche Verfügung über Temporalien zugunsten der Caritas zu gelten habe, dann müsse man, so Bonaventura sarkastisch, einem Kollegium, das alle Güter der Welt als Gemeinbesitz hätte, die strengste Einhaltung des Armutsgebots bescheinigen. Die Mitglieder eines solchen Kollegiums handelten nach dieser absurden Logik weitaus vollkommener als es die Apostel und ihre Nachahmer täten, die in Hunger und Durst, Kälte und Nacktheit dem Herrn dienten.87 Indem er so die Armut mit Besitz und Reichtum gleichsetze, leugne Gerhard die Höhe der Vollkommenheit, die in der heiligen Armut liege.88 Bonaventuras Opposition gegen die Eintrübung der Trennlinie zwischen Arm und Reich speiste sich also vor allem aus seiner Überzeugung von der spirituellen Überlegenheit der altissima paupertas.89 Im Status der sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Armut, den er bei Christus und seinem Kreis erkannte und der im

|| 85 Vgl. Gerhard von Abbeville (Anm. 76), S. 118. 86 Bonaventura (Anm. 82), IX, 2–3, S. 295: In his autem verbis et exemplis superficialiter consideratis nihil apparet erroneum; si tamen diligenter discutiantur, magnum invenitur in eis latere venenum. Si enim proprietas sola causa est abdicationis temporalium, ut exstirpetur cupiditas, et perficiatur caritas ad bona huiusmodi temporalia dispensanda; tunc igitur paupertas non est nisi sicut via ad abundantiam et dispositio quaedam praeambula […]. Imperfecta igitur fuit Christi vita, et falsa doctrina, qua dixit: Si vis perfectus esse, vade, vende quae habes et da pauperibus. 87 Ebd., IX, 3: Amplius, si unum aliquod collegium, non dicam unius regni, sed totius mundi bona in communi possideat; altissimum illud de paupertate consilium integerrime servat, immo, quod est absurdius, multo perfectiori modo quam hi qui in extrema rerum penuria, in fame videlicet et siti, frigore et nuditate Domino servient, cuiusmodi fuerunt Apostoli et hi qui eorum exempla sequuntur. 88 Ebd, IX, 1, S. 294: Cum enim certum sit, paupertatem, quae consistit in abdicatione rerum temporalium propter Deum, esse laudabilem, magistrumque perfectionis Christum in paupertate vixisse usque ad mortem; hic in comparatione possessionum et opulentiarum sic pervertendo attenuat, ut nil sanctae paupertati de perfectionis sublimitate relinquat. 89 Der Begriff der altissima paupertas entstammt der zweiten, bullierten Ordensregel von 1223 und hatte sich schnell als Idiom zur Bezeichnung des franziskanischen Armutskonzeptes etabliert. Siehe Regula bullata, hrsg. v. Kajetan ESSER (Anm. 60), S. 369.

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13. Jahrhundert Alleinstellungsmerkmal der Bettelorden und insbesondere der Minoriten war, sah er den sichersten Weg zur Vervollkommnung.90 Die konzeptionelle Assimilation von Armut mit kollektivem Wohlstand, die er als Verunklarung der Kategorien empfand, erschien ihm daher als Gefahr für die Perfektibilität der freiwillig Armen, deren Weg zur Vollkommenheit durch die Entwertung der tatsächlichen, das heißt sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Armut behindert würde. Es kann nicht verwundern, dass Lobpreis und Hervorhebung der reinen Armut in der „Verteidigung der Armen“ beinahe allgegenwärtig sind. Indes, Bonaventura besteht in seiner Polemik gegen Gerhards Priorisierung des Gemeinbesitzes auch auf der potentiellen perfectio persönlichen Vermögens. Wenn der Gemeinbesitz an beweglichen und unbeweglichen Gütern zur Vollkommenheit beitrüge, anstatt sie zu beeinträchtigen, wie Gerhard behauptete, dann könnten diejenigen, die nicht willens oder dazu in der Lage seien, Gemeinbesitz zu haben, niemals perfekt sein. Dagegen sprächen aber nicht nur die Armut Christi und seiner Apostel, die keine unbeweglichen Güter gehabt hätten, sondern auch das entgegengesetzte Beispiel eines verheirateten Laien, der seine Güter behielt, um klug, gerecht, barmherzig und caritativ für diejenigen Sorge zu tragen, die Christus dienen, und dadurch seine eigene Sicherheit bewahre und anderen ein Vorbild sei.91 Auch der Generalminister des Minderbrüderordens erkennt folglich die Existenzberechtigung sowohl der Armut als auch des Reichtums an,92 macht die Legitimation des letzteren aber abhängig von der richtigen Haltung des Eigners und vom Zweck, dem er zugeführt wird. Anders als Thomas in ‚Contra impugnantes‘ verteidigt Bonaventura allerdings auch mit Nachdruck die Kirchengüter. Keineswegs sei die Kirche durch die Annahme von Besitztümern von ihrer ursprünglichen Vollkommenheit abgedriftet.93 Auch

|| 90 Vgl. z. B. die sehr aufschlussreiche Erörterung über den Nutzen der Armut in Apologia pauperum (Anm. 82), IX, 14–29, S. 289–304. 91 Ebd., VIII, 14, S. 290: Pro eo videlicet est impia, quia, si mobilium et immobilium communis possessio perfectionem non diminuit, sed potius complet; qui non valent nec volunt haec possidere communia, perfecti esse non possunt. Insuper, cum Christus et Apostoli huiusmodi possessiones immobiles non habuerint, sequitur, quod consummatae perfectionis exemplum non effulsit in eis. Inefficax vero, quia eisdem rationibus potest etiam aliquis laicus uxoratus bona sua retinere, videlicet, ut prudenter, iuste, misericorditer et caritative ministrantibus Christo subveniat, ad illorum quietem et aliorum exemplum […]. 92 Vgl. auch ebd. VII, 26, S. 281. 93 Ebd. VIII, 7, S. 288: Si enim possessiones Ecclesiae commendaret ut licitas, ut expedientes, ut perfectioni compossibiles in his qui communiter possident, et in eis qui sancte dispensant; viam sequeretur sacrorum doctorum et Canonum confutantium perversos haereticos, qui Ecclesiam Die propter possessiones acceptas a statu iustitiae et perfectionis asserunt esse collapsam […].

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könnten hohe Priester und Bischöfe zur Unterstützung der Armen und der Kirchendiener Güter annehmen, ohne dass ihre Perfektion dadurch geschädigt würde.94 Tatsächlich seien die gemeinschaftlich besessenen Kirchengüter durchaus Werkzeuge der Tugend.95 Dieses Zugeständnis des Doctor seraphicus kommt freilich nicht von ungefähr. Vorrangiges Ziel seiner ‚Apologia‘ waren die Rechtfertigung der Lebensweise seines Ordens und die Widerlegung der gegen sie gerichteten Vorwürfe. Mit der Bulle ‚Ordinem vestrum‘ hatte Innozenz IV. (1195–1254, Papst seit 1243) knapp 25 Jahre zuvor rechtskräftig verfügt, dass die Kirche selbst Eigentümer der Temporalien sei, die im Gebrauch des Minoritenordens standen.96 Auf diese Weise sollten die völlige Besitzlosigkeit des Ordens und zugleich seine existentiell notwendige Ausstattung gewährleistet werden. Indem nun Bonaventura die Verwaltung kirchlichen Gemeinbesitzes als Mittel zur Unterstützung und Versorgung der Armen gutheißt, affirmiert er diese Regelung.97 Dementsprechend beteuert er auch, dass damit nicht die geringste Minderung der Perfektion des Papstes einhergehe.98 Dies steht in Einklang mit seiner vielfach wiederholten Erklärung über die Existenz unterschiedlicher Personengruppen bzw. gesellschaftlicher Schichten, denen jeweils unterschiedliche Formen der || 94 Ebd., VIII, 22, S. 294: Licet igitur summi sacerdotes sive pontifices, quia curam habent non solum quantum ad perfectos et validos, verum etiam infirmos et imperfectos, quos pascere debent exemplo et verbo et pro loco et tempore corporali subsidio, salva perfectione possessiones susceperint ad sustentationem pauperum et Ecclesiae ministrorum […]. 95 Ebd., VIII, 12, S. 290: Sunt enim possessiones terrenae utiles ad sustentamenta naturae, ad opera humanae industriae, nonnullis etiam ad exercitia virtutis perfectae; sed hoc non inest eis ex se ipsis, sed ex parte utentis. 96 Vgl. Innozenz IV. (Anm. 4), S. 401: […] cum tam immobilium, quam mobilium hujusmodi jus, proprietas, & dominium (illis solis exceptis, in quibus expresse donatores, seu translatores sibi proprietatem, & dominium reservasse constiterit) nullo medio ad Ecclesiam ipsam spectent; cui domus, & loca praedicta cum Ecclesiis, ceterisque suis pertinentiis (quæ omnia in jus, & proprietatem Beati Petri suscipimus) omnino tam in spiritualibus, quam temporalibus immediate subesse noscuntur. Die Bestimmung geht schon zurück auf Gregor IX. und dessen Bulle ‚Quo elongati‘ von 1230, ist dort aber, insbesondere hinsichtlich der Eigentümerschaft der Kirche an den Ordensgütern, nicht so klar ausformuliert. Vgl. Gregor IX. (Anm. 4), S. 22–23. 97 Im Hintergrund steht die Unterscheidung zwischen dominium und usus, Besitz bzw. rechtmäßiger Gewalt über Temporalien auf der einen und bloßem Gebrauch auf der anderen Seite. In den Auseinandersetzungen um die mendikantische Armut im 13. und 14. Jahrhundert stellte die Frage nach der Möglichkeit des Gebrauchs von Gütern ohne jeglichen Rechtsanspruch (usus facti), den die Minderbrüder auf Basis der juristischen Fiktion eines päpstlichen Dominiums über ihre Güter für sich proklamierten, ein Punctum saliens dar. Vgl. etwa Maximiliane KRIECHBAUM, Actio, ius und dominium in den Rechtslehren des 13. und 14. Jahrhunderts (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 77), Ebelsbach 1996, S. 41–48. 98 Bonaventura, Apologia pauperum, XI, 6, S. 312: Si enim temporalia bona pro aliis possidere ac dispensare, ubi etiam temporale recipitur emolumentum atque solatium, nihil de ratione perfectionis in praelatis diminuit […]; quanto magis, quando solum praesidium impenditur, et nullum temporale commodum exspectatur, ipsius summi Pontificis salvatur perfectio, et ei accrescit meritum ante Deum.

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Perfektion eigneten, die wiederum jeweils unterschiedliche Anforderungen mit sich brächten.99 Für einen Prälaten sei die Verfügung über kirchliche Gemeingüter zwecks der Fürsorge für die Gläubigen unabdingbar, für einen Religiosen hingegen sei sie schädlich.100 Auf der Basis desselben Gedankens hat auch die traditionelle Gütergemeinschaft der Mönche durchaus ihre Berechtigung.101 Mit schärfster Ablehnung reagiert Bonaventura allerdings auf die Behauptung Gerhards, dass die Aneignung von gemeinsamen Besitztümern zu einer Steigerung der Vollkommenheit einer Person bzw. einer Personengruppe führe.102 Ganz im Gegenteil gingen mit dem Status des Prälaten, der über Kirchengüter verfügen müsse, große Gefahren einher.103 Wenn also auch die verschiedenen Formen der Beziehung zu weltlichen Gütern, die der Weltklerus und die Mönche unterhielten, in Hinblick auf deren Stand Rechtmäßigkeit beanspruchen könnten, so lässt der Franziskaner doch keine Zweifel daran, dass die gänzliche Entsagung, wie die Bettelorden sie betrieben, den höchsten Grad darstellte, da sie den Status der Apostel imitiere.104 Nur wenig Raum nehmen in der Apologie der Armen im Übrigen die unfreiwillig Armen ein. Erst gegen Ende seiner Schrift kommt Bonaventura überhaupt auf sie zu sprechen. Er unterscheidet zwischen dem Beispiel des Lazarus, der seine Armut geduldig hingenommen und auf diese Weise einen Verdienst aus ihr erworben habe, und dem schwachen Armen, der seiner Armut mit Ungeduld begegne und dadurch sündige.105 Dem Vorwurf des Gerhard von Abbeville, die freiwillig Armen entzögen den unfreiwillig Armen Almosen, setzt er entgegen, dass erstere zugunsten der letzteren auf ihren Besitz wie auf kirchliche Einkünfte verzichteten und auf diese Weise

|| 99 Vgl. ebd., III., 21–26, S. 250–252. 100 Ebd., VIII, 18, S. 292: Nec tamen ex his intelligat aliquis, quod ecclesiastica bona per modum dilapidationis sint habenda contemptui, quonium hoc sacri Canones inhibent, sed quod a personis non alligatis curae pastorali ratione maioris securitatis sive perfectionis valeant pro Christi amore dimitti, et ut hi quibus dispensatio ipsorum committitur, eis quae dispensant, nullatenus alligentur affectu. Ebd., VIII, 22, S. 293: […] aliud competit perfectioni praelati, qui est persona communis, aliud perfectioni personae privatae. 101 Vgl. ebd., VII, 16, S. 277. 102 Vgl. z. B. ebd., VIII, 15, S. 291. 103 Vgl. ebd., III, 25, S. 251: Apparet itaque, quod praelationis status simul est excelsus et periculosus […]. Ebd., VIII, 14, S. 290: Amplius, sicut ecclesiastica bona bene utentibus sunt materia exercendarum virtutum, sic etiam abutentibus sunt fomentum multiformium perversitatum, utpote iniustitiarum et impietatum, carnalitatum, contentionum, simoniarum, ambitionum et schismatum […]. 104 Vgl. ebd., VII, 22, S. 279–280: Nuditas autem cordis et corporis triplicem habet gradum. Nam quaedam est magna, quae attenditur in abiectione omnis superfluitatis et proprietariae possessionis. Et haec, quamquam non sit de necessitate, est tamen de congruentia status et ordinis clericalis. […] Est et alia nuditas maior, quae non solum consistit in his, verum etiam in abdicatione potestatis possidendi proprium et abnegatione propriae voluntatis; et haec competit regularibus et coenobitis […]. Est et tertia nuditas, quae consistit in his quae praedicta sunt et insuper in abdicatione omnis transitoriae facultatis cum penuria et indigentia opportunae sustentationis, et haec competit Apostolis et apostolicis viris […]. 105 Vgl. ebd., XII, 26, S. 324–325.

