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German Pages 276 Year 2014
Fabian Deus, Anna-Lena Dießelmann, Luisa Fischer, Clemens Knobloch (Hg.) Die Kultur des Neoevolutionismus
Edition Kulturwissenschaft | Band 41
Fabian Deus, Anna-Lena Diesselmann, Luisa Fischer, Clemens Knobloch (Hg.)
Die Kultur des Neoevolutionismus Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft
Wir danken der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen für die materielle Unterstützung der Forschungsarbeiten, über die hier berichtet wird. Herrn Marius Albers danken wir für die Herstellung des druckfertigen Manuskripts. Die HerausgeberInnen
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Inhalt
Einleitung der Herausgeber/-innen | 9 Menschen und Tiere – Vom Verschwimmen einer ehemals stabilen Opposition
Anna-Lena Dießelmann | 45 Vom Fortschritt zum Überleben der Art – Anmerkungen zur Geschichtssemantik des populären Neoevolutionismus
Fabian Deus | 71 Die Moral des Neoevolutionismus
Clemens Knobloch | 103 Wachstum und Wachstumskritik – Renaturalisierung eines wirtschaftswissenschaftlichen Dogmas
Luisa Fischer | 135 „The Tragedy of the Commons“ – Anatomie einer Erfolgsgeschichte
Clemens Knobloch | 169 Schönheit und Evolution – Anmerkungen zur Ästhetik des Neoevolutionismus
Fabian Deus & Daniel Göcht | 205 Der Kulturbegriff der neoevolutionistischen Kulturkritik
Clemens Knobloch | 225 Autorenverzeichnis | 273
Danksagung
Wir danken der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen für die materielle Unterstützung der Forschungsarbeiten, über die hier berichtet wird. Herrn Marius Albers danken wir für die Herstellung des druckfertigen Manuskripts. Die Herausgeber/-innen
Einleitung der Herausgeber/-innen
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D EFINITORISCHES
Der Ausdruck „Neoevolutionismus“ ist kein biologischer Fachterminus. Bei den evolutionistischen Biologen der letzten Generation findet man eher „neue Synthese“ als Bezeichnung für das Ensemble von Genetik, Populationslehre und Spieltheorie, das die esoterischen Kreise der Evolutionsbiologie seit einigen Jahrzehnten beherrscht. Es handelt sich bei „Neoevolutionismus“ eher um einen interdiskursiven Epochenbegriff für ein Selbstbeschreibungs- und Orientierungssystem, das sich auf den Darwinismus beruft und sich ungefähr gleichzeitig mit dem Siegeszug der so genannten Globalisierung und der neoliberalen Ökonomie in den Selbstdeutungsapparaten etabliert hat, vor allem im Medium der populären und popularisierten Wissenschaften, der Popularphilosophie etc. Vier Merkmale erachten wir als kennzeichnend für diese Strömung (und gleichzeitig für distinktiv und grenzziehend gegenüber dem „alten“ Evolutionismus der Generation von Konrad Lorenz): [a] In der Ebene der Selektion ist der Neoevolutionismus strikt individualistisch orientiert, d.h. er führt das Axiom, dass natürliche Auslese primär an den Individuen ansetzt oder sogar die Gene selbst betrifft, die sich das Individuum lediglich als ihr „Vehikel“ gebaut haben (in der Terminologie von Richard Dawkins). Die Annahme von Gruppenselektion (oder Mehrebenenselektion) gilt weithin als Ketzerei. [b] Der Neoevolutionismus erhebt einen umfassenden Erklärungs- und Begründungsanspruch für alle Angelegenheiten, die bislang als Domäne kultur- und sozialwissenschaftlicher Erklärungen galten: insbesondere Kultur, Gesell-
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schaft, Religion, Ästhetik, Erkenntnis, Moral/Ethik. Es gibt eine fast kanonische Einteilung der populären Bücher von Wilson bis Diamond, in denen jeweils alle diese Themenfelder „abgedeckt“ werden. Zuletzt in Edward O. Wilsons (2012) The Social Conquest of Earth. [c] Der Neoevolutionismus ist kulturuniversalistisch, um nicht zu sagen multikulturalistisch, es gibt für ihn prima facie keine Überlegenheit einer Kultur über eine andere (vgl. hierzu den Beitrag zum Kulturbegriff des Neoevolutionismus). Auch die Individuen sind „gleich“ qua Evolution, d.h. die zwischen ihnen herrschende Variation ist eine natürliche Tatsache der Evolution. Überlegene oder unterlegene „Rassen“, Ethnien etc. gibt es nicht, für die aufgeklärteren unter den Evolutionisten gibt es gar keine Menschenrassen. [d] Aufgekündigt ist weiterhin schließlich das enge begriffsgeschichtliche Bündnis zwischen Evolution und Fortschritt. Die Evolution gilt als völlig ungerichtet, zwar durchaus von lokalem Komplexitätsgewinn und -verlust gekennzeichnet, aber ohne inhärente Richtung in der Makroebene. „Die Evolution geht sehr langsam nirgendwo hin“ ist wahrscheinlich der (Michael Ruse zugeschriebene) am häufigsten zitierte Satz in diesem Zusammenhang. Weiterhin ist vorab wenigstens zu umreißen, was wir unter Kulturkritik verstehen wollen. Es fehlt gewiss nicht an Versuchen, den Traditionsbegriff der „Kulturkritik“ philosophiegeschichtlich (Bollenbeck 2007) oder zeitgeschichtlich (Konersmann 2008) näher zu bestimmen. Allerdings prallen Definitionsversuche am realen Gebrauch konnotativ hoch aufgeladener interdiskursiver Begriffe zumeist wirkungslos ab.1 Als jeweils epochenspezifischer „Reflexionsmodus der Moderne“ (Bollenbeck 2007) weist jede nicht am Detail, sondern am „Ganzen“ angreifende kritische Epochenreflexion auf das herrschende Selbstverständnis der Epoche zurück. Kulturkritik ist in der Regel ein radikales und minoritäres Element der kritisierten Kultur selbst – und gibt damit als Indikator auch Aufschluss über die Kultur, die sie als Faktor zu verändern sucht. Seit der Aufklärungsepoche lebt sie diskursiv von dem Risiko, das mit jeder radikalen Infragestellung des kulturell etablierten und weitestgehend fraglosen Entwicklungspfades der Gesellschaft verbunden ist. Dieses Risiko macht den Kulturkritiker öffentlich entweder zum radikalen
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Unter „Begriff“ verstehen wir hier nicht, was Philosophie und Logik (oder Psychologie) darunter gewöhnlich verstehen, sondern eben die semantisch-kommunikativen Komplexe, die als „Indikatoren und Faktoren“ (Koselleck) gesellschaftlicher Selbstdeutungsprozesse fungieren.
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Aufklärer oder zum radikalen Reaktionär. Oft auch zu einer Figur, bei der man eben kaum entscheiden kann, auf welche Seite sie fällt. Augenblicklich dominiert die konnotative Verflechtung des Ausdrucks „Kulturkritik“ mit Adorno und Horkheimer, mit der Frankfurter Schule und ihrer Kritik an der „Kulturindustrie“, mit dem umfassenden Manipulationsverdacht gegen Werbung und Massenkultur. Mit diesem Komplex ist der Ausdruck assoziiert. Kulturkritik strömt – ebenso wie dieser ganze Komplex – den muffigen Geruch des Überständigen, Unangemessenen, Veralteten aus. Kulturkritik in diesem Sinne ist alles andere als „schick“. Wer den Ausdruck „retten“ oder ihn öffentlichkeitswirksam umdefinieren möchte, der muss sich zuallererst gegen den Verdacht absetzen, er halte es mit einer elitären philosophischen Hochkultur à la Horkheimer und Adorno. Texte, die den Ausdruck thematisieren, beginnen unweigerlich (und beinahe rituell) mit der Versicherung, mit der Kulturkritik der Frankfurter Schule habe man definitiv nichts (mehr) im Sinn. Stattdessen dominiert ein demonstrativ ernüchterter (und kognitionswissenschaftlich geadelter) Sinn von Kulturkritik, den man an einem systemsoziologischen Definitionsversuch (Baecker 2006) erörtern kann. Da gilt dann die Kulturkritik als entweder folgenlos und uninteressant – oder aber als Bestandteil einer kognitiven Universaldisziplin, die sich mit dem Verhältnis ganz unterschiedlicher Modalitäten der Wissensreproduktion befasst: „Wenn die Kognitionswissenschaften so etwas sind wie die allgemeinen Wissenschaften von den intelligenten Erkenntnisleistungen der Natur, des Geistes und der Gesellschaft, dann wird die Kulturkritik entweder uninteressant, weil sie zur Erkenntnis nichts beiträgt, oder sie wird daraufhin zu befragen sein, ob und wie sie zu welcher Art von Erkenntnis etwas beiträgt. Die Frage nach intelligenten Erkenntnisleistungen ist dabei ganz konkret gemeint: Wie und von wem wird in Natur, Geist und Gesellschaft derart unterschieden, dass es dem Leben, dem Bewusstsein und der Kommunikation gelingt, sich zu reproduzieren?“ (Baecker 2006)
Im semantischen Parallelismus von „Natur, Geist, Gesellschaft“ und „Leben, Bewusstsein, Kommunikation“ steckt natürlich die Luhmannsche Systemarchitektur: Im Modus von Natur, Biologie, Evolution wird „Leben“ reproduziert, im Modus des Bewusstseins „Geist“ und im Modus der Kommunikation „Gesellschaft“. Dennoch zielen Theoretisierungsversuche wie der von Dirk Baecker auf die tatsächliche Praxis einer im weiten Sinne evolutionistischen Kulturkritik, die neu zu thematisieren versucht, wie Reproduktionssysteme ganz unterschiedlicher „Natur“ in Handlungen, Institutionen und Wissensordnungen entweder zusammenwirken oder einander im Weg stehen.
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Als philosophische ist die Kulturkritik mit dem radikalen Ansehensverlust von Bildungswissen also öffentlich weitgehend verschwunden bzw. wirkungslos geworden, aber massenkulturell transformiert lebt sie fort im Umkreis derjenigen Motive, die man semantisch im weitesten Sinne als „ökologisch“ bezeichnen könnte. Solange sich eine meinungsbildende Schicht des deutschen Bürgertums über Kunst und Ästhetik definieren konnte, war die herrschende Ästhetik ein zentraler Angriffspunkt für Kulturkritik. Kunst konnte als Symptom für den (kranken) Zustand der gesellschaftlichen Kultur gelten. Dieser Zusammenhang besteht in einer hegemonialen Massenkultur nicht mehr. Insofern ist es mehr als nur bezeichnend, dass der Evolutionismus auch das öffentliche Terrain der ästhetischen Debatten weitgehend erobert hat (vgl. hierzu den Beitrag zur Ästhetik des Neoevolutionismus). Machtvolle kulturelle Enthierarchisierungsprozesse haben zwischenzeitlich dazu geführt, dass sich minoritäre und subventionsaktive Bildungs- und Museumskulturen, die zwei Jahrhunderte lang hegemonial waren, eher gegenüber dem (werbemäßig viel interessanteren!) Fußball legitimieren müssen als umgekehrt. Das konzentriert die Kulturkritik auf die massenhaften Lebensgewohnheiten und genauer auf die Sphären des (alltäglichen und herausgehobenen) Prestigekonsums, auf Naturverbrauch, auf die „Grenzen des Wachstums“, auf die Maßlosigkeit der Besserungserwartungen, auf den nicht verallgemeinerbaren Naturverbrauch der kapitalistischen Metropolen. Neu ist dabei: Die Kritik richtet sich nicht gegen den Luxuskonsum herrschender Oberschichten, sondern gegen die ruinösen Lebensgewohnheiten der breiten mittelständischen Massen. Die werden politisch von rechts als Anspruchsexplosion und von links als „imperiale Lebensweise“ kritisiert. Beinahe zwangsläufig rückt dabei der traditionsreiche Motivkomplex erneut ins Zentrum, der jedwede Kultur zuerst als eine organisierte Form des gesellschaftlichen Naturverhältnisses in den Blick nimmt. Die sozialen Verhältnisse zwischen den vergesellschaftlichten Individuen treten zurück gegen die Verhältnisse des Kollektivs gegenüber der angeeigneten Natur. Ganz zwangsläufig wird dabei die kritisierte Kultur pauschal konzeptualisiert als Antagonist vermeintlicher Eigeninteressen der „Natur“, der sie gegenübersteht. Aber „natürlich“ hat die Natur keinerlei eigenes Interesse, sie ist ja als evolutionäre Natur nichts anderes als ein Ensemble von komplementären Techniken, die wechselnden Umstände dadurch zu schlagen, dass man hinreichend viel Variation zur Verfügung hält, um angesichts wechselnder Selektionskriterien nicht auf der Strecke zu bleiben. Was dabei kulturkritisch in den Blick gerät, das sind vor allem die kulturimmanenten Grenzen der Lernfähigkeit, die sich daraus ergeben, dass die hedonistischen Konsumkulturen des Westens „erfolgreich“ auf den grenzenlosen Egoismus der Individuen bauen. Diese konsumistische Expansionslogik kann man wahlweise in der
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kapitalistischen Kultur oder in der menschlichen Natur verankern, woraus aber praktisch nichts folgt, weil ihre Nichtgeneralisierbarkeit in beiden Fällen gleichermaßen zwingend und evident erscheint. Je nach Blickwinkel erfordert der Bruch mit dieser Logik entweder die Abschaffung der kapitalistischen Konsumkultur (mit ihrem eingebauten Verschleiß und dem unendlich steigerbaren Prestigekonsum) oder aber die Überwendung der egoistischen „Menschennatur“. In dem so umrissenen Diskursfeld kann es nicht ausbleiben, dass es zu zahllosen Grenzverwischungen und Respezifizierungsversuchen zwischen alt bewährten semantischen Oppositionen kommt, die unter den neuen Bedingungen nicht mehr recht zu funktionieren scheinen: Weder lassen sich „Natur“ und „Kultur“, noch lassen sich „Mensch“ und „Tier“ weiterhin so gegenüberstellen, wie es der älteren interdiskursiven Praxis entspricht (vgl. hierzu die Beiträge zum neoevolutionistischen Kulturbegriff und zum Komplex Mensch/Tier). Während die materialistische (in Tenor und Duktus ebenfalls evolutionistische) Anthropologie den Energieverbrauch pro Kopf als komparatives Fortschritts- und Entwicklungsmaß für Kulturen und Gesellschaften benutzte, würde eben dieser Index heute wohl eher die (gleichfalls nach oben offene) Unbelehrbarkeit von Kulturen in puncto Natur- und Ressourcenverbrauch messen (vgl. hierzu den Beitrag zum Wandel des Fortschrittskonzepts). Und das Mantra vom „Wachstum“, das heute natürlich „grün“ oder „nachhaltig“ zu sein hat, klingt mittlerweile so schal, dass der Bundestag eine Enquetekommission mit der Bestandaufnahme der diesbezüglich konsensfähigen diskursiven Ressourcen beauftragt hat (vgl. hierzu den Beitrag zur Wachstumskritik).
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S TREIFZÜGE
DURCH DAS B IOTOP DES RENATURALISIERTEN M ENSCHEN
Evolution ist überall. Unter diesem Titel veröffentlicht Axel Meyer (Biologe und Nachfolger Hubert Markls an der Universität Konstanz) eine Reihe von zuvor im Handelsblatt erschienenen Kolumnen in Buchform (Meyer 2008). Der Leser findet eine lose Folge von glossenartigen Kurztexten, versammelt unter dem Motto: „Man kann das Wirken der Evolution überall entdecken, wenn man nur gelernt hat die Welt so zu sehen und zu interpretieren“ (Meyer 2008: XIII). Unter dem Titel Richtig schenken macht fit finden wir launige Beobachtungen darüber, dass wir umso lieber und umso mehr schenken, je näher wir genetisch mit dem oder der Beschenkten verwandt sind. Das ist – natürlich – Funktion und zugleich Illustration der kin selection, des neoevolutionistischen Axioms, das besagt, dass wir gegenüber unseren Verwandten umso freigiebiger und altruistischer sind, je mehr
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genetische Bestände wir mit ihnen teilen – weil wir damit den Erfolg unserer eigenen Gene fördern. Wir finden das plausibel, weil wir an Weihnachten gewiss mehr Geld für unsere Kinder ausgeben als für unsere Nachbarn oder Kollegen. Klar, die Kinder sind ja unser eigen Fleisch und Blut. Dass manche Zeitgenossen/innen auch (genetisch gänzlich unverwandte) Geliebte oder auch (genetisch völlig unfassbare!) Institutionen reich beschenken, blenden wir gerne aus. Jede Alltagstheorie, jedes pseudonatürliche Deutungsmuster lebt ja davon, dass es aus dem verworrenen Gefüge von Assoziationen und Konnotationen einige hervorhebt und andere in den Hintergrund rückt. Und wer wollte bestreiten, dass wir uns im Zweifel gegen Blutsverwandte stärker verpflichtet fühlen als gegen beliebige andere? Bloß: Warum das so ist, ist eine ganz andere Frage. Und die Leser des Handelsblatts dürften darüber hinaus in ihrer tagtäglichen Geschäftspraxis die Erfahrung machen, dass die geschäftliche Bevorzugung von Blutsverwandten in der Rechtspraxis allgemein als Korruption gilt. Wäre das wohl ein Beleg dafür, dass rechtlich eingehegte Märkte „naturwidrig“ organisiert sind? Solche Fragen müsste sich ein Leser des Handelsblatts stellen, wenn wir bei der Rezeption evolutionistischer Deutungsmuster auf „Rationalität“ bauen könnten – was immer das sein mag. Das können wir aber offensichtlich nicht. Schon der nächstfolgende Beitrag, er heißt Festtagsgrüße aus Nicaragua, belehrt uns darüber, dass man in diesem mittelamerikanischen Land arm, aber glücklich sei und bei weitem nicht so zum Maulen aufgelegt wie hierzulande. Ob das freilich auf das Walten biologischer Evolutionsgesetze zurückzuführen ist, muss doch bezweifelt werden. Eine weitere Glosse trägt den Titel: Praktische Philosophie? No, thanks! Der genreübliche Spott der Biologen über die akademische Philosophie (wahrhaftig ein wohlfeiles Vergnügen!) wird immerhin rhetorisch hübsch eingekleidet in die Spitze, Philosophie sei für die Naturwissenschaftler ungefähr so nützlich wie Ornithologie für die Vögel (Meyer 2008: 11). Kurz darauf heißt es: „Auch Sprachen evolvieren“. Der stärkere, schnellere, bessere, effizientere Ausdruck setzt sich durch, auch in der Sprache. Das ist schlechthin unbezweifelbar, weil stärker, besser, schneller sein und sich durchsetzen in diesem Zusammenhang praktisch Synonyme sind. Was noch da ist, ist eo ipso „fitter“ als das, was nicht mehr da ist. Es ist also gar nichts gesagt, eine bloße Tautologie – aber die wird geadelt durch das herrschende Deutungsmuster der Evolution. Diese Reihe von suggestiven Beispielen ließe sich beliebig verlängern. Allein der Umstand, dass eine reintönige Wirtschaftszeitung wie das Handelsblatt sich bemüßigt fühlt, einem angesehenen Biologen eine regelmäßig Kolumne über Evolutionsfragen (die natürlich de facto stets ökonomisch relevante politische Fragen sind oder konnotieren – was für ein Standortvorteil wäre eine arme, aber glückliche Bevölkerung!) anzutragen, nährt den Verdacht, der so alt ist wie Darwins
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Werk: dass nämlich die angenommene Naturordnung mit ihrem hoch individualisierten Überlebenskampf aller gegen alle nichts anderes sei als eine Projektion kapitalistischer Marktmachtverhältnisse auf die gesamte belebte Natur. In jedem Falle wird der gemeine Rezipient medialer Kommunikationen geflutet mit rapide expandierenden evolutionistischen Deutungsansprüchen. Im Gegenzug erscheint die bürgerliche Gesellschaft dann zwar als „geistiges Tierreich“, aber eben auch als eine naturgemäße Ordnung der Dinge. Die Frage, warum Kulturen reüssieren oder untergehen, wird (wen überrascht das noch?) publikumswirksam von einem Evolutionsbiologen beantwortet, der zugleich Spezialist für die Vogelwelt Neuguineas und für die menschliche Gallenblase ist (Diamond 2005). Entwürfe zu einer Ästhetik, deren Rezensionen den Weg in ein anspruchsvolles Feuilleton finden, stammen heute ganz überwiegend entweder von Evolutionsbiologen oder von evolutionsbiologisch bekehrten oder belehrten Geisteswissenschaftlern (Reichholf 2011a, Menninghaus 2011). Medientaugliche Populärphilosophen von Sloterdijk bis Precht stützen sich selbstverständlich auf evolutionistische Gedankengänge, und der populäre Wissenschaftsbetrieb in Fernsehen und Zeitung ist ebenso selbstverständlich evolutionistisch geprägt wie die bunte Vielfalt der wissenschaftlichen Publikumszeitschriften von Bild der Wissenschaft bis National Geographic. Das wäre kaum der Rede wert, wenn wir es lediglich mit einer (vielleicht ökologisch inspirierten) Welle der Naturbegeisterung zu tun hätten, die Themen aus der Tier- und Pflanzenwelt nach oben spült, die ja zu allen Zeiten ein großes Publikum haben. Bemerkenswert ist jedoch die kraftvolle und kaum gehemmte Ausbreitung evolutionistischer Denkmodelle in den Bereichen, die traditionell der kulturellen Selbstdeutung vorbehalten sind und ergo bislang von popularisierten Deutungsmustern aus den Kulturund Sozialwissenschaften bespielt wurden. Das herrschende Muster ist denkbar einfach: Man nehme ein beliebiges Verhalten und suche nach dessen gegenwärtigem oder vergangenem adaptiven Wert für die Ausbreitung der Gene des Trägers. Dabei steckt die conclusio, wonach es jedenfalls nicht soziale, institutionelle, kulturelle Ordnungen sind, die das Verhalten des Einzelnen prägen, bereits in der Prämisse. Etwas Flexibilität gewinnt das Muster dadurch, dass es den Anpassungskontext evolutionär verzeitlicht: „Wir“ haben unsere Einstellungen, Verhaltensweisen, Tendenzen etc. evolutionär erworben für das steinzeitliche Hordendasein von Jägern und Sammlern, und ergo ist einiges davon heute dysfunktional, jedenfalls nicht adaptiv.2 In dieser Nische gedeiht ein kulturkritisches Potential mit Bezug auf die Gegenwart (Diamond 2012 fragt z.B. nach „erhaltenswerten“
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Auf das reproduktionsstarke Motiv vom tendenziell fehlangepassten „Steinzeitjäger im Spätkapitalismus“ kommen wir gleich noch einmal zurück.
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Beständen aus dieser evolutionär „früheren“ Anpassungsphase). In dieser Nische gedeihen aber auch reiche apologetische Ressourcen für die Naturalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen und Verhaltensweisen. In populären, nach dem Vorbild genetischer Reproduktion und Variation gestrickten Modellen „memetischer“ Reproduktion von Kultur und Gesellschaft wird der evolutionistische Denkmodus (Reproduktion – Variation – nichtzufällige Erhaltung und Selektion) auf symbolisches und sonstiges Verhalten übertragen. Aber auch die ganz schnörkellose Engführung von Ökonomie und Naturgeschichte, von Kapitalismus und Evolution ist kein Tabu, seit die moderne Evolutionslehre spieltheoretische Modelle aus der Ökonomie für ihre Zwecke nutzt, die nicht allein den Anschein von strikt mathematischer Rechenbarkeit in die (traditionell eher mathematikferne) Evolution importieren, sondern auch den Umstand unterstreichen, dass Marktund Evolutionsdynamik durch ein und dieselbe Brille betrachtet werden können. Man darf sich also nicht wundern, wenn man in einem populärphilosophisch-evolutionistischen Manifest den folgenden Motivmix-Satz findet: „Dass die ,unsichtbare Hand des Marktes‘ tatsächlich wirkmächtig ist, ist mittlerweile experimentalpsychologisch bestens belegt – ein Ergebnis, das niemanden verwundern sollte, denn im Kern ist das Marktprinzip kaum etwas anderes als eine Übertragung evolutionärer Regeln auf das Wirtschaftsverhalten des Menschen (man denke beispielsweise an die gegenseitige Hochrüstung von Räuber- und Beutetieren in der Natur).“ (Schmidt-Salomon 2006: 109)3
Mitglied des dubiosen Vereins, der die Broschüre verbreitet, aus der wir zitieren, ist fast die gesamte Soziobiologie-Elite des Landes: Volker Sommer, Eckard Voland, Franz Wuketits. Was hier mit philosophischem Ernst vorgetragen wird (und ganz überwiegend sogar im Kleide einer angeblich verfolgten Aufklärung, das der herrschenden Meinung besonders gut steht, weil es sie zum Opfer einer verblendeten Mehrheit umschminkt), das öffnet Tür und Tor für die zahlreichen evolutionspsychologischen Tier-Mensch-Engführungen, die auf den Wissens-Seiten der großen Zeitungen ganz offenkundig sehr populär sind. Wir zitieren lediglich drei Titel aus einer größeren Sammlung, die der Süddeutschen Zeitung entnommen sind und hinreichend Licht auf das Genre werfen: [a] „Auch Schimpansen sind depressiv“ – Psychiater Martin Brüne erläutert, wieso man die psychischen Störungen des Menschen im Lichte der Evolution betrachten sollte (SZ vom 21./22. April 2011).
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Hervorhebungen im Original.
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[b] Der Chef leidet besonders. Führungskräfte sind starken Belastungen ausgesetzt – bei Pavianen haben Alphamännchen die höchsten Stresswerte (SZ vom 15. Juli 2011). [c] Affen mit Charakter. Auch Tiere zeigen deutliche Unterschiede in ihrer Persönlichkeit – wer sich von der Masse abhebt, ist im Vorteil (SZ vom 20. Mai 2010).4 Die kulturelle Selbstvergewisserung über Stress, Depression oder Charakter nimmt gerne den Umweg über unsere nächsten Verwandten im Tierreich, mit denen wir schließlich ziemlich viele Gene teilen. Im Selbstdeutungsdiskurs unserer Gesellschaften hat der Evolutionismus entscheidende Kommandohöhen erobert und besetzt. Aus dem Blickwinkel der Evolution können „wir“ konzeptualisiert werden als ganz normale Spezies (die sich bloß einbildet, etwas Besseres zu sein), als hoch destruktive (und für das künftige Gedeihen des – ökologischen – „Ganzen“ brandgefährliche) „Irrläufer“, als durch den überwältigenden Erfolg der eigenen Spezies überforderte „Zauberlehrlinge“ etc. Die breite und buntscheckige Kulisse der Evolution rahmt bereitwillig alle möglichen Auftritte für menschliche Verhaltensweisen, Institutionen, Kulturen, und selbst historische Großereignisse wie die Kolonialisierung der Welt durch europäische Nationen gewinnen, als „Verlängerung“ der Naturgeschichte betrachtet, eine völlig neue Dimension (von Crosby 1991 bis zu Jared Diamonds populären Synthesen). Selbstverständlich hat der Gebrauch biologischer und speziell zoologischer Bilder in den Gesellschaftswissenschaften (und in der Selbstdeutungssemantik) eine lange Tradition, die über den Leviathan des Thomas Hobbes weit hinaus reicht. Etwas ganz anderes sind jedoch disziplinäre claims und Erklärungsansprüche. Aus der (die Dinge natürlich arg vergröbernden) Vogelperspektive betrachtet waren menschliche Gesellschaften durchaus im Skopus der jungen Evolutionsbiologie im 19. Jahrhundert, anders gesagt: diese war von den Quellen und Wurzeln der Soziologie nicht deutlich zu unterscheiden. Dass Darwin und Spencer (und Malthus und Galton) in einem Atemzug genannt werden, liegt nicht nur daran, dass die Parole vom survival of the fittest von letzterem geprägt wurde. Die modernen Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, konfiguriert in den Jahrzehnten um 1900, haben das Terrain, das sie jetzt wieder an den Evolutionismus verlieren, eben diesem vor knapp einhundert Jahren abgejagt. Und wer sich der hitzigen Debatten erinnert, die in den 70er und 80er Jahren auf den von Wilson (1975) ganz
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Die Fairness gebietet den Zusatz, dass wenigstens [b] vom Autor (Werner Bartens) mit viel Ironie und Selbstdistanz präsentiert wird.
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direkt und schnörkellos vorgetragenen Anspruch der Biologie folgten, die Organisation menschlicher Gesellschaften zu erklären (Linke 2007), der vergisst leicht, dass die Naturforscher das Feld der menschlichen Gesellschaften weder kampflos noch jemals vollständig geräumt haben. Werber (2008: 16) erinnert daran, dass William Morton Wheeler, der große Insektenforscher (und, incidentally, Edward O. Wilsons Lehrer!), in den 20er Jahren die Biologisierung der anthropozentrischen Wissenschaften5 gefordert hat. Und für den hoch politischen Anarchisten und Naturforscher Peter Kropotkin (vgl. 1975) war es nahezu selbstverständlich, dass Tier- und Menschengesellschaften auch unter Evolutionsaspekten zu betrachten sind. So gesehen setzt der neue und populäre Evolutionismus nur da wieder auf, von wo ihn die Kultur- und Sozialwissenschaften als Leit- und Schlüsseldisziplinen der öffentlichen Selbstdeutung zeitweise vertrieben hatten. Dennoch ist die kanonische Geschichte zumindest unvollständig, wonach die zunächst heftig umkämpfte Soziobiologie sich erst im zweiten Anlauf durchgesetzt habe: nachdem nämlich der Neoliberalismus die Macht- und Meinungszentralen in den 90er Jahren erobert habe, nachdem die Molekularbiologie ihren Siegeszug in der Wissenschaftsszene angetreten habe und nachdem die Ökologie (im weitesten Sinne) in das Zentrum öffentlicher Selbstdeutung und Problemwahrnehmung gerückt sei. Dass der Siegeszug der Molekularbiologie und der Genetik durch ihre unabhängige Bestätigung der Abstammungsverhältnisse zur Revitalisierung des Evolutionismus beigetragen haben, ist kaum bestreitbar. Aber radikal verändert haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auch die esoterischen und exoterischen Denkkollektive (Fleck 1935, 2011), von denen der Evolutionismus getragen und verbreitet wird.
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D ENKSTIL UND D ENKKOLLEKTIV , T RANSPOSITION UND AUSBREITUNG
Charakteristisch für den öffentlichen Auftritt des Neoevolutionismus ist die programmatische Engführung von genegoistischer „Biologie“ und (gerne auch: verfolgter, s.o.) „Aufklärung“. Zu den viel genutzten „aufklärerischen“ Repertoireelementen gehört ergo die hierzulande natürlich wohlfeile Religionskritik (Dawkins 2006, aber ganz ebenso alle populären Soziobiologen), die die massenweise umher liegenden Motive (vom islamischen Terroristen bis zum sexuell verklemmten Kinderschänder) bloß aufzugreifen braucht, um auf allgemeines Kopfnicken rechnen zu können. Was sich nicht auf dem Stand der illusionslosen
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Worunter er wohl die Wissenschaften vom Menschen verstanden wissen wollte.
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neoevolutionistischen (Selbst-)Erkenntnis bewegt, das qualifiziert sich leicht als gefährlicher Mythos. Das „ideale“ Denkkollektiv, das in der populären neoevolutionistischen Kommunikation ebenso vorausgesetzt wie erzeugt und adressiert wird, besteht aus modernen, nüchternen und „wissenschaftlich“ denkenden Individuen, die mit all den fundamentalen und existenziellen „Kränkungen“ (Freud) leben können, die uns von den neuzeitlichen Wissenschaften zugefügt worden sind und werden. Vermutlich darum, weil sie eben stark und aufgeklärt genug sind! Sie wissen, dass wir „im Grunde“ nicht nur anatomisch und physiologisch, sondern auch in unserem Verhalten Teil des Tierreichs sind, dass der Genegoismus unsere einzige verlässliche Triebfeder bildet, dass wir ökologisch nicht weniger, sondern weit mehr verletzlich sind als andere Arten, dass es keinen automatischen Fortschritt gibt und dass der „freie Wille“ angesichts der in uns wirksamen Evolutionskräfte eine üble neuronale Illusion ist. Der Neoevolutionismus bietet denen eine wärmende weltanschauliche Heimat, einen Sinngenerator, die sich schmeicheln, ganz ohne kollektive Mythen und Ideologie auskommen zu können. Und das ist in den durchsäkularisierten und konsumhedonistischen Gesellschaften des Westens jedenfalls die Mehrheit. Der Neoevolutionismus findet einen passenden Resonanzboden just in den Verhältnissen, die kulturkritische Sozialwissenschaftler (wie Kondylis 1991) als „massendemokratische Postmoderne“ bezeichnen. Gekennzeichnet ist dieser Gesellschaftstyp durch die Abkehr von einem anthropozentrischen Vernunft- und Fortschrittsprogramm, durch demonstrative Überwindung des Mangels und hedonistischen Prestigekonsum als Sinnersatz.6 Paradox ist natürlich, dass der demonstrative Abschied vom Anthropozentrismus, der mit dem populären evolutionistischen Programm verbunden ist, nur unter wirklichen Voraussetzungen gedeiht, in denen fast die gesamte nichtmenschliche Natur unwiderruflich in die menschlichen Handlungskreise eingebaut ist, in denen (anders gesagt) der diskursiv negierte Anthropozentrismus in der globalen Praxis restfrei durchgesetzt ist. 7 Dass der Anthropozentrismus böse und ungerechtfertigt ist, wird also just in dem Moment „entdeckt“, wo er flächendeckend Realität geworden ist. So seltsam das auch klingen mag: der Neoevolutionismus artikuliert so etwas wie unser schlechtes Gewissen
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Natürlich heißt „Überwindung des Mangels“ nicht, dass es keinen Mangel gibt. Bekanntlich dominieren die Glitzerfassaden des Prestigekonsums auch da, wo die Mehrheit (nunmehr indifferent) vom Massenkonsum ausgeschlossen ist.
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Neulich war in den Zeitungen zu lesen (SZ vom 14. Januar 2013), dass 95% der auf dem Planeten lebenden Säugetiere der menschlichen Nahrungsproduktion dienen. Da wird jede Rede von „Natur“ bereits zu einer Mystifikation.
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angesichts dieser Sachlage. Wir „identifizieren“ uns mit der unterworfenen nichtmenschlichen Natur, weil die Grenzen der Unterwerfung erreicht oder doch in Sicht sind. Das vermittlungslose Nebeneinander von brutalisierter Ausbeutung und sentimental überhöhter Vermenschlichung (etwa im Verhältnis zu Tieren) wird durch ein evolutionistisches Weltbild kompensatorisch gedämpft: Wir sind eben auch nur Tiere und verhalten uns manchmal nett und manchmal brutal. Das sind, grob und holzschnittartig, die Umrisse der Konstellation, in denen sich der moderne Neoevolutionismus weit über die Grenzen einer esoterischen Fachgemeinschaft der Biologen hinaus ausgebreitet hat. Im Denkkollektiv, das den Neoevolutionismus trägt und stützt, mögen zwar ausgebildete Biologen die zentralen Positionen besetzen, aber um den Preis, dass ihre Diskursmacht gar nicht (oder nicht in der Hauptsache) auf ihrer fachlichen Binnenreputation als Biologen beruht, sondern auf dem Umstand, dass sie in exoterisch adressierten Kommunikationen eine große inter- und außerfachliche Gemeinde um sich scharen können.8 Das Wechselverhältnis zwischen esoterischer und exoterischer Kommunikation 9 entspricht also nicht der wissenschaftlichen „Normalität“. Die Rollen- und Arbeitsteilung zwischen dem inneren und dem äußeren Kollektiv erscheinen merkwürdig verdreht im modernen Evolutionismus. In den populären, aber wirkmächtigen Werken von Ernst Mayr war es durchaus noch die biologische Forschungsgemeinschaft, die das (axiomatische und methodologische) Heft in der Hand hatte. Hernach wurden axiomatische Positionen und Methodologien (Genegoismus, Ablehnung der Gruppenselektion, Spieltheorie) exoterisch durchgesetzt, bevor sie auch im esoterischen Kollektiv reüssierten.10 Man darf zumindest bezweifeln, ob sich der spieltheoretisch fundierte Genegoismus (Hamilton, Trivers, Maynard Smith), der in den 50er und 60er Jahren eine marginale Minderheitsposition in der Evolutionsbiologie war, ohne die wahrhaft umwerfende exoterische Resonanz von Wilson (1975) und Dawkins (1976) auch im inner circle des Evolutionismus
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Umso interessanter wird natürlich die sprachliche Inszenierung. Edward O. Wilson bleibt auch in seinen exoterischen Werken der Ameisenforscher, Jared Diamond vergisst selten den Hinweis darauf, dass er Experte ist für die Chemie der Gallenblase und für die Vogelwelt Neuguineas. Richard Dawkins, der ja „Public Understanding of Science“ lehrte, ist stets auf der Suche nach einem esoterischen Kollektiv und bekommt regelmäßig in öffentlichen Debatten vorgehalten, dass er ja kein „wirklicher“ biologischer Forscher sei.
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Die Begriffe „esoterisch“, „exoterisch“, „Denkstil“, „Denkkollektiv“ verweisen auf die Arbeiten Ludwik Flecks, des Pioniers der Wissenschaftssoziologie (vgl. Literaturverzeichnis).
10 Die Klimaforschung zeigt in diesen Tagen ähnliche Dynamiken.
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durchgesetzt hätte. Insider berichten, dass die führenden Journale (z.B. Nature) Texte nicht veröffentlicht haben, wenn sie positive Bezugnahme auf Befürworter der Gruppenselektion enthielten, was natürlich die esoterische Dynamik fachlicher Karrieren, für die allein der impact von Veröffentlichungen zählt, stringent kanalisiert und ausrichtet. Es wäre naiv und unverantwortlich, wollte man im 21. Jahrhundert die Fiktion aufrechterhalten, dass die Richtung einer wissenschaftlichen Entwicklung allein von internen fachlichen Faktoren abhängt. Und wer die wissenschaftsethnographisch höchst lehrreichen Tumulte im Vorfeld der „revisionistischen“11 Veröffentlichung von Wilson (2012) verfolgt hat, der wird diesbezüglich nie wieder unschuldig sein können. Der von 140 angesehenen Evolutionsbiologen öffentlich entfachte shit storm hätte jeden jungen und namenlosen Wissenschaftler einfach von der Platte geputzt. Nur der kampferprobte, weltbekannte und weit über achtzigjährige Häuptling der Ameisenforschung konnte diesen Angriff nicht bloß überstehen, sondern ihn sogar souverän als PR nutzen. Und was hatten sie zu sagen, die 140 angesehenen Evolutionsbiologen? Nun, sie sagten, Nature hätte diesen Text niemals veröffentlicht, wenn er nicht den Namen von Edward O. Wilson getragen hätte. Das ist vermutlich sogar die Wahrheit, und die ist ethnographisch darin ungemein lehrreich, dass sie demonstriert, wie sich ein medienöffentlich herrschendes Paradigma bis hinein in die interne Fachkommunikation der assoziierten Experten gegen „abweichende“ Positionen mit allen Machtmitteln absichert und abschottet. Der Modus wirkt nicht gerade „wissenschaftlich“, wo doch jeder Versuch der Widerlegung herrschender Ansichten eigentlich höchstes Ansehen genießen sollte, aber es ist allen Experten für Machtkommunikation bestens vertraut, dass man sich auch in den Wissenschaften gerne per Gruppensolidarität gegen Häretiker schützt. Und von Bruno Latours Wissenschaftsforschung ist zwischenzeitlich so viel in die Öffentlichkeit durchgesickert, dass man jedenfalls wissen kann, wie wichtig die öffentliche Repräsentation einer Disziplin für deren Gedeihen ist – nicht allein für das Einwerben von Ressourcen, sondern auch für das in alle Poren der Gesellschaft eindringende Vorverständnis über Themen und Probleme, die es wert sind, beforscht zu werden (Latour 2000: 126ff). Lehrreich ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der Hirnforschung, die in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls starke Tendenzen entwickelt hat, sich als Leit- und Schlüsseldisziplin für alles und jeden zu etablieren – „zwischen Labor und Talkshow“ gewissermaßen, um den Titel von Heinemann (2012) zu zitieren. Für diesen Anspruch ist der öffentliche
11 „Revisionistisch“ heißt im Feld des Neoevolutionismus: den Modellgedanken der Gruppenselektion (gegen die strikt individualistischen Prinzipien der Genselektion) wiederzubeleben.
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Eindruck zentral, man habe es bei der jeweiligen Disziplin mit einem widerspruchsfreien Denkkollektiv zu tun, das über ein neues, bislang exklusives Wissen verfügt. Charakteristisch dafür ist der medienöffentliche (interdiskursive) Auftritt im Kollektivsingular: die Hirnforschung oder die Evolutionslehre hat gezeigt, dass …. Das sieht dann aus wie eine echte autoritative Instanz. Der Disput um Wilson (2012) ist just darum so lehrreich, weil er vorführt, dass jedes intern-esoterische Zerwürfnis, das die breitere Öffentlichkeit erreicht, den Anspruch auf Schlüsselattitüde untergräbt. Ein (fachliches) Kollektiv, das in sich zerstritten ist, kann nicht den exoterischen Anspruch auf verbindliche Deutung von allem und jedem erheben. Während Uneinigkeit zur selbstverständlichen Normalität eines jeden esoterischen wissenschaftlichen Denkkollektivs gehört, müssen die Propagandisten der Schlüsselattitüde medienöffentlich den Anschein erwecken, dass man sich jedenfalls axiomatisch und methodologisch vollkommen einig sei.
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N EUE W IR -E RZÄHLUNG , BRÜCHIGE I DENTITÄT ; ZWISCHEN IMAGINED COMMUNITY UND GATED COMMUNITY
Zwischen dem Grotesken und dem Erhabenen spielt die neoevolutionistische Kulturkritik, wo es um die diskursive Etablierung eines neuen und umfassenden WirSubjekts geht, das angesichts der höchst realen Bedrohungen möglichst kompakt und handlungsfähig sein sollte. Natürlich unterstreicht es „unsere“ Zugehörigkeit zur Natur, wenn man seine Kollegen als „liebe Mitprimaten“ anspricht12 und die großen Menschenaffen demonstrativ zur Familie zählt. Konjunktur haben auch esoterische, naturmystische Vorstellungen, wonach die gesamte Natur als ein einziges komplexes Lebewesen zu verstehen sei (Gaia-Hypothese) und jede Spezies Verantwortung für das Ganze zu übernehmen habe. Legion sind auch die (strategischen und akzidentellen) Grenzverwischungen zwischen Tier und Mensch, die in diesem Zusammenhang unterlaufen (vgl. hierzu den Beitrag zum Komplex Mensch/Tier). Rhetorisch dient all das zunächst der inflationären Aufblähung des alten menschheitlichen „Wir“, das auf der Vorderbühne das menschliche Subjekt dem Naturobjekt gegenüberstellt, und auf der Hinterbühne in der Hauptsache den modernen globalen Industrie- und Finanzkapitalismus meint. Indessen ist das Wir der neoevolutionären Kulturkritik deutlich vielschichtiger. Die evolutionistische Renaturalisierung des Menschen steht vor dem paradoxen Zwang, die Menschen
12 Wie von einem populären Primatenforscher berichtet wird.
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zugleich als eine „ganz normale Spezies“ und doch auch als zuständig für das Ganze zu modellieren. Zum einen und zuerst ist es das (einladende) Wir der aufgeklärten Naturforscher weltweit, das Einigkeit gegen allen ideologischen und vor allem kollektiven (religiösen etc.) Obskurantismus einfordert. Seit der Soziobiologie-Offensive von 1975 ist es besonders Edward O. Wilson, der diesem Wir das kräftige Aroma des Wissenschaftskriegs beimischt, indem er auch die Geistes- und Sozialwissenschaften dem obskurantistischen Lager der Gegenaufklärung zuordnet. In Wilson (1998) wird einerseits der klassische Themenpark des Genres konfiguriert (Kultur, Kunst, Ethik/Moral, Religion), dann aber auch ein ziemlich maliziöses Bild der Sozialwissenschaft gezeichnet: Dort sei man durch „Stammesloyalitäten“ gebunden, nicht wirklich kommunikationsfähig, uneinig und ohne echten Nutzen für die Gesellschaft. Das (gar nicht weiter kommentierungsbedürftige) Wissenschaftsverständnis Wilsons demonstriert das folgende Zitat: „Die sozialwissenschaftliche Disziplin, die sich am besten zur Überbrückung des Grabens zu den Naturwissenschaften eignet, weil sie ihnen in Stil und Selbstvertrauen am ähnlichsten ist, ist die Ökonomie. Gewappnet mit mathematischen Modellen, alljährlich mit einem eigenen Nobelpreis bedacht und reichlich mit wirtschaftlicher und politischer Macht ausgestattet […].“ (Wilson 1998: 261)
Dieses Wissenschaftsverständnis darf man wohl pragmatisch und machtbewusst nennen, aber auch zynisch und naiv. Der appeal einer solchen wissenschaftskriegerischen Wirgruppenbildung hat jedoch im letzten Jahrzehnt nachgelassen. Inzwischen tritt eine andere Botschaft deutlicher in den Vordergrund (besonders in den Texten von Jared Diamond): eine allgemeine Verantwortung für das Wohlergehen der Natur und das Überleben der Gattung, das eben auch vom Überleben zahlloser anderer Gattungen abhängig ist. Ausgeschlossen von diesem Wir sind nur diejenigen, die unbelehrbar an „alten“ Verhaltensweisen und Deutungsmustern festhalten. Und (zumindest rhetorisch) geht es in Diamond (2005) auch gegen die gesellschaftlichen Eliten, die so reich und mächtig sind, dass sie sich und die Ihren gegen die allgemeinen Folgen der Naturzerstörung abschirmen können, in eigenen Parallelwelten und gated communities. Begriffs- und diskursgeschichtlich schreibt der Neoevolutionismus ein neues Kapitel im Buch der menschheitlich-universalistischen Programme. Nur geht es jetzt nicht mehr um hehre Utopien wie Aufklärung, Sozialismus, Fortschritt oder Zivilisation für alle, es geht um das nackte Überleben der biologischen Spezies. Ein solchermaßen defensiver Menschheitsuniversalismus ist tatsächlich neu und hat ganz eigene Paradoxien. Schon darum, weil der programmatische kollektive
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Idealismus, der zur Abwendung des Untergangs aufgebracht werden muss, mit dem diagnostizierten individuellen Egoismus nicht eben harmoniert. Erzählmuster, in denen die beiden Seiten zusammenstoßen, sind aus diesem Grund besonders aufschlussreich (vgl. hierzu den Beitrag zur Tragedy of the Commons). Und wenn es die Evolution ist, die den Menschen zum kurzfristig denkenden Artenvernichter und Ressourcenübernutzer gemacht hat, zu dem, was er ist und dann wohl auch bleiben muss, wie soll er sich dann selbst zu etwas ganz anderem machen? Das ist überhaupt nur dann denkbar, wenn die Menschen sich selbst von ihrer evolutionären „Natur“ emanzipieren können, was natürlich jeder Evolutionist bestreiten muss. Das Problem erhält dann Münchhausensche Züge. Wie will man einen rücksichtslosen individuellen Nutzenmaximierer dazu bekommen, dass er sein Handeln am Gemeinwohl der Gattung ausrichtet? Verhält sich nicht viel eher im Sinne der Evolution (kin selection, inclusive fitness), wer sich mit seinen Angehörigen gegen die ruinösen Folgen des eigenen Tuns abschirmt? Im esoterischen Evolutionsdiskurs ist es die prekäre Subjektrolle der „Population“, die hier (mutata nomine) zur Debatte steht. Kein Individuum irgendeiner Gattung kann sich langfristig gegen das Schicksal der Population abschirmen, zu der es gehört. Die kulturkritische Nutzanwendung der Evolutionstheorie treibt deren individualistische Axiomatik in die ultimative Aporie.
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D IE ( EIGENE ) N ATUR ALS AUFGABE UND B EDROHUNG
Im Lichte der neoevolutionistischen Kulturkritik sind „wir“ in der Hauptsache biologische Wesen, die sich einbilden, „mehr“ zu sein als das. Der evolutionäre Blick auf unsere komplexen und widersprüchlichen Erfahrungen zerlegt diese fein säuberlich in biologische „Tatsachen“, die mit unserer Evolution als Spezies gegeben sind, und kulturelle Artefakte, die, was ihren Anpassungswert betrifft, zweckmäßig sein können oder auch nicht. Latour (z.B. 2000: 340) spricht in diesem Zusammenhang gerne von der szientifischen Praxis, Erfahrungen in Fakten und Fetische aufzuspalten. Das ist die Konstellation, in der Biologen mit dem Pathos der Entmythologisierung und Entmystifizierung menschlicher Verhältnisse auftreten können, von dem Bayertz (1993: 16) schon vor 20 Jahren gesprochen hat. Vom biologischen Standpunkt sind Kulturen, Religionen, Glaubenssysteme etc. kollektive Konstruktionen, die im Einklang oder im Widerspruch mit dem stehen können, was die Evolution aus uns gemacht hat. Um was es sich jeweils handelt, entscheidet die Evolutionsbiologie, die es natürlich unterlässt, auch sich selbst unter die (mehr oder weniger) fiktiven Konstruktionen zu rechnen, die auf
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ihre Zweckmäßigkeit hin überprüft werden müssen. So konzediert man gerne, dass Religionen und Weltanschauungen selbstlose und opferbereite Wirgruppen erzeugen können (auch der Evolutionismus), die sowohl der ganzen Gruppe als auch ihren Angehörigen Vorteile bringen, szientifisch betrachtet handelt es sich aber um kollektive Wahnsysteme, die den Einzelnen verleiten, gegen sein eigenes Geninteresse zu handeln und Fremdgruppen ungehemmt zu vernichten. Die neoevolutionistische Praxis ist immer bilanzierend, sie schlägt einen Teil zur Natur, den andern zur Kultur. Den einen können wir nicht ändern, den anderen sehr wohl. Da aber jede Zuordnung menschlichen Verhaltens zur Natur- oder Kulturseite von vornherein prekär und strittig ist, haben die Autoren leichtes Spiel: Was sie ändern wollen, ist eben nicht kompatibel mit unserer inneren Natur oder mit unseren Naturverhältnissen. Heute zählen Ethnien, Menschenrassen etc. zu den kulturellen Fiktionen, den Fetischen im Sinne Latours, der letzten und vorletzten Generation der Evolutionisten waren sie Teil der Natur, Gegebenheiten, Fakten. Kulturen (so die von Jared Diamond in Kollaps reich entfaltete Axiomatik; Diamond 2005) bringen durch Institutionen, Gewohnheiten, Wertsysteme ihre Teilnehmer dazu, in bewährten und gewohnten Bahnen weiter zu denken, zu deuten und zu handeln, auch wenn ihr Überleben einen radikalen Wert- und Verhaltenswandel erfordern würde. Nur am Rande sei die ketzerische Bemerkung gestattet, dass die Fatalität der Naturevolution ebenso funktioniert: Arten und Gattungen sterben aus, wenn Umweltveränderungen ihre Anpassungsbereitschaft überfordern. Um Neues zu erzeugen braucht die Evolution viel mehr Zeit. Um das zentrale Deutungsmuster der neoevolutionistischen Kulturkritik zu verdeutlichen, zitieren wir eine der vielen Anschlusskommunikationen, in der es typisch implementiert ist: „Jared Diamond hat in seinem Buch Kollaps gezeigt, woran Gesellschaften wie die der Mayas, der grönländischen Wikinger oder der Osterinsulaner historisch gescheitert sind. Ein gemeinsames Merkmal solchen Scheiterns lag darin, dass man in dem Augenblick, wo sich die Einsicht durchsetzte, dass die Überlebensbedingungen prekär wurden, alle Strategien zu intensivieren begann, mit denen man bislang erfolgreich gewesen war. Wenn die Böden schlechter wurden, baute man intensiver an und beschleunigte die Erosion. Man schlug mehr Holz als nachwachsen konnte, um Boote für den Fischfang zu bauen. Man operierte im Modus der Erfahrung, aber die hilft nicht, wenn die Überlebensbedingungen sich verändert haben. Erfahrung wird dann zur Falle. Neue Überlebensbedingungen erfordern neue Überlebensstrategien.“ (Welzer 2013: 14)
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Als (sei es geheiligte oder profan eingelebte und mit Fortschrittserfahrung und -erwartung verbundene) Problemlösung13 wird jede Kultur zur Gefahr, wenn sich ihre Reproduktionsbedingungen ernsthaft und grundlegend verändern – vielfach als Folge des eigenen (und erfolgreichen) Tuns in der Vergangenheit. Krisenhafter Stress stärkt kulturell die Bindung an bewährte Strategien, obwohl gerade dann radikal andere Lösungen gefragt wären (Welzer 2013: 94). Das ist die schlichte und unbezweifelbare Nachricht. Performativ fordert sie uns auf, mit eingelebten und kulturell „geheiligten“ Gewohnheiten zu brechen, wenn sie ökologisch schädlich geworden sind. Denn natürlich geht es immer um „uns“, wenn von den Mayas, den Wikingern, den Osterinsulanern die Rede ist. Da es aber keinen grundlegenden Unterschied zwischen „ihnen“ und „uns“ gibt (kulturelle oder sonstige „Überlegenheit“ gibt es nur mit Bezug auf vordefinierte Probleme, nicht absolut – auch das eine der „Kränkungen“, die uns der Evolutionismus zumutet), befinden wir uns in der gleichen Lage wie die untergegangenen Kulturen. Was ehedem als Folge kultureller Überlegenheit galt (die Erfindung von Wissenschaft, Kapitalismus, Kolonialisierung, Welteroberung – durch die Europäer), wird evolutionistisch als Ergebnis natürlicher Startvorteile gedeutet. Crosby (1991), diesbezüglich Hauptgewährsmann für Diamond (2005), nennt die Vielzahl domestizierbarer Tier- und Nahrungspflanzenarten sowie die relativ homogenen und barrierefreien Ausbreitungsbedingungen für Neuerungen in Eurasien, das sich längs durch die gemäßigten Breiten zieht, ganz anders als Afrika oder der amerikanische Kontinent, die sich mit ihren barrierereichen Nord-Süd-Achsen auf zahllose biogeographische Zonen verteilen, so dass sich erfolgreiche Neuerungen nicht leicht ausbreiten können. So demonstriert die neoevolutionistische Kulturkritik, dass die biogeographischen Gegebenheiten, unter denen eine Kultur oder Gesellschaft antritt, einen höchst realen und wirkmächtigen limitierenden Faktor für ihre „Fitness“ bilden, dass sie Entwicklungspfade vorgeben. Und da „Geschichte“ in der neoevolutionistischen Schlüsselattitüde niemals „an sich“ interessiert, sondern immer nur als unmittelbare Lektion für unsere Gegenwart gesehen und gelernt werden möchte, liegt auch hier die Nutzanwendung auf der Hand: Die gegenwärtigen pfadprägenden biogeographischen Gegebenheiten sind eben keine natürlichen Vorgaben mehr, sondern selbst bereits das Ergebnis globaler menschlicher Naturaneignung. Die aufkommende Rede vom „Anthropozän“, dem erdgeschichtlichen Zeitalter, das durch die Folgen menschlichen Wirtschaftens geprägt ist (Klimawandel, Artensterben, Ressourcenübernutzung etc.), unterstreicht die Dringlichkeit dieser
13 Daher die paradoxen Folgen multipler Krisen und Denormalisierungen: Sie immobilisieren und lassen das Altbewährte in hellerem Licht erscheinen.
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Lektion. Was wir als „Natur“ wahrnehmen, ist entweder ein rapide schwindendes Residuum, um dessen „Erhaltung“ wir uns paradoxerweise bemühen, 14 oder aber ein längst durch strategische Aneignung „für uns“ (wer auch immer dieses „Wir“ sein mag) geprägtes Produkt. Auf Schritt und Tritt erinnert man die Szene aus dem Mann ohne Eigenschaften, in der Ulrich Diotimas romantische Frage: „Wer hat dich, du schöner Wald …?“ mit dem Hinweis auf ein forstwirtschaftliches Bankenkonsortium beantwortet. Die Motiv- und Zuschreibungsverwirrung, die mit einer solchen Optik einhergeht, ist beträchtlich. Wir zitieren aus einem typischen Zeitungsartikel15 einige Kernsätze: [a] „Von der Vorstellung, Zivilisation und Natur seien getrennte Systeme, die Natur sei ein Supermarkt, in dem nicht bezahlt wird, müssen wir uns verabschieden.“ [b] „Wir müssen uns als eine Spezies unter vielen verstehen. Affen unter Affen.“ [c] „Und wie vermeidet es der Mensch, wenn er sich nun mit den Folgen seines Tuns auseinandersetzt, denselben Herrschaftsinstinkten zu folgen, die ihn erst in die Krise geführt haben?“ [d] „Man kann die Welt mit einem Organismus vergleichen, in dem der Mensch wütet wie pathologische Zellen.“ Während Evolutionisten von Hause aus dazu neigen, die hemmungslos kurzfristige Ressourcenausbeutung zu naturalisieren (alle Arten nehmen, was sie kriegen, und die Ur- und Vorgeschichte des Menschen kennt die Ausrottung zahlloser Großsäuger und Großvögel), müssen sie den Kulturalisten hier zwangsläufig Zugeständnisse machen. Wenn wir von Natur nicht anders können, ist der ganze Feldzug sinnlos. So kann man sich auf die nötigen Verhaltensänderungen einigen, und der eine kodiert sie als Flexibilisierung einer lernunfähigen und zu starren Kultur, der andere als Überwindung der egoistischen Natur des Menschen. Die Zitate [a] bis [d] machen deutlich, dass es mächtig knirscht zwischen den Sprachbildern, in denen über die Lage gesprochen wird. Ist die Natur ein Supermarkt, in
14 Dabei kann es „stabile Gleichgewichte“ in der Natur nicht geben, wir Reichholf (2008) nicht müde wird zu wiederholen. Zielzustände können nur „wir“ definieren. 15 Jörg Häntzschel: „Wir haben die Erde von der Erde nur geborgt.“, SZ vom 14. Januar 2013.
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dem der Mensch wütet wie pathologische Zellen? Anstatt anständig zu bezahlen? Tun andere Spezies das auch? Und was sind das für Herrschaftsinstinkte? Das Narrativ, mit dem neoevolutionistische Akteure die aufgezeigte Kluft gerne überbrücken, kodiert uns als „Steinzeitjäger im Spätkapitalismus“ (s.o.), als gehandicapt durch den Umstand, dass unsere evolutionären Anpassungen, die uns fürs steinzeitliche Sammeln und Jagen in überschaubaren Horden prädestinieren, auf die moderne konsumistische Massenkultur nicht mehr passen (vgl. hierzu den Beitrag zum Kulturbegriff des Neoevolutionismus).16 Die narrativen Potentiale dieser Geschichte sind beträchtlich, auch verfügt sie über Anfangsplausibilität in unserer Alltagsumwelt. Wer mag schon glauben, dass uns die Evolution für shopping malls, Spielkonsolen und all-you-can-eat-Lokale vorbereitet hat? Allerdings sind auch die destruktiven und unbequemen Potentiale dieser Geschichte beträchtlich, belegt sie doch schlagend die Unabhängigkeit und Autonomie der kulturellen Dynamik gegenüber der trägen Evolution. Und hatte nicht Edward O. Wilson gesagt, alle Kulturen würden von den Genen an einer sehr kurzen Leine geführt? Und wäre es wohl ein denkbares Programm, künftige Kulturen mit unserer evolutionären Steinzeitnatur in Übereinstimmung zu bringen? Und wäre dann die Spanne zwischen Steinzeit und moderner Massenkultur nicht schlagender Beweis für die Marginalität dessen, was unsere Gene aus uns machen?
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D IE
MATHEMATISCHE S PIELTHEORIE ALS M ETHODE UND ALS REPRÄSENTATIVE A NEKDOTE
Zum szientifischen Denkstil der Gegenwart gehört zwingend die mathematische Darstellbarkeit und „Rechenbarkeit“ der theoretischen Modelle. So gesehen ist die mathematische Spieltheorie die semantisch Fähre, die es erlaubt, mühelos zwischen Ökonomie und Evolution hin und her zu wechseln, ohne die Denk- und Darstellungsweisen zu ändern. Was in der ökologischen Nische eine erfolgversprechende Anpassung ist, hängt ganz ebenso von den Strategien der Konkurrenten ab, wie erfolgreiches Verhalten in einem ökonomischen Markt vom Verhalten der anderen Marktteilnehmer. In den populären Evolutionismus hat Richard Dawkins das spieltheoretische Modelldenken eingeführt. Im Aggressionskapitel des Selfish Gene geht es um die Auseinandersetzung mit Konrad Lorenzʼ Theorie der Kommentkämpfe und der innerartlichen Tötungshemmung (deren Fehlen
16 Die Steinzeitjäger-These ist vereinbar mit Konrad Lorenzʼ kultureller „Verhausschweinung“ des Menschen.
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bzw. Schwächung und Ausschaltung durch Distanztötungsmittel in der Lorenzschen Kulturkritik zu den menschlichen Selbstgefährdungen zählt). Dawkins rückt diesem gruppenselektionistischen Modell zu Leibe, indem er mit den Mitteln der Spieltheorie (und angelehnt an John Maynard Smith) das Konzept der evolutionär stabilen Strategie (ESS) einführt. Prima facie müsste eine Population genegoistischer Konkurrenten danach trachten, andere Individuen auszuschalten. Wäre aber jede Begegnung zwischen Individuen ein Kampf auf Leben und Tod, würde sich die Population selbst vernichten. „Kampf um jeden Preis“ ist also keine evolutionär stabile Strategie. Ebenso wenig stabil ist allerdings die „Tauben“-Strategie „Kampfvermeidung um jeden Preis“, weil sie zwar friedliches Zusammenleben garantiert, aber von jedem (tatsächlich kämpfenden) „Falken“ leicht unterwandert werden kann. Der würde nämlich (als einziger „Falke“ in der Population) jeden Kampf gewinnen und sich auf Kosten der „Tauben“ so lange in der Population ausbreiten, bis die Wahrscheinlich wächst, dass er auch selbst immer häufiger auf andere „Falken“ trifft, die ebenfalls kämpfen, anstatt sich zurückzuziehen. Mit deren Ausbreitung in der Population würde der pay-off des Falken sinken etc. Je nachdem, wie man Vor- und Nachteile des Kämpfens und der Kampfvermeidung in der spieltheoretischen Matrix nummeralisiert, entsteht also eine Art Gleichgewicht, wenn entweder ein bestimmtes Verhältnis zwischen „Falken“ und „Tauben“ in der Population eingependelt ist oder wenn sich die individuellen Strategien so konditionalisiert haben, dass sie „reinem“ Falken- oder Taubenverhalten überlegen sind. Konditionale Strategien sind etwa: „Kämpfe auf eigenem Territorium und fliehe auf fremdem“, „kämpfe, wenn du größer bist als der Gegner“, „kämpfe nur dann, wenn der Gegner dich angreift“ etc. Eine Vielzahl axiomatischer Streitigkeiten im Neoevolutionismus kann so auf dem Terrain der mathematischen Spieltheorie (gewissermaßen nach den Regeln mathematischer Kommentkämpfe) ausgetragen werden. Es dreht sich dann um Fragen des Typs, ob und wann Kooperation auch für die „Vehikel“ egoistischer Gene eine dauerhafte und vielversprechende, womöglich evolutionär stabile Strategie sein kann. Man denke etwa an die Debatte um Skyrmsʼ (2004) Stag Hunt. Auch Skyrmsʼ Modell ist ganz und gar spieltheoretisch. In der repräsentativen Anekdote (Kenneth Burke) geht es darum, unter welchen Bedingungen jeder individuelle Jäger Vorteile davon hat, dass er sich an der kollektiv-kooperativen Jagd auf größere Beutetiere (Hirsche etwa) beteiligt, anstatt auf eigene Faust und auf individuelles Risiko Hasen und anderes Kleingetier zu jagen, das man auch alleine zur Strecke bringen kann. Die mathematische Abstraktionshöhe dieser Debatten ist, je nach Blickwinkel, erheiternd oder bestürzend, angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Numeralisierung evolutionärer Vor- und Nachteile von bestimmten Verhaltensweisen stets um völlig willkürliche Setzungen handelt, die
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ebenso gut auch anders vorgenommen werden könnten. Und angesichts der Tatsache, dass die individuelle Nutzenmaximierung ja immer schon in den Prämissen steckt. Es scheint jedoch (im esoterischen wie im exoterischen Feld) eine Art Konsens darüber zu geben, dass eine rechenbare spieltheoretische Matrix und Modellversion für jede Theorie erforderlich ist, damit ihr Urheber überhaupt für den Spezialdiskurs zugelassen wird. Nun gilt das Spielformat des prisonerʼs dilemma, zu dessen Familie auch andere prekäre Kooperationsspiele wie Tragedy of the Commons gehören, als eine Art mathematischer Beleg dafür, wie instabil und riskant die Erwartung kooperativen Verhaltens in einer Welt Nutzen maximierender Akteure bleiben muss. Die Auswirkungen dieser höchst spezifischen „Diskursverknappung“ (Foucault) reichen so weit, dass historisch-faktische Argumente überhaupt nicht mehr zählen. Elinor Ostrom hat den Nobelpreis für Ökonomie bekommen, weil sie ein spieltheoretisches Modell vorgelegt hat, das „beweist“, wie die gemeinsame Bewirtschaftung kollektiver Güter (commons, Allmenden; vgl. hierzu den Beitrag zur Tragedy of the Commons) mathematisch denkmöglich ist. Dass Allmenden aller Art (der Begriff ist nachgerade pathologisch dehnbar!) über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hinweg de facto erfolgreich und nachhaltig kollektiv bewirtschaftet worden sind, zählt dabei lediglich als Fußnote. Es ist wichtig, dass man sich diesen hypothetisch-deduktiven Duktus der Theorie- und Modellbildung im Neoevolutionismus stets vor Augen hält. Er repräsentiert den Denkstil der Zeit, dem konformieren muss, wer gehört und berücksichtigt werden möchte. Chancen, im evolutionistischen Diskurs zu reüssieren, hat nur, wer im Rahmen der Spieltheorie den mathematischen „Beweis“ dafür erbringen kann, dass sein Modell als evolutionär stabile Strategie spieltheoretisch dargestellt werden kann. Wie heftig diese Debatten ausfallen können, sieht man am Streit um Wilsons (2012) The Social Conquest of Earth, in dem es stark um den mathematischen Sinn bzw. Unsinn der inclusive fitness-Lehren (von Haldane und Hamilton) und der Gruppenselektion geht (Wilson 2012: 166ff).
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E GOISMUS
VS .
K OOPERATION
Im Zentrum der neoevolutionistischen Narrative über die Spezies Mensch steht (seit Dawkins 1976) die angenommene Unmöglichkeit, gemeinsame Probleme auf Dauer kooperativ zu lösen. Das Provokationspotential dieser kleinen Erzählung wird erst deutlich, wenn man sie mit der bis dahin herrschenden Axiomatik vergleicht, nach welcher Kooperation, Kommunikation und Vergesellschaftung als
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Schlüsselelemente der Menschwerdung galten – während die Unfähigkeit zu echter Kooperation und Kommunikation die anscheinend unüberwindliche Hürde zwischen Mensch und Tier bildeten. In einer solchen Konstellation werden alle Formen von Kooperation beinahe automatisch auch axiomatische Konfliktthemen, und zwar für beide Seiten. Die Genegoisten müssen permanent den Nachweis führen, dass alles, was wie echte, altruistische Kooperation aussieht, „in Wirklichkeit“ genegoistisch motiviert und analysierbar ist. Die sozialen Insekten (Werber 2008), von jeher beliebte Metaphernspender für menschliche Gesellschaften, beziehen aus dieser Lage heraus ihre Schlüsselposition ebenso wie andere gesellig lebende und/oder kollektiv jagende Arten (Schimpansen, Bonobos, Rabenvögel, Wölfe etc.). Über Jahrzehnte war es ein grundlegender Glaubenssatz des Evolutionismus, dass die hoch organisierte (und phänotypisch „selbstlose“) Kooperation der sozialen Insekten auf deren haplodiploide Fortpflanzungsweise zurückzuführen und ergo mit dem Genegoismus bestens vereinbar sei. Diese Fortpflanzungsart, bei der aus unbefruchteten Eiern Männchen, aus befruchteten Eiern Weibchen werden, erzeugt eine Konstellation, in der die (meist, bis auf die Königin, selbst unfruchtbaren) Weibchen untereinander stärker verwandt sind, als sie es mit den eigenen Nachkommen wären, so dass sich die genegoistischen Motive ganz rational auf die eigenen Geschwister richten und sie der Königin helfen, davon möglichst viele zu erzeugen. Dass Wilson (2012) just diese zentrale repräsentative Anekdote des neuen Evolutionismus umerzählt, macht ihn neuerdings zum exponierten Prügelknaben der Genegoisten.17 Tatsächlich „hängt“ das ganze Geflecht der genegoistischen Erzählungen an der (Hamiltonschen) Formelrechnung, nach welcher sich Gene für altruistisches Verhalten in einer Population nur in dem Maße ausbreiten können, wie der „Nutzen“, den dieses Verhalten für die Propagierung der eigenen Gene hat, dessen Kosten übersteigt (was man auch so formulieren könnte, dass altruistische Gene nur dann eine Chance auf Verbreitung haben, wenn sie egoistische sind!). Das kann – so geht die Rechnung – nur dann der Fall sein, wenn (spieltheoretisch) die Profiteure als nahe genetische Verwandte mehr Nutzen von dem jeweiligen Verhalten haben, als der Akteur Kosten hat (das ist die so genannte Hamiltonsche Formel: r B > C, wobei C die Kosten, B der Benefit/Fremdnutzen und r der Verwandtschaftskoeffizient ist).
17 Darüber hinaus dürfte auch der Umstand eine Rolle spielen, dass Edward O. Wilson einst selbst zu den eifrigsten Propagatoren der kin selection gehörte, was ihn nun in den Augen der Gläubigen zum Häretiker und Renegaten macht.