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wesentlich mehr für sie täten als „diejenigen, die sich aus der Fülle kirchlicher Einkünfte fettfressen“. Darüber hinaus unterstützten die freiwillig Armen, indem sie um Almosen baten, die Sache der unfreiwillig Armen, da sie durch ihr Beispiel und ihre Ermahnungen pflichtvergessene Menschen dazu brächten, Werke der Gnade zu vollführen.106 Zur Bedeutung der Differenz von Arm und Reich lassen sich aus diesen Betrachtungen die folgenden Schlüsse ziehen: (1) Die reinste Form der Armut besteht für Bonaventura im sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Verzicht auf Eigentum. Allein in dieser unvermischten Gestalt kann sie als sicherer Weg zur perfectio gelten. Ambige Modi zwischen Armut und Reichtum sind zwar nicht per se imperfekt, stellen aber stets eine Herausforderung für die Vollkommenheit dar. (2) Tolerabel sind Mischformen dort, wo sie dem sozialen bzw. hierarchischen Stand und den daran gebundenen Aufgaben einer Person bzw. eines Personenverbands entsprechen. Auf die Minderbrüder trifft dies jedoch nicht zu, sie sind an die höchste Armut gebunden. Hieraus spricht die Vorstellung von der heilsgeschichtlichen Rolle der Franziskus-Bewegung, der etwa in Bonaventuras oben angeführtem Kommentar zu Lk 16,9 pointiert Ausdruck verliehen ist.107 (3) Reichtum in seiner eindeutigsten Ausprägung als auf Privatbesitz fußendem Wohlstand einer Einzelperson ist kein Zeichen von Unvollkommenheit. Der spirituelle Status des Reichen zeigt sich erst in seinem Umgang mit den Reichtümern. (4) Für Bonaventura bedeutet Armut ganz vorrangig freiwillige Armut. Nur sie führt auf den Weg der Perfektion. Eine Ambiguierung der sozialen Leitunterscheidung von Arm und Reich, eine „auf Dauer gestellte Grenzüberschreitung“, sieht er in der freiwilligen Annahme der Armut nicht. Dem ersten Teil des ersten dieser vier Punkte hätte Bonaventuras berühmter Schüler Petrus Iohannis Olivi (1247/48–1298) mit Sicherheit noch entschieden zugestimmt. Zu den übrigen aber stand jener völlig anders. Es waren die Lehren dieses neben Bonaventura vielleicht größten franziskanischen Denkers des 13. Jahrhunderts, aus denen sich die Überzeugungen der provenzalischen Spiritualen speisten. Es liegt daher mit Blick auf die Themenstellung der vorliegenden Untersuchung nahe, abschließend einige Beobachtungen zur Wertigkeit der Differenz von Armut und Reichtum bei Olivi anzustellen.

|| 106 Ebd., XII, 37, S. 328–329: […] ex abundante misericordia temporalia bona largiti sunt ad sustentanda corpora pauperum, et spiritualia bona continue largiuntur ad sustentationem animarum; et ideo digni sunt, ut ab Ecclesia sustententur, quia non gravant, sed alleviant multo amplius, quam illi qui ecclesiasticorum redituum ubertate pinguescunt, quos cum et plurimi eorum habere potuissent, multo magis pro Christo illis carere voluerunt. Hi ergo cum eleemosynas petunt et accipiunt, nullum pauperum defraudant, quin potius causas pauperum agunt, dum suis sacris exemplis et monitis impios homines ad opera pietatis inducunt nulli prorsus iniuriantur […]. 107 Vgl. auch äußerst explizit: ebd. III, 10, S. 247.

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4 Die Leitdifferenz von Arm und Reich als eschatologische Notwendigkeit: Olivi und die Spiritualen In die offenen Auseinandersetzungen zwischen Bettelorden und Weltgeistlichen in Paris war Petrus Olivi, der wohl Ende der 1260er Jahre zum Studium in die Stadt kam, nur noch indirekt verwickelt.108 Mit den Argumenten beider Seiten jedoch war er hinlänglich vertraut, und offenbar empfand er das, was die Mendikanten bislang gegen ihre Widersacher vorgebracht hatten, ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung seiner eigenen Armutslehre als unzureichend. Nur so lässt sich erklären, dass er um 1279 die Notwendigkeit empfand, mit seiner ‚Quaestio de altissima paupertate‘ eine eigene umfassende Legitimation der evangelischen Armut zu entwerfen.109 Das im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Arm und Reich bedeutsamste Merkmal der Konzeption Olivis liegt darin, dass er die franziskanische Armutslehre über den Orden hinaus auf die Gesamtgesellschaft transzendiert und ihr so eine sozialgestalterische und, mehr noch, eine hochgradig eschatologische Bedeutung verleiht.110 Das Verhältnis der Kategorien Armut und Reichtum beschreibt Olivi in alttestamentarischen Farben als eines von Unterdrückten und Unterdrückern und als schärfste Leitdifferenz der sozialen Ordnung seiner Zeit überhaupt.111 Die Differenz ist seines Erachtens aber nicht gottgegeben, sondern basiert auf der verzerrten Wahrnehmung des sündigen Menschen.112 Zum Beleg dieses für seine Armutstheologie grundlegenden Gedankens verweist Olivi wiederholt auf den Pseudo-Clemens-Brief ‚Dilectissimis‘, der die Trennung der irdischen Güter unter den Menschen als iniquitas infolge des Sündenfalls identifiziert.113 Namentlich die fälschliche Verehrung der Reichen und die ebenso falsche Geringschätzung der Armen liegen Olivi zufolge denn

|| 108 Zu Olivis Lebenslauf siehe David BURR, The Persecution of Peter Olivi (Transactions of the American Philosophical Society, NS 66,5), Philadelphia 1976. 109 Petrus Iohannis Olivi, Quaestio de altissima paupertate, hrsg. v. Johannes SCHLAGETER, Das Heil der Armen und das Verderben der Reichen. Petrus Johannis Olivi OFM. Die Frage nach der höchsten Armut (Franziskanische Forschungen 34), Werl 1989. 110 Vgl. nur SCHLAGETERS Einleitung zur Edition, ebd., S. 17–51, bes. S. 30–37. 111 Vgl. Olivi (Anm. 109), S. 86–87. 112 Vgl. dazu Susanne CONRAD, Franziskanische Armut als Heilsgarantie. Das Zusammenspiel von vita evangelica und Apokalyptik im Armutsverständnis des Petrus Johannis Olivi, in: MELVILLE u. KEHNEL (Hgg.) (Anm. 41), S. 89–99, hier S. 94; Delcorno (Anm. 46), S. 165–166. 113 Zur pseudoclementinischen Dekretale ‚Dilectissimis‘, die über Pseudoisidor ins Decretum Gratiani gelangte, siehe HOFFARTH (Anm. 28), S. 45–48. Olivi verweist auf sie unter anderem in der Quaestio de altissima paupertate (a. a. O., S. 98), in seinem Kommentar zum Evangelium des Lukas (Peter of John Olivi, Lectura super Lucam et Lectura super Marcum, ed. Fortunato Iozzelli (Collectio Oliviana

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auch im Zentrum des menschlichen Hochmuts,114 der nachgerade die Verderbnis der Welt begründet.115 Auch das traditionelle Argument, dass die Differenz von Arm und Reich durch das Gebot der Caritas legitimiert würde, akzeptiert Olivi nicht. Am Beispiel der klösterlichen und kirchlichen Gemeingüter erläutert er, dass es für das Streben nach oder Festhalten an Besitz zum Zweck der Caritas nur drei Gründe geben könne: Vorsicht in Hinblick auf menschliche Schwäche, natürliche Notwendigkeit sowie Großmütigkeit. In all diesen Fällen sei die Caritas aber nicht der erstrangige und alleinige Grund für die Aneignung. Letztere ginge außerdem stets mit irgendwelchen Sünden einher, weshalb die Anhäufung von Reichtümern immer ein Hindernis für die caritas perfecta darstelle.116 Für die Gemeingüter von Kirche und Kloster gelte dies sogar in höherem Maße als für Privateigentum, da „heute diejenigen meist mehr Überfluss an Macht, Prunk und an der daraus entstehenden Ruhmsucht [haben], die den Gemeinbesitz der Kirchen und Klöster innehaben, als die, die Privatbesitz haben; und wir sehen daraus in der Regel größere Prunksucht und Anmaßung entstehen als

|| 5), Rom 2010, S. 510) sowie in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte (Peter of John Olivi, On the Acts of the Apostles, ed. David Flood, St. Bonaventure 2001, S. 91). 114 Vgl. Olivi (Anm. 109), S. 86.: Apud enim mundanos homines et etiam apud imperfectos licet alias bonos nihil fere in hoc mundo vilius et contemptibilius inopia et egestate; tum quia inopes nihil reputantur temporaliter posse in rebus ac per consequens nec in hominibus nec sibi nec aliis; nec reputantur secundum mundum habere potestatem bene faciendi alicui aut aliquem damnificandi, et quod plus est, omnino reputantur impotentes ad defendendum se a calumniis divitum et potentum. […] Et etiam aliud propter quod multum reputuntur abiecti. Cernuntur enim non habere splendidum et pomposum ornatum et comitatum mundi – qualis apparet in splendido apparatu vestium, vasorum et aliorum supellectilium, ferculorum, palatiorum, equorum et equitum, sociorum et nuntiorum et ministrorum. Hic autem apparatus miro modo reputatur ab humanis sensibus et sensualibus affectibus […]. 115 Vgl. SCHLAGETER (Anm. 110), S. 30. 116 Vgl. Olivi (Anm. 109), S. 127: […] caritas quaedam temporaliam quaerit ex cautela et humana infirmitate, quaedam ex naturali necessitate, quaedam vero ex pietate. Primo modo quaerit ea ex cautela qui sentit se imbellicem ad observantiam altissimae paupertatis providens infirmitate suae mentis et periculo sui casus. Et qui hac causa quaerit quaecumque communia aut ecclesiastica, non quaerit hoc ex caritate directe, sed quasi oblique, nec ex caritate perfecta, sed potius imperfecta, quoniam perfectio virtutis non est huius quaestus causa, sed potius virtutis imfirmitas et supportatio eius. Qui vero quaerit ea propter naturalem necessitate, ex hoc non habet quaerere ius in rebus nec rerum abundantiam, cum ista non sint necessaria ad hominis vitam. Alias nullus posset vivere sine istis, quod est manifestissimum falsum. Et tamen tunc caritas non quaerit haec tamquam per se bona et virtuosa, sed solum tamquam sustentamente eius, sine quo non possunt in hac vita esse vel fieri ea quae per se sunt virtuosa et sancta. Quae vero quaeruntur ex mera pietate et caritate, si hoc fiat cum impedimento eorum quae caritas magis quaerere debet, cum impedimento scilicet meliorum et diviniorum, caritatis quidem esse poterit, non tamen perfectae. Quandocumque igitur temporalia sic quaeruntur, quod plus movet ad hoc virtutis imperfectio quam perfectio, aut quando naturalis necessitas seu naturae necessaria sustentatio plus movet ad hoc quam sustentatio virtutis et gratiae et virtuosae vitae, aut quando quis movetur ad hoc etiam propter solum caritatis et virtutis bonum cum impedimento tamen meliorum et diviniorum, numquam movet tunc caritas perfecta. Quando autem non movet caritas perfecta, vix est, quin ibi intermisceatur aliqua peccati corruptio aut in radice aut in medio aut in fine.

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aus dem anderen.“117 Im Umkehrschluss heißt das, dass „durch die Aufhebung aller Materie des Reichtums, aller zeitlichen Vermögen und Rechtsansprüche auf Temporalien der größte Teil weltlicher Reputation und Ruhmsucht aufgehoben“118 würde. Damit ist auf die wunschzeitliche Vorstellung des Franziskaners von einer zukünftigen Wiederherstellung des Unschuldsstandes hingedeutet. Der gleichsam utopische Idealzustand besteht für Olivi in einer freien Verfügung über die lebensnotwendigen Güter in einer allumfassenden christlichen Menschheitsgemeinschaft. In diesem Zustand wären Armut und Reichtum beseitigt, die Kategorien selbst und damit die Frage nach einem Dazwischen verlören ihre Bedeutung.119 Dies alles bedeutet nun aber nicht, dass Olivi unter den Voraussetzungen dieser Welt ein revolutionäres menschliches Hinwirken auf die Aufhebung der binären Unterscheidung von Arm und Reich für erstrebenswert gehalten hätte. Denn die Armut, freiwillig oder unfreiwillig, ermöglicht dem Einzelnen den Aufstieg zur höchsten Demut120 und ist darüber hinaus Voraussetzung für den heilsgeschichtlichen Fortschritt.121 Aus diesem Grund, so kann man folgern, ist auch der verachtenswerte Reichtum notwendig, da ohne seine Negativschablone die höchste Armut nicht existieren könnte. Grundlage der Überzeugung Olivis von der existentiellen Notwendigkeit der altissima paupertas ist die Prophetie des kalabresischen Abtes Joachim von Fiore (um 1135–1202), nach der das herannahende dritte Weltzeitalter des Heiligen Geistes von zwei neuen Gruppen geistlicher Männer (viri spirituales) eingeleitet würde, die die Gläubigen gegen die Verfolgungen des Antichristen verteidigten, um schließlich eine „era of contemplative perfection on earth“ zu ermöglichen.122 Im Laufe des 13. Jahrhunderts hatten Teile der Dominikaner und Franziskaner das Bewusstsein entwickelt, mit den von Joachim prophezeiten Orden der viri spirituales identisch zu sein. Olivi, der zu den eifrigsten mendikantischen Rezipienten des Kalabresen zählte, rechnete daher seinem Orden die Rolle des Geburtshelfers des dritten Zeitalters zu.123 Da aber die Verehrung des Reichtums in seiner privaten wie in seiner

|| 117 Ebd., S. 89: […] plus hodie abundant in potestate et apparatu et gloria ex eis surgente qui tenent communia ecclesiarum et monasteriorum quam habentes propria; et maiores ambitiones et praesumptiones ex eis fere surgere videmus quam ex aliis. 118 Ebd., S. 86: Certum est enim quod ablata totaliter omni materia divitiarum et omni temporali facultate et iurisdictione temporalium summa pars mundanae reputationis et gloriae est ablata. 119 Zu Olivis utopischen Vorstellungen vgl. HOFFARTH (Anm. 28), S. 81–85. 120 Vgl. SCHLAGETER (Anm. 110), S. 28–29. 121 Vgl. CONRAD (Anm. 112), S. 96–99. 122 Vgl. Bernard MCGINN, The Apocalyptic Imagination in the Middle Ages, in: Jan A. AERTSEN u. Martin PICKAVÉ (Hgg.), Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 29), Berlin, New York 2002, S. 79–94, hier S. 92. 123 Zu Olivis Aufnahme joachitischen Gedankenguts siehe z. B. Marjorie REEVES, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969, S. 194–201. Zu seiner Apokalyptik umfassend David BURR, Olivi’s Peaceable Kingdom. A Reading of the Apocalypse Commentary, Philadelphia 1993.

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gemeinschaftlichen Ausprägung seines Erachtens die alleinige Wurzel für die Macht des Antichristen war,124 lag die vorderste und bedeutendste eschatologische Aufgabe der minderen Brüder in der strengsten Bewahrung der höchsten Armut. Das heißt: Die scharfe Distinktion zwischen Arm und Reich ist für die gegebene Zeit notwendig, da sich in ihr der endzeitliche Kampf zwischen Gut und Böse manifestiert, der ausgefochten werden muss, um das neue Reich des Heiligen Geistes hervorzubringen. Ambige Formen zwischen Armut und Reichtum hatten in dieser Antithese keinen Platz, und es steht zu vermuten, dass Olivis elaborierteste Attacken gegen weltlichen Besitz nicht zuletzt deshalb darauf gerichtet waren, die Übel des kirchlichen und klösterlichen Gemeinbesitzes mit denen des privaten Reichtums gleichzusetzen: Wie viele Streitsachen und Auseinandersetzungen, wieviel Neid und Streit die Pfründeninhaber und Pfründenerwerber untereinander haben, lehrt eine berüchtigte Erfahrung. Das wäre nicht, wenn es nicht einen Rechtsanspruch gäbe wenigstens auf Zuteilung und keine Aneignung wenigstens in Bezug auf den notwendigen Unterhalt. Denn von Rechts wegen steht dem Pfründeninhaber oder dem Mönch der tägliche Beitrag zu bzw. Lebensunterhalt und Kleidung. Und in Kürze: wenn nicht total das Verlangen nach zeitlichem Rechtsanspruch und nach zeitlichen Dingen aus dem Herzen der Menschen weggenommen wird, kann es keine Gemeinschaft geben ohne die genannten Mißstände.125

Legt man diese Stellungnahme zugrunde, so fällt schließlich auch Licht auf die Unbeugsamkeit der Spiritualen an jenem Sonntag anno 1318 in Marseille. Hätten sie die Verunklarung der Arm-Reich-Differenz durch die Einlagerung von Vorräten und durch die Akzeptanz eines anderen als des ärmlichsten denkbaren Habits akzeptiert, so hätten sie die Franziskus-Bewegung ihrer heilsgeschichtlichen Potenz beraubt. Da aber die Zeitenwende nach ihrer Überzeugung imminent war, handelte es sich dabei nicht etwa um ein bloßes theologisches Konzept; vielmehr ging es um die praktische Ermöglichung der prophezeiten Zukunft, ja um die Erfüllung des göttlichen Heilsplans. Die eindeutige, radikale Armut als Fanal des Geistreichs war es den Spiritualen wert, in den Tod zu gehen, da sie durch das Beharren in ihr zu den Fackelträgern eines neuen irdischen Paradieses wurden.

|| 124 Vgl. Olivi (Anm. 109), S. 105: […] in aestimatione nimia divitiarum communium sive propriarum est singulare fundamentum et singularis ianua sectae Antichristi […]. 125 Ebd., S. 99: Praebendati etiam aut praebendandi quot causas et litigia, quot invidias et contentiones pro praebendis inter se habeant, celebris experientia docet; quod non esset, si nulla esset ibi iurisdictio saltem ad dispensandum aut si nulla appropriatio saltem quantum ad necessarium sustentamentum. Competit enim de iure praebendato vel monacho pensio diuturna seu victus et vestitus. Et breviter: nisi totaliter tollatur amor iurisdictionis temporalis et temporalium a cordibus hominum, non potest esse aliqua communitas sine praedictis malis. Übers. n. SCHLAGETER (Anm. 109), S. 31.

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5 Zusammenschau: Bettelarmut als Disambiguierungsstrategie Die hochmittelalterlichen Armutsbewegungen, die in den Bettelorden ihre orthodoxe Institutionalisierung erfuhren, entstanden in Reaktion auf eine spirituelle Mangelempfindung, hervorgerufen durch die Distanz zwischen dem Armutsideal des Evangeliums und der Lebensführung des Klerus.126 Christus und die Apostel hatten, so jedenfalls die Lesart der Träger des Ideals der vita evangelica und vita apostolica, freiwillig die Armut gewählt, um die Eitelkeit des Strebens nach irdischen Gütern auf alle Zeit zu entlarven. Aus diesem Grund war die Ambiguierung des Armutsbegriffs, die sie im Verzicht auf Eigenbesitz bei gleichzeitiger Appropriation kirchlichen oder klösterlichen Gemeineigentums durch Weltklerus und Mönche erkannten, für Franziskus, Dominikus und ihresgleichen intolerabel. Für die Armut in der Nachfolge Christi genügte ihnen auch nicht die mentale Entsagung, sondern war, wie Thomas von Aquin herausstrich, die tatsächliche ökonomische Mittellosigkeit essentiell. Das mendikantische Armutskonzept, das sich durch die völlige, sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Lossagung von Temporalien auszeichnete, kann demgemäß zunächst in zweierlei Hinsicht – mit Blick auf kollektiven Reichtum bei persönlicher Besitzlosigkeit sowie bezüglich der Differenz zwischen psychologischer und materieller Deutung von Armut – als Disambiguierungsstrategie verstanden werden. Schon in den Evangelien scheint dem vielfach beschworenen Dualismus von Arm und Reich allerdings eine paradoxe Doppelfunktion anzuhaften: Zum einen gilt zwar weltlicher Reichtum als Hindernis auf dem Pfad zur Erlösung, weshalb der vollkommene Verzicht auf ihn im biblischen Narrativ die Christusnachfolge präludiert. Konsequent zu Ende gedacht müsste die Auflösung der Distinktion zwischen armen und reichen Menschen somit ein Garant für die Errettung der Christenheit sein. Zum anderen bleibt Reichtum im irdischen Gefüge der Menschheitsgemeinschaft aber notwendig, da die Differenz von Arm und Reich für die Erfüllung des evangelischen Gebots der Caritas unabdingbar ist. Ebendiese seine irdische Wertigkeit macht das Beharren mendikantischer Prediger auf dem Arm/Reich-Dualismus sinnfällig. Es ging ihnen dabei keineswegs darum, soziale Ungleichheit zu legitimieren, sondern, im Gegenteil, um die soziale Gleichstellung der wirtschaftlich Ungleichen.127 Im städtischen Milieu, in dem sich die Bet-

|| 126 Vgl. dazu den Klassiker: Herbert GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die Grundlagen der deutschen Mystik, 3. Aufl., Darmstadt 1970. 127 Vgl. FRENZ (Anm. 14), S. 63–71; OEXLE (Anm. 14), S. 68.

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telorden vorrangig bewegten, waren seit dem 12. Jahrhundert ungeahnt komplexe Gesellschaftsstrukturen entstanden. Universitäre Bildung, der Aufstieg des Bürgertums und die Blüte des Handels führten im Spätmittelalter zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung und Fluidität der sozialen Schichtung. Indem sie in ihren Predigten für die Caritas mithilfe des traditionellen Zweierschemas die soziale Ordnung einer Komplexitätsreduktion unterzogen, wirkten die Mendikanten der fortschreitenden Marginalisierung der Armen in einer Welt entgegen, die sich gerade nicht mehr in Dualismen auflösen wollte. Hierin entpuppen sich die Bettelorden bemerkenswerterweise als „reaktionär“,128 als intolerant gegenüber Ambiguitäten. Mit dem Aufruf zur Caritas im Geiste der augustinischen Erklärung über das von Gott geschaffene Nebeneinander von Arm und Reich lässt sich allerdings auch die zuerst von Bonaventura nachdrücklich ausformulierte Toleranz der Mendikanten gegenüber kirchlichen Gemeingütern in den Händen des Klerus begründen. Da sich die freiwillig Armen als „echte Arme“ und damit sozial auf einer Stufe mit den unfreiwillig Armen sahen, konnten ihnen die Almosen der Reichen und die päpstliche Fürsorge für ihre eigenen Gemeinschaften im selben Maße als Ausdruck der Caritas gelten wie die Sorge für andere Bedürftige. Solange die Welt also ihre gegenwärtige Struktur, fußend auf der Unterscheidung von ‚Mein‘ und ‚Dein‘, und ihr hierarchisches Gepräge behielt, konnte persönlicher wie gemeinschaftlicher Reichtum für die Stände, für die er erforderlich war, durch die Caritas legitimiert werden, während die Bettelorden durch ihr Bekenntnis zur spirituell überlegenen paupertas perfecta und durch ihre Predigt für kategoriale Klarheit zu sorgen hatten. Der gegenwärtigen Struktur der Welt, davon waren Olivi und seine Anhänger überzeugt, war jedoch keine große Dauer mehr beschieden. Da die evangelische Armut – bestehend in der totalen Ablehnung jeglicher Bindung an irdische Güter und in einem auf das Lebensnotwendige beschränkten Gebrauch derselben129 – nur auf der Kontrastfolie des unverblümten Reichtums existieren konnte, lehnten die Franziskanerspiritualen den ambigen Modus der Gütergemeinschaft rigoros ab. Die eindeutige Antinomie zwischen Arm und Reich war für sie geradezu Voraussetzung für die Wiederbegründung des status innocentiae, in dem sich die Distinktion schließlich gänzlich aufheben würde. Damit konnten die Spiritualen durchaus eine geistige Nähe zu den ursprünglichen Überzeugungen, die zur Etablierung der Bettelorden geführt hatten, für sich beanspruchen. So hatte gerade die Lehre des heiligen Franziskus ambige Modi zwischen Armut und Reichtum völlig ausgeschlossen. Das Maß an Toleranz, das spätere Mendikanten Verunklarungen der Leitdifferenz arm/reich entgegenbrachten, war hingegen abhängig vom Ziel ihres Denkens. Trachteten sie nach

|| 128 Vgl. LE GOFF (Anm. 38), S. 122. 129 Letzteres fasste Olivi in den Begriff des usus pauper, der innerhalb des Minoritenordens eine ganz eigene weitschweifige Kontroverse auslöste. Vgl. dazu David BURR, Olivi and Franciscan Poverty. The Origins of the Usus Pauper-Controversy, Philadelphia 1989.