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Die (vermeintlich) „harte“ Definition von Altruismus ist zutiefst zirkulär:„In a strictly biological sense, the individual is altruistic in its influence when the collateral relatives gain in genetic fitness and the altruist loses in genetic fitness.” (Wilson 2012: 167) Im mathematischen Effekt besteht die inclusive fitness des Individuums dann aus der Summe von persönlicher Fitness (= die eigenen Nachkommen, die selbst wieder Nachkommen haben) und den Effekten der eigenen Handlungen auf die persönliche Fitness der genetischen Verwandtschaft. Wer in dieser Welt einem Nicht-Blutsverwandten hilft, von dem er keine Gegenleistung zu erwarten hat, der ist auf eigene Faust ein Narr. Auf diesem axiomatischen Komplex ruhte (wie auch Wilson 2012: 170 selbstkritisch schreibt) die gesamte Soziobiologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts: Genegoistische Prämissen plus kin selection (genetisch vorteilhafte Verwandtenförderung, mit haplodiploider Fortpflanzung als Turbolader bei den sozialen Insekten) plus reziproker Altruismus unter vertrauten Individuen. Gemeinsam ist diesen drei Bedingungen, dass sie, spieltheoretisch modelliert, zu langfristig vorteilhaften Matrizen-Outcomes für die Gene des Einzelnen führen. Ein Effekt dieser Prämissen besteht darin, dass sie die Bedingungen für das Auftreten kooperativen Verhaltens radikal begrenzen. Insbesondere lässt sie eine von vornherein auf Kooperation fundierte Spezies ebenso wenig zu wie sie Raum lässt für die „Artwohl“-Vorstellungen der Generation von Konrad Lorenz oder die Berücksichtigung des Umstandes, dass Selektion „oberhalb“ des genegoistischen Individuums schon bei jeder zweigeschlechtlichen Fortpflanzung denknotwendig ist. Sie erlaubt nicht einmal die Annahme einer unaufwendigen und täuschungsarmen innerartlichen Signalabstimmungen, weil die konkurrierenden Individuen nach dieser Axiomatik nichts unversucht lassen, was ihre Konkurrenten schädigt oder ins Hintertreffen bringt. Schließlich spielt man stets prisonerʼs dilemma miteinander. Wie bereits erwähnt hat die axiomatische Gegenbewegung seit wenigstens einem Jahrzehnt eingesetzt. Sie segelt (erwartungsgemäß) unter den antonymischen Fahnenausdrücken vom kooperativen Gen, von der – den Menschen – natürlichen Kooperation (Bauer 2006, 2008, Tomasello 2010). Ihre Fundamente hat sie in alternativen genetischen Theorien, in der Verhaltensbiologie und in der Entwicklungspsychologie. Auch diese Gegenbewegung hält sich strikt innerhalb der Grenzen der darwinistischen Grundannahmen, des Evolutionismus. Tomasello (2010), einer der Wortführer der „natürlichen Kooperativität“ des Menschen, erinnert an den Umstand, dass Sprachen, Institutionen, Technologien gar nicht als Produkte allein handelnder Individuen verstanden werden können (Tomasello 2010: 13), und reformuliert das Prinzip der kulturhistorischen Kumulation:
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„Ebenso wie sie Gene erben, die sich in der Vergangenheit angepasst haben, erben Individuen somit auf kulturellem Wege Artefakte und Vorgehensweisen, die die gesammelte Weisheit ihrer Vorfahren beinhalten. Bis heute sind die Menschen die einzige Tierart, die nachweislich Änderungen von Verhaltensweisen akkumuliert, die so immer komplexer werden.“ (Tomasello 2010: 10)
Durch diesen „Wagenhebereffekt“ wird die Ontogenese zum privilegierten und limitierenden Faktor. Alle kulturellen Errungenschaften (angefangen bei der Sprache!) müssen mit den Kapazitäten der individuellen Aneignung kompatibel bleiben, wenn sie nicht wieder verloren gehen sollen. In zahlreichen Experimenten zeigen Tomasello und seine Arbeitsgruppe, dass Kleinkinder, bevor noch eine echte kulturelle Prägung ihrer Verhaltensweisen einsetzen kann, spontan kooperatives Verhalten an den Tag legen (ganz im Unterschied zu Schimpansen und anderen Primaten). In den kulturellen Ordnungen wird die natürliche Kooperativität dann kanalisiert, prozessiert, limitiert, sie wird selektiv. Voraussetzung für diese spontane Kooperativität ist die früh entwickele Fähigkeit, die Ziele und Absichten anderer zu erkennen oder zu erschließen, die offenbar eng verwandt ist mit der sprachkonstitutiven Fähigkeit, einen Fokus der geteilten Aufmerksamkeit (joint attention) mit anderen zu etablieren und aufrecht zu erhalten. Sachlich führt diese Wendung (wie so oft) zurück auf Darwins eigene Position, wonach der evolutionäre Selektionswert kooperativen Verhaltens sich nur etablieren und entfalten kann, wenn nicht bloß Individuen, sondern auch Gruppen um Vorteile miteinander konkurrieren. Zweifellos ist eine kooperativ integrierte Gruppe in allen relevanten Angelegenheiten von der Versorgung des Nachwuchses über die Futtersuche bis zum Kampf einer (naturgemäß jederzeit vom Auseinanderfallen oder, um es spieltheoretisch zu formulieren: von defection) bedrohten Egoistengruppe überlegen (Wilson 2012: 49ff et pass.). Im genegoistischen Paradigma gilt freilich der Grundsatz, dass nicht sein kann, was nicht sein darf – und das ist Gruppenselektion. Es ist jedoch signifikant, dass ein alt gedienter Soziobiologe wie Edward O. Wilson und ein kulturhistorischer Psychologe wie Michael Tomasello an diesem Punkt konvergieren. Die stoffliche Seite dieser Entwicklungen können wir getrost den Theorie- und Wissenschaftshistorikern überlassen. Was hier interessiert, sind einzig die interdiskursiven Effekte dieser Konstellation, und die sind beträchtlich. Zunächst einmal zwingt sie die Parteigänger der konkurrierenden axiomatischen Positionen in eine moralische Grundsatzentscheidung. Abseits aller technischen Definitionen für „Egoismus“ und „Altruismus“ (vgl. hierzu den Beitrag zur Moral des Evolutionismus) besteht deren einzige berechenbare Konstante in ihrem evaluativen
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Wert. Egoismus konnotiert negativ und Altruismus konnotiert positiv. Ständig begegnet uns in einschlägigen Texten die Opposition Hobbes vs. Rousseau und die damit verbundene Frage, ob der Mensch von Natur egoistisch und böse (und nur durch staatliches Gewaltmonopol zu zivilisieren) oder ob er von Natur empathisch und gut (und lediglich durch schlechte Zivilisation korrumpiert) sei (z.B. Tomasello 2010: 19). Wer sich auf die Rousseau-Seite schlägt, der gilt fortan als Gutmensch und kann mit den diskursiven Waffen bekämpft werden, die gegen naivoptimistische Utopisten so reichlich zur Verfügung stehen. Um ein Beispiel zu geben: Carol S. Dweck schreibt mit ironischem Bezug auf Tomasellos Position: „Wir Menschen verfügen nicht nur über eine unglaubliche Intelligenz, sondern wir sind auch noch unglaublich nett“ (Tomasello 2010: 95). Die Rousseau-Position steht unter hoffnungslosem Utopie-, Romantik- und Naivitätsverdacht. Ganz anders die Hobbes-Position, mit der man alle Gratifikationen des kühlen und illusionslosen Aufklärers mühelos einstreicht. Dawkins hat es im Umgang mit diesen grammatischen und rhetorischen Ressourcen zu einiger Meisterschaft gebracht. Sein Ort ist stets da, wo die naiven Illusionen und Ideologien der Masse ernüchtert und dezentriert werden, und das ist der diskursive Ort des Fortschritts und der Aufklärung – mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Ort nunmehr mit dem historischen Siegeszug des Neoliberalismus zusammenfällt. Es gibt jedoch noch eine weitere paradoxe Komplikation, die mit der moralisch-normativen Aufladung der Opposition von Egoismus vs. Altruismus/Kooperation verbunden ist. Und die hat damit zu tun, dass moralische Fragen um „normative“ Orientierungsbedürfnisse herum angeordnet sind, während der Neoevolutionismus unsere „normalistischen“ Orientierungsbedürfnisse füttert (Link 2006). Die Evolutionsbiologie sagt uns, wie wir von Natur aus sind, Morallehren (und deren ethische Reflexion) geben uns Anhaltspunkte dafür, wie wir (aus mehr oder minder guten Gründen) sein sollten. Normalistische Subjektivierungstechniken zeichnen sich aber gerade dadurch aus, dass sie von der (kontrafaktischen, normativen) Orientierung an Wertvorgaben zur Orientierung an (statistischen etc.) Normalitäten umschalten. So gesehen ist der Evolutionismus nolens volens eine Art „Normalisierungsmaschine“. Indem er uns mitteilt, wie und was wir „von Natur“ sind, erzeugt er zugleich die Nulllinie der Normalität, an der wir uns auszurichten haben. Während also besorgte akademische Philosophen vor dem („natürlich“ immer verfehlten) Schluss vom Sein auf das Sollen warnen, vollzieht sich vor ihren Augen (aber ganz unbemerkt) eine mächtige Transformation, die umgekehrt Sollensorientierungen durch Orientierung an Normalitäten ersetzt. Das Ergebnis ist durchaus erwartbar: Die genegoistischen Soziobiologen warnen uns vor den regressiven Versuchungen des „Wir-Gefühls“ (Voland 2007: 34ff) und mahnen uns, mit dem „natürlichen“ Egoismus unserer Mitmenschen zu rechnen. Die
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latente Ratgeber-Natur all dieser vermeintlich Naturtatsachen feststellenden Literatur ist mit Händen zu greifen. Wer sich angesichts dieser mit der Autorität der Naturforschung vorgebrachten „Tatsachen“ einer Form des kollektiven Handelns verschreibt, der ist mindestens unaufgeklärt, potentiell aber ein „Gefährder“. Ein (wieder bekehrter) Anhänger der Gruppenselektion wie Wilson (2012: 241ff.) hingegen kann in dieser Lage gar nicht anders als die Konstellation wieder herzustellen, in der normative Fragen überhaupt nur sinnvoll gestellt werden können: dann nämlich, wenn „von Natur“ konkurrierende Kräfte an den Motiven und Handlungen des Einzelnen so zerren, dass er im Einzelfall entscheiden (und für die Entscheidung verantwortlich gemacht werden) kann. Außerhalb einer solchen „zerrissenen“ Bewertungs- und Verantwortungssituation sind Moralfragen völlig sinnlos. Wenn ich von Natur egoistisch bin, kann eine altruistische Moral lediglich der effizienten Selbsttäuschung dienen (wie die Soziobiologen gerne hervorheben), und wenn ich von Natur altruistisch bin, sind einschlägige Moralvorschriften vollkommen überflüssig. Für Wilson (2012) gilt also erneut, was im Kern schon für Darwin galt: Dass individuelle Selektion und Gruppenselektion gleichermaßen auf das Individuum einwirken, aber in entgegengesetzte Richtungen: „The dilemma of good and evil was created by multilevel selection, in which individual selection and group selection act together on the same individual bur largely in opposition to each other. Individual selection is the result of competition for survival and reproduction among members of the same group. It shapes instincts in each member that are fundamentally selfish with reference to other members. In contrast, group selection consists of competition between societies, through both direct conflict and differential competence in exploiting the environment. Group selection shapes instincts that tend to make individuals altruistic toward one another (but not toward members of other groups). Individual selection is responsible for much of what we call sin, while group selection is responsible for the greater part of virtue. Together they have created the conflict between the poorer and the better angels of our nature.“ (Wilson 2012: 241)
Am Ende dieser diskursiven Linie steht also wieder eine naturalisierte Version der „vornaturalistischen“ Anekdote, wonach der Mensch halb Tier und halb Engel ist und selbstverantwortlich von Fall zu Fall entscheiden muss. Zweifellos ist auch diese offene Version gut kompatibel mit flexibel normalistischen Imperativen zur Selbstnormalisierung. Und „harte“ Soziobiologen und Malthusianer (wie Hardin 1986) vergessen auch nicht, darauf hinzuweisen, dass es stets der äußere Feind ist, der den Treibstoff für die gruppeninterne Kohäsion beisteuert. Ein „menschheitliches“ Kollektiv hätte hingegen zwangsläufig keinen äußeren Feind mehr und ergo auch keine
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inneren Kohäsionskräfte. Für den gemäßigten Optimismus der liberalen evolutionistischen Kulturkritik (für die etwa Diamond 2005 steht) gäbe es hernach keine Grundlage.
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D IE E NGFÜHRUNG VON N ATUR
UND
Ö KONOMIE
Wie weit die Engführung von evolutionären Natur- und ökonomischen Marktprozessen in der Welt des Neoevolutionismus geht, das kann man sich an einer Geschichte klarmachen, die zwischenzeitlich auch den Wissenschaftsteil der großen Zeitungen erreicht hat. Es handelt sich um die (bereits in Dawkins 1989: 230ff [1976] bemühte) Geschichte von den Blut saugenden Fledermäusen (vampire bats), die in den Lehrbüchern der Verhaltensbiologie dafür bekannt sind, dass die jeweils erfolgreichen Jäger am Ende der Nacht in den Schlafkolonien den Erfolglosen großzügig „Blut spenden“, und zwar nicht nur den genetisch eng verwandten, sondern – das ist received wisdom – auch den Individuen aus der Eigengruppe, denen sie wahrscheinlich wieder begegnen und von denen sie, wenn sich das Jagdglück wenden sollte, den gleichen Dienst „erwarten“. Anders gesagt: Die vampire bats geben ein Beispiel für das einzige altruistische Verhalten, das nicht durch Hamiltons Formel beschränkt ist, nämlich für den „reziproken Altruismus“. Und der ist in der genegoistischen Welt des Neoevolutionismus nur möglich, wenn man sich kennt und erwartbar wiederholt miteinander interagiert. Das spieltheoretische Modell dafür ergibt sich aus der Wiederholung der prisonerʼs dilemma-Konstellation (iterated prisonerʼs dilemma), und zwar dergestalt, dass Teilnehmer gegenüber bestimmt identifizierten anderen Teilnehmern Erwartungen ausbilden können: Wenn du kooperierst, kooperiere ich auch. Gegenüber Fremden und in einmaligen Begegnungen (ohne Erwiderungschance) ist es dagegen stets „rational“, sich nicht kooperativ zu verhalten. Zwar hat auch bei wiederholten Spielen/Begegnungen derjenige das bessere Spielergebnis, der selbst nicht kooperiert, besonders dann, wenn andere kooperieren, aber „langfristig“ verliert er durch die Etablierung von Reziprozität (Tit for Tat) diese Vorteile, weil die anderen ihre Kooperativität auf die ihrerseits kooperativen Gruppenmitglieder beschränken, so dass es – vor allem in schlechten Zeiten – für alle sinnvoller wird, auf einen Teil der möglichen Gewinne zu verzichten und sich auch kooperativ gegenüber denen zu verhalten, die es selbst sind. Mit Hilfe dieser spieltheoretischen Konstellation lässt sich nahezu jede Konfliktsituation zwischen „Individuen“, die mehrfach miteinander interagieren, auf eine Tausch- und Vertrauensmatrix ziehen. Es ist dies natürlich ein genaues Abbild dessen, was in Finanzkrisen und Geldklemmen nicht mehr funktioniert: Die
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Reziprozitätserwartung ist gestört, man gibt sich keine Kredite mehr, obwohl man selbst sehr günstige bekommt, wenn man nicht weiß, ob sie bedient und zurückgezahlt werden können. Und es ist auch die nämliche Konstellation, die von Elinor Ostrom und der neuen Commonsbewegung dafür ins Feld geführt wird, dass es möglich ist, der Tragedy of the Commons ein Schnippchen zu schlagen, wenn die gemeinsam eine Allmende bewirtschaftenden Individuen untereinander Reziprozitätsverhältnisse (und Vertrauen) etablieren können – gilt doch auch die spieltheoretische Konstellation der Tragedy of the Commons als ein bloßer Sonderfall des prisonerʼs dilemma. Auch das zeigt, wie stark die spieltheoretischen Modelle in Ökonomie und Evolution bereits den Platz empirisch sachhaltiger Beschreibungen eingenommen haben. „Gute“, dem ökonomisch-evolutionistischen Denkstil entsprechende Narrative enthalten gerne beides, kin und Reziprozität. So gibt es Vogelarten, bei denen Individuen, die kein eigenes Brutrevier ergattert haben, bei einem brütenden Paar als „Helfer“ anheuern, dieses bei der Aufzucht seiner Jungen unterstützen, in der „Hoffnung“, einmal das Brutrevier des Paars zu „erben“. Und wenn es sich bei diesen „Helfern“ dann noch um Sprösslinge aus einer früheren erfolgreichen Brut des Paars, also um Geschwister der aktuellen Brut handelt, dann ist die axiomatische Welt in vollkommener Ordnung. Man kann also, je nach Neigung, die Behauptung aufstellen, dass in der schönen neuen Welt des Neoevolutionismus die Naturevolution ganz ebenso und nach den gleichen Regeln funktioniert wie ein ökonomischer Markt – oder eben dass ein ökonomischer Markt ganz ebenso funktioniert wie die Naturevolution. In einem ökonomischen Zeitalter, in dem der entfesselte Kapitalismus the only game in town ist, sind eben beide Plausibilisierungsrelationen als diskursive Ressource nutzbar. Es fällt leicht, uns glauben zu machen, dass wir nur denen vertrauen, nur mit denen kooperieren, die ihrerseits auch uns gegenüber nachweislich kooperativ sind. Schon darum, weil es sich um eine gängige Alltagsmaxime handelt. Und für Sammler- und Jägerhorden und Dorfgemeinschaften mag es nicht nur das, sondern auch tatsächlich eine halbwegs realistische Modellbildung sein, für arbeitsteilige Großgesellschaften ist das definitiv nicht der Fall. Und Alltagsmaximen wie „kooperiere nur mit ihrerseits kooperativen Partnern“ verdecken ja gerade das Ausmaß, in welchem die Angehörigen von Gesellschaften auch von der Kooperation derjenigen abhängen, die als Individuen vielleicht gar nicht kooperativ sind. Generell gilt wohl, dass kommunikativ und arbeitsteilig integrierte Gruppen kompakte Akteure bilden, die in gewissen Grenzen unabhängig werden von den Individuen, aus denen sie sich jeweils zusammensetzen und die als Ganze in Beziehungen zu anderen solchen Gruppen treten. Das freilich ist nichts anderes als die viel geschmähte Gruppenselektion. Es ist aber zugleich auch die repräsentative Anekdote der Sozialwissenschaften. Denn nur dann, wenn diesem Modell in
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Wahrheit etwas entspricht, hat eine eigene Wissenschaft vom Sozialen Sinn und Existenzberechtigung. Ansonsten wäre sie tatsächlich in Verhaltensbiologie und Genetik aufzulösen, wie es das soziobiologische Programm nahelegt. Aus diesem Grund schneiden sich im Disput über die Gruppenselektion so viele verschiedene axiomatische Linien, deren Verlängerung nicht nur in die Biologie, sondern auch in Ökonomie, Sozialwissenschaft und (neoliberale) Weltanschauung führt. In der (als interdisziplinär ausgeflaggten) Praxis entsteht dann so etwas wie eine (im Kern durch die Spieltheorie zusammengehaltene) Forschungslinie, in der Ökologie, Ökonomie, Psychologie und Evolutionsbiologie zusammenlaufen. Interdiskursivität wird zum Programm einer modernen Einheitswissenschaft, und man muss sich an Textpassagen gewöhnen wie die folgende (dem Forum-Anhang von Tomasello 2010 entnommene) von Joan B. Silk: „Dieser Gedankenaustausch [zwischen Evolution, Ökologie, Volkswirtschaft, Psychologie; C.K.] bedeutet, dass jemand, der wie ich zur Verhaltensökologie der Primaten forscht, volkswirtschaftliche Methoden nutzen kann, um systematische Studien zur Entwicklung altruistischer Präferenzen bei Kindern durchzuführen. Gleichzeitig beginnen Entwicklungspsychologen wie Michael Tomasello, über Spieltheorie nachzudenken, und Wirtschaftswissenschaftler wie Ernst Fehr machen sich Gedanken darüber, durch welche stammesgeschichtlich wirksamen Faktoren Nutzenfunktionen beeinflusst werden und beginnen zu glauben, dass das Verstehen der menschlichen Psychologie für die Entwicklung von ökonomischen Theorien ebenso wichtig ist wie mathematisches Wissen.“ (aus Tomasello 2010: 87)
Mit einem solchermaßen massiven Expertenbeschuss konfrontiert, kann der Leser schon etwas benommen (oder wahlweise auch misstrauisch) werden. Ein Verbund von Mathematik, Evolutionsbiologie, Volkswirtschaft und Psychologie kann einfach nicht irren.
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K ONTINUITÄTEN UND D ISKONTINUITÄTEN (D ARWIN , K ROPOTKIN , L ORENZ )
Wer auch nur näherungsweise mit der Geschichte des Darwinismus vertraut ist, der weiß, dass es sich bei den neoevolutionistischen Kontroversen und Konfliktlagen wenigstens um die zweite Aufführung eines bewährten und erprobten Theaterstückes handelt. Der Dawkins der ersten Aufführung war Thomas H. Huxley (1888). Unter dem Titel The Struggle for Existence: A Programme präsentiert der
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einen Essay, der von der evolutionistischen Relativierung aller Moral- und Weltverbesserungsvorstellungen über den radikalen Malthusianismus bis hin zur Abweisung aller naiven Fortschrittsengführungen zwischen Natur und Gesellschaft so ziemlich alles enthält, was auch die Kulissen der gegenwärtigen zweiten Aufführung ausmacht. Allerdings ist es bei Huxley noch die (malthusianische) „grenzenlose Vermehrung“ der Menschen, die das apokalyptische Feuerchen anfacht und alle Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft zunichtemacht, und noch nicht das Ensemble ökologischer Denormalisierungen (Klimawandel, Ressourcenübernutzung, Naturzerstörung), wie in der Gegenwart. Aber narratologisch spielen beide exakt die gleiche Rolle. Zitierenswert ist auch der Spott über die Tröstungen des Fortschrittsgedankens: „Von Seiten der Entwicklungslehre ermahnt man uns […], Trost in der Erwägung zu finden, dass der schreckliche Daseinskampf doch endlich auf etwas Gutes hinauslaufe, und dass der Vorfahr mit seinem Leiden nur für die größere Vollkommenheit des Nachkommen zahle. An diesem Satz wäre etwas, wenn das heutige Geschlecht nach chinesischer Weise seinen Vorfahren seine Schuld abzutragen vermöchte. Sonst bleibt unklar, welchen Ersatz für seine Leiden der Eohippus damit bekommt, dass ein paar Millionen Jahre später eins seiner Nachkommen den Preis im Derbyrennen davonträgt. Und ferner ist es ein Irrtum, die Entwicklung zeige eine beharrliche Tendenz zu gesteigerter Vollkommenheit. Jener Vorgang schließt zweifellos eine beharrliche Ummodelung des Organismus in Anpassung an neue Bedingungen ein. Es hängt aber von dem Wesen dieser Bedingungen ab, ob die Richtung der bewirkten Veränderungen aufwärts oder niederwärts geht.“ (zitiert nach dem Wiederabdruck in Kropotkin 1975: 298)
Die Wirkung von Huxleys Essay war vor über 100 Jahren beträchtlich. Und von denen, die sich zur Gegenrede herausgefordert fühlten, ist Kropotkin (1902, Neuabdruck 1975) vermutlich heute noch am aktuellsten. Der war so wenig Antidarwinist, wie es auch die heutigen Kritiker von Dawkins und seinen Anhängern sind, er verschiebt die Akzente innerhalb der Evolutionslehre auf die Stärken, die sich aus dem geregelten (und nicht minder natürlichen) Zusammenwirken der Individuen gegen widrige Bedingungen und äußere Feinde ergeben. Anders gesagt: Er behandelt den „Zusammenschluss“ als eine von vielen möglichen Waffen im notorischen „Kampf ums Dasein“. Seine These von der natürlichen Kooperativität der Menschen unterfüttert er, ganz im Denkstil der evolutionistischen Entwicklungslehre, mit zahllosen Beobachtungen über kooperative Verhaltensformen in anderen Spezies und sogar zwischen unterschiedlichen Arten. Wie sehr sich der Fortschrittsgedanke zu seiner Zeit gleichwohl befestigt hatte, erhellt aus dem „auf-
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steigenden“ Aufbau seines Büchleins, das mit der gegenseitigen Hilfe bei den Tieren beginnt und dann über die gegenseitige Hilfe bei den Wilden, bei den Barbaren und in der Stadt des Mittelalters bis zu „unserer Zeit“ aufsteigt. Wer nach diskurshistorischen Indizien dafür sucht, dass der globalisierte Neoliberalismus die Repertoireelemente und Bestände des Imperialismus transformiert und wieder aufnimmt, der wird jedenfalls rasch fündig bei Huxley und Kropotkin. So mancher Passus aus dessen Gegenseitiger Hilfe ließe sich ohne weitere Veränderungen in einen gegenwärtigen Text des neoevolutionistischen Diskurses einbringen, ohne dass es sonderlich auffallen würde: „Das Resultat ist, dass die Theorie, die behauptet, die Menschen könnten und müssten ihr eigenes Glück suchen, ohne sich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern, jetzt allenthalben triumphiert – im Recht, in der Wissenschaft, in der Religion. Es ist die Religion des Tages, und an ihrer Geltung zu zweifeln, heißt ein gefährlicher Utopist sein. Die Wissenschaft verkündet laut, dass der Kampf aller gegen alle das Grundprinzip der Natur und ebenso jeder menschlichen Gesellschaft sei. Diesem Kampf schreibt die Biologie die fortschreitende Entwicklung des Tierreiches zu. Die Geschichte argumentiert ebenso; und die Nationalökonomen führen in ihrer naiven Ignoranz allen Fortschritt der modernen Industrie und des modernen Maschinenwesens auf die ‚wundervollen‘ Wirkungen eben dieses Prinzips zurück. Die eigentliche Religion der Kanzel ist eine Religion des Individualismus […].“ (Kropotkin 1975: 212)
Fast jeder Text der „kooperativen“ Gegenbewegung innerhalb des modernen Evolutionismus ließe sich mit den Sätzen einleiten, die Kropotkin seiner Gegenseitigen Hilfe voranstellt: Man könne ihm gewiss vorwerfen, Tiere und Menschen in einem zu günstigen Licht dargestellt zu haben, das sei aber schon darum unvermeidlich, weil man in den letzten Jahren so endlos viel über den harten und erbarmungslosen Kampf aller gegen alle ums Dasein gehört und gelesen habe, dass man gar nicht anders könne als erst einmal eine Reihe von Tatsachen zu präsentieren, „die Tier- und Menschenleben in einem anderen Lichte zeigen“ (Kropotkin 1975: 19). Natürlich haben sich viele Parameter der öffentlichen Diskussion seither radikal verändert. Am markantesten ist vielleicht die völlige Diskreditierung und Stigmatisierung ethnodarwinistischer Figuren im hegemonialen mainstream. Das gilt freilich nicht für den schmuddeligen rechten Rand des Diskurses, an dem Ethnien nach wie vor einander über- oder unterlegen sind, vor Vermischung bewahrt werden müssen und um Lebensraum konkurrieren. Für den „aufgeklärten“ Neoliberalismus sind Ethnien nur imagined communities und als solche Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.
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Seit jedoch die Ökologie in allen Spielarten zum interdiskursiven Megathema avanciert ist (vgl. Radkau 2002, 2011), kann keiner mehr überzeugend das eigene Handeln von seinen Naturkonsequenzen abkoppeln. Alle müssen sich gefallen lassen, mit der distanzierten Brille der Evolution betrachtet zu werden. Die Rede von der menschliche „Naturbeherrschung“ erwirbt allmählich einen ironischen oder auch verzweifelten Unterton, und indem uns die Grenzen dieser Metapher bewusst werden, übertragen wir zugleich kulturelle Deutungsmacht an diejenigen, deren Expertise auf Einsicht in die Entwicklungsgesetze der Natur beruht. Diesen (zutiefst kulturellen) Ermächtigungsprozessen gehen die Beiträge des folgenden Bandes nach.
[10] L ITERATURVERZEICHNIS Baecker, Dirk (2006): „Nach dem Manipulationsverdacht“. In: taz vom 12. September 2006. Bartens, Werner (2011): „Der Chef leidet besonders. Führungskräfte sind starken Belastungen ausgesetzt – bei Pavianen haben Alphamännchen die höchsten Stresswerte.“ In: SZ vom 15. Juli 2011. Bauer, Joachim (2006): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Kampe. Bauer, Joachim (2008): Das kooperative Gen. Hamburg: Hoffman und Kampe. Bayertz, Kurt (Hrsg.) (1993): Evolution und Ethik. Stuttgart: Reclam. Bollenbeck, Georg (2007): Eine Geschichte der Kulturkritik von Rousseau bis Günther Anders. München: Beck. Crosby, Alfred W. (1991): Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900-1900. Frankfurt/M.: Campus. Dawkins, Richard (1989): The Selfish Gene. Oxford: Oxford University Press [revidierte Ausgabe, zuerst 1976]. Dawkins, Richard (2006): The God Delusion. London: Random House. Diamond, Jared (2005): Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt/M.: Fischer. Diamond, Jared (2012): Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können. Frankfurt/M.: Fischer. Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt/M.: Suhrkamp [Nachdruck, zuerst 1935]. Fleck, Ludwik (2011): Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hrsgg. von Sylwia Werner und Claus Zittel. Berlin: Suhrkamp.
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Menschen und Tiere – Vom Verschwimmen einer ehemals stabilen Opposition A NNA -L ENA D IESSELMANN
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Das Verhältnis von Mensch und Tier ist kontradiktorisch und ambivalent. Und es erfüllt relevante kulturelle Funktionen nicht zuletzt für die Selbstbestimmung des Menschen an sich. Historisch ist diese semantische Binarisierungsfigur tief verankert. Tiere sind „die fremden Lebewesen schlechthin: vertraute, im Grunde aber doch wenig ergründete Gefährten unserer Alltagswelt“ (Wiedenmann 1998: 352). Die Nähe und gleichzeitige Distanz sind schlechterdings das Thema der Abgrenzung vom Tier(-ischen). Dem Menschen ähnliche Verhaltensweisen wie Spielen und Treue oder menschenähnliche äußere Erscheinungsformen bringen dem Tier die Sympathie des Menschen ein. Dagegen werden Verhaltensweisen wie öffentliches Kopulieren und aggressives Verhalten, die im Auge menschlicher Betrachtung als unzivilisiert gelten, als genuin tierisch deklariert und zur Abgrenzung des Menschen und seiner Evolution genutzt. Auch kulturell ist das Motiv der Abgrenzung sowie der damit verbundenen Selbsterkenntnis weit verbreitet. In der aktuellen Verfilmung von Yann Martels Erzählung Schiffbruch mit Tiger werden Tiere – allen voran ein Tiger – zum Symbol für das Animalische im Menschen und gleichzeitig als das Nicht-Menschliche ausgegrenzt. Mit dem Verschwinden des Tigers im Wald verschwindet die Verantwortung für die Grausamkeit des Menschen. Der Mensch bleibt in einer Situation, in der er auf tierisches Verhalten zurückgeworfen wird, über die Beziehung zum Tier ein Mensch. „Auf diese Weise kommt es – wie der Soziologe Georg Simmel in seinem Aufsatz über das Fremde schrieb – zu einer ,Synthese von Nähe und Ferne‘, die das Tier zu einem nahen
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Fremden macht“ (Stephany 2008: 10). Besonders ambivalent ist diese FremdSelbst-Dichotomie zwischen Mensch und Tier, wenn Menschen das Bild von sich und dem Mensch-Sein in Abgrenzung zum Tier entwerfen, wie in gegenwärtigen populärwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Distinktionsmerkmalen zwischen Mensch und Tier. Besonders philosophische Betrachtungen haben Hochkonjunktur: „Wie viel Tier steckt in mir?“ (Philosophie Magazin 06/2012), „Können Tiere denken?“ (Hohe Luft 01/2013). Auch biologistische und neurowissenschaftliche Disziplinen suchen nach Erklärungen, was der Mensch im Verhältnis zum Tier ist. Meist wird der Mensch als ein Tier beschrieben und seine Verhaltensweisen und Eigenschaften auf ihre biologischen, also „natürlichen“ Grundlagen zurückgeführt. Diese zeigen über die evolutionäre Nähe zum Tier die Gemeinsamkeiten zwischen Tier und Mensch und „naturalisieren“ dadurch menschliches Verhalten und das menschliche Sein. Die Durchdringung der Lebenswelt mit Erklärungsmodellen aus der Hirnforschung ist die Folge. Ist der Mensch durch die neuronalen Ströme vollständig erklärbar? Demnach „nur“ eine biologische Maschine? In dieser Argumentationslinie können auch zahlreiche Veröffentlichungen zu den Fortschritten der Genetik und der Hirnforschung gezählt werden, die der Naturalisierung der Erklärungsmuster Aufwind bringen. Die Natur des Menschen und damit das Animalische hält Einzug in das Selbstbild des Menschen. Eben dadurch ist der Determinismus auf dem Vormarsch, wenn nicht zuletzt Liebe und das Funktionieren von Beziehungen über Gentests gewährleistet werden können. Fragt sich, ob die moderne Hirnforschung nicht im Begriff ist die Geltung der klassischen Distinktionsmerkmale – Verstand und freier Willen – aufzukündigen. Auf der anderen Seite dient das Tier als Abgrenzungs- und Reflektionskörper für Menschen, wenn sie ihre Alleinstellungsmerkmale beschreiben wollen: komplexe Sprache, Selbstreflexion, Vernunft und Verstand, Kultur oder Moral gelten als klassische conditio humana. Nachdem René Descartes im Discours de la Méthode Tiere als Maschinen, als Automaten bestimmte, galt diese Definition mehrere Dekaden. Umso weniger verblüffend, dass Tiere – solange sie keine süßen Schoßhunde sind – auch im heutigen Kapitalismus entindividualisiert und objektiviert werden. Das Tier soll in erster Linie funktionieren, sei es als Nutztier, als Lieferant von Nahrung und Kleidung, als Dienstleister oder aber als Haustier zur Kompensation menschlicher Beziehungen. Den menschlichen Körper beschrieb Descartes ebenfalls als diese Maschine, ihm ist jedoch zusätzlich eine Seele, Vernunft und Sprache zu eigen. Nicht nur wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Texte liefern ein dichotomes Bild vom Menschen als (Nicht-)Tier, auch die Alltagserfahrung spiegelt
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im Diskurs ein konträres Bild vom Tier. Von den meisten Tieren sind die Menschen im Alltag weit entfernt: Wir essen sie, aber schlachten, züchten und quälen sie in Tierversuchen nicht selbst. Im Gegenteil, der Großteil der Konsumenten/innen bekommt diese Prozesse nicht zu Gesicht: „Im Zuge der Urbanisierung und der Industrialisierung wurden die Schlachthöfe ausgelagert, wodurch immer mehr Tiere aus dem Alltag der Menschen verschwanden [...]“ (Stephany 2008: 46). Respektive: Tiere verschwanden nicht, sondern kamen in Frischhaltefolie verpackt in die Haushalte. Aus der Distanzierung zum Tier und insbesondere zu dem Prozess der Herstellung von Fleisch leitet Jana Simon ab, dass „die massenhafte Tötung von Tieren nur möglich [ist], wenn sie massenhaft verdrängt wird.“ (Simon 2012: 2) Simon geht noch weiter, indem sie behauptet: „Die Industrie fürchtet ihre Konsumenten. Die wollen Fleischessen ohne schlechtes Gewissen, ohne Blut, ohne Gestank, und, wenn es möglich wäre, am liebsten auch ohne Tier.“ (Simon 2012: 2). Die zur Recherche für Simons Artikel besuchte Fleischerei wird ebenfalls von einer Bürgerinitiative beobachtet. Diese nennt den Schlachthof „Kathedrale des Todes“ und findet, ein Schlachthof gehöre nicht ins Stadtgebiet. Und daraus könne nach Simons Interviewpartnern auf einen Kampf geschlossen werden, auf einen Kulturkampf, an dem sich die Ambivalenz des Mensch-Tier-Verhältnisses zeigen würde: Dieser Kampf ist der Kampf „Vegetarier gegen Fleischesser.“ (Simon 2012: 2). Dieser Kampf wurde jedenfalls in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren vehement emotional und intellektuell geführt. Auf dem Schlachtfeld präsentieren sich unzählige Publikationen, besonders prominent Jonathan Safran Foer mit dem Titel Tiere essen. Es folgten 2011 und 2012 Autoren wie Grabolle, Goetschel und Bestseller wie Anständig essen von Karen Duve. Diese Autoren/-innen begründen, warum Tiere essen unmoralisch ist und dass zudem Fleischkonsum unseren Planeten zerstöre. Eben solche Kämpfe sind kennzeichnend für unser Verhältnis zu Tieren: Intrinsische Werte werden verdrängt, Tiere als Mittel zum Zweck betrachtet. Sie werden in den Urwald, in die Meere, weit weg aus deutschen Städten verbannt. Aber die Funktionalität wird gewahrt. Moralisch durchdachte, geschweige denn relevante Argumente für den Fleischkonsum lassen sich kaum finden. Genuss wird häufig angeführt, kann allerdings nicht als Grund für das Leid eines anderen Lebewesens geltend gemacht werden. „Fleisch essen ist natürlich“, lautet eine weitere Begründung. „Natürlich“ wird im Diskurs um Fleischkonsum synonym zu „angeboren“ verwendet und bedient folglich das Muster, dass es „normal“ sei, damit auch moralisch zumindest wenig verwerflich. Evolutionsbiologischer formuliert lautet die Argumentation: „Der Mensch braucht Fleisch.“ (Reichholf 2012) Eine Kuh kann Fleisch nicht verdauen, ein Tiger kann Gemüse nicht verdauen, die menschliche Physiologie kann sowohl als auch. Diese
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Erkenntnis tarnt sich als deskriptive „Naturtatsache“, die Fleisch essen im herrschenden evolutionistischen Denkstil als völlig „normal“ und „natürlich“ erscheinen lässt. Diese Beschreibungen haben moralische Bedeutung nur dann, wenn Menschen eine Wahl haben, Fleisch zu essen oder es nicht zu tun. Fleisch essen als unmoralisch zu begreifen setzt voraus, dass es möglich ist, kein Fleisch zu essen, im Zweifel sogar der eigenen „Natur“ zuwider zu handeln. Wiederum kann die alltägliche Beziehung vom Mensch zum Tier auch eng und innig sein, besonders, wenn sie persönlich oder sogar intim ist: Hier sprechen wir von Haustieren. So gibt es im Radio Trauerhilfe, wenn ein Tier gestorben ist (Es ist doch nur ein Tier; WDR5), im Fernsehen werden Mensch-Tier-Liebespaare vorgestellt (Tierisch verliebt; ZDF), die intensive Beziehung zu den eigenen Haustieren gilt als Vorzeigemerkmal, „tierlieb“ steht sogar in Kontaktanzeigen. In jedem dritten deutschen Haushalt werden Tiere gehalten. Das Tier kann zum Freund, zum Begleiter, sogar zum besseren Menschen oder Ersatz für einen menschlichen Partner werden. Durch das komplexe, ambivalente Verhältnis zwischen Tier und Mensch lässt sich auch erklären, warum diese „tierlieben“ Menschen trotzdem zum Fleisch aus dem Supermarkt greifen. Zwei aktuelle Fälle lassen uns das Verhältnis von Mensch und Tier strukturiert beleuchten und Licht ins Dunkel der ambivalenten und widersprüchlichen Beziehung bringen: Zoophilie und Tierrechte. Über das Sodomie-Verbot wird eine starke Opposition zwischen Mensch und Tier vertreten. Auf der Basis des Unvermögens von Tieren, Zustimmung oder Ablehnung zu äußern wird also eine Eigenschaft hervorgehoben, über die größtmögliche Distanz zum Menschen erzeugt wird. Die Forderung nach einer Einführung von basalen Menschenrechten für – zumindest – menschenähnliche Affen wird mit den gleichen Charaktereigenschaften begründet: Verstand und Selbsterkenntnis. Aber hier laufen die Argumente konträr zum Sodomie-Verbot, eben über die Menschenähnlichkeit der Eigenschaft „Verstand“. Die Beispiele können also die beiden möglichen Reaktionen auf brüchige Demarkationslinien zeigen, denn über das Sodomie-Verbot wird die Grenze befestigt, über die Forderung nach „Tierrechten“ wird die Durchlässigkeit geregelt. Die Stärkung der Tierrechte hat zudem eine relevante kulturelle Funktion, besänftigt sie doch ein wenig das schlechte Gewissen der Menschen aufgrund der grausamen Realität der Massentierhaltung und der Schlachthöfe.
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Z OOPHILIE
„Es waren kleine Details, an denen die Landwirte aus Groß-Gerau erkannten, dass etwas mit ihren Schafen nicht stimmte. Waren die Tiere zuvor sehr zutraulich, mieden sie nun den Kontakt zu Menschen. Erst als die Tierhalter eine Kamera in ihrem Stall installierten, kamen sie dem Grund auf die Spur. Mehrfach hatte sich ein Mann nächtens in den Stall geschlichen, um die Tiere sexuell zu missbrauchen.“ (FRANKFURTER RUNDSCHAU, 06.02.2012)
Dieses Beispiel zeigt, dass Zoophilie sowohl unter der Perspektive der kulturellen als auch unter der rechtlichen Betrachtung eine Sonderrolle einnimmt: Zoophilie polarisiert die Gesellschaft und markiert zugleich relevante kulturelle Unterschiede zwischen ihnen. Nur wenige Handlungen, die nicht gegen ein Individualrecht verstoßen, sind so moralisiert und umstritten wie Zoophilie. Im christlichen Kontext galt Zoophilie, also Sex mit Tieren, von jeher als Unzucht. Nicht nur diese Praxis, sondern auch andere, nicht der Fortpflanzung dienende Sexualpraktiken, galten als unmoralisches Verhalten des Menschen gegen das menschliche Sittengesetz oder Gottes Schöpfung. Das Verbot fokussierte also nicht das Tier oder dessen Schutz, sondern die Unsittlichkeit des Menschen. Geschützt wurde die „gute Ordnung“ (Lang 2009: 17). Im europäischen Mittelalter stand auf Zoophilie die Todesstrafe – sowohl für den Menschen als auch für das Tier. Gleichzeitig hat Zoophilie eine lange Tradition. Es wurden z.B. im alten Griechenland verschiedene Gottheiten durch Geschlechtsverkehr mit ihren jeweiligen Symboltieren verehrt, im alten Rom soll es sogar Tier-Bordelle gegeben haben (vgl. Lang 2009). Heute bekennen sich in Foren und auf Selbsthilfeseiten tausende Menschen zu ihrer Neigung, sie sind in zahlreichen Verbänden organisiert. Im deutschen Strafgesetzbuch regelte bis 1969 Paragraph 175 StGB, der sogenannte Sodomie-Paragraph, die „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird“ (Preußisches StGB, Fassung von 1871). Sodomie bezeichnete Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienen. 1969 wurde das Zoophilie-Verbot ersatzlos gestrichen. Der Gesetzgeber
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begründete die Abschaffung der Zoophilie als Straftatbestand damit, dass zoophile Handlungen sogenannte einfache Sexualdelikte seien, die sich in einer bloßen Sittenwidrigkeit erschöpfen, mit denen aber kein Unrecht vollzogen wird, da sie sich „nicht gegen die sexuelle Selbstbestimmung eines Opfers richten“ (Leondarakis 2009: 6). In diesem Zusammenhang veränderte sich auch die sprachliche Bezeichnung: Bis zur Liberalisierung und Enttabuisierung der Sexualität in den 1960er Jahren bedeutete „Sodomie“ allgemein sittenwidriges Sexualverhalten. Noch im Nationalsozialismus z.B. beinhaltete der Begriff auch homosexuelle Sexualhandlungen. Heute hingegen bezeichnet „Sodomie“ allein den Sex mit Tieren. In diesem Artikel wird der historisch weniger belastete Begriff „Zoophilie“ verwendet. Zurück zu den Schäfchen aus Groß-Gerau. Zunächst ist es wenig erstaunlich, dass die Landwirte sich um das Wohl ihrer Tiere, also ihres Eigentums, sorgen und das nächtliche Eingreifen eines Fremden verhindern wollen. Aber lässt sich das zunächst intuitiv unsittliche Verhalten eines zoophilen Menschen verbieten? Quält er das Tier? Lässt sich die Rede von „Missbrauch“ rechtfertigen? Und kann den Landwirten im Zweifelsfall nicht ebenfalls das Verursachen von Leid unterstellt werden? Eine Kontingenzprüfung befördert die Paradoxie zu Tage: Landwirte dürfen ihre Schafe laut deutschem Tierschutzgesetz nicht zuletzt schlachten, ihnen zuvor erhebliche Schmerzen zufügen, wenn diese dem Zwecke der Produktion dienen, wie die Züchtung von mehr Hautfalten, Mulesing, Kastration, alles ohne Betäubung. Der Missbrauch von Tieren zu Nahrungs- oder anderen Nutzungszwecken wird selten rechtlich oder öffentlich verhandelt. Der Missbrauch von Tieren zur sexuellen Befriedigung aber steht nicht zuletzt mit der Novellierung des Tierschutzgesetzes im Fokus der öffentlichen Diskussion. Zoophile geraten ins Kreuzfeuer, wenn sie sich offen zu ihrer Neigung bekennen. Eben solche Fälle wie in Groß-Gerau gaben den Anlass für einen Gesetzentwurf, der Zoophilie nun in Deutschland seit dem 14.12.2012 wieder verbietet. Der Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) unter Leitung der Ministerin Ilse Aigner (CDU/CSU) sieht vor, Zoophilie „aus Gründen des Tierschutzes“ zu verbieten. Vor dem 14.12.2012 war Zoophilie kein eigener Straftatbestand, Fälle von Sex mit Tieren waren an sich nicht strafbar, konnten nur verfolgt werden, wenn sie Tierquälerei, Pornografie oder Sachbeschädigung beinhalteten. Dieses Vorgehen stieß an Grenzen: Sexuelle Handlung mit Tieren, die jemand anders gehören, sind laut Gesetz seit 1969 Sachbeschädigung. Jedoch trifft das nicht auf eigene Tier zu. Auch der Straftatbestand Tierquälerei kann angewendet werden, wenn die zoophile Handlung für das Tier Leid und Schmerz bedeutet. Dieses Leid ist allerdings schlecht nachweisbar und wird von vielen zoophilen Verbänden gänzlich bestritten. Läge grundlegend Tierquälerei vor, würde der Bezug auf Paragraph 17 des TierSchG reichen, der lautet:
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„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder einem Wirbeltier a) aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder b) länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.“ (Paragraph 17 TierSchG)
Den vernünftigen Grund haben Landwirte per Gesetz, wenn sie aus dem Tier Nahrung oder Wolle gewinnen möchten. Zoophilie aber gilt nicht als vernünftiger Grund. Fragen wir grundlegender, welchen Status das Tier im Rechtssystem der BRD hat. Artikel 20a des Grundgesetzes kann wohlwollend als Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz gewertet werden, allerdings lässt eine genaue Betrachtung auch eine andere Interpretation zu. Im Grundgesetz Artikel 20a heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ (Art.20a GG)
Der 2002 eingefügte Artikel schützt also keinen intrinsischen Wert der Tiere, sondern lediglich das Tier als Ressource. Das Tierschutzgesetz der BRD beinhaltet eine umfangreichere Auseinandersetzung mit dem Status der Tiere, dieser Status ist ein politisches Thema. Zwei grundlegende widersprüchliche Ansichten sind für den Status der Tiere und die Notwendigkeit eines Zoophilie-Verbotes grundsätzlich bemerkenswert. Auf der einen Seite steht die Einschätzung der hohen Relevanz der Unterscheidung von Mensch und Tier durch das Gesetz, die einer Aufwertung des Status der Tiere im Grundgesetz widerspricht: „Der moderne Verfassungsstaat ruht auf der Prämisse einer qualitativen Unterscheidung von Mensch und Tier. Der Topos der sogenannten ,Tierwürde‘ verstellt den Blick auf diesen Befund und sollte gemieden werden.“ (Gerdes 2012) Die Aufwertung der Tiere, so wird befürchtet, implementiere eine Abwertung des Menschen. Daraus leitet Thorsten Gerdes ab: „Regelungsbedarf hinsichtlich der sogenannten Zoophilie besteht nicht.“ (Gerdes 2012) Dem gegenüber steht die Position des Bundestages, der das Verbot der Zoophilie mit der Begründung erlässt, das Tier sei vor sexuellen Übergriffen zu schützen, auch wenn diese ihm kein Leid verursachen. Im Bundestag wird die Novellierung des Tierschutzgesetzes mit dem Wohl der Tiere begründet, nicht mit der sittenwidrigen Handlung des Menschen. Mit Annahme der Änderung des deutschen Tierschutzgesetzes durch den Deutschen Bundestag am 14. Dezember 2012 werden sexuelle
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Handlungen mit Tieren ausdrücklich unter Strafe gestellt, um Tiere vor geschlechtlichen Übergriffen zu schützen. Neben der Nutzung von Tieren für sexuelle Praktiken gelten auch das Zurverfügungstellen von Tieren hierfür und das entsprechende Abrichten als strafbar. Allein die Tatsache, dass Zoophilie im Tierschutzgesetz verhandelt wird, lässt erkennen, dass ein Stellvertreterkrieg ausgefochten wird. Tierschutz muss für moralische Sexualnormen herhalten. Über die Zoophilie-Debatte wird das Verhältnis von Mensch und Tier zur Disposition gestellt. Die Argumente für das Verbot lassen sich in 4 Kategorien unterteilen und werden im Folgenden jeweils einer Prüfung unterzogen.
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Z UM T IERLEID
Sexuelle Kontakte, so argumentieren vor allem die renommierten Tierschutzvereine wie der Bund gegen Missbrauch der Tiere e. V., der Deutsche Tierschutzbund e.V. sowie die Bundesregierung in der Verbotsdebatte, seien unweigerlich mit großem Leiden der Tiere verbunden. Aus tierärztlicher Perspektive ist dieses Argument umstritten, denn besonders im Falle der Penetration durch das männliche Tier entstehen diesem keinerlei Schmerzen. Zudem ist auch ohne Gesetzesänderung eine Handlung, die dem Tier „erhebliche Schmerzen oder Leiden zu[fügt]“ (Art.20aGG), im bereits erwähnten Artikel unter Strafe gestellt gewesen. Bereits 2009 wurde zwecks eines angestrebten Verbotes gegen das Zoophilen-Forum tierlover.info ermittelt, in dem explizit Hilfen und Tipps für den sexuellen Kontakt mit Tieren ausgetauscht werden. In einer ausführlichen rechtlichen Untersuchung heißt es, dass die „auf der Internetseite www.Tierlover.info gesichteten und geprüften veröffentlichten Inhalte zum gegenwärtigem Zeitpunkt am 13.05.2009 nicht gegen geltendes Strafrecht verstoßen“ (Leondarakis 2009: 22), also bei den beschriebenen Sexhandlungen keine Tierquälerei vorliegt. Der Schmerz oder das Leid der Tiere sind eher ein Vorwand als ein rechtskräftiges Argument, zoophile Handlungen zu verbieten. Dieser Meinung ist auch der Verein ZETA (Zoophiles Engagement für Toleranz und Aufklärung), der sich für Zoophile engagiert: „Folglich bewirkt dieses Gesetz die Diskriminierung einer sexuellen Minderheit. Zoophile Menschen werden Angst haben müssen, dass sie gebrandmarkt werden und ihnen möglicherweise der tierische Partner von Amts wegen entzogen wird, obwohl sie ihren Tieren kein Leid zufügen.“ (ZETA 2012)
Das bereits erwähnte Rechtsgutachten zur Internetseite tierlover.info kommt zwar zur gleichen Konklusion, dass kein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz vorliegt,
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dass zoophile Inhalte der Seite aber „dennoch [...] gegen wesentliche Sittlichkeitsempfindungen unseres Kulturkreises [verstoßen].“ (Leondarakis 2009: 24) Daraus leitet das Gutachten Forderungen nach rechtlichen Konsequenzen ab: „Unabhängig vom Vorliegen erheblicher Schmerzen oder Leiden werden Tiere durch zoophile Handlungen jedoch zum Objekt menschlicher Begierde gemacht und zur Befriedigung der menschlichen Triebhaftigkeit missbraucht. Dies ist mit der kreatürlichen Würde des Tieres als Mitgeschöpf unvereinbar.“ (Leondarakis 2009: 23)
Die Entkopplung des Tierschutzes von dessen Hauptfunktion (der Verhinderung von Leid und Schmerz) führt zu einer Aufwertung des Status der Tiere im Grundgesetz. Eben dieser Aufwertung des Status des Tieres widerspricht aber die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde und die bisher strikte juristische Trennung zwischen Mensch und Tier. Zudem stellt sich die Frage, ob Tiere in der Zucht für Nahrung und andere Produkte nicht ebenfalls instrumentalisiert werden – sogar weit umfassender als in der zoophilen Beziehung. Die hier als zustimmungspflichtige Hochwerte eingeführten Begriffe „Sittlichkeit“ und „unser Kulturkreis“ zeigen, worum es beim Verbot der Zoophilie in der Argumentation im Kern geht: Die Manifestation angestrebter kultureller und sittlicher Werte. Schließlich geht es hier nicht darum, eine klare Struktur der Sittlichkeit zu verteidigen, sondern um die Verfestigung dieser. Über die Zoophilie wird ein Konflikt um menschliche Werte ausgetragen, ohne diese zu benennen.
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Z UR W ÜRDE
DES
T IERES
Die Instrumentalisierung des Tieres als Grund für die Verletzung seiner Würde zu beschreiben lehnt sich an eine lange Tradition der Formulierung der Objektformel zur Begründung und Erläuterung der Menschenwürde an. In der bekanntesten Formulierung Günter Dürigs ist die Würde des Menschen genau dann tangiert, wenn der Mensch zum reinen Objekt wird. Denn im Status des Objektes ist der Mensch seiner Freiheit und Selbstbestimmung beraubt. Eine ähnliche Würde kommt den Tieren bisher im Rechtssystem der BRD nicht zu – ein Status, den die Befürworter/-innen für Tierrechte ändern möchten – und eine Änderung würde grundlegende Werte ändern sowie einen grundlegend anderen rechtlichen Umgang mit Tieren erfordern. Denn das Tier kann die eigene Würde nicht selbst schützen, der Mensch hat die Verantwortung, dass dem Tier nichts „unfreiwilliges oder artwidriges“ geschehe. Mit der Stärkung der Tierwürde geht eine offensichtliche Doppelmoral einher: Wer dem Tier Würde zuspricht, muss mit demselben Argument
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jegliches artwidriges Tierhalten unterbinden. Wie bereits oben erwähnt hält die Argumentation einer Konsistenzprüfung kaum stand, ist die Verletzung der Tierwürde durch sexuelle Kontakte mit Menschen doch marginal im Vergleich zur Verletzung derselben zwecks Zucht und Haltung. Besonders die Vertreter/-innen der CDU, CSU und FDP im Bundestag, die sich im Verbot der Zoophilie weit aus dem Fenster lehnen und die Tierwürde als Argument anführen, weigern sich gleichzeitig, Kastration, Verstümmelungen und Brandmarkierungen ohne Betäubung zu verbieten – häufig mit einem Hinweis auf deren lange Traditionen. Diese Erlaubnis kommt hauptsächlich landwirtschaftlichen Betrieben zu Gute. Vor allem zeigt sich mit der Verschiebung der Würde auf das Tier eine Verschiebung der Verantwortung. Die Vernichtung Sodoms wurde jahrhundertelang nicht gerade als Bild für die Verletzung der Tierwürde interpretiert, sondern stellte die Würde der Menschheit auf den Prüfstand. Diese Verschiebung in der Wahrnehmung der Würdeverletzung verrät uns, dass im Diskurs die Freiheit der Menschen nicht angetastet wird, sondern über die – wehrlosen – Tiere eine Moralvorstellung implementiert wird, die dem Menschen Verantwortung überträgt – jedoch nicht für das „menschliche“, sondern für das Tier. „Damals ging es um das angeblich widernatürliche Verhalten von Menschen, jetzt geht es um Tierschutz“, wie auch Michael Kiok der taz erklärt. Kiok spricht für den Interessenverband der Zoophilen. Die Forderung nach einer Stärkung des Tieres über eine Festlegung seiner Würde führt in der Tierrechtsdebatte dazu, die Grenze zwischen Tier und Mensch aufzuweichen. In der Zoophilie-Diskussion allerdings soll über die Stärkung der Tierwürde die Trennlinie verstärkt werden.
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Z UR F REIWILLIGKEIT
Das Argument lautet: Die Verantwortung für das Tier muss der Mensch tragen, weil dem Tier ein grundlegendes Unvermögen unterstellt wird, sich zu sexuellem Verkehr aus freien Stücken zu äußern. Anders als in der Begründung zur Abschaffung des Paragraphen 175 in den 1960er Jahren, in der das Tier nicht mehr als unmündiges Opfer gesehen wurde, wird das Verbot der Zoophilie heute mit genau der Unfreiwilligkeit und Unmündigkeit wieder gerechtfertigt. So behauptet Doris Hoffe, Vorsitzende des Tierschutzvereins Münster: „Kein Hund, keine Katze und kein Pferd würde sich freiwillig einen Menschen als Geschlechtspartner suchen. Hier werden Tiere missbraucht und zu Dingen gezwungen, die sie nicht wollen.“ (Gierse 2012)
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Der Wille des Tieres wird vom Menschen interpretiert, mit offenbar komplementären Ergebnissen. Da das Tier keinen Willen oder Unwillen äußern könne, schreibt auch Ijoma Mangold, neige „[…] Sodomie – wie alle Triebbeziehungen – zu einem asymmetrischen Machtverhältnis. Das ist im gegenwärtigen Sexualdiskurs nicht erlaubt, sondern widerspricht dem Ethos der Gleichheit und Ebenbürtigkeit in Sexualbeziehungen.“ (Mangold 2012)
Das Unvermögen des Tieres und das stark moralisierte Zustimmungsprinzip in allen Fragen der Sexualität lassen weitere Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu. Hier wird eine Trennlinie stark gemacht, die schon seit der Antike immer wieder Konjunktionen unterliegt: Der Mensch gilt als fähig zur Freiheit, das Tier in Opposition dagegen als unmündig, konditioniert, unfrei. Diese einseitige und pauschale Annahme der Freiheit des Menschen widerspricht allerdings dem Bild des Menschen in den gegenwärtigen Neuro-Wissenschaften, in großen Teilen der Genetik und der Hirnforschung. Eine alte Figur wird wiederbelebt, um die unsichere Grenze neu zu befestigen. Diese Verschiebung vom Sex mit Tieren als Verstoß gegen die Sittengesetze der menschlichen Gemeinschaft hin zum Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Tieres bezeugt die Verschiebung ethischer Begründungen innerhalb einer Gesellschaft. Ist nicht diese asymmetrische Ebene gerade ein Grund für menschliche nicht-sexuelle Beziehungen zum Tier? Halten sich Menschen nicht deswegen ein Tier und sind begeistert von diesem, weil sie eine Beziehung haben können, die zwischen Menschen nicht möglich ist? Menschen ersetzen soziale Kontakte besonders in einer individualisierten, vereinzelten Gesellschaft gerne durch Tiere, weil die Beziehungen zwischen Mensch und Tier auf rein emotionalen Kommunikationsmustern beruhen. Auf einem Ungleichgewicht in rationalen und kulturellen Fragen. Tiere geben keine Widerworte, sind ewig treu, sie müssen versorgt und gepflegt werden. Das Machtverhältnis zur Grundlage eines Verbotes von zoophilen Handlungen zu machen, müsste konsequent gedacht auch zum Verbot von Haustierhaltung führen. Dem entgegen antwortet Michael Kiok auf die Behauptung, Tiere seien nicht zustimmungsfähig: „Ein Tier kann sehr genau zeigen, was es will und was es nicht will. Und es zeigt das auch immer. Wenn ich meinen Hund ansehe, weiß ich sofort, was los ist. Tiere sind viel leichter zu verstehen, als zum Beispiel Frauen.“ (Kiok 2012)
Diese Antwort pointiert genau die Anstößigkeit der Beziehung zwischen Mensch und Tier, wenn in ihnen eine (Selbst-) Reduktion des Menschen auf die weniger
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komplexen Strukturen des Tieres mitschwingt. Das Tierschutzargument ist auch im Falle des sexuellen Zwangs äußert widersprüchlich zu gängigen Praktiken. Tiere werden in der Zucht ganz unfreiwillig abgesamt und befruchtet, nicht zuletzt werden Stuten festgebunden, damit ein Hengst sie bespringen kann. Diese Formen von sexuellen Zwängen werden im neuen Tierschutzgesetz nicht geregelt, sondern gelten weiterhin als legitim. Die Unfreiwilligkeit der Tiere in Mensch-Tier-Beziehungen als Begründung des Verbotes bleibt kontrovers. Immerhin zeigt das Sodomie-Verbot, wie hoch moralisiert das Prinzip „Zustimmung“ in der Sexualität ist.
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Z UR U NNATÜRLICHKEIT
Zu untersuchen bleibt das Motiv der „Widernatürlichkeit“, welches schon in dem 1969 abgeschafften Paragraphen beinhaltet war und gegenwärtig Hochkonjunktur erlangt. Das Argument der (Wider-)Natürlichkeit funktioniert in zwei Richtungen. Die Gesetzesnovelle will den Akt als solchen deswegen unter Strafe stellen, weil er das Tier zu „artwidrigem Verhalten“ (Bundesregierung 2012) zwinge. Auch der Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt) erklärt, dass Tiere in Fällen zoophiler Beziehungen immer leiden würden, da Sex mit andersartigen Lebewesen „artwidrig“ und daher leidvoll sei (Ort 2012). Der Deutsche Tierschutzbund meldet sich im Rahmen der Novellierung des Tierschutzgesetzes zu Wort, er fordert ebenfalls ein Verbot, „unabhängig davon, ob Schmerzen, Leiden oder Schäden am Tier erkennbar sind“ (Deutscher Tierschutzbund 2012). Die Natürlichkeit des Tieres scheint ein hohes, zustimmungspflichtiges Gut zu sein. Im Rahmen des Diskurses tauchen aber auch immer wieder Positionen auf, die dem zoophilen Menschen artwidriges, unnatürliches und damit „widerliches“ Verhalten unterstellen. Die Degradierung zoophiler Handlungen hat eine lange Tradition – ursprünglich ein starkes Motiv im Kontext kolonialistischer Erklärungsweisen fremder Völker zwecks Aufwertung der eigenen Zivilisation, als Demarkationslinie zwischen höheren und niederen Menschen. Heute spielen solche rassistischen Stereotype wieder (oder: immer noch) eine Rolle und zoophile Handlungen werden nicht selten in rassistische Kontexte gestellt: Affenbordelle fänden besonders in Asien hohen Zuspruch, Ziegen und Schafe würden in arabischen Ländern generell als Sexpartner erlaubt und seien „normal“. Tierbordelle, so behaupten verschiedene deutsche Medien, gebe es mittlerweile auch in Skandinavien und Hessen. Zoophile hätten nicht nur, was schlimm genug wäre, Sex mit Tieren, sondern würden diese Neigung zudem vermarkten und dazu Tiere zwangsprostituieren (vgl. Badische Zeitung, 28.09.2012). Die Existenz von Tierbordellen konnte an keiner Stelle nachgewiesen werden. Aber auch der Zusammenhang mit anderen
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„krankhaften“ und „widernatürlichen“ sexuellen Prägungen wird im Diskurs bedient: Die FR behauptet unter Berufung auf nicht weiter verifizierbare amerikanische und deutsche Studien, dass „die Grenzen zwischen zoophilen und pädophilen Tätern fließend“ sei (FR online, 06.02.2012). Wer sich also gegen Zoophilie profiliert, stellt sich damit zugleich in einem stark moralisierten Kontext dar. Wer Zoophile als unzivilisiert darstellt, in die Nähe von Pädophilie rückt und ihre Neigung als „unmenschlich“ beschreibt, kann sich dem gegenüber als Vertreter einer integren, sauberen Moral im Diskurs positionieren. In einer stark normalistischen Kultur werden über die Definitionen der Ränder die Grenzen des Normalen aufrechterhalten. Zoophilie dient zum einen der Grenze zwischen normalen und kranken Menschen innerhalb der eigenen Kultur (vgl. Leondarakis weiter oben), zum anderen eben der Abgrenzung gegen die „unteren Normalitätsklassen“, die unzivilisierte Welt. Das in diesen Argumentationslinien medial adressierte „Wir“, die „Normalen“, stimmt der Anormalität von Sodomiegeschichten in der Regel intuitiv zu. Daraus lässt sich leicht die Begründung der rechtlichen Regelungsbedürftigkeit ableiten. In dieser Begründung bekommt das Recht die Aufgabe, hoch moralisierte Restgrenzen gegen die shifting baselines einer komplexen Kulturveränderung zu verteidigen, die „Normalität“ zu sichern. Bundesrat und Bundestag diskutieren Zoophilie nicht als sittenwidriges Verhalten, sondern nutzen den Tierschutz als Trojanisches Pferd, indem sie das Sodomieverbot innerhalb der stets moralisch zustimmungspflichtigen Tierschutzrechte verankern. Die Konsistenzprüfungen ergeben wie gezeigt zahlreiche Widersprüche. Dem gegenüber inszenieren sich verschiedene Zoophile in der Öffentlichkeit als „sexuelle Minderheit“, die vor Diskriminierung geschützt werden müsse (ZETA 2012). Wie weiter oben bereits zitiert, befürchtet ZETA: „Zoophile Menschen werden Angst haben müssen, dass sie gebrandmarkt werden.“ (ZETA 2012) Diese Selbstinszenierung schafft moralische Ressourcen gerade in einer radikal liberalen Öffentlichkeit. Im gegenwärtigen Diskurs eine Position entgegen der gängigen Behauptung der qualitativen Unnatürlichkeit zu entwickeln, ist zumindest mutig. In der Stellungnahme von ZETA wird die Artwidrigkeit in Frage gestellt: „Die Formulierung des ,Sodomie‘-Verbots basiert auf Annahmen, die als wissenschaftlich und empirisch widerlegt betrachtet werden können. So sind sexuelle Kontakte zwischen verschiedenen Arten keineswegs ,artwidriges Verhalten‘, wie es das vorgesehene Gesetz unterstellt, sondern kommen in der Natur regelmäßig vor. Forscher wie der Evolutionsbiologe Prof. Michael Arnold von der University of Georgia in Athens sind sogar der Überzeugung, dass Geschlechtsverkehr zwischen verschiedenen Arten ein relevanter Aspekt der Evolution ist. Dass einige Individuen einer Art sich zu anderen Arten sexuell hingezogen
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fühlen, mag für die anderen Individuen dieser Art zwar ‚widerlich‘ oder ‚ekelhaft‘ sein, doch unnatürlich oder gar artwidrig ist dieses Verhalten nicht.“ (ZETA 2012)
Wie auch immer die Frage nach der Natürlichkeit beantwortet wird: Genetische und qualitative Unnatürlichkeit kann niemals ein Gesetz begründen. Das gilt sowohl für artwidriges Verhalten von Menschen, als auch für den Versuch der Unterstützer/-innen des Verbotes, eine klare Abgrenzungslinie zwischen Mensch und Tier zu ziehen. Aus der Definition von Zoophilie als natürlich oder unnatürlich lässt sich keinesfalls eine juristische oder ethische Konsequenz ableiten, weil Natürlichkeit kein ethischer oder rechtlicher Wert ist. Hormonelle Verhütung z.B. ist zumindest ähnlich „unnatürlich“, ein Gesetz gegen diese zum Schutz der Natürlichkeit gälte aber in keiner Weise als legitim. Oder mit einem Beispiel von Volker Sommer: „Beim ‚Zurück zur Natur‘ bleibe ich in genau dem ethischen Gemischtwarenladen, den mir das Studium von Menschen eröffnet. Manches Affenverhalten erscheint sympathisch: wie sie einander umkraulen und ihre Kleinen betütteln. Anderes wirkt grausam, etwa wenn Affen ihre kleinen und großen Artgenossen umbringen. Aus der Naturbetrachtung lassen sich je nach Belieben Vorbilder oder abschreckende Beispiele basteln.“ (Sommer 2013)
Tiere vor unnatürlichem Verhalten zu schützen, müsste auf ganz anderen Ebenen diskutiert werden, insbesondere in einer Kultur ohne eindeutiges Qualzuchtverbot und mit erlaubten Tierversuchen, in der Pudel Pirouetten auf den Hinterpfoten drehen, Tiger im Zoo leben, Hühner in Legebatterien sitzen. Beim Thema Sex spielen die Gemüter verrückt, weil die Nähe zum Tier hier viel „näher“ erscheint als beim Verzehr oder in der Unterhaltung. Zoophile werden zum Sündenbock einer tierfeindlichen Moral und gesellschaftlichen Praxis. Es mag der verlorene Kontakt zum Tier sein, der im Phänomen Tierliebe durchschimmert. „Es scheint, dass der Mensch den verlorenen Kontakt zum Tier neu sucht, seitdem es aus seiner Alltagswelt größtenteils verbannt wurde. Denn mit der Urbanisierung und dem Aufkommen der bürgerlichen Privatsphäre im frühen 19. Jahrhundert breitete sich eine ausgeprägte Heimtierkultur aus. Tierhaltung aus dem Motiv der Tierfreundschaft hatte es zuvor nur als höfische Schoßtierhaltung gegeben.“ (Stephany 2008: 10)
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D AS M ENSCH -T IER -V ERHÄLTNIS IN DER Z OOPHILIE -D EBATTE
Die analysierten Argumente, die das Tierwohl in den Vordergrund rücken, scheinen nach eingehender Prüfung vorgeschoben. Was bleibt, ist die Zuschreibung von Unnatürlichkeit, Widrigkeit und Abartigkeit. Die wohl deutlichste und einzige direkte Formulierung dieser Verbots-Motivation in der Plenardebatte im Bundestag stammt von Hans-Michael Goldmann (FDP): „Ich meine, wir sollten uns wenigstens dahin gehend einig sein, dass derjenige, der ein Tier für seine abartigen sexuellen Neigungen missbraucht […] bestraft werden soll. Das muss verboten sein. Das hat nichts mit der Liebe zu einem Tier zu tun.“ (Bundestag, 13.12.2012: 26362)
Dafür gab es zwar Beifall von den Abgeordneten der FDP, aber sonst schien sich keine Fraktion zu trauen, diese Argumentation aufzugreifen. Ein Grund ist sicherlich die Kenntnis der Grundlagen des deutschen Rechtssystems zumindest seitens einiger Abgeordneter. In der Verfassung der BRD sind moralische Setzungen, die das individuelle Verhalten einschränken, solange es gegen kein Recht verstößt, nicht zulässig. Dementsprechend sind auch Verbote anderer sexueller Praktiken, die gegen das Sittenempfinden sogar der Mehrheit verstoßen, wie z.B. SM oder Gruppensex, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Um gegen Zoophilie vorzugehen, wird die Narration von sexuell gequälten Tieren auf der einen Seite und der einer tierfreundlichen Gesellschaft auf der anderen als Konsensfiktion aufrechterhalten. Darauf ein Gesetz begründen zu wollen, zeigt die Macht des Diskurses, aber auch wie wenig sich die Abgeordneten mit Fakten auseinandersetzen. Es geht also um einen Abgrenzungskampf: „Liebe“ als Liebe zum Tier ist im Diskurs etwas Animalisches. Dem „aufgeklärten“ Blick auf Liebe als selbstbestimmtem, vernünftigen, im Kantischen Sinne freiwilligen Akt der Zustimmung widerspricht das. Liebe unter Menschen wird als „sauber“ und „frei“ dargestellt, Liebe unter (und demnach auch: mit) Tieren als triebhaft, ekelig und unfrei konnotiert. „Ilse Aigners Gesetz, das Sodomie nun wieder strafbar macht, ist so gesehen auf der Höhe unserer Sexualmoral: Sexualität ist – um eine alte Kantsche Formulierung zu präzisieren – der gegenseitige Gebrauch der Sexualorgane unter artikulationsfähigen Diskursteilnehmern.“ (Mangold 2012)
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Nicht-sexuelle Beziehungen zu Tieren werden allerdings als „normal“ und „natürlich“ begriffen, obwohl diese der „Natur“ sowohl des Menschen als auch des Tieres nicht mehr oder weniger zu widersprechen scheinen als nicht-sexuelle Verbindungen. Sexualität zudem rein auf körperliche Akte, oder noch konkreter auf den Akt der Penetration zu beschränken, scheint auf sozialer und psychologischer Ebene wenig überzeugend. Tiere vor artwidrigem Verhalten zu schützen, müsste demnach konsequent gedacht auch Liebes- und Freundschaftsbeziehungen zum Menschen beinhalten, die zwar nicht sexuell sind, aber eine „unnatürliche“ Nähe zum Menschen darstellen. In der Konsequenz der aufgeführten Argumente sind auch diese Beziehungen artwidrig und unfreiwillig. Diese jedoch gelten nicht als Beleg für die Notwendigkeit einer klaren Grenzlinie. Menschen, die ihr Tier unkörperlich lieben, werden nicht bestraft, sondern maximal belächelt: „Menschen, die um ein Tier trauern, erleben jedoch oft Ignoranz oder Ablehnung ihrem Schmerz gegenüber. ‚Es gibt Schlimmeres, es ist doch nur ein Tier‘, sagen manche, andere: ‚Kauf Dir ein Neues‘.“ (WDR5 2012)
Im Diskurs heute sind starke Motive der Metaphern aus der biblischen Geschichte von Sodom und Gomorrha neu aufgelegt. Statt einem strafenden Gott sehen sich Zoophile heute einer Rechtsprechung gegenüber, die mit der Formulierung eines Tierschutzgesetzes die fehlende Distinktionslinie zwischen Mensch und Tier auf dem Rücken einzelner austrägt. Die Zerstörung Sodoms durch Gott kann als Metapher für den Untergang einer Kultur gelesen werden, die auf Grund ihres Verhältnisses zum Tierischen, also zum „Natürlichen“, vernichtet wurde. Diese Angst vor dem Untergang des Menschlichen durch die zoophile Nähe zum Tier spiegelt auch der Diskurs um das Verbot wieder: Vom „Untergang der Kultur“ ist die Rede und von „Widernatürlichkeit“. „[Sodomie] ist nichts anderes als das Zeichen einer untergehenden Kultur.“ (Kommentar unter FR online, 06.02.2012) Lösungsvorschläge hagelt es in den Kommentarzeilen der Internetforen: „Diese perversen Typen sollte der Arzt in die geschlossene Anstalt stecken.“ Auf dem diskursiven Schlachtfeld findet sich kein stichhaltiges Argument für das Verbot von Zoophilie unter Tierschutzaspekten. Besonders Menschen mit intensiven Kontakten zu Tieren, so eine mögliche These, verwehren sich dieser Diskussion scheinbar und reagieren mit starker Abwehr. Die Diskursverengung durch Tabuisierung und die Stellvertreterfunktion des Themas sollten reflektiert werden. Zoophile Neigungen als Sonderform der gängigen Mensch-Tier-Beziehungen gesellschaftlich in den Blick zu nehmen, um das Verhältnis des Menschen zur Natur zu beschreiben, muss sicherlich offener, weniger emotionalisiert und skandalisiert geschehen.