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Stabilisierung ihrer eigenen Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft, akzeptierten sie die pragmatische Notwendigkeit vermittelnder, grenzüberschreitender Kräfte. Suchten sie hingegen, in der komplexen Welt Orientierung zu finden und zu geben oder orientierten sich gar an deren Ende, so bedienten sie sich mit Vorliebe der Simplizität der binären Unterscheidung. Die schematische Disambiguierung der Leitdifferenz von Arm und Reich bei den Bettelorden des späten Mittelalters diente somit augenscheinlich vor allem einem Zweck: der sinnstiftenden Entdifferenzierung der Welt.

Ann-Kathrin Hubrich

Disambiguierung im Bild Zu Funktionen von Kunst im Rechtskontext am Beispiel des Lüneburger Niedergerichts Zusammenfassung: Dem mittelalterlichen Rechtsdiskurs wird in der Forschung ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz zugesprochen. Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaftsstruktur im Übergang zur Frühen Neuzeit jedoch wird ein gegenläufiger Prozess beobachtet: die Disambiguierung. Das Recht stellte einen bedeutenden gesellschaftsstabilisierenden Faktor dar. Eine Stadt der Frühen Neuzeit definierte sich maßgeblich über ihren rechtlichen Status, weswegen Eindeutigkeit auf der Ebene der Repräsentation des Rechts zu erreichen versucht wurde. Kommunikation über Recht manifestierte sich auf unterschiedlichen Ebenen. Der Beitrag fokussiert den visuellen Diskurs um das Recht, der sich in höchstem Maße in Gerichtsorten konzentriert. Die Bildproduktion im Rechtskontext – so lautet die These – dient als Folie für Aushandlungsprozesse einer sich wandelnden Rechtsprechungspraxis sowie gesellschaftlicher Leitdifferenzen. Im Bild wird eine eindeutige Festschreibung von Leitdifferenzen wie der Binarität Recht/Unrecht vorgenommen und so ein Prozess der Disambiguierung in Gang gesetzt. Das Lüneburger Niedergericht mit seiner reichen Ausstattung dient als besonders aussagekräftiges Beispiel, um diesen Prozess nachzuvollziehen. Schlüsselwörter: Kunstgeschichte, Rechtstheorie, Raum, Ikonographie, Gerechtigkeitsbilder, Lüneburg Rathäuser wurden in der Frühen Neuzeit – neben ihrer Funktion als Sitz der städtischen Regierung, Markt- und Versammlungshalle – als Orte der Rechtsprechung genutzt.1 Diese waren mit umfangreichen Ausstattungsprogrammen versehen, ebenso wie im Außenraum Elemente auf die Funktion der Rechtsprechung hinwiesen. Das Lüneburger Niedergericht ist als Teil des Rathausensembles an der nord-östlichen Ecke zwischen Rathaus- und Ochsenmarkt situiert (Abb. 1).2 Die zwei Arkadenbögen

|| 1 Vgl. u. a. Stephan ALBRECHT, Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion, Darmstadt 2004, S. 13; Heiner LÜCK, Gerichte in der Stadt. Konkurrenz und Kongruenz von Gerichtsbarkeiten in Kursachsen während des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Helmut BRÄUER u. Elke SCHLENKENRICH (Hgg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, S. 573–574. 2 Den aktuellsten Forschungsstand zum Lüneburger Rathaus bilden die jüngst in drei Bänden herausgegebenen Ergebnisse des von Joachim GANZERT geleiteten Forschungsprojektes „Das Lüneburger || Ann-Kathrin Hubrich M.A., Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften, Universität Hamburg, Edmund-Siemers-Allee 1, 20146 Hamburg, e-mail:[email protected] https://doi.org/10.1515/9783110608250-010

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umfassende Laube beherbergt ein mehrteiliges Bildensemble sowie Mobiliar: Eine Weltgerichtsdarstellung (Abb. 2), „Die Rechtsprechung Daniels“ (Abb. 3), „Das Salomonische Urteil“ (Abb. 4), eine Trinitätsdarstellung (Abb. 5), eine Lüneburger Stadtwappendarstellung (Abb. 6) sowie die Figuren von Justitia und Pax mit Ornamentik (Abb. 7 und Abb. 8) etablieren ein komplexes Bildprogramm, das Recht und Rechtsprechung in unterschiedlichen Facetten thematisiert und visualisiert. Eine Holzbank umläuft die zwei Seitenwände des Niedergerichts, kannelierte Pilaster strukturieren die Wandvertäfelung und teilen sie in Sitzplätze auf. Eine Besonderheit bildet die baldachinartige Holzkonstruktion, die drei der genannten Gemälde beherbergt (Abb. 9).3 In geschlossenem Zustand ist die Stadtwappendarstellung zu sehen. Beim Aufklappen wird im Hintergrund das Gemälde „Das Salomonische Urteil“ freigelegt, die Rückseite der aufklappbaren Seite zeigt die Trinitätsdarstellung. Der erste Befund lässt zwei Beobachtungen zu. Erstens: Das Lüneburger Niedergericht ist reich mit Kunstwerken ausgestattet. Zweitens: Die Ikonographie speist sich überwiegend aus einer christlichen Motivwelt. Neben die Geschichten des Alten und Neuen Testaments tritt zudem die Stadtwappendarstellung, die einen lokalspezifischen Bezug schafft. Hieran knüpfen sich verschiedene Fragen an: Wie verhält sich die Ikonographie der Bilder zu ihrem Anbringungsort? Welche Funktion erfüllen die Bilder in diesem Kontext? Die Darstellung „Das Jüngste Gericht“ (Abb. 2) ist als Prämisse für die Funktion der Institution des Niedergerichts als Gerichtsort zu verstehen.4 Die göttliche Instanz

|| Rathaus als baulich-bildlicher Komplex“ ab. Vgl. Joachim GANZERT (Hg.), Das Lüneburger Rathaus. Ergebnisse der Untersuchung 2008 bis 2011 (Beiträge zur Architektur- und Kulturgeschichte Leibniz Universität Hannover. Abteilung Bau-/ Stadtgeschichte. Fakultät für Architektur und Landschaft 10.1), 3 Bde., Petersberg 2014–2015. Die Beiträge von Joachim GANZERT und Katrina OBERT widmen sich aus architekturhistorischer Perspektive explizit dem Niedergericht: Joachim GANZERT, Herrschaft als Vergegenwärtigung. Zum Niedergericht im Lüneburger Rathaus und zur Archetypik sakraler Herrschaftsarchitektur, in: DERS. (Hg.), Das Lüneburger Rathaus, Bd. 2, Petersberg 2014, S. 157–245; Katrina OBERT, Architektonische Manifestationen von Gerichtsbarkeit. Die Befunde am Lüneburger Rathaus, in: GANZERT (Hg.), Das Lüneburger Rathaus, Bd. 2, Petersberg 2014, S. 7–156. Parallel wurde 2013 an der Universität Hamburg die Magisterarbeit der Verfasserin mit dem Titel „Das Bildprogramm des Lüneburger Niedergerichts. Zu Funktionen von Gerechtigkeitsdarstellungen im Rechtskontext“ eingereicht. Das Promotionsprojekt der Verfasserin untersucht das Lüneburger Niedergericht aus kunsthistorischer Perspektive. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Funktion von Gerichtsortausstattungen (in) der Frühen Neuzeit. 3 Vgl. ausführlich zum Baldachin GANZERT (Anm. 2), S. 157–245. Mit der Baldachinkonstruktion wird die Gerichtslaube reminisziert, eine nach drei Seiten hin offene, überdachte Konstruktion, die sowohl den Ansprüchen der Rechtsprechung unter freiem Himmel als auch dem Schutz vor Witterung Rechnung tragen konnte. Vgl. Heiner LÜCK, Gerichtslaube, in Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2 (2012), Sp. 162–165. Vgl. zum Bautyp der Laube ALBRECHT (Anm. 1), S. 34. 4 Gerichtsorte mit Weltgerichtsdarstellungen auszustatten, folgt einer langen Tradition. Georg TROESCHER hat mit seinem Katalog von Jüngsten-Gerichtsdarstellungen in und an Rathäusern die

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ist legitimierendes Moment im Sinne einer Stellvertreterfunktion weltlicher Rechtsprechung Gottes auf Erden. Der Richter kann auf Gott verweisen und muss gleichermaßen sein Handeln nach ihm ausrichten. Denn auch er wird am Ende aller Tage von der über ihm stehenden göttlichen Instanz gerichtet werden.5 Die Darstellung des Jüngsten Gerichts vergegenwärtigt die Endlichkeit alles Irdischen und ist somit als „die eindringlichste Mahnung an den Richter und an alle anderen Beteiligten“ aufzufassen.6 Himmel und Hölle, Gut und Böse werden einander gegenübergestellt, die Folge unrechten Handelns wird vor Augen geführt. Jesus Christus als Weltenrichter ist mittig positioniert, aber leicht nach rechts gewandt und leitet damit den Blick des Rezipienten zum nächsten Gemälde, das einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden soll.

1 Daniel und die inquisitorische Methode Das Gemälde „Die Rechtsprechung Daniels“ (Abb. 3) führt in einem simultanen Geflecht die einzelnen Etappen der in Dan 1,64 geschilderten Susanna-Geschichte vor Augen: von der Erpressung der Susanna (Abb. 10) über die Gerichtsverhandlung mit Daniel als Richter (Abb. 11) bis hin zur Verurteilung der beiden Alten (Abb. 12). Mit der szenischen Gliederung des Bildraumes werden zum einen das Verbrechen – der Erpressungsversuch, der dem Meineid vorausgeht – und die Steinigung der beiden Alten als Strafe im Sinne eines causa-consecutio-Prinzips in den Ecken oben links und rechts miteinander in Relation gesetzt. Zum anderen wird die Gerichtsverhandlung in der Bildmitte in den Fokus gerückt und damit als das notwendige Bindeglied zwischen Verbrechen und rechtmäßiger Bestrafung etabliert. Daniel als Richter steht erhöht auf einer Treppenstufenarchitektur, er wird von einem Baldachin überdacht. Die beiden Alten stehen rechts und links vor ihm. Im Vordergrund sind zwei Personengruppen etwas abgerückt vom Geschehen platziert. Besonders hervorgehoben sind die durch ihre Kleidung als Ratsherren der Zeit ausgewiesenen Männer, die zudem durch ihren Blick aus dem Bild heraus ein rezeptionsästhetisches Angebot an || weite Verbeitung im deutschsprachigen Raum erfasst. Vgl. Georg TROESCHER, Weltgerichtsbilder in Rathäusern und Gerichtsstätten, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 11 (1939), S. 139–214. 5 Schriftliche Quellen wie z. B. die Glosse zum Sächsischen Weichbildrecht oder auch Ulrich Tenglers Laienspiegel geben die Empfehlung, Weltgerichtsbilder im Gerichtssaal aufzuhängen. Dabei wird der enge Zusammenhang zwischen göttlicher und weltlicher Rechtsprechung betont. Vgl. Ulrich Tengler, Der neu Layenspiegel, Augsburg 1511 sowie Das Sächsische Weichbildrecht. Jus municipale saxonicum, hrsg. v. Alexander von DANIELS u. Franz von GRUBEN (Rechtsdenkmäler des deutschen Mittelalters, Bd. 1: Weltchronik und Weichbildrecht in 136 Artikeln mit der Glosse), Berlin 1858, Sp. 256. 6 Ursula LEDERLE, Gerechtigkeitsdarstellungen in deutschen und niederländischen Rathäusern, Philippsburg 1937, S. 26.

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den Betrachter machen, der im Bild gezeigten Verhandlung zu folgen (Abb. 13, 14). Was wird dem Betrachter also gezeigt? Claudia BLÜMLE zeigt in einer Studie über das als Auftragsarbeit für das Rathaus Wesel entstandene Werk „Die Eidesleistung“ von Derick Baegert (1493/94) auf, dass das Gemälde (Abb. 15) als Metakommentar zur Rechtspraxis der Entstehungszeit gelesen werden kann. Das Thema der Eidesleistung, das dem Bild seinen Titel verleiht, wird wie auf einer Bühne präsentiert: Das Gerichtsbild von Baegert stellt die beiden zentralen Aspekte für die Eidesleistung [damit sind die Eidesbarre und der Staber, der die Eidesbarre, auf die der Eidesleistende schwört, hält, und die Schwurformel spricht, damit kein Formfehler passiert, gemeint] theatralisch dar.7

Die Bildfiguren formieren, ähnlich wie im Gemälde „Die Rechtsprechung Daniels“, diesen Bühnenraum: [D]ie Figuren, die nicht an der zentralen Handlung teilnehmen, [bilden] kompositorisch einen Halbkreis und rahmen somit das Geschehen auf der zentralperspektivisch konstruierten Bühne. Die Figuren bewegen sich im Gerichtsraum somit wie auf einem Theater, das sich in dieser Zeit langsam vom Simultantheater verabschiedet und in ein szenisches Theater verwandelt.8

Was bedeutet die Zurschaustellung des rechtlichen Verfahrens der Eidesleistung? Die Eidesleistung stellte eine für das germanische Recht repräsentative Form der Urteilsfindung dar, die nicht auf der Wahrheitsfindung basierte, sondern vielmehr die Glaubwürdigkeit des Beklagten bestätigte und damit als ausreichendes Mittel für seine Freisprechung gelten konnte. Die Prozedur bestand darin, dass sieben oder zwölf Männer, bisweilen aber auch noch mehr, vor Gericht für den Angeklagten einen Eid ablegten. „Dies erfolgte ganz unabhängig von ihrem Wissen oder Unwissen in der Streitsache, vielmehr bestätigten sie damit ihre Unterstützung für den Angeklagten.“9 In „Die Eidesleistung“ von Baegert wird die Schwurpraxis in den zeitgenössischen Entstehungskontext des Gemäldes eingebettet.10 BLÜMLE arbeitet drei Formen der Zeugenschaft heraus – ein Befund, der ein Spannungsverhältnis im Bild offenlegt. Durch das erweiterte Bildpersonal, das nach BLÜMLE nicht zum Akt der Eidesleistung gehörte, erfolgt eine bildimmanente Konfrontation von einer durch juridische Zeugenschaft geprägten Rechtsform hin zur schriftlichen Beweisführung, die im Rechtskontext der Zeit als Neuerung eingeführt wurde:

|| 7 Claudia BLÜMLE, Wunder oder Wissen. Formen juridischer Zeugenschaft in der Eidesleistung von Derick Baegert, in: Wolfram DREWS u. Heike SCHLIE (Hgg.), Zeugnis und Zeugenschaft. Perspektiven aus der Vormoderne, München 2011, S. 40. 8 BLÜMLE (Anm 7), S. 45. 9 Ebd., S. 37. 10 Ebd., S. 47.

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Baegert rückt die alte Schwurpraxis der Eidesleistung aus dem germanischen Recht ins Zentrum des Bildes und überführt sie zugleich in den Kontext einer zeitgenössischen Gerichtssituation. Repräsentativ und theatralisch wird im Gemälde von Baegert die veraltete Rechtspraxis auf der vorderen Bühne dargestellt, die am linken Rand prominent mit dem Schriftbeweis und mit gelehrten Sachverständigen konfrontiert wird. Diese Szene mit der Person, die mit Hilfe einer Brille das aufgerollte Schriftstück begutachtet, gehört jedoch nicht zum Verfahren der Eidesleistung. Stattdessen entspricht sie dem schriftlichen Beweis, der instrumentum genannt wurde.11

Über die bildimmanenten Strukturen wird damit ein Verhandlungs- und Aushandlungsprozess von altem und neuem – in diesem Falle germanischem und römischem – Recht dokumentiert.12 BLÜMLE deckt die Gegenüberstellung und gegenseitige Abwägung von alter Rechtspraxis (Schwur) und Zeugenschaft sowie Schriftlichkeit als Charakteristika der zeitgenössischen Rechtsprechungsverfahren im Bild auf. So kann das Gemälde „Die Eidesleistung“ (Abb. 15) als Manifestation eines Rechtsdiskurses der Zeit gelten.13 Die Konzeption des Lüneburger Gemäldes „Die Rechtsprechung Daniels“ erscheint über den Aspekt der Zurschaustellung, die Bühnensituation, vergleichbar. Die theatrale Anordnung pointiert auch hier eine inhaltliche Dimension. Im Gegensatz zur Eidesleistung aber liegt die Fokussierung auf dem Gerichtsprozess mit Daniel als Richter. Damit wird eine andere Verfahrensweise zum Hauptgegenstand erhoben: die inquisitorische Methode. Nicht die bildimmanente Gegenüberstellung zweier Verfahrensweisen, sondern die neue Verfahrensweise wird explizit vor Augen geführt und durch diese Präsentation für das Publikum zugänglich gemacht. Dass der biblische Stoff in enger Verbindung mit dem inquisitorischen Verfahren stand, zeigt ein Blick auf Rechtstexte der Zeit, in denen die Geschichte zur Exemplifizierung herangezogen wurde.14 Susanne LEPSIUS führt Rechtstexte an, in denen die Susanna-Daniel-Geschichte eingeführt wurde, um den grundlegenden Wandel in der Zeugenbefragung deutlich zu machen. Dazu zählt die getrennte Befragung von Zeugen, die zunehmend die Praxis ablöste, „die Zeugen in Anwesenheit der gegnerischen Seite zu vernehmen“.15 Wenn aber hier die inquisitorische Verfahrensweise ins Bild gerückt ist, so fällt die große Anzahl an umstehenden Personen auf. Die Öffentlichkeit, die stets einen entscheidenden Beitrag zur Legitimation von Recht und Rechtsprechung geleistet hat, wurde mit zunehmender Schriftlichkeit des Rechts, und explizit durch die inquisitorische Verfahrensweise, aus eben jenem Prozess der Zeugenbefragung, auf den

|| 11 Ebd., S. 47. 12 Vgl. ebd. 13 Ebd., S. 47. 14 Vgl. Susanne LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato, Frankfurt a. M. 2003, S. 8, 62–63. 15 Ebd., S. 63.

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bildlich rekurriert wird – auch wenn hier nicht die Einzelbefragungen gezeigt werden –, ausgeschlossen.

2 Öffentlichkeit zwischen Inklusion und Exklusion Mit der inquisitorischen Befragungsmethode geht die wahrheitsstiftende Funktion nach Wolfgang SCHILD von Gott zum Menschen über: Die Wahrheit wird von Menschen produziert, er hat die Macht dazu, weshalb er sie auch immer wieder erzeugen kann, sofern es ihm beliebt. Wahrheit wird wiederholbar, im Experiment reproduzierbar, sofern man nur die richtige Methode hat. Wahrheit wird zur Richtigkeit der Methode.16

Mit der Einführung dieser neuen Methode veränderten sich das Verständnis von Öffentlichkeit sowie ihrer Funktion fundamental. War der Umstand der Öffentlichkeit im akkusatorischen Verfahren noch elementar, konnte nun theoretisch auf sie verzichtet werden: Der Öffentlichkeit bedarf es nicht mehr: Ist die Methode richtig, dann wird Wahrheit auch im Geheimen produziert. Die Öffentlichkeit hat nun mehr den Sinn, die Richtigkeit der Methode zu kontrollieren. Sie ist nicht mehr erforderlich, damit Wahrheit entsteht.17

Mit dem Inquisitionsprozess, der in der Frühen Neuzeit neben den Akkusationsprozess trat, veränderten sich das Kräftegefüge sowie die Zuständigkeiten der am Gerichtsprozess beteiligten Parteien. Franz-Josef ARLINGHAUS thematisiert die Kommunikationsmodi städtischer Rechtsprechung und führt dabei ein Beispiel aus Köln an, aus dem hervorgeht, dass fehlende Öffentlichkeit angeprangert wurde.18 In einem mehrbändigen Gedenkbuch schreibt der Ratsherr und Advokat Hermann von Weinsberg: Ich mois hie mit anregen, das am hohen gericht in Coln der brauch nit wirt gehalten, wie meisteils baussen Coln in verscheiden landen, dar man den missdedern ire begangen ubeltaten offentlich in

|| 16 Wolfgang SCHILD, Der „entliche Rechtstag“ als das Theater des Rechts, in: Peter LANDAU u. Friedrich-Christian SCHROEDER (Hgg.), Strafrecht, Strafprozess und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina (Juristische Abhandlungen 19), Frankfurt a. M. 1984, S. 141. 17 Ebd. 18 Vgl. Franz-Josef ARLINGHAUS, Gnade und Verfahren. Kommunikationsmodi in spätmittelalterlichen Stadtgerichten; in: Rudolf SCHLÖGL (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, S. 137–162.

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ire und des gansen umbstants anhoeren underscheitlich pflegt vorzulesen und dan das urtel glichfals, das hie in Coln nit geschicht.19

ARLINGHAUS kontextualisiert diesen Eintrag im Rahmen seiner Schilderung eines typischen Prozessgeschehens in Köln: Als der Ritter Hans Schmidt von Petersberg in Köln wegen Entführung eines Studenten gefangen genommen wurde, brachten ihn die Gewaltrichter zunächst auf den Frankenturm. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Befragung unter der Folter, die von zwei Ratsherren auf dem Kunibertsturm – dort lagen die Folterwerkzeuge – durchgeführt wurde. Nach abgelegtem Geständnis überstellte ihn der Rat an das Hohe Weltliche Gericht. Jetzt erst fand der ‚eigentliche‘ Prozess statt, dessen Ergebnis nach der erfolterten Selbstbezichtigung des Täters jedoch schon weitgehend feststand. Die Verhandlung scheint schon im 15. Jahrhundert nicht vor großem Publikum stattgefunden zu haben. Denn das Gericht tagte nicht, wie in solchen Fällen in den meisten anderen Städten üblich, auf einem öffentlichen Platz, sondern bereits in einem geschlossenen Raum. Schon die Zeitgenossen hoben die eingeschränkte Öffentlichkeit des Hochgerichtsverfahrens im Vergleich zum Prozesswesen an anderen Orten hervor.20

Der Einbezug der Öffentlichkeit in den Rechtsfindungsprozess wurde also, wie das Exempel deutlich vor Augen führt, von den Zeitgenossen als essentiell betrachtet. In der Entstehungszeit des Lüneburger Bildprogramms, auch dies bestätigt das angeführte Beispiel bei ARLINGHAUS, vollzog sich nun aber gerade in diesem Punkt ein einschneidender Wandel: die zunehmende Verlagerung der Rechtsprechung in den Innenraum. Wenn diese auch nicht den völligen Ausschluss der Öffentlichkeit zur Folge hatte, so kann sie doch als teilweise Exkludierung gelten und wurde, wie der Kommentar des Ratsherrn Hermann von Weinsberg belegt, durchaus auch in dieser Weise wahrgenommen. Der hierin sich niederschlagende Aushandlungsprozess über das Innen und Außen, der sich insbesondere in der Frage nach Inklusion bzw. Exklusion der Öffentlichkeit manifestiert, ist vielfach in bildlichen Darstellungen der Zeit wiederzufinden. In „Die Rechtsprechung Daniels“ (Abb. 3) wird diese binäre Polarität auch über die Anordnung von Körpern ausgehandelt, die zudem die Leitdifferenz Recht/Unrecht verbildlicht. Das Verbrechen auf der linken Seite findet naturgemäß ohne Zuschauer statt, während hingegen bei der Steinigung die anwesenden Körper selbst es

|| 19 Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 4, hrsg. v. Friedrich LAU (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 16,4), Düsseldorf 2000 (zuerst: Bonn 1898), S. 48. Vgl. ARLINGHAUS (Anm. 18), S. 157, Anm. 64. ARLINGHAUS ergänzt einen Kommentar dazu von Gerd SCHWERHOFF, der feststellt, dass „[d]ie Gefangenen […] den Urteilsspruch zwischen den vier Schöffenbänken, ohne dass Öffentlichkeit hergestellt wurde, [empfingen]“. Gerd SCHWERHOFF, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn, Berlin 1991, S. 119, Anm. 96. 20 ARLINGHAUS (Anm. 18), S. 156–157.