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[8]
„G RUNDRECHTE
FÜR
M ENSCHENAFFEN !“
So lautet eine der prominentesten gegenwärtigen Forderungen der akademischen Tierrechtsbewegung. Tierethik als Teil der Bioethik befasst sich mit der Ermittlung des ethischen Status von Tieren (und Menschen). Besonders in Abgrenzung zu den genannten Argumenten für und gegen Zoophilie lassen sich die Argumente für und gegen die Forderung nach Tierrechten oder nach der Anerkennung der Tierwürde fruchtbar analysieren. Aus diesem Kontrast lässt sich ein umfassendes Bild der Mensch-Tier-Beziehung zu Tage fördern. Die politische Tierrechtsbewegung und die akademische Disziplin der Tierethik entwickelten sich verstärkt vor dem Hintergrund der industrialisierten und technisierten Tiernutzung und haben sich bis heute als einflussreiche Teildisziplin etabliert, so Otterstedt und Rodenberger: „So fand ein Paradigmenwechsel statt, der heute irreversibel scheint, auch wenn er noch lange nicht die volle Breite des wissenschaftlichen Diskurses erfasst hat. Kein Wissenschaftler kann heute mehr unwidersprochen behaupten, dass das Tier keinen Eigenstand, keinen eigenen Wert, keine Individualität und keine vielschichtige, höchst komplexe Beziehung zum Menschen besitzt.“ (Otterstedt/Rosenberger 2009)
Auch Adorno und Horkheimer behaupten: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus.“ (Adorno/Horkheimer 1986: 262). Da lohnt ein prüfender Blick in die Geschichte der philosophischen Tierrechtsdebatten: Die ambivalente Beziehung zwischen Mensch und Tier besonders auf rechtlicher Ebene kennzeichnete bis ins 20. Jahrhundert einige historische Momente. Stephany behauptet, es gebe einen historischen Verlust der Nähe zum Tier durch Aufklärung und Industrialisierung, denn „die Aufklärung entzauberte die Tierwelt und befreite sie von der jenseitigen Symbolfunktion, die sie in traditionellen Gesellschaften hatte, wenn sie in Animismus und Mythologie als schicksalsmächtig, oder in Religionen als Repräsentanten der Gottheit oder der Gegenmacht als heilig oder dämonisch angesehen wurde.“ (Stephany 2008: 7)
Erst mit dieser kulturellen Distanz zum Tier veränderte sich das Verhältnis des Menschen zum Tier grundsätzlich und wurde zu einer zunehmend asymmetrischen Beziehung. Dem entgegen wurde in der christlichen Tradition die Sonderstellung des Menschen hervorgehoben, die sich durch seine Gottebenbildlichkeit begründete. Und seit René Descartes wird die Tradition der Sonderstellung rationalistisch begründet (s.o.). In dieser Tradition stehen auch aktuell sowohl bei
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Hugo Grotius, Christian Thomasius und Samuel von Pufendorf als auch unter den Kontraktualisten/-innen Tiere außerhalb des Rechts. Die fehlende Begabung zu vernünftigem Denken stelle die Tiere zwangsläufig neben das Recht, da sich dieses in der Theorie aus vernünftigen Auseinandersetzungen unter vernunftbegabten Wesen ergibt. Dass allerdings diese Trennungslinien noch Gültigkeit besitzen wird von denjenigen Philosophen/-innen bezweifelt, die Rechte für Tiere fordern. Die philosophischen Debatten zur Begründung von Tierrechten und damit der Aufwertung des Tieres gegenüber dem Menschen, deren Einfluss an anderer Stelle untersucht wird, kann in zwei Stränge geteilt werden: Der Utilitarismus umgeht die Notwendigkeit einer Definition des Menschen gegenüber dem Tier, um die Sonderstellung des Menschen qua Vernunft oder Kultur obsolet zu machen. Die Definition des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier ist nicht nötig, da als einzig relevantes moralisches Kriterium die Leidensfähigkeit und/oder die Interessen von einzelnen Wesen angesehen werden. Der eigentliche Tierrechtsansatz kann auf die Definition des intrinsischen Wertes des Tiers nicht verzichten, weil sie eben aus den Gemeinsamkeiten die Sonderstellung des Menschen angreift und maximal graduelle Unterschiede zwischen Mensch und Tier gelten lässt. Dem utilitaristischen Ansatz folgen Peter Singer und Paola Cavalieri mit der titelgebenden Forderung der Initiative „Great Ape Project“, die 2011 den Ethikpreis der Giordano-Bruno-Stiftung gewann. Die politische Forderung der Initiative fasst Peter Singer zusammen: „Mit dem Great Ape Project fordern wir Grundrechte, die bisher Menschen vorbehalten sind, auch für Menschenaffen. Das heißt: das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und ein Verbot von Folter. Wir wollen zum ersten Mal einem nichtmenschlichen Wesen solche Grundrechte geben, um so eine Brücke zwischen Menschen und Tieren zu schlagen. Wir fangen mit Menschenaffen an, weil sie so eng mit uns verwandt sind. Aber was noch wichtiger ist: Bei ihnen haben wir sehr viele Beweise, dass sie vernünftige und fühlende Tiere sind, dass sie ein Selbstbewusstsein besitzen, dass sie Wünsche für die Zukunft haben. Wenn so eine, ich möchte sagen: ,Person‘ keine Grundrechte hat, wie können wir dann rechtfertigen, dass alle Menschen Grundrechte haben?“ (Singer 2011)
Einerseits wird die Grenze zwischen Mensch und Tier faktisch aufgeweicht: Singer schreibt Menschenaffen weit höhere Intelligenz zu als „geistig behinderten“ Menschen. Andererseits wird die Grenze als nichtig erklärt: Singer argumentiert, dass Denken oder die Fähigkeit zu denken in unseren moralischen Urteilen keine Rolle spielen dürfe. Auch ein Koma-Patient oder ein Säugling hätten schließlich moralische Rechte. Hoch entwickelte Affen würden allerdings gegenwärtig wie
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Gegenstände behandelt. Aus der Existenz von Interessen leitet er das Recht auf Grundrechte ab. Die zunächst eigentümlich klingende Forderung nach einem Personenstatus für Affen bekommt vermehrt wissenschaftliche Unterstützung sowohl seitens der Biologie und Verhaltensforschung als auch z.B. von der Group for Society and Animals Studies (GSA) an der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Birgit Pfau-Effinger. Im akademischen und vornehmlich philosophischen Diskurs, in dem die Tierrechtsdiskussion hauptsächlich geführt wird, ist Peter Singer sicherlich einer der prominentesten Vertreter der Tierrechte, nicht zuletzt aufgrund seiner sehr polarisierenden Vergleiche. Im deutschsprachigen Raum weniger bekannt – außer in der Tierrechtsbewegung selbst – ist Tom Regans umfassendes rechtsphilosophisches Konzept für Tierrechte. Er folgt dem Tierrechtsansatz, der in der Schweiz und Neuseeland soweit verwirklicht ist, dass bereits an Individualrechten für Tiere gearbeitet bzw. die Würde der Kreatur anerkannt wird. Die Unterschiede der philosophischen Theorien basiert darauf, ob grundlegende Unterschiede zwischen Mensch und Tier aufgekündigt werden oder die Unterschiede, die nach eingehender Prüfung bestehen bleiben, zu rechtlich und moralisch irrelevanten Eigenschaften erklärt werden. Dieser zweite Ansatz lässt sich noch differenzieren in Thesen der Tierwürde und Konzepte von Rechtstheorien. Wie bereits erwähnt, umfasst der Begriff der Würde kein einheitliches Konzept, sondern vielmehr eine normative Setzung zur Anerkennung der Rechte aller Menschen. Die relevanten mit der Würde gesetzten Kriterien sind Unabwägbarkeit, Unteilbarkeit und Absolutheit. Dem zufolge soll Würde niemals gegen ein anderes Rechtsgut abgewogen werden können. Darin besteht ein grundlegender Widerspruch zum Utilitarismus. Dem Konzept der Würde entspricht auch der Grundsatz des Grundgesetzes. Die Forderung nach einer Verankerung der Tierwürde wird von Verfassungsrechtler/-innen mit der Begründung verhindert, dass vor allem die ideologische Erhöhung des Tiers auf das Niveau des Menschen automatisch zu einer Entwertung des Menschen führe. Tierwürde stehe dem gesellschaftlichen Konsens der Unantastbarkeit der Würde des Menschen diametral entgegen. Antispeziesisten/-innen argumentieren dagegen, diese Würde unangetastet zu lassen, aber auch andere Spezies in den Genuss der Unantastbarkeit aufnehmen zu wollen: „Das ist ein Missverständnis. Ich will die Würde menschlichen Lebens nicht senken. Ich möchte die Würde der Tiere erhöhen. Und ich glaube, dass es eine Gewähr dafür ist, dass wir uns auch anderen Menschen gegenüber besser verhalten, wenn wir Tiere in die Gemeinschaft der Wesen mit Rechten aufnehmen. Dann kann man beispielsweise nicht mehr sagen:
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Dieser Mensch ist nicht so vernünftig, wir können also schmerzhafte Forschungen an ihm vornehmen.“ (Singer 2011)
Diese Aufwertung ist mit gesellschaftlicher Realität kaum zu vereinen, spätestens wenn die Folge der Forderung, die Unabwägbarkeit der Tierwürde gegen die Menschenwürde, durchgesetzt werden sollte. Die Gleichsetzung von Tierleid mit dem Leid von Menschen wie z.B. auf Werbeplakaten von PETA, auf denen neben Legehennen KZ-Häftlinge abgebildet waren, würde normalisiert werden. Durch diese Gegenüberstellung werden Verbrechen relativiert. Aus Perspektive konsequenter Antispeziezisten/-innen stellt sich auch die Shoa zahlenmäßig als nur relativ dramatisch zur Massentierhaltung und Schlachthöfen dar: „Zwischen 1938 und 1945 starben zwölf Millionen Menschen im Holocaust. Genauso viele Tiere werden für den menschlichen Verzehr jede Stunde in Europa getötet“ (PETAAnzeigentext). Die Anerkennung der Würde müsste zudem zumindest grundlegende Rechte wie das Instrumentalisierungsverbot oder das Recht auf Freiheit einräumen. Ob nicht Tiere als Haustiere schon instrumentalisiert sind, wäre zu diskutieren. Die Schlüsselfrage zum Recht auf Freiheit kann hier nur benannt, aber nicht beantwortet werden: „Das Recht auf Freiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit gehen in der Lebensrealität der meisten Tiere schlicht nicht zusammen. Erst recht nicht mit dem Recht auf Reproduktion, die letztlich die stärkste Triebfeder tierischen Lebens ist.“ (Werning 2012)
„Würde“ würde zur Leerformel verfallen. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wird von den Tierrechtstheoretikern/-innen als obsolet erklärt, denn auf welchen Eigenschaften der Unterschied auch basiert, es wird immer ein Mensch gefunden werden, dem diese fehlt. Menschenwürde aber will ja einen Wert jedes einzelnen Menschen implementieren, unabhängig von Zustand und Fähigkeiten. Die Anerkennung der Tierwürde soll nach Ansicht von Tierschutzvereinen über das hinausreichen, was im Grundgesetz bereits verankert ist. Als positiver Bezugspunkt wird häufig das Tierrecht der Schweiz angeführt. Tiere werden darin auch vor „menschlichen Eingriffen in ihre artgemäße Selbstentfaltung (Integrität)“ geschützt und „als Beispiel für eine Missachtung der Tierwürde nennt das Tierschutzgesetz [der Schweiz; Anm.d.V.] tiefgreifende Eingriffe in ihr Erscheinungsbild und ihre Fähigkeiten, Erniedrigungen und übermäßige Instrumentalisierungen“ (Goetschel 2009: 320).
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Demnach wären fast alle Tierhaltungen nach gegenwärtigem Standard unzulässig. Auch seitens der Kunst und Kultur etabliert sich ein Diskurs über Tiere und deren Kultur. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung antwortet die künstlerische Leiterin der Documenta 2012, Christov-Bakargiev, auf die Frage nach einem fundamentalen Unterschied zwischen Frau und Hund: „Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Frauen und Hunden oder zwischen Männern und Hunden. Auch nicht zwischen Hunden und den Atomen, die meinen Armreif bilden. Ich denke, alles hat seine Kultur. Die kulturelle Produktion der Tomatenpflanze ist die Tomate.“ (Christov-Bakargiev 2012)
Die Folge der konsequenten Gleichsetzung von Mensch und Tier wird in dieser Überspitzung bereits erwähnt.
[9]
F AZIT
Indem Tierrechtler/-innen ausschließlich Menschen die Möglichkeit und daraus entstehend die Pflicht zu einem moralisch korrekten Umgang mit seiner Umwelt zuspricht, überhöhen sie den Menschen als etwas über dem Tier stehendes. Sodomie interessiert vor allem Juristen/-innen, weniger Philosophen/-innen. Tierrechte dagegen interessieren vermehrt Philosophen/-innen, nicht besonders die Juristen/innen. Im gegenwärtigen normalistischen System sind Juristen/-innen damit beauftragt, verbleibende Normgrenzen auch normativ zu sichern, Philosophen/-innen dagegen verfolgen die Absicht, eben diese Grenzen in Frage zu stellen. Die Philosophie kämpft damit für und um sich selbst sowie gegen die Erklärung ihrer Irrelevanz, auch im akademischen Kontext der unternehmerischen Hochschule profiliert sie sich maßgeblich als sogenannte angewandte Ethik. Die Forderung nach Berücksichtigung der Tierrechte wird – wie gezeigt werden konnte – auch in der Sodomiedebatte vorangetrieben. Allerdings nicht, um die Position von Mensch und Tier anzugleichen, sondern um eben ihre Unterschiedlichkeit und Unterscheidbarkeit zu implementieren, zu festigen und zu verteidigen. Zudem kann die Tierrechtsbewegung hier wie sonst selten zu einem Kampf emotional mobilisieren – sogar Schlachter/-innen und Karnivoren/-innen reihen sich gegen Zoophile ein. Die Zustimmung ist gewiss. Triebe als Überbleibsel der überwundenen natürlichen Tierhaftigkeit sind positiv wie negativ konstatierbar. Die Natur hält für jedwede Position ein Beispiel bereit – Zoophile berufen sich auf sie, deren Gegner ebenfalls. Triebe werden zu Symbolen von Echtheit, Unverfälschtheit und damit Natürlichkeit, je mehr die von sich entfremdeten Menschen der Moderne
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einen positiven Bezug zur Natur suchen. Dann finden sie sich im Bild des Tieres als Tier wieder. Nach wie vor sind in der Analyse der neoevolutionären Kulturmuster Erkenntnispotentiale zu entdecken. Diese Form der Kulturkritik reflektiert die Gegenwart. Die anthropozentrische Sicht, die von den HAS unterstellt werden, liegen beiden Themen – Zoophilie und Tierrechten – zu Grunde, auch hinter ganz unterschiedlichen Argumenten: Die Zoophilie-Debatte wird nur von – potenziellen – Täter/-innen, eben den Menschen, geführt. Die Tierrechte werden ebenfalls von Menschen gefordert. Die Implementierung von Rechten für Tiere bedient sich an zugeschriebenen Interessen der Tiere, die wir nur aufgrund der von Menschen angenommenen Motivationen interpretieren. Die Sache mit der „Zustimmung“ ist auch insofern interessant, als sie die Dinge automatisch auf den Menschen hin perspektiviert. Nicht zustimmen können ja per Gesetz auch Kinder, Berauschte oder psychisch Kranke. Die Rechtsprechung ordnet nun Tiere ebenfalls an dieser Schwelle ein. Das wiederum hat den paradoxen und ungewollten Effekt, die Grenze zwischen Mensch und Tier weiter zu verwischen. Und wer wollte dieses Kriterium veranschlagen, wenn es um Tierversuche, Schlachthöfe und besonders auch um gequält-verhätschelte Sofadackel und Schmusekatzen geht, die ja in der Regel ihrem Schicksal auch nicht zustimmen? Konsistenzprüfungen der Argumentationsmuster des Tierschutzes sind zu vermeiden, die Definition des Menschen in Abgrenzung zum Tier ist nicht Juristen/-innen zu überlassen. Und vor allem: Die Natürlichkeit der Natur ist nicht natürlich.
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Vom Fortschritt zum Überleben der Art – Anmerkungen zur Geschichtssemantik des populären Neoevolutionismus F ABIAN D EUS
[1] Fragen der Genese und Zukunftserwartung von Gesellschaften spielen in kulturellen Selbstdeutungen der Menschen seit langem eine zentrale Rolle. Seit die bis heute präsenten Grundnarrationen etabliert wurden, die sich in einem Netz um die ‚großen‘ Geschichts- und Erwartungsbegriffe wie Fortschritt, Wachstum, Zivilisation oder Aufklärung aufspannen, greift man in Deutungsversuchen auf Sinngehalte beiderseits der lange tradierten ‚Grenze‘ zwischen Kultur und Natur zurück: Der Begriff Fortschritt, um den es hier vor allem gehen soll, stellt etwa ein Deutungsmuster bereit, das schon bald nach der Etablierung der Evolutionstheorie ganz selbstverständlich auch zur Erklärung des Entwicklungsganges biologischer Arten im Speziellen (etwa mit Vorstellungen der Gerichtetheit hin zu zunehmender Größe oder innerer Komplexität der Individuen) herangezogen wird und auch eine Richtung in der Naturgeschichte überhaupt (‚vom Einzeller bis zum Menschen‘) erkenn- und erklärbar macht. In der ‚Gegenrichtung‘ kann auch der Evolutionsgedanke auf eine reiche Geschichte der Anwendungen im politisch-sozialen Bereich zurückblicken.1 In beiden Bereichen ist es den Erklärungen gemein,
1
Zur Geschichte des Fortschrittsbegriffes in der Biologie vgl. Töpfer 2010. Den Entwicklungs- und Evolutionsgedanken im politisch-sozialen Bereich umreißt Wieland 1972-1997. Weiler 2006 stellt den Fortschrittsgedanken in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts dar.
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dass sie Einzelentwicklungen in einem übergeordneten Rahmen verortbar machen, dass sie ihnen als Elemente in einem Gesamtprozess Sinn verleihen. So nimmt der Fortschrittsgedanke in den klassischen Übertragungsbewegungen von Geschichtssemantiken zwischen Biologie und Sozialwissenschaften eine Schlüsselstellung ein: Oft stellte gerade dieser Begriff die Einheit von verschiedenen Einzelentwicklungen her und sorgt für eine universale, quasi-geschichtsphilosophische Positionierung. Fortschritt konnte so einerseits zwischen verschiedenen Wissenschaften und andererseits zwischen akademischer und alltäglicher Sphäre eine wichtige Scharnierstelle besetzten. Diese grundlegende Eigenschaft des Fortschritts ist im ideologischen Gesamthaushalt der Gegenwart hingegen offenbar zumindest fraglich geworden. Die Zweifelhaftigkeit des Fortschrittsgedankens ist für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach konstatiert und analysiert worden und wird zumeist an die Erfahrungen der großen Zäsuren in der Mitte des Jahrhunderts gekoppelt. Dies ist als allgemeiner begriffsgeschichtlicher Befund fraglich. So konstatiert etwa Benjamin Herzog eine „von der Realgeschichte scheinbar unbeeinflussten Durchläufigkeit“ (Herzog 2003, S. 219) des Begriffs und lenkt den Fokus dafür stärker auf das „Auseinandertreten von Erfahrung und Erwartung im Erleben der Wirklichkeit“, das den Begriff „[…] mit Spaltung [bedroht]. Der Fortschritt, an den man glauben kann und der, den man faktisch zu beobachten hat, treten semantisch auseinander, letzterer verliert offensichtlich den Bedeutungsgehalt des ersteren. Damit sind die strukturellen Vorbedingungen einer Begriffskrise gegeben, in der allgemeiner Sprachgebrauch und ‚eigentlich gemeinten‘ Sache auseinander fallen.“ (Herzog 2003, S. 220)2
Folge ist der Verlust der Universalität und (damit einhergehend) der geschichtsphilosophischen Dimension für die Verwendungen der Kategorie in der jungen Bundesrepublik: „Fortschritt verliert seinen geschichtlichen Charakter und im gleichen Zusammenhang streift die Geschichte ihren gerichteten Bewegungscharakter ab“ (Herzog 2003, S. 224). Diese Begriffskrise hält (in veränderter Form) bis in die Gegenwart an. Für den allgemeinen Sprachgebrauch lässt sich auf rein quantitativer Ebene jedenfalls (durchaus in Übereinstimmung mit den eben geschilderten Befunden) feststellen, dass der Wortkörper gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine größte Konjunktur hat, aber zum Jahrtausendwechsel hin deutlich seltener verwendet wird. Der Wortverlauf im Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der
2
Eigene Hervorhebung.
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deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS) weist für den Ausdruck Fortschritt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vor allem im Bereich der journalistischen Texte) einen deutlichen Anstieg der Verwendungshäufigkeit auf, der in einem absoluten Höhepunkt in der Mitte der 1970er Jahre gipfelt. Es ist nicht leicht, aus solchen quantitativen Erhebungen belastbare Aussagen über pragmatische Gebrauchsaspekte abzuleiten. Aus der reinen Häufigkeit des Gebrauchs eines Ausdrucks lässt sich nicht ohne weiteres auf das ‚Wie‘ des Gebrauches schließen. Im Falle des Fortschritts lässt sich aber in jedem Falle vermuten, dass die besondere Konjunktur des Ausdrucks in den 1970er Jahren gerade nicht eine besondere Popularität des Begriffes in dieser Zeit indiziert. Ganz im Gegenteil drängt sich die Vermutung auf, dass gerade die zunehmende Fraglichkeit des ungebrochenen Fortschrittsglaubens in dieser Zeit etwa durch die gerade entdeckte ökologische Frage, durch eine politisch und sozial im Umbruch befindliche Lebenswelt und durch die grundlegend erschütterte Erwartung des nie endenden ökonomischen Wachstums3 und der daran gekoppelten unaufhörlich steigenden Lebensqualität die Ursache des ansteigenden Gebrauchs des Ausdrucks darstellt. Es ist hier plausibel anzunehmen, dass gerade die Zweifelhaftigkeit des Begriffes die Ursache für zunehmende Thematisierungen und so auch für den quantitativen Anstieg der Verwendung des Ausdrucks in den 1970er Jahren darstellt. Wortverlauf „Fortschritt“ im DWDS-Korpus
1600 1400 1200 1000 800
Gebrauchsliteratur
600
Zeitung
400 200
3
1990er
1980er
1970er
1960er
1950er
1940er
1930er
1920er
1910er
1900er
0
Zur Rolle des Begriffes ‚Wachstum‘ und der Wachstumskritik im aktuellen Diskurs vgl. den Beitrag von Luisa Fischer in diesem Band.
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Schauen wir uns die rein sprachliche Gestalt des Ausdrucks ‚Fortschritt‘ ein wenig genauer an: Auf der semantischen Ebene lässt sich für den Gebrauch des Ausdrucks zunächst eine recht große Bedeutungsvielfalt konstatieren. Rein quantitativ bleibt wohl eine Verwendungsweise dominant, in der der Ausdruck schlicht partikuläre, zumeist4 positiv bewertete Veränderungen bezeichnet, denen jede historische Dimension fehlt. Diese Fortschritte, meist im Plural auftretend, werden recht oft „erzielt“ oder „gemacht“. Eine längerfristige, über die jeweils involvierten Einzelereignisse hinausgehende Gerichtetheit des Prozesses lässt sich hier allerdings nicht erkennen. Dies ist aber schon der Fall, wenn mit dem Ausdruck die Gerichtetheit innerhalb einer abgegrenzten Domäne bezeichnet wird: Wenn z.B. vom technischen (medizinischen, wissenschaftlichen, sozialen …) Fortschritt die Rede ist, werden die jeweiligen Einzelfortschritte (Entdeckungen, Einführungen neuer Technologien …) bereits in einem übergeordneten Rahmen verortet: Eine neue Behandlungsmethode kann ein medizinischer Fortschritt sein, der medizinische Fortschritt ordnet so geartete Einzelfortschritte aber schon in einem übergreifenden, einheitlichen Entwicklungsprozess ein, der die vielfältigen Einzelfortschritte in einer einheitlichen Aufwärtsbewegung vereint. Fortschritt fungiert hier also nicht mehr als Attribut eines beschriebenen Prozesses, sondern er beschreibt den Gesamtprozess selbst. Fortschritt als universales, ‚quasigeschichtsphilosophisches‘ Grundprinzip ist dem nochmals übergeordnet. Die Vorstellung von einem universalen Fortschritt abstrahiert von den einzelnen Entwicklungen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen, und vereinigt diese zu einer einzelnen und einheitlichen Bewegung zum Besseren: Die Leistung des klassischen Fortschrittsbegriffs besteht so gerade darin, ein einheitliches Deutungsmuster bereitzustellen, das verschiedene Entwicklungen in Wissenschaft, Ökonomie, Moral, Kunst und Kultur usw. als Momente eines historischen Gesamtprozesses erklärt. Reinhart Koselleck, dessen einschlägige begriffsgeschichtliche Studien5 bis heute die erste Anlaufstelle zum
4
In den seltenen Fällen, in denen Prozesse, die als Fortschritt attribuiert werden, nicht selbstverständlich positiv gewertet werden, wird dieser Unterschied zur Grundbedeutung des Ausdrucks jeweils kontextuell erschlossen. Diese seltenen Ausnahmefälle stellen daher die Zugehörigkeit der positiven Wertung zur Bedeutung des Ausdrucks keinesfalls infrage.
5
Neben dem zentralen Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Koselleck und Meier 1972-1997) vgl. auch die Studie Fortschritt und Niedergang (Koselleck 1980). Darüber hinaus spielt der Fortschrittsbegriff eine wichtige Rolle in Kosellecks bekannter Studie zu Erwartungsraum und Erfahrungshorizont, in der Fortschritt als „erste[r] genuin geschichtliche[r] Begriff, der die zeitliche Differenz zwischen Erfahrung und
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Thema sind, fasst diese Eigenschaft des Fortschrittsbegriffs, „die Summe aller Einzelfortschritte in sich [zu bündeln]“ (Koselleck und Meier 1972-1997, S. 388) mit der Charakterisierung als Kollektivsingular: Erst durch diese Bündelung von verschiedensten Einzelprozessen erlangt der Begriff seine volle Bedeutung als geschichtlicher Perspektivbegriff. Und erst in dieser Gestalt wird Fortschritt die zentrale Kategorie einer spezifisch neuzeitlichen Vorstellung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Mit anderen Worten: Der Fortschritt „verselbstständigt sich [...] zum Fortschritt schlechthin, der zum Subjekt seiner selbst wird“ (Koselleck und Meier 1972-1997, S. 389).
[2] Zunächst bleibt es festzuhalten, dass der etablierte Fortschrittsglaube in der Gesellschaft und Kultur im neuhinzugetretenen Evolutionsgedanken aus der Biologie einen ‚verlässlichen Bündnispartner‘ gefunden hatte: Was für die Menschheitsgeschichte so unhinterfragbare Evidenz gewonnen hatte, die Vorstellung, dass die Geschichte der Menschheit ein aufstrebender Prozess ist, der, auch wenn kleinere (und bisweilen auch größere) Rückschläge immer einzurechnen sind, einen vorgezeichneten Weg von einfachen, ‚primitiven‘ Lebensformen und Gesellschaftsorganisationen hin zu stets zunehmender Vollkommenheit, Komplexität und Prosperität führt, ließ sich nun wohlbegründet und mit der starken Autorität der Wissenschaftlichkeit gesegnet, auch in der Geschichte der Natur beschreiben: Der Weg von der ‚Barbarei zur Zivilisation‘ gleicht dem ‚vom Einzeller zum Menschen‘. Wer wollte dem wiedersprechen, dass es sich bei beiden Prozessen um Höherentwicklungen handelt; dass auf beiden Seiten der Grenze zwischen Natur und Kultur eine Verbesserung und Perfektionierung zu erkennen ist? So kann es nicht überraschen, dass der Fortschrittsgedanke, als wohl wichtigster Stützpfeiler der modernen westlichen Geschichtsdeutung, schnell auch in der Biologie seine Vertreter gefunden hat:6 Darwin selbst blieb bekanntermaßen in der Frage der Interpretation evolutionärer Prozesse als Fortschritt eher reserviert bis skeptisch: Einerseits war Darwin, das lässt sich wohl festhalten, wenigstens insofern Kind seiner Zeit, und das bedeutet auch: Kind der britischen Fortschritts-
Erwartung auf einen einzigen Begriff gebracht hat“ analysiert wird (Koselleck 1989, S. 366). 6
Zum Fortschrittsgedanken bei Darwin im Speziellen wie in der Biologie allgemein vgl. Töpfer 2010.
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emphase des 19. Jahrhunderts, dass er darum bemüht war, dem Fortschrittsgedanken auch in seiner neuartigen Theorie der Entwicklung der Arten Rechnung zu tragen: Schon der Gedanke der natürlichen Selektion bringt es mit sich, dass die Arten einem Prozess der zunehmenden Anpassung und Spezialisierung unterliegen, und das heißt schnell auch: der zunehmenden Perfektionierung. Unterschiede zwischen einer vorhergehenden und einer nachfolgenden Art sind so gar nicht anders zu denken als als Vorteile im evolutionären Geschehen, und ergo als (wie auch immer präzisierte) Form der Höherentwicklung.7 In diesem Sinne muss wohl auch Darwins Rede von „höheren“ und „niedrigeren“ Arten bzw. Formen verstanden werden, die sich, obwohl Darwin selbst sich an einigen Stellen gegen diese Ausdrucksweise wendet,8 in seinem Werk an vielen Stellen findet. ‚Höher‘ ist eine Form also primär nur, weil sie zeitlich später als eine ‚niedrigere‘ auftritt. „Höher ist dann nicht ‚fortschrittlicher‘ oder ‚intelligenter‘ oder ‚moralischer‘, sondern einfach ‚entfernter verwandt‘ mit dem Anfang des Lebens“ (Lange 2012, S. 79). Die Reserviertheit Darwins gegenüber der Vorstellung eines sich aus der natürlichen Selektion ergebenen universalen Gesetzes des Fortschritts in der Natur gründet sich wohl vor allem darauf, dass ein allgemeingültiges Kriterium zur Erfassung und Unterscheidung von fortschrittlichen und rückständigen Verfasstheiten der Arten nicht leicht auszumachen ist: Auf das Kapitel über den Fortschritt in der Organisation lässt Darwin in der Entstehung der Arten direkt Überlegungen über die Erhaltung niederer Arten folgen: „Natürliche Zuchtwahl wirkt ausschließlich durch Erhaltung und Häufung solcher Abweichungen, welche dem Geschöpfe, das sie betreffen, unter den organischen und unorganischen Bedingungen des Lebens, welchen es in allen Perioden des Lebens ausgesetzt ist, nützlich sind. Das Endergebnis ist, dass jedes Geschöpf einer immer größeren Verbesserung im Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen entgegenstrebt. Diese Verbesserung führt unvermeidlich zu der stufenweisen Vervollkommnung der Organisation der Mehrzahl der über die ganze Erdoberfläche verbreiteten Wesen. Doch kommen wir hier auf einen sehr schwierigen Gegenstand: denn noch kein Naturforscher hat eine allgemein befriedigende Definition davon gegeben, was unter Vervollkommnung zu verstehen sei.“ (Darwin 1876, S. 146)
7
„Obgleich wir keine sichern Beweise für die Existenz einer eingebornen Neigung zur progressiven Entwicklung bei organischen Wesen haben, so folgt diese doch […] nothwendig der beständigen Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl.“ (Darwin 1876, S. 248)
8
Vgl. Töpfer 2010, S. 610.
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Die Frage eines geeigneten Kriteriums des Fortschritts gewinnt in der Diskussion in der Nachfolge Darwins schnell eine besondere Bedeutung. Verschiedene Vorschläge werden von Darwin selbst diskutiert, wobei ihm das „Maß der Differenzierung der verschiedenen Teile eines und desselben Tieres“ (Darwin 1876, S. 147) im Anschluss an Karl Ernst von Baer noch am plausibelsten erscheint. Ähnlich ambivalent ist Darwins Position zur Idee des Fortschritts in der Geschichte der Menschheit: Einerseits kennt Darwin wenig Zweifel an der Existenz von weiter entwickelten und rückständigen Gesellschaften, andererseits formuliert er auch hier Vorbehalte: „Wir müssen uns daran erinnern, dass Fortschritt keine unabänderliche Regel ist. Es ist äusserst schwer zu sagen, warum die eine civilisierte Nation emporsteigt, machtvoller wird und sich weiter verbreitet als eine andere; oder warum ein und dieselbe Nation zu einer Zeit mehr fortschreitet als zu einer andern.“ (Darwin 1875, S. 183)
Hier ist natürlich nicht der Ort für eine erschöpfende Erörterung der ohnehin höchst umstrittenen Frage nach der Stellung des Fortschrittsgedankens in Darwins Theorie. Zu untersuchen wäre beispielsweise, wieweit der öffentliche Sprachgebrauch Darwins (der ganz zweifellos als versierter und reflektierter ‚Diskurstaktiker‘ gelten kann) sich im Unterschied zu seinen ‚esoterischen‘ Schriften in der Fortschrittsfrage aus einem strategischen Resonanzkalkül bewusst an den hegemonialen Diskurs seiner Zeit annähert. Dem kann und soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Dazu besteht auch keine Notwendigkeit. Denn die Skepsis und Distanz, die Darwin beim Thema Fortschritt ja zweifellos an den Tag legt, werden im Laufe der weiteren Diskussion von vielen Vertretern der Deszendenztheorie ohnehin unumwunden fallen gelassen. Im Gegenteil werden nun gerade Versuche populär, die den Fortschritt in der Evolution ins Zentrum der Theorie rücken. Das Schulbeispiel hierfür ist stellt wohl der deutsche Zoologe Ernst Haeckel dar. Haeckel gilt in der Literatur vielfach als vielleicht wichtigster (deutschsprachiger) Popularisierer der darwinschen Gedanken, der diese aber gerade darin abändert (oder verfälscht?), dass er jede Vorsicht in der Frage des Fortschritts in der Evolution fallen lässt9: Allerdings resultiert auch bei Haeckel die Zielgerichtetheit der Evolution einzig und allein aus der natürlichen Selektion, die gerade die Merkmale bestehen lässt, die sich als die ‚besseren‘ oder ‚höheren‘ erwiesen haben (es handelt sich also, mit anderen Worten, stets um einen Fortschritt, der erst nur ex
9
Vgl. Lange 2012, S. 80.
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post festgestellt werden kann, indem sich eine bestimmte Ausprägung im Vergleich zu einer anderen im evolutionären Geschehen als überlegen herausgestellt hat).10 Haeckel versucht die so verstandene „Vervollkommnung“ der Organismen, die sich „in der gesammten individuellen und palaeontologischen Entwicklungsgeschichte und in der vergleichenden Anatomie offenbart“ (Haeckel 1866, S. 257), gar in einem ‚Fortschrittsgesetz‘ zu fassen.11 Den Fortschritt in der Natur hält Haeckel für so offensichtlich, dass aus seiner Evidenz qua theoretischer Verbundenheit mit der Selektionstheorie auf Gültigkeit der letzteren zurückgeschlossen werden kann.12 Im Unterschied zu Darwin fallen bei Haeckel vor allem zwei weitere Punkte ins Auge, weswegen er als typischer Vertreter des Fortschrittsdenkens in der Naturgeschichte eine zentrale Stellung einnimmt. Zudem finden sich hier die ersten Versuche, aus den Prinzipien der Evolutionslehre das System der Organismen als Stammbaum zu fassen (Haeckel 1866, S. CXLI), womit er eines der wohl wirkmächtigsten Bilder des Fortschritts in der Naturgeschichte geschaffen hat. Obwohl er im zweiten Band seiner Generellen Morphologie das gesamte Tier- und Pflanzenreich systematisch in Stammbäumen zu erfassen versucht, so ist es natürlich gerade der Stammbaum des Menschen, der denselben als Krone darstellt, der die passsende Bebilderung für den Fortschrittsgedanken in der Naturgeschichte abliefert.13
10 „Nun können wir aber in der Stammesgeschichte der Tiere und Pflanzen nirgends eine Zielstrebigkeit entdecken, sondern lediglich das notwendige Resultat des gewaltigen Kampfes ums Dasein, der als blinder Regulator, nicht als vorsehender Gott, die Umbildung der organischen Formen durch Wechselwirkung der Anpassungs- und Vererbungsgesetze bewirkt.“ (Haeckel o.J. [1899], S. 285) Die Problematik der Übersetzung der Metapher des ‚Kampfes ums Dasein‘ werden hier ausgeklammert. 11 Vgl. Haeckel 1866, S. 257, Kleeberg 2005, S. 143 und Töpfer 2010, S. 612 12 „[…] da wir überall die Thatsachen der Progression ebenso wie diejenigen der Divergenz vor Augen sehen, so können wir aus den ersteren, ebenso wie aus den letzteren, wiederum auf die Wahrheit der Selections-Theorie zurückschliessen.“ (Haeckel 1866, S. 257) 13 Gerade auch an der Ikonographie des Fortschrittsgedankens wird später die Kritik am Fortschritt in der Biologie ansetzten, so z.B. Stephen Gould, der an E.O. Wilson kritisiert, dass dieser sich „der ältesten Bilder aus der Vorstellungswelt der Fortschrittsgläubigen [bedient], wenn er die Richtung in der Geschichte des Lebens als Abfolge richtiggehender Zeitalter darstellt; dieses System benutzten in meiner Jugend fast alle populärwissenschaftlichen Werke und Lehrbücher, aber heute hat man es weitgehend aufgegeben (so glaube ich jedenfalls) [...]“ (Gould 1998, S. 46).
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Dazu kommt, dass Haeckel die seinerzeit weitverbreitete Engführung und Parallelisierung von Ontogenese und Phylogenese, also von der individuellen Entwicklung eines Organismus und der evolutionären Entwicklung von Arten prominent in einem Gesetz formuliert. Seine Biogenetische Grundregel ist insofern mit dem Fortschrittsdenken systematisch verbunden, als die Entwicklung eines Individuums über seine Lebensspanne, verstanden als Entfaltung von Anlagen und Vermögen, sich übertragen auf evolutionäre Prozesse kaum anders als als genereller Reifungsprozess bzw. als Entwicklung hin zu höchster Entfaltung lesen lässt.14 Der Naturforscher Haeckel räumt dem Fortschrittsgedanken also einen zentralen Platz in seinem Werk ein. Das begriffsgeschichtliche Interesse am Philosophen Haeckel begründet sich darüber hinaus in der Selbstverständlichkeit und Systematik, mit der er naturgeschichtliche Entwicklungsprinzipien aus dem (scheinbar) abgegrenzten Bereich des Natürlichen herauslöst: „Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch in seinem anthropozentrischen Größenwahn die ‚Weltgeschichte‘ zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und jederzeit ein höchstes moralisches Prinzip oder ein weiser Weltregent zu entdecken, der die Geschichte der Völker leitet? Die unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen (sic!) Zustand unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte nur lauten: nein! Die Geschichte der Zweige des Menschengeschlechts, die als Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben ‚ewigen, ehernen, großen Gesetzen‘ wie die Geschichte der ganzen organischen Welt, die seit Jahrmillionen die Erde bevölkert.“ (Haeckel o.J. [1899], S. 287)
Im Umfeld Haeckels und des Monistenbundes wird der moderne biologische Evolutionsgedanke zum ersten Mal zum integralen Element einer streng szientistischen, säkularen und fortschrittsoptimistischen Weltanschauung. Wie sich zeigen wird, beruht auch die neodarwinistische bzw. -evolutionistische Geschichtsauffassung im Kern auf der Engführung von evolutionär ausgedeuteter Naturgeschichte und Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. So selbstverständlich das große Gewicht des Fortschrittsdenkens in der monistischen Weltsicht aus der naturwissenschaftlich-evolutionären Grundüberzeugung zu entspringen scheint, so selbstverständ-
14 Georg Töpfer beschreibt (im Anschluss an Bernhard Roßlenbroich) die Parallelisierung von Onto- und Phylogenese als eine von drei „Historischen Wurzeln des biologischen Fortschrittsdenkens“ (Töpfer 2010, S. 607).
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lich wird im neoevolutionistischen Diskurs die Unvereinbarkeit des Fortschrittsbegriffs mit einer evolutionären Fundierung der Geschichtsbetrachtung erscheinen.
[3] Der Evolutionsbiologe und Geograf Jared Diamond hat mit Bestsellern wie Guns, Germs, and Steel: The Fates of Human Societies (dt. Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, Diamond 1998) oder Collapse: How Societies Choose to Fail or Succeed (dt. Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Diamond 2005) ein neues Genre etabliert: Das der neoevolutionistischen Sachbücher, die eine neue Deutung der Genese menschlicher Gesellschaften anbieten. Und dies mit unübersehbar großem Erfolg: Arm und Reich konnte sich nicht nur weit vorne auf den Bestsellerlisten platzieren, sondern brachte Diamond 1998 auch den Pulitzer-Preis ein. Sowohl Arm und Reich als auch Kollaps wurden verfilmt15 und sind inzwischen mehrfach neu aufgelegt worden. Der Erfolg von Diamond hat den Markt der populären Sachbücher so insbesondere für Autoren aus der Biologie weiter geöffnet und dem Neoevolutionismus einen neues Standardthema beschert: Die Menschheitsgeschichte gehört so inzwischen zum festen Kern derjenigen Themenkomplexe, in denen der Neodarwinismus der Gegenwart neugefundene Deutungsansprüche überaus erfolgreich geltend machen kann.16 Neben Jared Diamond finden sich inzwischen diverse weitere Autoren, die einen zumindest sehr ähnlichen Untersuchungs- und Erklärungsansatz vertreten. Im angelsächsischen Diskurs firmiert dieser Ansatz bisweilen unter dem Label ‚Biohistory‘: Erste einschlägige Veröffentlichungen finden sich bereits in den 1980ern, aber erst durch die angesprochenen Werke Diamonds gelang nur wenig später der größere Durchbruch. Einer dieser frühen Vertreter biohistorischer Geschichtsschreibung ist Arno Karlen. In einer Reihe von populärwissenschaftlichen Titeln prägt er die Konturen des Genres entscheidend mit. Von dem neuen Ansatz, dem sich Karlen verschreibt, erwartet er nicht weniger als „revolutionierende Entdeckungen“, wie
15 Guns, Germs, and Steel wurde 2005 als Dreiteiler von PBS verfilmt. 16 Weitere Bereiche, in denen die Deutungsmacht des Kulturwissenschaften erfolgreich angefochten werden, wären etwa die Themenkomplexe Schönheit und Ästhetik (siehe den Beitrag von Deus/Göcht in diesem Band), Sprache und Kommunikation oder Ethik und Moral, um nur die besonders augenfälligen Beispiele zu nennen.
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schon der Untertitel eines seiner Werke verrät.17 Das biohistorische Programm selbst ist hier recht überschaubar und schnell umrissen: Der Schlüssel zu einem besseren, ‚tieferen‘ Verständnis der Geschichte, und zwar der Naturgeschichte wie auch der Menschheits- bzw. Kulturgeschichte, findet sich – wen mag es wundern – in einer Perspektive, die historische Ereignisse und Prozesse als Folge und Ausdruck ökologischer und evolutionärer Notwendigkeiten dechiffriert: „Die Biohistorik befasst sich mit Individuen, Familien, Bevölkerungen und unserer Spezies im Zuge ihrer mit der Veränderung des Ökosystems einhergehenden evolutionären Fortentwicklung.“ (Karlen 1985, S. 12)
Reibungspunkte mit einem Großteil der etablierten Narrationen und Deutungsmuster der Geschichtserklärung werden schon hier ersichtlich; insbesondere müssen all jene Erklärungsmuster, die kulturelle Gründe für historische Prozesse heranziehen, bei biohistorischer Axiomatik in den Hintergrund treten. Hinter den vertrauten, aber fraglich gewordenen Erklärungsmustern auch der Geistes- oder Sozialgeschichte werden Dank der Fortschritte der empirischen Untersuchungsmethoden in Medizin, (Molekular-)Biologie, Paläontologie, Archäologie die ‚tatsächlich‘ wirksamen, ‚tieferliegenden‘ Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsverlaufs erkennbar: Unter der durch die etablierten Narrationen ausgemalten Oberfläche wird so die ‚deep history‘ des Menschen sichtbar, die von der ‚dünnen Haut der Zivilisation‘ kaum verdeckt werden kann. Die kulturelle Evolution der Gattung Mensch wird demjenigen verständlich, der die biologische Evolution von Gesellschaften und Kulturen erkennen kann. Menschheitsgeschichte wird Naturgeschichte. Ganz explizit formuliert Karlen, nicht gerade von Bescheidenheit geprägt, den Anspruch, mit dieser Heuristik nicht bloß eine weitere Stimme im großen Chor der Geschichtsinterpretationen hinzuzufügen, nicht nur vereinzelte Korrekturen an den etablierten Erklärungen hinzuzufügen, sondern das bisherige Geschichtsbild insgesamt grundlegend und radikal infrage zu stellen und die ‚wirklichen‘ Mechanismen der Menschheitsgeschichte darzulegen. Eines der wichtigsten Themen, deren Relevanz von der tradierten Geschichtsschreibung nach Karlen konsequent missachtet wurde, ist die historische Rolle von Krankheiten und Seuchen: In Nicht Wellington besiegt Napoleon bei Waterloo (Karlen 1985) wird das Programm der Biohistory entlang dieses Zugriffs aufgefächert: Beginnend auf der
17 Nicht Wellington besiegte Napoleon bei Waterloo. Die revolutionierenden Entdeckungen der Bio-Geschichtsforschung Karlen 1985.
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Ebene einzelner Individuen diskutiert der Autor die zahlreichen, mal erstzunehmenden, mal bestenfalls amüsanten Theorien und Vermutungen über Napoleon Bonapartes Todesumstände und den Einfluss seiner diversen (vermuteten) Krankheiten auf seine Handlungen und Fähigkeiten als politischer Führer und Schlachtenlenker (Wurde er Opfer einer langsamen Arsenvergiftung? Hat die ‚Grande Armée‘ die Schlacht bei Waterloo gar nur verloren, weil Napoleon, von einen schlimmen Hämorrhoidalleiden geplagt, handlungsunfähig wurde?).18 Dass hier also eine biohistorische Axiomatik schon auf der Ebene von einzelnen Individuen ansetzt, verdient es zumindest, kurz festgehalten zu werden: Denn um so eine fundamentale Relevanz von Krankheiten für historische Prozesse behaupten zu können, muss Karlen eine recht basale, um nicht zu sagen unreflektierte Vorstellung der Rolle von einzelnen Subjekten in der Geschichte voraussetzen: „Es wirkt einleuchtend, dass Wehwehchen oder Juckreize, die das Geschäfts- oder Liebesleben des Durchschnittsbürgers beeinträchtigen, bei Staatschefs zu historischen Kräften werden können.“ (Karlen 1985, S. 10)
So einfach kann es sein. Selbstredend wird die Rolle der Krankheit in der Geschichte nicht nur über den ‚Umweg‘ einzelner Subjekte untersucht. Ein größeres Erklärungspotenzial und eine größere Überzeugungskraft hat der Ansatz in der Untersuchung von Gesellschaften, die jeweils in ihrer Eingebundenheit in die umgebende Umwelt untersucht werden. Karlens biohistorischer Ansatz versteht sich so als dezidiert ökologische Herangehensweise: „Die Naturgeschichte der Pest und Syphilis zeigt, dass jeder Aspekt des Lebens irgendwie auf Gesundheit und Krankheit durchschlägt und dafür bestimmend ist, inwieweit der ein-
18 „Napoleon litt bereits als Endzwanziger unter Hämorrhoiden; die Beschwerden hielten bis zum Ende seiner militärischen Karriere an. [...] Am 17. Juni gewannen die Franzosen bei Ligny die Oberhand. Normalerweise hätte Napoleon aus seinem Vorteil flugs Kapital geschlagen, aber stattdessen lag er den größten Teil der Nacht, von Schmerzen geplagt, wach und erhob sich gegen acht Uhr morgens, erschöpft und geschwächt. Zum Entsetzten seiner Generäle gab er stundenlang nicht einen einzigen Befehl aus [...]. Wellington sagte später, Waterloo sei einer der knappsten Siege gewesen, von denen er wisse. Dass es überhaupt ein Sieg wurde, könnte man Napoleons Erschöpfung, Schmerzen und eingeschränkter Mobilität zuschreiben.“ (Karlen 1985, S. 17-18)
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zelne und die ganze Gesellschaft davon berührt werden. Die Vorgehensweise des Biohistorikers ist im wahrsten Sinne des Wortes ökologisch: Er spürt der Interaktion aller Wesen in einer sich wandelnden Umwelt nach.“ (Karlen 1985, S. 218)
Die historische Relevanz von Seuchen und Krankheiten wie auch ein primär ökologischer Zugriff werden in der Folge die Konturen des Genres weiter prägen. Insbesondere Jared Diamond greift die Rolle der Krankheit und Seuchen wieder auf und macht die ökologische Dimension gesellschaftlicher Entwicklungen zum Angelpunkt seiner Untersuchungen.
[4] Untersucht man die Schriften Diamonds im Hinblick auf den Fortschrittsbegriff, so kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass der Autor am Konzept selbst kaum interessiert ist: Der Ausdruck selbst taucht in den einschlägigen Texten nur äußerst selten auf, und wenn, dann zumeist in einer Verwendungsweise, die gerade nicht den Fortschritt als Geschichtsdeutungsmuster aufruft.19 Im Prolog zu Arm und Reich etwa distanziert sich Diamond vom universalen Fortschrittsversprechen: „[Man könnte fragen], ob nicht mit Ausdrücken wie ‚Zivilisation‘ und ‚Aufstieg der Zivilisation‘ stillschweigend unterstellt wird, Zivilisation sei etwas Positives, das Leben der Jäger und Sammler etwas Erbärmliches und die Geschichte der letzten 13.000 Jahre handle vom Fortschritt der Menschheit hin zu mehr Glück und Zufriedenheit. Um es ganz offen zu sagen: Ich unterstelle weder, dass Industrieländer ‚besser‘ sind als Stammesgesellschaften von Jägern und Sammlern, noch dass die Aufgabe der Jagd- und Sammelwirtschaft zugunsten eisengewappneter Staatlichkeit einen ‚Fortschritt‘ darstellt oder damit in der Vergangenheit eine Zunahme von Glück und Zufriedenheit unter den Menschen einherging.“ (Diamond 1998, S. 21-22)
Die zunehmende Herauslösung aus dem direkten Naturzusammenhang und die gesellschaftliche Entwicklung hin zur Zivilisation, also gerade Entwicklungen, die in der Vergangenheit als unbezweifelbare Belege für die Existenz des Fortschritts in der Geschichte herangezogen wurden, fungieren hier umgekehrt als Beleg der Unhaltbarkeit des Fortschrittsglaubens. Diamond kann sich darauf verlassen, dass das mit dem Fortschrittsgedanken verbundene Glücksversprechen bei seiner Leserschaft bereits so grundlegend infrage gestellt ist, dass eine Begründung seiner
19 Im englischen Originaltext ist es mit „progress“ kaum anders.
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Unhaltbarkeit gar nicht erforderlich ist. Und so ist es kein Spezifikum des neoevolutionistischen Diskurses, dass der Ausdruck Fortschritt nur noch in Anführungszeichen gebraucht werden kann. Eine vertiefende Untersuchung der sprachlichen Verwendung des Ausdrucks ist hier also recht unergiebig. Warum stellen Jared Diamond und die neoevolutionistische Geschichtsdeutung trotzdem in der jüngeren Geschichte des Fortschrittsbegriffs nicht lediglich eine weitere Fußnote dar, sondern schreiben vielmehr ein eigenständiges weiteres Kapitel? Es ist gerade umgekehrt die systematische Vakanz eines emphatischen Fortschritts in den neoevolutionistischen Texten, die das Interesse an der neoevolutionistischen Geschichtsdeutung begründet: Das Geschichtsmodell, das hier entworfen wird, bietet eine umfassende Erklärung für historische Fragestellungen, die gerade ohne die tradierten Muster der Höherentwicklung auskommt. Die Fraglichkeit und zunehmende Unplausibilität des Fortschrittsglaubens vor allem seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stellt so gesehen den diskursiven Hintergrund dar, der das Aufkommen und den Erfolg der neoevolutionistischen Deutung in jüngster Zeit erst plausibel erklärt. Denn spätestens seit den 1970er Jahren tauchen bekanntermaßen in verschiedenen Diskursbereichen immer mehr Bedrohungsszenarien auf, die den interdiskursiven Raum zunehmend dominieren und für Erwartung einer verbrieften historisch-gesellschaftlichen Entwicklung zum Besseren immer weniger Raum lassen. Allem voran stellt natürlich die neu entdeckte ökologische Frage den Glauben an den Fortschritt auf eine harte Probe. Gerade die sich stetig schneller vollziehende Entwicklung der Technik und der Industrie, die den Lebensstandard nicht nur einer kleinen Schicht von Profiteuren des Fortschritts, sondern von breiten gesellschaftlichen Schichten stetig steigen lässt und so zum Kernthema des Fortschrittsglaubens wird, steht nun in Frage. Denn unübersehbar wurden nun die Kehrseiten der Prozesse sichtbar, die zuvor als sichere Bank der Erwartung an eine bessere Zukunft gedient hatten. In anderen Bereichen ähnelten sich die Erfahrungen: Dass das Wirtschaftswachstum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entgegen der Erwartung nicht immer so weitergehen würde, wurde spätestens durch die ersten Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre klar. Kurz und zugespitzt gesagt: Statt Fortschrittserwartung wurde Krisenabwehr mehr und mehr das Gebot der Stunde. Es sollte bis hierhin ersichtlich geworden sein, dass die Frage des Verhältnisses von (rein biologisch-evolutionär verstandener) Naturgeschichte und der Kulturgeschichte des Menschen eine besondere Schnittstelle darstellt. Die einfachste Fassung dieses Verhältnisses bestünde in einer Reduktion der Kulturgeschichte auf die Naturgeschichte. Tatsächlich muss diese Vorstellung korrigiert werden: Die simple Gleichsetzung findet sich in der Tat im Diskurs bestenfalls recht selten,
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viel präsenter ist eine Präzisierung, bei der die Kulturgeschichte gewissermaßen aus der Naturgeschichte heraustritt, und die (wie auch immer spezifizierte) Kultur zur entscheidenden Triebfeder der Evolution des Menschen wird. Dieses Muster findet sich (in verschiedenen Abwandlungen) allenthalben; Unterschiede bestehen zunächst vor allem in der konkreten Bestimmung des Initialpunktes der Hervorbringung einer die biologische Determinierung transzendierenden Kultur des Menschen. Josef Reichholf beantwortet diese Frage schon im Titel seines Werkes Warum die Menschen sesshaft wurden (Reichholf 2008): Mit der Entwicklung des Ackerbaus und der sich daraus ergebenen Notwendigkeit, die alte umherziehende Lebensweise aufzugeben, wird ein ganz neuer Pfad eingeschlagen, den es vorher nie gegeben hatte: „Im Vorderen Orient wurde der Ackerbau erfunden. Mit ihm begann eine ganz neue Ära. Aus der Vorgeschichte wurde Geschichte, Kulturgeschichte. Alles, was vorher war, gehört zur Naturgeschichte. Erst mit dem Ackerbau löste sich der Mensch aus der Natur, in die er von Anfang an eingebunden war.“ (Reichholf 2008, S. 9)
Die Entstehung der Kultur ist daher für Reichholf nichts weniger als „[...] das größte Rätsel der Menschheit“ (Reichholf 2008, S. 11). Auch Jared Diamond stellt in Arm und Reich die besondere Relevanz der Entwicklung der Landwirtschaft heraus (Diamond 1998, S. 91ff). Der schon bekannte Arno Karlen legt den Schwerpunkt nur ein wenig anders, hier wird der Übergang von rein naturgewachsenen Stammesgruppen hin zu zunehmend kulturell festgelegten Gemeinschaften genannt: „Die längste Zeit in der Geschichte lebten die Menschen vermutlich als ein paar Dutzend bis ein paar Hundert Mitglieder starke Gruppen von streifenden Jägern und Sammlern zusammen. Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft, Städten und Nationen begannen sie ihre Sozialspezies nicht mehr nur als kleine Horde, sondern gleichzeitig als eine Region, Nation, Religion, Klasse, Kaste, Rasse oder politischen Richtung zugehörig zu sehen. Jetzt war der Hauptimpuls der Evolution des Menschen nicht mehr physischer, sondern kultureller Natur.“ (Karlen 1985, S. 170)
Weitere leichte Verschiebungen ließen sich hier nennen. Mit der Charakterisierung als neu entstandene Kultur des Menschen konkurriert auf sprachlicher Ebene die Benennung der Entstehung der ersten Zivilisationen. Es ist leicht ersichtlich, dass es sich bei diesen Differenzierungen bestenfalls um Schwerpunktverschiebungen handelt; welche Entwicklung auch immer als die primäre benannt wird (und wie sie benannt wird), die anderen hängen mit dieser in engster Beziehung
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zusammen. So gibt es auch kaum Abweichungen in Bezug auf den Zeitraum (grob vor etwa 12.000 Jahren) und den geographischen Ort (ein Gebiet im östlichen Mittelmeerraums, das klimatisch besonders günstige Voraussetzungen für den Ackerbau aufwies, und daher als ‚Fruchtbarer Halbmond‘ bekannt ist, wird praktisch überall als historisch erster und wichtigster Ort ausgemacht, während nur wenig später an anderer Stelle, wie etwa in China, der Andenregion oder dem Osten der USA, jeweils unabhängig voneinander ebenfalls ähnliche Prozesse stattfanden). An den grundlegenden Konturen der ‚Neolithischen Revolution‘, wie dieses geschichtliche Ereignis des Übergangs von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit auf den Begriff gebracht wurde, ist kaum zu rütteln:20 „Der Aufstieg des Menschen zerfällt in zwei Perioden: alles vor der Neolithischen Revolution und alles danach“ (Wright 2006, S. 54). Zu bemerken ist hierbei, dass bereits die sprachliche Benennung dieses ‚Ereignisses‘ als ‚Revolution‘ darauf verweist, dass es zwar wohl keinen Widerspruch, aber doch eine gewisse Reibefläche zur Vorstellung einer ungerichteten Evolution in der Natur gibt, die, dem bekannten Bonmot des amerikanischen Philosophen Michael Ruse zufolge „ziemlich langsam nirgendwo hin“ geht. Auch wenn die Revolution des Ackerbaus (wie alle Revolutionen) nun nicht gerade von heute auf morgen passierte, sondern sich aus verschiedenen zunächst geographisch und auch zeitlich verstreuten Einzelentwicklungen zusammensetzt, so kann es aus evolutionärer Perspektive keinen Zweifel geben: „Verglichen mit allen früheren Entwicklungen lief diese dennoch mit atemberaubender Geschwindigkeit ab“ (Wright 2006, S. 50). Die ‚Neolithische Revolution‘ und das Entstehen einer spezifisch menschlichen Kultur, die sich, trotz beobachtbarerer Ansätze nicht nur bei den Menschenaffen, in vergleichbarer Weise bei keiner anderen Tierart findet, stellt eines der festen Topoi dar, die im gesamten neoevolutionistischen Diskurses tief verwurzelt sind und sich mit geringen Abwandlungen in den allermeisten Texten ausmachen lassen. Allerdings: Vergleichbare Narrationen finden sich bekanntermaßen nicht erst in den einschlägigen Texten des Neoevolutionismus. Die Vorstellung der Her-
20 Sieht man von Sonderfällen wie dem genannten Buch von Josef Reichholf ab, der die bisherige wissenschaftliche Beschreibung vor allem dahingehend korrigieren möchte, dass es nicht die Notwendigkeiten des Mangels (an geeigneten Beutetieren und wildwachsenden Pflanzen) waren, die ausschlaggebend für die Entwicklung des Ackerbaus waren, sondern gerade im Gegenteil erst der (relative) Überfluss, und damit die Reduktion des Zwanges, die elementaren Lebengrundlagen zu sichern, die die Freiräume dafür boten, andere Lebensweisen zu entwickeln.
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auslösung der Gattungsgeschichte des Menschen aus der rein biologisch determinierten (somit ahistorischen) Vorgeschichte des Homo sapiens kann auf eine reiche Tradition in der Geschichte der Philosophie und der Anthropologie zurückblicken. Die Pointe der neoevolutionistischen Geschichtserklärung kann demgegenüber gerade darin benannt werden, dass diese nun versucht, die unter der Oberfläche der ‚zweiten Geschichte‘ zumeist unentdeckt weiter wirksame ‚erste Geschichte‘ sichtbar zu machen: „Wir werden auf diese ‚erste Geschichte‘ zurückgreifen müssen, um unsere zweite verstehen zu können“ (Reichholf 2008, S. 11). Dies ist das zentrale Grundaxiom der Geschichtsdeutung des Neoevolutionismus. Hieraus ergibt sich auch die besondere Produktivität der Neolithischen Revolution für die Geschichtsdeutung des neoevolutionistischen Genres: Einerseits markiert sie den Startpunkt einer jeden so axiomatisierten Untersuchung, andererseits liefert sie die Erklärung des so erst entstandenen Untersuchungsgegenstandes: Die Neolithische Revolution begründet historisch die Entstehung all derjenigen Entitäten, die der Neoevolutionismus erst (dem Anspruch nach besser als die traditionelle Geschichtsschreibung) zu erklären versucht, indem er die untergründig weiter wirksamen Mechanismen der Evolution und Ökologie aufdeckt: Zunächst wird die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung, die ja in vielen Fällen ein zentrales Element und wichtigen Gradmesser des gesellschaftlichen Fortschritts darstellt, als direkte Folge der neuen Subsistenzform des Ackerbaus (und, im direkten Zusammenhang damit, der Domestikation von Nutztieren) dechiffriert. ‚En passant‘ wird dies von Josef Reichholf schon in seinem Vorwort zu Warum die Menschen sesshaft wurden erwähnt.21 Ausführlicher geht beispielsweise Ronald Wright in seiner kurzen Geschichte des Fortschritts auf das Thema ein: „In Jäger-und-Sammler-Gesellschaften war die Sozialstruktur (abgesehen von einigen speziellen Fällen) mehr oder minder egalitär; zwischen dem Ersten und dem Letzten gab es kaum Unterschiede an Besitz und Macht. Die Führerschaft war entweder eine Sache des Konsenses oder durch Leistung und Beispiel verdient. [...] Mit der Zeit bildeten sich jedoch Besitz- und Machtunterschiede aus. Als die Bevölkerung anwuchs und sich die Grenzen zwischen den Gruppen verhärteten, schwanden Freiheit und soziale Chancen. Dieses Muster tritt erstmals in den neolithischen Siedlungen im Mittleren Osten zutage und hat sich überall in der Welt wiederholt.“ (Wright 2006, S. 57)
21 „Ein starkes Anwachsen der Bevölkerung, das vorher die nomadischen Gruppen bedroht hätte, weil sich die Zahl der Menschen auf die Häufigkeit des Wildes einstellen musste, wird nun vorteilhaft. Denn mit der Zahl der Menschen steigt die Produktivität. Aus ihr geht ‚Besitz‘ hervor“ (Reichholf 2008, S. 9).
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Auch in Diamonds Arm und Reich hat das Thema einen großen Stellenwert. Direkte Folge des Ackerbaus und der Sesshaftigkeit ist die Möglichkeit, Nahrungsvorräte anzulegen.22 Und diese wiederum „sind [...] eine Voraussetzung zur Unterhaltung von Personen, die spezialisierten Tätigkeiten nachgehen und selbst keine Nahrung produzieren. […] Gesellschaften von Jägern und Sammlern sind in der Regel vergleichsweise egalitär. Selten findet man in ihnen Vollzeitbürokraten oder Häuptlinge mit erblichem Status. […] Wo Nahrungsmittelvorräte angelegt werden, kann es dagegen einer politischen Elite gelingen, die Kontrolle über die von anderen produzierten Nahrungsmittel an sich zu bringen, Abgaben zu erheben, sich selbst vom Zwang zur Nahrungserzeugung zu befreien und nur noch politischen Geschäften nachzugehen. Entsprechend werden kleinere Agrargesellschaften oft von Häuptlingen regiert, während größere auch Könige an der Spitze haben können.“ (Diamond 1998, S. 96)
Die Neolithische Revolution fächert so eine bunte Palette an Themen auf, die im Diskurs als direkte Folge der Sesshaftigkeit, des Ackerbaus und der Domestikation von Vieh weitreichende Erklärungspotenziale entfalten: So können nicht nur gesellschaftliche Statusunterschiede und die ökonomische Struktur von Gesellschaften erklärt werden sondern beispielsweise auch die Rolle der Gewalt im Innern und nach außen, die Entwicklung der Technik und Wissenschaften oder die Relevanz der Entwicklungen von verschiedenen Sprachen und Schriftkulturen (vgl. z.B. Diamond 1998, S. 258ff oder Reichholf 2008, S. 163ff): Die Neolithische Revolution liefert die vielleicht produktivste und so im Diskurs präsenteste Grundnarration. Jared Diamond stützt sich in seinem Versuch, die Frage der großen Ungleichheiten zwischen verschieden Kulturen zu erklären, auf die geographischen Unterschiede der Gebiete der Erde, in denen die Landwirtschaft (unabhängig voneinander) entwickelt wurde. Als relevante Faktoren untersucht Diamond hierzu klimatische Unterschiede, das Vorkommen von unterschiedlichen Säugetieren und Pflanzenarten (die sich jeweils unterschiedlich gut zur Domestikation eignen und andere, gesellschaftlich unter Umständen weitreichende Implikationen hervorrufende, Umgangsformen erfordern), oder auch Faktoren wie die unterschiedlichen geographischen Achsen der Kontinente, die der Ausbreitung der neuen Kulturtechniken entweder natürliche Schranken setzte oder diese begünstigte (so ereignete sich die Ausbreitung bei Nord-Süd-Achsen wie der in Nordund Südamerika entweder nur sehr langsam oder gar nicht, während der Eurasische Kontinent mir seiner West-Ost-Achse der Ausbreitung des Ackerbaus aus
22 Bevorratung ist – Diamond zufolge – bei nomadischen Gesellschaften kaum möglich, „da eine längere Bewachung nicht in Frage kommt“ (Diamond 1998, S. 96).
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dem Fruchtbaren Halbmond bis nach Westeuropa kaum natürliche Hindernisse in den Weg legte, vgl. Diamond 1998, S. 208ff). In der Gesamtschau bietet Diamond in Arm und Reich so eine umfassende Deutung der großen Unterschiede in den Entwicklungen der verschiedenen Gesellschaften der Erde, die die kulturellen Unterschiede, die in den traditionellen Deutungsmustern oft als Ursache der Unterschiede erscheint, hier stets erst die Folge von tiefgreifenderen Wirkstrukturen ist: Ökologische Zusammenhänge erklären kulturelle Unterschiede zwischen den Menschen. Welche Implikationen hat diese Grundkontur des Genres für den Fortschrittsbegriff? Zunächst bleibt ein alltägliches Verständnis des Begriffs weiterhin möglich und plausibel: Wenn Diamond die Eroberungsgeschichte des Inkareichs durch die spanischen ‚Conquistadores‘ schildert (vgl. Diamond 1998, S. 69ff) und als ausschlaggebende Gründe für den Sieg einer Handvoll Europäer über rein zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegene Heere in überlegenerer Militärtechnik auf der Grundlage der Stahlerzeugung, der militärischen Nutzung von domestizierten Pferden, zentralistische politische Verfasstheit der europäischen Gesellschaften und „nicht zuletzt die Schrift“ (Diamond 1998, S. 87) hervorhebt, dann könnte man auch resümierend zu der Überzeugung kommen: Die Spanier waren schlicht fortschrittlicher als die Inkas.23 Denn gerade die Bereiche Technologie, politischgesellschaftliche Organisation und Geistesgeschichte (im weitesten Sinne) gehören zu den wichtigsten Domänen, in denen sich dem Fortschrittsglauben besonders plausibles Anschauungsmaterial bot. Allerdings: Der ‚reine‘, geschichtsphilosophische Fortschrittsglaube kann schon aufgrund des bisher gesagten nicht mit der Neoevolutionistischen Geschichtsdeutung gekoppelt werden: Diesen zeichnete es gerade aus, dass es das „Subjekt seiner selbst“ (Koselleck und Meier 1972-1997, S. 389) inkorporiert; dass er nicht hergestellt, erreicht oder erzielt wird, sondern selber das historische Agens ist. Die technische Überlegenheit des spanischen Militärwesens im 16. Jahrhundert kann allerdings bei neoevolutionistischer Betrachtung gerade nicht mehr als Ausdruck oder Ergebnis eines grundlegenden Prinzips in der Universalgeschichte der Menschheit24 interpretiert werden, sondern im Gegenteil als das Ergebnis eines grundlegenderen, evolutionär-ökologischen Faktorengefüges, das den so beschränkten ‚Fortschritt‘ erst hervorbringt. Fortschritt
23 Passenderweise wurde die deutschsprachige Übersetzung der Verfilmung von Arm und Reich auch unter den sprechenden Titeln Waffen des Fortschritts und Kampf der Zivilisationen ausgestrahlt! 24 Das freilich den Nationen Westeuropas die Vorreiterrolle überlässt.