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sind, die den Raum formieren, der als Schauplatz für die Hinrichtung dient. Die Öffentlichkeit bildet in ihrer isokephalen Anordnung eine Mauer, die sicherstellt, dass die Verbrecher ihrer gerechten Strafe nicht entkommen können. Die Anwesenheit der Öffentlichkeit bei der Gerichtsverhandlung scheint visuell aufzurufen, was in der Praxis nur noch partiell gegeben war. Hierin scheint ein Schlüssel bildlicher Repräsentation im Rechtskontext der Frühen Neuzeit zu liegen. Die Öffentlichkeit im Bild funktioniert im Sinne einer Substitution realer Präsenz bei Teilen des inquisitorischen Verfahrens. Martin WARNKE erklärt: Die Bedeutung all dieser Bilder liegt nicht in ihrem Wahrheitsgehalt, sondern in ihrem Fiktionsgehalt. Je mehr in Wirklichkeit das politische Handeln sich von religiösen oder moralischen Vorgaben frei machte und sich nach nackten Staatsinteressen richtete, umso mehr bedurfte es zur Kompensation oder zur Überblendung einer scheinhaften Sinnproduktion, die im wesentlichen von den Künsten zu leisten war.21

Auch im Gemälde „Das Salomonische Urteil“ (Abb. 4) wird der Prozess der Zeugenbefragung durch eine Vielzahl an umstehenden Personen begleitet. Die zugrundliegende Geschichte wird im 1. Buch der Könige 3, Verse 16–28 erzählt: Zwei Frauen sprechen vor dem Thron des Königs Salomon vor. Die erste Frau berichtet, dass beide etwa zeitgleich Kinder zur Welt gebracht hätten. Sie erzählt, die andere Frau hätte das eigene Kind im Schlaf erdrückt, sodass es in der Nacht gestorben sei und beschuldigt sie, das tote Kind gegen ihr eigenes vertauscht zu haben. Die andere Frau wiederum behauptet, es habe sich genau andersherum zugetragen. Da befiehlt Salomon ein Schwert bringen zu lassen und das Kind in zwei Teile zu schneiden, sodass jede Frau einen davon behalten könne. Die wahre Mutter ist entsetzt und will das Kind lieber an eine andere Frau verlieren als es getötet zu sehen. Die andere Frau hingegen willigte in den Vorschlag ein, und so konnte Salomon aufgrund der Reaktionen der beiden Frauen erkennen, wer die wahre Mutter war und überließ dieser das Kind. Über die Attribute der beiden Frauen können diese identifiziert werden. Der Mutter des lebenden Kindes ist der in aufmerksamer Haltung dargestellte Hund zugeordnet, während der zusammengerollt schlafende Hund am rechten Bildrand die Identität der Mutter preisgibt, die ihr Kind im Schlaf erdrückt hat.22

|| 21 Martin WARNKE, Die Demokratie zwischen Vorbildern und Zerrbildern, in: Dario GAMBONI u. Georg GERMANN (Hgg.), Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20 . Jahrhunderts, Bern 1991, S. 79. 22 Der Hund ist in der ikonographischen Tradition mehrfach konnotiert. Eine negative Interpretation rechtfertigt sich durch Darstellungen, die im Zusammenhang mit der Erschaffung Evas verbreitet sind, bei denen ihr ein schlafender Hund als Attribut beigegeben ist. Der Hund nimmt in dieser Darstellungsweise den Sündenfall vorweg und ist damit eindeutig negativ konnotiert. Vgl. Peter GERLACH, Hund, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2 (1994), Sp. 334–336.

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Die drei skizzierten religiösen Gerechtigkeitsbilder (Abb. 2, 3, 4) zeigen richterliche Handlungen. Sie bringen damit die Geschehnisse im Gerichtsort selbst zur Wiederholung und repräsentieren zugleich die sich im Niedergericht vollziehende Rechtsprechung – und dies auch, wenn keine Gerichtsverhandlungen stattfinden. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechungspraxis wird ersichtlich, warum im Bild eine Vereindeutigung respektive Disambiguierung von realiter getrennten Phasen der Rechtsprechung stattfinden muss: Die Bilder dienen als Vorbilder, sie schaffen einen Referenzrahmen für die handelnden Akteure.

3 Typologische Strukturen Die Übernahme bekannter Bildmuster aus dem Kontext christlicher Ikonographie schafft den Anreiz für eine typologische Untersuchung des Bildprogramms. Neben den drei historischen Darstellungen ist der reale Richter des Niedergerichts als vierte Richterfigur an dieser Stelle mitzudenken. Sein Platz befindet sich direkt vor dem Salomonischen Urteil. Salomon wird als Vorläufer Christi gesehen und ihm als Typus zugeordnet. „Das Salomonische Urteil“ gilt als entsprechender Typus für das „Weltgericht“.23 Neben Salomon wird auch Daniel als Typus Christi interpretiert. Für das vorliegende Bildprogramm ergeben sich aus der Verbindung der drei Personen eine komplexe Bezugnahme zwischen Altem und Neuem Testament und die visuelle Umsetzung typologischer Bibelexegese. Der reale Richter wäre zwischen Typus und Antitypus zu verorten. Im Vergleich der Bildwerke fällt auf, dass sich in vielerlei Hinsicht Analogien zwischen den Bildern auf formaler und semantischer Ebene ergeben: Formale Analogien bestehen in der Beschaffenheit der Gemälde, ihrer Einbindung in die Gewölbeeinheiten der Architektur (Abb. 2 und 3) sowie in der bildnerischen Anlage und Komposition (Abb. 3 und 4). Die Inschriften auf allen drei Bildern, die formal immer gleich angebracht sind, die lateinischen am oberen Rand, die deutschen Übersetzungen in Reimform als unterer Abschluss der Gemälde, fügen der bildlichen Aussage eine textliche hinzu, die das jeweilige Bildthema unterstreicht (Abb. 2, 3 und 4).

|| 23 Vgl. Wolfgang PLEISTER u. Wolfgang SCHILD (Hgg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, Köln 1988 S. 57. SCHILD nennt Traktatliteratur, in der eine Identifizierung von Christus und Salomon vorgenommen wird, die sich durch die Abstammung beider von David legitimiert. Peter BLOCH spricht in der Gegenüberstellung von Salomon und Christus in Form von Personifikationen von einer „echten Typologie“. Peter BLOCH, Typologie, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd. 4 (1994), Sp. 395.

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Alle drei Geschichten stellen Recht und Unrecht einander gegenüber und bedienen damit eine für Gerechtigkeitsbilder verbreitete, ja vielleicht sogar notwendige Argumentationsstruktur. Recht und Unrecht werden im Bild definiert und anhand einer Geschichte verdeutlicht. Die Verbindung der im Niedergericht vorliegenden Motive ist aufgrund der inhaltlichen Kongruenz naheliegend: Alle drei Gemälde zeigen richterliche Handlungen; genauso wie der Anbringungsort – das Niedergericht – als Ort einer richterlichen Handlung genutzt wird. Sie zeigen damit exemplarisch Motive, die sinnstiftend für den Ort und das Handlungsspektrum desselben sind.24 Auf diese Weise wird die Interaktion von Bildpersonal und Realpersonal im Sinne einer Bedeutungsübertragung und Handlungsmotivation sowie -legitimierung evoziert. Dies sei am Salomonischen Urteil verdeutlicht. Zunächst verrät ein Blick auf die Ikonographie, dass die Geschichte bildimmanent noch nicht aufgelöst ist. Der Gerichtsdiener umfasst mit seiner rechten Hand das Schwert, dessen Knauf auf der Scham des Kindes aufliegt und so eine Verlängerung seines Körpers bildet. Schwert und Kindeskörper gehen eine Synthese ein. Dabei setzt das Schwert genau dort an, wo es den Kindeskörper in zwei Teile trennen würde, würde der vorgetäuschte Vorschlag Salomons durchgeführt. Der Ausgang der Geschichte wird in diesem Gemälde verwehrt. Der gezeigte Moment ist kurz vor der Urteilsverkündung einzuordnen, aber: Die Entscheidung der Rechtssache steht noch aus. Dadurch wird der Prozesshergang selbst als das zugrundeliegende Thema des Gemäldes betont. Und zugleich ist der Ausgang der Geschichte wohlbekannt. Die von Gott ausgehende Weisheit, die Salomon zuteilwird, wird zum Leitgedanken. Und auch diese wird im Bildprogramm räumlich inszeniert. Bei Gerichtsverhandlungen wurde die Baldachinkonstruktion geöffnet, so dass das Trinitätsgemälde (Abb. 5) über dem Kopf des Richters stand (Abb. 9). Die Tafel strebt im Moment des Aufklappens in Richtung Himmel und wird parallel verlaufend befestigt, sodass der Baldachin wie ein Dach über dem Kopf des Richters verbleibt. Der in 1. Könige 3 beschriebene Übertragungsmoment der Weisheit, die Fähigkeit zu richten, mit der Gott Salomon ausstattet, wird so reminisziert und auf den Realrichter übertragen.25 Die Entsendung des Heiligen Geistes und die Ausstattung mit Weisheit, um zu richten, ist als performativer Wiederholungsprozess zu denken. Die Entsendung als Bewegungsmoment wird durch das Öffnen auch körperlich nachvollziehbar. Die bildlichen Beispiele der Rechtsprechung rücken den gerechten Richter in den Vordergrund und richten sich sowohl in ihrer Bildaussage wie auch in den Inschriften an den vor Ort agierenden Personenkreis. Durch die Parallelisierung von Bild- und Realraum sollen sie als Vorbilder für die Richter wirken. Dies wird besonders deutlich an der Baldachinkonstruktion. Der Sitz des Richters in den Gemälden von Salomon

|| 24 Vgl. LEDERLE (Anm. 6), S. 84. 25 Vgl. GANZERT (Anm. 2), OBERT (Anm. 2).

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und Daniel wird in der Realarchitektur wiederholt.26 Auch hier im Realraum führt eine Stufe zum Sitz des Richters, der dann wiederum durch einen Baldachin überdacht wird. Die Gemälde rekurrieren auf die Abläufe der Rechtsprechung im Niedergericht und nehmen damit konkret Bezug auf ihren Anbringungsort.27 Das Bildprogramm des Lüneburger Niedergerichts stellt ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Bedeutungsdimensionen dar, von denen hier die Parallelisierungsstrategien sowie die Etablierung rechtshistorischer Wirklichkeiten hervorgehoben wurden. Immer wieder begegnet dabei die Leitdifferenz Recht/Unrecht als binäres Kompositionspaar in den Bildern: im Weltgericht zwischen den Verdammten und den Seligen, im Salomonischen Urteil in Form der beiden Frauen, die im Übrigen als Rückenfiguren so angeordnet sind, dass sie für die vor Gericht stehenden Parteien identifikatorisches Potenzial ausbilden. Die Interaktion des Bildprogramms mit den vor Ort handelnden Personen manifestiert sich in zahlreichen Analogien von Bild- und Realraum sowie zahlreichen Betrachterfiguren, die einen Aushandlungsprozess von Innen und Außen evozieren. Die Betrachter werden aufgefordert, die Handlungen im Bild nachzuvollziehen. Durch die Ikonographie wird klar vor Augen geführt, wie Recht und Unrecht definiert sind. Vor allem „Die Rechtsprechung Daniels“ bietet mit der Visualisierung räumlich und zeitlich versetzter rechtlicher Abläufe eine Gesamtschau im Bild. Es bringt zum einen die Öffentlichkeit mit ins Bild, die nicht an allen Verfahrensabläufen beteiligt war. Zudem zeigt es sowohl die Verhandlung als auch den Strafvollzug, Abschnitte im Rahmen der Rechtsprechung, die realiter nicht zusammen gesehen werden konnten. Das Niedergericht, das durch seine offene Struktur stets sichtbar war, vereinigt somit in sich unterschiedliche Raum- und Zeitkonzepte. Die künstlerische Ausstattung hat hier maßgeblichen Anteil. So wie auf der Ebene zwischen Bild- und Realraum ein steter Aushandlungsprozess zwischen Innen und Außen provoziert wird, so grenzt sich aber auch der Niedergerichtsraum physisch durch ein Gitter vom umliegenden Stadtraum ab. Die Grenzziehung markiert den für eine Gerichtsverhandlung notwendigen befriedeten Raum, sie markiert das Verhältnis vom Innen des Niedergerichts zum Außen der umliegenden Plätze.

|| 26 GANZERT beschreibt die Entsprechungen in den Gemälden „Das Salomonische Urteil“ und „Die Rechtsprechung Daniels“ als eine Wiederholung des Konzeptes des Realraumes im Bildraum der Gemälde. Zusätzlich zu den parallelen Darstellungen im Niedergericht selbst erkennt er „zahlreiche Entsprechungen in den Gemälden der Großen Ratsstube.“ Joachim GANZERT, Zum laufenden Forschungsprojekt, in: Michael GOER (Hg.), Rathäuser und andere kommunale Bauten. Jahrbuch für Hausforschung 60 (2010), S. 53–66. Vgl. auch GANZERT (Anm. 2). 27 LEDERLE erklärt, dass alle Rathausbilder in Deutschland, den Niederlanden und Italien die Gemeinsamkeit haben, dass „die dargestellten Gegenstände sämtlich auf die Bedeutung des Hauses sowie den Zweck des einzelnen Raumes Bezug nehmen […].“ LEDERLE (Anm. 6), S. 81.

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4 „Das Außen ist die Negativität der Positivität des Innen. Das Außen ist das, was das Innen nicht ist.“ Zygmunt BAUMAN benennt die Unterscheidung zwischen dem Innen und dem Außen als die oberste der binären Oppositionen, die als ordnendes System der Welt dienen. Das Verhältnis der beiden Pole ist durch Abgrenzung des einen vom anderen bestimmt: „Das Außen ist die Negativität der Positivität des Innen. Das Außen ist das, was das Innen nicht ist.“28 Das Niedergericht ist im Außenbereich des Rathauses situiert. Es rief durch seine Omnipräsenz im Alltag stetige Konfrontation hervor und gewährleistete Sichtbarkeit der Rechtsinstitution zu jeder Zeit. Mit seinem Bildprogramm bildet es einen abgeschlossenen Rechtsraum aus, rekurriert aber gleichermaßen auf andere Rechtsprechungsräume im Lüneburger Rathaus. Wenn nun im Niedergericht durch die künstlerische Ausstattung auf Abschnitte der Rechtsprechung verwiesen wird, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, lohnt ein Blick ins Innere des Rathauses. Bereits in der Rekonstruktion des Kölner Prozessgeschehens klang das Verhältnis von Innen und Außen an, das eben auch mit dem Verhältnis von Öffentlichkeit und NichtÖffentlichkeit verknüpft war. Die Schilderung von ARLINGHAUS entspricht in vielen Punkten den für Lüneburg bekannten Abläufen. Die Große Ratsstube, im Inneren des Gebäudes situiert, diente als Ort des Ratsgerichts. Funktional bilden die beiden Gerichte als Hoch- und Niedergericht eine Einheit. Die Urteile wurden in einem Verfahren im Inneren „vorgefunden“ und dann im Niedergericht erneut gefunden und abschließend öffentlich verkündet, um Legitimation zu erlangen.29 Das Innen und das Außen sind als Unterscheidung offenkundig, bedingen sich aber gegenseitig, verhalten sich reziprok und treten damit als Einheit zutage – und zwar im Niedergericht, das alle Brüche in sich aufzufangen und zu disambiguieren vermag. Betrachtet man den rechtshistorischen Kontext der Zeit, so fällt auf, dass sich entscheidende Leitlinien verändern. Das Innen und Außen als binäre Opposition werden in der Forschungsliteratur mit der Polarität von Öffentlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit in Beziehung gesetzt. So beschreibt Erwin BRAUN beispielsweise, dass in Reutlingen das Blutgericht ab 1495 „bei verschlossenen Türen“ abgehalten wurde, Kaiser

|| 28 Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, S. 92. 29 Vgl. OBERT (Anm. 2), S. 135.