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kann bestenfalls das Ergebnis eines historischen Prozesses sein, nicht dessen Bewegungsgesetz. Weiter lehrt uns die neoevolutionistische Geschichtsbetrachtung, dass die Untersuchung von vergangenen, untergegangen Gesellschaften gerade nicht nur zu einem besseren Verständnis der jeweils untersuchten Einzelfälle führt, sondern dass sich hinter den verschiedenen historischen Beispielen einheitliche Muster ausmachen lassen, die sich in der Geschichte ständig wiederholen. Die Untersuchung des Naturverhältnisses von alten, längst untergegangen Gesellschaften erweitert nicht nur unser Wissen über den jeweiligen Einzelfall, sondern es ergibt sich ein besseres Verständnis für das Verständnis der grundlegenden Entwicklungsgesetze einer jeden menschlichen Gesellschaft, das heißt natürlich insbesondere direkt: Wenn wir die Probleme von untergegangenen Gesellschaften verstehen, lernen wir auch etwas über unsere gegenwärtigen Probleme. Wenn also beispielsweise Jared Diamond in Kollaps den Aufstieg und Fall der Zivilisation auf der Osterinsel nachzeichnet, dann müsste der Leserschaft die Analogie zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft und ihren ökologischen Problemen gar nicht direkt vor Augen geführt werden, sie ist ohnehin immer präsent. Wenn Diamond sie trotzdem benennt, wird auch der den Diskurs mal stärker, mal schwächer ausgeprägte Katastrophismus des neuen Geschichtsmodells unvermeidbar: „Die Osterinsel war im Pazifik ebenso isoliert wie die Erde im Weltraum. Wenn ihre Bewohner in Schwierigkeiten gerieten, konnten sie nirgendwohin flüchten, und sie konnten niemanden um Hilfe bitten; ebenso können wir modernen Erdbewohner nirgendwo Unterschlupf finden, wenn unsere Probleme zunehmen. Aus diesen Gründen erkennen viele Menschen im Zusammenbruch auf der Osterinselgesellschaft eine Metapher, ein schlimmstmögliches Szenario für das, was uns selbst in Zukunft vielleicht noch bevorsteht. Natürlich hinkt die Metapher. Unsere heutige Situation unterscheidet sich in vielen wichtigen Aspekten von der Lage, in der sich die Bewohner der Osterinsel im 17. Jahrhundert befanden. Einige dieser Unterschiede machen die Gefahr noch größer.“ (Diamond 2005, S. 153)
Der stets präsente Aktualitätsbezug der Beschreibung von untergegangenen Kulturen begründet gerade das große Interesse an der neoevolutionistischen Interpretation von geschichtlichen Prozessen. Ein naheliegendes Muster, das sich so gewinnen lässt, dockt an bestehende Vorstellungen der Zivilisation an: Die verschiedenen Beispiele von untersuchten frühen Zivilisationen, sei es die auf der Osterinsel, sei es die der Sumerer oder seien es die Maya, eint, dass bei ihnen die Kultur eine gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt hat, die zu stark steigender Bevölkerungszahl, mehr innergesellschaftlicher Komplexität und zu mehr Ressourcenverwendung führt:
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„Dieser zwingende Parallelismus von Ideen, Prozessen und Formen sagt uns etwas Wichtiges: dass sich menschliche Gesellschaften unter gewissen allgemeinen Voraussetzungen überall in Richtung zunehmender Größe, höherer Komplexität und größeren Ressourcenbedarfs bewegen.“ (Wright 2006, S. 72)
Überall unterscheiden sich die Entwicklungen in den Details, überall gleichen sie sich in den wesentlichen Grundzügen. Und diese decken sich durchaus mit unseren alltäglichen Vorstellungen von Zivilisationen: Zunahmen der inneren Komplexität, der Technisierung und ökonomischen Potenz sowie daraus resultierende (scheinbare) zunehmende Distanz zu den direkten Naturnotwendigkeiten umreißen rein deskriptiv auch die groben Konturen unseres Alltagsverständnisses der Kategorie. Wichtiger sind die Verschiebungen, die sich in der konnotativen Dimension des Begriffes zeigen: Denn ebenso wie beim Fortschritt, ist es auch im benachbarten Fall der Zivilisation unübersehbar, dass sich denotative Unschärfe mit evaluativer Eindeutigkeit paart: Zivilisation unterscheidet uns von der Natur und von der rohen Barbarei und Wildheit. Wer wollte dem die Wertschätzung entziehen? Einspruch gegen das Projekt ‚Zivilisation‘ schien lange Zeit unmöglich.25 Aber auch hier mehren sich die Zweifel: Wir haben bereits gesehen, dass Diamond sich von der Sicherheit der positiven Wertung des Zivilisation (wie auch des Fortschritts) distanziert. Damit ist er nicht alleine. Im ganzen Diskurs wird kulturkritisch inspirierte Zivilisations- und Fortschrittsskepsis bedient, indem nicht nur die wohlbekannten Errungenschaften auf der Sollseite verbucht werden, sondern stets systematisch die Schattenseiten der Zivilisation untersucht und herausgestellt werden: Denn, unterstellt, dass das biologische ‚Wesen‘ des Menschen sich von der Zivilisation bestenfalls temporär zügeln und verhüllen lässt, wird es zur plausiblen Annahme, dass die Gewalttätigkeit und Aggressivität dieser Spezies in der Zivilisation nicht verschwindet, sondern transformiert ausgelebt und kultiviert wird. Und dies führt zu Eruptionen der Gewalt, die den Glauben an die ‚zivilisierende‘ Wirkung des Fortschritts nachhaltig blamieren: „Gewalt ist so alt wie die Menschheit, aber Zivilisationen üben sie mit der Zielstrebigkeit aus, die ihr besonderen Schrecken verleiht. In der Todesgrube von Ur [Teil der archäologisch bedeutenden sumerischen Grabanlagen im heutigen Irak; F.D.] können wir all die Massengräber vorausahnen, die noch gegraben werden sollten, 5000 Jahre hindurch bis in unsere Tage, sei es in Bosnien, in Ruanda oder – und damit schließt sich der Kreis – im Irak des Saddam Hussein [...].“ (Wright 2006, S. 81)
25 Zu den Ambivalenzen des rhetorischen Gebrauchs der ‚Zivilisation‘ vgl. Knobloch 1996.
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Die konnotativen Anteile des Fortschrittsbegriffs sind damit neu verteilt: Einerseits werden romantische, naiv fortschritts- und zivilisationsskeptische Ressentiments gerade nicht erfüllt, da das biologische Wesen des Menschen unabhängig von der jeweiligen Kultur auch Gewalttätigkeit und Aggressivität beinhaltet,26 andererseits entpuppen sich bei neoevolutionistischer Betrachtung alle Hoffnungen auf die diese Wesenszüge der Menschen bändigenden und zügelnden Wirkungen des Fortschritts und der Zivilisation als idealistisch-naive Wunschvorstellungen. Wenn solche Vorstellungen natürlich keineswegs ein Spezifikum des hier untersuchten Diskurses darstellen, so erfährt dieses interdiskursiv inzwischen tief verankerte Deutungsmuster hier doch eine solide erscheinende argumentative Fundierung und Präzisierung: „Diejenigen, die also an den Prozess der Zivilisation glauben und denken, dass dieser in Richtung zunehmenden Fortschritts verläuft, müssen zur Kenntnis nehmen, dass bislang keiner der vielen Versuche, dem Menschen zu seiner sittlichen Höhe zu verhelfen, erfolgreich war. Weder das Christentum, noch die Aufklärung, noch der Marxismus haben das Erbe, welches wir von unseren steinzeitlichen Ahnen erhalten haben, zu ändern vermocht; allenfalls haben sie es vorübergehend ein wenig übertüncht, übermalt mit Hoffnungen und Utopien – aber das ist auch schon alles.“ (Wuketits 2001, S. 212)
Angesichts der gegenwärtig verbreiteten Fortschrittsskepsis kann sich der Neoevolutionismus des Applauses sicher sein.27
26 Dieser Fragestellung widmet sich Diamond ausführlich in Vermächtnis, seinem jüngsten Werk (vgl. Diamond 2012). Mit besonderer Akribie werden hier die Parallelen und Unterschiede herausgearbeitet, die sich etwa zwischen der traditionellen Form der Konfliktlösung in nichtstaatlichen Gesellschaften Neuguineas und den juristischen Systemen moderner Staaten zeigen. 27 Ein geradezu willkürlich aus dem Feuilleton herausgegriffenes Beispiel: „Wenn ein Wissenschaftler [!] wie Jared Diamond nun die Urvölker, die er besser kennt als jeder andere [!], in seinem Buch ‚Vermächtnis‘ ganz differenziert [!] darauf untersucht, welche ihrer Fehler und welche ihrer Weisheiten die Zivilisation verdrängt hat, dann tut er der Welt einen großen Gefallen […]. Er bricht mit den beiden ideologischen [!] Weltbildern der Zivilisationsmüdigkeit und der Fortschrittsgläubigkeit zugleich. Was bleibt, ist Realismus.“ (Kreye 2012)
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[5] Den tradierten Narrationen, die dem klassischen Fortschrittsglauben lange Zeit eine große Überzeugungskraft verliehen hatten, wird so die Grundlage entzogen: Was auch bei oberflächlicher Betrachtung fraglich geworden ist, bestätigt sich vollends bei genauerem Hinsehen: Wir können uns nicht mehr sicher sein, dass all die Prozesse, die wir zuvor unhinterfragt als den unstrittigen Kern unserer Fortschrittsüberzeugung angesehen haben, auch wirklich eine Verbesserung darstellen. Dem Fortschritt ist so auf semantischer Ebene sein wichtigstes (wertendes) Merkmal abhandengekommen, sodass, wie bereits genannt, diese Differenz zur Grundbedeutung des Ausdrucks durch die Verwendung der im Diskurs praktisch obligatorischen Anführungszeichen markiert werden muss. Neben den schon genannten Zweifeln an den segensreichen Folgen des alten Fortschrittsbegriffs spielt eine bisher weitgehend unbeachtete Problematik im Diskurs eine entscheidende Rolle: Zur klassischen Narration des Fortschritts gehörte es, dass die Gesellschaften, denen im Fortschreiten der Menschheit die Vorreiterrolle zugesprochen wurde, also insbesondere den Gesellschaften Westeuropas, sich in der kulturellen Evolution als bevorteilt erwiesen hätten. So wie der Mensch sich als besser angepasste, ‚höhere‘ Art gegenüber seinen (ausgestorbenen) Vorfahren erwiesen hatte, so konnte sich die politische Dominanz der westlichen Staaten darauf berufen, dass ihre Gesellschaftsverfassung ihnen im ‚evolutionären Wettrüsten‘ der Nationen und Kulturen Vorteile und somit die Vorreiterrolle verschafft hatte. Mit dieser Vorstellung räumt der Neoevolutionismus gründlich auf. Zur genretypischen ‚Dramaturgie‘ vieler der einschlägigen neoevolutionistischen Bestseller gehört es, die gesamte Argumentation um ein ausgesuchtes plausibles Muster herum zu bauen, dass den Lesern ein wohliges ‚Aha-Erlebnis‘ verschafft, und dieses über diverse Anwendungsgebiete hinweg durchzuexerzieren. Richard Wrangham erzählt in Feuer fangen seine Erklärung der Menschwerdung entlang der Zubereitung von Nahrungsmitteln (Wrangham 2009), worin ihm im deutschsprachigen Raum Franz Wuketits mit fast identischer Themensetzung folgt (Wuketits 2011, 2011c).28 Bei Diamonds Kollaps ist das Muster, um das sich alles dreht, der Ökozid: Diamond untersucht anhand verschiedener (untergegangener wie gegenwärtiger) Gesellschaften, welche Faktoren bei der titelgebenden Frage entscheidend sind, warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Die Antwort, die dem Leser bestechend plausible Deutungen ermöglicht, findet sich
28 Hier zeigt sich übrigens auch exemplarisch, dass die Angst vor Redundanz im Diskurs nicht sehr stark ausgeprägt ist.
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im Naturverhältnis der Gesellschaften: Entscheidend ist das Wechselspiel der Gesellschaften mit der vorgefundenen Natur und insbesondere den Ressourcen, die diese offenbart. Beginnend bei Diamonds Paradebeispiel, dem Zusammenbruch der traditionellen Kultur auf der Osterinsel, die sich vor allem durch ihre Abgeschiedenheit als reiner Urtypus des selbstherbeigeführten gesellschaftlichen Zusammenbruchs eignet, über die im Alltagsbewusstsein präsenten Zusammenbrüche etwa der Maya in Mittelamerika oder der Wikingerkultur, hin zu unbekannteren Kollapsen etwa bei den Anasazi bis zu heutigen Gesellschaften wie die der beiden Staaten Haiti und Dominikanische Republik auf der Karibikinsel Hispaniola, den Völkermord in Ruanda oder das moderne China (vorgestellt als „torkelnder Riese“) wendet Diamond sein Untersuchungsrepertoire an und kommt immer wieder zu verblüffend plausiblen, die etablierten Erklärungen zumindest korrigierenden, manchmal grundlegend infrage stellenden Ergebnissen. Die Untersuchung der Frage, warum und wie Gesellschaften untergehen, orientiert sich dabei stets an einem festen Set von fünf Faktoren, denen bei allen Unterschieden zwischen den Einzelfällen doch überall eine herausragende Bedeutung zukommt (Diamond 2005, S. 25-30). Der erste Faktor, durch Gesellschaften selbst verursachte Umweltschäden, ist angesichts der Grundargumentation des Buches nicht gerade überraschend und auch von besonderer Zentralität. Diamond knüpft hier an das schon genannte universale Muster an, das besagt, dass Gesellschaften (insofern die ökologischen ‚Startbedingungen‘ dies hergeben!) stets einen Prozess zunehmender Größe und innerer Komplexität einschlagen. Die materielle Grundlage des Bevölkerungswachstums ist dabei historisch selbstredend wieder in der Entwicklung des Ackerbaus und der Domestizierung von Vieh zu suchen. Mit zunehmender Größe und Perfektionierung der kulturellen, ökonomischen und technischen Ressourcen einer Gesellschaft steigt notwendigerweise auch der Einfluss, den diese auf die Natur hat. Wie stark die verursachten Schäden sind, wird zwar auch durch die Spezifika der umgebenden Natur selbst (z.B. ihre Regenerationsfähigkeit etc.) beeinflusst, die grundlegende Struktur bleibt aber stets dieselbe. Die grundlegende Dramaturgie für den Zusammenbruch von Gesellschaften ist damit vorgezeichnet: Die innere Dynamik führt zu stetigem Anstieg der Bevölkerungszahl und der Ressourcennutzung sowie immer stärkerer Schädigung der Umwelt. Dessen Übernutzung entzieht der Gesellschaft die materielle Lebensgrundlage und macht den Zusammenbruch unausweichlich, falls die Gesellschaft es nicht schafft, ein tragfähiges Naturverhältnis zu installieren. Hier wird auch der diskursive Anknüpfungspunkt von neoevolutionistischer Fortschrittsskepsis und der gegenwärtig immer lauter vernehmbaren Wachstumskritik
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erkennbar.29 Denn die Parallelen der untergegangen Gesellschaften zu unserer aktuellen Situation sind selbstredend stets präsent: Wir leben, kaum anders als die Osterinsulaner zum Zeitpunkt größter gesellschaftlicher Blüte vor der Entdeckung durch die Europäer, nicht von den ‚Zinsen‘ der Natur, sondern verbrauchen mit rasender Geschwindigkeit unser ökologisches ‚Kapital‘. Als weiterer Faktor werden von Diamond Klimaveränderungen berücksichtigt, die im Falle der untersuchten bereits untergegangenen Gesellschaften nicht im eigenen Gestaltungsbereich liegen, aber mit selbst verursachten Umweltschäden das ökologische Umgebungsgefüge maßgeblich bestimmen. Der anthropogene Klimawandel, der den Diskurs heute bestimmt, verschränkt die beiden Faktoren weiter. Weitere Faktoren sind die Beziehungen zu (feindlich gesinnten) Nachbarn und (der Entwicklung förderlichen) Handelspartnern. Diese Faktoren scheren aus den primär biologisch interpretierten ökologischen Umgebungsvariablen ein wenig aus und werden in Kollaps bisweilen vernachlässigt – die Osterinsel und der Zusammenbruch ihrer traditionellen Kultur eignet sich beispielsweise gerade deswegen als Prototyp des ökologisch induzierten Untergangs, weil diese beiden Faktoren neutralisiert sind. Der dezidiert evolutionistische Ansatz Diamonds wird angesichts des fünften Faktors deutlich: Hier untersucht Diamond die Reaktionsfähigkeiten von Gesellschaften auf veränderte Umweltbedingungen (seien diese nun selbstverursacht oder durch Klimawandel hervorgerufen). Diamonds Schlussfolgerung, dass der Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit von Gesellschaften eine besondere Rolle in dessen langfristigen Überlebensfähigkeiten spielen, führt wieder schnell zu der Einschätzung, dass gerade die Gesellschaften, die wir üblicherweise als fortschrittlich charakterisieren, sich als besonders träge und somit anfällig erweisen. Aus dieser Betrachtungsweise ergibt sich ein Deutungsrahmen, der die historischen Zusammenbrüche von Gesellschaften primär als Ausdruck von Problemen ihres ökologischen Gefüges mit ihrer Umwelt interpretiert. Wie in Arm und Reich ökologische Faktoren die ungleiche Entwicklung von Gesellschaften erklärten, so liefern sie in Kollaps die relevanten Gründe für den Untergang von Gesellschaften. Die neoevolutionistische Geschichtsdeutung balanciert somit ein wenig un-
29 Da die Vorstellung einer stetig weiter steigenden ökonomischen Leistungsfähigkeit von Gesellschaften und daraus resultierendem stetig steigenden Wohlstand integraler Bestandteil des Fortschrittsglaubens war, ist es kaum verwunderlich, dass die (vornehmlich ökologisch ausgerichtete) Wachstumskritik und die neoevolutionistische Fortschrittsskepsis große strukturelle Parallelen aufweisen; vgl. auch den Beitrag von Fischer in diesem Band.
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entschlossen zwischen einem Geschichtsverständnis, das historische Entwicklungen als direktes Ergebnis von evolutionären und ökologischen Anpassungsprozessen interpretiert, und somit nebenbei wieder einen universalen, die gesamte Geschichte durchziehenden Ordnungsrahmen installiert, und einem Verständnis, das sich von historischen Grundordnungsmustern, wie es der Fortschritt zuvor dargestellt hatte, weitestgehend distanziert. Die Frage, die sich so direkt aufdrängt, lautet: Wenn der Entwicklungsgang von Gesellschaften weitgehend durch ökologische Faktoren bestimmt wird, wie ist der drohenden Kollaps, der, woran natürlich kein Zweifel gelassen wird, qua folgenreicherer Technik, enormer Bevölkerungszahl und zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit 30 die Dimensionen aller vorherigen Zusammenbrüche weit übersteigt, überhaupt zu verhindern? Unsere aktuellen ökologischen Probleme sind bekanntlich „Zeitbomben, deren Zünder auf weniger als 50 Jahre eingestellt sind“ (Diamond 2005, S. 613). Wenn die Geschichte uns aber doch gerade zeigt, dass sich die Verhaltensmuster stets gleichen, wie also den scheinbar vorgezeichneten Pfad verlassen? Die Antwort des Neoevolutionismus lautet: Wir verfügen im Gegensatz zu den bisherigen Zusammenbrüchen zum ersten Mal über fundiertes Wissen über unsere eigene Situation, über die Gefahren, die sich uns stellen und wir kennen die Geschichte von untergegangenen Gesellschaften und können aus diesen Lernen: „Die Gesellschaften früherer Zeit hatten weder Archäologen noch Fernsehen. [...] Heute brauchen wir nur den Fernseher oder das Radio einzuschalten oder nach der Zeitung zu greifen, dann sehen, hören oder lesen wir, was vor ein paar Stunden in Somalia oder Afghanistan geschehen ist. Dokumentarfilme und Bücher zeigen uns in anschaulichen Einzelheiten, warum die Gesellschaften auf der Osterinsel, bei den Maya und an anderen Stellen in historischer Zeit zusammengebrochen sind. Wir haben also die Möglichkeit, aus den Fehlern der Menschen an weit entfernten Orten und in weit entfernter Vergangenheit zu lernen.“ (Diamond 2005, S. 647f)
Lassen wir es außer Acht, dass sich das Fernsehprogramm, das Diamond konsumiert, und das des größten Teils des Publikums offenbar recht deutlich voneinander unterscheiden. Dann ist damit eines der Felder benannt, in denen der Fortschritt auch im hier untersuchten Diskurs nichts von seiner Plausibilität eingebüßt hat: Die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften verlaufen weiterhin ganz selbstverständlich auf einem linearen Pfad, der zu zunehmender Kumulation der
30 Diamond untersucht die Globalisierung vor allem im Hinblick auf die Verschränkungen von ökologischen wie politischen Problemen in der ‚ersten‘ und ‚dritten Welt‘; vgl. Diamond 2005, S. 636ff.
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menschlichen Kenntnisse führt, und denen auch die größten Wundertaten zugetraut werden. Was an tradiertem Wissenschaftsoptimismus weggebrochen ist, ist die enge Koppelung der wissenschaftlichen Fortschritte an die Erwartung des Praktischwerdens derselben vermittels der Übertragung in und Anwendung von fortschrittlicher Technologie: „Alle derzeitigen Probleme sind unbeabsichtigte, negative Auswirkungen der vorhandenen Technologie. [...] Das ist die Ursache für unsere derzeitige Lage. Wie kann man auf den Gedanken kommen, dass die Technik vom 1. Januar 2006 an zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte auf wundersame Weise keine unvorhergesehen neuen Probleme mehr verursacht, sondern nur noch zur Lösung der bisher geschaffenen Probleme führt?“ (Diamond 2005, S. 623)
Wenn wir diesen Gedanken weiterspannen, so stellt sich also als dringendstes Problem die alte Frage nach der Steuerbarkeit von historisch-gesellschaftlichen Prozessen. Die bekannten Versuche, diese Frage zu beantworten, konzentrieren sich auf die innere Struktur und Dynamik von Gesellschaften, und damit auch insbesondere auf ihre ökonomische Struktur: Hier offenbart sich eine große Distanz des neoevolutionistischen Denkens zu dem der Wachstumskritik: Während es in großen Teilen des wachstumskritischen Diskurses als ausgemacht gelten kann, dass die ökologischen Probleme nur in den Griff zu bekommen sind, wenn es gelingt, grundlegende ökonomische Veränderungen zu erreichen, so wird diese Notwendigkeit von Diamond zurückgewiesen. Die zentrale Bedeutung vor allem der großen Unternehmen und Konzerne wird auch von ihm betont, allerdings vermeidet er jeden Idealismus, wenn es um die Moralfähigkeit von Unternehmen geht: „Kurz gesagt, hängt das ökologische Verhalten der Unternehmen von einer grundlegenden Tatsache ab, die dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen widerspricht. [...] Für uns Außenstehende ist es einfach und billig, einem Unternehmen vorzuwerfen, dass es andere Menschen schädigt, weil es seinen eigenen Vorteil sucht. Aber solche Vorwürfe allein werden meist nicht zum Auslöser von Veränderungen. Sie lassen die Tatsache außer Acht, dass Unternehmen keine gemeinnützigen Einrichtungen sind, sondern Gewinne erzielen wollen [...].“ (Diamond 2005, S. 596)
Unternehmen werden nach Diamond nur dann ein umweltschonendes Verhalten an den Tag legen, wenn es ihren eigenen Interessen entspricht. So zeigt sich nur ein Lösungsweg, der darin besteht, dass umweltschädliches Vorgehen für Unternehmen mit ökonomischen Nachteilen verbunden sein muss. Es liegt „letztlich in der Verantwortung der Öffentlichkeit“ (Diamond 2005, S. 597). Wenn allerdings
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den Konsumenten so wenigstens indirekt vorgehalten wird, dass sie an der Misere mitschuldig sind, etwa indem sie „weiterhin Holzprodukte aus nicht nachhaltiger Forstwirtschaft kaufen“ (ebd.), dann bleibt es dabei natürlich unausgesprochen, dass sich die Interessenlage der Unternehmen unter geänderten Vorzeichen bei den Konsumenten im Interesse nach möglichst preiswerten Produkten wiederholt. Die recht unkritische Vorstellung von Subjekten und ihrer Rolle in historischen Prozessen, die sich bereits bei der frühen Biogeschichte zeigte, wiederholt sich hier. So kommt die in letzter Instanz entscheidende Rolle der Politik und ‚dem Politischen‘ zu: Das einzelne Individuum muss sich seiner Verantwortung bewusst werden, und somit auch zur grundlegenden Änderung seines Verhaltens bereit sein: „Wer wirklich etwas bewirken will, sollte sich darauf einrichten, während seines ganzen Lebens eine einheitliche Handlungsweise beizubehalten“ (Diamond 2005, S. 679f.). Neben der (im doppelten Sinne) unvermeidlichen Einschränkung und gezielten Steuerung des Konsums sollten die Menschen Diamond zufolge auch ihr Wahlverhalten an der Frage des Umweltschutzes ausrichten, denn: „Bei manchen Wahlen entscheiden lächerlich wenige Stimmen zwischen Kandidaten mit ganz unterschiedlichen umweltpolitischen Vorstellungen“ (Diamond 2005, S. 680). Die Abwehr des drohenden Unterganges wird sowohl auf der Ebene der individuellen Lebensführung wie in der Tagespolitik zum in letzter Instanz entscheidenden Faktor, dessen Wichtigkeit und Einwandsimmunität alle weiteren Fragen zu nachrangigem Beiwerk degradiert. Besonders anschaulich wird dieser Aspekt in Diamonds Untersuchung der stark unterschiedlichen ökologischen Bedingungen der Gesellschaften in den Staaten Haiti und Dominikanische Republik: Seine Untersuchung läuft darauf hinaus, dass der letzte Unterschied zwischen beiden Fällen in der einzelnen Person des Staatspräsidenten der Dominikanischen Republik, Joaquín Balaguer, zu finden ist: Dieser hatte in ‚seinem‘ Staat umfangreiche Umweltschutzmaßnahmen beschlossen, die kein entsprechendes Pendant in Haiti hervorbrachten. Insbesondere der Waldbestand des östlichen Teils der Insel Hispaniola blieb so vergleichsweise intakt. So schreibt Diamond durchaus anerkennend, dass „Holzarbeiter mit militärischen Maßnahmen gefangen genommen und inhaftiert [wurden], und die armen Landbesetzer wurden ebenso wie die reichen landwirtschaftlichen Betriebe und Landhäuser […] aus den Parks entfernt. Eine besonders berüchtigte Operation fand 1992 im Nationalpark Los Haitinises statt, dessen Wälder bereits zu 90 Prozent zerstört waren; dort vertrieb die Armee Tausende von Landbesetzern.“ (Diamond 2005, S. 426f.)
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Die kaum verhüllte Sympathie für eine Politik, die auch „für eine lange Liste übler Taten verantwortlich [ist]“ und damit einhergehende geradezu naiv erscheinende Einschätzungen von einzelnen Politikern („Bei längerem Nachdenken scheint mir die plausibelste Interpretation für Balaguers Verhalten zu sein, dass ihm die Umwelt tatsächlich am Herzen lag, wie er behauptete. Das Thema kam in fast allen seinen Reden vor“ (Diamond 2005, S. 432)) zeigen offen die Kehrseite des neoevolutionistischen Geschichtsverständnisses: Der Raum des politisch Gestaltbaren vergrößert sich, indem historische Prozesse, die zuvor aus der systemischen Dynamik gesellschaftlicher und kultureller Strukturen erklärt wurden, nun zu voluntaristischen Akten werden. Und gleichzeitig verkleinert sich dieser Raum direkt wieder, indem die Abwendung des drohenden ökologischen Gesellschaftszusammenbruchs die Zielbestimmung bereits unverrückbar festlegt und politische Entscheidungsprozesse diesem Grundzweck stets unterordnen. Die Frage, die der Neoevolutionismus so im Hinblick auf den Fortschritt immer auch stellt, lautet: Ist es an der Zeit aufzuhören? Die Kosten für eine Weiterführung des Experiments ‚Fortschritt‘ werden im Diskurs ausführlich erörtert. Der Preis für einen Abbruch bleibt allerdings offen. Der ‚Erwartungshorizont‘, der mit dieser semantischen Verschiebung der Geschichtsdeutung einhergeht, bekommt so klarere Konturen: Das klassische Fortschrittsdenken war gerade von einer Zukunftsperspektive geprägt, die durch einen „fortschreitenden Veränderungskoeffizienten“ (Koselleck 1989, S. 363) ausgezeichnet ist: Der klassische Fortschrittsbegriff kannte kein klar umrissenes Telos des geschichtlichen Wandels, sondern aktualisierte die Erwartungen stets nach den konkreten Gegebenheiten. Die Erfahrungen, die ihm Evidenz verliehen, belegten vor allem, dass sich aus den bisherigen Erfahrungen die Zukunft nicht mehr entwerfen ließ, dass zukünftig auch weiter mit nicht vorhersehbaren Veränderungen zu rechnen ist, von denen nur gewiss ist, dass sie weitere Verbesserungen aller Lebensumstände mit sich bringen werden. Davon ist nicht viel geblieben. Die Zukunft lockt nicht mit erwartbarer Ausweitung dessen, was heute schon angenehm ist und dem weiteren Schwinden derjenigen Dinge, die heute noch unangenehm sind. Die Zukunft droht selten mit weniger als dem Untergang. Die Schwundstufe des Fortschrittsglaubens, die sich dahinter halten kann, ist die Hoffnung auf das Überleben der Art.
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[6]
L ITERATUR
Darwin, Charles (1875): Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Übersetzt von J. Victor Carus. 3. Aufl. 2 Bände. Stuttgart: E. Schweizerbartʼsche Verlagshandlung (Ch. Darwins gesammelte Werke.). Darwin, Charles (1876): Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe umʼs Dasein. Nach der sechsten englischen Auflage wiederholt durchgesehen und berichtigt von H.G. Bronn und J. Victor Carus. 6. Aufl. Stuttgart: E. Schweizerbartʼsche Verlagshandlung. Diamond, Jared M. (1998): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer. Diamond, Jared M. (2005): Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt/Main: Fischer. Diamond, Jared M. (2012): Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können. Frankfurt/Main: Fischer. Gould, Stephen Jay (1998): Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Frankfurt/Main: Fischer (Fischer, 14642). Haeckel, Ernst (1866): Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft. 1. Aufl. 2 Bände: Reimer. Haeckel, Ernst (o.J. [1899]): Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. 14. Aufl. Leipzig: Kröner. Herzog, Benjamin (2003): „Schwundstufen des Fortschrittsbegriffs. Zu seinen Reinterpretationen in der frühen Bundesrepublik.“ In: Carsten Dutt (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. 1. Aufl. Heidelberg: Winter, S. 219–249. Karlen, Arno (1985): Nicht Wellington besiegte Napoleon bei Waterloo. Die revolutionierenden Entdeckungen der Bio-Geschichtsforschung. Wien: Neff. Kleeberg, Bernhard (2005): Theophysis: Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen. Köln: Böhlau. Knobloch, Clemens (1996): „Die Rede von der ‚Zivilisation‘“. In: Sozialwissenschaftliche Informationen 25 (2), S. 74–80. Koselleck, Reinhart (1980): „Fortschritt und Niedergang. Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe.“ In: Reinhart Koselleck und Paul Widmer (Hg.): Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 214–230. Koselleck, Reinhart (1989): „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘. Zwei historische Kategorien.“ In: Reinhart Koselleck (Hg.): Vergangene Zukunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 349–375.
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Koselleck, Reinhart; Meier, Christian (1972-1997): „Fortschritt.“ In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. 1. Aufl. 8 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 351–423. Kreye, Andrian (2012): „Der Feuilletonist: Die Rückkehr der edlen Wilden.“ Süddeutsche-Blogs. Online verfügbar unter http://blogs.sueddeutsche.de/feuilletonist/2012/11/24/die-ruckkehr-der-edlen-wilden/, zuletzt geprüft am 20.05. 2013. Lange, Axel (2012): Darwins Erbe im Umbau: Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie. Königshausen & Neumann. Reichholf, Josef (2008): Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte. Frankfurt/Main: Fischer. Töpfer, Georg (2010): „Fortschritt.“ In: Georg Töpfer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1. 1. Aufl. 3 Bände. Stuttgart: Metzler, J B, S. 606–626. Weiler, Bernd (2006): Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der „jungen“ Anthropologie. Bielefeld: transcript. Wieland, Wolfgang (1972-1997): „Entwicklung, Evolution.“ In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. 1. Aufl. 8 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 199–228. Wrangham, Richard W. (2009): Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte - eine neue Theorie der menschlichen Evolution. 1. Aufl. München: Dt. Verl.-Anst. Wright, Ronald (2006): Eine kurze Geschichte des Fortschritts. 1. Aufl. Reinbek: Rowohlt. Wuketits, Franz M. (2001): Naturkatastrophe Mensch. Evolution ohne Fortschritt. München: Dt. Taschenbuch-Verl. (Dtv, 33063). Wuketits, Franz M. (2011): Wie der Mensch wurde, was er isst. Die Evolution menschlicher Ernährung. Stuttgart: Hirzel.
Die Moral des Neoevolutionismus C LEMENS K NOBLOCH
„Merkwürdig, dass es Menschen gibt, die nicht sehen, dass alles Beobachten für oder gegen eine Auffassung geschehen muss, wenn es irgendeinen Nutzen haben soll.“ (CHARLES DARWIN)
„Zwecke nämlich setzen sich die Menschen von Fall zu Fall, und es gibt keine anderen Zwecke, als die sie sich setzen. ‚Die Gesellschaft ist der Endzweck und das Individuum nur ein Mittel‘, ‚Das Individuum ist der Endzweck und die Verbindung der Individuen zu einer Gesellschaft nur ein Mittel zu dessen Wohlergehen‘ – beides sind Kriegsparolen, die sich feindliche Gruppen im Zusammenhang mit ihrer aktuellen Lage, mit ihren Tagesbedrängnissen und -interessen zurufen. Beide Parolen bringen etwas zum Ausdruck, wovon diese Gruppen wünschen, dass es sein soll.“ (NORBERT ELIAS 1987: 26)
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The theories of behavioral biology are riddled with semantic ambiguity. Like buildings constructed hastily on unknown ground, they sink, crack, and fall to pieces at a distressing rate for reasons seldom understood by their architects. (EDWARD O. WILSON 1975: 21)
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U MERZÄHLUNGEN 1
BIS
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Als in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts der ideologische Siegeszug des Neoliberalismus begann, da notierten Lewontin et al. (1988: 15) in ihrer Streitschrift gegen den neuen Biologismus der Epoche eine interessante Beobachtung: Wo man öffentlich bis in die jüngste Gegenwart von den Arbeitsplatzrisiken durch Lärm, Strahlung, giftige Chemikalien gesprochen habe, die für zahlreiche chronische Krankheiten verantwortlich seien, da sei jetzt ein markanter Wandel eingetreten. Wo bislang der Ruf nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen laut geworden sei, da höre man neuerdings ein ganz anderes Lied, und das handele von „anfälligen“, „empfindlichen“ und „mit genetischen Risiken behafteten“ Personen, die man besser nicht einstelle. Seither haben wir uns daran gewöhnt, dass die Erzählungen der modernen Genetik eingesetzt werden können, um jede(n) von uns zu einem umfassenden und allseitigen Risikoträger zu erklären und uns gleichzeitig zu einem optimalen individuellen Management unserer Risiken moralisch zu verpflichten (vgl. Lemke 2007). Aus dem Appell an die politisch-gesellschaftliche Verantwortung für Arbeitsplatzrisiken ist durch diese Umerzählung ein Haufen individueller Ängste und Vorsorge-Phantasmen geworden, mit denen man Geld verdienen und individuelle Prävention propagieren kann. Dass der moderne Gendiskurs Moralvorstellungen aktiv prägt, wo er reüssiert, ist nur zu offenkundig, obwohl er ja selbst eine ganz andere Geschichte erzählt, eine Geschichte, in der zwar die Gene vorkommen, nicht aber er selbst: der Gendiskurs. Zu dieser ersten (gewissermaßen interdiskursiven) Umerzählung der Arbeitsplatzrisiken gehört indes auch eine zweite (gewissermaßen fachdiskursive) Umerzählung der Gen-Story im populären Evolutionismus selbst. Wer dieser Umerzählung auf die Spur kommen will, der muss vergleichen, was die erste Generation der Verhaltensbiologen über die Gennatur des Menschen zu sagen hatte, und was die kurrente Fortsetzung dieser Geschichte von der früheren Version unterscheidet.
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Konrad Lorenz ist zweifellos ein repräsentativer Vertreter für die erste Generation der Verhaltensbiologen. In seiner kulturkritischen Gegenwartsdiagnostik führt er die Phänomene, die er beobachtet (darunter: hedonistische Fress- und Sexhypertrophie, enthemmte Aggression, übersteigerte Konkurrenz!) auf den kulturbedingten „Schwund der feiner differenzierten sozialen Instinkte und Hemmungen“ (Lorenz 1968: 84) zurück. All das sind für ihn Degenerations- und Domestikationserscheinungen, sie gehören für ihn nicht zum Tier, sondern zum Haustier Mensch. Lorenz spricht gerne polemisch von der „Verhausschweinung“ des Menschen. Das angeborene arteigene Verhaltensrepertoire – so seine kulturkritische These – wird unter dem (Selektionsdruck mindernden und verschiebenden) Einfluss kultureller Faktoren dekomponiert. Wir beobachten „Instinktausfälle“, wie auch bei anderen Haustieren (Lorenz 1968: 78ff), die einesteils Weltoffenheit und Lernfähigkeit vergrößern, anderenteils aber eben auch der „Degeneration“ Tür und Tor öffnen. Es ist nicht schwer (und dem gemäß auch schon oft demonstriert worden), solche Ansichten auf den NS-affinen Ethnodarwinismus Lorenz’ zu beziehen, der die natürliche Instinktausstattung des einzelnen direkt und umweglos auf das Überleben der „Art“ bezieht – was aus Sicht der Neodarwinisten freilich die übelste Variante der „Gruppenselektion“ ist, bei der das Subjekt, an welchem die natürliche Selektion angreift, die ganze Art (oder eine Population oder eine Pseudospezies) ist. Dass Lorenz (wie auch Arnold Gehlen) Nazi war und es in vielen Positionen auch nach 1945 geblieben ist, steht außer Frage. Hier geht es indessen um etwas anderes: Für die neue, genegoistische Story, die sich nach Wilson (1975) und Dawkins (1976) im populären Neoevolutionismus ausgebreitet hat, wird just das zur ewigen genetischen Menschennatur, was für Lorenz das degenerierte „Hausschwein“ Mensch ausmacht. Betonte Lorenz noch, dass die domestikationsbedingte Abschwächung sozialer Instinkte unter den Bedingungen des modernen Konkurrenzkampfes einen positiven Selektionswert erhalte, so gibt es in der neodarwinistischen Story in der ewigen Menschennatur so etwas wie soziale Instinkte überhaupt nicht, und es ist mit einem Male der staatlich, religiös oder durch sonstigen Gruppendruck erzwungene moralische Altruismus, der wie eine Degeneration der rücksichtslos egoistischen Menschennatur aussieht. „Natur“ und „domestikationsbedingte Degeneration“ haben in dieser Umerzählung gewissermaßen die Seiten gewechselt, was eben noch ewige Natur war, ist jetzt kulturelle Entartung und vice versa. Und während wir uns im neuen Narrativ als „Steinzeitjäger im Spätkapitalismus“1 – halbwegs adäquat! – bewegen (so der
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Ein zukunftsträchtiges Motiv, das auch die spätere Soziobiologie ausnutzen wird, um gegenwärtig unangepasstes menschliches Verhalten narrativ zu verzeitlichen.
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deutsche Titel von Tiger & Fox 1976), so führt das alte Narrativ die im Kern gleichen Verhaltenseigenschaften umgekehrt auf unsere kulturelle „Verhausschweinung“ zurück. Schon dieser Umstand sollte jeden halbwegs kritischen Konsumenten der evolutionären Erzählungen doch ein wenig misstrauisch machen. Aus dieser zweiten Umerzählung folgt nahtlos eine dritte, und die ist es, die Stil und Duktus der populären evolutionistischen Moral- und Ethiktexte prägt. Der genegoistischen Axiomatik folgend ist jede Form von Verhalten auffällig, erklärungsbedürftig und unwahrscheinlich, die dem Betrachter als phänotypisch selbstlos, als altruistisch imponiert. Dagegen ist egoistisches Verhalten naturgemäß, selbstverständlich, erwartbar und nicht weiter erklärungsbedürftig. Infolgedessen besteht das Fundament der neoevolutionistischen Moralgeschichten darin, dass jedwede Form von phänotypischem Altruismus so umerzählt wird, dass der genegoistische Kern „hinter“ dem vermeintlich selbstlosen Verhalten sichtbar wird. Erzähltechnisch (Burke 1969, 1984) ließe sich das als „debunking“ oder als „abwärtstranszendent“ charakterisieren: ein vermeintlich hoch stehendes Motiv: Altruismus wird als bloß täuschende Spielart des „eigentlich“ bestimmenden und axiomatischen Genegoismus „entlarvt“. Und wer solche Geschichten erzählt kann immer den Kollateralnutzen des illusionslosen Aufklärers und Ernüchterers einstreichen. Mit dem Masternarrativ vom egoistischen Gen betritt der neue Evolutionismus zugleich auch die Bühne, auf welcher (akademisch und populär) über Moral gesprochen wird. Ganz offenkundig folgen die erfolgreichen Moral-Erzählungen des neuen Evolutionismus just dieser Maxime: Im ersten Schritt belegen sie, dass die selbstlose Fürsorge der (tierischen oder menschlichen) Eltern für ihren Nachwuchs genegoistisch ist. Schließlich sind es die eigenen Gene, die im Nachwuchs weiter leben. Im zweiten Schritt zeigen sie dann, dass auch die weitere Verwandtenfürsorge evolutionär konditioniert ist durch den Grad der genetischen Übereinstimmung (kin selection, inclusive fitness). Und wer sich dann, darüber hinaus, noch selbstlos gegen genetisch Unverwandte verhält, der tut das, weil er sich kurz- oder langfristig davon eben auch einen Vorteil für die eigenen Gene erhofft (reziproker Altruismus). In jedem Falle muss die erwartbare Gegenleistung für altruistisches Verhalten den eigenen Aufwand übersteigen. Jedwedes Verhalten, das nicht in dieses (zwischen Verhaltensökonomie und Marktrationalität enggeführte) genegoistische Raster eingepasst werden kann, gilt als Produkt von Manipulation und Täuschung. Edward O. Wilson (1980, 1993), einflussreicher Begründer der modernen Soziobiologie (und sicher auch narrativ ihr geschicktester und vielseitigster Vertreter) unterscheidet zwischen zwei Spielarten des Altruismus: einer „milden“, die durch kulturell sublimierte Gegenseitigkeitserwartungen geprägt ist, sie erscheint an der Oberfläche als Streben nach Ehre, Ansehen, Reputation und ist
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äußerst anfällig für Lüge, Verstellung, Täuschung, und einer „strengen“ Spielart, die sich auf der Grundlage von Familien- und Claninklusion herausbildet und die durch Expansion des „Wir“ auf sozial weiter gespannte Kreise an Intensität rasch einbüßt. Die „strenge“ Form des Altruismus markiert Wilson (1993) als destruktiv, polemogen und als „Feind der Menschheit“, verantwortlich für die Kriege um reale oder symbolische „Wir“-Territorien (Stamm, Nation, Ethnie, Religion). Einzig die (kulturspezifische?) Beweglichkeit in der fallweisen Bildung von Eigenund Fremdgruppe verhindert für Wilson (1993) das Auseinanderfallen der Gesellschaften in mafiös-nepotistische Terrorverbände, die sich wechselseitig auszurotten suchen. Beide Spielarten des Altruismus sind vor dem Hintergrund der neoevolutionistischen Axiomatik tendenziell widernatürlich, weil der „natürliche“ Genegoismus in ihnen nicht auf seine Kosten kommt (das ist ganz wörtlich zu verstehen). Im „milden“ Altruismus sucht er durch Täuschung die eigenen Kosten zu minimieren und den eigenen Ertrag zu maximieren, im „strengen“ ist es der reale oder symbolische Feinddruck, der das Schicksal der eigenen Gene mit dem der restlichen Wir-Gruppe untrennbar verknüpft. Wir werden am Ende sehen, dass sich ein Teil der neoevolutionären Kulturkritiker (darunter auch Wilson 2012) neuerdings bereits wieder auf dem „Rückweg“ zur Anerkennung von group selection befinden. Welchen Sinn hätte es auch, die Menschen an ihre moralische Verantwortung als Spezies und als das „Bewusstsein des Planten“ zu erinnern, wenn ihre evolutionäre Natur sie zu kurzfristig-rücksichtslosen Genegoisten gemacht hätte, unfähig zu jeder selbstlosen Kooperation? Die Affinität des Neoevolutionismus zur Moral hat zwei Facetten. Einmal gehört sie zum Kern der diskursiven Verbreitung einer evolutionistischen Schlüsselattitüde. So verfügt fast jedes breit adressierte Evolutionsbuch über den exakt gleichen Themenkanon. Wir schlagen z.B. das Inhaltsverzeichnis von Edward Wilsons (2012) neuestem Werk The Social Conquest of Earth auf und finden im großen V. Kapitel, überschrieben mit „What are we?“ die stets kanonisch wiederkehrenden Gliederungspunkte: [a] [b] [c] [d] [e] [f] [g]
What is Human Nature? How Culture Evolved The Origins of Language The Evolution of Cultural Variation The Origins of Morality and Honor The Origins of Religion The Origins of the Creative Arts
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Damit ist alles beisammen, was zu einer regelrechten Schlüsselattitüde gehört. Bei philosophischen Gemütern wäre noch mit einem Abschnitt über evolutionäre Erkenntnistheorie zu rechnen. Ganz regelmäßig enthält die Liste: Sprache, Kultur, Moral, Religion, Ästhetik, somit alles, was nach herrschendem Verständnis die „Menschlichkeit“ des Menschen ausmacht (und alle Themen, die nach herkömmlichem Verständnis eben nicht in das „Fachgebiet“ der Evolution fallen). Wer Einfluss auf breitenwirksame Selbstdefinitionen des Menschen nehmen will, der muss eben diese Felder besetzen. Das ist nicht weiter überraschend. Interessanter ist die zweite Facette, die leicht übersehen wird. Sie besteht in dem bewährten Umstand, dass Evolutionsgeschichten für das breite Publikum stets auch (womöglich sogar überwiegend) Moralgeschichten sind. Und das sind sie seit den Anfängen des Evolutionismus auch immer gewesen. Jedes Narrativ, das exemplarisch oder theoretisch herausstellt, dass es in der Natur nicht „moralisch“ zugeht und dass Natur zur Begründung von Moral von niemandem in Anspruch genommen werden kann, untergräbt per se den „Natürlichkeitsanspruch“, den moralische Normen so gerne mit sich führen. Die bereits von Darwin (und seither immer wieder) erzählte Geschichte von den parasitären Wespenarten, die ihre Eier in zuvor betäubte Larven oder Raupen legen, welche dann von innen so verspeist werden, dass sie lange am Leben bleiben und die Nahrung nicht verdirbt, ist „esoterisch“ eine fachliche Beschreibung, exoterisch aber eine moralische Geschichte über die Unmoral der Natur. Und weil die Evolutionisten das instinktiv wissen, treten sie öffentlich stets mit Geschichten auf, die eine moralische Lesart mitführen. Die Soziobiologen gefallen sich in der Pose des zynischen Amoralismus, wenn sie z.B. über das Verhältnis von Mutter und Fötus interessenökonomistisch schreiben. So heißt es bei Meyer (2001), es gebe einen „Interessenkonflikt zwischen dem Fötus, der genetisch auf lange Verweildauer im mütterlichen Leib programmiert ist, und dem Interesse der Mutter an einer kürzeren Schwangerschaft. Es kann nur angedeutet werden, dass vom evolutionsbiologischen Gesichtspunkt die Tendenz des Fötus, möglichst lange im Mutterleib zu verweilen, als Versuch zur Maximierung der biologischen Interessen des Fötus verstanden werden kann. Auf diese Weise kann versucht werden, zwei Interessen des Fötus zu fördern, einmal die mütterlichen Ressourcen intensiv zu nutzen, zum anderen die Mutter daran zu hindern, alsbald in neue Föten zu investieren.“ (Meyer 2001: 120)
Weder ein Laie noch ein kühler Biologe kann vermutlich die Modellierung von Mutter und Fötus als konträre Marktpositionen mit je eigener konträrer Optimierungslogik ganz ohne moralische Konnotation lesen. Und wenn dann eine Autorin
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im interdiskursiven Streit mit der genegoistischen Signalkommunikationsdogmatik (wonach jedes Signal dazu dient, den Empfänger im Interesse der Sendergene zu manipulieren) schreibt: „When you hear two birds call in the morning, do you think they are lying to one another, planning how to cheat and steal from each other?“ (Roughgarden 2009: 4) Dann sind wir zwar vordergründig immer noch in einem biologischen Fachtext, aber de facto spielt die Musik längst auf der Moralbühne. Wenn der Evolutionismus also die öffentliche Bühne von Moral und Ethik mit explizit eigenen Erklärungs- und Begründungsansprüchen betritt, dann unterstreicht er damit gegenüber dem allgemeinen Publikum nur das, was er implizit schon lange tut: moralische Geschichten erzählen.
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E INLEITUNG
Ein definitiv neues, offenbar aber ziemlich lukratives Genre ist das evolutionsbiologische Sachbuch zum Thema „Moral/Ethik“. Es kommt unter Titeln wie „Bioethik“, „Egoismus und Moral“, „Verdammt zur Unmoral? Zur Naturgeschichte von Gut und Böse“, „Wie viel Moral erträgt der Mensch? Eine Provokation“, „Der moralische Instinkt“. Bisweilen erreicht die „Argumentation“ in diesen Werkchen nicht einmal das Niveau des aufgeklärten Stammtisches, was aber den Massenerfolg des Genres nicht zu hindern scheint, im Gegenteil. Allerdings scheint es für das Genre charakteristisch, dass ein und dieselbe Axiomatik auf unterschiedlichen Niveaus der „Fachlichkeit“ artikuliert wird. Denn auch in den wissenschaftlich ernsthaft auftretenden soziobiologischen Abhandlungen (z.B. Eckart Voland, Volker Sommer) begegnen uns die gleichen Geschichten. Wer sich daran erinnert, dass auch die durch Konrad Lorenz geprägte letzte Generation der Verhaltensbiologen über das Thema Moral/Ethik nachgedacht hat,2 der wird konstatieren können, dass das Thema mittlerweile massenkulturtauglich geworden ist und breit interdiskursiv proliferiert. Der karge Aussagenfundus, der in diesen Werkchen naturgeschichtlich, mit „Daten“ der Evolution, belegt wird, ist immer der gleiche. Die Eckdaten lauten:
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Erhebliche Breitenwirkung ging damals von Konrad Lorenzʼ Büchern über Das sogenannte Böse (Lorenz 1963) und Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit (Lorenz 1973a) aus. Man denke aber auch an Arnold Gehlens streitlustiges Werk Moral und Hypermoral (Gehlen 1973).
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Moral und moralanaloges Verhalten sind Produkte der Naturevolution, müssen also einen Überlebensvorteil haben. Da moraloides Verhalten im Verhältnis zur natürlichen Umwelt wenig hilft, wird ihr überwiegend eine reproduktionsfördernde Leistung zugeschrieben, d.h. es ist angelegt, die Verbreitung der Gene des Akteurs zu verbessern. Oft wird der Vorteil geteilter Wertvorstellungen in einer Form des Gruppenzusammenhalts nach außen, in der Stärkung der Eigengruppe gegen andere, gesehen. Das entspricht den von Darwin selbst geäußerten Ansichten, involviert aber eine Art sekundärer group selection, die den puristischen Vertretern der „Neuen Synthese“ unangenehm oder unheimlich ist. Denn: Wie alle Lebewesen ist auch der Mensch von Natur Egoist. Altruismus ist also in der Evolution nur erfolgreich, wenn er im Dienste des Egoismus steht, und das tut er nur dann, wenn er [a] sich auf die genetisch Verwandten (kin) bezieht oder wenn er [b] als „reziproker Altruismus“ auf kalkulierbarer (d.i. „Trittbrettfahrer“ ausschließender) Reziprozität beruht. Alle anderen kollektiven Verbindlichkeiten sind von Übel, insbesondere wenn sie von Staaten und Religionen ausgehen. Je populärer die Werke, desto spürbarer der antireligiöse und antistaatliche Affekt. Moral korrumpiert – so lautet die Nachricht –, insbesondere, wenn sie mit Macht verbunden ist und sie legitimiert. Moralische Ansprüche von Organisationen, Gemeinschaften und Ideologien sollten mit Misstrauen und Argwohn betrachtet werden. Gepredigt wird eine Art „aufgeklärter“ Hedonismus, der sich einzig auf den Egoismus der anderen verlässt. Die einzige „natürliche“ Einheit, die über das Individuum hinausreicht, ist die Familie, es folgt der überschaubare Nahbereich kalkulierbarer Gegenseitigkeit, alle anderen Quellen von Pflichten oder Verbindlichkeiten (bis hin zum Steuer einfordernden Staat) sind gegen die Natur. 3 Lautstark gewarnt wird vor allen Spielarten der moralischen „Überforderung“ des Individuums, was ja durchaus an die im Grundsatz gegen Moralisierungen gerichtete Tradition der alten konservativen Verhaltensbiologie erinnert. Ansonsten wimmelt es in den fraglichen Texten von Plattitüden, die natürlich jeder unterschreiben kann („Nächstenliebe ist jedenfalls nur begrenzt lebbar“, weil manch anderer uns unsympathisch ist (Wuketits 2010: 78)). Darwins aufklärerischer moralischer Optimismus, der von einer Erwartung auf allmähliche Weiterung partikularer Moralund Identitätsquellen – vom Eigenclan bis hin zur „Menschheit“ (über Stämmen, Ethnien, Rassen, Nationen, Kulturen etc.) ausgeht, wird in den einfachen Moralratgebern in der Regel als „idealistisch“ abgewiesen, in speziell kulturkritischen
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„Der Nepotismus ist tief in unserer Natur verwurzelt; er bildet die Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung“, schreibt Wuketits (2010: 177), einer der fruchtbaren Vertreter des Genres.
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Werken (etwa bei Jared Diamond) aber als programmatische Perspektive „menschheitlichen“ Überlebens unterstellt und de facto in Anspruch genommen. Dass anspruchsvolle moralische Werte selbstverständlich immer nur für die eigene identitäre Ingroup gelten und mit rücksichtslosester „Außenmoral“ mühelos koexistieren können, wird breit ausgeflaggt, mit der Stoßrichtung des uralten Motivs, dass universalistische Moralen nur durch besondere Rücksichtslosigkeit gegenüber dem dann (aus der „Menschheit“ ausgeschlossenen) Außen glänzen und ergo letztendlich zerstörerisch sind. Dabei darf der gebildete Leser dann gerne an die bekannten Sätze denken: „Wer ‚Menschheit‘ sagt, will betrügen“ oder „Die Menschheit entsteht durch Propaganda“. Jeder größere Kontext überfordert oder täuscht das Individuum, dem letztlich nahe gelegt wird, zu Hause zu bleiben und sich um Familie und Vorgarten zu kümmern. Moral ist stets polemogen, und bei zu viel Moral droht stets deren „Diktatur“, wie es im Epilog von Wuketits (2010) heißt. Die „message“ ist stets hoch kompatibel mit dem Hedonismus einer (vermeintlich) hoch individualisierten Massenkultur. Als Passepartout und Aufklärungssurrogat gelten die ewigen Naturgesetze der Evolution, und selbst ein so einfacher Gedanke wie der, dass überhaupt nur zur moralischen Forderung einer Kultur erhoben werden kann, was gegen „natürliche“ und „spontane“ Handlungsmotive und -neigungen in Stellung gebracht wird, kommt selten. Welchen Sinn hätte eine normative Forderung, der wir schon „von Natur“ folgen und genügen? So freilich ist die Forderung, sich seiner Natur gemäß zu verhalten, einfach nur die Lizenz für ein umfassend gutes Gewissen und somit die simpelste aller Moralisierungen, und man muss wohl die Warnung, welche die Autoren dieses Genres gegen alle Arten von Moral in die Welt setzen, auch auf ihre eigene ausdehnen. Es verdient freilich Beachtung, dass das populäre Genre der akademischen Konjunktur des Themas um wenigstens zwei Jahrzehnte nachhinkt (einen sehr guten Überblick über die akademische Debatte gibt Bayertz 1993). Die akademischphilosophische Gegenwehr gegen evolutionistische Trivialethiken geht meistens qua Verweis auf deren naturalistischen Fehlschluss vom Sein zum Sollen. Aber das ist nun keineswegs ein kluges Argument, weil jedwede moralische Forderung immer von dem abhängig ist, was zuvor als Ist-Zustand der menschlichen „Natur“ konsensfähig ratifiziert wird. Die „Stärke“ oder massenkulturelle Überzeugungskraft einer evolutionären Moral/Ethik liegt aber gerade darin, dass sie den durchaus einleuchtenden Satz: Nichts geht gegen die Natur des Menschen auf ihrer Seite weiß. Dramaturgisch (im Sinne von Burke 1969) gesprochen: auf der Ebene von purpose/goal geht in einer evolutionistischen Szene nur, was im Einklang mit der evolutionär herausgebildeten Natur des Handelnden ist. In einer emanzipatorischen Szene, die nur goals/purposes vorsieht, mittels derer sich der Akteur über
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die Begrenzungen seiner Natur und Szene erhebt, sieht das Gefüge der handlungsleitenden Größen gleich ganz anders aus. Dann muss man freilich „Kulturen“ gegen die Natur in Stellung bringen (oder diese letztere selbst beim Menschen als plastische, nicht festgelegte fassen, wie in der Tradition von Herder über Marx bis Gehlen). Wiewohl längst ideologisch „the only game in town“, pflegen die Evolutionisten (und besonders die Humanethologen) an der Öffentlichkeit das Selbstbild einer kleinen, von allen Seiten befehdeten Minderheit, die unbeirrt die Fackel der Aufklärung durch die ahnungslos anthropozentrische oder religiös geblendete Menge trägt. Es wäre an der Zeit, auch einmal darüber nachzudenken, welchen Überlebensvorteil diese Haltung in einer massenkulturellen Szene gewährt. In der evolutionären Moral/Ethik freilich wird die Plastizitätshypothese dramaturgisch in ihr Gegenteil verkehrt: aus der kulturell formbaren Knetmasse ist ein festes Gerüst unumstößlicher Naturtatsachen geworden, die zu ignorieren (to say the least) leichtfertig wäre. Wer auch nur ein wenig philosophische Halbbildung mitbringt, kann freilich wissen, dass ein moralisches Urteil überhaupt nur dann einen Sinn hat, wenn das beurteilte Lebewesen für seine Handlungen verantwortlich ist, wenn es eine Wahl hat, wenn unterschiedliche Kräfte auf es wirken, so dass es sich zwischen ihnen entscheiden muss. Irgendeine Variante des Plastizitätsarguments muss also greifen, wenn der diskursive Sinn des naturalisierten Egoismus nicht einfach auch dessen Legitimation sein soll. Wer gar nicht anders kann, als egoistisch (oder altruistisch) zu sein, der „verdient für seine Tugend nicht mehr Bewunderung als für die Größe seiner Ohren“ (Eagleton 2011: 19). Studieren lässt sich auch die Form des Überlebens von Bildungswissen im neuen Frame der populären Biologie. Es dient dem punktuellen Ausweis von Kompetenz und der Selbstinszenierung des Autors. Wuketits (2010) zitiert im Eingang seines Buches durchaus gerne aus Nietzsches Genealogie der Moral und zeigt damit, dass er auch philosophisch „mitreden“ kann. Und den Tenor der „masseneudämonistischen“ (hätte Gehlen gesagt!) Ethik erkennt man leicht an der völligen Verständnislosigkeit, die Wuketits dem Tod des Sokrates entgegenbringt: „Er wurde angeklagt, dass er nicht an die staatlichen Götter glaube und die Jugend verderbe, und zum Tode durch den Giftbecher verurteilt – dem er sich aus Achtung vor dem Gesetz nicht durch Flucht entziehen wollte (!). Ist es nicht aberwitzig, das eigene Leben freiwillig einem Gesetz zu opfern, von dem man selbst nicht überzeugt ist? Aber Sokrates sah das wohl anders […].“ (Wuketits 2010: 14f)
Moralen, die nicht einfach auf Leistung und Gegenleistung beruhen, sondern auf programmatischer „Steigerung“ innengeleiteter Charaktere, auf marktjenseitigen
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Verbindlichkeiten etc., gelten als potentiell terroristisch – weshalb in solchen Schriften auch niemals der „Nachweis“ fehlen darf, dass Selbstmordattentäter nun wirklich die schlimmsten Egoisten sind. Wuketits (2010: 50f) spricht von irrationalen „Pseudofamilien“, nennt das identifikatorische Fußball-Wir bei Länderspielen (und fragt nicht einmal, wieso derartige „biologische Fehlanpassungen“ wie die – opferbereite – Identifikation mit Ethnie, Nation, Religion, Utopie eigentlich die gesamte Menschheitsgeschichte bestimmen können).4 Müsste nicht, wer über menschliche „Moral“ spricht, mit symbolisch generalisierbaren Normquellen beginnen, die ererbte Verhaltenstendenzen und -strategien unter kollektivem Einfluss (sagen wir) zu überlagern beginnen? Solche Trivialpositionen in Sachen evolutionärer Ethik sind aber nicht nur völlig blind für die Tatsachen des historisch gesellschaftlichen Lebens, sie sind auch völlig ohne fachliches Gedächtnis. Seit Piagets einschlägigen Studien gilt zumindest als halbwegs bekannt, dass in der moralisch-normativen Sozialisation des Einzelnen zwei konkurrierende „Quellen“ von Normativität eine Rolle spielen: Die Autorität, die aus der langen Schutzbedürftigkeit und dem Umgang mit Erwachsenen (vor allem den Eltern) stammt, und die Gegenseitigkeit, die aus den Interaktionen mit Gleichaltrigen (peers) stammt. Noch vor wenigen Jahren galt in der Entwicklungspsychologie der Piaget-Tradition (etwa bei L. Kohlberg; vgl. für einen Überblick Kohlberg 1974) eine reine Reziprozitätsmoral (wie du mir – so ich dir, tit for tat) als unreif und altersangemessen lediglich für die präpubertäre Latenzphase. Eine solche spontane moralische Einstellung galt als „präkonventionell“ und instrumentell-relativistisch (Stufe 2 der moralischen Entwicklung). Witzigerweise notiert der Wikipedia-Eintrag zu Kohlbergs Lehre, dass zwischenmenschliche Beziehungen auf dieser Stufe als „Marktbeziehungen“ erscheinen und der eigene Vorteil bestenfalls durch Reziprozitätsansprüche anderer Individuen relativiert werden könne. Darüber hinaus dürfte ein so hochgradig normativer Lernprozess wie der kindliche Spracherwerb kaum ohne eine spontane und natürliche Bereitschaft, kollektiven Normen zu folgen, erklärbar sein. Sprechen lernen heißt: Sprechen lernen wie die anderen. Oder, in der Sprache Wittgensteins: an normierten Sprachspielen teilnehmen.5 Ganz abgesehen davon, dass es ziemlich solide entwicklungspsychologische Evidenz dafür gibt, dass intrinsisch prosoziales und kooperatives Verhalten durch individuelle Belohnungen keineswegs gefördert, sondern vielmehr unwahrscheinlicher gemacht wird.
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Da ist er wieder: der Mensch als Irrläufer der Evolution! Vgl. hierzu auch Tomasellos (2010: 41) Bericht über einen Versuch mit Dreijährigen, die sich spontan an der aktiven Durchsetzung einmal etablierter Spielnormen beteiligen.
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Dagegen entspricht es völlig unserer genetischen Natur, wenn wir uns für die Träger unserer Gene opfern. Kein einschlägiger Text, der nicht den (spieltheoretisch-ironischen) Satz von William D. Hamilton (dem Begründer des einflussreichen mathematischen Modells für inclusive fitness und kin selection) zitierte, wonach dieser gerne sein Leben für „zwei Brüder oder acht Cousins“ in die Waagschale werfen würde. Denn in der Welt der Spieltheorie können Gene für Altruismus nur überleben, wenn sie ihren Trägern einen Vorteil verschaffen, der größer ist als der Nachteil, den altruistisches Verhalten per se bedeutet. Das heißt die zu überschreitende Schwelle für altruistische Gene ist die, bei der „mehr“ von ihnen überleben als durch die altruistische Aktion möglicherweise untergehen. Eine andere Frage ist, ob dieser Umstand für Moral und für ethische Begründungen relevant ist.6 Der (zweifellos vorhandene, sogar beträchtliche) Reiz der soziobiologischen Perspektive auf menschliches Verhalten allgemein und Moral im Besonderen besteht in der Möglichkeit, „unbewusste Strategien“ der Zieloptimierung zu entdecken und mit ihren „ideologischen“ (sprich: moralischen) „Rationalisierungen“ zu konfrontieren. So gesehen ähnelt das soziobiologische Projekt durchaus dem Materialismus der Aufklärung. Freilich liegt die Kehrseite bereits in der Bezeichnung „unbewusste Strategien“ zu Tage. Das ist dramaturgisch ein Fall von „perspective by incongruity“ (Burke 1984: 308ff), weil Strategie Bewusstheit impliziert und „unbewusste Strategien“ daher unlogisch sind. In die so entstandene Leerstelle tritt immer eine Variante des evolutionären Auslesemechanismus, der strategieanalog (d.i. „teleonom“) wirken soll. Da aber selektive Überlebens- und Fortpflanzungsvorteile für alles und jedes leicht zu konstruieren sind, erhält die evolutionistische Methode leicht einen gleichermaßen sophistischen wie fundamentalistischen Beigeschmack („casuistic overstretching“ wäre hier Burkes Diagnose). Zumal die Vertreter des Evolutionismus ja nicht müde werden zu beteuern, dass die Evolution kein Ziel habe, sondern nur die Gene ihre eigene Reproduktion optimieren.
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Und die Frage ist natürlich auch, ob Verhaltensweisen die gleiche Reproduktionslogik haben (müssen) wie Gene, ob also ein Verhalten nur dann auf Dauer zu stellen wäre, wenn es dem Ausübenden mehr Vorteile als Nachteile verschafft. Zum einen gibt es viele Evolutionisten, die abstreiten, dass die Evolution Verhaltensweisen überhaupt direkt betreffen kann – und nicht nur Gene, die an ihrer Herausbildung beteiligt sind (z.B. Dawkins). Zum anderen wäre es ganz gegen jede Erfahrung, weil eben z.B. alle gescheiterten, kollabierten Kulturen Jared Diamonds ja belegen, dass sich auch langfristig schädliches Verhalten kulturell auf Dauer stellen lässt.
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Eine Art evolutionärer „Erfolg“ von Moralen wäre aber dann zu konstatieren, wenn sie ansehnliche, hochwertige und zustimmungspflichtige Memstrukturen etablieren könnten für Verhaltensweisen, die in allgemeinen evolutionären Anpassungsstrategien wurzeln. Argumentativ geht dann aber wieder zweierlei: eine Art „List der Vernunft“-Argumentation, die das evolutionär erfolgreiche auch moralisch prämiert, oder aber eine sozial-kulturelle Zweckmäßigkeitsargumentation, wonach Verbände dann in der Konkurrenz mit anderen mehr Erfolg haben, wenn sie diese Züge durchsetzen. Die Primitivliteratur zum Thema Moral hat dagegen ganz platt ideologischen Charakter: hedonistisch konsumieren, dem Staat misstrauen und gemeinschaftsbasierte Moralen ablehnen. Sie stellt nicht einmal die allersimpelste Frage, die sich jeder Evolutionist stellen müsste: wie nämlich die angeblich so dysfunktionalen Wertsysteme der Religionen, Weltanschauungen, Ethnien etc. entstanden sind und sich halten konnten, wenn sie so dysfunktional waren. Jared Diamond ist da ein Autor von andrem Kaliber. Bei ihm regelt das kulturelle Wertsystem (neben den geographischen Bedingungen, den verfügbaren Ressourcen, dem Klima etc.) die Sozial- und Naturverhältnisse, und damit ist die Frage möglich, ob das positiv bewertete Verhalten unter den gegebenen Bedingungen auf Dauer gestellt werden kann („Nachhaltigkeit“) oder ob es auf Dauer selbstzerstörerisch wirkt (vgl. Diamond 2005). Und ein so nahe liegender Gedanke wie der, dass der Erfolg von universalistischen Großmoralen gerade darin bestehen könnte, dass sie überlegene kollektive Identitäten formen, ohne deren Träger wirkmächtig auf bestimmtes Verhalten zu verpflichten, dass sie gewissermaßen genügend flexible Memressourcen bereithalten, um jeweils machtvergrößernde Praktiken zu legitimieren etc. Rein theorielogisch betrachtet erliegt jede Variante des Evolutionismus dem Reduktionismusverdikt, die Gene als einzig wahre und „zuverlässige“ Akteure in ihre Rechnungen stellt. Ich gebe ein Beispiel: „Gefühle sind nur die Handlanger der Evolution. Unter all den Gedanken, Gefühlen und Temperamentsunterschieden, auf deren feinsinnige Analyse Eheberater so viel Zeit verwenden, wirkt die Kriegslist der Gene – kalte, gefühllose Funktionsgleichungen mit einfachen Variablen: sozialer Status, Alter des Ehepartners, Zahl der Kinder, Alter der Kinder, objektive Chancen usw.“ (Wright 1996: 149)
Wer nämlich alles, was nicht die Gene sind, solchermaßen für irrelevant erklärt, der vergisst die einfachste aller Fragen: Warum haben sich denn alle die accessorischen Gefühle, Gedanken, Temperamente etc. herausgebildet und warum halten sie sich, wenn sie nicht auch eine aktiv mitgestaltende Rolle im Geschäft der Evolution spielen? Der gleiche Autor schreibt wenige Seiten später über die Genese
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der Hackordnung auf einem Hühnerhof, das einzelne Huhn B müsse gar nicht denken oder wissen, dass es einen Kampf gegen Huhn C gewinnen, gegen Huhn A aber verlieren werde. Das sei vielmehr einer der Fälle, „bei denen das ‚Denken‘ bereits von der natürlichen Selektion erledigt wurde und deshalb nicht mehr vom Organismus geleistet zu werden braucht“ (Wright 1996: 383). Umso wichtiger wird es natürlich, eine Antwort auf die Frage nach der Evolution des Denkens zu geben. Wozu braucht man es, wenn es bereits von der natürlichen Selektion so elegant geleistet wird? Die Antwort geben natürlich wieder die Gene, die das einzelne Huhn mit selektiver Furcht vor kostspieligen Kämpfen versehen – aber doch offenbar auch mit der Fähigkeit, die Kosten im Einzelfall halbwegs sicher vorauszusehen? So wird alles, was mit Gruppenbildung und Sozialverbänden zu tun hat, wiederum umdefiniert als individuelle Anpassung an die Konkurrenz um Ressourcen, Nahrung, Fortpflanzungschancen – bis hin zum Menschen. Es ist ja lediglich eine fast tabuartige Zurechnungsbeschränkung, welche die Neoevolutionisten daran hindert, die Realität von Gruppen mit funktionaler Organisation zur Kenntnis zu nehmen. Seit dem paradigmatischen Umbruch zur „Neuen Synthese“ 7 im Evolutionismus, der sich Mitte der 70er Jahre vollzog und im folgenden Jahrzehnt befestigte, steht die Hauptkonfliktlinie der Neodarwinisten gegen alle Formen von group selection und Denken in Vor- bzw. Nachteilen für die Art. Diese letztere ist vielmehr als evolutionistischer Oberbegriff nominalistisch dekonstruiert worden. Für den Inbegriff einer Entgleisung gilt etwa Konrad Lorenz’ Modell der Kommentkämpfe mit innerartlicher Tötungshemmung, die bekanntlich auch in der ethologischen Anthropologie Lorenzʼ eine wichtige Rolle spielten, weil dieser die Pathologie der Spezies Mensch teils im Fehlen einer solchen innerartlichen Tötungshemmung lokalisierte. Inzwischen gilt die Art/Spezies als unser mentales Konstrukt und sie kann als „Faktor“ der Entwicklung nicht mehr geltend gemacht werden. Wer immer das versuchte, wäre eo ipso als Vertreter eines alten Denkens geoutet. Die evolutionistische Debatte um group selection ist naturgemäß zentral für das framing moralisch-ethischer Fragen, weil nur mit der Prämisse Gruppenselektion altruistische Moralen (über genetisch Verwandte hinaus) Ergebnis natürlicher Anpassung sein können. Ich zitiere eine kanonische Formulierung:
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Das Schlagwort von der „Neuen Synthese“ taucht, wenn ich richtig sehe, zuerst im Titel von Wilsons (1975) Soziobiologie auf, wird dann von anderen (von Ernst Mayr bis Richard Dawkins) aufgenommen und wirkt an der Öffentlichkeit (via Dawkins) als Chiffre für ein strikt individualistisches Naturbild, in dessen Rahmen jeder jeden auszutricksen und zu manipulieren sucht und wo es also etwas definitiv nicht gibt: gemeinsame Angelegenheiten oder gar Interessen.
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„Gruppenselektion impliziert notwendigerweise, dass einige Individuen ihre Lebens- und Reproduktionsinteressen zugunsten ihrer Gemeinschaft zurückstellen, sich also wahrlich genetisch altruistisch verhalten. Weder theoretische Überlegungen noch empirische Befunde lassen es jedoch als wahrscheinlich erscheinen, dass ein solcher Evolutionsmechanismus jemals zu Verhaltensanpassungen geführt hat. Wie könnte sich ein Erbmaterial, das seinen Träger zur reproduktiven Einschränkung zu Gunsten nichtverwandter Gruppenmitglieder motiviert, in der Population ausbreiten?“ (Voland 2009: 7)
Zu den Grundfesten der neoevolutionistischen Moralvorstellungen gehört, dass alles, was auf den ersten Blick altruistisch, kooperativ oder gruppenbezogen wirkt, als egoistisch „entlarvt“ werden kann respektive muss. Wer sich halbwegs mit der (sprachlichen) Dialektik von Terminologien auskennt (Burke 1969), der wird über einen solchen Kategorisierungszwang natürlich lachen, denn selbstverständlich ist es ein Leichtes, jeden „altruistischen“ Akt als „in letzter Instanz egoistisch“ und jeden „egoistischen“ Akt als „in letzter Instanz altruistisch“ nachzuweisen. Anders gesagt: sprachliche Kategorisierungen mir Hilfe solcher Antonympaare schließen jeweils ihren oppositiven Term strategisch ein. Wer sich selbstlos gegen seinen genetisch unverwandten Nächsten verhält, der ist „egoistisch“ im Hinblick auf eine künftig erwartete Gegenleistung (ob er sie nun kriegt oder nicht). Und wer eigene Ressourcen für das Wohl einer Gruppe oder Gesamtheit einsetzt, der schielt bereits auf die Ressourcen der andren, auf die er künftig mit Aussicht auf Erfolg Anspruch erheben zu können glaubt (ob er sie nun kriegt oder nicht). Im Gegenzug gilt freilich auch, dass das hoch egoistische Alphamännchen einer polygynen Horde in seiner Monopolisierung der Fortpflanzung sehr leicht umkodiert werden kann auf das Wohl der ganzen Horde, für das es in irgend einer Weise „verantwortlich“ ist (oder sein soll). Die Opposition „egoistisch“ vs. „altruistisch“ ist also für alle genuin wissenschaftlichen Zwecke viel zu sehr alltagssprachlichen Dialektiken des beweglichen Ein- und Ausschlusses verhaftet, als dass mit ihr wirklich trennscharf und heuristisch fruchtbar – jenseits einer opportunistischen Rhetorik, die ein und dasselbe Verhalten einmal als egoistisch, einmal als altruistisch klassifiziert – operiert werden könnte.8 Die Opposition ist evaluativ eindeutig und exklusiv: Egoismus ist moralisch negativ und Altruismus ist moralisch positiv konnotiert. Sie ist indes denotativ uneindeutig und inklusiv, weil Eigenwohl und Fremdwohl einander keineswegs ausschließen, schon gar nicht auf der Ebene symbolischer Motivzuschreibung. So ist die sprachliche Engführung von egoistischem Machterhalt und altruistischem Gemeinwohl das tägliche Brot der politi-
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Das gilt natürlich auch für den „Klassiker“ des Genres, Dawkins (1976).
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schen Kommunikation. Jede reale oder symbolische Handlung in einem Machtfeld kann sowohl „egoistisch“ als auch „altruistisch“ evaluiert werden. Es handelt sich hier um einen Umstand, den Robert Musil (1913) bereits als „drollig“ bezeichnet hat: „Man hat nachgewiesen, dass sich jede altruistische Regung auf Akte der Selbstsucht zurückführen lässt; man hätte ebenso gut nachweisen können, dass in jeder egoistischen Handlung altruistische Antriebe versteckt sind.“ (Musil 1913: 1002)
Ein gleichfalls uralter Topos in evolutionistischen Morallehren ist der Kleingruppenbezug aller moraloiden Verhaltensweisen: Weil Kooperation sich nur in überschaubaren Kleingruppen mit langer persönlicher Bekanntschaft „rechnet“, ist unsere „natürliche“ Moral auf eben solche Nahfelder eingestellt (übrigens auch schon bei Gehlen 1973), während sie in den modernen Großgesellschaften „nicht funktioniert“ oder gar zu grotesken Fehlanpassungen führt. Hier lassen sich auch Implementierungen des Tragedy-of- the-Commons-Motivs finden:9 „Kooperation, auch wenn sie sich langfristig auszahlen würde, kann nicht so ohne weiteres spontan entstehen, weil altruistische Vorleistungen, motiviert durch das kurzfristige Eigeninteresse des Partners, Gefahr laufen, ausgebeutet zu werden. Die ist das Grundproblem der sozialen Evolution des Menschen: Ohne Vertrauen (oder Kontrolle) läuft nichts. Überschaubare, auf individueller Vertrautheit basierende Kleingruppen kennen deshalb auch nicht, was so kennzeichnend für die modernen Großgesellschaften ist, nämlich die Verelendung öffentlicher Güter. Was allen gehört, gehört im Grunde niemandem, und deshalb gibt es auch fast keine evolutionär entstandene Motivation, in öffentliche Güter zu investieren oder sie auch nur zu schonen.“ (Voland 2007: 22)
Jeder, der in irgendeine „Vorleistung“ tritt, so die Axiomatik, ruft nicht nur „Trittbrettfahrer“ auf den Plan, er begünstigt auch deren Ausbreitung in der Population bis an den Punkt, wo sie diejenigen bedrohen, bei denen sie „mitfahren“ (vgl. den Abschnitt über Spieltheorie). Es fällt natürlich auf, dass insgesamt moralische Orientierungen, die man ja „kontrafaktisch“10 zu definieren gewöhnt ist, mit ihren „natürlichen“ Erfolgsaussichten in eines gesetzt werden. Und so entsteht ganz unweigerlich der narrative Effekt, dass angesichts der „Realität“ jede moralische Orientierung immer blamiert aussieht. Entweder „überfordert“ uns die Moral oder
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Vgl. den Beitrag zur Tragedy of the Commons in diesem Band.
10 Anders gesagt: Als „moralisch“ ist eine Orientierung dann definiert, wenn sie auch bei Misserfolg festgehalten wird.
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sie liefert uns Mystifikationen für unsere Selbsttäuschung. Von diesem (jederzeit mühelos verfügbaren) Effekt machen die neoevolutionistischen Morallehren reichlich Gebrauch. Gray (2010) präsentiert jede Moral als eine lasterhafte, abergläubische und fromme Selbsttäuschung: Wir hätten gelernt uns einzureden, dass in unserem Handeln moralische Kriterien Vorrang (vor allem gegenüber materiellen und machtmäßigen und egoistischen Motiven) hätten, das Christentum verorte die Quelle dieser Überzeugung im Jenseits, der Humanismus (die letzte Religion!) verorte sie im Diesseits (Gray 2010: 102 und öfter). Der evolutionäre Sinn von Moral, so die vorherrschende story line, liegt darin, dass Moralen uns erlauben, uns „gut zu fühlen“ bei der Verfolgung unserer egoistischen Interessen. Mit bedeutungsschwerem Nietzscheanismus formuliert Gray (2010: 131) dann Sätze wie: „Moral ist eine dem Menschen vorbehaltene Krankheit.“ Auf der anderen Seite des moralischen Spektrums finden wir die Schöngeister, die sich durch den soziobiologischen Zynismus gekränkt fühlen, der etwa die notorische Diskrepanz zwischen moralischem Ideal und ernüchternder Realität auf den Umstand zurückführt, dass es handfeste Vorteile bietet, andere zu altruistischem Verhalten zu ermahnen, sich selbst aber im Zweifel egoistisch zu betätigen, d.h. ein Stück Trickserei und „Priesterbetrug“, öffentliches Wasser-Predigen und heimliches Wein-Trinken gewissermaßen der moralischen Geschäftsordnung einzuverleiben. Wie immer das sei, fast anrührend ist es, dass alle (aber auch wirklich alle) in dieser Debatte den alten Darwin selbst auf ihrer Seite wissen (wollen), als ob der viktorianische Bürger kraft seiner Autorität in der Geschichte der Arten auch automatisch eine Autorität in Fragen der ewigen Moral sein müsste!
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P ARADOXIEN
UND
U MERZÄHLUNGEN
Nur was den Segen der Evolution hat und dem Überleben der eigenen Gene nutzt, kann bzw. soll sich in Gesellschaften halten, das ist der triviale Stammtischegoismus der evolutionären Ethiker. Wer eine Spur weiter denkt (Wright 1996 z.B.), dessen Rechnung mag noch immer spieltheoretisch sein, sie zieht aber den Umstand mit ein, dass geteilter Vorteil, dass die Früchte von Nichtnullsummen-Spielen, nur dann geerntet werden können, wenn Akteure das allgemeine Wohl im Auge haben. Alle haben Vorteile davon, dass niemand besoffen Auto fährt. Weil sie letztlich gar nicht anders können als dem „Erfolg“ recht zu geben (wie immer auch „Erfolg“ definiert sein mag), sind naturalisierende Moralprogramme letztlich immer auf Enthemmung und Legitimation der Stärksten gestellt. Das hat der klassische Sozialdarwinismus des späten 19. Jh. vorgeführt, und es gilt für die
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neoliberale Soziobiologie der Gegenwart mit ihren verquasten Morallehren nicht minder. Mit Blick darauf, dass „moralisch“ (d.h. normativ und kontrafaktisch) sinnvollerweise vom Einzelnen nur gefordert werden kann, was er nicht ohnehin schon „von Natur“ tut, sollte es evident sein, dass jede moralische Forderung sich in gewissem Sinne gegen natürliche (wie immer das zu definieren wäre) Verhaltenstendenzen richtet. Dass Moral „unnatürlich“ sei, wäre somit eigentlich eine Tautologie. Was zur menschlichen Natur gehört, das braucht nicht per Moral gefordert zu werden. Erforderlich wird ein außengestütztes (durch gesellschaftliche Institutionen vermitteltes) Gefüge moralischer Normen nur dann, wenn man davon ausgeht, dass die evolutionär herausgebildeten Verhaltenstendenzen entweder dysfunktional oder aber mindestens in hohem Maße verunsichert und weltoffen (und auf künstliche, sekundäre, institutionelle Formen des Außenhalts angewiesen) sind. Letzteres war bekanntlich Gehlens Ansicht. Den Kampf gegen die (vermeintlich sündhaften) natürlichen Antriebe schreiben dagegen die Religionen auf ihre Fahne. Nicht ausgeschlossen ist durch diese Argumentation freilich, dass auch „natürliche“ Antriebe und Neigungen kulturell kanalisiert und in gesellschaftliche Formen eingeschlossen werden. Allerdings beinhaltet das stets auch ein Moment der Kanalisierung und Beschränkung, so dass ein relativer Gegensatz zwischen „Natur“ und „Kultur“, wo er nicht vorausgesetzt werden muss, doch auch hergestellt wird. Die narrativ-argumentative Paradoxie dieser Konstellation wird deutlich, wenn man bedenkt, dass für den strikten Neoevolutionismus moralische Forderungen gegen die evolutionär erfolgreichen Verhaltenstendenzen des Individuums unmöglich wären, während moralische Forderungen im Einklang mit diesen Tendenzen völlig überflüssig wären. Bestenfalls könnten sie dann hilfreich sein, wenn sie dabei helfen, Konflikte und Widersprüche zwischen natürlichen Verhaltenstendenzen zu bearbeiten und zu regulieren, wenn sie „Prinzipien für den Umgang mit Konflikten zwischen Prinzipien“ (Kenneth Burke) bereitstellen. Auch diese Tradition ist einer Lehre, die von mehreren konkurrierenden „natürlichen“ Moralquellen ausgeht (wie z.B. Gehlen 1973), nicht fremd. Und sie ist natürlich auch weit eher mit den historischen Erfahrungen des Wandels von moralischen Wertsystemen (von Askese und Verzicht bis hin zum konsumistischen „Sozialeudaimonismus“ der industriellen Massengesellschaft) vereinbar als der zeitlose genegoistische Nutzenmaximierer, den der Neoevolutionismus einzig gelten lassen will.
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Durch die quasi-naturwissenschaftlich eingesegnete Fortschrittserwartung war der „alte“ Darwinismus – natürlich nicht der „authentische“ Darwin, dem solche Annahmen völlig fremd waren – ein natürlicher Verbündeter der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung, beide empfanden den Darwinismus (bzw. die Naturevolution) als eine allgemeine Kraft der Höherentwicklung, die letztlich „für sie“ arbeitet.11 Dass die allgemeine Solidarität eine Frage des „naturgeschichtlichen Werdens“ (Bebel) sei, lässt den einzelnen starken Rückenwind in der Tendenz alles Natürlichen fühlen, aber kann er sich dann nicht ebenso gut zurücklehnen und warten? Durch das Recht des Stärkeren und die Legitimation durch den Erfolg war eben dieser „alte“ Darwinismus auch ein Verbündeter der Reaktion (so lange sie erfolgreich war!). War das Bündnis mit dem damaligen Darwinismus wegen der „Unausweichlichkeit des Fortschritts“ fatal für die Sozialdemokratie (und auch für viele Kommunisten), weil es keine politischen Anstrengungen motiviert, die anderen zu überzeugen, dass die eigene Option wirklich besser ist, so ist bei den neuen Darwinisten jedenfalls dafür gesorgt, dass sie für die Schwachen, auch wenn sie in der Mehrheit sind, keine attraktive Option abgeben. Die unbedingte Apologie des Egoismus, die der neue Darwinismus pflegt, stärkt und legitimiert die Machthaber um jeden Preis, nicht einmal „Fortschritt“ müssen sie mehr auf den Weg bringen. Es genügt, wenn sie ihre Macht biologisch weitergeben. In dieser Hinsicht ist die Refeudalisierung der Machtnetzwerke in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften ein fatales Symptom, auch wenn im Zentrum dieser Netze nicht Dynastien stehen (oder noch nicht), sondern Banken, Hedge Fonds, Finanzunternehmer. Der neue Darwinismus der Soziobiologie ist Legitimation der Ungleichheit sans phrase. Dabei müsste eigentlich auch spieltheoretisch-mathematisch darstellbar sein, dass selbst der rücksichtsloseste Genegoist gut daran tun würde, mit den „Vehikeln“ (so bezeichnet Dawkins 1976 die Individuen, welche die Gene zur Beförderung ihrer Replikation benötigen) zu kooperieren, die er zur Weitergabe seiner Gene dringend benötigt, obwohl sie seine Gene (als Unverwandte) nicht „haben“. Selbst an deren Wohlergehen und Fitness muss er im Interesse der Fitness seiner eigenen Gene lebhaft interessiert sein. So wie jede altruistische Gruppe in Gefahr ist, von Egoisten infiltriert und übernommen zu werden, so steht jeder absolute Egoist am Ende allein da, was selbst seine Gene nicht mögen werden, brauchen sie doch, um sich zu verbreiten, andere Vehikel. Seit Wilson (1975) publikumswirksam die Pflöcke seiner Soziobiologie so einschlug, dass sie mit Moral, Religion und Ethik auch das Kerngebiet der Kulturund Geisteswissenschaften umschlossen, gibt es zwischen science und humanities
11 Vgl. hierzu den Beitrag über „Fortschritt“ in diesem Band.
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kein Gelände mehr, das nicht umkämpft wäre. Bei dieser (mit allen Mitteln der PR-Kunst in Szene gesetzten; vgl. Lewontin et al. 1988: 190ff) Landnahme ist aber offenkundig, dass Wilson (1975) selbst den Formen der sozialen Organisation zunächst eine eigenständige evolutionäre Dynamik zubilligen wollte. Vom später allgemein durchgesetzten Genmonismus Dawkinsʼ ist er zunächst weit entfernt. „Social behavior comprises the set of phenotypes farthest removed from DNA“, schreibt er (Wilson 1975: 202). Das heißt ja auch, dass die Evolution von Formen der Sozialität die selektionsrelevante Ebene zumindest mit dem „Erfolg“ der Gruppe verbindet.12 Zum sozialen Epiphenomenalismus der Dawkins-Jünger ist es von hier noch ein weiter Weg, der allerdings von den führenden Vertretern der Soziobiologie in nachgerade unevolutionärer Hast zurückgelegt wurde. Als Turbolader dieser streng individualistischen Rekonfiguration der Soziobiologie fungierten die suggestiven Denkmodelle der Spieltheorie, mit denen sich jede Sozialform in ein Epiphenomen der individuellen Verhaltensstrategien verwandeln lässt. Diese gelten ihrerseits dann für Genexpressionen, was sicherstellt, dass es allein um die Mischungen individueller Verhaltensstrategien geht, wenn es um Sozialformen geht. Nicht mehr vorstellbar ist in dieser Dramaturgie, dass auch das Individuum mit seinen Verhaltensstrategien ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse sein könnte, unter denen es sein Leben reproduziert. Die genegoistische Axiomatik kennt nur das Individuum als homme machine, der Maschinist ist das Gen, die Gesellschaft ist ein epiphenomenales (nach einer konkurrierenden Sprachregel: ein emergentes) Resultat der verfügbaren individuellen Variation. Bleibt man im dramaturgischen Bild des Territorialkampfes zwischen naturund kulturwissenschaftlichen Disziplinen, dann gehen die Genegoisten insofern aufs Ganze, als sie die schiere Existenz eines anderen als des genetischen Territoriums einfach abstreiten. Für die Vertreter der „alten“ Soziobiologie war (und ist) das Feld sozialkultureller Verhaltensweisen eine Art „Zwischenwelt“ (Eibl 2009), die mittels evolutionsanalog entstandener, aber eigendynamischer Symbolordnungen zwischen den Einzelnen und ihrer Naturumwelt vermitteln (und insofern eine nach beiden Seiten begrenzte Eigendynamik aufweisen: auf Dauer sind sie nur zu stellen und zu halten, wenn sie die Plastizität der Individuen und der Naturumwelt nicht überfordern). In der genegoistischen Dramaturgie sind wir dagegen genötigt,
12 Wilson (2012) kehrt selbstkritisch zu dieser Axiomatik seiner Anfänge zurück und verwirft ausdrücklich die genegoistische These, menschliche Sozialität sei durch kin selection und rezipiproken Altruismus in der Kleingruppe zu fundieren. Ich komme darauf zurück.
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alle bestehenden Sozialordnungen als evolutionär optimierte Anpassungen jedweder Kritik zu entziehen (Lewontin et al. 1988: 193).13
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ALS „ AUTOMATISCHES S UBJEKT “ UND MORALISCHE L ETZTINSTANZ
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Zur Dramaturgie der evolutionistischen Moralerzählungen gehört als zentrale, aber insgesamt doch etwas fragwürdige Instanz das Gen. Im genegoistischen Master-Narrativ ist das Gen die Instanz, zu deren Gunsten oder Ungunsten Selektion stattfindet. Es ist der zentrale Replikator, der sich der kompletten Organismen lediglich bedient, um die eigene Unendlichkeit und um den eigenen Reproduktionserfolg zu sichern. Der Organismus, traditionell in der Rolle des Akteurs, wird zum „Genvehikel“ herabgestuft, und das Gen selbst avanciert zu einem „automatischen Subjekt“ (Lemke 2007), das im Hintergrund agiert und den Organismus (sowie potentiell auch andere Organismen) zwecks Optimierung der eigenen reproduktiven Fitness gleichsam steuert (um im Vehikel-Bild zu bleiben). Als „automatisches Subjekt“ ist das Gen im dramaturgischen Setting des Neoevolutionismus zugleich auch eine Art „Akteur plus“ (im Sinne von Kenneth Burke). Einesteils hat es natürlich keine wirklichen Ziele und Motive wie ein menschlicher Akteur, anderenteils ist es aber auch da „teleonom“ aktiv (also: als ob es Ziele hätte), wo das von ihm gesteuerte Vehikel, der menschliche Akteur, glaubt, ganz andere Motive zu haben. Da das Gen, dramaturgisch betrachtet, immer am Steuer sitzt, wenn jemand handelt oder zu handeln glaubt (das Vehikel ist ein „Akteur minus“ im Sinne von Burke), lautet die Nachricht an den Rezipienten der Moralbüchlein eigentlich stets gleichermaßen: „Was auch immer Du tust – es hat einen evolutionären Sinn, denn es ist die Evolution, die Deine Antriebe und Steuerungen geformt hat.“ Alles andere als klar und eindeutig sind freilich die „erzieherischen“ Effekte, die von dieser Nachricht ausgehen. Man könnte erwarten, dass der Gendiskurs die empirischen Vehikel/Akteure entlastet und „wurschtig“ macht, weil sie ja ohnehin nicht Herr im eigenen Hause sind und so getrost ihren spontanen Impulsen folgen können. Aber das ist offenkundig falsch, weil wir ja in allen „moraloiden“ Konstellationen eben widersprüchliche Impulse haben. Sonst wären es keine einschlägigen Konstellationen! Schon plausibler dürfte da die Entlastung sein, die von der Erleichterung egoistischer Entscheidungen ausgeht. Wer die trifft, weiß sich stets
13 Was uns, wie Lewontin et al. (1988: 193) süffisant bemerken, in Voltaires Candide und in des Dr. Pangloss beste aller möglichen Welten zurückwirft.
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im Einklang mit seiner (und der allgemeinen) Gen-Natur. Nicht unwahrscheinlich scheint aber auch, dass die Lektion, die uns durch den moralischen Gendiskurs erteilt wird, noch radikaler ist. Sie könnte nämlich (so argumentiert Lemke 2007) auch lauten, dass unsere erkannte genegoistische Natur die Eigenverantwortung des Akteur/Vehikels für die eigenen moralischen Handlungen und Entscheidungen noch verstärkt und unterstreicht, indem sie jeden einzelnen zum Selbstunternehmer der eigenen genegoistischen Natur macht. Die dramaturgische Herabstufung des Akteurs zum bloßen Vehikel seiner Gene wäre dann ein bloßer Oberflächentext, und der eigentlich wirksame Subtext lautete: Wir sind verantwortlich für das, was unsere Gene aus uns machen. Im Feld der diagnostischen Gentests ist diese Lesart kaum abweisbar. Sonst hätten diese Tests gar keinen Sinn: Wenn ich ein diagnostiziertes erhöhtes Risiko für die Krankheit X habe, dann muss ich alles meiden, was dieses Risiko noch verstärkt. Das ist dann meine Verantwortung. Gilt Entsprechendes auch für die soziobiologischen Moralratgeber? Traditionell geht es, wenn von „Moral“ die Rede ist, um Entscheidungen und Verhaltenstendenzen in Konfliktsituationen. Soziobiologen nehmen daher an, dass solche Entscheidungen genetisch präjudiziert sind, und darum eben haben erfolgreiche Entscheidungsstrategien eine Chance, sich in der Population zu verbreiten. Um ein beliebtes Beispiel aus der „Soziobiologie der Großmutter“ zu zitieren: Für die inklusive Fitnessbilanz der Gene rechnet sich eine Großmutter, die ihren Kindern bei der Reproduktion hilft, ab einem bestimmten Alter eher, als wenn sie weiterhin auf (womöglich nicht mehr erfolgreiche) eigene Reproduktion setzt. „Also“ etabliert sich vor allem in der mütterlichen Linie, wo auch in Sammler und Jäger-Horden die Abstammung klarer gewesen sein dürfte, eine einschlägige Helfermoral. Was wie „Moral“ aussieht, ist in der Modellrealität eine genegoistische Veranstaltung, am Steuer sitzt nicht die gute (noch die böse) Großmutter, das moralische Schauspiel ist de facto eine Posse, bei der die Gene stets die Regie führen, gleich ob das gespielte Stück ein böses oder gutes Vehikel vorführt. Es sind Geschichten dieser Art, die den „Abgrund“ zwischen einer natürlich völlig amoralischen Instanz „Evolution“ bzw. „natürliche Selektion“ und der allmählichen Herausbildung von Sollenssuggestionen aus Entscheidungsstrategien überbrücken. Cosmides & Tooby (2008), die als Begründer der evolutionären Psychologie gelten, sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass die natürliche Selektion qua Begünstigung bestimmter Entscheidungsstrategien, „moralische Intuitionen“ hervorbringen könne (Cosmides & Tooby 2008: 54). Nun gilt gewiss, da von „Moral“ ja nur mit Bezug auf kommunikativ vergesellschaftete Individuen gesprochen werden kann, dass ein genegoistisch gesteuertes Vehikel keinen Anlass hätte, moralanaloge Tendenzen auszubilden – es sei denn, die gesamte kom-
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munikative Vergesellschaftung sei lediglich zu werten als emergentes Epiphänomen der Interaktion individueller Strategien, die allesamt auf die Optimierung der eigenen Genreplikation eingestellt sind – und das ist ja in der Tat die spieltheoretische Axiomatik, der sowohl die populären Moralevolutionisten als auch die so genannte evolutionäre Psychologie huldigen. Während das einigermaßen dubiose Subjekt mit Namen Gen solchermaßen in das Feld der moralischen Relevanz hinein bewegt wird, scheidet nämlich zugleich die Gesellschaft als eigene Norminstanz aus – und zwar, weil es sie gar nicht gibt. Hören wir einen der Wortführer der deutschsprachigen Soziobiologie: „Soziobiologisch ist die Frage bedeutsam, ob man Gesellschaften als Emergenzphänomene behandeln soll oder nicht. Mehrheitlich hat sich die Auffassung durchgesetzt, wonach Gesellschaften letztlich Epiphänomene der Interessen und Strategien ihrer Mitglieder sind. Zwar nimmt angesichts der Vergesellschaftung von Lebewesen die Komplexität ihrer Lebensvollzüge zu, aber es entstehen dadurch keine neuartigen Systemeigenschaften. Dies wäre nur dann der Fall, wenn Gesellschaften etwas aufwiesen, was nicht zu den Merkmalen und Eigenschaften ihrer Mitglieder gehört.“ (Voland 2009: 23)
Anders als noch bei Wilson (1975) akzeptiert die genegoistische Soziobiologie nicht einmal die schiere Existenz einer eigenen und wirkmächtigen sozialen Sphäre. Dass die Individuen nur kraft ihrer symbolischen Vergesellschaftung sind, was sie sind, dass sie ihre Interessen und Strategien (schon angefangen bei den Sprachsymbolen) nicht aus den Genen saugen, sondern aus symbolisch-sinnhaften und erfolgreichen gesellschaftlichen Modellen, geht in die Modellbildung nicht ein. Eine Wissenschaft vom Sozialen, die ihrem Gegenstand lediglich epiphenomenalen Status zubilligt, ist gewiss ungewöhnlich. Zumal für Darwinisten, die doch sehen müssten, dass eine jede „Gruppe“, sobald es sie gibt, sich mit ganz eigenen und neuartigen Anpassungszumutungen zur Geltung bringen muss – und wenn es nur die der wechselseitigen Verhaltenskoordination und -abstimmung wären. Und wo anders könnte sich ein Selektionsdruck aufbauen, der moraloide Entscheidungstendenzen begünstigt? Strukturell ist die Problemkonstellation (einmal mehr) fast identisch mit der der Linguistik: Auch hier rechnet der strikte Nativismus die „Sprachkompetenz“ der biologischen Ausstattung von Individuen zu, wiewohl doch klar ist, dass wir als „Sprache“ nur bezeichnen können, was eben nicht dem Individuum zugerechnet werden kann, sondern „zwischen“ Individuen sozial-kommunikativ vermittelt und als soziales „Gebilde“ mit Normgeltung für den einzelnen von diesem angeeignet werden muss. Als ob wir beim Sprechenlernen die Formen, Bedeutungen
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und Funktionen der zirkulierenden Konstruktionen einfach aus unseren Genen beziehen könnten! Für den kulturalistisch und interaktionistisch denkenden Sprachwissenschaftler dagegen partizipiert der einzelne Sprecher (mimetisch und kreativ) an vorgetanen Praktiken und Ordnungen, die in ihrer Gesamtheit auch nur der Kommunikationsgemeinschaft zugerechnet werden können. Der Sprecher ist, so gesehen, gewissermaßen ein „Anteilseigner“ der Sprache, die in ihrer Gesamtheit nur als Kollektivbesitz, als Gemeingut verstanden werden kann. Die genetische Grundlage befähigt den einzelnen just zu dieser Teilhabe (und das ist so ziemlich das Gegenteil einer formal und/oder substantiell angeborenen Sprache). Insofern verwundert es nicht, dass auch die in puncto Moral, Kultur, Kommunikation relativ sterile und unergiebige Erzählung des Genegoismus bereits wieder umerzählt wird. Dass und wie bei dieser jüngsten Umerzählung die narrativen Ressourcen des Evolutionismus für das Thema Moral völlig neu konfiguriert werden, will ich am Ende dieses Abschnitts noch andeuten. Mit Edward O. Wilson (2012) hat sich ausgerechnet der Autor noch einmal an die Spitze der neuen Bewegung gestellt, dessen diskurstaktische Wendigkeit bereits die Debatten der letzten 40 Jahre geprägt hat. Und wie nicht anders zu erwarten fokussiert er zielsicher den axiomatischen Kern, die Frage von Altruismus, Kooperation und Gruppenselektion (vs. Genegoismus und – bestenfalls – kin selection). Gestützt auf Befunde von Fehr & Gaechter (2002) sowie auf die (bisher im strikten Evolutionismus ignorierten) Studien der Gruppe um Michael Tomasello (vgl. Tomasello 2010 für eine Diskussion) konstatiert Wilson (2012: 247f): Charakteristisch für Menschen ist, dass sie mit genetisch nichtverwandten anderen, oft in großen Gruppen, oft auch ohne Reziprozität und meist ohne reproduktiven Gewinn kooperieren. Evolutionär können die für eine solche Lebensweise erforderlichen Antriebe nur entstehen, können sich entsprechende Gene nur verbreiten, wenn stärker kooperative Gruppen mit weniger kooperativen Gruppen erfolgreich konkurrieren. Damit sind wir zurück bei Darwin selbst – und bei der Anerkennung von group selection. Der spieltheoretische Individualismus, der Kooperation für keine evolutionär stabilisierbare Strategie (ESS) hält, wird folgendermaßen abgefertigt: „Cheaters may win within the colony […] but colonies of cheaters lose to colonies of coopeators“ (Wilson 2012. 163). Sobald Art und Grad der Gruppenintegration selbst überlebensförderlich werden, etabliert sich ein dynamisches Spannungsverhältnis zwischen Individualselektion und Gruppenselektion. Genetische Verwandtschaft ist dann eben nicht der Treibstoff für die Entstehung von Sozialität (Wilson 2012: 175). Zur evolutionären Genese moralischer Antriebe und vor allem moralischer Konflikte heißt es dann:
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„An unavoidable and perpetual war exists between honor, virtue, and duty, the products of group selection, on one side, and selfishness, cowardice, and hypocrisy, the products of individual selection, on the other side.“ (Wilson 2012: 56)
Das klingt, angesichts der klaren evaluativen Sprachverhältnisse (die Tugenden der Gruppenselektion sind positive Gemeinschaftstugenden, die Laster der Individualselektion konnotieren alle negativ!) schon wieder beinahe so zackig wie bei Konrad Lorenz. Allerdings ist dessen degenerative „Verhausschweinung“ der sozialen Instinkte inzwischen auch im Genom angekommen und zum Teil unserer Natur avanciert. Das Kraftfeld, indem moralische Konflikte entstehen (und in dem sie kulturell bearbeitet werden müssen) ist in jedem Falle der „clash of individual selection and group selection“ (Wilson 2012: 56). Mit dieser axiomatischen Konstruktion entsteht überhaupt erst wieder ein Feld, in dem kulturkritische Aktivitäten möglich sind: Die Überwindung des (von Wilson stark gemachten) genetischen Wirgruppen-Tribalismus und die Etablierung größerer, gewissermaßen menschheitlicher Wirgruppen, imagined communities, in denen Überlebensfragen wie Biodiversität, Ressourcenschonung etc. angegangen werden können. In der strikt genegoistischen Axiomatik geht dagegen diesbezüglich gar nichts, außer dem (alsbald billigen) Nachweis, dass letztlich doch alle Motive sich unveränderlich in Genegoismus auflösen lassen. An die zynischen Vertreter dieser (sich vielfach als „posthumanistisch“ stilisierenden) Richtung mögen Dath & Kirchner gedacht haben, als sie die folgende Formulierung zu Papier brachten: „Der positivistisch lackierte Raubtiernihilismus postaufgeklärter Bioliberaler, die das Marktgeschehen um Angebot und Nachfrage mit dem evolutionären Selektionsdruck unter Pflanzen und Tieren verwechseln, ist die bösartigste Variante der Prädestinationslehre, die je erfunden wurde.“ (Dath & Kirchner 2012: 22)
Dem ist wenig hinzuzufügen.
[5]
S CHLUSSFOLGERUNGEN
Ob ein extensional wie intensional so unklares alltägliches wie philosophisches Konzept wie „Moral“ umstandslos auf seine evolutionäre Genese befragt werden kann, lassen wir hier offen. Die narrativen Brücken, die über diese Kategorienkluft führen sollen, haben wir erwähnt. Die Literatur spricht dann von Verhaltens- oder
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Entscheidungstendenzen, die durchaus auf ihren evolutionären Erfolg bzw. Überlebenswert befragt werden könnten. Wenn auch Verhaltensweisen (wie von der Ethologie seit Konrad Lorenz immer angenommen) der evolutionären Selektion ebenso unterliegen wie Körperbau, anatomische Merkmale etc., dann müsse auch moralisches Verhalten so betrachtet werden können. Da „Moral“ aber stets auch mit gesellschaftlicher Bewertung von Verhaltensalternativen zu tun hat und in und von der Gruppe gelernt wird, bleibt einigermaßen fraglich, ob man über diese Brücken überhaupt gehen kann. Da „Moral“ nichts ist, was man an Verhaltensweisen direkt beobachten kann, sondern eben eine Interpretation von Verhaltensweisen, darf man getrost das ganze Unternehmen der neoevolutionistischen Morallehren für verfehlt halten. Insofern die Pointe aller Moral- und Altruismusgeschichten im Neoevolutionismus darauf hinausläuft, „hinter“ gutem, kooperativem, vermeintlich selbstlosem Verhalten die harten genegoistischen Motivressourcen zum Vorschein zu bringen, ist die Sache nicht eben aufregend, sondern eher trivial: Wenn alle Lebensäußerungen bloße Einkleidungen des Genegoismus sind, dann sind es natürlich auch die als moralisch bezeichneten. In diesem Punkt ist nicht viel mehr zu tun, als auf die Schlussfolgerungen von Bayertz (1993, Einleitung) zu verweisen, wonach die Annahmen und Setzungen der evolutionären Ethik entweder trivial sind, wenn man sie als schwache Behauptungen liest, oder provokant, wenn man sie als starke Behauptungen liest. Schwach ist die Lesart, dass alle Verhaltenstendenzen qua Evolution auf natürlichen Grundlagen ruhen, also auch die „moralischen“. Auch Klavierspielen kann der Mensch nur lernen, weil er die physiologisch erforderlichen Voraussetzungen einer plastischen Motorik „mitbringt“. Bayertz (1993: 331) spricht von natürlichen Randbedingungen unseres Lebens und Handelns. Die starke Lesart hingegen müsste beinhalten, dass alle Spielarten vermeintlich moralisch autonomer Entscheidung und Begründung bloße Illusion sind, möglicherweise selbst funktionale, (woran auch immer) angepasste Selbsttäuschungen eines auch in dieser Hinsicht biologisch programmierten Individuums. Zweifellos neigen harte Genegoisten (z.B. Voland 2009) zur starken Lesart, aber dann wird die Wirkung ihrer Erzählungen vollends „jesuitisch“, d.h. sie liefert einem im gleichen Atemzug für macht- und einflusslos erklärten reflexiven Diskurs Rechtfertigungen für ein Verhalten, das sie gerade für unabänderlich (und daher der Rechtfertigung gar nicht bedürftig) erkannt hat. Sie produziert, mit einem bekannten bonmot formuliert, eine Theorie, die zu gar nichts taugt, außer zum Rechthaben. Als Kulturkritik wird der Evolutionismus in dieser Spielart eigentümlich zahnlos. Er kann dem Publikum nur die banale Nachricht vermitteln: „Was immer Du tust – es hat einen evolutionären Sinn, denn die Evolution hat
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Deine Antriebe und Steuerungen geformt“. Wenn aber alle wirkende Kraft aus den Genen kommt und es in Folge dessen auch keinen aktiven Gegensatz zwischen „Natur“ und „Kultur“ geben kann, dann verfügt der Evolutionist noch nicht einmal mehr über die narrativen Ressourcen der kulturellen Degenerationsthese oder der „Verhausschweinung“ (Konrad Lorenz) des Menschen. Umgekehrt belegt (evolutionistisch gesprochen) die große Verfügbarkeit axiomatischer Variation und (dramaturgisch gesprochen) die mühelose Umerzählbarkeit der evolutionistischen Axiomatik, dass die Membrane zwischen dem genuin biologischen Fachdiskurs und dem populären Interdiskurs nicht nur von einer Seite her durchlässig ist, sondern von beiden. Die Engführung von Ökonomismus, Alltagsdenken und Populärbiologie schafft einen kollektiven Denkstil (im Sinne von Fleck 1980), der taktische interdiskursive Umakzentuierungen bin in die echte Fachwissenschaft hinein Wellen schlagen lässt. Vergleicht man die narrativen Ressourcen des Neoevolutionismus in Sachen „natürlicher“ Moralfundierung mit denen der letzten Generation von Ethologen und Anthropologen, insbesondere mit Gehlens (1969) „pluralistischer Ethik“, so sieht der Befund folgendermaßen aus: Von den naturnahen „Quellen“ moralischen Antriebs und moralischer Verpflichtung, die Gehlen glaubte ansetzen zu können, überleben lediglich zwei in modifizierten Versionen. Gehlens (1969) Moralquellen waren: [a] [b] [c] [d]
Das aus der Gegenseitigkeit entwickelte Ethos Instinktive Wohlbefindens- und Glücksmotive (Eudaimonismus) Erweiterungsfähige Familien- und Sippenmoral Eigenethos der sozialen Institutionen bis hin zum Staatsethos
[a] bleibt im Neoevolutionismus (als „reziproker Altruismus“) auf die Nahwelt der kleinen Gruppe beschränkt, weil Gegenseitigkeit für seine Axiomatik nicht abstrakt über persönliche Bekanntschaft hinaus ausgeweitet werden kann. In der genegoistischen Perspektive ist reziproker Altruismus nur sinnvoll, wenn man sich wieder begegnet, also gerade nicht in abstrakten Institutionen und Zusammenhängen. Die repräsentative Anekdote für die engen Grenzen des reziproken Altruismus ist die Geschichte von der Tragedy of the Commons.14 [b] ist durchaus nicht vorgesehen in der strengen neuen Welt des Genegoismus. [c] wird von sozialen Primärgruppen auf genetische Verwandtschaft umkodiert (kin selection) und [d] ist, da es so etwas wie moralogen eigendynamische Sozialformen und Gesell-
14 Siehe den Beitrag zu diesem Narrativ im vorliegenden Band.
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schaften ja keinesfalls geben darf, vollkommen out of the question. Der axiomatische Knackpunkt steckt ganz offensichtlich in der Art und Weise, wie die Geschichte von [c] erzählt wird. In der jüngsten Wendung von Wilson (2012) werden Gruppen-, Sippen- und Verbandsvorteile (wie bereits von Darwin bis Konrad Lorenz) wieder zu einer spezifischen und eigendynamischen Ressource der evolutionären Selektion (group selection). Damit schießen Gehlens Motivgruppen [c] und [d] zusammen und bilden ein Gegengewicht zur genegoistischen Individualselektion. Schon Wilson (1975: 561), damals noch im Geiste der „alten“ Humanethologie, notiert, dass Religionen und andere Institutionen zum Vorteil ihrer Teilnehmer evolvieren, was ja nur eine andre Formulierung für group selection ist. Für Wilson (2012) ist die jeweilige Eigengruppe gekennzeichnet durch hohe Plastizität der Ein- und Ausschlussgrenzen. Familie, Clan, Stamm, Ethnie, Nation, Religion, Ideologie, Art sind nur konzentrische Kreise, in denen sich die Eigengruppe bei sinkender Verpflichtungskraft zugleich vergrößert und verdünnt.15 Dahinter steckt natürlich auch Wilsons Motiv, eine Art von moralischer Speziesverantwortung der Menschheit für die Erhaltung von Biodiversität zu begründen. Und da die gesamte Kulturkritik des Neoevolutionismus auf einer programmatisch angestrebten Speziesverantwortung der Menschheit für die (konnotativ gründlich, aber vielleicht nicht gründlich genug säkularisierte) „Schöpfung“ ruht, taugt die strikt genegoistische Axiomatik lediglich für eine pseudo-aufklärerische Apologetik des neoliberalen Fundamentalismus. Ihr diskursiver Effekt bestünde dann einzig und allein darin, die Natürlichkeit (und letztlich sogar die Möglichkeit) gemeinschaftlicher Angelegenheiten zu bestreiten. Und die sind Voraussetzungen für gemeinsames Handeln und damit für Politik. Im Denkkollektiv der neoliberalen Ökonomie (das höchst gemeinschaftlich handelt und dafür effiziente Institutionen ausgebildet hat!) gibt es hingegen offiziell nur Nutzen maximierende Individuen. Insofern widerlegt die neoliberale Praxis stringent die neoliberale Theorie. Kulturkritik geht eigentlich nur, wenn die Verhältnisse im Erfahrungs- und Erwartungsraum der Rezipienten auch anders möglich sind, wenn Platz ist für evolutionär fundierten programmatischen Altruismus. Sollte indes die genegoistische Engführung von Verhaltensökologie und Verhaltensökonomie das letzte Wort sein, dann wäre jedwede Kulturkritik verlorene Liebesmüh. Wie schreibt doch Wilson (2012:251)? „Our species is not homo oeconomicus.“ Sondern homo sapiens. Insofern ist es ganz folgerichtig, wenn die diskursiven Flaggschiffe der
15 Für einen Sprachwissenschaftler müsste natürlich auch die sprachliche Eigengruppe einen Ring in dieser Folge konzentrischer Kreise bilden. Zur Geschichte der sprachvölkischen Bewegungen, die moralische Ansprüche aus der Zugehörigkeit zur je gleichen Sprachgruppen begründen wollen, vgl. Knobloch (2005).
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neoevolutionistischen Kulturkritik (Jared Diamond, Josef Reichholf hierzulande) einen kritischen Mindestabstand zum radikalen Genegoismus einhalten. Sie erkennen instinktiv, dass dessen Axiomatik sie nicht allein delegitimieren, sondern vollkommen unmöglich machen würde. Wichtig ist jedoch, dass die seit einiger Zeit anlaufende Konjunktur der AntiDawkins-Texte (mit dem Tenor: das Gen ist von Natur nicht egoistisch, sondern kooperativ; Tomasello 2009, 2010, Roughgarden 2009, Bauer 2010 etc.) exakt den gleichen narrativen Beschränkungen unterliegt wie die genegoistischen Moraltexte. Nur wer zu allem fähig ist, kann für die eigenen Handlungen (in Grenzen) verantwortlich und damit „gut“ oder „böse“ sein. Oder, um es noch einmal anders zu sagen: „Eine grundlegende menschliche Freundlichkeit könnte genauso ‚animalisch‘ sein wie die grundlegende menschliche Gemeinheit“ (Gould 1984: 226). Und für die naive, einem kindlichen, dichotomischen Denkmodus entsprungene Gegenüberstellung von Egoismus und Altruismus gilt, was Musil (1913) formuliert hat: „Was allen diesen moralischen Zweiteilungen den Schein von Wichtigkeit verleiht, ist die Verwechslung mit: bekämpfenswert und unterstützenswert.“ (Musil 1913: 1003)
[6]
L ITERATURVERZEICHNIS
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Wachstum und Wachstumskritik – Renaturalisierung eines wirtschaftswissenschaftlichen Dogmas L UISA F ISCHER
[1]
E INLEITUNG
Während der Fortschrittsbegriff mittlerweile an Strahlkraft verloren hat, steht der Wachstumsbegriff ganz selbstverständlich als zustimmungspflichtiger oder mindestens unschuldiger Begriff da. Gerade in Zeiten der Krise scheint das Wirtschaftswachstum als einziger Heilsbringer, als Hoffnungsträger zu gelten und als Wertbegriff überhaupt zu fungieren. Wer Wachstum will, will gleichzeitig Normalität gewährleisten.1 Ganz nach dem Motto: kein Wachstum bedeutet Chaos. Wachstum hat damit die Funktion eines Totschlagarguments und baut ein Dilemma auf, das Alternativen und Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Die Möglichkeit politischen Handelns richtet sich nach Prognosen und legitimiert sich über Statistiken und macht sich so unanfechtbar gegen Kritik. Deshalb ist der Wachstumsbegriff für nahezu alle Parteien Programm- und Fahnenwort und das Sozialprodukt wichtigster Macht- und Ordnungsfaktor. Er wird in verschieden Zusammenhängen verwendet und ist zum Schlagwort der politischen Debatte geworden. Abgesehen davon kommt der Begriff des Wachstums auch im Spezialdiskurs der Biologie bzw. den Naturwissenschaften vor. Dort ist das naturhaft-kreisläufige Verständnis von Wachstum grundlegend und auf die verschiedenen Formen des Lebens bezogen. ‚Wachsen‘ bis zu einer genetisch festgelegten Grenze gilt als natürlich und gesund. Diesen (nichtmetaphorischen) Gebrauch haben wir selbstverständlich auch. Das Prozesshafte, der unaufhörlichen Anstieg ohne Ziel macht
1
Zur Kopplung von „Normalität“ und „Wachstum“: Link: 2013: 236-238)
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den Bedeutungszuwachs aus, den Wachstum auch mit Fortschritt und Entwicklung gemeinsam hat. Das ist auch ein Grund für seine Unschärfe und prädestiniert für eine nicht-neutrale Verwendung und die Übertragung auf nicht-lebendige Vorgänge. Gleichzeitig gibt es einen sich verstärkenden kritischen Gegendiskurs, der die Fokussierung auf Wachstum zum zentralen Aufhänger unterschiedlichster Forderungen macht. Linguistisch betrachtet ist Wachstum ein nicht zählbares Verbalabstraktum, das durch Derivation mit dem nativen Suffix -tum gebildet wurde. Es verweist auf eine Thema-Argument-Struktur. Das heißt, die Semantik von Wachstum schließt ein, dass es etwas geben muss, was mit einem mehr oder weniger vorhersagbaren Endpunkt wächst. Es bezeichnet ein Geschehen, einen Prozess als Kontinuum in seinem Verlauf, das erwünscht ist und daher meist positiv konnotiert wird. Tatsächlich ist diese zugrundeliegende Struktur häufig aufgegeben und es dominiert interdiskursiv der Gebrauch als Kollektivsingular, der die Argumentstelle entweder leer lässt, oder sie im Kompositum Wirtschaftswachstum mit einem recht unspezifischen Bestimmungswort füllt. Wachstum ist folglich sehr allgemein verwendbar und verschwimmt in seiner Bedeutung. Das prädestiniert den Begriff aber gerade als politisches Hochwertwort für die unterschiedlichsten politischen Lager. Es ist zum Generalterminus für den gesellschaftlichen Wohlstand geworden und zehrt von verschiedenen semantischen Strängen aus dem Gesamtbildangebot des Begriffs. Ich werde im ersten Teil des Aufsatzes drei semantischen Implikationen von Wachstum vorstellen. Zuerst wird es dabei um den anfangs eingeführten Begriff des Wirtschaftswachstums gehen, der die Begrenztheit in der Semantik von Wachstum verdunkelt. Anschließend erarbeite ich den natürlichen, biologischen Wachstumsbegriff mit seinen Grenzen, der als politischer Begriff in der Wachstumskritik stark gemacht wird. Als dritte Bedeutungskomponente schließt sich die Erwartung des sich immer weiter mehrenden Wohlstands für alle an, der aus der jeweiligen jahrzehntewährenden Erfahrung2 hervorgeht und vom wirtschaftlichen Wachstum nicht zu trennen ist. Diese implizite Deutung wird in wachstumskritischen Texten uminterpretiert und durch die Topoi der Lebensqualität und des Glücks ersetzt. Anschließend werde ich den Zusammenhang von der Diskussion um die Wachstumsgrenzen und die Nachhaltigkeitsdebatte beleuchten. Interessanter-
2
Über den Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung siehe Reinhart Koselleck (2006): Begriffsgeschichten. Frankfurt am Main, S.61
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weise ist genau dann wieder von der Forderung nach Stagnation oder Schrumpfung die Rede, seit Nachhaltigkeit aufgehört hat eine politische Forderung darzustellen. Die Gegenkonzepte der Wachstumskritik werden im dritten Teil exemplarisch an drei wichtigen Autoren der Debatte untersucht, die versuchen Wachstum selbst als ein naturalistisches Bild zu deuten, und es aus den wirtschaftlichen, nicht-natürlichen Prozessen herauszulösen. Sie greifen das hegemoniale Konzept mithilfe naturalistischer Erklärungen an, die sich besonders gut eignen, konkrete politische Handlungsweisen und Konsequenzen hintanzustellen, oder sich zumindest durch Vagheit auszeichnen. Es finden sich neoevolutionistische Narrationen, die sich darüber hinaus durch ihre einfache Zugänglichkeit, den Unterhaltungswert und damit in ihrer Fähigkeit Komplexität zu reduzieren, auszeichnen.
[2]
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W ACHSTUMSBEGRIFFS
[1] Das grammatisch-semantische Thema wird erstens in der Einengung des Wachstumsbegriffs als Wirtschaftswachstum reduziert und in seiner Bedeutungsmöglichkeit enggeführt. Diese Verwendung ist in der öffentlichen Debatte von großer Bedeutung und ist vorherrschend im Interdiskurs.3 Das Wachstum hat hier die Fähigkeit ständig weiter zu steigen und ist in seinem stetigen bergauf Garant für Wohlstand und soziale Sicherheit. Beide sind damit semantisch an Wachstum gekoppelt. Es entspricht als volkswirtschaftliche Rechnungsgröße BIP der grenzenlosen Selbstvermehrung des kapitalistischen Wertes und damit Marxens Formel von G - W - G', wie aus Geld mehr Geld wird. Diese Vermehrung wird zum Zweck jedes Verkaufs. Nicht die Dinge selbst, sondern ihr Tauschwert, ausgedrückt in der Wertgröße Geld, steht im Vordergrund des Handelns. Dieses Axiom wird eins zu eins durch das Bruttoinlandsprodukt ausgedrückt und stellt den Gradmesser kapitalistischer Gesellschaften. Immerhin werden ganze Staaten danach auf- bzw. abgewertet. Durch die Verwendung des Wachstumsbegriffs, dessen weite Semantik hier verkürzt wird, liegt es nahe diese Form des Wirtschaftens als die „natürliche“ anzusehen und auszublenden, dass die Behandlung von Dingen (mit Gebrauchswert) als Ware (mit Tauschwert) fraglos gesellschaftlichen Ursprungs sind. Der ursprüngliche Kreislauf von Werden (Wachsen) und Vergehen
3
Mit Interdiskurs wird all das zusammengefasst, was i.Ggs. zum Spezialdiskurs nichtwissenschaftliche Diskurse beinhaltet. Gleichzeitig speist sich der Interdiskurs ständig aus dem Spezialdiskurs und bestimmtes Wissen aus letzterem wird interdiskursiv. Die Terminologie wird von Siegfried Jäger (u.a. 2012) übernommen.
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(Schrumpfen), der dem biologischen Wachstum innewohnt und auf einem linearen Wachstumsbegriff mit klar definierter Grenze beruht, wird mit einem Wirtschaftswachstum (exponentiell, ohne Grenzen) außer Kraft gesetzt. Dieser beschränkte Wachstumsbegriff ist ein hegemoniales Legitimationsmuster. Das heißt, dass das Wachstum in der öffentlichen Debatte den Stellenwert eines Hochwertwortes einnimmt. Es gilt als allgemein erstrebenswert. Gibt es Wachstum, stellt sich ein parteiübergreifendes Zufriedenheitsgefühl ein, fehlt es, werden andere beschuldigt, verantwortlich zu sein. In den Parteiprogrammen der Parteien 4 ist Wachstum nach dem 2. Weltkrieg zum Fahnenwort geworden, bei der CDU und der FDP ist es zum Leitziel allen politischen Handelns aufgestiegen und eine der drei Titelgeber des Koalitionsvertrag 2009, sowie Hauptbestandteil des „Wachstumsbeschleunigungsgesetztes“, das die Regierung 2009 verabschiedete, nachdem der „Markt“ es nach der Finanzkrise nicht mehr von selbst schaffte, dieses Ziel allen Wirtschaftens hervorzubringen. Die SPD gebraucht die Forderung nach Wachstum in ihrem Regierungsprogramm5 zur Bundestagswahl 2013 allerdings fast nur noch zusammen mit den Attributen nachhaltig, qualitativ, tragfähig und ausgewogen, fordert Wachstumsimpulse, aber hält mit dem Hinweis auf ökologische Verträglichkeit am Wachstumsmodell fest. Die Grünen kritisieren in ihrem Wahlprogramm6 die Fixierung auf „altes“ Wachstum stark und setzen ihm die früheren Koppelbegriffe des Wirtschaftswachstums, Wohlstand und Lebensqualität, entgegen. Damit integrieren sie Wachstumskritik und Ideen aus Postwachstumstheorien konsequent in ihre politischen Forderungen. Auch die Linken versuchen das Thema für sich fruchtbar zu machen und diskursiv zu verankern. 7 Die
4
Mit Ausnahme der Linken (100% sozial. Entwurf des Wahlprogramms Bundestagswahl 2013, korrigierte Fassung), die Wachstum in ihrem Wahlprogramm unerwähnt lässt und der Piratenpartei, die sich von einer Wirtschaftspolitik, die einer Wachstumspolitik entspricht distanziert und an mehreren Stellen kritisch auf die Wachstumsfixierung der großen Parteien eingeht (Grundsatzprogramm Piratenpartei Deutschland, 2. Auflage 2013) und der Grünen.
5
SPD Regierungsprogramm (Entwurf): Deutschland besser und gerechter regieren: Für ein neues soziales Gleichgewicht in unserem Land! Stand: 11.3.2013
6
Zeit für den Wandel. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen. Antrag für den Bundestagswahlkampf 2013. Bündnis 90/die Grünen.
7
Sie geben z.B. Veranstaltungen (Wohlstand – wie anders? Linke Perspektiven nach der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ am 10.4.13) im Anschluss an die Enquete-Kommission und bringen die Erkenntnisse aus dem Spezialdiskurs direkt in ihre politische Arbeit ein.
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Tendenz zur Einschränkung des bedingungslosen Wachstumsglaubens ist symptomatisch für das Aufbrechen des Wachstumsdogmas in Bezug auf Umweltschutz und Wirtschaftskrise. Wachstum gilt auf der Ebene der Politik weiter selbstverständlich als Legitimationsmuster für politische Entscheidungen und nur die kleinen Parteien trauen sich, dem entgegenzutreten oder auf die vertrauten und erfolgversprechenden Argumentationsmuster zu verzichten. Gleichzeitig hat aber eine Enquete-Kommission zum Wachstumsparadigma und dessen möglichen Alternativen gearbeitet und zumindest anfänglich erstaunlich offen und parteibuchunabhängig über Gegenentwürfe und die Grundbedingungen des Wachstumsmodells überhaupt diskutiert. Wachstumskritiker/-innen fanden sich dort sowohl in linken als auch konservativen Kreisen. Gegen Ende der Kommissionsarbeit ist davon allerdings wenig übriggeblieben und die Mitglieder scheinen hinsichtlich der anstehenden Bundestagswahl zu ihren festen parteistrategischen Positionen zurückgekehrt zu sein. Zusätzlich trifft hier der Spezialdiskurs der Wissenschaft, insbesondere der Wirtschaftswissenschaft, die den Wachstumsbegriff als zentralen Fachbegriff weitgehend unhinterfragt führt, vertreten durch Experten/-innen und Sachverständige auf die Vertreter/-innen der Parteien. Gemeinsam sollen sie konkrete politische Empfehlungen an die Regierung geben. Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität. Weg zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ steht damit symptomatisch für die Tendenz, Wachstum als politisches Ziel und seine Maßeinheit das Bruttoinlandsprodukt zu hinterfragen. Hier sollte ein Ort geboten werden, herauszufinden, ob und wenn ja, welches Wachstum in Zukunft als erstrebenswert gelte, woran sich Lebensqualität und Wohlstand – die beiden anderen Hochwerte aus dem Titel der Kommission – eigentlich messen ließen und welche Grenzen dem bisherigen Wirtschaften gesetzt würden. Die Einrichtung einer solchen Enquete war zeitgemäß und gibt Aufschluss darüber, inwieweit die Diskussion im bürgerlichen Alltagsdiskurs Einzug erhalten hat. Trotzdem, von Wirtschaftswoche („Der Bundestag dokumentiert sein Scheitern“), über ZEIT („Was ist Lebensqualität“) bis taz („Das Wachstum der Zweifel“) ist zu lesen, die Enquete-Kommission sei gescheitert. Schließlich wurde nicht einmal ein gemeinsamer Abschlussbericht formuliert, sondern mehrere Sondervoten angehängt. Die zunehmend kritischen Stimmen finden sich aber auch im Konzept der Postwachstumsökonomie im Spezialdiskurs der Wirtschaftswissenschaften selbst wieder. Hier sieht man sich mittlerweile gezwungen, das eigene Wachstumsdogma zumindest zu erklären, zu rechtfertigen oder Kommunikationsstrategien für das Ausbleiben von weiterem Wachstum zu suchen. Inwieweit sich die naturalistischen Motive aus den Gegendiskursen (wieder-)finden ist dabei von besonderem Interesse.
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Laut dem Historiker Joachim Radkau leben wir in der Zeit einer Öko-Ära (Radkau: 2011), wo öffentliche Betroffenheit über Umweltprobleme Hochkonjunktur hat, und es entsteht der Druck, aus den gewohnten Routinen herauszukommen und aktiv zu werden. Dass das kein Randgruppenphänomen mehr ist, sondern massendiskursive Kraft entwickelt hat, zeigt sich an den Anhänger/-innen der Grünen, die mittlerweile im bürgerlichen Lager ihre feste Wählerschaft finden. Die Grünen sind vor allem mit Ökothemen zur Partei mit hörbarer Stimme geworden und haben diese erst diskursfähig gemacht. Umweltfragen sind heute selbstverständlich Teil des politischen Diskurses, und die Grünen zu wählen ist keine Sache (mehr), die man verschweigen müsste. Die Kehrseite der Integration neuer Themengebiete in den hegemonialen Diskurs ist die Immunisierung gegen bestimmte nichtintegrierbare Elemente und die Einbettung in bestehende Deutungsangebote. So ist die Umwelt auf wirtschaftspolitischer Ebene zu einer Ressource geworden, die in Wert gesetzt werden kann. Damit steht die Natur als konforme Größe für eine Weitererzählung von einem „auf Wachstumskurs gehaltenen, bzw. zu bringenden Deutschland“, das daraus, „Exportweltmeister“ 8 zu sein, seine Identität gewinnt. Mit der gleichzeitigen Betonung der Notwendigkeit einer „Energiewende“ und der Dringlichkeit von Investitionen in die Umwelt wird der hegemoniale Diskurs gegen unerwünschte Forderungen des Ökodiskurses – wie einen radikal ökologischen Umbau, der eine Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems fordert – immunisiert. Wachstum ist auch zum Inbegriff einer Lebensweise geworden. Es ist fester Bestandteil des identitätsstiftenden Kulturbegriffs der Bundesrepublik, während im Gegendiskurs genau diese Deutung angegriffen wird und Wachstum wieder als Naturbegriff mit Grenzen stark gemacht werden soll. Der gebräuchliche Begriff von einem unendlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts wird hingegen abgelehnt und zunehmend hegemonial kritisiert. Es zeigen sich hier Tendenzen einer Renaturalisierung in der breiten öffentlichen Debatte, die in erster Linie das Bruttoinlandsprodukt als ein mathematisches Rechnungsergebnis betreffen. Es wird in Frage gestellt, da es das, was berechnet wurde, zu wenig in seinen Ursachen und Folgen zeigt. [2] Die zweite Bedeutungskomponente des Kollektivsymbols Wachstum ist seine Verwendung als Naturbild. Das biologische Wachstum kennt das Immer-weiternach-oben des BIP nicht. Es ist bestimmten Zyklen unterworfen und ihm sind klare Grenzen gesetzt. Grenzenlosigkeit ist in diesem Zusammenhang sogar etwas
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Vgl. www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Artikel/BKAngelaMerkelPolitik/angelamerkel -politik-arbeit-und-wirtschaft.html.
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Negatives, weil sie „unnatürlich“ ist. Da diese beiden Spielarten des Wachstumsbegriffs aufgrund dieses kontrastiven Charakteristikums voneinander getrennt sind, aber in der Zeit allgemeiner Renaturalisierung und neoevolutionistischer Tendenzen nicht nur im Ökodiskurs wieder zusammengeführt werden, kommt es zu ständigen Bildbrüchen. Denn Grenzen, wie sie allen anderen (positiv gedeuteten) wachsenden Prozessen innewohnen, werden auch beim Wirtschaftswachstum wieder gesehen und das Gegenkonzept einer Sättigung wird diskursiv in Stellung gebracht. Dabei dienen häufig biologische, physikalische, chemische oder anthropologischen Argumentationen der Begründung. Dass das Wachstum, sowohl das biologische als auch das wirtschaftliche begrenzt ist, ist mittlerweile ein mit zahlreichen naturalistischen Mustern belegtes Denkmuster. Begrenztes Wachstum ist dann ein positiv besetzter Prozess mit absehbarem Ende, Grenzenlosigkeit wird in Analogie zur Natur zur Angriffsfläche, denn nur Krebszellen und ähnlich unerwünschte Vorgänge wachsen unaufhörlich. Beispiele aus der Natur finden sich zu Hauf und sind unangreifbar überzeugend: Ein Baum wächst als Samen zur kleinen Pflanze bis zum Stamm mit Krone, aber irgendwann ist Schluss. Mit dieser biologischen Tatsache ist die Wachstumskritik in den 1970er Jahren gestartet. Heute kann dank neuester Studien auch der Mensch als Vergleichsträger herangezogen werden, denn die Körpergröße (zumindest der Deutschen) nimmt nicht mehr zu. Auch „[s]ie sind ausgewachsen“ (Uchatius 2013). Eine klar verständliche Analogie, die sich hervorragend eignet, um auch ein Ende des Wirtschaftswachstums zu fordern. Damit wird das Natürlichkeitsargument mit einigem Erfolg auf einen Bereich übertragen, der bis vor kurzem klar technisch-mathematisch definiert war und auf dem relativ homogenen Feld der Wirtschaftswissenschaften bis heute ist, weshalb sich gerade auch aus diesem Bereich eine technikfreundliche wenn nicht -verherrlichende Argumentation vehement gegen diese biologische Kritik wehrt. Im hegemonialen Diskurs9 scheint die Vorherrschaft letztere aber gerade zugunsten der Wachstumskritiker/-innen aus den unterschiedlichen Stoßrichtungen von Konservatismus, Globalisierungskritik und/oder Naturschutz zu kippen. Die Erzählung vom natürlichen Wachstum mit klaren Grenzen in unterschiedlichen Bereichen wird damit in einer neuen naturalistischen Argumentationsweise besprochen. Sie ähnelt in ihrem Bruch mit der ökonomischen Wachstumseuphorie der Wiederentdeckung des guten Tiers und der erstrebenswerten Natur, die ebenfalls ins Biologische „zurückgeholt werden“. Damit folgt sie der allgemeinen Tendenz der Renaturalisierung der Gesellschaft. Wachstum erhält so seine biologische
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Damit sind vorherrschend Denk- und Sprechweisen gemeint, die mit Foucaults Diskursbegriff immer an Machtstrukturen gebunden sind. Hegemonial sind sie dann, wenn sie durchgesetzt und damit unauffällig geworden sind.
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Komponente durch die Wiederbelebung der Grenzen des Wachstums zurück, die ihm durch die Übertragung in wirtschaftliche Zusammenhänge abhandengekommen war. Diachronisch betrachtet war schon 1972 die Rede von den Grenzen des Wachstums, nämlich seit dem gleichnamigen Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, der zur Zeit viel zitiert wird, und welcher gewiss nicht zufällig gerade 201210 eine neue Version hervorbringt. Es geht in erster Linie um die Grenzen der Natur. Hier werden Forderungen formuliert, die sich gegen die Ausbeutung der Natur richten und diese als schützenswerte und hilflose Entität stilisieren. Diese Diskussion hängt eng mit der Umweltbewegung zusammen und mündet in den inflationären Gebrauch des Begriffs der Nachhaltigkeit. Obwohl der Begriff, seitdem er in aller Munde ist, als politischer Kampfbegriff untauglich geworden ist, öffnet sich der Diskurs für eine Naturalisierung des entnaturalisierten Wachstums des Wirtschaftspolitikdiskurses. Dies steht im Zusammenhang mit der Beurteilung des aktuellen Zeitalters seit den 1970er Jahren als Öko-Ära. Die Beschäftigung mit Umweltproblemen gehört zum Allgemeinplatz politischer Diskussion und die Ignoranz von Umweltfragen führt zum Ausschluss aus der Debatte. Die Brisanz der Frage nach der Belastbarkeit der Umwelt und ihre Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein rückt die Frage in den Vordergrund, ob Wachstumsgrenzen immer auch gleich Naturgrenzen sind? Anders gefragt, gibt es ein erreichbares Ziel bei der Ermessung des Wachstums, oder nicht. Wenn dies mit dem BIP errechnet wird, sind erst einmal keine Begrenzungen sichtbar, denn Zahlen kennen bekanntlich kein Ende. Wenn aber proklamiert wird, dass das Wachstum sein Ziel erreicht hat, z.B. einen gewissen Wohlstand geschaffen hat, ist das Konzept ein biologisches, denn das Wachstum aus der Natur hat Grenzen. Wachstumskritiker/innen gehen davon aus, dass diese Grenzen bereits überschritten sind. Das ist ein alarmierender Zustand, so dass weiteres Wachstum ausgeschlossen sein muss. Damit ist die prinzipielle Festlegung, ob das Wachstum gestoppt und Schrumpfung11 einsetzen soll, oder ob es ein mögliches Etwas gibt, dass weiter wachsen darf, getroffen. Ob es überhaupt Wachstum geben soll, oder welche Dinge eigentlich begrenzt sind ist eine zentrale Frage der Wachstumskritik. Wo sieht sie die Grenzen der Natur?
10 Randers, Jorgen (2012): 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. München. 11 Das Konzept der Decroissance und Degrowth sind in Frankreich und England bisher im Gegendiskurs etabliert. In der Bundesrepublik ist im nichthegemonialen Diskurs vermehrt die Rede vom Gesundschrumpfen und liefert damit eine positive Gegenposition zum Wachstum.
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[a] Das Wachstum der Bevölkerung ist begrenzt, denn unkontrollierbares Bevölkerungswachstum wird zur Gefahr für die Umwelt. Um diese These zu belegen, bedarf es zunehmend einer Reaktivierung des pessimistischen Nationalökonomen Thomas R. Malthus. (Nicoll 2011: 126), mit dem sich gut begründen lässt, dass ein Schonung der natürlichen Ressourcen nur durch die Beschränkung ihrer Nutzer/-innen erreicht werden kann (vgl. den Beitrag zur Tragedy of the Commons in diesem Band). [b] Das Wachstum des Konsums ist begrenzt. In den Industriestaaten ist eine Sättigung der Produktnachfrage eingetreten. (vgl. Nicoll 2011: 61, 75) Ein „Immer-mehr-von-immer-dem-selben“ gerät zunehmend in die Kritik und gilt auch interdiskursiv kaum mehr als erstrebenswert. In der Enquete-Kommission gab es eine ausführliche und lange Diskussion dazu, ob die Begriffe von Wachstum und Entwicklung grundsätzlich identisch seien und auf dasselbe Phänomen referierten (was in der Hauptsache von Karl-Heinz Paqué, Sachverständiger und Mitglied der FDP vehement vertreten wurde und der damit eine Diskussion zur Umdeutung erfolgreich blockierte). Wenn der Entwicklungsbegriff, zumal der der nachhaltigen Entwicklung, stark gemacht wird, heißt das, dass bestimmte Arten des Wachstums, nämlich die „zerstörerischen“, rein quantitativen nicht mehr angestrebt würden, was großen Teilen der Industrie nicht recht sein dürfte. Dieser Streit scheint im öffentlichen Diskurs allerdings längst zugunsten der nachhaltigen Entwicklung oder zumindest des qualitativen Wachstums entschieden zu sein und ein Wachstum auf Kosten der Natur, was es de facto in den meisten Fällen ist, wird allgemein zumindest theoretisch abgelehnt. Zudem ist zu lesen, dass „wir” in den Industriestaaten „alles haben“ und „unsere Bedürfnisse gesättigt sind“. Die Industrie hat dafür eine Antwort gefunden: geplante Obsoleszenz als Motor unserer Konsumgesellschaft.12 Die Tatsache, dass ohne Konsum kein Wachstum möglich ist, wird als Ausgangspunkt einer Gesellschaftskritik genutzt, die einen ganzen Lebensstil in Frage stellt. [c] Die Artenvielfalt ist begrenzt. Es kommt zum Artensterben. Um die Natur, zu der die bedrohten Tierarten selbstverständlich gezählt werden, zu erhalten, werden Reservate zum Tier- und Pflanzenschutz angelegt oder seltene Tiere in Zoos gebracht, um sie zu schützen. Für wen das unternommen wird, ist offensichtlich, nicht für die Natur, sondern für den Menschen. Denn diese Orte gelten gleichzeitig als Erholungs- und Regenerationspunkte.
12 Diskursiv wirksam war hier der Dokumentarfilm von Cosima Dannoritzer (2010) Kaufen für die Müllhalde, der das Problem einer Wachstumsgesellschaft, der der Konsum ausgeht, thematisiert und die Absurdität des Wachstumskonzeptes vorführt.
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[d] Die Expansion, vor allem die territoriale Ausweitung ist begrenzt, da die Erde schlechterdings einen begrenzten Raum zur Verfügung stellt. Die Vertreter/innen eines unbegrenzten Wachstums widerlegen dies mit Expeditionen zum Mars und träumen von der Besiedlung ferner Planeten, womit diese Grenze eine widerlegte Grenze darstellt. [e] Der Naturverbrauch oder die Ressourcenverfügbarkeit ist begrenzt. Naturverwendung kommt hier Ausbeutung gleich. Der Natur wird unrechtmäßig weggenommen, und das, bis nichts mehr da ist. Das passt zur allseits inszenierten Knappheit der Güter und hat nicht nur zur Folge, dass Umweltschützer und Wachstumskritiker den Verbrauch begrenzt oder beendet sehen wollen, sondern spielt der In-Wert-Setzung der Natur in die Hände. Denn nur was knapp ist, kann gewinnbringend verkauft werden, schließlich ist Knappheit Antrieb allen Wirtschaftens. Öl z.B. wird durch das Mantra von seiner sinkenden Beständen nicht weniger gefördert, sondern teurer verkauft. [f] Schließlich ist die Rede von den Grenzen des menschlichen Verstandes, die im Wachstumsdiskurs teilweise antagonistisch behandelt werden. Während die Pro-Wachstumsseite gerade in diesem Bereich den Beweis für die Unendlichkeit des Wachstums sieht und das mit dem Begriff der grenzenlosen Innovationskraft fasst,13 geht der Gegendiskurs davon aus, dass die menschliche Vernunft oft auch evolutionsbedingt an ihre Grenzen stößt.14 Der menschliche Verstand ist ebenso wie das Wachstum naturabhängig und deshalb endlich. In dieser Parallele schließt sich an die Naturgrenze auch eine Kulturgrenze und wird die Gesellschaftskritik am offensichtlichsten. Festzuhalten bleibt, dass in den genannten Fällen Naturalisierung mit der Metaphorik der Begrenzung gleichzusetzen ist. Die Frage, inwieweit der Mensch und seine kulturelle Ordnung (vgl. den Beitrag zum Kulturbegriff des Neoevolutionismus in diesem Band) überhaupt noch mit der Natur, deren Wichtigkeit sich besonders in der Erzählungen der Evolution widerspiegelt, vereinbar ist, steht dabei im Zentrum. Es findet eine Wiederbelebung mit gleichzeitiger Wiedereinfügung in das System Natur statt. Das betrifft das allgemeine Verhältnis Mensch – Natur, sowie die Entfremdung des Menschen
13 Der Mensch (Ingenieur/-in) findet für jedes Problem eine (technische) Lösung. 14 „Das Hirn liebt einfache Erklärungen, nicht Komplexität“ und ähnliche Aussagen über den menschlichen Verstand mit vornehmlich evolutionistischen Erklärungen, die in wachstumskritischen Texten ausgiebig zitiert werden, finden sich z.B. bei Andreas Meißner (2009): Mensch, was nun? Wie wir der ökologischen Krise begegnen – können. Edition Octipus.