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Maximilian dem Schultheißen zu Herrenberg am 25. Februar 1509 erlaubte, das Gericht „auf dem Rathaus zu halten.“30 Oftmals wurden die Räume nach Zuständigkeiten im Innen- und Außenbereich situiert, oder die Sitzung selbst fand im Innen und die Verkündung und der Abschluss des Verfahrens im Außenbereich statt. Die Professionalisierung und damit einhergehende Veränderungen wie die zunehmende Schriftlichkeit und die Verdrängung der Mündlichkeit des Verfahrens sind entscheidende Faktoren für den Rückzug in den Innenraum. Damit verbunden veränderte sich auch der Modus der Urteilsfindung. Nicht mehr der Umstand oder die Schöffen – je nach Rechtsfamilie in unterschiedlicher Funktion –, sondern akademisch ausgebildete Juristen fällten das Urteil, und dies nicht direkt im Rahmen der öffentlichen Verhandlungen, sondern in einer geheimen Sitzung: Hatten ursprünglich sie selbst, genauer gesagt die Schöffen, in aller Öffentlichkeit über das Urteil zu befinden, wurde die Urteilsbildung nun zusehends zu einem Geschäft akademisch gebildeter Juristen und zur Sache eines geheimen Gremiums.31

Der Einzug universitär ausgebildeter Juristen in die Rechtspflege steht in Zusammenhang mit der fortschreitenden Rezeption des Römischen Rechts im 15. und 16. Jahrhundert.32 Für Lüneburg ist diese kurz vor der Neuausstattung des Niedergerichts mit der Stadtrechtsreform des Heinrich Husanus zwischen 1576 bis 1583 belegt.33 Die verstärkte Anwendung des gelehrten, verschriftlichten Rechts dürfte auch in Lüneburg Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Rechts gehabt haben, so wie es von Weinsberg für Köln bestätigt. Die Dominanz von Experten(wissen), nachlassende Nachvollziehbarkeit durch die Ausgrenzung von Laien ließ die Rechtsprechung zu einem Akt hinter verschlossenen Türen werden, „Justiz wurde zum arcanum imperii.“34 Die sich vollziehenden Änderungen in der Rechtsprechung bedingen also eine Verunklarung binärer Oppositionen, ja sogar binärer gesellschaftlicher Leitdifferenzen und bringen somit ein Ambiguitätsmoment hervor. Ein solches besteht nach Thomas BAUER dann, „wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder min-

|| 30 Erwin BRAUN, Die Entwicklung der Gerichtsstätten in Deutschland, Stuttgart 1943 (zugleich Dissertation Friedrich-Alexander-Universität zu Erlangen), S. 80. 31 Richard von DÜLMEN, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985, S. 38–39. 32 Vgl. Klemens KLEMMER, Rudolf WASSERMANN u. Thomas Michael WESSEL, Deutsche Gerichtsgebäude. Von der Dorflinde über den Justizpalast zum Haus des Rechts, München 1993, S. 18. 33 Vgl. Johannes MERKEL, Heinrich Husanus (1536 bis 1587). Herzoglicher Sächsischer Rath, Mecklenburgischer Kanzler, Lüneburgischer Syndicus. Eine Lebensschilderung, Göttingen 1898. Für Lüneburg speziell S. 219–262 u. 289–360. 34 KLEMMER, WASSERMANN u. WESSEL (Anm. 32), S. 18.

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destens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind“.35 Das Objekt wäre in diesem Fall die Rechtsprechung in den verschiedenen Facetten, die ihre Gesamtheit bilden. Und wenn auch nur bestimmte dieser Facetten bzw. Verfahrensabschnitte als Geheimsache zu interpretieren sind, steht dies in jedem Fall der Öffentlichkeitsmaxime entgegen.36 Auch wenn in rein rechtshistorischer Perspektive dieser Umstand nicht als ambig aufgefasst würde, so sprechen die künstlerischen Ausstattungen doch klar dafür, dass die Zeitgenossen zumindest die Gefahr einer Ambiguität empfanden. Denn neben vielen anderen kann der künstlerischen Ausstattung der Gerichtsräume eine eindeutige Funktion zugeordnet werden: Sie treibt einen Prozess der Disambiguierung voran. Die Gemälde im Gerichtsort, wie es exemplarisch am Lüneburger Niedergericht vorgeführt wurde, bilden einen wichtigen Bestandteil der Gerichtsortausstattungen. Der Prozess der Disambiguierung kann einsetzen, um bestehender Ambiguität entgegenzuwirken, aber auch schon bevor Ambiguität als solche überhaupt wahrgenommen wird. In den bisherigen Forschungspositionen zu Gerechtigkeitsbildern, zu denen auch die Ausstattungselemente im Niedergericht gezählt werden können, ist die Bedeutung der Bilder für den Prozess der Disambiguierung zumindest implizit bereits formuliert. Gerechtigkeitsbilder werden von Rainer Kashnitz im „Lexikon der christlichen Ikonographie“ als Darstellungen moralisierender Geschichten gefasst.37 Kashnitz verweist darauf, dass Gerechtigkeitsbilder im Handlungsrahmen der Rechtsprechung eine mahnende und zugleich warnende Funktion erfüllen sollten.38 Mit dem Anspruch platziert, Einfluss auf die Entscheidungen am Anbringungsort zu nehmen, wurde den Gerechtigkeitsbildern eine didaktische Wirkung zugesprochen. Adressaten der Bilder waren demnach die Richter und Gesetzgeber, die die Institution Recht vertraten und gerechte Rechtsprechung gewährleisten sollten.39 Darüber hinaus dienten Gerechtigkeitsbilder der Versicherung der Rechtssuchenden darüber, dass ihr Anliegen adäquat bearbeitet werden würde.40 Der Adressatenkreis wäre da-

|| 35 Thomas BAUER, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S. 27. 36 LEPSIUS weist darauf hin, dass man „den gelehrten Prozeß des Mittelalters als Geheimverfahren“ nur dann als geheim bezeichnen kann, wenn „die Person der Belastungszeugen ganz geheim blieb, nicht jedoch schon bei der regelmäßig abgetrennt, das heißt geheim stattfindenden, Befragung der Zeugen durch den Richter“. LEPSIUS (Anm. 14), S. 17. 37 Vgl. Rainer KASHNITZ, Gerechtigkeitsbilder, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd. 2 (1994), Sp. 134. Die Themen speisen sich aus unterschiedlichen Quellen, hauptsächlich aus der Bibel sowie antiken und mittelalterlichen Schriften. Zu den verbreitetsten Motiven zählen „Das Jüngste Gericht“ sowie „Das Salomonische Urteil“. Vgl. u. a. LEDERLE (Anm. 6), S. 14; TROESCHER (Anm. 4), S. 139; Gerechtigkeitsbild, in: Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Bd. 2 (1989), S. 709. 38 Vgl. KASHNITZ (Anm. 37), Sp. 134. 39 Vgl. ebd., Sp. 134; LEDERLE (Anm. 6), S. 84. 40 Vgl. Gerechtigkeitsbild (Anm. 37), S. 709.

Disambiguierung im Bild | 219

mit um die Rechtssuchenden erweitert, die Bilder wären demnach eine Form visualisierter Garantie oder auch Rechenschaftslegung dafür, dass die Richter und Gesetzgeber ihre Aufgabe gegenüber dem Volk ordnungsgemäß vollzogen. Demgemäß konstatiert auch Hans FEHR, dass die Gerechtigkeitstafeln „mit mahnenden Worten auf den Richter ein[redeten], dem guten, dem richtigen Recht zum Siege zu verhelfen“ und „nicht als dekorativer Schmuck in den Hallen der Rathäuser“ hingen.41 Weiter betont er, dass die Gerechtigkeitsbilder „in der feineren Erkenntnis des Rechts durch das Mittel der Kunst“ ihre Bestimmung fanden: „Den Mitlebenden wurde durch die bildlichen Darstellungen das Recht lebendiger, der Rechtsvorgang deutlicher und verständlicher gemacht.“42 Über diese didaktische Ebene hinaus, herrschte im Rechtskontext ein Bedarf nach Legitimation, der durch die Anbringung der meist vom Rat als gesetzgebender und -ausführender Instanz verantworteten künstlerischen Ausstattung gedeckt wurde.43 Mit ihr und durch sie spiegeln sich die Bedeutung der Institution und der Wunsch nach Repräsentation seitens der Auftraggeberschaft. Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist das Recht als ein Subsystem der Gesellschaft zu definieren, welches sich neben anderen Subsystemen aufgrund spezifischer Funktionen als solches herausgebildet hat.44 Der Status als Subsystem legt im Sinne der Dichotomie von System und Umwelt das Recht als Innen und die Umwelt als Außen fest. Einflüsse durch die Umwelt erfolgen (im Sinne der systemtheoretischen Definition) durch Informationen, auf die das Subsystem reagiert: Ein Kläger bringt sein Anliegen vor Gericht, und das Rechtssystem leitet entsprechende Schritte ein. Es reagiert damit auf eine Information von außen und setzt die internen Mechanismen in Bewegung. Aber bereits mit der Klageerhebung tritt der Kläger in das Subsystem „Recht“ ein. Denn, und das ist zentral: Das Rechtssystem bildet ein autopoietisches System, das operativ geschlossen, informationell und strukturell aber offen ist und darüber mit der Umwelt kommuniziert.45 Das Rechtssystem stellt die Gesamtheit aller Kommunikation dar, die der Leitdifferenz rechtmäßig/nicht rechtmäßig folgen. Gralf-Peter CALLIESS benennt das Begriffspaar Recht/Unrecht als den binären Code, der die Unterscheidung zwischen dem Rechtssystem und seiner innergesellschaftlichen Umwelt, also „nichtrechtliche[r] Kommunikation“, kennzeichnet.46 Jede Kommunikation, die sich auf den Rechtscode bezieht, gehört auch zum Rechtssystem, das heißt jede Kommunikation, die den Code Recht/Unrecht aufgreift, bedeutet

|| 41 Hans FEHR, Das Recht im Bilde, München, Leipzig 1923, S. 12. 42 Ebd., S. 27. 43 Vgl. OBERT (Anm. 2), S. 100. 44 Vgl. Gralf-Peter CALLIESS, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja BUCKEL, Ralph CHRISTENSEN u. Andreas FISCHER-LESCANO (Hgg.), Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S. 60. 45 Vgl. ebd., S. 59. 46 Vgl. ebd., S. 61.