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vom „Ökosystem“, der Umwelt, dem vom Menschen unberührten „Guten“, wovon Pflanzen und Tiere fraglos Teil sind. Die industrialisierten Menschen sind aber einerseits ausgenommen und stehen außerhalb des Systems, werden jedoch andererseits immerhin als evolutionäre Irrläufer gleichsam renaturalisiert. Dieser Bezug zur Evolution und die Zurückführung des Menschen in den Naturkreislauf betreffen den Ökodiskurs in besonderem Maße, zu dem der Postwachstumsdiskurs gehört. Denn gerade hier gibt es den Versuch, den Menschen wieder in die natürliche Ordnung einzubinden, und das mithilfe unterschiedlicher Erklärungsmuster. Das organische Wachstum gilt hier als Leitidee, an der sich auch wirtschaftliches Wachstum und menschliche Entwicklung orientieren sollen. Diese Deutung kommt im hegemonialen Diskurs kaum vor. Fest steht, dass der Ausschluss des Menschen aus der Natur falsch war und rückgängig gemacht werden muss. Renaturalisierung bedeutet hier: Rückkehr zum Richtigen und Rückbesinnung auf die Wurzeln. Das ist die einzige Möglichkeit zur Rettung der Erde und damit auch des Menschen selbst. Aber was verstehen die Autoren eigentlich unter dem Begriff Natur und wie grenzen Sie den Menschen davon ab? Mit welchen Eigenschaften werden sie jeweils belegt? Was ist die menschliche Natur und was ist der natürliche Mensch? In welchen Zusammenhängen ist er Teil der Natur in welchen nicht und welches Verhältnis ergibt sich daraus? Der Ökodiskurs ist davon geprägt, dass die Natur als Maß der Dinge herangezogen wird. Dabei wird so selbstverständlich über die Natur gesprochen, dass ganz in den Hintergrund tritt, dass es sich um eine bestimmte Naturvorstellung handelt, die von dem zugrundeliegenden Menschenbild abhängt. Natur repräsentiert dabei etwas Verloren-Geglaubtes bzw. etwas zu Erhaltendes und zu Konservierendes. Mit Verweis auf die Natur wird Wald urbar gemacht oder aussterbende Tiere in Zoos gebracht, um ihn bzw. sie zu bewahren. Es wird erst etwas geschaffen, was es so noch oder nicht mehr gibt, und dann aufgrund seiner Natürlichkeit als schützenswert gilt. Das ist die lebende oder lebendige Natur. Gleichzeitig gilt sie als Vorbild für zu Erzeugendes, sie wird geschaffen. Im Biolandbau und bei allem was mit dem Attribut nachhaltig belegt wird, versucht der Mensch, es der Natur gleichzutun, oder zumindest im Einklang mit ihr etwas herzustellen. Ein weiterer hegemonial gewordener allgemein anerkannter renaturalisierter Bestandteil als Antwort auf die neu postulierten Grenzen ist der des Ersatzes fossiler Energieträger durch Erneuerbare Energien als natürliche Form der ökologischen Modernisierung. Dass Wind- und Solarenergie als „natürliche“ Form der Energieerzeugung per se gut und damit breit unterstützenswert sind, hat sich in weiten Kreisen durchgesetzt.
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[3] Die dritte semantische Implikation ist die unterstellte und durch viele Menschen erlebte Besserungserfahrung über verschiedene Generationen seit der Konstituierung der BRD, woraus sich dann auch Besserungserwartungen potenzieller Wähler/-innen ergeben. Die Politik antwortet mit den Wachstumsversprechen parteiübergreifend genau auf diese Hoffnung, dass, wenn es nur Wachstum gibt, dann auch der Gewinn von oben nach unten durchsickert und für alle dabei etwas abfällt. In dieser Vorstellung trifft der Wachstums- auf den Fortschrittsbegriff (vgl. den Beitrag zum Forschritt in diesem Band). Wachstum wird zum Indikator für Fortschritt. Durch die exponentiellen Steigerungen seit der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (vgl. Welzer 2013: 43) ist die heutige Gesellschaft von ständigen „Verbesserungen“ und wachsendem Wohlstand geprägt. Eine Vorstellung, auf die zu verzichten schwerfällt, denn die Wirtschaft mit ihren Wachstumskurven stellt scheinbar ein System unbegrenzter Verfügbarkeit materieller Dinge dar. Das Bild einer Zunahme der Lebensqualität durch die Kumulation von Gebrauchs- und Unterhaltungsgegenständen hat dazu geführt, dass wenige sich vorstellen können, diese Entwicklung von den Großeltern über die Eltern bis heute könne nicht einfach so weiter gehen. Dazu nährt die Politik diesen Mythos mit weiteren Wachstumsversprechen, obwohl die Prognosen zumindest unzuverlässig sind.15 Diese semantische Kopplung von Verbesserung und Wachstum nimmt ideologische Züge an, sodass die Wachstumskritik nicht umhin kommt, ihr etwas gleich Starkes entgegenzusetzen. Das ist das Narrativ vom Glück. Der Mensch soll nicht wohlhabender, sondern glücklicher werden. Glück und Wachstum werden Gegensatzpaare, und das wird durch die relativ junge empirische Glücksforschung unterfüttert. Der Zusammenhang von Wohlstand und Glück mündet auch unter Ökonomen/-innen in der Feststellung: „Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher“.16
15 Wachstumsprognosen werden ausgesprochen, aber auch häufig korrigiert. Z.B. muss das Statistische Bundesamt ganz aktuell in der Pressemitteilung 287 vom 14.08.2014 einen Rückgang von 0,2% im 2. Quartal 2014 zugestehen. 16 So der Untertitel des mehrfach aufgelegten Titels des Ökonomen Binswanger, Mathias (2006): Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun? Freiburg im Breisgau.
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[3]
D IE G RENZEN DES W ACHSTUMS UND DER N ACHHALTIGKEIT
Der Gegendiskurs hat bewirkt, dass Wachstum als universales Legitimationsmuster im Interdiskurs nicht mehr uneingeschränkt verwendet werden kann. Spezifizierungen sind nötig geworden, um der vorhersehbaren Kritik im Vorhinein entgegenzutreten. Nichtsdestotrotz ist der denaturalisierte Wachstumsbegriff heute im Zuge der Etablierung der Wirtschaftswissenschaft verbreitet und fest im Spezial-, im Alltags-, aber auch im Interdiskurs verankert. Der Wachstumsbegriff als ein wirtschaftswissenschaftlicher, denaturalisierter und damit grenzenloser Begriff wurde im 18. Jahrhundert vor allem durch Adam Smith 17 zur Grundlage einer Theorie und hat sich seitdem zum festen Bestandteil nicht nur der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch der Gesellschaft überhaupt etabliert. Wir leben heute in einer ökonomisch determinierten Gesellschaft, die die Ökologie als Wohlfühlwissenschaft für sich entdeckt hat. Ökonomie und Ökologie stehen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander und scheinen unversöhnlich (vgl. Radkau 2011: 453ff.). Dieser Widerspruch wurde durch den Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows u.a. 1972) gefestigt. Dieser leitete einen Paradigmenwechsel ein. Von nun gab es zwei Lager. Bei den Wachstumsbefürworter/-innen wurde und wird der Niedergang für den Fall vorausgesagt, dass das BIP nicht mehr steigt. Bei den Wachstumskritiker/-innen und weiten Teilen der „ökologisch erweckten Öffentlichkeit“ (Radkau 2011: 455) rückt die Apokalypse näher, wenn am Wachstumszwang festgehalten wird. Seither wird aber auch die Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie nicht mehr ausgeschlossen, was mit ihrer Denaturalisierung während der 1980er und 1990er Jahre einherging. Die Diskussion um die Grenzen geriet dabei wieder in den Hintergrund. Sie wurde von der Nachhaltigkeitsdiskussion absorbiert. Heute gibt es nicht mehr nur exponentielles oder quantitatives Wachstum, von dem sich auch die meisten Befürworter/-innen distanzieren, sondern wird auf qualitatives, nachhaltiges Wachstum gesetzt. Der Verweis auf den Nachhaltigkeitsbegriff ist zum diskursiven Feigenblatt avanciert. Begriffsgeschichtlich wurde Nachhaltigkeit in dieser Bedeutung im Zusammenhang mit der Entstehung der Umweltbewegung gebraucht und mündete in seinen heutigen inflationären Gebrauch, der gleichzeitig das Ende einer Debatte beschließt, die nun mithilfe der Wachstumskritik neu aufflammt. Der Nachhaltigkeitsbegriff
17 Smith selbst war noch nicht so wachstumsfixiert, legte aber den Grundstein für die klassische Ökonomie, in der unbegrenzter Fortschritt möglich ist.
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ist mittlerweile im Interdiskurs als zustimmungspflichtiges Leitwort angekommen, ist ernsthaft nicht mehr negierbar und eignet sich deshalb nicht mehr für die Debatte, wo offensiv um Wachstumsgrenzen gestritten wird. Der Begriff der Nachhaltigkeit allerdings wird mittlerweile so ausgeweitet benutzt, dass er oft das Attribut „sogenannte“ Nachhaltigkeit bekommt und damit auch ein Bewusstsein darüber besteht, dass er kaum mehr unreflektiert gebraucht werden kann. Das hängt mit dessen Dehnbarkeit zusammenhängen. Der Begriff sagt nichts mehr aus. In den 1970er Jahre, als die Nachhaltigkeitsdebatte mit dem diskursiven Ereignis der Veröffentlichung der Studie des Club of Rome begann, und Nachhaltigkeit zum ersten Mal im heutigen modernen, erweiterten Sinne verwendet wurde, steckte noch gehörig Kraft darin. Umweltschützer/-innen waren euphorisiert über die Schlagkraft des Begriffs. Er war mit Vorstellungen von Gerechtigkeit, Partizipation und Lebensqualität als politischer Kampfbegriff funktional aufgeladen. Ulrich Grober bezeichnet in seinem Buch Die Entdeckung der Nachhaltigkeit diese Zeit des intensiven Nachdenkens über die Begrenztheit des Planeten als „die Jahre der Erdpolitik“ (Grober 2010: 229), die jedoch durch das Aufkommen einer radikalen Gegenutopie ins Stocken geriet. Der Neoliberalismus, der eng mit den Namen Milton Friedman und Friedrich von Hayek verbunden ist und sich bekanntermaßen die drei Eckpunkte Privatisierung, Deregulierung und Beschneidung der sozialen Sicherungssysteme zum Ziel setzte. Diese Doktrin kollidierte damals (!) mit allen Grundsätzen des Nachhaltigkeitsdenkens. Seine Verfechter/-innen sahen ja gerade die Erde und ihre Ressourcen nicht als käufliche Ware, sondern als gemeinsamen Besitz der Menschheit. Das erfordert ökologische, ökonomische und soziale Regulierung, wenn sich alle für das Gemeingut Natur verantwortlich fühlen und gleichzeitig auch allen Zugang zu ihr gewährt werden soll. Es hieß: Lebensqualität und Partizipation für alle! Das hat sich mittlerweile verändert. Die neoliberale Ideologie war fähig, den Begriff für sich selbst zu instrumentalisieren und so unschädlich zu machen, also zu entpolitisieren. Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung18 finden sich heute überall und die einstmalige Kraft als Kampfbegriff – vor allem der linken Grünen – ist dahin. Eine „Immunisierung“ des Diskurses hat stattgefunden. Durch die Erzeugung einer sprachlichen Ambivalenz durch Generalisierung wird der Begriff in den hegemonialen Diskurs integriert und damit seiner verändernden Kraft beraubt und dadurch entwertet und entschärft. Außerdem wird es möglich, ihn auf alle möglichen Anwendungsge-
18 Die eigentlich im Widerspruch stehen: der Entwicklungsbegriff entstammt einem mechanistischen Weltbild, welches mit der Nachhaltigkeitsidee gerade in Frage gestellt wurde.
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biete zu übertragen: Eigentlich ging es um Naturschutz mit zahlreichen gesellschaftlichen Implikationen, jetzt geht es um technische Innovation, die weit über erneuerbare Energie hinausgeht. Heute ist von der Wirtschaftspolitik bis zum Deospray alles nachhaltig. Die Dinge selbst, die Lebensweisen, Beratungskonzepte etc., die sich mit dem Attribut nachhaltig schmücken, haben sich aber nicht grundlegend verändert. Nachhaltigkeit ist lediglich zum Generalbegriff für etwas geworden, das sich als etwas ausgibt, was es eigentlich nicht ist (nämlich z.B. umweltschonend). Eine Steigerung der selbigen ist erklärtes Ziel und damit ist Nachhaltigkeit ähnlich wie das BIP-Wachstum denaturalisiert zu einem quantitativ messbaren Wert geworden. Als Reaktion wendet man sich in umweltaktiven Kreisen von Nachhaltigkeitsforderungen ab. Das Wachstumsparadigma in Frage zu stellen, ist stattdessen zu einem probaten Mittel geworden, den hegemonialen Diskurs anzugreifen. Die neue Erzählung von der Postwachstumsökonomie stellt dabei eine passende Fluchtlinie dar. Ob ihr dasselbe Schicksal blüht, wie dem Versuch, Nachhaltigkeit als politischen Begriff im Diskurs zu implementieren, ist fraglich. Letzterer ist zumindest teilweise gescheitert, denn Nachhaltigkeit ist zu einem rhetorischen Instrument der Adelung und Aufwertung jedes ökonomischen Interesses geworden. Wachstum und seine Kritik hingegen ist ein diskursiv starkes Thema, mit dem nach dem Scheitern des Versuchs der 1970er Jahre, unter dem Begriff der Nachhaltigkeit, Alternativen zu sammeln, ein erneuter Anlauf unternommen wird. Ob damit tatsächlich politische Folgen realisiert werden, oder es zu einer erneuten Immunisierung des hegemonialen Diskurses gegen den Gegendiskurs kommt, ist die spannende diskursive Frage. Aber zunächst schaue ich auf einen Teil des Gegendiskurses selbst und versuche herauszuarbeiten, mit welchen sprachlichen Mitteln, Narrationen und Begriffen dieser Versuch unternommen wird. Die These dieses Aufsatzes bleibt die, dass sich besonders Mitteln der Renaturalisierung bzw. Narrativen aus der Naturwissenschaft finden lassen.
[4]
R ENATURALISIERUNG IN POPULÄRWISSENSCHAFTLICHEN P OSTWACHSTUMSTEXTEN
[1] Miegel, Meinhard (2010): Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Anhand dreier populärer Texte, die blitzlichtartig im Feuilleton der großen deutschen Blätter, in Radiointerviews und mit eigenen Publikationen im Interdiskurs vernehmbar wurden, und deren Vertreter mittlerweile zur zitierbaren Stimme geworden sind, werde ich exemplarisch charakteristische Erzählweisen darstellen
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und typische Narrationsmuster ableiten. Die Motive der Wachstumskritik werden dabei als Abgrenzungsmechanismen zum hegemonialen Wachstumsdiskurs verstanden. Wachstumskritik bietet damit den Ansatzpunkt, einen Diskurswandel hinsichtlich der Frage, wie wir (zukünftig) leben wollen, zu forcieren. Die Autoren sind aus verschiedenen politischen Lagern gewählt. Trotzdem bedienen sie ähnliche Erzählangebote. Naturalistische Sichtweisen sind so modern und durchschlagend, dass sie scheinbar das Potenzial haben, eine diskursiv offene Stelle gerade auch im Ökodiskurs zu füllen, was sie für verschiedene Lager und Themen attraktiv macht. Besonders spannend ist dabei, wie sich die Verwendung und Interpretation solcher Erzählweisen gleichen bzw. unterscheiden, obwohl die Implikationen klar auseinandergehen und meist stillschweigend vorausgesetzt, als klar benannt werden. Meinhard Miegel ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, und obwohl angesehenes CDU-Parteimitglied, einer der bekanntesten konservativen Wachstumskritiker. Diese Koexistenz stellt zwar eine Randerscheinung innerhalb der Parteistrategie dar, er wird als „Querulant“ aber wohlwollend geduldet oder als grünes Feigenblatt sogar geschätzt. Er wurde in die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ berufen, dort allerdings weniger gehört, als ihm lieb gewesen wäre und so konnte er letztlich seine Positionen nur marginal einbringen. Nichtsdestotrotz gilt er als beliebter Interviewgast zur Wachstumskritik und schaffte sich sein eigenes Sprachrohr mit der Stiftung „Denkwerk Zukunft“, an der auch Nico Paech bereits mitgewirkt hat. Letzterer hat eine außerplanmäßige Professur am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt der Universität Oldenburg inne. Seine rigorosen Forderungen und sein kompromissloses Abrechnen mit der Konsumgesellschaft finden in verschiedenen Kreisen Gehör. Dadurch, dass er schlecht einer politischen Gruppe zuzuordnen ist, tritt er sowohl bei Greenpeaceworkshops als auch auf Wirtschaftskonferenzen auf. Er wirkt unparteiisch und unbestechlich und lebt am eigenen Beispiel einen Lebensstil vor, den er zur Rettung der Erde für alle fordert. Das macht ihn vor allem glaubwürdig – eine Eigenschaft, die Politiker/-innen und Veränderungsaposteln/-innen oft nicht zugesprochen wird. Mit seinem Buch Befreiung vom Überfluss hat er eine Art Standardwerk für Wachstumskritiker/-innen geschrieben, das leicht lesbar, kurz und anschaulich ist und viele Menschen erreicht hat. Seine Wachstumskritik ist sehr erfolgreich und sein Name im Interdiskurs angekommen. Er schreibt für die großen und kleinen deutschsprachigen Blätter – von Bild bis Süddeutsche – die sich immer wiederholenden mantraartigen Zeilen gegen die Verschwendung, tingelt von Talkshow zu Talkshow, von Podium zu Podium. Norbert Nicoll hingegen ist in der öffentlichen Debatte kaum zu vernehmen. Der Politikwissenschaftler und Ökonom hat wachstumskritische Texte für kleine
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vornehmlich gegendiskursive Zeitungen oder Onlinemagazine verfasst, die er 2010 in dem Buch Hat die Zukunft eine Wirtschaft? Das Ende des Wachstums und die kommenden Krisen veröffentlichte. Diese Sammlung wird hier zur Analyse herangezogen. Er genießt nicht annähernd die Popularität der beiden Erstgenannten und wird fast ausschließlich in linken Kontexten zur Kenntnis genommen – er selbst ist Mitglied von attac. Dort ist er fest verankert und prägt diese Organisation seit einigen Jahren besonders mit seiner Kritik am Neoliberalismus mit. Der Ausgangspunkt bei Meinhard Miegel liegt in der Abgrenzung von denen, die auf Wirtschaftswachstum bauen, obwohl zu bedenken ist, dass es seine eigenen Parteikollegen/-innen sind (vielleicht werden sie gerade deshalb nicht benannt). Er vergleicht sie mithilfe der Kollektivsymbolik der Süchtigen, wenn er von „Alkoholikern an der Flasche oder Drogensüchtigen an der Nadel“ spricht, die von „Panikattacken befallen und von existenziellen Ängsten geplagt“ sind, wenn das Gewohnte sich ändert und es nicht „immer weiter“ geht und das Versprechen von „möglichst immer mehr“ (Miegel 2010: 11) nicht eingehalten wird. Klar, dass er auf der anderen Seite steht und suggeriert, dass alle übrigen geheilt werden müssen. Denn Süchtige kommen in Therapie, in eine Entzugsklinik oder gar ins Irrenhaus. Interessant ist dabei, dass dies als Normalzustand, als das allgemein Gültige beschrieben wird. Die „Alarmglocken“ schrillen erst dann, wenn eine Rezession oder gar eine Depression droht. Die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 wird herangezogen, um die Fehler der Gesellschaft aufzuzeigen. Sie ist das diskursive Ereignis, welches den Wachstumsdiskurs maßgeblich anschwellen lassen hat und wird als politischer Anlass für Kritik genutzt. Die „Krise“ stellt insgesamt das Diskursereignis dar, mit dem die Wachstumskritik ihren neuen Aufschwung erlebt. Miegel polarisiert von Anfang an, wenn er ständig von „den Anderen“ spricht. Ihnen ist dabei jedes Mittel recht um „derartige Entbehrungen“ erträglicher zu machen. Sie opfern „Umwelt- und Klimaschutz“, überfordern „die nachwachsende Generationen“ und das alles, um Wirtschaftswachstum, das einzige gesellschaftliche Ziel, zu erreichen. Dabei ist „Konsens von Politikern und Parteien so vollkommen und bedingungslos“ (ebd.: 12) in diesem Bereich wie sonst nirgendwo. Das gesamte politische Spektrum ist sich gleichzeitig darüber einig, dass Wachstum uns auch oder gerade in Zeiten der Krise rettet. Alle bemühen sich um „Frühwarnsysteme“ (ebd.: 13) und „Katastrophenpläne“, Rettungspakete für Europa und die ganze Welt stehen auf der Agenda. Miegel fragt nun nachdrücklich, ob das die Zeit von Schwarzsehern, Hypochondern und Hysterikern sei, oder sich wirklich etwas „Schwerwiegendes ereignet habe“ (ebd.) und gibt die Antwort direkt im Anschluss:
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„Nichts, was sich in der jüngeren Menschheitsgeschichte nicht bereits zahllose Male ereignete hat und was sich nicht noch zahllose Male wiederholen wird. Es ist das Stück von menschlicher Torheit, Verblendung und Vermessenheit. Es ist das Stück vom Menschen, der nur allzu geneigt ist, irgendwelchen Trugbildern hinterherzulaufen.“ (Ebd.: 14)
Die menschliche Beschaffenheit drängt ihn zur unaufhörlichen Jagd nach immer mehr. Das hat zu einer universalen Krise dieser Zeit geführt. Schuld an der Krise sind Personen oder Gruppen von Personen, mit denen Miegel scheinbar nichts zu tun hat. Es sind „biedere Bürger, die einen Lebensstil pflegten, der weit über ihre finanziellen Möglichkeiten hinausging“, „Unternehmen, die nur am Tropf von Banken und sonstigen Geldgebern überleben konnten“ und „Banken, die sich in ihrem ungezügelten Expansionsdrang hoffnungslos übernahmen“ (ebd.). Aus allen drei Gruppen werden so einzelne Subjekte herausgelöst, die ihre „natürliche“ Aufgabe vernachlässigten und durch Überschätzung ihrer selbst (was sich im Schuldenmachen äußert) das ganze System, das bei richtigem Verhalten der einzelnen Akteure gut funktioniert, gefährdeten. Das gilt auch für „Wissenschaftler […], die ihre Mutmaßungen und Glaubenssätze als belastbare Erkenntnisse verkündeten, die Sparsamkeit als Laster und Verschwendung als Tugend ausgaben und die ein neues Zeitalter der Machbarkeit ausriefen“ und für „Gewerkschaften und Sozialverbände, die selbst dann forderten, wenn es nichts zu fordern gab“ und damit die „Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft aus dem Blick verloren“ und „Finanzjongleure“, die mit teils abenteuerlichen Produkten, Konstruktionen und Aktionen versuchten, sich und andere auf Kosten Dritter reich zu machen. Der Tenor ist immer derselbe: die einzelnen gesellschaftlichen Akteursgruppen, die nicht genau benannt werden und reichlich allgemein mit Generaltermini bezeichnet bleiben, haben über ihre Verhältnisse gelebt und sich in vielerlei Hinsicht übernommen. Es handelt sich aber nicht um Probleme einzelner Berufsgruppen oder Personen, sondern um den „vorläufigen Höhepunkt einer umfassenden gesellschaftlichen Fehlentwicklung“ (ebd.: 15). „Menschen aller Schichten und Professionen“ (ebd.: 18) sind auf die Versprechungen einiger weniger hereingefallen und haben sich verleiten lassen, am „rauschenden Fest“ (ebd.: 19) teilzunehmen. So beschreibt er ein Lebensgefühl, das ihm selbst offensichtlich abgeht und mit dem er persönlich nichts zu tun hat, auch wenn er sich an manchen Stellen mit Hilfe von Kollektivausdrücken in die benannten Generalismen einbezieht, besonders dann, wenn es um das Hinterfragen der eigenen Lebensweisen geht: „Geht es uns nach dem rauschenden Fest möglicherweise schlechter als zuvor?“ (ebd.: 25) Immerhin scheint der Hinweis auf die negativen Folgen des Wirtschaftssystems mittlerweile möglich und zeitgemäß. Diejenigen,
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die schon früher auf die Begrenztheit von Ressourcen und die Bedrohung der Umwelt hingewiesen haben, werden heute nicht mehr als „Waldschrate“ oder „komische Kobolde“ (ebd.: 87) bezeichnet. Ob Miegel sich selber zu den so Verspotteten zählt, bleibt offen. Fest steht, dass er sich zu diesen frühzeitigen Warner/-innen hingezogen fühlt und ihm ähnliche Anschuldigungen nicht unbekannt sind. Geht es aber um die Beschreibung der Schuldigen, versucht Miegel sich anstatt auf der Ebene der Benennung konkreter Personen auf eine allgemeine gesellschaftliche Ebene zu begeben, auf der er selbst kaum auftritt. Nur hier und da steht, als was er sich am liebsten sieht: als Realisten, von denen es nicht mehr viele gibt. Als solcher grenzt er sich sowohl gegen einen „überbordenden Optimismus“ (ebd.: 23) als auch gegen „pessimistische Unkenrufe“ (ebd.: 26), als die „nüchterner Realismus“ (ebd.) oft missverstanden wird, ab. Miegel spricht außerdem gern von der Menschheit – semantisch entspricht das dem unbestimmten „wir“ – von der in eingängiger Nomenklatur „drei gewaltige expansive Schübe“ (ebd.: 47) ausgingen. Ein territorialer, ein demographischer und ein wirtschaftlicher. Mithilfe dieser Dreiteilung werden bestimmte Sichtweisen erklärt, die die „Stunde der Wirtschaft“ und damit einen „epochalen Paradigmenwechsel“ (ebd.: 50) einläuteten, der ein Paradox hervorbringt, auf welches an verschiedenen Stellen eingegangen wird. Eigentlich brauchen die Menschen keine neuen Güter, trotzdem sind sie der Überzeugung, dass es ohne Wachstum nicht geht. Der Zusammenhang von Konsum und Wirtschaft wird hier stark thematisiert. Wirtschaftlich stark zu sein, gibt den „Deutschen“ Halt und Bestätigung, sowohl auf nationaler als auch auf der persönlichen Ebene des Status. Mit dem Schlagen der „Stunde der Wirtschaft“ (ebd.: 49) als neuem Paradigma anstelle des Nationalen in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg geht der entnaturalisierte Wachstumsbegriff einher. Interessanterweise argumentiert er wiederum ganz im Sinne des Nationalen, wenn er wirtschaftlichen Erfolg als „Quelle“ und „Lebenssinn“ der „Deutschen“ herausstellt. In Analogie zur Entdeckung des Feuers ist Wachstum zum „Licht und Wärme spendenden Feuer (geworden), das während langer Zeit das Leben der Menschen erleichtert und bereichert hat“ (ebd.: 55). Damit ist Wachstum ins „quasi Kultische“ entrückt und gilt als nicht zu begründender „Selbstzweck“ und wird aus Prinzip verfolgt. Damit verliert es seine anfänglich durchaus positiven Folgen und das „wohltuende Feuer“ wird zu einem „verheerenden Brand“ angefacht. Diesem fallen Menschen, Tiere und Pflanzen insofern zum Opfer, da sie nur im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit, die sich durch ein denaturalisiertes Wachstum definiert, bewertet werden. Liebe, Freundschaft, Glück, Kultur, nichts entkommt der Herrschaft des Wachstums, „jedenfalls nicht unbeschädigt“ (ebd.: 56) und die soziale Institution der Familie als „Zellkern der Gesellschaft“ (ebd.: 57) muss sich dem Wachstumspostulat unterwerfen. Sie
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hat damit keinen Wert mehr an sich, sondern bekommt ihn über einen externen Zweck zugesprochen, muss durch eine wirtschaftliche Komponente legitimiert werden, die mit der natürlichen Bestimmung des Menschen, eine Familie zu gründen, nichts mehr zu tun hat. Stattdessen werden Anreize zur Familiengründung geschaffen, um die Antwort für die Hauptfrage, ob sich Familie für den/die Einzelne/-n überhaupt lohnt, zu erleichtern. Die Übertragung wirtschaftlicher Parameter auf wirtschaftsfremde Lebensbereiche ist die Konsequenz aus der Geschichte des Wachstumsbegriff und seiner Entnaturalisierung in den Wirtschaftswissenschaften. Die Gesellschaft als Markt, auf dem der homo oeconomicus Nutzenmaximierung betreibt, wird in Frage gestellt und Wachstum als Verursacher dieser Lebensweise ausgemacht. Das Wachstumsstreben selbst deutet Miegel als „Drang zur Expansion“ (ebd.: 43), der aber keine genuin menschliche Eigenschaft, sondern allem Leben gemein ist. Der Unterscheid besteht wiederum in seiner Begrenzung. Der Mensch hat es mithilfe seiner Kultur geschafft, aus den natürlichen Schranken der Expansion auszubrechen und immer weiter zu wachsen. Im Umgang mit Grenzen scheiden sich die menschlichen von allen anderen Populationen. Miegel benutzt zahlreiche Analogien aus der Biologie und bedient sich eines häufig verwendeten Beispiels: Das Verhältnis von Hasen- und Fuchspopulation, deren Anzahl voneinander abhängig ist, sowie die klimatische Veränderungen, die zur Anpassung der Kreaturen an die Lebensbedingungen zwingen (vgl. ebd.). Er postulierte hier ein „Gleichgewicht“ von Expansion und Dezimierung, welches für den Menschen bedauerlicherweise nicht mehr zutrifft. Dieser kennt für seine Ausbreitung keine Grenzen mehr und es gibt nichts, was ihn in seine Schranken weist. Diese Entgrenzung durch Kultur setzt den Beginn des Antagonismus von Mensch und Natur. Das Bedauern darüber zeigen „naturnahe Völker“ (ebd.: 45) bis heute unmittelbar, indem sie Riten zur Wiedergutmachung für Eingriffe in die Natur leben. „Moderne Menschen“ sind von dieser Art der Spiritualität abgeschnitten und verlassen sich nur auf ihre Rationalität, die sich in Form der Ersetzung des natürlichen Wachstumsprozesses durch eine messbare Größe, das BIP, äußert. Er malt das Bild des homo oeconomicus, der nach immerwährender „Mehrung materiellen Wohlstands“ (ebd.: 47) strebt und für den „ethisches Verhalten, lautere Gesinnung oder Ästhetisches“ sekundär sind. Das entspricht der Form des natürlichen Expansionsdranges. „So ist sie nun einmal geprägt“ (ebd.). Dieser evolutionsgegebene natürliche Trieb spiegelt sich in demokratischen Gesellschaften in Statusfragen wider und wird in „riesigen Materialschlachten ausgetragen“ (ebd.: 52). Hier findet sich die Parallele zu Paech, wo die Menschen sich über ihren Besitz definieren und davon abgekommen sind, maßzuhalten und sich gemäß ihrer Leistungsfähigkeit zu verhalten. Miegel beschreibt diesen Statuskampf mit dem Symbol der Schlacht von Armen gegen Reiche (ebd.). Es finden „die
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erbittertsten Hahnenkämpfe“ (ebd.: 53) statt, mit dem einzigen Grund, dass andere Mehr haben und Menschen das nicht ertragen können. Miegel versucht auf diese Weise den Gang der Industriegesellschaften als Irrweg der Evolution zu beschreiben und gleichzeitig die Rückkehr zum natürlichen dem Menschen angepassten Normalzustand anzumahnen. Der Text trägt in seinem bekehrenden Duktus Züge einer religiös-konservative Bußpredigt. Die menschliche Hybris zeigt sich dann, wenn der Mensch als Lebewesen auf der Ebene der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in den Evolutionsprozess eingefügt wird. [2] Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. Auch bei Paech hat sich der moderne Mensch komplett von der Natur entfremdet. Die Natur ist das Opfer des Menschen und hat lediglich den Zweck, dem „großangelegten Unterfangen der Naturbeherrschung“ (Paech 2012: 40) zu dienen. Das Bild, was Paech von der Natur zeichnet, lässt sich über seine Kritik an der menschengemachten Technik erkennen, über die sich auch sein zutiefst pessimistisches Bild der gegenwärtigen Gesellschaft bestimmen lässt. Technische Errungenschaften werden zum großen Teil abgelehnt, weil sie unnatürlich sind. Durch sie ist der Mensch von Abhängigkeiten geprägt, ein hilfloser „Patient, der am Tropf hängt“ (ebd.: 42). Er haftet so sehr dem hedonistischen Ideal an, dass sowohl die „Kraft zur Genügsamkeit“ als auch „menschliche Souveränität“ verloren gehen, wie ein falsch gedüngtes Pflänzchen „verkümmert“ (ebd.). Der Mensch ist als eigentlich biologisches Wesen zum „Produktionsfaktor“ (ebd.: 45) eines technischen Prozesses avanciert, der sich nur noch über Arbeit und Konsum, der auf einem falschen Freiheits- und Fortschrittsideal beruht, definiert und die zum Bruch mit der Natur geführt haben. In diesem Zusammenhang setzt Paech auf der individuellen Ebene des einzelnen Menschen an und spricht von einer dreifachen Entgrenzung (körperliche Fähigkeiten, vorhandene Ressourcen, Verschuldung) materieller Ansprüche (ebd.: 57). Die Schuld daran liegt im ewigen Fortschrittglauben, der gewissermaßen physikalisch „als Hebel“ (ebd.) zur Entrückung beigetragen hat. Die Lösung kann nur in der „Rückkehr zum menschlichen Maß“ (ebd.), also zu dem, wozu der Mensch qua Naturgesetz bestimmt ist, liegen. Hier kommt auch der Ruf nach Verantwortung ins Spiel und die moralische Frage, unter welchen Bedingungen sich individuelle Selbstverwirklichung entfalten darf. Die Forderung besteht in der „Rückkehr zur Sesshaftigkeit“ (z.B. ebd.: 58) und in der Verwendung von Produkten mit hohem menschlichen Arbeitseinsatz, um materiellen Grenzen zu begegnen. Der Verzicht auf zu viel Technik, auf die allgegenwärtigen „Energiesklaven“ hat gleichzeitig den positiven Aspekt, dass die
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Menschen wieder selber anpacken müssen und dem, was ihrem eigenen Wesen entspricht, wieder näher kommen können. Der Mensch wandelt sich vom Konsumenten zum „Prosumenten“ (ebd.: 122) und erlangt so seine wirtschaftliche Eigenständigkeit zurück. Reduzierung des Komplexen und Besinnung auf das, was der Mensch selbst schafft und schaffen kann, fängt bei der Nutzung eines Gartens oder der Reparatur von Geräten an und hört bei der Kinderbetreuung, die wieder selbst übernommen werden könnte, anstatt Ganztagsschulen zu fordern, noch lange nicht auf. Die Implikationen gegenüber feministischer Positionen 19 wird auch bei Miegel deutlich, der als Konservativer das natürliche Familienbild stark macht. Die Gefahr der Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse sehen andere Wachstumskritiker/-innen aber durchaus.20 In diesen Forderungen, die ein renaturalisiertes Menschenbild implizieren und den Menschen in Naturprozesse scheinbar reintegrieren, zeigt sich, wie mit der Kritik am wirtschaftlichen Wachstum Kulturkritik betrieben wird und wie sich dieses Feld des Ökodiskurses besonders für Motive des einfachen naturnahen Menschen eignet. Gepaart mit neoevolutionistischen Beschreibungen, wie denen der Sesshaftigkeit und Eigenversorgung werden die Erklärungsmuster des Fortschritts – ein klar verzeitlichtes epochales Muster – entgegengestellt. Sie eignen sich als Angriffsfläche mit der Kopplung an die Technikaffinität individuelle Lebensstile besonders gut und lassen neue Konzepte wie das des Postwachstums als gegensätzliche aber notwendige Alternativen hervortreten. Während Miegel den ganzen Text hindurch eher latent Gesellschaftskritik betreibt, benennt Paech den Zweck seines Buches direkt und offensiv. Es soll den „Abschied von einem Wohlstandsmodell“ (ebd.: 7) ermöglichen und ist expressis verbis an einen Zuwachs an Glückempfinden (ebd.: 9) gekoppelt. Dieses heilsbringende Versprechen wird dem/der Leser/-in besonders dann anschaulich dargelegt, wenn es darum geht, was der/die Einzelne selbst beitragen kann, damit der Segen für alle kommt. Dazu steigt er direkt inhaltlich mit den Grenzen des herrschenden Modells ein und bezieht sie erstens, ähnlich wie Miegel, auf die Verschuldung und zweitens die Verknappung der Ressourcen „aus deren schonungsloser Ausbeutung sich das Wirtschaftswachstum bisher speisen konnte“ (ebd.: 7). Konkret nennt er „fossile Rohstoffe, seltene Erden, Metalle und Flächen“ (ebd.) und argumentiert produkt- und verbraucherorientiert aus seiner wissenschaftlichen Disziplin heraus, wo es vor allem darum geht, wie die Dinge
19 Ich verweise an dieser Stelle auf Elisabeth Badinter (2010): Der Konflikt – die Frau und die Mutter. München: Beck, die auf die Rückkehr zum traditionellen Naturalismus in der Erziehung eingeht und diesen unter feministischer Perspektive kritisiert. 20 Z.B. Rätz u.a. (2011): Ausgewachsen. Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben. VSA: Hamburg.
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hergestellt werden und wie sie zu ihren Nutzer/-innen gelangen. Er beschreibt die Voraussetzungen der „Wohlstandsexpansion“ (ebd.: 8) und spricht damit all jene modernen „Subjekte“ an, die schon lange spüren, dass es so nicht weiter gehen kann wie bisher. Dem Wunsch nach Veränderung, der dem Fried’schen Motto „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt“ folgt, kommt der praktische Vorschlag eines alternativen Lebensstils entgegen und das Glücksversprechen entspricht ganz dieser Haltung. Die Zielgruppe muss daher nicht benannt werden, um sich mit den Inhalten und dem Autor selbst zu identifizieren. Denn endlich sagt jemand klipp und klar, was Sache ist und bietet dazu Lösungsvorschläge. Dass Paech mit dieser polemischen Art stark polarisiert, kann dem Zweck des Textes dabei nur dienlich sein. Er tritt jedoch den ganzen Text hindurch hinter den zu beschreibenden Gegenstand und die Angeklagten zurück und kann eher implizit als derjenige, der unverhohlen die Wahrheit sagt, herausgelesen werden. Er ist der Experte, der sich auskennt und auch im Spezialdiskurs alternative Sichtweisen voranzutreiben versucht. Die Arbeit im wissenschaftlichen Betrieb verleiht ihm eine Autorität, die seine Leserschaft zusätzlich überzeugt. Die Frage z.B., für wen Wachstum Allheilmittel ist und wer vom stets angeprangerten Modell profitiert, zieht sich eher in Form von Anschuldigungen einiger gesellschaftlicher Gruppen, deren Akteure nie konkret benannt werden, durch den Text. Die Befürworterseite des Wirtschaftswachstums, die ein „Trommelfeuer von Durchhalteparolen“ (ebd.: 71) veranstaltet, wird konkret oder gar personell nicht benannt. Es bleibt beim „die“ gegen „mich/uns“. Stattdessen arbeitet Paech wie Miegel generalisierend mit dem Aufbau von gruppenorientierten Gegenfiguren bis hin zu zahlmäßig unbestimmten Feinbildern. Eine häufig angeführte Bedrohung wird durch die fast gänzlich entpersonalisierte Figur der „konsum- und mobilitätsgierige[n] Masse“ (ebd.: 51) benannt, die sich durch eine „Entgrenzung von Konsum- und Mobilitätsansprüchen“ (ebd.: 47) auszeichnet. Dieses Phänomen ist ganz ähnlich wie bei Miegel Folge der „Demokratisierung des Wohlstands“ (ebd.: 51). Paech grenzt sich von der herrschenden Meinung ab, indem er sie Lügen straft. Die Erzählstrategie der Entlarvung zieht sich durch den gesamten Text. Wenn z.B. von dem „Mythos“ des Fortschritts die Rede ist, der „angeblich“ diesen und jenen Verdienst hervorbrachte und als „abstrus“ (ebd.: 57) bezeichnet wird. Die Anhänger/-innen des Fortschrittsglaubens, die von marxistisch bis neoliberal breit vertreten sind und vielfältiger und heterogener nicht sein könnten, werden über ihre politische Gruppenzuweisung hinaus nicht weiter benannt. Paech nimmt gerne den Standpunkt eines externen Beobachters ein, der die „Unverantwortlichkeit“ der Konsumgesellschaft, die mit „Vorstellungen von Fortschritt und Freiheit übertüncht wurde“ aufdeckt und fragt sich als Zuschauer des „Schauspiels aus dem All“ (ebd.: 71), ob diese noch „reformfähig oder schon
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therapiebedürftig“ (ebd.) sei. Er unterstreicht damit das Bild vom einsamen Wissenschaftler, der die Wahrheit bereits erkannt hat und nun den Rest der Welt aufklärt. Die Raumschiffperspektive wurde schon im ersten Anlauf der Wachstumskritik der 1970er Jahre von Kenneth E. Boulding geprägt und sein symbolische Perspektive von der Betrachtung der Erde aus dem All, als auch das Signifikat einer Sichtweise von außen wird hier wieder aufgenommen. Er stilisiert sich als Warner, der aber nirgends eine adäquate Lösung findet und daher einen eigenen Vorschlag des Postwachstums formuliert. Um den gegenwärtigen Zustands der Gesellschaft zu beschreiben, bedient er sich medizinischen Vokabulars. Die aktuellen Verhältnisse gleichen daher einer „allgegenwärtige[n] Manie“ (ebd.:59) für die es wenig Aussicht auf Heilung gibt, denn „[d]ummerweise haben wir keine Therapeuten“ (ebd.:71). Es gibt keine „magische Diät für Übergewichtige“ (ebd.:72) und somit bleibt es vor allem eine individuelle Aufgabe des/der Einzelnen, denn auf Wirtschaft oder gar Politik ist kein Verlass. Ihre Behandlungsvorschläge der allgemeinen Depression sind nicht wirksam, sondern verschärfen das Problem immer nur weiter. [3] Norbert Nicoll: Hat die Zukunft eine Wirtschaft? Das Ende des Wachstums und die kommenden Krisen. Auch bei Nicoll wird die Drogenmetaphorik bedient, wenn viele am Wirtschaftswachstum hängen wie der „Junkie an der Nadel“ (Nicoll 2011: 61). Allerdings ist hier klar von den Ländern bzw. den Regierungen die Rede und nicht von einer unbestimmten Gruppe oder gar der ganzen Gesellschaft. Anders als Miegel und Paech wird er deutlicher in der Benennung der Beteiligten und Schuldigen. Der Autor selbst tritt aber ebenfalls ganz hinter den Inhalt des Textes zurück. Wenn überhaupt, tritt er metonymisch als „dieses Buch“, „der Text“ oder in Passiv- und Indefinitkonstruktionen („Der Titel wurde gewählt“, 9; „Mit Fug und Recht kann man davon sprechen“, 15) auf. Stattdessen benennt er ziemlich zügig die Autoritäten, auf die er sich positiv bezieht. Das sind die Wachstumskritiker/-innen der 1970er Jahre, in deren Tradition sich der Autor stellt, denn deren „Kritik verhallte weitgehend ungehört“, ist jedoch „dringlich wie nie zuvor“ (ebd.: 9). In den folgenden Zeilen rechtfertigt er seinen Nachdruck, der sich aus der Einzigartigkeit der Situation, in der wir heute leben, ergibt und lenkt die Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Inhalt. Der ganze Text bezieht sich in reichlichen Passagen auf andere Autoren/-innen, die für ihn als Rechtfertigung in Form des Autoritätstopos herangezogen werden. Generaltermini dienen der Abgrenzung und impliziten Spezifikation der eigenen Position. So z.B., wenn Nicoll sich mit Hermann Scheer, den er wertend als „Politiker mit Rückgrat und Leidenschaft bezeichnet“ gegen
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eine Verzichtsethik wendet, deren Vertreter/-innen zwar unbenannt bleiben (ebd.: 147), aber gleichermaßen zeigen, dass der Autor sich diesem absehbaren Vorwurf gleich entgegenstellt und dieser Ansicht nicht zugeordnet werden möchte. Paech hingegen zieht es vor, Verzicht umzudeuten und als positiv zu konnotieren, indem Verzicht gar kein Mangel ist, sondern Befreiung. Hier finden sich zwei unterschiedliche diskursive Umgangsweisen mit einem funktionalen Schmähbegriff. Während Paech den Versuch unternimmt, eine andere gegendiskursive Deutung ins Spiel zu springen, grenzt Nicoll sich vom naheliegenden Vorwurf ab und stellt sich damit scheinbar auf die Seite des hegemonialen Diskurses. Dazu passt auch, dass er als Autor kaum in Erscheinung tritt. Er stilisiert sich selbst nur in Form von Kollektivausdrücken. „Wir“, die „meisten Menschen in den Industrieländern“ müssen umdenken, verschieben Probleme etc., „wir“, d.h. der Autor und die Leser/-innen sind Akteure/-innen des Buches. Unternehmen, Regierungen, Klimagipfelteilnehmer/-innen und neoliberale Kräfte werden analysiert und klar benannt. Wirklich angesprochen werden aber wie bei Paech und Miegel auch, diejenigen, die bereit sind oder gar eine Anweisung suchen, ihr Leben zugunsten der Natur zu ändern. Diejenigen, die sich der Erde zuwenden wollen und nach einer Renaturalisierung des eigenen Lebensstils streben. Die Legitimation für das Buch sieht Nicoll daher in unser aller Verantwortung für den Planeten, ein „Weiter-so“ (ebd.: 11) kann es nicht mehr lange geben. Der Text richtet sich explizit an die 20% der Weltbevölkerung, die „80 % der weltweiten Ressourcen“ (ebd.) verbrauchen, generell aber an alle und da „schließt sich der Autor mit ein“ und beschreibt in einer Fußnote seinen eigenen Lebensstil, der Autofahren und andere „Dinge, die der Umwelt Schaden zufügen“ einschließt. Mit dem Hinweis darauf, dass grundlegende Verhaltensänderungen schwierig sind, wird aber gleichzeitig klargemacht, dass einen Anstoß zu denselben zu geben, neben dem „Umbau der Wirtschaft“ (ebd.: 12), Sinn und Zweck des Textes sind. Begründet wird deren Notwendigkeit mit den verschiedenen Krisen, die sich aus der Begrenztheit der Erde ergeben. Zudem ist der Text ein Sammelsurium an Fakten, Zahlen, Prognosen, Studien und Widerlegungen von Studien, erschöpft sich teilweise seitenweise in knappen Stichpunkten, strotzt vor Zitaten und anderen Bezügen auf Expertenwissen und liefert ausführliche naturwissenschaftliche Beschreibungen. Mit dem häufigen Bezug auf die jeweiligen Fachspezialisten/-innen wird versucht, die eigenen Thesen und die eigene Stellung zu bestärken und zu autorisieren. Nicoll ordnet sich zu diesem Zweck explizit einer wissenschaftlichen Position zu und integriert systematisch die Erkenntnisse aus anderen Disziplinen. So erzeugt er das Bild einer „ganzheitlichen“ Interdisziplinarität, die wiederum der Dringlichkeit und Außergewöhnlichkeit unserer Situation gerecht werden soll. Die Notwendigkeit zu
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Handeln und die Befolgung der vorgeschlagenen Optionen werden damit plausibilisiert. Das Ziel ist Schaffung einer neuen Wissenschaft von der Ökonomie – der Postwachstumsökonomie, deren Etablierung zum Ziel des Buches wird. Weitere Lösungsvorschläge hat er nicht parat und versucht eher durch die zahlreichen Belege eine Zustandsbeschreibung zu geben. Er ist vorsichtig mit konkreten normativen Aussagen und arbeitet deskriptiv. Damit stilisiert er sich als Wissenschaftler, der sorgfältig alle Informationen zusammenträgt und das Problem aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Die Schlussfolgerungen und mögliche Konsequenzen überlässt er seinen Leser/-innen. Zweifelsohne bleibt die Wirtschaft dabei - im Bild einer komplett naturalisierten Metapher - ein „Parasit der Biosphäre“ (ebd.: 61). Die Weltwirtschaft ist ökologisch und ökonomisch „dysfunktional“. Und es geht nicht zuletzt um die Renaturalisierung der Ökonomie selbst. Eine solche wäre dann die Postwachstumsökonomie, die wie bei Paech eine „Neudefinition von Wohlstand“ (ebd.: 151) beinhalten muss. Die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt Wachstum geben darf oder nicht, ob wir also den Schalter an oder aus machen (vgl. ebd.: 147) steht an erster Stelle. Ein dazwischen – z.B. Wachstum in einigen Bereichen, Regionen etc. – ist mit diesem Bild ausgeschlossen. Nicoll bezieht aber auch die Verlierer/-innen des Systems (ebd.: 61) ein und analysiert die Gesellschaft aus kapitalismuskritischer Sicht auch im Hinblick auf Verteilungsfragen und Profiteure/-innen. Eine Naturalisierung des Wirtschaftswachstums hieße bei ihm daher auch, soziale Lebensgrundlagen wie heute wertlose care-Arbeiten in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einzubeziehen (vgl. ebd.: 62). Trotzdem bleibt sein Ansatz wachstumszentriert, denn das BIP-Wachstum der Wirtschaftswissenschaft ist die Hauptursache für alle möglichen gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Auf der Ebene der Subjekte beruft sich Nicoll bei der Beschreibung der Konstitution des Menschen auf Erkenntnisse aus der Psychologie und stellt fest, dass der Mensch kein Pawlowscher Hund, sondern ein komplexes, nicht widerspruchsfreies Wesen ist (ebd.: 30), das, evolutionstheoretischen Erkenntnissen folgend, immer „auf die Gegenwart ausgerichtet“ (ebd.) ist. Es geht um Überleben oder Sterben und den Umgang mit Gefahren, da nur derjenige Mensch überlebt hat, der in Anbetracht des Säbelzahntigers weggerannt ist und nicht der, „der darüber räsoniert hat, wie die Wolken am Himmel in zehn Jahren aussehen mögen“ (ebd.). Die Klimakatastrophe ist für die meisten Menschen schlechterdings nicht so direkt (wie der Säbelzahntiger) als Gefahr erkenn- und erfahrbar, sondern nur in Form von Widersprüchen ersichtlich. Damit kann der Mensch schlecht umgehen, denn sein Verstand ist beschränkt, weshalb er zwei Möglichkeiten hat, zu reagieren: entweder er verleugnet und verdrängt oder er lenkt sich ab. Diese Mechanismen werden anschaulich beschrieben und sollen schließlich beweisen, dass die Welt für den
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einzelnen Menschen schlechterdings zu komplex geworden ist. In einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft ist die Lebenswirklichkeit „häufig komplett künstlich“ (ebd.: 32) und echte Erfahrungen daher kaum noch möglich. Nicoll zeichnet hier ein trauriges Bild vom Menschen, der zwischen Unwissenheit und Reizüberflutung durch die Welt irrt, da er die „Altlasten der Steinzeit“ mit sich rumschleppt und „in einem Gebrauchtwagen sitzt, der Millionen Jahre alt ist“ (ebd.: 33). Nicoll beschreibt mit Bezug auf die Evolution, was die Ernährung, die Familienstrukturen, die Verstandesfähigkeit ausmacht und belegt es mit neurobiologischen Erkenntnissen über die Hirnfunktionen. Auch menschliche Gefühle und das Gedächtnis erklärt er mithilfe der „genetischen Programme in unseren Köpfen“ (ebd.: 34). Ungeachtet der Tatsache, dass Nicoll als Politologe hier seine Disziplin verlässt (worauf an andere Stelle durchaus hingewiesen wird) bedient er sich ganz selbstverständlich neoevolutionistischer Erzählmuster. Universalistische Aussagen über den Menschen sind begründungslos diskursfähig geworden, und das über die politischen Ausrichtungen hinweg. In der Sprache vom Jäger und seiner Beute verschwindet ganz nebenbei auch die Grenze zwischen Mensch und Tier, die nun beide nichts anderes als Gefahren ausgesetzte, zur Reaktion gezwungene Wesen sind. Mensch und Tier reagieren allerdings nur dann, wenn sie einen direkten Erfahrungsbezug haben, den sie beim Klimawandel (s.o.) nicht wahrnehmen können. Und so helfen alle Katastrophenmeldungen in den Medien nichts, um die Menschen zum Handeln oder Überdenken der eigenen Lebensweise zu bewegen. Langfristige Umweltprobleme werden von der Konstitution des Menschen quasi verschlungen. Was ist die Konsequenz dieser niederschmetternden Analyse? Eigentlich liefert sie doch die Legitimation dafür, nichts zu tun und unsere vermeintlich unwandelbare genetisch-evolutionäre Identität und die damit verbundenen Implikationen hinzunehmen? Es bestätigt sich hier, was Knobloch in diesem Band (vgl. den Beitrag zur Moral des Neoevolutionismus) zur durchschlagenden Kraft der Kulturkritik eines Jared Diamond ausführt. Nicoll bedient sich der Motivvorräte der untergegangenen Kulturen, um sie im Rahmen des herrschenden Kulturbegriffs von „Egalität, Gleichbehandlung und Toleranz“ (ebd.) zur Lösung der „gegenwärtigen, globalen Ökologieprobleme“ fruchtbar zu machen. Der Aspekt, dass Kultur sowohl zum Vorteil als auch zum Schaden einer Spezies sein kann, bietet dabei den Ausgangspunkt für die Kritik am technischen Fortschritt. Als Wendepunkt stürzt sich Nicoll dazu auf die neolithische Revolution, wo die Menschen zu Ackerbauern/-innen und Viehzüchtern/-innen wurden „die nun von statt mit der Natur lebten“ (ebd.: 38). Technik und Natur werden hier klar zu einem Gegensatzpaar und es findet der Versuch statt, das positive Bild des technischen Fortschritts zu brechen. Die Natur wird im Kontrast zur Technik aufgewertet. Für die Kulturkritik Nicolls sind dafür verschiedene Aspekte technischer Innovation
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von Belang. Auf der individuellen Ebene betreffen sie in erster Linie die Unterhaltungstechnik, die die Menschen nicht nur von eigenen Naturerfahrungen abhält und der Ablenkung ein geeignetes Instrumentarium liefert, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene das beste Mittel zum „Klonen von Kulturen“ (Mander 2002; Nicoll 2011: 79) liefert. Ein Anliegen des Textes ist damit „den Entwicklungsweg der Menschheit zu analysieren“ (Nicoll 2011: 147). Einige Stationen auf diesem Weg werden dabei explizit genannt. So werden „die Industrialisierung, der Kapitalismus oder die neolithische Revolution“ (ebd.: 152), von denen wir lernen mit einem „Blick in den Rückspiegel“ nach vorn zu schauen. Denn die menschliche Entwicklung bestimmt unser Schicksal schon mit. Sie zeigt menschengemachte Fehler, die sich im Eingriff in die Natur widerspiegeln, und machen auf die derzeitige Dringlichkeit aufmerksam, weil sie im Vergleich zur heutigen Situation immerhin zu bewältigen waren. Die Frage stellt sich also auf die Weise, ob wir wieder einmal ungeschoren davonkommen. Die Antwort fällt selbstverständlich negativ aus und ist bei der Beschreibung der Lage als zugespitzte und ausweglose Situation schon enthalten. Neben dieser Einordnung des Menschen in die Evolution und der Abkehr vom Fortschrittsparadigma findet eine Entzeitlichung durch die Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien zur Erklärung von Beschränkung und dem Aufzeigen von Grenzen statt. So wird Entropie, eine Theorie aus der Physik zum Grundsatz aller Wissenschaften erklärt. Der Entropiebegriff der Thermodynamik wird auf die Wirtschaftswissenschaften übertragen, um deren Beschränktheit auf mathematische Formeln vorzuführen. Die Grundfesten der Ökonomie, die aus der Verkürzung auf Formeln bestehen, werden mit Verweis auf Georgescu-Roegen angegriffen. Letzterer war der erste Wirtschaftswissenschaftler der während der ersten Welle der Wachstumskritik das physikalische Gesetz auf die Ökonomie übertrug. Entropie ist danach der „Grad der Unumkehrbarkeit eines Vorgangs“ (ebd.: 56). Dazu zieht Nicoll zusätzlich eine Definition aus der Chemie heran, um ein „Maß für die Unordnung in einem System“ zu erhalten. Es wird als das Paradox für die darauffolgende Demontage des Wachstumszwangs zugrunde gelegt, denn die „Schaffung einer geordneten Struktur auf einer Stelle führt an anderen Stelle zu mehr Unordnung“. Es ergibt sich daraus die Erkenntnis, dass der „gesamte Energiegehalt des Universums konstant ist“ (ebd.: 57). Die Erde wird hier als einheitliches ökonomisches System verstanden, dass einen riesigen Rohstoffinput braucht, aber gleichzeitig einen Teil seiner Nutzbarkeit laut Entropiegesetz verliert und folglich die Endlichkeit der Erde selbst vernachlässigt. Unser Wirtschaften ignoriert fälschlicherweise diesen Sachverhalt. Diese Feststellung mündet in einen anderen Blick auf die Technologie. Auch hier schreckt der Autor nicht vor
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den großen Erklärungen zurück, wenn er die direkte Entwicklungslinie vom Menschen als „Jäger und Sammler“ (ebd.: 59) zur Technologie der Kernspaltung mit ihren „verheerenden Sekundäreffekten“ nachzeichnet. Bei dieser Beschreibung trifft Nicoll immer generalisierende Aussagen über den Menschen als Gattung, der die Natur zugunsten eines „wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ ausbeutet, dabei aber die Gesetze der Thermodynamik nicht außer Kraft setzen kann. Ob das mit Holzäxten oder energiehungrigeren Technologien geschieht, ist dabei Zeichen ein und desselben menschlichen Bedürfnisses dieser Entwicklung. Er geht stillschweigend davon aus, dass das Ökosystem ein geschlossenes System ist, welches sich im Gleichgewicht befinden sollte und hängt der Idee an, dass der Mensch mit seinen Eingriffen diesem „Organismus“ schadet. Im Gegensatz dazu steht die Erkenntnis, dass, was mit der Zeit läuft, altert und langfristig zerfällt. Energieversorgung und Energieverbrauch können aus als Kennzeichen von Leben in der Zeit (vgl. Reichholf 2008: 39) aufgefasst werden. Das Erreichen des thermodynamischen Ausgleichs ist dann nichts anderes als der Tod des Systems. Die Annahme aber, dass ein Gleichgewicht, dass Anzustrebende sei, ist diskursiv stark, und findet sich auch im Ganzheitlichkeitstopos wieder. Was Nicoll mit seinem Bezug auf die Entropie unternimmt, ist der Versuch einer Entzeitlichung, denn er unterstellt, dass „technischer Fortschritt“ und neue Produkte das Ziel hätten, „Ordnung in der Welt herzustellen“ (Nicoll 2011: 57), dadurch aber an andere Stelle zu mehr Unordnung führten. Implizit wird also gesagt, dass das System Erde in seiner Ordnung/Unordnung besser ohne menschliche Eingriffe in Form von Technologie auskommt, denn diese beuten die natürliche Umwelt jederzeit aus und erhöhen den Zerfall der Erde. Ganz im Gegenteil muss eine Entschleunigung stattfinden, damit der Alterungsprozess der Erde aufgehalten werden kann. Nicoll argumentiert hier ganz im Sinne der „Ganzheitlichkeit“ und Ausgeglichenheit des „guten“ Ökosystems Natur, dass der Mensch per se mit seiner „bösen“ Technologie zeitlich beschränkt und im Hinblick auf seinen Reichtum und damit seinen Entfaltungsmöglichkeiten begrenzt. Er verknüpft naturwissenschaftliche und evolutionsbiologische Erzählungen, um die Naturabhängigkeit der Wirtschaft nachzuweisen und im Anschluss die „Wachstumssackgasse“ (ebd.: 61) zu belegen. Technischer und gesellschaftlicher Fortschritt sind dabei nicht nur nicht identisch21 sondern schließen sich gar aus. Noch stärker wird diese Position von Paech vertreten. Grundtenor ist dabei immer die auf ökologischer Plünderung basierende Mehrung des Wohlstands, zuungunsten der Natur.
21 Wie häufig mit Verweis auf den Fortschritt im Bereich der sogenannten grünen Technologie behauptet wird (z.B. bei Projekten des Green New Deal, der Green Economy oder dem Desertec-Vorhaben).
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Alle Texte sind sich einig „Zukunftswissen“ (ebd.: 11) zu offerieren. Eine wichtige Rolle spielt die Betonung der Einzigartigkeit der Situation. Noch nie „haben Menschen durch ihr Verhalten so stark die Lebensgrundlage global verändert, bedroht und zerstört wie gegenwärtig. Es scheint, als steuere die Menschheit sehenden Auges auf eine Katastrophe zu.“ (ebd.: 9) Die Zukunft und ihre Gestaltung stehen in Postwachstumsdebatten im Mittelpunkt. Vorher analysiert Nicoll jedoch mit Bezug auf die Frage, ob wir überhaupt eine Zukunft haben, den „Entwicklungspfad der modernen Zivilisation“ (ebd.: 11) und kommt zumindest zu der Erkenntnis, dass wir auf „diese Zukunft schlecht vorbereitet sind.“ (ebd.) Hinzu kommt das Tempo dieses Fortschreitens. Es geht so schnell, dass es zum „Totalkollaps“ führen oder einen „Zivilisationsbruch“ bedeuten kann. Die Menschheit kann nicht auf dem bisher eingeschlagenen Weg bleiben, auch nicht mit geringfügigen Korrekturen. Es muss „massiv umgesteuert“ (ebd.: 152) werden. Alles läuft deshalb auf einen tiefen Einschnitt in unserem Leben hinaus, der nur Zurück-zurNatur heißen kann. Das ist die Ausgangsbasis für Verzichtsethiken und Appelle zum Maßhalten, wie sie auch Paech prägt und die neoliberalen Kräften eher in die Hände spielen, als dass sie sie kritisieren. Denn sie bereiten die Bevölkerung darauf vor, harte Einschnitte hinzunehmen, da wir es hier mit einem Ausnahmezustand der Menschheitsgeschichte zu tun haben.
[5]
F AZIT
Alle drei Autoren kommen in ihren Texten zu Werturteilen. Wenn es um Naturzerstörung und Naturausbeutung geht, ist deren Ablehnung impliziert und allgemein einsichtig, dass etwas dagegen getan werden muss. Damit finden sie einen hochaktuellen Anknüpfungspunkt in der politischen Debatte. Denn, dass Umweltfragen einen hohen Stellenwert haben, dem sich Akteure/-innen, die ernstgenommen werden wollen, heute nicht mehr entziehen können, ist zweifellos so. Dazu handelt es sich um ein Thema mit hohem Moralisierungspotenzial, indem sie nach gutem und verantwortungsbewusstem Handeln fragt und mit dem „richtigen“ Weg antwortet. Anstatt die sich ändernden Zustände als Übergänge zu begreifen, unterstellen alle drei Autoren, dass die sich vollziehenden Veränderungen negativ und damit rückgängig zu machen sind. Wir stehen am Scheideweg und die Ausgangsposition ist in allen drei Texten als Reaktion auf eine nicht wünschenswerte Lage und einen schädlichen Prozess, eine Fehlentwicklung zu verstehen. Die normativen Elemente werden im jeweiligen Vorwort betont und unterstreichen den Willen zu Veränderung und zur Einflussnahme, ebenso wie ihre Absicht, einen Wandel der Handlungen und Lebensweisen der Leser/-innen herbeizuführen und
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ihnen ihre Verantwortungsrolle bewusst zu machen. Dazu diagnostizieren sie die Therapiebedürftigkeit der Gesellschaft – einem häufigen Bild im Ökodiskurs – und stehen mit dieser Haltung dem hegemonialen Diskurs entgegen. Sie verorten sich ausdrücklich auf der kritischen gegendiskursiven Position und inszenieren die Rolle des Außenseiters und Aufklärers. In den analysierten Texten grenzen sich die Wachstumskritiker klar von den im Interdiskurs herrschenden Stimmen ab, indem sie Anhänger der Wachstumstheorie als „Wachstumstreiber“ (Paech 2012: 59), „Wachstumsadepten“ (Nicoll 2011: 64) oder „Wachstumsverfechter“ (Miegel 2010: 61f.) in starrer negativer Konnotation benennen. Die Selbstdeutung erfolgt unter Einbezug des Publikums mithilfe des appellativen „Wir“ oder dem Bezug auf die Menschheit und infolge einer stigmatisierenden Benennung der gegenteiligen Position. Und das geschieht immer bezogen auf ein Sprecherkollektiv und selten in Bezug auf einzelne Akteure/-innen. Lediglich Nicoll benennt konkrete politische Entscheidungsträger/innen und untersucht exemplarisch Verflechtungen von Umweltverschmutzung und Industrie. Dabei stehen aber seltener Personen, Institutionen oder Staaten im Zentrum der Kritik, als ganze Konzepte. So gerät „die Moderne“ oder „die Modernisierung“, welche im hegemonialen Diskurs einen ganzen positiven Bedeutungskreis liefert und mit dem Begriff des Fortschritts und des Aufschwungs verbunden ist, in Verruf. Eine bevorzugte Angriffsfläche bietet der technische Fortschritt, der in der politischen Kommunikation gerne mit dem Stichwort der Innovation als Lösung von Umweltproblemen ins Feld geführt wird. Er wird als Allheilmittel der Wachstumsbefürworter/-innen von den behandelten Autoren zum Stigmawort umdeutet. Indem ein bedrohliches Szenario der Angst gegen einen bestehenden Bedeutungsrahmen aufgebaut wird, kommt es mit dem Verweis auf seine negativen Folgen zur Retraditionalisierung und dem Verwerfen dieser Konzepte. Der angestrebte Paradigmenwechsel geht mit dem Versprechen einher, alternative Theorieansätze, die sich unter dem Konzept der Postwachstumsökonomie22 mit sehr unterschiedlichen Implikationen sammeln, zu bieten. Drohkulissen und Warnungen finden sich in allen drei von mir untersuchten Texten. Bei Paech liegt der Fokus auf der Entlarvung der „Fortschritts- und Wachstumsideologie“, denen er mit den programmatischen Gegenbegriffen von Suffizienz und Subsistenz zu begegnen versucht. Miegel beschreibt einen gesamtgesellschaftlichen Irrweg, der eine Folge davon ist, dass der Mensch die Grenzen seiner Expansion ignoriert. Um ein Scheitern der gesamten menschlichen Existenz zu verhindern,
22 Der Begriff wird eher in linken Diskursen verwendet, steht hier allerdings für alle Konzepte, die sich vom Wachstum als Ziel des Wirtschaftens verabschieden wollen und neue Begrifflichkeiten entgegenstellen oder alte umdeuten.
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muss eine Reduzierung der Gütermenge stattfinden und der Mensch zu einem ihm angemessenen Maß zurückkehren. Bei Nicoll ist Wachstumskritik eng mit Kapitalismuskritik verbunden und der Fokus liegt auf der Einsicht, dass Menschen schon viel länger existieren und überleben, als dass sie vom Wirtschaftswachstum abhängen. Es geht ihm vor allem darum, Kapitalismus nicht als Naturgesetz und damit als alternativlos bestehen zu lassen. Einen gemeinsamen diskursiven Zugang bietet dabei die Verzeitlichung und Enthistorisierung gleichermaßen. Neben Zukunftsdarstellungen, die zu Katastrophismen dramatisiert werden und apokalyptischen Diskurselementen auf der einen Seite, sind Rückblicke in die Geschichte bzw. Bezüge zur Evolution der Menschheit, sowohl vorbildhafte als auch mahnende Vergleichsfälle, eine beliebte Strategie, um ein Umdenken zu fordern. Paech fordert auf diese Weise andere individuelle Lebensstile, Nicoll fordert politische Intervention, Miegel fordert die Rückbesinnung auf traditionelle Werte. So unterschiedlich diese Forderungen sind, stoßen sie sich alle am dem, was als Normalzustand des Individuums, bzw. auch der Gesellschaft beschrieben wird. Hier treffen sich die Motive der Plünderung, Entgrenzung und Expansion. Es sind genau jene, die sich mit dem wirtschaftlichen Wachstum verbinden lassen und werden deshalb zum Ausgangspunkt der Wachstumskritik. Das macht die wirtschaftswissenschaftliche Forderung nach Wachstum sehr produktiv für die Beschreibung des Ist-Zustands, also dem was als normal23 gilt, aber gleichzeitig als abnormal, als Abart des Guten, denn ein „lebender Organismus der immer weiter wächst ist eine Horrorvision“ (Miegel 2010: 65), dargestellt wird. Da diese Horrorversion für Wachstumskritiker/-innen mittlerweile zum Normalzustand geworden ist, besteht die Lösung des Problems ausschließlich in der „Rückkehr zum menschlichen Maß“ (Paech 2012: 57), im Verzicht und der Reduktion. Durch Dramatisierung wird die Rückkehr zur Normalität gefordert, bzw. auch der „nicht-normale“ Ist-Zustand angegriffen. Dabei trifft die Wachstumskritik genau den Punkt, an der der öffentliche Diskurs eine Lücke, die es zu schließen gilt, aufweist und hat hier die Möglichkeit sich Gehör zu verschaffen, denn dass „etwas geschehen muss“ und „es nicht so weiter gehen kann wie bisher“ ist allgemeiner Konsens in der öffentlichen Debatte und zustimmungspflichtig in den verschiedenen politischen Lagern. Die menschliche Hybris, die Grenzen unterworfen ist, liefert in Postwachstumstexten den Anknüpfungspunkt und ist dort mehrfach belegt. Ob die wachstumskritischen Stimmen einen Diskurswandel herbeiführen können, indem sie die Debatte der 1970er Jahre auffrischen
23 Um dieser Paradoxie zu entkommen, findet sich die Bezeichnung „new normal“ (Link 2013: 236) für die „endlos steigende Schlangenkurve“ (ebd: 234) gegen das „alte“ Normale der Nachhaltigkeitsdebatte.
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und die Forderungen aus der Nachhaltigkeitsdebatte wieder massentauglich einbringen können, bleibt angesichts der enormen Wirkmächtigkeit des Wachstumsaxioms allerdings fraglich.
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L ITERATUR
Analysierte Texte: Miegel, Meinhard (2010): Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin. Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München. Nicoll, Norbert (2011): Hat die Zukunft eine Wirtschaft? Das Ende des Wachstums und die kommenden Krisen. Münster. Literatur: Jäger, Siegfried (2012): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 6., vollständig überarbeitete Auflage. Münster. Meißner, Andreas (2009): Mensch, was nun? Wie wir der ökologischen Krise begegnen - können. Münster. Link, Jürgen (2013): Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart. Konstanz. Radkau, Joachim (2011): Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München. Rätz, Werner et al. (Hrsg.) (2011): Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben. Hamburg. Reichholf, Josef (2008): Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. Frankfurt am Main. Welzer, Harald (2012): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main.
„The Tragedy of the Commons“ – Anatomie einer Erfolgsgeschichte C LEMENS K NOBLOCH
Es liegt in der Natur der ökonomischen Konkurrenz, dass ein Akteur, der gegen die Spielregeln verstößt, zumindest kurzfristig einen Vorteil gegenüber seinen anständigeren Mitbewerbern hat. (TONY JUDT)
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E INLEITUNG :
INTENDIERTER UND WIRKUNGSGESCHICHTLICHER R AHMEN
The Tragedy of the Commons (deutsch meist als “die Tragödie der Allmende” übersetzt) – unter dieser Bezeichnung zirkuliert seit etwa 40 Jahren – also im gesamten „Zeitalter der Ökologie“ (Radkau 2002, 2011) – ein erstaunlich robustes, reproduktionsstarkes Narrativ. Im Kern besagt es, in seiner wirkmächtig tradierten Version, dass öffentlich nutzbare Gemeingüter (paradigmatisch: der Fischreichtum der Weltmeere) von ihren Nutzern zwangsläufig zuerst übernutzt und dann ruiniert werden. Jeder einzelne Nutzer – so die Beweisführung in der repräsentativen Anekdote (Burke 1969) – erlangt einen kurzfristigen und kleinen Vorteil über die Mitnutzer, wenn er die allgemeine Ressource etwas mehr nutzt, im Bild des Originaltextes: wenn er auf die Allmende ein weiteres Stück Vieh stellt. Groß und langfristig ist hingegen der Schaden, der für die Gesamtheit aus der dann alsbald unweigerlich eintretenden Übernutzung der Allmende entsteht. Sie führt nämlich letztlich zum Ruin aller Nutzer. Dem geringen kurzfristigen Vorteil für
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den Einzelnen steht ein großer langfristiger Nachteil für alle zur Seite. Unterstellt ist die Endlichkeit der Ressource – sowie eine tendenziell wachsende Zahl von Nutzern. Der Denk- und Argumentationsstil der Tragedy of the Commons (künftig: ToC) ist spieltheoretisch. D.h. unterstellt wird eine diachron rechenbare Matrix mit Verhaltensoptionen für die Teilnehmer. In der Regel gibt es für solche „Spiele“ eine oder mehrere kurz- bzw. langfristig optimale Lösungen. Die „Tragödie“ besteht im vorliegenden Fall darin, dass es für die Nutzung von Gemeingütern eine solche Optimalkonstellation eben nicht gibt.1 Es versteht sich, dass eine solche Geschichte im Horizont der allmählich im gesellschaftlichen Bewusstsein auftauchenden Grenzen des Wachstums Furore machen musste. Sie wurde (und wird) ja durch die unübersehbar gewordene Endlichkeit verfügbarer Naturressourcen aufs Beste illustriert und plausibilisiert – und somit zu einer Art von Sinnbild für den Niedergang gemeinschaftlicher Ressourcen. Als Urheber der ToC gilt Garrett Hardin (Hardin 1968), zuletzt Professor für Humanökologie an der University of California, Santa Barbara. Hardin beruft sich seinerseits auf die Vorlesungen von William Forster Lloyd, die dieser im Jahr 1833 in Oxford drucken ließ, und in denen er zu dem Ergebnis gekommen sei, dass allgemein zugängliche Dorfweiden (commons eben) zuerst den gierigsten unter den Nutzern zum Vorteil gereichen und dann den allgemeinen Ruin der commons bzw. aller Nutzer heraufführen würden (Hardin 1998). Jeder Historiker weiß freilich, dass solche Anti-Allmende-Texte im Europa der ursprünglichen Akkumulation Legion sind: Sie begleiten und legitimieren die Einhegung, Enteignung und Privatisierung des dörflichen Gemeinbesitzes, der Gemeindeländereien (enclosure of the commons in England etc.). In der vorkapitalistischen Dorfwirtschaft waren die Gemeindeländereien eine Art Puffer gegen die Armut der Landlosen, und ihre Enteignung half bei der „Herstellung“ des von allen Produktionsmitteln freien Proletariats, wie man in Marxens berühmtem Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals nachlesen kann (Marx 1969 [1867]). Das Lied von den Mitleid erregend klapprigen Allmendekühen adelte allenthalben die Taten und Motive derjenigen, die Gemeindeland entschlossen einzäunen und privatisieren wollten. Dieser historische Deutungsrahmen freilich ist für den durchschnittlichen heutigen Benutzer der ToC-Story kaum verfügbar. Ich werde zu zeigen versuchen, dass er gleichwohl weiter „wirkt“.
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Zur Art und Bedeutung spieltheoretischen Denkens unter „normalistischen“ Bedingungen weiter unten in Abschnitt [6].
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Die moderne Erfolgsgeschichte des ToC-Narrativs wird jedoch dadurch gespeist, dass die commons (bzw. Allmenden) zu einer Metapher für den ökologischen Niedergang all derjenigen Naturressourcen geworden ist, deren Bewirtschaftung als menschheitliche Gemeinschaftsaufgabe gilt: Luft, Wasser, Ressourcen, Biodiversität, Regenwälder, Umwelt etc. (Radkau 2002: 90f). Bereits an dieser Stelle sollte man anmerken, was sich im Laufe der Untersuchung ergeben wird: Nichts ist an sich commons oder Allmende, aber so ziemlich alles, was der Mensch zum Überleben benötigt, kann als Allmende thematisiert und verstanden werden. Wer sich, mit dieser Erwartung im Hinterkopf, dem Quelltext der ToC (Hardin 1968) nähert, der erlebt eine Überraschung. Wo er einen naturbesorgten Ökologen erwartet, da trifft er statt dessen einen neo-malthusianischen Demographen, dessen Obsession gar nicht die Endlichkeit der Naturressourcen ist, sondern die schädliche und verwerfliche Neigung sozialer Randgruppen, sich über Gebühr fortzupflanzen! Wie man dieser Neigung mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten könne, das bewegt unseren Humanökologen zutiefst. Er raunt von den Bedingungen natürlicher Knappheit und Feindschaft, unter denen sich die Fortpflanzungsraten der menschlichen Population natürlich regeln würden, weil jeder nur so viel Nachwuchs hat, wie er auch durchbringen kann. Diesem natürlichen Kontrollmechanismus steht jedoch leidigerweise einiges im Weg: „groups adopting overbreeding as a policy“, wie es offenbar in Anspielung auf die (namentlich schwarzen und „vaterlosen“) welfare families hieß, die zu dieser Zeit ein großes USMedienthema waren. Und natürlich der Wohlfahrtsstaat selbst, der es den Armen ja erst ermöglicht, sich über Gebühr zu vermehren. Kurz: Garrett Hardin ist ein ziemlich starrköpfiger Malthusianer und Sozialdarwinist. Was also ist dagegen zu tun? Der Appell an Moral und Gewissen des Einzelnen, so heißt es bei Hardin (1968), fruchtet nicht, er ist im Gegenteil „self-eliminating“: Diejenigen, die ihm folgen, werden ja weniger Nachwuchs in die Welt setzen als diejenigen, die ihm nicht folgen. Mit dem Ergebnis, dass die „Guten“ sich langfristig selbst ausrotten und die Szene ganz und gar denen überlassen, die durch moralische Appelle nicht zu erreichen sind.2 Bei Hardin (1968) dient die ToC-Geschichte ausdrücklich nicht als Begründung für eine schonende oder (wie es heute heißen würde) nachhaltige Bewirtschaftung menschheitlicher Ressourcen, sie dient der Legitimation eines „freiwillig vereinbarten Zwangs“ zur Geburtenbeschränkung, die commons, die da eingehegt werden sollen, heißen „the freedom to breed“, und im Visier dieses früh-neoliberalen Hasspredigers steht stets
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Wer den Neoevolutionismus ein wenig kennt, der wird in dieser Figur bereits den Kern der später bei Dawkins popularisierten „Beweise“ für die Unmöglichkeit eines evolutionär stabilen „Altruismus“ identifizieren.
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der Sozialstaat, der auch den armen Individuen Zugang zu den Ressourcen verschafft, die ihnen die ungehemmte Fortpflanzung ermöglichen! Zum langfristigen Nachteil der ganzen Menschheit, um die es (wie bekanntlich schon bei Malthus!) gewiss besser bestellt wäre, wenn sich nur diejenigen fortpflanzen dürften, die auch über die zur Aufzucht ihrer Kinder erforderlichen „Mittel“ reichlich verfügen. Hardin „will zeigen, dass es ein verhängnisvoller Fehler wäre, sich bei deren [der Gemeingüter; CK] Erhaltung auf das ökologische Gewissen der guten Menschen zu verlassen, sondern dass harter Zwang erforderlich sei, und zwar zuoberst ein Zwang zur Geburtenkontrolle“, schreibt Radkau (2000: 92) und schließt, Hardins politisches Programm sei so etwas wie eine globale Ökodiktatur der USA, die am ehesten property rights weltweit durchsetzen könnten. Der Satz aus Hardins (1968) Manifest, der gewiss am häufigsten zitiert wird, lautet: „Freedom in a commons brings ruin to all“. Die Anti-Freiheits-Rhetorik ist womöglich als Zeichen von persönlichem Mut zu werten. Wie auch immer: Radikale Privatisierung oder vereinbarter staatlicher Zwang – das sind die beiden „Lösungen“, die Hardin für das ToC-Dilemma weiß. Wie kommt nun Thomas Robert Malthus, der frühkapitalistische Bevölkerungsapokalyptiker und pessimistische Zwillingsbruder von Adam Smith an Bord dieser Geschichte? Nun, er stößt uns mit der Nase auf den Umstand, dass es für die Bewirtschaftung übernutzter Ressourcen stets zwei Lösungsansätze gibt. Entweder wird die Ressource geschont, ihre Nutzung eingeschränkt – oder aber die Anzahl ihrer Nutzer wird verringert. Und während in der Metapher von der unsichtbaren Hand alle, auch die verrufensten und eigensüchtigsten 3 Motive des Einzelnen wie durch ein Wunder zum Vorteil des großen Ganzen ausschlagen („private vices – public benefits“, heißt es bei Mandeville – in dieser altertümlichen Orthographie), ist es bei Malthus das passende Gegenstück: private virtues – public ruin. Auch und gerade die guten, altruistischen, auf Schutz und Hegung der knappen Ressourcen erpichten Motive tragen nur umso rascher zum allgemeinen Ruin bei. Und weil die Zahl der Nutzer naturgesetzlich schneller wächst als die verfügbaren Ressourcen vermehrt werden können, muss man – das ist die Konstante der Botschaft – deren Zahl mit hartem Zwang begrenzen. Es ist, so gesehen, keineswegs verwunderlich, dass Garrett Hardins Narrativ im Original nicht mit der ökologischen Bewegung, sondern vielmehr erst mit der neoliberalen Offensive ein breiteres Publikum erreicht. In Richard Dawkins´ Bestseller The Selfish Gene lesen wir, ohne dass Hardin ausdrücklich genannt wird:
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Die radikalere und ursprüngliche Version stammt natürlich aus Bernard de Mandevilles frühaufklärerischer Bienenfabel.
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„If a husband and wife have more children than they can feed, the state, which means the rest of the population, simply steps in and keeps the surplus children alive and healthy. There is, in fact, nothing to stop a couple with no material resources at all having and rearing precisely as many children as the woman can physically bear. But the welfare state is a very unnatural thing. In nature, parents who have more children than they can support do not have many grandchildren, and their genes are not passed on to future generations.“ (Dawkins 1976 [2006]: 117)
Natürlich ist es auch hier (wie bei Garrett Hardin selbst) der Sozialstaat, der seine plumpen Finger in das wohl abgestimmte Gefüge der natürlichen Selektion steckt und damit das Überleben „unwerter“ Nachkommen garantiert, anstatt der ohnehin fitten Oberschicht ihre reproduktiven Vorrechte zu garantieren. Wer dann seine Aufmerksamkeit auf den bei Hardin (1968, 1998) genannten Gewährsmann aus der Zeit der industriellen Revolution, auf Lloyd (1833), lenkt, der erlebt eine weitere Überraschung. Er trifft zwar, wie nicht anders erwartet, auf einen ebenfalls rabiaten Malthusianer, der ihm auf Heller und Pfennig vorrechnet, was die Erhaltung derer kostet, die zur Produktion von Nahrungsmitteln nicht beitragen, die aber trotzdem ernährt werden müssen (der Kinder, der Alten und Unbeschäftigten vor allem). Er trifft aber auch bereits auf den ausgefuchst mathematisch-spieltheoretischen Denkstil in Ressourcenfragen, den erst die modernen Vertreter des Neodarwinismus (Hamilton, Trivers, Maynard Smith etc.) populär gemacht haben – oder wieder populär gemacht haben. Ganz im Geiste des frühen Liberalismus – aber gegen dessen private vices- public benefits-Optimismus à la Mandeville und Adam Smith – predigt Lloyd (1833) auf der Grundlage einer abstrakten Modellrechnung (in der gar der Nachwuchs bereits vom Tage seiner Geburt an selbst an der Produktion seiner Lebensmittel mitwirkt! Loyd 1833: 24), dass jedwede Form der gemeinsamen Arbeit zwangsläufig zum Untergang jeder ökonomischen Motivation führen muss: Stellen wir uns vor, dass zwei Personen, X und Y, gemeinsam arbeiten, das Produkt ihrer Arbeit gehört beiden zu gleichen Teilen. Wenn nun X mehr tut, dann gehört ihm nur die Hälfte des Produkts seiner zusätzlichen Arbeit, wenn er weniger tut, dann hat er nur den halben Verlust, also halbiert sich automatisch seine Motivation für Mehrarbeit. Übertragen wir diese Verhältnisse mathematisch auf größere Gemeinschaften, so wird unmittelbar deutlich: „the motive for economy entirely vanishes“ (Lloyd 1833: 18). Eine community, in der die Folgen von individuellen Handlungen verdünnt und abgefangen werden, ist ergo ökonomisch von Übel. Und da sind wir bereits an dem Punkt, an dem wir Hardin (1968) 135 Jahre später antreffen werden. Der Feind ist einesteils stets der Sozialstaat, und er war es schon, als es ihn noch gar nicht gab. Anderen-
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teils ist aber auch bereits mathematisch „bewiesen“, dass kollektive, gemeinschaftliche Arbeit stets ruinöse Folgen haben muss, weil sie den Ertrag der individuellen Arbeit ebenso mindert wie die Arbeitsmotivation. Auch diese Seite des ToC-Dilemmas wird in den gegenwartsnahen Nutzanwendungen wieder auftauchen (als naturevolutionäre Unmöglichkeit altruistischer Kooperation z.B.).4 Originell und aufschlussreich ist allerdings eine weitere Nutzanwendung des ToC-Motivs, die wir bei Lloyd (1833) finden, bei Hardin (1968) aber nicht: Lloyds Allmende, auf der jeder seine Kühe weiden kann, ist der Arbeitsmarkt, und zwar insbesondere die Kinderarbeit in den frühindustriellen sweat shops. Unbegrenzte Kinderarbeit pauperisiert nämlich auch die Eltern. Schonungslos rechnet er vor, wie der einzelne Anteil am gesamten Arbeitsprodukt zwangsläufig kleiner wird, wenn jeder seinen zahlreichen Nachwuchs in den Fabriken unterbringen oder anderswo am Arbeitsmarkt abstellen kann. Die Kinder in den Fabriken werden direkt mit den Allmendekühen verglichen. Ruinös ist also zahlreicher Nachwuchs, wenn er auf Gemeinschaftskosten ernährt werden muss, schlecht ist er aber auch, wenn er (von Geburt an) den Arbeitsmarkt belastet, weil er auch dann die Reproduktion der Arbeiter langfristig ruiniert, weil eben die verfügbaren Lebensmittel auf mehr hungrige Mäuler verteilt werden müssen. Auch das (späterhin sehr wirksame) Motiv der fruchtlosen moralischen Appelle an den Einzelnen findet man bereits bei Lloyd (1833), allerdings in einer leicht verwandelten Gestalt: Je gesünder, reicher und friedlicher das Land sei, desto größer sei die Rolle des moral restraint gegen Überbevölkerung anzunehmen. Während nämlich in der Vergangenheit die Armut und der Krieg als checks gegen Überbevölkerung einigermaßen wirksam gewesen seien, könnten Wohlfahrt und Humanität deren Kontrollwirkungen in reicheren Ländern verringern. Das alles ist mehr oder weniger malthusianischer Gemeinbestand, und es verweist auf harte Traditionslinien, die den heutigen, spieltheoretischen Neodarwinismus mit Darwins eigenen malthusianischen Wurzeln verbinden.
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Und sogar noch in dem Umstand, dass selbst in der alternativen commons-Bewegung, deren Prophetin die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom ist (siehe weiter unten), axiomatisch angenommen wird, dass nur kleine Gruppen von nahen Bekannten die verlässliche Reziprozität aufbauen können, die für eine gemeinschaftliche Bewirtschaftung von commons erforderlich ist.
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Insofern sind die Übereinstimmungen zwischen der malthusianischen Kritik am Frühliberalismus5 und Hardins ToC nachgerade verblüffend. Sie betreffen sowohl die politische Substanz als auch den mathematisch-spieltheoretischen Denkstil. Wir halten einstweilen fest, dass es historisch drei Bezugssysteme, drei frames gibt, in denen das ToC-Narrativ als epideiktische Figur und Illustration firmiert: [a] zur Legitimation und Begründung für die Enteignung und Privatisierung von Gemeindeland (Mark, Allmende, commons) während der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation; darauf komme ich sofort zurück; [b] als malthusianische Predigt gegen den unweigerlichen Ruin aller menschlichen Verhältnisse und Ressourcen durch Überbevölkerung; [c] als ökologisches Sinnbild für Übernutzung und Niedergang global-menschheitlicher Naturressourcen, wenn diese nicht privatisiert werden, bzw. wenn der Zugang zu ihnen nicht effektiv staatlich oder überstaatlich reguliert wird. Darüber hinaus muss man im Hinterkopf behalten, dass der strategische Einsatz des ToC-Narrativs kaum endgültig zu begrenzen ist. Radikale Apologeten eines exklusiven Privateigentums kodieren z.B. gerne Staatshaushalte als Gemeingüter, die der ToC-Dynamik unterliegen (und halten dementsprechend die moderne Staatsverschuldung für einen Fall von ToC – weshalb sie auch in diesem Falle zu einer entschlossenen Privatisierung raten, die sie auch gerne selbst in die Hand nehmen!). Hardin selbst ist mit der Ausweitung des Modells auf die Übernutzung von Kulturen hervorgetreten (cultural carrying capacity; Hardin 1986): „Malthusʼ concept of carrying capacity included cultural factors“ (Hardin 1986: 602). Auch Kulturen sind kollektive Ressourcen, die durch zuwandernde Fremde übernutzt werden können. Statt arm sollten wir lieber „überbevölkert“ sagen, schreibt Hardin (1986) und empfiehlt, den Staat Bangladesh von (damals) 104 Millionen Einwohnern auf 2,9 Millionen gesundzuschrumpfen, was in etwa der Siedlungsdichte von Iowa entspreche. Der Vater der modernen ToC-Story war ein Faschist. Man müsse ja die Übervölkerung nicht mit Mord und Krieg bekämpfen, schließt er:
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Malthus fungiert ja nur insofern als pessimistischer Gegenspieler zum optimistischen Liberalismus der „unsichtbaren Hand“ (wie man ihn bei Adam Smith und David Ricardo findet), als er die Hoffnung auf allgemein wachsenden Wohlstand, von welcher der Kapitalismus schon so lange lebt, demographisch ernüchtert und ihr Gegenteil verkehrt. Von wirtschaftlichem „Wachstum“ profitiert unter malthusianischen Prämissen nur eine stationäre Bevölkerung.
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„For members of the Western world, part of the pain of adjustment of population to reality arises from the necessity of re-examining and substantially modifying our concept of human rights. In this re-examination, the deep concept of cultural carrying capacity must play a central role.“ (Hardin 1986: 606)
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M OTIVGESCHICHTE DER ALLMENDEKRITIK (M ARX , K ROPOTKIN , R ADKAU )
Was die beständigen Figuren der Allmendekritik in der kapitalistischen Akkumulationsphase betrifft, so kann man sich für ein exemplum getrost ebenfalls bei Lloyd (1833) bedienen. Er ist da durchaus repräsentativ. Bei ihm heißt es: „Why are the cattle on a common so puny and stunted? Why is the common itself so bare-worn, and cropped so differently from the adjoining enclosures?“ (Lloyd 1833: 30) Der schlechte Zustand der Allmenden, im Vergleich zu den eingehegten, privatisierten Ländereien, so fährt unser Autor fort, liegt nicht an schlechterer Bodenqualität, sondern an der Art und Weise der Nutzung. Auf privatisiertes (enclosed) Land stellt der Bauer nicht mehr Vieh, als es tragen kann, wohl aber auf das Gemeindeland. Radkau (2000, 2011), sicher der beste Kenner der Umweltgeschichte, schreibt, dass es sich dabei um die Standard-Polemiken „der frühneuzeitlichen Agrarreformer gegen den bäuerlichen Gemeinbesitz an Wald und Weide“ (Radkau 2000: 92) handelt, und verlängert die Motivgeschichte des Narrativs in die Antike hinein, wo ähnliche Polemiken gegen Gemeinbesitz („quod communiter posseditur, communiter neglegitur“) „gegen den Kommunismus der platonischen Polis“ gerichtet waren. Radkau (2000: 92ff) konstatiert weiter, dass der sprichwörtlich traurige Zustand der Allmendekühe keineswegs automatisch auf die Übernutzung des Gemeindelandes verweise, vielmehr Ausdruck der Tatsache sei, dass die Regeln der gemeinsamen Nutzung häufig den Bauern erlaubten, auf der Allmende alle Tiere zu weiden, die sie durch den Winter füttern konnten. Rational sei dagegen die Übernutzung der Allmenden für den Einzelnen erst dann geworden, als deren baldige Aufteilung ohnehin absehbar wurde. Radkau (2000: 93) spricht von einer „self-fulfilling prophecy“: Nachdem ohnehin niemand wissen konnte, ob das laufende oder nächste Allmendejahr das letzte sein würde, holt sich jeder, was er kann.6
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Was ja ganz analog für diejenigen Ressourcen gilt, deren Ende gegenwärtig bereits absehbar wird.
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Gehört dieser historische Kontext der Allmendekritik zum Feld der gewöhnlichen und interessierten „Ideologie“ (wer sich die Gemeindeländer selbst aneignen möchte, erklärt sie bequemerweise zuvor für wertlos; Wer in jüngster Vergangenheit Beispiele für diese Strategie sucht, der wird rasch bei der „Treuhand“ und der Privatisierung des DDR-Staatseigentums fündig), so wird es argumentationsanalytisch viel interessanter, wenn nämlich umgekehrt Historiker sich die Frage stellen, warum das dörfliche Gemeineigentum über Jahrtausende so resilient, stabil und widerständig gegen dauernde Anfeindung überlebt habe. Während das ToCNarrativ allen Formen des Gemeinbesitzes den raschen Untergang (und den Ruin der auf es angewiesenen Nutzer) prophezeit, zeigen sich kritische Historiker von Marx & Engels über Kropotkin bis Radkau umgekehrt beeindruckt von der historischen Langlebigkeit und Widerständigkeit gemeinwirtschaftlicher Praktiken und Institutionen. Friedrich Engels schreibt über die egalitäre Tradition der Markgenossenschaften (mit ihren immer neu verlosten Parzellen und dem gemeinsamen Weideland), die alle feudalen Angriffe und Beseitigungsversuche (wenn auch lädiert) überlebt habe. Kropotkin (1975) resümiert seine eigenen Überlegungen zur Dorfmark folgendermaßen: „Die allgemeine Meinung über die Dorfmark ist, dass sie in Europa eines natürlichen Todes gestorben sei, weil das Gemeineigentum an Grund und Boden nicht zu den modernen Anforderungen der Landwirtschaft gepasst habe. Aber die Wahrheit ist, dass die Dorfmark nirgends mit eigener Zustimmung der Markgenossen verschwunden ist, im Gegenteil kostete es überall der herrschenden Klasse mehrere Jahrhunderte hartnäckiger und nicht immer erfolgreicher Anstrengungen, sie abzuschaffen und die Gemeindeländer zu konfiszieren.“ (Kropotkin 1975: 213)
Dagegen müssten die Anhänger des ToC-Narrativs eigentlich erwarten, dass solchermaßen naturwidrige Formen von alleine untergehen. Was Kropotkin zu der sarkastischen Folgerung veranlasst: „Kurz, davon zu sprechen, die Dorfmarken seien auf Grund wirtschaftlicher Verhältnisse eines natürlichen Todes gestorben, ist ein ebenso bitterer Scherz, wie wenn man von dem natürlichen Tod von Soldaten sprechen wollte, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind. Die Tatsache war einfach die: die dörflichen Markgenossenschaften hatten über tausend Jahre lang gelebt; und immer und überall, wo die Bauern nicht durch Kriege und Erpressungen zugrunde gerichtet worden waren, verbesserten sie stetig die Kulturmethoden.“ (Kropotkin 1975: 219)
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Kropotkins vehementer Einsatz für Kooperation, Altruismus und gegenseitige Hilfe im Rahmen des Darwinismus, d.h. verstanden als „Mittel“ in einem durchaus darwinschen struggle for existence, wäre leicht auf den politischen Anarchismus des russischen Revolutionärs und Naturforschers zurückzuführen. Die Sache verhält sich jedoch nachweislich anders: Es ist ein gemeinsames, alle sozialen und politischen Lager übergreifendes Merkmal der russischen Darwinrezeption, dass Darwins malthusianische Prämissen strikt abgelehnt wurden (vgl. Todes 2009). Sie entsprachen weder der sozialen Erfahrung des notorisch unterbevölkerten Riesenlandes, noch waren sie für Biologen anfangs plausibel unter den harten Naturbedingungen Russlands, wo nicht die durch Übervermehrung angeheizte innerartliche Konkurrenz um Ressourcen, sondern die Widrigkeit der äußeren Naturbedingungen die Ausbreitung von Arten zu begrenzen schien. Kooperation erschien fast allen russischen Darwinisten als „natürliches“ Mittel zur Begrenzung dieser Hemmnisse. Da es hier in der Hauptsache um den aktuellen Erfolg des Narrativs (und nicht um die Geschichte gemeinwirtschaftlicher Organisationsformen) geht, muss ich die Argumentation auf den narrativen Kern der Materie beschränken. Der malthusianische Anteil an Darwins Lehre (Darwin selbst hat ihn nie bestritten und auch Malthus stets gegen moralisierende Kritik in Schutz genommen) ist zugleich der „moderne“, mathematisch zwangsläufige, in den gegenwärtigen Denkstil hineinreichende und der dauerhaft moralisch anstößige Teil derselben. Wer die Prämisse akzeptiert, dass bei jedem gegebenen Zustand von allgemeiner Wohlfahrt die Vermehrung der Population sowohl zur allgemeinen Verschlechterung der Lage als auch zum Anheizen der Konkurrenz aller gegen alle führt, der kann sich auch den Konsequenzen (Beschränkung der Reproduktion, insbesondere der Reproduktion der Bedürftigen) kaum entziehen. Kropotkins (1902 zuerst als Buch und zuvor schon als Aufsatzfolge erschienene) Verteidigung der Kooperation und gegenseitigen Hilfe reagiert auf den (durchaus milden, aber eben konsequent malthusianischen) Darwinismus von Huxley (1888). Für Malthus und für Darwin würde sich jede Art grenzenlos vermehren, stünden nicht natürliche checks bereit, das zu verhindern, und es leidet keinen Zweifel, dass der Kerngedanke der Selektion: das nichtzufällige Ausscheiden der weniger Geeigneten aus dem „Kampf ums Dasein“, ohne diese malthusianische Prämisse nicht funktionieren würde. „Nichtzufällige Eliminierung“ von Individuen aus der Population findet nur da statt, wo die Ressourcen nicht unbegrenzt sind, während die Reproduktionsneigung ohne innere Schranke bleibt. Die Nutzanwendungen dieser Figur sind Legion, in naturökologischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen gleichermaßen. Wichtig für unsere Narrativanalyse ist allein, dass in allen solchen Nutzanwendungen zwangsläufig ein und dieselbe diskursive Opposition entsteht: zwischen einer in
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sich unbestreitbaren, mathematisch-analytischen Wahrheit, die insofern immer den zynisch-aufgeklärten Teil des Publikums hinter sich zu sammeln weiß, und einer moralisierenden Gegenposition, welche die Anwendbarkeit des Modells auf den in Frage stehenden „Fall“ bestreitet. Das ist in grobem Umriss die rhetorischsemantische Schlachtlinie, der man immer wieder begegnet. Sie erzeugt die Ressourcen, mit denen die Auseinandersetzungen geführt werden, sie ermöglicht den „Malthusianern“ zu sagen, was die andere Seite äußert, möchte zwar moralisch wünschenswert sein, aber es sei leider nicht in Übereinstimmung mit der Mathematik und der Natur der Szene und des Menschen. Und sie ermöglicht den „Moralisten“ zu sagen, die anderen behandelten als ewiges Naturgesetz, was bloß eine Frage der politisch-gesellschaftlichen Ordnung sei. Wie auch immer, das Muster konfrontiert beharrlich eine „normistische“ bzw. moralische mit einer „normalistischen“ bzw. realistischen Position. Es wird zu zeigen sein, dass diese Schlachtlinie bis in die Gegenwart der neoevolutionistischen Kulturkritik hinein die Szenen beherrscht.
[3] N ARRATIVE ANATOMIE I: ANSCHLUSSSTELLEN , E GOISMUS & ALTRUISMUS , LOGISCHE I NKONSISTENZ Auf den ersten Blick handelt es sich bei ToC um ein durchaus unscheinbares, dürftiges und zudem noch logisch ganz inkonsistentes Narrativ, dem niemand eine große Verbreitung (oder gar weit reichenden „Beweiswert“ für irgendetwas) zutrauen würde. Was teilt uns die Geschichte denn mit, außer der nicht eben sehr schlüssigen Gedankenthese, dass Gemeineigentum nur dann als Gemeineigentum gerettet werden könne, wenn es aufhöre, Gemeineigentum zu sein und entweder in streng privatwirtschaftliche Bewirtschaftung oder in staatlich administrierte Zugangsbeschränkung übergehen müsse? Dass die genannten beiden „Rettungsoptionen“ für das Gemeineigentum, bei denen es doch gleichermaßen als solches zu existieren aufhört, von vielen Rezipienten (und auch von Hardin 1968, 1998 selbst) als „Privateigentum“ vs. „Sozialismus“ überkodiert wurden, erweist die Story auch als hoch kompatibel mit der rhetorischen Schlachtordnung des Kalten Krieges.7 Nachrichten über den miserablen Pflege- und Erhaltungszustand des
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„Staatseigentum“ und „Sozialismus“ sind in dieser Schlachtordnung weitgehend synonym. Dass nach dem Ende des Staatssozialismus der Ausdruck „Sozialismus“ dazu würde herhalten müssen, alle Formen der Sozialstaatlichkeit (bis hin zur „Krankenver-
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staatlichen und öffentlichen Eigentums in den sozialistischen Ländern gehörten zum medialen Standardrepertoire des Kalten Krieges. Da der „Sozialismus“ in der angelsächsischen Welt auch damals keine gute Presse hatte, kann man Hardin (1968) und die Folgen getrost als Aufruf lesen, die Privatisierung bzw. privatwirtschaftliche Bewirtschaftung aller öffentlichen Ressourcen entschlossen in die Hand zu nehmen. Die Überreproduktion der Armen würde sich dann von allein erledigen. Insofern wäre tatsächlich die Parallele zur alten Allmendekritik, welche die Einhegung und Privatisierung der commons europaweit begleitete und zu legitimieren suchte, fast perfekt zu nennen. Das ist jedoch noch nicht einmal die Hälfte der ToC-Erfolgsgeschichte, die vielmehr eigentlich erst beginnt, Fahrt aufzunehmen, als mit der neoevolutionistischen „Neuen Synthese“ ein ganz neues Bezugssystem auftaucht, in dem sich die uralte Geschichte als erstaunlich „fit“ und lebenskräftig erweist. Seit den interdiskursiven Turbulenzen um Richard Dawkins (1976) Selfish Gene („Das egoistische Gen“) rückt das (naturgemäß ziemlich verzwickte) Antonymenpaar „Egoismus“ vs. „Altruismus“ ins Zentrum der populären kulturkritischen Debatten. Natürlich haben die Protagonisten dieser Debatte tausendfach betont, die Wortwahl sei unglücklich und irreführend, auch sie wüssten natürlich, dass Gene nicht „egoistisch“ sein könnten. Verwiesen wird stets auf Varianten der „als-ob“-Problematik: Mit anthropomorphen Ausdrücken wie „Egoismus“ etc. beschreiben wir anonyme evolutionäre (und genetisch programmierte) Problemlösungsmechanismen, deren Effekt „egoistisch“ ist oder wirkt oder auf „Egoismus“ hinausläuft.8 Dennoch gilt es allgemein (d.i. im Selbstverständnis der Akteure wie der fachlichen Beobachter) als Merkmal des Epochenbruchs, für den die „Neue Synthese“ steht, dass Konzepte wie Altruismus, Kooperation, Gruppenbildung und „Artwohl“ den axiomatisch unproblematischen Status eingebüßt haben, den sie im „alten“ Darwinismus und in der Verhaltensbiologie der Generation von Lorenz, Tinbergen, Eibl-Eibesfeld einnahmen. Anders gesagt: Im „Neuen Darwinismus“ gilt ein axiomatisches Raster, für das alle Verhaltensweisen, die selbstlos, kooperativ, gruppen- oder gar
sicherung für alle“) aufzunehmen, war vorhersagbar, zeigt aber natürlich, dass die rhetorische Mittelkonstellation ihre eigene Szene überdauern und neue „Nischen“ besiedeln kann. 8
Halbwegs eingebürgert hat sich die Bezeichnung „teleonom“ für derartige Mechanismen – mit terminologischer Frontstellung gegen die allenthalben abgelehnte „Teleologie“, deren ehemals hoch wirkmächtige Reste (etwa als inhärente Tendenzen zu „Fortschritt“ oder „Höherentwicklung“) in der evolutionistischen Axiomatik zügig abgebaut werden. Dawkins (1987) hat das schöne Bild von der Evolution als eines „blinden Uhrmachers“ wieder belebt.
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artbezogen auf den Betrachter wirken, als „letztlich“ genegoistisch motiviert nachzuweisen oder zu entlarven sind. Und genau das ist die Bruchlinie zum „alten“ Darwinismus, dessen letzte axiomatische Bezugsgröße eben die „Art“ war. An deren Überleben hatte sich die Selektion zu orientieren, was natürlich Verhaltensweisen wie Gruppenbildung, gegenseitige Hilfe, innerartliche Tötungshemmung etc. den Status des „Nicht-weiter-zu-erklärenden“ verlieh. Die Vertreter der „Neuen Synthese“ haben auf ihre Fahnen geschrieben, dass es in der Natur (und ergo auch in der menschlichen Natur) außer striktem und hartem Genegoismus nichts gibt. Und was auf den ersten Blick so aussieht, das lässt sich auf evolutionäre Mechanismen der Selbst- und Fremdtäuschung zurückführen. Das richtet „automatisch“ den kritisch aufklärenden Blick der Neoevolutionisten auf alles, was nach Kooperation und Altruismus aussieht – und ergo der „egoistischen“ Axiomatik und Perspektivik angepasst werden muss. Es ist durchaus ein Verdienst der Neoevolutionisten, die Bedingungen der Möglichkeit für die Evolution von „Sozialität“ problematisiert zu haben. Aus der genegoistischen Sicht des Neodarwinismus wird die Evolution von „Gesellschaft“ ganz natürlich zu einem Schlüsselproblem: Was in aller Welt bringt auf unbedingte Replikationskonkurrenz eingestellte Gene dazu, ihre „Träger“, die Individuen (vehicles ist die Sprachregelung bei Dawkins) zu kooperativen Verhaltensweisen zu bewegen, bei denen per definitionem die Reproduktionschancen „fremder“ Gene befördert und die Reproduktionschancen „eigener“ Gene gemindert werden? Wie auch immer man diese Axiomatik beurteilt, radikaler kann man die Frage nach den „natürlichen“ Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft und Arbeitsteilung nicht stellen. Als Sprach- und Kommunikationswissenschaftler ist man natürlich geneigt, zunächst einmal auf das Antonymenpaar Egoismus/Altruismus zu schauen und dessen semantische Anatomie zu erheben. Wie auch immer diese Prüfung im einzelnen ausfallen mag: Sie erweist die Opposition als evaluativ klar („egoistisch“ ist negativ, „altruistisch“ ist positiv konnotiert), aber kognitiv/repräsentativ unklar (jeder „egoistische“ Akt kann auch als „altruistisch“ kodiert werden und vice versa). Dieser Befund ist für alltagssprachliche Bestände (sagen wir) normal, er erlaubt aber eben Zweifel daran, ob das Begriffspaar für axiomatische Terminologisierungen wirklich geeignet sei. Eine solche Opposition erzeugt ein großes rhetorisches Potential, aber nur ein geringes Erkenntnispotential. Burke (1969: 25 [1950]) schreibt, als hätte er die Debatte schon geahnt: „who is to say, once and for all, just where ‚cooperation‘ ends and one partnerʼs ‚exploitation‘ of the other begins?“ Das ist in der Tat die Frage. Was nach Altruismus und Kooperation aussieht, wird vielfach im rhetorischen Spiel des Neoevolutionismus einfach umkodiert auf Manipulation & Ausbeutung. Bereits das Alltagsbewusstsein weiß, dass Freundlichkeiten gegen andere „selbstische“ Motive haben und egoistische Akte
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des einen dem anderen zugute kommen können, es kennt den demonstrativ selbstlosen Gutmenschen, der aber eigentlich in seine moralische Reputation investiert (und davon künftig zu profitieren hofft).9 Und es kennt den demonstrativ harten Egoisten, der aber, gedeckt durch die Fassade des Selbstbezugs, altruistisch agiert (Typ: Humphrey Bogart in Casablanca!). In den Debatten um die Axiome der Evolution muss sich jedoch jeder Teilnehmer entweder für das „gute“ Prinzip des Altruismus oder für das „böse“ Prinzip des Egoismus aussprechen, wodurch die Altruisten den Ruf von Gutmenschen, die Egoisten aber das Ansehen illusionsloser Aufklärer und Realisten annehmen! Das Begriffspaar Egoismus/Altruismus „rahmt“ also Verhaltensweisen in erster Linie moralisch-evaluativ. Wir können demnach, wegen der kognitiv-epistemischen Schwächen der semantischen Opposition, erwarten, dass ein Gutteil der einschlägigen Bemühungen des Neoevolutionismus darin bestehen wird nachzuweisen, dass altruistisch/kooperativ aussehendes Verhalten entweder „eigentlich“ bzw. auf Umwegen den Genen des Trägers zugute kommt oder auf Manipulation und Täuschung durch andere zurückgeht, deren Genen es dann letztlich zur erweiterten Reproduktion verhilft. Denn nur so können die Anforderungen der Axiomatik erfüllt werden. Die kognitiv-distinktive Schwäche des Antonympaars egoistisch/altruistisch hilft dabei nicht wenig. In den trivialen evolutionistischen Moralratgebern, von denen an anderer Stelle noch die Rede sein wird, schlägt sich die skizzierte Konstellation in Ratschlägen des Typs nieder, das Gemeinwohl könne nur über Maßnahmen gefördert werden, die auf den Egoismus des Einzelnen rechnen bzw. nur wo der Egoismus der Individuen den nötigen Entfaltungsspielraum habe, könne es auch der Gesamtheit gut gehen etc.10 Egoismus ist natürlich und erwartbar, Altruismus ist verdäch-
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Ganz ähnliche Debatten sind natürlich auch mit Bezug auf Freuds Psychoanalyse geführt worden, die ja ebenfalls zeigt, dass bewusste Motive („Rationalisierungen“) und innere Triebkräfte eines Verhaltens keineswegs immer (wahrscheinlich kaum je) identisch sind.
10 Als Beispiel Wuketits (2010: 58f): „Das Gemeinwohl kann nur über den Weg des Egoismus des Einzelnen gefördert werden. Im Übrigen entspricht es einem fatalen dualistischen Denken, den Einzelnen vom Gemeinwohl zu trennen. Real aber ist immer das Individuum, ´der Staat´, ´das Gemeinwohl´, ´die Wirtschaft´ und so weiter sind Abstraktionen, die letztlich dazu dienen, dem Individuum ein Gefühl der Ohnmacht einzupflanzen […].“ Motivgrammatisch könne man ebenso umgekehrt sagen, das Wohl des Individuums hänge entschieden davon ab, dass es qua Zusammenschluss für seinen
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tig, überraschend und zu hinterfragen. Das ist die motivgrammatische Konstellation, mit der wir zu rechnen haben, wo der Neoevolutionismus die Agenda bestimmt. Sie unterscheidet sich freilich auf den ersten Blick kaum von der private vices-public benefits-Optik der „unsichtbaren Hand“, der repräsentativen Langzeit-Anekdote des Liberalismus. Was hat das nun mit unserem ToC-Narrativ zu tun? Nun, dessen spieltheoretische Essenz besagt, dass im Falle unbegrenzt zugänglicher öffentlicher Güter weder die egoistische noch die altruistische Verhaltensstrategie zu erfreulichen Ergebnissen führt, weder für den Einzelnen noch für die Gesamtheit. Mehr noch: Die altruistische Verhaltensstrategie führt nicht nur schneller zum Ruin der gemeinschaftlichen Ressource als die egoistische, sie führt darüber hinaus auch zum Untergang der Altruisten in der Population! Kurz und gut: Die ToC-Konstellation liefert ein Paradeszenario für das Abwatschen ökologischer Gutmenschen. Es kommuniziert ihnen nämlich: Ihr seid nicht Teil der Lösung, Ihr seid Teil des Problems. Was Ihr anmahnt, den kollektiven Schutz menschheitlicher Ressourcen, das ist nur zu erreichen durch die naturnahen Instinkte des Privateigentums oder durch einen autoritären (womöglich sozialistischen) Staat. Aber die Geschichte lässt sich ebenso gut auch als kollektivistische Warnung implementieren, sie kommuniziert auch, dass dem kleinen kurzfristigen Gewinn für den einzelnen ein langfristig irreparabler Schaden für alle auf dem Fuße folgt. Was das Verhältnis von „egoistischen“ und „altruistischen“ Strategien betrifft, unterscheidet sich die ToC-Konstellation nicht wesentlich von der des spieltheoretischen Standard- und Lieblingssettings der Neoevolutionisten, und das ist prisonerʼs dilemma. Allerdings gibt es in diesem Spiel eine optimale Lösung, die jedoch von den Teilnehmern in der Regel nicht erreicht wird, weil sie eine stillschweigende Konvention voraussetzt.11 Wenn eine solche Konvention sich (im spieltheoretischen Denkmodell: durch wiederholtes Spiel unter denselben Teilnehmern) herausbildet, dann können Teilnehmer Kooperationsgewinne einfahren. Insofern ist prisonerʼs dilemma gleichsam der diachron optimistische Zwilling von ToC. Was dieses Spielformat kennzeichnet, kann (einschließlich der zugehörigen Gewinnmatrizen) jedem Lehrbuch der ökonomischen Spieltheorie entnommen werden. Im Kern beinhaltet die Konstellation, dass beide Teilnehmer des Spiels ihre Gewinne optimieren, wenn sie verlässlich kooperieren, wenn jedoch
Egoismus zur Verfügung hat, was tausende andere produziert haben, es sei – als Individuum – also nur „durch“ Gemeinschaft und Kooperation. Aber der Liberalismus hat nun einmal der Mandeville-Smith-Version der invisible hand zum Sieg verholfen. 11 Erklärungen für den merkwürdigen Reiz, der überhaupt von spieltheoretischen Modellen neuerdings ausgeht, gibt versuchsweise Abschnitt [6].
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nur einer der Teilnehmer auf Kooperation setzt und der andere auf Egoismus, dann wird der Kooperative stärker bestraft als der Egoist. Das Risiko, auf eigene Faust ein Narr zu sein, ist für den kooperativen Teilnehmer also prima facie hoch. Solange A nicht definitiv erwarten kann, dass sich auch B kooperativ verhält, tut er besser daran, sich egoistisch zu verhalten. Nur wenn es A und B gelingt, in wiederholten Spielen eine Konvention (Lewis 1975) für kooperatives Spiel zu etablieren, kommen sie in den Genuss der Kooperationsgewinne.12 Seinen Namen hat das Spiel aus einer Exemplifizierung, in der A und B wegen eines Delikts getrennt verhört werden. Wenn B dicht hält und A nicht belastet, während A Strafminderung erhält, weil er B als den Hauptschuldigen denunziert, dann ist B für seine „kooperative“ Haltung doppelt bestraft. „Dicht halten“ führt nur dann zu Kooperationsgewinnen, wenn auch der andere „dicht hält“. Die Einzelheiten sind für unsere Argumentation nicht wichtig. Von Bedeutung ist hier nur der Umstand, dass eine spieltheoretische Matrix zumindest suggeriert, sie könne die kognitive Unterscheidungsschwäche des Begriffspaares egoistisch/altruistisch „heilen“. In einer solchen Matrix lässt sich ein „egoistischer“ Zug von einem „altruistischen“ oder „kooperativen“ Zug eindeutig unterscheiden. Oder besser gesagt: Das Spiel definiert seine Züge solchermaßen.
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N ARRATIVE ANATOMIE II: DRAMATURGISCHE P RÄGNANZEN : DER KLEINE V ORTEIL FÜR DEN E INZELNEN , DER GROßE N ACHTEIL FÜR ALLE , DIE M ÜSSIGKEIT MORALISCHER APPELLE
Die hohe Alltagsplausibilität der ToC-Geschichte liegt in dem Umstand begründet, dass die narrative Ausgangslage eine Szene präsentiert, die jeder kennt: Was reichlich vorhanden ist, das nutzt jeder nach Belieben, weil er damit keinem schadet. Jeder andere kann ja ebenso zugreifen, und der „Abzug“ bleibt lange unsichtbar. Das Ergebnis dieser Handlungen von „jedermann“ kennt freilich inzwischen, im Zeitalter der Ökologie, auch fast jeder: Aus den zahllosen, kaum ins Gewicht fallenden Einzelhandlungen ist in toto die chronische Übernutzung (und der Ruin)
12 Auf die beliebte Frage nach der Rationalitätsunterstellung, die in solchen Modellen vorgenommen wird, kann ich hier nicht eingehen
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vieler erneuerbarer (und nicht erneuerbarer) menschheitlicher Ressourcen geworden.13 Tauglich für interdiskursive Nutzung ist das ToC-Narrativ als dynamische Verbindung zwischen diesen beiden alltäglichen Wissensbeständen, deren erster zur Sphäre des unproblematischen Alltags gehört, während der zweite unter massenkulturellen Bedingungen „indirekt“ bei den Individuen ankommt: als Medienstory und/oder über steigende Preise von Wasser, Benzin oder Fisch. Letztere Erfahrungen werden interpretierbar als „Konsequenzen“ der ToC-Konstellation. Natürlich unterfüttert die ToC-Geschichte auch Buß- und Verzichtspredigten.14 Und sie taugt auch, was zu zeigen sein wird, als „semantische Fähre“ (Maas 1985), mit der man ohne größere kognitive Dissonanzen vom ökologischen zum neoliberlalen Ufer übersetzen kann. Ins Auge fällt jedoch zuerst ein anderer dramaturgischer Effekt der Geschichte: der dilemmatische. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine win-winKonstellation für Egoisten und Altruisten gleichermaßen, das endet doch unweigerlich in einer lose-lose-Konstellation, bei welcher der Altruist zuerst und der Egoist bald danach ruiniert ist. Beide Optionen steigern sich sogar gegenseitig und treiben sich in eine aussichtslose Eskalation. Je mehr der Egoist entnimmt, desto lauter und drängender wird die Mahnung des Altruisten, was den Egoisten naturgemäß dazu bringt, zu nehmen was er kann, so lange es noch geht. Niemand wird abstreiten, dass bei aller modelltheoretischen Naivität doch ein Stück Realismus in diesen Konstruktionen steckt, wenn er etwa die Praxis der privatwirtschaftlichen Regenwaldabholzung betrachtet, die sich zweifellos beschleunigt in der Erwartung, dass sie alsbald unterbunden werden könnte! Spieltheoretisch ist diese dynamische Konstellation ungewöhnlich. Normalerweise stellen experimentelle Spiele ja ein Optimierungsproblem. Dilemmatisch ist die ToC-Konstellation eben, weil sie in diesem Sinne langfristig nicht optimierbar ist. Es gibt keine „beste Lösung“ (weshalb Hardin 1968 wohl instinktiv zu dem starken Bild der „Tragödie“ gegriffen hat). Denkt man z.B. an das (oben umrissene) prisonerʼs dilemma –
13 Jeder Alt- oder Neumalthusianer wird natürlich bereits hier einhaken und zu Protokoll geben, dass die einzige von „uns“ beeinflussbare Größe in dieser Matrix die Bevölkerungszahl ist. 14 Ich erinnere noch einmal daran, dass ich hier ausschließlich von Kodierungen im Rahmen des ToC-Narrativs handele, nicht von „Realitäten“, für die natürlich berücksichtigt werden müsste, dass z.B. Erdöl nicht im Dorfweiher geschöpft, sondern imperialistisch angeeignet und monopolistisch vermarktet wird! Die Tragödien, mit denen wir es dabei in Irak, Iran, Libyen, Syrien etc. zu tun haben, sind jedenfalls nicht die der Allmende. Aber das ist eine andere Geschichte.
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Format, so hat es im kurzfristig-synchronen Feld ein „egoistisches“ und im langfristig-diachronen Feld ein „kooperatives“ Maximum (jedenfalls dann, wenn die Teilnehmer rational spielen und wenn Interaktionsgeschichte kumuliert wird, also nicht jedes Spiel neu und bei Null beginnt). Dagegen gibt es, in der Formulierung von Hardin (1968), für ToC „no technical sloution“. Im Rahmen des Spiels ist das Problem weder durch egoistisches noch durch altruistisches Verhalten zu lösen. Dass Hardins (1968) eigene Obsessionen malthusianisch sind, ist unschwer daran zu erkennen, dass außerhalb des Spiels für ihn einzig eine nicht weiter wachsende Bevölkerung die Lösung ist. Während dann manche „nachwachsenden“ Ressourcen womöglich stabilisiert werden könnten, wäre selbst eine schrumpfende Bevölkerung für andere Ressourcenprobleme bestenfalls ein Aufschub. Während in jedweder ToC-Konstellation eigentlich alles nach kollektiver Rationalität und kollektiver Bewirtschaftung schreit, besteht die Pointe der Geschichte darin, dass eben diese Lösung nicht geht.15 Ein prägnanter Effekt des narrativen „Kurzschlusses“ zwischen menschheitlichen Ressourcenproblemen und dem einzelnen „Spieler“ besteht darin, dass die massiven „Zwischenakteure“ des Spiels (Ölfirmen, Holzspekulanten, Fischereiwirtschaft etc.) ebenso unsichtbar werden wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie agieren. Es gibt – im Spiel – nur die Ressource und den einzelnen Endverbraucher. Das liegt in der Logik des spieltheoretischen Modells, das (wie alle Mathematik) eigentlich tautologisch ist und durch „wirkliche“ Referenzkonstellationen (von der Dorfallmende bis zum Fischbestand der Ozeane) nur scheinbar enttautologisiert wird.
[5]
N ARRATIVE ANATOMIE III: ZUR D IALEKTIK VON D RAMATISIERUNG UND E NTDRAMATISIERUNG
Auf den ersten Blick scheint es gewiss vermessen, einem Geschichtchen wie ToC mit dem schweren Geschütz der „dramaturgischen Analyse“ zu Leibe rücken zu wollen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass der impact von ToC in den ökologischen Diskursen der jüngeren Vergangenheit eben auf der dramaturgischen Engführung zwischen einer „kleinen“, multipel vertrauten Alltagserfahrung und einer
15 Unter Umwelthistorikern gibt es eine empirisch unterfütterte Debatte zu den Fragen: Wann hilft Privatisierung, wann nicht? Wie groß dürfen owner communities sein, wenn sie die Folgen von ToC in Schach halten sollen? Hilft eine Gemeinschaftsethik? etc. (vgl. z.B. McKean 1985).
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„großen“, als äußerst bedrohlich wahrgenommenen Menscheitsproblematik beruht – eben der Gefährdung globaler Ressourcen wie Umwelt, Artenreichtum, Klima. In jedem „kleinen“ Beispiel wird implizit auch die „große“ Geschichte mit erzählt. Zentrales Element der sprachlichen Dramaturgie ist eben die Spannung zwischen diesen beiden Polen. Die Geschichte verbindet ein Maximum an Reduktion, Veralltäglichung und Vereinfachung mit einem Maximum an „menschheitlicher“ Reichweite. Vermutlich geht man nicht fehl mit der Annahme, dass ein solchermaßen extremes Verhältnis von scope und reduction (in der Terminologie von Burke 1969) die ToC-Geschichte interdiskursiv und massenkulturell erst tauglich macht. Die bisher besprochenen Beispiele demonstrieren gewiss bereits, was im Rahmen der Geschichte alles als commons/Allmende betrachtet werden kann: von einer Gemeindewiese über den öffentlichen Raum oder den tropischen Regenwald bis hin letztlich zum Ökosystem und zum gesamten Planeten. Der Modellanspruch der Geschichte ist außerordentlich umfassend. Allmendeprobleme aller Größenordnungen und Reichweiten werden direkt „durchgestellt“ zu den jeweiligen Motivtableaus des einzelnen Akteurs. Der Evolutionismus erlaubt uns, in jedem marginalen und alltäglichen Detail (qua Überlebenssinn) das große Ganze der Natur zu modellieren. Von daher sind Denkstil und Weltsicht des Evolutionismus darauf eingestellt, überall analoge Muster der Variation und Selektion am Werk zu sehen. Eine dynamische Methodologie für die Analyse solcher Narrative müsste demnach deren Expansionsmuster genauer betrachten. Was uns synchron als reproduktive Fitness eines Narrativs wie ToC erscheint, das ist diachron ein analogisches Expansionsmuster. Dramaturgisch basiert das ToC-Narrativ auf dem gemeinsamen Annahmenfundament von Neoevolutionismus und Spieltheorie. Danach ist der einzelne Akteur ein halbwegs rationaler Nutzenoptimierer, der sich überwiegend egoistisch verhält und den Nutzen anderer (wie auch den der Allgemeinheit) dann im Auge behält, wenn er sich mit seinem eigenen kurz- oder langfristig deckt. Dabei ist „Nutzen“ in der ökonomischen Spieltheorie eben als materieller Nutzen, als Gewinn definiert, in der evolutionistischen durch die teleonomen Anforderungen reproduktiver Fitness. Was die dem Akteur jeweils zugeschriebenen „Motive“ betrifft, so gilt für die ökonomische Spieltheorie, dass sie im Einklang mit der Szene „Markt“ sein müssen, um wirksam zu werden, für die evolutionistische müssen sie im Einklang sein mit der Szene „genegoistische Evolution“. Für ToC gilt (s.o.: „no technical solution“), dass unter der Bedingung schrumpfender Ressourcen und wachsender Nachfrage jeder kurzfristige Nutzen zugleich den Ruin von Spielern und Ressourcen beschleunigt. Stabile Gleichgewichte (wie sie, als ESS, das Ziel evolutionistischer Erkenntnis sind) lassen sich nur erzielen bei schrumpfender
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Nachfrage (d.i. in der Regel: schrumpfende Bevölkerung) und regenerativen Ressourcen. Der langfristige „Erfolg“ einer Verhaltensstrategie hängt aber in keiner Weise von deren erklärtem Motiv ab, sondern nur von den Strategien der anderen Teilnehmer. Für ToC gilt: der kurzfristige Erfolg egoistischer Übernutzung wird von anderen imitiert und beschleunigt somit den Niedergang. Die langfristig angelegte Schonung der Ressource (die moralisch „gute“ Strategie, sozusagen) erleichtert noch das Geschäft der Trittbrettfahrer. Dramaturgisch gesehen ist die ToC-Geschichte insofern das Kernstück der neoevolutionistischen Kulturkritik, als sie das definitiv „kollektive“ Problem des langfristigen Erfolgs/Misserfolgs von Kulturen und Gesellschaften (Diamond 2005) in die Ebene interagierender individueller Verhaltensstrategien zieht – und als in dieser Ebene unlösbar erweist! Seitdem es Kollektive, Gruppen, gar Arten in der evolutionistischen Axiomatik nicht mehr gibt, sondern nur noch (langfristig stabile oder eben instabile) Konstellationen individueller Verhaltensstrategien, transzendiert jedwede Form des kollektiven Erfolgs/Misserfolgs den axiomatisch unterstellten Naturzustand. Wo im „alten“ Evolutionismus die Gruppenselektion und das „Artwohl“ standen, da gibt es jetzt nur noch stabile (ESS) oder instabile Strategiekonstellationen. Dass die spieltheoretische ESS so gewissermaßen der „Erbe“ aller Probleme ist, die mit Gruppenselektion zu tun haben, ist den Akteuren durchaus bewusst. Hören wir Dawkins dazu: „I believe it is possible to discern hidden group-selectionist assumptions lying behind a large number of the statements that biologists make about social organization. Maynard Smithʼs concept of the ESS will enable us, for the first time, to see clearly how a collection of independent selfish entities can come to resemble a single organized whole. I think this will be true not only of social organizations within species, but also of ‚ecosystems‘ and ‚communities‘ consisting of many species. In the long term, I expect the ESS concept to revolutionize the science of ecology.“ (Dawkins 2006 [1976]: 84)
Hier ist die strikt homologe Architektur zwischen neoliberalem Menschen- und Gesellschaftsbild und neoevolutionistischem Naturbild mit Händen zu greifen. Man denkt unweigerlich an M. Thatchers viel zitierte Äußerung, sie kenne keine „Gesellschaft“, sondern nur Individuen und Familien: Was wie „Gesellschaft“ oder „soziale Organisation“ aussieht, ist lediglich ein Artefakt und Epiphänomen interagierender egoistischer Verhaltensstrategien. In „Gesellschaften“ kommt es nur darauf an, dass sich von selbst und naturwüchsig ein diachron stabiles Gleichgewicht zwischen diesen Strategien bildet.
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Es ist eine Hauptnachricht des Narrativs, dass die Teilnehmermotive für das langfristige Gesamtergebnis irrelevant sind. Insofern wirkt die Geschichte einerseits ernüchternd, entdramatisierend, normalisierend. Auf der anderen Seite, als Spiegel- oder Gegeneffekt, wird aber auch den großen, menschheitlichen Ressourcenproblemen „technische“ Unlösbarkeit bescheinigt, was naturgemäß dramatisierend wirkt und den Handlungsdruck auf die Teilnehmer erhöht. Wie schon in Garrett Hardins (1968) ursprünglicher (und malthusianisch, im Sinne einer administrierten Bevölkerungs- und Fortpflanzungsbegrenzung gemeinter) Formel angespielt, legitimiert die ToC-Konstellation Zwang und außerordentliche staatliche Notstandsmaßnahmen. „Freedom in a commons brings ruin to all“ (Hardin 1968), also hilft nur „mutually agreed coercion“, was – wohl bewusst paradox formuliert – als „vereinbarter Zwang“ übersetzt werden muss und eine echte Ausnahmeformel darstellt. Eine „Freiheit“, die alle ruiniert, kann gewiss nicht wünschenswert sein. Hinter der konstatierten „Tragödie“ (selbst ein ausnehmend dramatisierender Ausdruck!) lauert die Rechtfertigung für ausnahmerechtliche Maßnahmen zur Beschränkung der (je nach Präferenz) natürlichen, liberalen, genegoistischen Freiheiten. Dass es dabei nicht immer mit (ge)rechten Dingen zugehen kann, zeigt sich wiederum bereits in Garrett Hardins abschließender hoch dramatischer Formel: „Injustice is preferable to total ruin“ (Hardin 1968), die eine wunderbar aus Recht und Darwinismus abgemischte „Argumentation“ rundet. Ungerecht, so heißt es da, sei nämlich der Umstand, dass das Erbrecht die Kinder erfolgreicher Eltern begünstige – ganz unabhängig von ihrer individuellen biologischen Fitness! Solchermaßen krude diskursive Kopplungen von Natur und Gesellschaft, bei denen die Natur gerecht ist und das Recht naturwidrig bzw. ungerecht, findet man freilich in den späteren Nutzanwendungen der ToC-Geschichte nicht mehr.16 In jedem Falle scheint das rhetorische Potential der ToC-Geschichte darin zu bestehen, dass sie sowohl zur Entdramatisierung ökologischer Menschheitsproblem eingesetzt werden kann (die dann zu bloß empirischen Fragen einer optimalen gesellschaftlichen Organisation des Zugangs zu und der Schonung von gefährdeten Gemeingütern werden), oder aber auch zur Dramatisierung der nämlichen Probleme, die dabei zugleich mit allgemein zugänglicher Alltagsevidenz gesättigt werden. Die Anatomie der Geschichte erweist sich somit als durchaus „normalistisch“ in dem Sinne, dass sie dosierbare mathematisch-spieltheoretische „Evidenz“ mit hoch normativ wahrgenommenen und verarbeiteten Menschheitsproblemen flexibel koppelt.
16 Sie zeigen allerdings in nuce das rhetorische Potential evolutionistischer „Letztbegründungen“ für ethnische und moralische Fragen.
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D ENKSTILKONFORMITÄT UND S PIELTHEORIE : ESS: WAS MATHEMATISCH „ GEHT “ UND WAS ACHILLES - UND - DIE -S CHILDKRÖTE -B EWEIS ; E RNÜCHTERUNG UND E NTMORALISIERUNG
NICHT ;
Die „Modernität“ des mathematisch-spieltheoretischen Denkstils, in dem die ToC-Geschichte einherkommt, ist wissenschaftssoziologisch und diskurspragmatisch interessant. Skeptische Wissenschaftssoziologen (in der Tradition von Fleck 1935) haben immer argumentiert, dass „Wahrheiten“, wenn sie überzeugen, wirken und Teil des Macht/Wissen-Komplexes einer Zeit werden wollen, vor allem denkstilgemäß formuliert sein müssen. Was ist darunter zu verstehen? Während die ToC-Geschichte, wie wir sie in der Gegenwart der Ökologiedebatten vorfinden, Teil der populären, der „interdiskursiven“, der exoterischen Wissenschaft ist, gehört der spieltheoretische Denkstil zugleich auch in den „identitären“ und axiomatischen Kern des esoterischen17 Neodarwinismus. Die stilgemäße evolutionistische Folgerung aus dem ToC-Dilemma lautet ja, dass Gemeinbesitz keine „evolutionär stabile Strategie“ (ESS) sein kann, weil Missbrauch, Übernutzung und schließlicher Ruin weder durch egoistische noch durch altruistische Verhaltensstrategien langfristig verhindert werden können. Evolutionär stabilisieren lassen sich aber nur Strategiekonstellationen, die auch über längere Zeiträume durch Variation und Selektion nicht unterminiert werden können. Das Standardbeispiel lautet: Eine Gesellschaft von Altruisten ist nicht auf Dauer zu stellen, weil jeder durch zufällige Variation „entstandene“ Egoist ihre Dienste ohne Gegenleistung in Anspruch nehmen, sich auf ihre Kosten stärker vermehren und schließlich majoritär werden müsste. Das lässt sich mit mathematischer Zwangsläufigkeit demonstrieren. Stabil sind solche Strategien nur dann, wenn sie in diesem Sinne invasionsfest sind und auch dann gute Gesamtergebnisse produzieren, wenn sie auf Kopien ihrer selbst treffen. Die kanonische Darstellung solcher Zwangsläufigkeiten im populären Evolutionismus bildet ein Kernstück des „egoistischen Gens“ (Dawkins 2006 [1976]: 69ff). Als Urheber und Etablierer dynamischer spieltheoretischer Modelle in der evolutionistischen Community gelten Maynard Smith und Hamilton. Die Spieltheorie, ursprünglich „erprobt“ und entwickelt in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, importiert mathematische Zwangsläufigkeit in den ansonsten chaotischen und „an sich“ äußerst mathematisierungsfernen Kosmos des evolutionären Geschehens. War ursprünglich lediglich der malthusianische Populations- und Ressourcengedanke des Darwinismus
17 „Esoterisch“ hier natürlich nur im technischen Sinne der fachinternen Produktion anerkennbarer „Wahrheiten“, nicht im populären Verständnis von „Esoterik“.
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in die Form mathematischer Zwangsläufigkeiten zu bringen, so ist es jetzt, im Neodarwinismus, auch der (sagen wir) verhaltenswissenschaftliche Teil der Annahmen. Ähnlich wie in der modellgebenden Wirtschaftswissenschaft wird auch im Neodarwinismus mit einer (natürlich evolutionistisch überformten, dem teleonomen Stil angepassten) „Rationalitätsannahme“ gerechnet (im wahren Sinne des Wortes „rechnen“). Dass die mathematische Problematik der evolutionär stabilen Strategien (ESS) in den axiomatischen Kern des Faches gerückt ist, führt zu einer radikalen Gleichgewichtsverschiebung in der fachlichen Aufmerksamkeit. Da einzig unsere theoretischen Modelle Ordnung in das Chaos der Beobachtungen bringen, bleibt beim versuchten Abgleich zwischen Erfahrung und Modell das auf der Strecke, was mit dem im Modell inkorporierten Annahmen unvereinbar ist. Hierin gleicht die spieltheoretische Konstellation ein wenig dem eleatischen Paradox von Achilles und der Schildkröte: Obwohl jeder weiß und sehen kann, dass Achilles die Schildkröte überholt, bleibt das doch auf der Ebene der mathematischen Konstruktion unmöglich. Was in diesem Sinne durch spieltheoretische Modelle nicht als optimierbar und stabil ausgewiesen ist (als ESS eben), das – so der zwingende Schluss – kann auch in der Wirklichkeit nicht stabil sein – oder es muss so umgedeutet werden, dass es modellkompatibel wird. Just so konkurriert die mathematisch-spieltheoretische Unmöglichkeit von Gemeinbesitz mit der historischen Erfahrung der ungemeinen „Nachhaltigkeit“ und Stabilität von Gemeinbesitz. Und es ist in der Tat eine Frage des Denkstils, welche Art von Evidenz in einem Diskurs eher zirkulations- und wahrheitsfähig ist. Zieht man fachspezifische Weisen der Produktion von „Wahrheit“ in Betracht, so fällt auf, dass wohl niemand, der als Philologe oder Historiker sozialisiert worden ist, eine spieltheoretische „Wahrheit“ auch nur in Betracht ziehen würde. „Schauen wir doch, wie es wirklich war/ist!“, wäre seine Maxime, bevor er sich im Dickicht vielfältiger historisch-hermeneutischer Einzelheiten verlieren würde. Es gäbe für ihn so viele Formen und Konstellationen von „Gemeinbesitz“, dass er Generalisierungen des ToC-Typs stets für semantisch viel zu hoch aggregiert halten und ablehnen würde. Denn natürlich arbeitet jedes abstrakt spieltheoretische Modell mit einer allumfassenden ceteris-paribus-Bedingung, und das erste, was ein Historiker lernt, ist, dass die „übrigen Bedingungen“ niemals gleich sind, wenn man zwei analoge Fälle vergleicht. Stilgemäß ist der spieltheoretische Typ des Modelldenkens dagegen in den Teilen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, die in simulierten Szenarios denken und angenommene Konstellationen weiterrechnen nach dem Motto: was pas-
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siert, wenn …? Anders gesagt: Der spieltheoretische Denkstil erlaubt und legitimiert Prognosen, er etabliert sich da, wo Prognosen als Ausweis der „Wissenschaftlichkeit“ erwünscht oder erforderlich sind. Wie stark dagegen im exoterischen, populären Neoevolutionismus die spieltheoretische Denkweise etabliert und durchgesetzt ist, zeigt ein Blick auf die Szene der breit streuenden Wissenschaftsmedien, wo es von spieltheoretischen Argumentationen nur so wimmelt. Geht es um die Vorteile der Kooperation, so wird entweder prisonerʼs dilemma oder stag hunt gespielt. Letzteres „belegt“ am anekdotischen (witzigerweise auf Rousseau, den Vater der modernen Kulturkritik zurückgehenden) Beispiel der gemeinsamen Jagd, wie Kooperation sich rechnet, da ein einzeln arbeitender Jäger relativ sicher einen Hasen erbeutet, während größere Beutetiere (z.B. Hirsche) nur in gemeinsamer Jagd – und weniger sicher – zur Strecke gebracht werden können. Sobald die Unsicherheit der gemeinsamen Hirschjagd (bei Misserfolg haben alle Teilnehmer nichts) gegen die relative Sicherheit der einzelnen Hasenjagd weniger ins Gewicht fällt, „rechnet“ sich die gemeinsame Jagd, und das spieltheoretische Problem liegt darin zu bestimmen, wie die Teilnehmer kalkulieren, ob und wann Einzel- oder Gruppenjagd für sie vorteilhafter ist, ob und wann sie den sicheren Hasen gegen den unsicheren Hirsch tauschen. Skyrms (2004) entwickelt ein ganzes Weltbild aus diesem experimentellen Spiel.18 Handicap wird meist als ein „Reputationsspiel“ verstanden, bei dem es darum geht, unter welchen Bedingungen sich „demonstrativer Aufwand für andere“ beim Individuum rechnet, wenn nämlich der Fortpflanzungs- und/oder Überlebensnutzen des aufwendigen Verhaltens dessen Kosten rechtfertigt oder übersteigt. Auch dafür gibt es so etwas wie ein Weltbild (Zahavi & Zahavi 1998). In der populären Literatur wird die Evolution der Sprache und neuerdings sogar des menschlichen Gehirns mit der segensreichen Wirkung von solchen Reputationsspielen in Verbindung gebracht.