220 | Ann-Kathrin Hubrich

Rechtskommunikation.47 Mit der Ausstattung von Gerichtsorten wird die Leitdifferenz auf einer bildlichen Ebene verhandelt. Die bildliche Diskursivierung erfüllt bestimmte Funktionen, die in einem anderen Medium nicht geleistet werden können. Neben den Strategien der Identifikationsstiftung, der Parallelisierung, der Legitimation ist die Ebene der Repräsentation besonders bedeutend. Sie ist die Ebene, die das Innen im Außen einfängt, die zeitlich und räumlich unterschiedlich gelagerte Prozesse im Bild einfängt – das Niedergericht repräsentiert die Rechtsprechung Lüneburgs in seiner Gesamtheit. Disambiguierung im Bild schafft es, das Lüneburger Rechtsprechungssystem als recht und gerecht festzuschreiben. Der Prozess der Disambiguierung funktioniert auf zweierlei Weise: Die damals als neues Recht eingeführte inquisitorische Methode wird bildlich verhandelt und anhand von biblischen Geschichten vermittelt. Darüber hinaus wird auch das neue Recht in eine göttliche Genealogiestruktur eingebettet, die sich letztendlich unter Rekurs auf die transzendente Legitimation von Recht bezieht und in dieser auflöst.

|| 47 Vgl. ebd., S. 61: „Auf der operativen Ebene der Kommunikation ist das Rechtssystem geschlossen, weil jede Kommunikation, die sich auf den Rechtscode bezieht, per definitionem [Kursivierung durch CALLIESS] zum Rechtssystem gehört.“

Disambiguierung im Bild | 221

5 Abbildungen

Abb. 1: Das Niedergericht des Lüneburger Rathauses, Foto Fred Dott, Hamburg

Abb. 2: Daniel Frese, „Das Jüngste Gericht“, 1603–1607, 310 cm x 150 cm (in der maximalen Höhe), Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

222 | Ann-Kathrin Hubrich

Abb. 3: Daniel Frese, „Die Rechtsprechung Daniels“, 1603–1607, 275 cm x 140 cm (in der maximalen Höhe), Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

Disambiguierung im Bild | 223

Abb. 4: Daniel Frese, „Das Salomonische Urteil“, 1603–1607, 165 cm x 125 cm (in der maximalen Höhe), Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

Abb. 5: Daniel Frese, Trinitätsdarstellung, 1603–1607, 167 x 125 cm, Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

224 | Ann-Kathrin Hubrich

Abb. 6: Daniel Frese, Stadtwappendarstellung, 1607, 167 x 125 cm, Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

Disambiguierung im Bild | 225

Abb. 7: Daniel Frese, Justitia, 1603–1607, 49 x 186 cm, Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

226 | Ann-Kathrin Hubrich

Abb. 8: Daniel Frese, Pax, 1603–1607, 49 x 186 cm, Öl auf Holz, Niedergericht, Lüneburg Rathaus, Foto Fred Dott, Hamburg

Disambiguierung im Bild | 227

Abb. 9: Ansicht der Baldachinkonstruktion, Foto Fred Dott, Hamburg

Abb. 10: Detail aus Abb. 3: „versuchter Übergriff auf Susanna“

228 | Ann-Kathrin Hubrich

Abb. 11: Detail aus Abb. 3: „Daniel als Richter“

Abb. 12: Detail aus Abb. 3: „Steinigung der beiden Alten“

Disambiguierung im Bild | 229

Abb. 13: Detail aus 3 „Betrachterfigur in Ratsherrenkleidung“

230 | Ann-Kathrin Hubrich

Abb. 14: Detail aus 3 „Betrachterfigur in Ratsherrenkleidung“

Disambiguierung im Bild | 231

Abb. 15: Derick Baegert, Die Eidesleistung, 1493/94, 121 cm x 144 cm, Öl auf Holz, Städtisches Museum Wesel

Register Personen der Vormoderne sind nach dem Vornamen sortiert, moderne Autoren nach dem Nachnamen. Letztere sind nur bei Erwähnungen im Haupttext nachgewiesen. Rein literarische oder mythologische Figuren und Orte sind nicht aufgenommen. Abū al-Makārim 92

Beinhauer-Köhler, Bärbel 83

Abū Hāmid al-Andalusī al-Garnātī 37

Benedict von York 25

Accursius 157

Bern 161, 164

Africa, römische Provinz 36

Betanien 100

al-Andalus 1–2

Bethlehem 96–97, 103

al-Bīrūnī 100

Béziers 176

al-Ḥākim bi-Amr Allah, Kalif 98

Blümle, Claudia 208–209

al-Munḏir III. ibn al-Ḥāriṯ 86

Bologna 161–163, 171–172

Al-Ruṣāfa s. Resafa

Bonaventura von Bagnoregio 8, 175, 184,

al-ʿāzariyya 100

191–197, 203

Albucasis 162, 172

Bornholm 115

Alexander IV., Papst 191

Bosl, Karl 179

Alfons X., „der Weise“,

Bourdieu, Pierre 117

König von Kastilien 42

Brann, Ross 1–2

Algerien 36

Brather, Sebastian 119

Alhaug, Gulbrandt 140

Braun, Erwin 216–217

Angulus (Landschaft) 124

Burchard von Straßburg 91–92

Antonio Beccadelli 167

Byzanz 123–124

Apulien 38, 55–57 Aragón 18, 21, 36–38, 40, 50, 54, 163, 166

Calixt III., Papst 41

Arlinghaus, Franz-Josef 210–211, 216

Calliess, Gralf-Peter 219

Ascher ben Jechiel 17

Castelló d’Empúries 163

Auferstehungskirche, Jerusalem s. Grabes-

Chancery Lane, London 26

kirche

Chosrau II., König der Sassaniden 86

Augustinus 181–183

Clemens IV., Papst 44

Avicenna 162, 172

Cordoba 36

Azo 7, 157–159 Damaskus 84, 91, 93 Balasse, Céline 39

Dänemark 137

Baldus de Ubaldis 164–165, 173

Daston, Lorraine 153, 167

Balkan 36–38, 122

Davidsgrab, Jerusalem 6, 89

Bartolo da Sassoferrato 165

Denis Machaut 49–50

Basra 90

Derick Baegert 208–209

Bauer, Thomas 2, 13, 82, 217–218

Dominikus 178, 187, 202

Bauman, Zygmunt 216

domus conversorum, London 4, 11, 16, 22,

Beda Venerabilis 120, 124–126 https://doi.org/10.1515/9783110608250-011

24–30, 48

234 | Register

Edessa 89

Guy de Chauliac 172

Edward I., König von England 4, 11–12, 19, 23–24, 26–27, 30, 45–48

Heinrich Husanus 217 Heinrich III., König von England 4, 11–12,

Egeria 95 Einsiedeln 77–79

16, 19–22, 25–26, 32, 48

Elias L’Eveske 19

Heinrich IV., Kaiser 41

England 4, 11–35, 37, 40, 45–48, 50, 54, 57,

Helena, Mutter Kaiser Konstantins 97

139

Hengist 125

Eorcenberht I., König von Kent 125

Henry of Winchester 4, 12, 16, 30, 32–34

Eutychius 96–97, 101

Hermann von Weinsberg 210–211, 217 Hieronymus 189

Fehr, Hans 219

Himmerland 115

Ferdinand II., König von Aragón 37, 54

Hišām b. ʿAbd al-Malik 87

Fernando de Pulgar 52

Honorius IV., Papst 46–47

Fix, Hans 138

Hostiensis 159

Foucault, Michel 152–154

Hugh von Norwich s. Isaac Norwici

Frankreich 4, 35, 37, 39–40, 45, 48–50, 54,

Hulda, Prophetin 90

57 Franz von Assisi 178, 183–184, 187, 192, 203

Iberische Halbinsel 36, 38, 42, 52 Ifriqiya 36

Frenkel-Brunswick, Else 1

Indien 64, 74, 75, 79

Fried, Johannes 107

Innozenz III., Papst 23, 42

Friedrich I., Kaiser 91

Innozenz IV., Papst 195

Friedrich II., Kaiser 38

Isaac Norwici 22

Friesland 125

Isabella I. von Kastilien, Königin 37, 50 Italien 28, 36–38, 45, 106, 122–123

Geburtskirche, Bethlehem 6, 96, 103 Gerhard von Abbeville 185, 191–194, 196

Jean Lecoq 49

Geuenich, Dieter 138, 141

Jerusalem 64–65, 68–69, 75, 77, 83–84,

Giovanni de(lla) Malaspina 164–165, 168, 171

89–103, 181, 186 Joachim von Fiore 200

Goffart, Walter 117

Joan von Winchester 19

Grabeskirche, Jerusalem 6, 93–101

Johannes XXII., Papst 176–177

Granada 38, 45

John le Convers 31, 34

Gratian, Kaiser 43

John of St. Denis 24

Gregor IX., Papst 176, 195

John Pecham 23–24, 46–47, 192

Gregor X., Papst 45

Jónsson, Finnur 133–135, 137–139

Griechenland 80

Jørgensen, Ellen 132–134, 138

Grimm, Jacob 131, 133

Judah ben Samuel 17

Großbritannien 121, 124–126

Justinian I., Kaiser 86, 122–123

Grotte der Pelagia, Jerusalem 6, 90, 102

Jütland 115, 124

Guillem Castelló 163

Register | 235

Kampanien 56

Meir von Rothenburg 17

Karl der Große 36

Michael von Cesena 177

Karl II. von Anjou, König von Neapel 38

Michel Monachus 177–178

Karl V., Kaiser 38

Mittelmeerraum 14, 77, 80, 112

Karl VI., König von Frankreich 48

Mohammed, Prophet 96

Karl VIII., König von Frankreich 56

Mondino de Liuzzi 162

Kashnitz, Rainer 218

Mone, Franz Joseph 132–133

Kastilien 37–38, 40, 42, 44, 50

Morello di Franceschino Malaspina 164

Katalonien 38

Moses de Clara 32–33

Kedar, Benjamin 83–84

Mulazzo 164

Kehnel, Annette 183–184 Kent 124–126

Narbonne 176

Klöppel, Ulrike 155, 172

Naumann, Hans-Peter 131–132, 136–140,

Kluge, Friedrich 147

142

Köln 210–211, 216–217

Navarra 38, 52

Konstantin I., „der Große“, Kaiser 97

Neapel 4–5, 35, 37, 40, 45, 54–57

Konstantin VII., Kaiser 99

Nederman, Cary J. 152

Konstanz 161, 165–167, 170

Niederrhein 121

Kopenhagen 133

Niketas, Konstantinopler Kleriker 99–100

Kreta 80

Nordamerika 79 Nordsee 121, 125

Laqueur, Thomas Walter 152–154

Novalis 35

Laurentius Hispanus 160

Nowgorod 90

Lazaruskirche, Betanien 100 Le Goff, Jacques 178

Oeltjen, Natalie 20

Lepsius, Susanne 209, 218

Oisc, König von Kent 125

Levante 91

Ölberg 6, 90, 102

Levine, Donald 1–2

Ostrom 86

Limor, Ora 83, 90

Oxford 26–27

London 4, 20, 22, 24, 26, 31, 34, 47 Lorrey, Haidee 17

Paris 49–50, 172, 185, 191, 198

Lucera 38

Park, Katharine 153, 167

Luhmann, Niklas 3, 107, 151, 156

Pelagia, Heilige 6, 90, 102

Lüneburg 9, 205–231

Peterson, Lena 137 Petrus Iohannis Olivi 8, 175, 197–201, 203

Mabel la Converse 18

Pfaffe Konrad 66

Malkiel, David 18

Philip Balestarius 31

Marseille 176–178, 201

Philipp II., König von Frankreich 37

Matthaeus Parisiensis s. Matthew Paris

Pohl, Walter 116–117, 119–120

Matthew Paris 27

Poor, Sarah S. 70–71

Maximilian I., Kaiser 217

Portugal 36–38

Meir ben Baruch s. Meir von Rothenburg

Provence 177

236 | Register

Rābiʿa al-ʿadawiyya 90

Stollberg-Rilinger, Barbara 13, 25

Raimund von Wiener Neustadt 158

Tarragona 163

Ralph de Hengham 11–12, 32

Tempelberg 83

Ramón de Cardona 5, 54

Theoderich, „der Große“ 122–123

Regensburg 41

Theodora I., Ehefrau Justinians I. 86

Reichenau 129–150

Thomas Cantilupe 11

Resafa 6, 77, 85–89, 101

Thomas von Aquin 175, 185–192, 194, 202

Reutlingen 216

Thomas von Celano 183

Rhein 121, 125

Thomas von York 191

Rheinland 124–125

Thüringen 125

Richard I., König von England 20, 25, 41

Thy 115

Robert Grosseteste 16–17

Toskana 164

Roger II., König von Sizilien 43

Tower von London 20, 22, 24, 31

Roger le Convers 31–32

Tripolitanien 36

Rolandino Passagerii 7, 157–159

True, Jacqui 152

Rom 121, 124, 130, 161–162

Tunesien 36

Römisches Reich s. Rom Rottweil 165–166, 168

ʿUmar b. al-Ḥaṭṭāb, Kalif 96, 98 ʿUmar b. al-Khaṭṭāb-Moschee 98

Sack, Dorothee 87

Ungarn 37

Ṣaydnāyā 91–93, 101 Saʿīd b. al-Baṭrīq s. Eutychius

Valencia 38

Schick, Conrad 93–95

Vendsyssel 115

Schild, Wolfgang 210, 213 Schmid, Karl 134, 136

Warnke, Martin 212

Schwaben 125

Weber, Max 115

Schweden 137

Weltecke, Dorothea 83–86

Schweiz 77–79

Wendelsee 64

Schwyz, Kanton der Schweiz 77

Wenskus, Reinhard 114–117

Seaxburh, Heilige 125

Wessex 124

Seebold, Elmar 147

West, Candace 169–170

Sergios-Heiligtum 6, 85–89

Wilhelm von Saint-Amour 185–188, 191

Sergioupolis 85

William le Convers 27

Sion (Berg) 6, 89

Wolfram von Eschenbach 66

Sionskirche, Jerusalem 89 Sizilien 32, 36–37, 43, 45, 56

Yaḥyā b. Saʿīd al-Anṭākī 100

Skandinavien 139, 143–144 Sophronios, Patriarch von Jerusalem 96

Zimmerman, Don H. 169–170

Spanien 4, 31, 35–36, 38, 40, 45–46,

Zürich 129

50–55, 57 Sri Lanka 79

Zypern 80