18 Wiederum können die (mathematischen und sonstigen) Details jeder Einführung in die Spieltheorie entnommen werden.
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I MPLEMENTIERUNGEN UND G EGENERZÄHLUNGEN ; R EICHWEITE DES N ARRATIVS , „ALLMENDE “ ALS ÖKOLOGISCHES F AHNENWORT , G EGENMORALISIERUNGEN
Tatsächlich finden wir Implementierungen des ToC-Motivs überall da, wo von der Übernutzung natürlicher Ressourcen durch Menschen die Rede ist. Wie alle „guten“ Mythen hat auch ToC eine relativ feste Kernkonstellation, verbunden mit höchst mobilen und variablen Rändern. In diesem Abschnitt soll der Umkreis der „Verwendungen“ der ToC-Geschichte abgeschritten und damit ihr rhetorisches Potential umrissen werden. Maximale Wirkung dürfte die Geschichte in den Implementierungen entfaltet haben, die dadurch den harten Kern der neoevolutionistischen Kulturkritik bilden, dass sie die moderne, im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehende Unfähigkeit zur „nachhaltigen“ Bewirtschaftung kollektiver Naturgüter zu einem zeitlosen Gattungsmerkmal des Menschen erklären und auf die gesamte Menschheitsgeschichte ausweiten. Es sind vor allen Dingen die populären Bücher von Jared Diamond (vom „dritten Schimpansen“ bis zu „Kollaps“), die diesen Strang der ToC-Erzählungen in die Zirkulation gebracht haben. Demnach haben die Menschen bei ihrer Ausbreitung über die Erde fast überall in kurzer Zeit die essbaren Großtiere (Großsäuger und Großvögel) ausgerottet und damit die eigenen langfristigen Existenzgrundlagen untergraben. So haben (wie Diamond 2006: 397ff erzählt) die Maoris nach der Besiedlung Neuseelands die dort zahlreich lebenden flugunfähigen Großvogelarten restlos vertilgt, so dass die britischen Siedler bei ihrer Ankunft im 19. Jahrhundert dort nur noch Skelette von ihnen vorfanden. Mit den essbaren Großvögeln wurde auch der ganze ökologische Nahrungszusammenhang, in dem sie standen (zu dem auch so exotische Arten wie ein 15 Kilo schwerer Riesenadler gehörten), restlos vernichtet. Solche „frühen“ Beispiele für menschengemachte ökologische „Tragödien“ gibt es reihenweise, mit zahlreichen Analogien, u.a. auch bei den nordamerikanischen Indianern, die in der populären westlichen Mythologie den Paradefall eines idealisierten Lebens „im Einklang mit der Natur“ bilden. Diamond resümiert: „Heute steht fest, dass vorindustrielle Gesellschaften jahrtausendelang Arten ausrotteten, Lebensräume zerstörten und ihre eigene Existenzgrundlage untergruben. Zu den am besten erforschten Beispielen zählen Polynesier und Indianer, also gerade jene Völker, deren Verhalten besonders oft als vorbildlich dargestellt wird.“ (Diamond 2006: 399)
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Diese Geschichten liefern also die (zugleich historischen und evolutionär zeitlosen) Belege für die (ebenfalls zeitlose) Richtigkeit der mathematisch-spieltheoretischen Generalisierungen von ToC. Wer genau schaut, der kann „Fälle“ von ToC in allen historischen Epochen ausfindig machen und belegen, so lautet die Nachricht, die ebenfalls an der Dialektik von Dramatisierung und Normalisierung teilhat, indem sie das Problem zugleich normalisiert und als anthropologisches „Alleinstellungsmerkmal“ verschärft. Denn natürlich können wir mit den industrielltechnischen Mitteln der Gegenwart ungleich schneller, radikaler und weitreichender planetarische Ressourcen vernichten als kleinräumige Sammler und JägerClans. Dass auch Malthus immer noch an Bord ist, lässt sich in Jared Diamonds Büchern leicht belegen. So heißt es im dramatisch-pessimistischen Schlusskapitel des „dritten Schimpansen“: „Trotz unseres selbstzerstörerischen Verhaltens in der Vergangenheit, aus dem wir hätten lernen können, bestreiten viele, die es besser wissen müssten, dass eine Begrenzung unserer Bevölkerungszahl notwendig ist, und setzen die Angriffe auf unsere Umwelt ungebremst fort. Andere schließen sich aus egoistischem Profitinteresse oder aus purer Unwissenheit an. Eine noch größere Zahl von Menschen ist zu sehr mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt, um es sich überhaupt leisten zu können, die Folgen des eigenen Handelns abzuwägen.“ (Diamond 2006: 457)
ToC erlaubt uns, die dramatische Umwelt- und Ressourcensituation der Gegenwart zugleich als Ausnahme und als menschliche Normalität wahrzunehmen, als Ausnahme, weil die Perfektionierung und Reichweite der Mittel die Folgen gefährlicher (und möglicherweise irreversibel) macht, als Normalität, weil „die Menschen“ sich schon immer so verhalten haben. Aus dem „normalen“ Ast des Deutungsmusters wächst die politisch pragmatische Konsequenz, wonach Gegenund Begrenzungsmaßnahmen den natürlichen Egoismus der Individuen in ihre Rechnungen einstellen und (als Hebel gewissermaßen) für sich nutzen müssen. Aus dem normistisch-alarmistischen Ast der Geschichte wächst hingegen politische Legitimität für Zwang und Ausnahmerecht. Jedenfalls lautet die (ambivalente) Mahnung der „normalen“ Geschichte, dass es nicht lohnt, auf idealistische und altruistische Gemeinschaftsmotive zu bauen, weil die anthropologisch dauerhaften und naturalisierten Nutzen- und Vorteilskalküle des Einzelnen nur von restlos naiven Akteuren ignoriert werden können. Als politische Ernüchterungsgeschichte für radikale Ökologen dürfte ToC eine wesentliche Rolle gespielt haben – gerade weil sich Dramatisierung und Entdramatisierung im Rahmen dieser Geschichte so schön ausbalancieren lassen. Wer sich der „Natur“ verbunden fühlt,
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der findet ein motivationales Kalkül auf der Grundlage evolutionär stabiler (oder eben ökologisch instabiler) Strategien menschlicher Individuen per se plausibel. In seinem Abschnitt über ToC reformuliert Diamond (2005: 528ff) die Konstellation des Spiels als „Interessenkonflikte durch rationales Verhalten“ (Diamond 2005: 530). Gegenüber stehen sich das allgemeine Interesse aller Nutzer und der rationale Interessenkalkül des einzelnen Nutzers. Aber praktisch wirksam wird im unterstellten Normalzustand (und im Einklang mit der Axiomatik des Neoevolutionismus) nur der letztere: „Deshalb wäre es im gemeinsamen Interesse aller Nutzer, wenn sie sich einschränken und auf eine übermäßige Ausbeutung verzichten. Aber solange es keine wirksamen Vorschriften darüber gibt, wie viel der einzelne Verbraucher entnehmen darf, wird jeder zu Recht die gleichen Überlegungen anstellen: „Wenn ich nicht diesen Fisch fange, oder meine Schafe auf jener Wiese weiden lasse, tut es ein anderer Fischer oder Schafhirte, also hat es keinen Sinn, wenn ich auf Überfischung oder Überweidung verzichte.“ Demnach entspricht es dem rationalen Verhalten, wenn man die Ressourcen ausbeutet, bevor der nächste Verbraucher dazu in der Lage ist, auch wenn dies schließlich zur Zerstörung des Gemeineigentums führt und deshalb alle Verbraucher schädigt.“ (Diamond 2005: 529)
In den dann angeführten Beispielen freilich erscheinen keine „einzelnen“ Nutzer, sondern eben auch „internationale Holzkonzerne“ (2005: 530) firmieren als solche „einzelnen“, die – wie es heißt – kurzfristige Pachtverträge in einem Land abschließen, dort den Regenwald abholzen und ihre Tätigkeit dann im nächsten Land fortsetzen: „Eines haben diese Konzerne richtig erkannt: Nachdem sie ihre Pacht bezahlt haben, dient es ihren Interessen am besten, wenn sie den Wald so schnell wie möglich abholzen, Vereinbarungen zur Wiederaufforstung nicht einhalten und sich am Ende einfach davonmachen.“ (Diamond 2005: 530)
Das Beispiel zeigt schlagend, wie die spieltheoretische Matrix von ToC gesellschaftliche Verhältnisse einfach und restlos zum Verschwinden bringt. Wer verpachtet in wessen Namen Landflächen mit Regenwald? Und wer macht Geschäfte mit „internationalen Holzkonzernen“, die sich nach allgemeinen Maßstäben nicht „rational“, sondern „kriminell“ verhalten? Für die Darstellung hoch aggregierter Akteure und internationaler Machtverhältnisse zwischen Staaten und Konzernen ist das spieltheoretische Denkmodell deutlich zu schlicht.
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Dennoch prägt ToC weithin auch das medienöffentliche Nachdenken über Alternativen und Möglichkeiten, den „tragischen“ Effekten der Übernutzung öffentlicher Güter ein Schnippchen zu schlagen. Auch diese Debatte läuft auf den schon bei Garrett Hardin vorgezeichneten Bahnen: Eine Möglichkeit ist externer (das heißt meist: staatlicher) Zwang, was sich unter bestimmten Bedingungen (Diamond nennt die Japanische Holzwirtschaft in der Tokugawazeit und deutsche Holzbewirtschaftung im 16. Jahrhundert) funktioniert, unter vielen anderen (Hochseefischerei, CO2-Ausstoß) aber nicht oder nur unter unvertretbarem Kontrollaufwand. Die zweite Lösung besteht in der Privatisierung und Verteilung der Ressource, für die aber in vielen Fällen ebenfalls gilt, dass sie den Ruin des Gemeingutes nicht verhindert bzw. den Missbrauch nicht kontrollieren kann. Als dritte Lösung nennt Diamond (2005: 530) die Selbstorganisation des kollektiven Interesses der Verbraucher. Die funktioniert aber – auch das ein stehender Topos der Debatten – nur unter der Bedingung wechselseitigen Vertrauens, weitgehender Kommunikation, stringenter Verrechtlichung und überschaubarer Gruppen (genannt wird die Wasserbewirtschaftung in Montana).19 Das heißt: Sie funktioniert in überschaubaren lokalen Genossenschaften, nicht aber im globalen Maßstab. Diamond polemisiert zwar gegen machthungrige Herrscher und Eliten, die sich vielfach – im Unterschied zur großen Mehrheit – gegen die destruktiven Folgen ihres Tuns abschirmen und distanzieren können, bleibt aber dann selbst im Rahmen der Moralisierung eines kollektiven Problems. Solche, als „rational“ kodierten Interessenkonflikte20 werden abgesetzt gegen „irrationales Verhalten“, und die repräsentativen Beispiele für solchermaßen „irrationales“ Verhalten liefern kulturelle und religiöse Wertsysteme mit langfristig ruinösen Wirkungen – aber das ist definitiv eine andere Geschichte. ToC richtet sich gegen übergreifende und großflächige Gemeinschafts- und Genossenschaftsmoral. Idealistische Weltverbesserei und Gutmenschentum werden konsequent entmutiget. Fortschritt kommt nicht aus idealistischen Motiven, sondern aus strategischem Kalkül mit Eigeninteressen. Idealistische Gemeinwirtschaft ist keine stabile Strategie, ebenso wenig wie „Altruismus“ in der Naturevolution eine Chance hat. Das ist die (natürlich hoch politische) Nachricht an engagierte Ökologen. Und diese Nachricht bleibt nicht ohne Wirkung: Wenn man von der commons-Bewegung (siehe unten) absieht, sind Pragmatismus und Ernüchterung in der neueren Umweltbewegung dominant. Man kodiert auch die eigenen
19 Für diese Erkenntnis hat Elinor Ostrom den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, siehe weiter unten. 20 Probleme wurden „in einer Gesellschaft nicht gelöst, weil es einigen Menschen nütze, wenn sie bestehen blieben“ (Diamond 2005: 532).
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Motive als rational und egoistisch, weil man nur dann „dazu gehört“ und als Akteur ernst genommen wird. Unterm Strich bleibt dann vom Umweltschutz nur das, was auch als Geschäftsidee funktioniert. Wer freilich die diskursive Reichweite des ToC-Narrativs ausloten möchte, der darf eben auch nicht übersehen, das am 12.10.2009 Elinor Ostrom den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für die „Widerlegung“ der ToC-These erhalten hat. In der Würdigung des Nobelkomitees heißt es, die Autorin habe gezeigt, „wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden“ könne – eine Begründung, über die Historiker von Marx & Engels über Kropotkin bis Radkau sicher einigermaßen ins Staunen geraten – als ob man theoretisch etwas beweisen könnte oder müsste, was die historische Praxis tausendfach bewiesen hat! Die Arbeit, für die der Nobelpreis zuerkannt wurde, trägt den Titel: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (Ostrom 1990).21 Nachdem der Nobelpreissegen viele Jahre lang ausschließlich über marktradikalen Fundamentalisten niedergegangen war, fand das Komitee es offenbar an der Zeit, endlich einmal eine Frau zu bedenken, die doch tatsächlich den mathematischen Nachweis erbracht hatte, dass Gemeinbesitz und Genossenschaften möglich sind! Das sagt viel über die Diskursmacht des Neoliberalismus und über den verzweifelten Zustand des Nobelkomitees. Seither ist die „Allmende“ unter die ökologischen Programm- und Fahnenwörter gegangen. Die Heinrich-Böll-Stiftung führt einen politischen „Salon“ unter dem Titel Zeit für Allmende. Hier ergehen gut gemeinte Appelle an den einzelnen als Mitbesitzer ökologischer Gemeingüter. Terminologisch etabliert sich die Gewohnheit, Gemeingüter als eine dritte Option gegen Privateigentum und (ideologisch belastetes) Staatseigentum abzugrenzen und einer allgemeinen moralischen Verantwortung jedes einzelnen zu überantworten. Mit hübschen Anekdoten, die an die längst verblichene „Aktion Gemeinsinn“ erinnern, wird der moralischen Verantwortung jedes einzelnen für den Zustand der Gemeingüter ein Altar errichtet, man erzählt z.B. von den Liegestühlen auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes, die zu jedem Zeitpunkt für alle Interessenten reichen, wenn keiner sie durch Ablegen seines Handtuchs auf Dauer zu privatisieren sucht. Das ist natürlich ein Bild, aber es gibt Aufschluss über die Lebensgewohnheiten derer, an die es sich richtet. Ohne Zweifel ist es ein Gewinn, wenn sich der Einzelne für den Zustand der von ihm in Anspruch genommenen Gemeingüter interessiert und verantwortlich fühlt. Erst recht, wenn er sich mit anderen zusammenschließt, um Gemeingüter organisiert und kollektiv zu bewirtschaften. Allerdings sind mit solchen Graswurzelbewegungen globale Ressourcen wie Klima, Trinkwasser oder Fischvorräte
21 Im Literaturverzeichnis die deutschsprachige Version (Ostrom 1999).
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nicht zu bewirtschaften. Es ehrt die commons-Aktivisten, dass sie der Allianz von Staat und Privatwirtschaft misstrauen und dass sie erkennen, warum die (noch) nicht privatisierten Gemeingüter eine politisch starke kollektive Vertretung brauchen.
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F AZIT : T HE
MAKING OF A SELF - REPLICATING MEME
Das abstrakte Muster der ToC-Geschichte liefert ein Beispiel für die merkwürdige Zeitstruktur kulturkritischer Narrative. Das Muster deckt „punktuelle Evidenz“ (Bollenbeck 2007: 16) aus allen bekannten Phasen der Menschheitsgeschichte: von der Ausrottung der Großsäuger durch die Sammler und Jäger der Steinzeit über die mittelalterliche Dorfgenossenschaft bis hin zu den „globalen“ Allmenden der Gegenwart: Fischvorräte der Weltmeere, Regenwälder, Atmosphäre. Dadurch rückt es ein in den umfassend langfristigen Zeithorizont der Evolution. Die Wahrheiten der Evolution gelten immer, sie bilden gewissermaßen die letzte Instanz auch für das Überleben von Kulturen. Keine Kultur kann sie ignorieren, bei Strafe des Untergangs. Als ultimativer Rahmen für Weltdeutungen etabliert der Evolutionismus daher nunmehr einen ganz anderen Zeithorizont als die dynamischen Bewegungsbegriffe der Neuzeit, auf welche die Begriffsgeschichte Kosellecks gestoßen ist. Zwar wird auch weiterhin im Lichte der Evolution das Ungleichzeitige gleichzeitig und das Gleichzeitige ungleichzeitig, aber ohne den Entwicklungs-, Fortschritts- und Steigerungsdynamismus der bürgerlichen Leitbegriffe wird das Gleichzeitige und das Ungleichzeitige zugleich merkwürdig zeitlos. Große Zukunftserwartungen sind nicht in Rechnung zu stellen, wenn es nur noch um das nackte Überleben der Gattung (als Gattung) geht. Der Effekt dieses Denkstils besteht nicht zuletzt in einer umfassenden Enthistorisierung des Denkens. Als Varianten der Naturanpassung kann ich getrost die Feuerländer Indianer, die ehemaligen Bewohner der Osterinseln, die Wikingerkolonien in Grönland und die heutigen Bewohner Montanas neben einander stellen. Dass ihre Geschichten in ganz verschiedenen historischen Epochen und Produktionsverhältnissen spielen, spielt keine Rolle. Es verdient durchaus festgehalten zu werden, dass solche radikalen Enthistorisierungen, solche Engführungen von punktueller Gegenwart und ewiger „Menschennatur“ (pathetisch gesagt), zum klassischen Denkstil der philosophischen Kulturkritik gehören. Bei Rousseau, dem Stammvater der modernen Kulturkritik, findet man reichlich narrative Bruchstücke von ähnlicher Architektur: Eigentum, Umzäunung, Arbeitsteilung als zeitlose Modelle eines Fortschritts, dessen Kosten
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(qua Zerstörung menschlichen Entwicklungspotentials) erst in der schlechten Gegenwart überdeutlich werden, etc. (vgl. Bollenbeck 2007 über Rousseau). Aber natürlich ist Rousseaus bürgerlich-dynamischer Erwartungshorizont auf Überwindung, nicht auf Hinnahme dieses Dilemmas eingestellt. So etabliert sich die neoevolutionistische Kulturkritik in einer gegenüber den Kulturen aller Zeiten gewissermaßen zeitlosen oder überzeitlichen Distanz. Sie tritt (ganz bewusst und strategisch) weder rassistisch noch kolonialistisch oder kulturimperialistisch auf. Keine Kultur ist einer anderen prima facie überlegen. ToC macht ja gerade den kapitalistischen Industrialismus direkt vergleichbar mit der Ausrottung der nordamerikanischen Großsäuger durch die indianische Landnahme. Historische Argumente (etwa des Inhalts, dass die Naturzerstörung steinzeitlicher Sammler und Jäger auf der Unvollkommenheit ihrer Naturbeherrschung, die gegenwärtige aber auf dem nur vermeintlich zeitlosen Wachstumsdruck der Kapitalverhältnisse beruht) sind unter den Bedingungen evolutionistischer Entzeitlichung gar nicht wahrnehmbar. Aber natürlich kommt auch die neue Kulturkritik nicht ganz ohne Bewertungsmaßstäbe aus und findet sie in der (sehr unterschiedlichen) Fähigkeit der Kulturen, ein langfristig tragfähiges Naturverhältnis für sich zu etablieren. So entgeht sie den bekannten Paradoxien des Kulturrelativismus, ohne einen „Fortschritt“ postulieren zu müssen, an dessen Spitze natürlich immer der Stärkste marschiert. Die neoevolutionistische Kulturkritik akzeptiert selbstverständlich das „tolerante“ Leitprinzip der prinzipiellen Äquivalenz aller Kulturen, etabliert aber zugleich in aller Stille ein „latentes“ Prinzip ihrer vergleichenden Evaluation und Hierarchisierung: eben das der „nachhaltigen“ globalen Angepasstheit an begrenzte Ressourcen (vgl. Kondylis 2001: 57). Diskursdynamisch und zugleich sehr historisch, d.h. zeitgebunden, ist der zweite exemplarische Effekt des ToC-Narrativs. Das nämlich erweist sich als ein interdiskursiver bridging device (im Sinne von Burke 1969) oder als eine konnotativ-semantische Fähre (im Sinne von Maas 1985), das Kommunikationsteilnehmer befähigt, zwischen politisch antagonistischen Positionen (relativ) dissonanzfrei zu wechseln. Ich habe zu zeigen versucht, dass die ToC-Story für aufrechte emanzipatorische Ökologen ebenso plausibel ist wie für ihre neoliberalen Gegner. Beide können an den entgegen gesetzten Anschlussstellen des Narrativs andocken und sich praktisch vergewissern, dass sie „im Grunde“ das gleiche Anliegen haben: die Rettung menschheitlicher Gemeingüter. Burke (1969) würde das der Dialektik von merger und division zuordnen. Die mathematische Stringenz spieltheoretischer „Beweisführungen“ überzeugt moderne Szientisten ebenso wie die große Mehrzahl der wissenschaftsgläubigen Laien, denen alles, was mathematisch-statistisch auftritt, ohnehin erfolgreich „Wahrheit“ suggeriert.
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So wundern wir uns nicht, wenn wir allenthalben auf die mehr oder minder deutlichen Spuren des ToC-Narrativs stoßen. In der commons-Bewegung, die eine Ressourcenpolitik „jenseits von Markt und Staat“ verspricht (Helfrich 2012), wird beinahe alles als Gemeingut rekonfiguriert: von Wasser und Luft über Bildung und Wissen bis hin zur „Kredit-Allmende“ und zu lokalen Währungen. Es herrscht in der commons-Bewegung eine beinahe religiös anmutende Aufbruchstimmung. Das Internet gilt vielen als Modell künftiger Gemeingüter. Elinor Ostrom wird als Prophetin verehrt, wiewohl gerade sie durchaus notiert, dass bei allen wesentlich „menschheitlichen“ Ressourcen, die sich nicht so portionieren lassen, dass sie von vertrauten Kleingruppen verwaltet werden können (und das sind so gut wie alle!), der Staat unweigerlich ins Spiel kommt: Klima, Atmosphäre, Fischgründe, Bodenschätze, Infrastruktur etc. etc. Insofern steht die commons-Bewegung zwar für das verbreitete Misstrauen der Individuen gegenüber Markt und Staat, sie steht aber auch für eine Kleingruppenromantik, die angesichts der globalen Dimension der beschworenen Probleme hilflos anmutet. Der Soziologie Zygmunt Bauman schreibt: „Das postmoderne Denken ist voller Träume von gemeinschaftlichen, lokalen Wahrheiten und Gewissheiten, von denen man hofft, dass sie jene Aufgaben der Zivilisierung übernehmen, die die umfassenden, universalistischen Wahrheiten und Gewissheiten der Nationalstaaten nicht erfüllen konnten.“ (Bauman 1996: 59)
So schafft die commons-Euphorie im Gegenzug wieder diskursiven Raum für die Allianz von Dramatisierung und Ernüchterung, für das Misstrauen gegen alle Formen des kollektiven Handelns. Kein Wunder, dass uns dieses Misstrauen vor allem in den Wirtschaftsseiten der Zeitungen begegnet. In einem programmatischen Kommentar mit dem Titel „Die Schuld von allen“ belehrt uns Detlef Esslinger von der Süddeutschen Zeitung (23./24. Juni 2012) darüber, was von internationalen Umwelt-, Klima- und Ressourcenkonferenzen zu halten ist: Nämlich nichts. Der Markt muss es richten, nur er setzt auf den evolutionär stabilen Zusammenhang von Egoismus und Erfolgsnachahmung: „Man überzeugt den Menschen nicht mit dem Hinweis, dass Ressourcen endlich sind. Im Gegenteil, das führt nur dazu, dass es zu einem Rennen um die verbliebenen kommt. Von denen möchte dann jeder so viel abbekommen, wie es nur geht. […] Zu überzeugen ist die Menschheit wahrscheinlich nur durch zwei Wege – Katastrophe oder Erfolg. Das Klima und die Meere werden wohl kaum mehr auf internationalen Konferenzen gerettet werden, zumindest nicht im Plenarsaal. Sieben Milliarden Menschen werden sich niemals zum kol-
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lektiven Verzicht verabreden (oder anschließend gar daran halten). Im Grunde sind Konferenzen vor allem deshalb sinnvoll, weil es in den Kongresshallen Foyers gibt. In denen präsentieren Unternehmen Ideen, wie sich mit Umweltschutz Geschäfte machen lassen. In denen erklären deutsche [sic! CK] Ingenieure, dass sie nicht nur Autos und Maschinen bauen, sondern auch die energy-wende konstruieren können. Sollten sie das eines Tages sogar schaffen, wird sich bei anderen schon die Gier regen. Noch jeder erfolgreiche Pionier hat Nachahmer zur Folge gehabt. Der Mensch ist, wie er ist.“
Und er bleibt auch so. Punkt. In den Wirtschaftskommentaren unserer Qualitätszeitungen ist die unverbrüchliche Allianz von Evolution und Neoliberalismus jedenfalls längst Wirklichkeit.
[9]
L ITERATURVERZEICHNIS
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Schönheit und Evolution – Anmerkungen zur Ästhetik des Neoevolutionismus F ABIAN D EUS , D ANIEL G ÖCHT
[1]
‚R ENATURALISIERUNG ‘
DER
S CHÖNHEIT ?
Wenn man sich über die gegenwärtigen Konturen des diskursiven Spannungsfeldes um die zentralen Pfeiler Evolution und Schönheit informieren möchte, so wird man üblicherweise auf eine der ‚klassischen‘ Konkurrenz- und Verdrängungsnarrationen stoßen. Es scheint sich auch hier, auf dem Terrain der Ästhetik, eine der ‚Verlustgeschichten‘ der Kultur- und Geisteswissenschaften abzuspielen, denen die Naturwissenschaften mit immer weiter um sich greifendem Erklärungsanspruch im akademischen wie interdiskursiven Raum stetig weiter den Rang abläuft. Gerade der Bereich der Ästhetik, des Schönen und der Kunst sollte doch, so könnte man jedenfalls meinen, zum Kerninventar einer spezifisch kulturellen menschlichen Praxis und Selbstdeutung gehören, deren wissenschaftliche Bearbeitung doch weitgehend immun gegen ‚reduktionistische Übergriffe‘ sein sollte. Und ganz falsch ist es sicher nicht, die gegenwärtige diskursive Gestalt ästhetischer Debatten und den Wandel, den diese in den letzten Dekaden zeitigten, im akademischen, besonders aber natürlich auch im ‚interdiskursiven‘ Rahmen als geradezu prototypischen Fall der ‚Renaturalisierung‘ des Menschen und seiner Kultur zu behandeln. Ein knapper Überblick über die gegenwärtige Lage der Ästhetik (vgl. Recki 2010; Barck et al. 2000, bes. 308-317, 394-399) zeigt zunächst deutlich die theoretische „Diffusion“ der Disziplin zwischen Philosophie, Kunst (-geschichte), Soziologie, Kognitionswissenschaft etc., woraus sich allerdings kaum auf die Reichweite der Debatten schließen lässt: „Die gute alte Tante Ästhetik ist zwar sehr in die Breite, nicht aber in die Tiefe gegangen. Sie hätte heute
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mitzuarbeiten an einem theoretischen Rahmen, der die Komplexität unserer Weltbezüge ernsthaft ins Auge fasst, anstatt eifersüchtig über angestammte Hoheitsbezüge zu wachen.“ (Meyer 2013, 204) Die interdiskursive Präsenz genuin philosophisch-ästhetischer Fragestellungen – diese unbelegte Pauschalbehauptung sei hier erlaubt – ist in den letzten Jahren ohnehin merklich gesunken: Dieser Befund korrespondiert mit und ist Resultat des grundlegenden Ansehensverlustes von klassischem Bildungswissen überhaupt, in dessen spezifisch deutscher Konfiguration ästhetische Gehalte stets einen zentralen Platz beanspruchen konnten: Das Definitionsmonopol in Fragen der Kunst und der Schönheit war bekanntlich einer der zentralen Eckpfeiler der kulturellen Hegemonie, die das deutsche Bildungsbürgertum einmal beanspruchen konnte (vgl. Bollenbeck 1999). Gleichzeitig allerdings lässt sich die Allgegenwärtigkeit ästhetischer Gegenstände, Inszenierungen, Spektakel feststellen – vom Design bis zum Kunstfestival.1 Fragen und Aufgaben für die Ästhetik gibt es also reichlich. Dass der gegenwärtige Neodarwinismus diese ‚Nische‘, die die angekratzte (vor allem: philosophische) Ästhetik hinterlassen hat, erfolgreich zu besetzen versucht, ist kaum verwunderlich. Schönheit ist, eingebunden in evolutionistisches Denken, a priori (und qua Autorität Darwins selbst, der die grundlegenden Konturen des Problemfeldes noch selbst festgesteckt hatte) funktional gebunden und stets in soziale Beziehungen eingebettet (vgl. auch Toepfer 2011, 385ff). Dies sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die zentralen Elemente des gegenwärtigen neodarwinistischen Denkens im Bereich der Ästhetik. Den grundlegenden Konturen des evolutionistischen Denkens in der Ästhetik soll in Folgenden weiter nachgegangen werden. Dabei bleiben viele Aspekte unberücksichtigt, so dass es hier nicht um eine Kritik dieser Forschungsrichtung in Gänze geht und auch selbstredend nicht darum, die Validität empirischer Forschung zu beurteilen.2 Vielmehr geht es darum, bestimmte Interpretationsmuster und Argumentationsfiguren aufzuzeigen, mit denen einschlägige Autoren operieren. Im Vordergrund steht hierbei die Tendenz des Evolutionismus, die Gesellschaftlichkeit
1
Stellvertretend für ein solches Spektakel sei die Documenta 2013 genannt, die auch und vor allem ein Medienspektakel war. Diesen Aspekt thematisieren die Beiträge in Seppmann (2013).
2
Einen Überblick über gegenwärtige und vergangene Diskussionen bieten Sarasin (2010) und Toepfer (2011). Wichtige Arbeiten zur evolutionären Ästhetik, die im Folgenden nicht berücksichtigt werden konnten, sind z.B. Voland/Grammer (2003) oder Eibl (2004)
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menschlicher Tätigkeiten und Produkte auszuklammern bzw. auf biologische Kategorien zu reduzieren.3 Dabei soll diskutiert werden, ob und inwiefern dieser Ansatz mit seinem umfassendem Erklärungsanspruch einem Phänomen wie der Kunst gerecht werden kann.
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D ER BIOLOGISCHE ‚U RSPRUNG DER S CHÖNHEIT ‘
In der primären (und wohl auch üblichsten) Formulierung der Frage nach der Schönheit im populären Neodarwinismus besteht zunächst kaum ein grundlegender, ‚systematischer‘ Konflikt mit tradierten philosophischen Erwägungen: „Darwins größtes Dilemma“ (Reichholf) bestand zunächst schlicht darin, dass das Vorkommen von auffällig buntem Gefieder oder scheinbar ‚nutzlosem‘ Laubenbau bei einigen Vogelarten oder mächtiges Gehörn bei Hirschen, um hier bei den Schulbeispielen zu bleiben, mit den postulierten Wirkmechanismen der natürlichen Selektion kaum in Deckung zu bringen waren (und teilweise auch noch sind). Die naheliegende Frage nach der Schönheit aus naturgeschichtlicher Perspektive fragt so verständlicherweise nach der evolutionären Funktion, nach dem Vorteil der Ausbildung von scheinbar nutzlosem, mithin sogar hinderlichen, aber (von uns) als schön bewerteten Merkmalen oder Verhaltensweisen im Selektionsprozess. Das prächtige Gefieder eines Vogels, um bei dem Hauptbeispiel aus Josef Reichholfs Der Ursprung der Schönheit4 zu bleiben, stellt ja zunächst offensichtlich einen erheblichen Nachteil im ‚Kampf ums Dasein‘ dar: Einerseits weil die Ausbildung eines solchen Gefieders mit einem nicht unerheblichem Energieaufwand einhergeht, der doch eigentlich nützlicher investiert werden sollte. Andererseits bedeutet ein auffälliges Gefieder oft auch, dass sein Träger nicht nur andere Individuen der eigenen Art, insbesondere potenzielle Partner, auf sich aufmerksam macht, sondern sich natürlich auch für Fressfeinde leicht zu erkennen gibt. Man sollte also meinen, dass die natürliche Selektion schleunigst dafür sorgen sollte, dass entsprechende Merkmale im evolutionären Geschehen ‚aussortiert‘ werden, oder, präziser formuliert: Es ist zunächst nicht zu erklären, warum sich derartige Merkmale überhaupt herausgebildet haben. Ihre bloße Existenz scheint in krassem Widerspruch zu den angenommenen Wirkmechanismen der Evolution zu stehen. „Das Problem liegt also nicht darin, dass es Schönheit gibt, sondern vielmehr, warum es sie gibt.“ (Reichholf 2011, 10). Der Argusfasan mit seinem
3 4
Zunke (2010) kritisiert den naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Im Folgenden wird im Text direkt auf die Seitenzahlen dieses Werkes verwiesen, vgl. Reichholf 2011.
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prächtigen Gefieder war es, mehr noch als der Pfau, der sonst oft als erstes Beispiel für unerklärlichen ‚Luxus‘ in Tierreich genannt wird, der Darwin Kopfzerbrechen bereitete und den er als seinen „Alptraum“ bezeichnete, wie Reichholf mehrfach betont (11, 54). Diese Formulierung der Frage nach der Schönheit impliziert zwei Punkte, die festgehalten werden sollten: Einerseits impliziert dieser Problemaufriss eine Objektivierung des Begriffs der Schönheit. Denn es ist klar, dass die Schönheit, die hier zur Debatte steht, keine Schönheit ‚für uns‘ ist. Sie existiert primär für die jeweiligen Partner, insbesondere (angesichts der im Tierreich zumeist vorkommenden ‚Damenwahl‘) für die Weibchen. Sie reguliert die Partnerwahl und hat so eine wichtige Steuerungsfunktion in Fortpflanzung. Wir können also in unserer Beurteilung der Schönheit geteilter Meinung sein oder individuelle Vorlieben haben. Dies ist aber letztlich keine Eigenschaft der Schönheit selbst, sondern unserer Wahrnehmung derselben. Dass unser Urteil in Fragen der Schönheit auffällig oft und genau mit dem ‚Urteil‘ der jeweiligen potenziellen Weibchen übereinstimmt, ist ein eigener Befund: Denn es ist ja auffällig, dass (um das zweite wichtige Anwendungsgebiet Reichholfs heranzuziehen) Hirschkühe in der Partnerwahl gerade diejenige Gestalt des Geweihs der Männchen präferieren (in Fragen der Größe und Symmetrie), die auch bei Jägern als Trophäe besonders geschätzt wird. „Schönheit wirkt“ (21) nach Reichholf – und zwar vor allem, indem ihr Vorkommen Fortpflanzungserfolg mit sich bringt. „‚Schönheit‘, so ein geflügeltes Wort, ‚liegt im Auge des Betrachters‘. Das ist richtig und irreführend zugleich. Denn es liegt keineswegs nur an dem Augenpaar, das zum ‚Betrachter‘ gehört, ob etwas für schön gehalten wird. […] Sich wandelnde Schönheitsideale sind kein Gegensatz zu zeitlos Schönem, sondern Attribute der Veränderlichkeit des Lebens.“ (21)
Darüber hinaus könnte man zugespitzt formuliert festhalten, dass die Schönheit aus evolutionistischer Perspektive gar nicht an sich interessiert, sondern die Frage nach der Schönheit letzten Endes immer rückgekoppelt ist an das Problem, wie sich als schön beurteilte Merkmale im Lichte der Evolution erklären lassen. „Am Anfang war das Staunen“ (11), und zwar nicht über die Schönheit selbst, sondern über ihre Rolle in der Fortpflanzung: „Merkwürdiges geschieht in der Natur, wenn es um Fortpflanzung geht. Das Verrückteste und Bizarrste wird beim Sex praktiziert“ (16). In der großen Frage danach, ‚was Schönheit ist‘, ist die Antwort, dass es sich vor allem um eine Eigenschaft von Lebewesen handelt, die weitreichende Implikationen in der Fortpflanzung hat, präsupponiert. Andere Disziplinen mögen zu anderen Antworten kommen, sie betrachten dabei aber auch letztlich einen anderen Gegenstand.
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Wie beantwortet Reichholf nun die so gestellte Frage? Zunächst, indem er das Problem in verschiedensten Aspekten an geradezu unzähligen Fallbeispielen weiter auffächert. Verschiedenste Problembereiche werden dabei betrachtet: So etwa die im neoevolutionistischen Diskurs verbreitete Problematik der Pfadabhängigkeit evolutionärer Prozesse: Dies meint die Überlegung, dass sich einmal eingeschlagene Entwicklungspfade, etwa die Bevorzugung von besonders eindrucksvollen Geweihformen bei Hirschen, zu einem ‚evolutionären Selbstläufer‘ entwickeln könnte, so dass die Sexuelle Selektion zu immer größeren, bald auch hinderlichen Dimensionen des Geweihs führen kann. Der ausgestorbene Riesenhirsch könnte ein Beispiel für eine solche „Sackgasse der Evolution“ sein, dessen Aussterben dadurch erklärt werden kann, „dass in der Evolution dieses Tieres etwas schiefgelaufen ist“ (73). Mit einem sich veränderndem Lebensraum nach der letzten Eiszeit, nach der sich Wälder in die vorherigen Steppen immer weiter ausbreiteten, kam der Riesenhirsch nicht mehr zurecht. „Sie blieben zwischen den Bäumen stecken, wurden leichte Beute für Wölfe, Bären und die Eiszeitlöwen und starben schließlich aus“ (73). Dieser, zunächst sehr evidente Erklärungsansatz, wird nun im Detail weiter untersucht, wobei sich (erwartungsgemäß) die Zweifel mehren: Zunächst zeigt ein Vergleich mit anderen Rehen und Hirschen, dass das eindrucksvolle Geweih des Rothirschs keineswegs besonders hervorsticht, sondern schlicht mit der gesamten Körpergröße korreliert. Die Wapitis, deren Geweih und Körpergröße mit denen des Riesenhirsches vergleichbar sind, haben keine größeren Probleme mit dem Durchkommen in Wäldern, „wo die Bäume keineswegs so dicht wie in unseren gepflanzten Forsten stehen“ (74). Auch wäre bei einem veränderten Lebensraum ein Selektionsdruck zu erwarten, der eine Verringerung der Größe bewirken sollte. Nach und nach zeigt sich, dass der bisherige, etablierte Erklärungsansatz nicht zu halten ist. Andere Überlegungen werden angestellt, so etwa die Rolle, die der Mensch beim Aussterben der Riesenhirsche gespielt haben könnte. Relevant ist diese Überlegung (die von Reichholf favorisiert wird) für die eigentliche Thematik, da sich bei dieser Erklärung das Problem relativiert, dass die Sexuelle Selektion nur schwer mit der Natürlichen Selektion zu verbinden ist, denn „[d]ann gäbe es gar keinen Zusammenhang zwischen Geweihgröße und Überleben“ (75). Nach analogem Muster betrachtet Reichholf diverse weitere Fälle der Sexuellen Selektion, bei denen sich die scheinbare Bevorzugung von Schönheit gerade nicht als der Natürlichen Selektion widersprechende Bevorzugung von ‚eigentlich‘ hinderlichen Merkmalen erweist. Beim Prachtgefieder der Pfauen, das zunächst als überschwänglicher Luxus erscheint, zeigt sich bei näherer Betrachtung ein klarer Nutzen bei der Verteidigung gegen Angriffe im natürlichen Lebens-
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raum. Die (vor allem von Amotz Zahvi vertretene) These, dass die Sexuelle Selektion funktioniert, weil die Männchen über demonstratives Herausstellen eines Handicaps (über Körpermerkmale oder riskantes Verhalten) Stärke signalisieren können, was von den Weibchen in der Partnerwahl bewertet werden kann, weist Reichholf so klar zurück. Reichholfs Ergebnis ist also verallgemeinert, dass sich die Schönheit in der Natur gerade nicht als hinderlich erweist. Er verweist auch darauf, dass evolutionär bedingte Anpassungsprozesse an bestimmte Umweltbedingungen gerade nicht bedeuten, dass die jeweilige Gestalt eines Organismus als notwendiger „Abdruck seiner Umwelt“ (188) zu interpretieren ist – im Gegenteil: „Zwischen Organismen und der Umwelt existiert eine mehr oder minder große Kluft; ein Abstand, der ‚frei‘ ist – nicht überall und in jeder Hinsicht, aber grundsätzlich“ (190). Und dieser Abstand ermöglicht Pfauenschleppe und Hirschgeweih. Hier bringt Reichholf auch den Begriff der Freiheit ins Spiel und leitet damit zum Menschen über. Denn „Organismen lösen sich mit zunehmender innerer Komplexität und Körpergröße immer stärker von den äußeren Lebensbedingungen. Sie ‚emanzipieren sich‘ von der abiotischen Natur. Das macht sie freier.“ (199). Diese Emanzipation von den direkten Umweltbedingungen ist beim Menschen wohl unzweifelhaft am ausgeprägtesten. Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Man könnte nun also konstatieren, dass die Frage nach der Schönheit in der Fassung, wie sie exemplarisch Josef Reichholf stellt, lediglich aus Problemen der angemessenen Erklärung für Naturphänomene entspringt und die Antworten, die dabei gefunden werden, lediglich im Bereich der Natur Gültigkeit beanspruchen können. Daher muss aus dieser Fragestellung auch keine Konkurrenz für Überlegungen aus anderen Disziplinen ergeben. Aber: Die Emanzipation des Menschen aus den direkten Notwendigkeiten der Natur ist selbstverständlich – und das ist eines der zentralen Deutungs- und Argumentationsmuster des Neoevolutionismus – nur eine relative. Unsere ‚zweite Natur‘, und damit auch den Umgang der Menschen mit Schönheit, können wir nur angemessen verstehen, wenn wir als Grundlage die erste Natur dabei angemessen berücksichtigen: „Die Betrachtung bewegt sich vielmehr ‚von unten‘, von der Natur außerhalb des Menschen, auf diesen zu. Ziel ist es, auf dieser Basis – zu betonen ist, dass damit wirklich die biologische Grundlage gemeint ist! – Grundzüge des Schönen auch beim Menschen aufzudecken. Denn, so die Kernthese, was Menschen als schön empfinden, hat auch und sehr viel mit ihrer Natur zu tun und wird nicht allein von der geistig-kulturellen Betrachtungsweise vorgegeben“ (201). Die Differenz zwischen Schönheit in der Natur und beim Menschen wird so gerade nicht negiert, aber doch ein zwingender, bisher nicht ausreichend berücksichtigter Zusammenhang behauptet. An anderer Stelle begründet Reichholf
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den Verzicht auf philosophische Überlegungen unter Verweis auf verschiedene „Betrachtungsebne[n]“, die es nicht zu vermischen gelte. Die Berechtigung und Gültigkeit philosophischer Betrachtungen wird so explizit nicht angezweifelt, die Grundlage dafür, und damit auch, so kann man wohl hinzufügen, die wesentlichen Konturen, werden durch die Natur gesetzt: „[Eine] philosophische Betrachtung des Schönen [wird] nicht umhinkommen, sich mit den Gründen und Hintergründen zu befassen, die mit dem Phänomen verbunden sind. […] Wer sich mit dem Menschen befasst, muss (!), das betonen wir mit Nachdruck, seine Natur hinreichend kennen“ (276).
Das Kapitel über die Schönheit in der Menschenwelt, das Reichholf gemeinsam mit seiner Frau Miki Sakamoto verfasst hat, befasst sich so primär mit dieser Grundlage der menschlichen Schönheit, also auch hier insbesondere mit Fragen der Sexualität und der Partnerwahl. Eine plumpe Übertragung von Erkenntnissen aus der Natur in den Bereich des Kulturellen will sich Reichholf erkennbar nicht vorwerfen lassen.5 Insbesondere der Bereich des Kunstschönen bleibt ausgeklammert. Die Verlagerung dieser Phänomene auf eine ‚höhere Ebene‘, die nur auf der Grundlage der Biologie entfaltet werden kann, betont die Differenz zwischen dem Schönen der ‚ersten‘ und ‚zweiten Natur‘ und verwischt sie zugleich. Gerade eine solche Differenzierung ist der Ausgangspunkt der Überlegungen des Literaturwissenschaftlers Winfried Menninghaus.
5
Diese Vorsicht nicht daran hindert die Autoren allerdings auch nicht daran, teilweise gewagte Aussagen zu tätigen: „Die gegenwärtige Emanzipation der jungen Frauen [sic!] von derartigen [kultur- und zeitenübergreifend bestehenden, F.D.] ‚Mutterpflichten‘ kann, biologisch gesehen, nichts weiter als eine vorübergehende und regionale Phase sein, weil andere Kulturen mit traditionelleren Mutterrollen und -pflichten mit ihren höheren Geburtenraten ganz einfach mit mehr Nachwuchs die Oberhand gewinnen werden“ (240).
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W INFRIED M ENNINGHAUS ʼ ‚ SYNTHETISCHE ‘ E VOLUTIONSTHEORIE
DER
K ÜNSTE
Die Arbeiten von Winfried Menninghaus6 zur Evolutionären Ästhetik sind, anders die vieler anderer Vertreter dieser Richtung, stärker durch die philosophische Ästhetik geprägt. So bezieht er vor allem die Ästhetiken Kants und die der deutschen Romantiker in seine Überlegungen ein. Während es Menninghaus in seiner Schrift Das Versprechen der Schönheit (Menninghaus 2003) um eine Evolutionstheorie der körperlichen Schönheit ging, zielt er mit Wozu Kunst? auf eine Theorie der Kunst (bzw. der Künste) in evolutionärer Perspektive. Auch hier sind „Überlegungen Darwins ein Hauptbezugspunkt: Dieses Mal sein an Tieren entwickeltes Modell der Künste des Singens, Tanzens und multimodaler Vorführungen sowie seine Benutzung für eine evolutionäre Perspektive auf die menschlichen Künste.“ (7) Menninghaus kritisiert eine Vielzahl anderer Forscher für deren oberflächliche Darwin-Rezeption, die sich mit einigen „stark vereinfachte[n] Basisannahmen“ begnügt und die sich selten auf eine eigenständige Darwin-Interpretation stützt. Dagegen will er seine Überlegungen zur Evolution der Kunst anhand einer genauen Lektüre der Schriften Darwins, insbesondere The Descent of Man, entwickeln. Wozu Kunst? soll eine Lücke schließen, die Menninghaus bei Darwin selbst ausmacht, nämlich die unzureichende Differenzierung menschlicher und nichtmenschlicher „Künste“. Insgesamt will er unter Rückgriff auf Darwin und unter Einbeziehung zahlreicher evolutionsbiologischer Untersuchungen, der Kognitionswissenschaft und der Psychologie sowie klassischer ästhetischer Überlegungen eine synthetische Theorie der Entstehung und Funktion der menschlichen Künste entwerfen.7 Menninghaus unterscheidet sich, nicht zuletzt aufgrund seiner Vorgehensweise, in einigen Punkten von anderen Vertretern einer Evolutionären Ästhetik, besonders durch seinen Versuch, die Besonderheit menschlicher Kunstproduktion zu bestimmen. Allerdings erschweren seine Voraussetzungen auch die Ausführung seines Vorhabens.
6
Im Folgenden geht es um sein zuletzt erschienenes Buch: Menninghaus (2011), Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Auf die entsprechenden Seitenzahlen wird im Text verwiesen.
7
Seinen hohen Anspruch vereinigt Menninghaus allerdings mit einiger Bescheidenheit. So schreibt er: „Ziel des vorliegenden Buches ist allein die kritische Diskussion, Vertiefung und Ausdifferenzierung evolutionstheoretischer Hypothese. Ambitionen, die Konflikte evolutionärer und anderer Erklärungsmodelle zu entscheiden, sind damit nicht verbunden.“ (16)
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Die Stärke von Menninghausʼ Ansatz besteht vor allem darin, dass er die Schriften Darwins einer genauen Interpretation unterzieht, die die gängigen klischeehaften Vorstellungen, die damit verbunden sind, vermeidet. Dabei beansprucht er, die Aktualität Darwins herauszustellen und das „Original“ gegen seine Verflacher zu verteidigen. Menninghaus bezeichnet Darwins Modell der Evolution der Künste als „kühne[n] Aufriss“ (17), der (bisher) empirisch nicht ohne weiteres zu überprüfen ist. Entgegen seiner ansonsten starken Orientierung an empirischer Untersuchung und experimenteller Ästhetik setzt er an dieser Stelle auf theoretische Überlegungen. Diese müssen sich zwar auf empirische Daten stützen, als Theorie aber notwendig über diese hinausgehen (29). In diesem Sinne lobt er Darwin und verteidigt dessen spekulativen Zug: „Wohl nur einem so phantasievollen Denker wie Darwin konnte es gelingen, bei so wenig Wissen über die Evolution der menschlichen Künste so weit reichende Hypothesen aufzustellen, deren Substanz noch längst nicht erschöpft ist.“ (17) Für die Rekonstruktion von Darwins Theorie dient auch Menninghaus – wenig verwunderlich – der Begriff Schönheit als Leitbegriff.8 Angesichts der bereits genannten Probleme, vor die ihn die ‚Schönheit‘ stellte, entwickelte Darwin die Theorie der sexuellen Selektion, bei der die Bevorzugung bestimmter körperlicher Merkmale entscheidend ist. Diese besonderen Merkmale analogisiert Darwin mit Ornamenten. Diese werden zu Schmuckzweck angebracht, jene werden in der Regel zu Zeiten sexueller Werbung ausgebildet, um danach wieder zu verschwinden. Beide ähneln sich also in ihrer ‚äußerlichen‘ Beziehung zu ihrem Träger. Mit der Kategorie des Ornaments gebrauche Darwin eine „zentrale Kategorie der philosophischen Ästhetik“ (42). Bei Menninghaus erhält diese Rede vom Ornament eine enorme Bedeutung, indem er betont, dass dieses seit dem 18. Jahrhundert als „Inbegriff des zweck- und begriffslosen Schönen“ (42) gelte.9 Diese Betonung schafft eine unmittelbare Parallele zur menschlichen Kunst, die noch dadurch verstärkt wird, dass Darwin in diesem Zusammenhang ebenfalls von Capricen und Extravaganzen spricht, die Menninghaus mit der romantischen Ästhetik in Verbindung setzt, bei Darwin wie das Ornament aber metaphorischen Sinn haben dürften. ‚Begriffslos‘ ist die körperliche Schönheit gewiss, aber ‚Zwecklosigkeit‘ in diesem Zusammenhang unterstellt, dass andernorts – hier in der Natur – Zwecke gesetzt werden. So kann man zwar annehmen, dass die Natur ‚zweckhaft‘ ist, dann aber
8
Menninghaus parallelisiert immer wieder Theoriestücke Darwins u.a. mit Kants Kritik der Urteilskraft (z.B. 14) und betont dass Darwin seine Kriterien und ästhetischen Grundbegriffe mit einer Reihe anderer Autoren teilt (31).
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Entsprechend nimmt Menninghaus nur formale Aspekte in den Blick, die inhaltliche Seite von Kunst fällt aus der Betrachtung heraus.
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lässt sich von Zwecklosigkeit nicht sprechen, die Analogie läuft ins Leere. In Entsprechung zu den „Körperornamenten“ behandelt Darwin die Mode als „Verlängerung und Substitut der durch Werbung und Wahl gebildeten Capricen am natürlichen Körper sexueller Wesen.“ (46) Das ist für Menninghaus von besonderem Interesse, weil er einerseits wiederum die Ausbildung von Körpermerkmalen analog zur Mode denken kann (vgl. 60), wodurch er die Plausibilität der Herkunft kulturell geprägter ästhetischer Wertungen aus der sexuellen Werbung erhöhen will. Da das ‚kardinale Ornament‘ des menschlichen Körpers die nackte bzw. unbehaarte Haut ist, kann er andererseits unter Berufung auf Freud die Entstehung der Imagination mit der partiellen Bedeckung dieses Ornaments zusammenbringen. Ein Teil des sexuellen Reizes wird so ins Imaginäre verlegt und damit die Möglichkeit eröffnet, dass „ästhetische Attraktion von der direkten Verfolgung sexueller Ziele ‚abgelenkt‘ wird.“ (75) Einen Zwischenschritt in Menninghausʼ Theorie bilden die Künste des Selbstschmucks – Bemalung, Verzierung etc. Diese Ornamente „zweiter Ordnung“ bilden nach Menninghaus von der sexuellen Werbung aus eine „erste Brücke zu den visuellen Künsten“ (66). Dabei kann er sich auf Ergebnisse der Archäologie stützen, wonach die Selbstbemalung wahrscheinlich die älteste Art des Malens ist (66f). Zudem wird hier zuerst der Bereich der sexuellen Werbung mit dem „zielgerichteten Werkzeuggebrauch“ verknüpft (73) – ein wichtiger Baustein für Menninghaus Theorie der Entstehung der menschlichen Künste. Dass es sich bei der Selbstbemalung um Ornamentierung zum Zwecke der sexuellen Werbung handelt, steht für Menninghaus außer Frage, auch wenn „es vor allem soziale Riten und Feste waren, in deren Kontext Individuen sich am aufwändigsten bemalt und geschmückt haben.“ (67) Dass die Bemalung o.ä. also für einen bestimmten sozialen Zweck stattfand, schließt nach Menninghaus den sexuellen Zweck nicht aus: „Gerade große soziale Anlässe mit (rituellem) Tanz und Musik sind – und waren dies vermutlich auch in sehr alten Zeiten – besonders geeignete Foren für das Sich-zeigen und das Kennenlernen potentieller Partner.“ (68) Menninghaus stellt hier ein magisches Tanzritual wie einen Ball oder einen Diskotheksbesuch vor – und Anachronismen dieser Art sind symptomatisch für seine Argumentation. Dabei nivelliert er die Unterschiede der verschiedenen historischen Stufen und interpretiert magische Praktiken ganz im Sinne moderner Gesellschaften. So werden Veranstaltungen mit einem bestimmten (magisch-)pragmatischen oder festgelegten sozialen Zweck ineinsgesetzt mit solchen, die der Unterhaltung der Teilnehmenden dienen. Ähnlich verhält es sich mit der Partnerwahl. Eine Überschreitung des „engen Funktionskreise sexueller Werbung“ (73) ermöglicht nach Menninghaus erst die Verbindung der frühen ‚visuellen Künste‘ mit der „symbolische[n] Darstellung und Kognition“ (73), wodurch sich die
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Künste immer weiter von der unmittelbaren Bindung an den Körper entfernen. Allerdings, so könnte man einwenden, hat bereits die Bemalung des Körpers selbst ein symbolisches Moment, das nicht erst zusätzlich hinzugefügt werden muss. Menninghaus selbst betont, dass auch Darwin unterschiedliche Motive der Körperbemalung benennt, darunter religiöse und soziale Symbolik, womit die Fokussierung auf ‚zweckfreie‘ Schönheit eine Verengung bedeuten würde. Zudem darf ein wichtiger Unterschied zwischen dem Schmuck der Tiere und Körperbemalung bzw. –schmuck bei Menschen nicht vernachlässigt werden. Im Unterschied zu den Tieren bringen Menschen den Schmuck selber an; bei den Tieren fehlt der praktische Selbstbezug, wie er beim Selbstschmuck und im rituellen Kontext zum Tragen kommt. Beim Menschen hat der Schmuck eine Bedeutung, die nicht durch einen angeborenen „Schönheitssinn“ verliehen wird. Ein weiterer wesentlicher Baustein einer evolutionären Theorie der Künste ist Darwins Theorie der Musik, die auch bisher breiter rezipiert wurde als die der körperlichen Schönheit und ‚Ornamentik‘. Beide sind ihrer Anlage nach sehr ähnlich. „In den auditiven und visuellen Künsten hat Darwin dieselben Mechanismen am Werk gesehen wie bei der Bevorzugung bestimmter Körperornamente.“ (37) Allerdings will Darwin, so Menninghaus, die menschliche Musik keineswegs auf ein Mittel sexueller Werbung reduzieren. Darwin sei vielmehr weit entfernt von der „singing for sex“-Theorie (88) der Neodarwinisten, von denen Menninghaus Darwin immer wieder abgrenzt. Seine Überlegungen zur Musik entwickelte Darwin vor allem anhand von Beobachtungen, die er bei Vögeln gemacht hatte. 10 Darauf aufbauend entwarf er die Hypothese einer ‚sexuellen Protomusik‘ – eines Gesangs in weit zurückliegender Zeit, der der sexuellen Werbung diente. Damit wollte er eine Lücke in der Erklärung der Entstehung menschlicher Musik schließen, auch wenn er hierfür keine hinreichenden Belege liefern konnte. Keineswegs sollte damit die moderne menschliche Musik in ihrer Eigenart erfasst werden. Nach Menninghaus handelt es sich so bei Darwins Theorie der Musik vor allem um eine „evolutionäre Theorie ihrer emotionalen Wirkung“ (96). Die starken Emotionen werden hiernach ausgelöst durch eine unbewusst bleibende Erinnerung bzw. Assoziationen an lange in der Menschheitsgeschichte zurückliegende Situationen. Es handelt sich dabei um eine Skala von der Zärtlichkeit bis hin zu Kampfgefühlen (98), wobei der Kampf bzw. Krieg abermals mit sexueller Konkurrenz in Verbindung steht: „Das Erobern (‚captivate‘) und Rauben weiblicher Wesen ist bestens als ein zentraler Grund für kriegerische Handlungen belegt, bei
10 „Die nichtmenschliche Hauptreferenz für dieses High-end-Segment vokaler Künste [den „true song“, D.G.] ist bei Darwin – nicht anders als in der langen Geschichte des Gesangsvergleichs – das Singen der Vögel.“ (80).
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Schimpansen ebenso wie bei Menschen.“ (98f) Krieg, vor allem im Zusammenhang mit sexueller Konkurrenz, wird damit gleichsam zu einer archetypischen menschlichen Verhaltensweise. Die tatsächlichen Gründe für Kriege (ein Begriff der sehr weit gefasst wird) können so nicht in den Blick geraten; auch nicht die spezifischen Voraussetzungen einer räuberischen Eroberung von Frauen. Nach Menninghaus hilft diese Theorie jedoch, die Intensität und Unbestimmtheit der Emotionen beim Hören von Musik zu erklären.11 „So spekulativ eine solche Hypothese auch ist: Eine bessere Erklärung, warum die emotionale Kraft der Musik einerseits so unabweisbar und intensiv, andererseits so opak in ihrer Bedeutung ist, muss erst noch gefunden werden.“ (109) Was dabei neben dem bereits Genannten verwundert, ist die unhinterfragte Voraussetzung der „Rätselhaftigkeit“ von Musik, die zudem auf das bloße Auslösen von Emotionen reduziert wird. Dass Musik ebenso wie andere Künste einen bestimmten Gehalt haben könnte, wird gar nicht in Erwägung gezogen. Außerdem lässt sich kaum begründen, warum erinnerte Emotionen in die Urgeschichte der Menschheit verlagert werden müssen und nicht schlicht aus eigenen (oder mitgeteilten) Erfahrungen resultieren können. Da Darwin den Unterschied menschlicher und nichtmenschlicher „Künste“ nicht positiv entwickelt habe, diskutiert Menninghaus zum einen Überlegungen zur Kunst als Mittel sozialer Kohäsion, zum anderen entwickelt er seine ‚synthetische‘ Evolutionstheorie der Künste. Menninghaus will nicht bloß einen für die Entstehung der menschlichen Künste verantwortlichen Faktor herausstellen, vielmehr sollen in einem integrativen Modell unterschiedliche Elemente zum Tragen kommen. Danach entstanden die menschlichen Künste in ihrer Spezifik aus dem Zusammenwirken von sexueller Werbung, Spielverhalten, der Benutzung und Herstellung von Werkzeugen und vor allem des Symbolgebrauchs bzw. der Sprache.12
11 „Die Gegenstands-, Ereignis- und Begriffslosigkeit rein musikalischer Tonfolgen – das kognitive Nullprogramm der auf nichts Bestimmtes beziehbaren Musik laut Kant – wird zu einem maximalen Erregungsprogram (arouse, excite) für undeutliche, schlummernde, sehr weit in unsere Vorgeschichte zurückreichende assoziative Bahnungen. Das viel diskutierte Rätsel eines zugleich stark empfundenen und begrifflos-elusiven Gehalts der Musik erfährt so eine kühne evolutionspsychologische Erklärung. “ (106) 12 „Die Künste entstanden als neue Varianten menschlichen Verhaltens, als die sehr alten Adaptionen der ästhetischen Bewertung sexueller Körperornamente (und eventuell singender Werbungsbemühungen), des Spielverhaltens und des Werkzeuggebrauchs – die bis dahin wenig oder keine Überweisungen aufwiesen – nach Erwerb und unter Mithilfe
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Dabei geht es ihm auch darum zu zeigen, dass sich durch dieses Zusammenwirken etwas Neues herausgebildet hat. „Technologie, Symbolsysteme und Spielverhalten erweitern nicht einfach das Feld schöner Selbstpräsentations- und Werbungskünste um neue kulturell produzierte Phänomene; sie transformieren es zugleich und begünstigen Funktionsverschiebungen.“ (196) Das Modell soll die Einseitigkeiten anderer evolutionstheoretischer (sowie psychologischer und philosophischer) Ansätze überwinden und gleichzeitig den Fokus auf die Spezifik der menschlichen Kunst/Künste legen.13 So stellt Menninghaus heraus, dass einerseits die bloße Orientierung auf sexuelle Selektion die Entstehung der Kunst nicht hinreichend erklären kann. Andererseits betont er, dass bei einer Fokussierung auf das Moment des Spiels, wie sie vielen (anderen) Ästhetiken eigen ist, „die eigentümliche Ernsthaftigkeit, ja Obsession der künstlerischen Anstrengung letztlich ortlos“ bleibt (200). Die Überlegungen Darwins zu einem möglicherweise zweckfreien Singen bei Vögeln könnten nach Menninghaus eine Erklärung liefern. Bei den Vögeln handelt es sich um Spiel im Horizont ernsthafter Funktionen – letztlich der Fortpflanzung und der Verteidigung. „Analog könnte das geniale, sich selbst nicht verstehende Getriebensein menschlicher Künstler als erratische Spur einer sehr ernsten motivationalen Kraft gelesen werden – im Sinne Darwins: als assoziatives Relikt einer ehemaligen sexuellen Salienz des Strebens nach kompetitiven künstlerischen Höchstleistungen.“ (201) Wichtig für Menninghaus ist auch der Gebrauch von Werkzeugen, da ohne sie bereits eine Kunst wie die Selbstornamentierung (Veränderung des eigenen Körpers zu Schmuckzwecken) undenkbar ist. Für die Benutzung von Instrumenten in der Musik gilt das natürlich im gesteigerten Maß.14 Allerdings reichen diese Faktoren nach Menninghaus noch nicht aus, da Werkzeuggebrauch für wesentlich frühere Zeiten nachgewiesen werden kann als die Herstellung von künstlerischen Objekten – Menninghaus nennt eigens für den Körperschmuck hergestellte Artefakte, die erst beim modernen homo sapiens auftauchen (226). Von entscheidender Wichtigkeit ist nach Menninghaus der Symbolgebrauch und im Besonderen die Sprache. An alle diese Faktoren knüpft Menninghaus mögliche Funktionen der Kunst, die ihr Entstehen evolutionär begünstigt haben können. Mit dem Spiel beispielsweise sind das Lernen
der sehr viel jüngeren menschliche [sic] Superadaption, eben unserer Fähigkeit zu Sprache und Symbolgebrauch aller Art, einem neuen gemeinsamen Gebrauch zugänglich wurden.“ (255) 13 Menninghaus geht noch weiter, indem er sein Modell als „generelle[n] Hypothese über die Struktur des menschlichen Geistes“ (254) auffasst. 14 Bei der Selbstornamentierung (und ähnlichen Praktiken) überschneiden sich die sonst getrennten Bereich des Werkzeuggebrauchs und der sexuellen Selektion.
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und Einüben bzw. Probieren bestimmter Verhaltensweisen verbunden, abgekoppelt von deren Konsequenzen. Dies wird nach Menninghaus durch die Kunst potenziert, da diese eine Vielzahl von ‚Welten‘ zu schaffen in der Lage ist, wodurch sie die Infragestellung der ‚einen Realität‘ ermöglicht. Kunstwerke „schärfen damit das Bewusstsein für die Selektivität unserer Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen und gewöhnen an den Gedanken, alles könnte etwas oder auch ganz anders sein. Künstlerische Praktiken verhalten sich insofern metareflexiv zu eingespielten Gewohnheiten von Wahrnehmung und Verhalten und begünstigen die Eröffnung neuer Variationsspielräume.“ (205) Dagegen lässt sich allerdings erstens einwenden, dass nicht ohne Weiteres – in überhistorischer Weise – ein fiktiver Charakter der frühen Kunst vorausgesetzt werden kann, besonders, wenn es sich um Kunst in einem rituellen magischen oder religiösen Kontext handelt. Zweitens lässt sich ebensowenig voraussetzen, dass neue Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen von der Kunst ausgehen und in ihr ausprobiert werden. Eher ließe sich davon sprechen, dass Kunst (bzw. deren Produzenten) sensibel auf Neues in der Wirklichkeit reagiert und dieses entsprechend verarbeitet. Der Symbolgebrauch ermöglicht es, in der Mitteilung sowohl von der realen Anwesenheit von Gegenständen zu abstrahieren als auch Sachverhalte und Gegenstände zu verknüpfen. Aus dieser Fähigkeit leitet Menninghaus ab, dass „[e]lementare menschliche Kognitionsmuster […] ebenso narrativ zu sein [scheinen] wie die Muster unserer Selbstpräsentation und Selbstvergewisserung.“ (237) Narrativ nennt er dabei eben die Fähigkeit des Verknüpfens, mit der Möglichkeit nicht nur Gegenwärtiges, sondern auch Vergangenes, Zukünftiges und nie Vorhandenes auszudrücken. Was er hier „narrativ“ nennt und ursächlich dem Gebrauch von Symbolen zuschreibt, dürfte sich für die Menschen vielmehr aus der Notwendigkeit ergeben zu planen und Vorräte zu halten, d.h. aus den wirklichen Voraussetzungen des menschlichen Lebens. Wenn man dagegen wie Menninghaus eine ideelle Fähigkeit an den Anfang setzt, muss man sie bereits voraussetzen, bevor man sie erklärt hat und umgeht so die Frage nach deren Ursprung. Als Antwort bleibt bloß der Verweis auf ein ursprüngliches Vermögen oder eine überhistorische „menschliche Natur“. In gleicher Weise konstatiert Menninghaus eine Neigung der Menschen zur Imagination und stellt die Frage: „Worin bestehen die evolutionären Vorteile unserer enormen Anfälligkeit für die und Disposition zur Imagination fiktiver Entitäten?“ (242) Diese – von vornherein nicht selbstverständliche – Frage beantwortet er zum einen damit, dass (wie beim Spielverhalten) Möglichkeiten durchgespielt werden können, was die Flexibilität der Menschen in der Reaktion auf ‚neue Herausforderungen‘ steigern hilft. Zum anderen verstärkt die Kunst „die generelle Ambiguitätsfähigkeit symbolischer Repräsentationen“ (245), die diese nicht nur
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‚täuschungsanfällig‘ macht, sondern die Kunst befähigt, das menschliche Bedürfnis nach ‚Sinn‘ zu befriedigen, das sich nach Menninghaus aus dem mit der menschlichen Flexibilität verbundenen uneindeutigen „Passverhältnis“ zu unserer „Umwelt“ ergibt. Aus diesen „Kontingenznöte[n]“ ergibt sich das Bedürfnis nach Sinnproduktion: „Als sprach- und symbolbegabte Wesen können wir diese Folgekosten unserer Flexibilität kompensieren oder zumindest ertragen, indem wir aus eigener Kraft symbolische Orientierungen (Mythen, Religionen, Ideologie) entwerfen, die synthetischen ‚Sinn‘ anbieten und damit Handlungs- und Deutungswahrscheinlichkeiten erhöhen.“ (247) Dass die Kunst auf Entfremdungsphänomene reagiert, ist ein gängiger Topos ästhetischer Theorien. 15 Menninghaus aber macht die Fremdheit in der Welt zu einer ewigen condition humaine, auf die der Mensch mit der evolutionären Strategie ‚Produktion symbolischer Welten‘ reagiert. Verstärkt wird diese Tendenz, wenn Menninghaus, neben der Möglichkeit zur Einübung von Täuschungsstrategien durch die Kunst, Selbsttäuschung bzw. „individuelle[n] und kollektive[n] Selbstillusionierungen“ (250) als spezifisch menschliche Verhaltensweisen, für die es kaum eine Chance der Überwindung gibt, ausmacht. Solchen Selbsttäuschungen und Illusionen schreibt er darüber hinaus evolutionär nützliche Funktionen zu. So wird zum einen menschliche Selbsterkenntnis als kaum zu realisierendes bzw. selbst illusionäres Ziel dargestellt. Zum anderen werden Täuschungen, die sich womöglich aus bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen ergeben und damit historisch überwindbar sind, nicht auf ihre Ursachen hin befragt, sondern schlicht hingenommen und sogar als wertvolles Gut ausgezeichnet: „Für den Menschen, der sich systematisch auf imaginäre Werte, Wesen und Welten hin entwirft, sind Illusionen nicht nur ein kognitives Problem, sondern auch eine kostbare Ressource.“ (251) Mit dieser Mischung aus quasi-existentialistischem Pathos und Abgeklärtheit adelt Menninghaus Täuschungen zu einem überhistorischen menschlichen Bedürfnis. Der Aufklärungsgestus schlägt hier in sein Gegenteil um und der status quo wird als letztlich unhintergehbar ausgewiesen. Darüber hinaus legt Menninghaus seiner Untersuchung einen sehr weiten Begriff der Künste zugrunde, so dass darunter vom Federkleid des Pfaus, über Selbstverzierungen und Schmuck bis zur Kunst im engeren Sinne zu verstehen sind. Ebenso weit (und gleichzeitig verengt) ist der zugrundeliegende Ästhetikbegriff, der vor allem auf das wertende Moment ästhetischer Wahrnehmung bezogen
15 Prominent zu nennen sind bspw. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen oder Adornos Ästhetische Theorie. Auch Georg Lukácsʼ Theorie des Romans und Die Eigenart des Ästhetischen gehören in diese Reihe.
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wird.16 „Ästhetik heißt […] in diesem Buch die Theorie von den Eigenschaften, der Entstehung und den Funktionen ästhetischer Präferenzen, wie sie sich in impliziten und expliziten ästhetischen Wertungen äußern.“ (14) Dabei liegt der Fokus zum einen auf der Rezeption und zum anderen auf den Einzelkünsten. Das hat zur Folge, dass die Frage nach der spezifischen Eigenart der (menschlichen) Künste – auch wenn das eigentlich der Anspruch ist – nicht beantwortet wird. Das gilt ebenso für die Frage nach dem Zusammenhang dieser Künste untereinander, so dass lediglich festgestellt wird, dass der ‚Kollektivsingular‘ „Kunst“ zum einen erst rund 200 Jahre alt und Bestandteil der westlichen Kultur ist.17 Entsprechend weit ist auch Menninghausʼ Begriffsgebrauch, der die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Kunst“ (und Schönheit) ausnutzen kann. Kunst kann in einem weiten Sinne alles sein, wofür besondere Fertigkeiten notwendig sind - das liegt in dem antiken Begriff technê (τεχνή), der für alle Arten des Handwerks und viele andere Tätigkeiten steht. Methodisch ergibt sich so das Problem, dass sich zwar die Anfänge der Künste untersuchen lassen (was eine Evolutionstheorie schließlich leisten soll), dabei aber bereits ein Begriff von Kunst oder Künsten vorausgesetzt werden muss, um überhaupt den Gegenstand der Untersuchung zu bestimmen. Menninghaus orientiert sich dabei mehr oder weniger am Common sense bzw. Sprachgebrauch, der selber nicht mehr hinterfragt wird – man ‚weiß eben was Kunst ist‘. Stillschweigend wird ein Begriff von Kunst vorausgesetzt, ohne dass entsprechende Kriterien entwickelt werden. Es bleibt schließlich nur der Wertungsbegriff „schön“ übrig, der sich aber kaum auf den Bereich der Kunst im engeren Sinne beschränken lässt. Menninghaus beansprucht eine evolutionäre Theorie der menschlichen Künste zu entwickeln und dabei deren Besonderheit gegenüber tierischen „Künsten“ herausstellen, abstrahiert aber von der wirklichen Besonderheit der Menschen. Die spezifischen Umstände der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens nimmt er nicht in den Blick. Unterscheidungen sucht er immer wieder bloß im Bereich kognitiver Fähigkeiten, die selber nicht in ihrer Genese untersucht werden, sondern Ausgangspunkt bestimmter Verhaltensweisen sind. So bleibt das
16 Bewertet werden die „kognitive und affektive Lustfähigkeit“ (13) von Objekten und Ereignissen. 17 Menninghaus selbst begnügt sich letztlich damit, den „Kollektivsingular“ durch den Plural ‚Künste‘ zu ersetzen.
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Prinzip, das er seinem Entwicklungsmodell zugrunde legt, im Dunkeln.18 Entwicklung kann er so nur als Resultat von Lernprozessen auffassen, die selber als bloße Anpassungsleistungen an eine ‚Umwelt‘ aufgefasst werden. Die Menschen werden in dieser Perspektive bloß als Tierart „Mensch“ betrachtet, zu deren „Wesen“ (oder Verhalten) es auch gehört zu denken und eben auch Kunst zu machen, womit nichts erklärt, nur etwas konstatiert ist. So werden die Menschen unter ihre natürliche Seite subsumiert, so dass diese den Menschen als Schicksal entgegentritt. Gesellschaftlichkeit kommt entsprechend bei Menninghaus nur als Kooperation von Individuen und Kohäsion von Gruppen vor. Diese Gruppen können dann mehr oder weniger ‚komplex‘ bzw. ‚ausdifferenziert‘ sein, sie kommen aber immer nur als evolutionäre Strategie der einzelnen Individuen zum Tragen. Damit wird der Eindruck erweckt, es könne diese Individuen überhaupt außerhalb menschlicher Gesellschaften geben und diese seien durch einen Zusammenschluss vorher getrennt voneinander existierender Individuen entstanden.19 So kann Menninghaus auch die Kunst als ein Mittel behandeln, um „soziale Kohäsion“ herzustellen, da es ja in dieser Sichtweise notwendig ist, die Einzelnen zu einer Gruppe zusammenzuschließen. Zudem wird davon abstrahiert, dass es sich bei diesen „Gruppen“ immer um historisch bestimmte handelt, die wiederum untereinander in einem historischen Zusammenhang stehen. Die menschliche Geschichte wird ohnehin in einen natürlichen Prozess übersetzt, der von selbst abläuft und bei dem das menschliche Handeln nur mittelbar eine Rolle spielt. Dass es sich bei diesem Prozess um etwas handeln könnte, das die Menschen selbst gemacht haben (wenn auch ohne ein Bewusstsein davon), kommt in dieser Perspektive gar nicht in Betracht. Damit wird auch die Möglichkeit der bewussten Gestaltung dieses Prozesses durch die eigene Tätigkeit der Menschen undenkbar. So kann die merkwürdige
18 Als Entwicklungsprinzip, bei dem gleichzeitig der Unterschied von Mensch und Tier und die Erzeugung dieses Unterschieds zusammenfallen, schlagen Marx und Engels in der Deutschen Ideologie die Produktion von Lebensmitteln (und damit die Entwicklung neuer Bedürfnisse und produktiver Kräfte) vor. Wenn die Menschen beginnen ihre Lebensmittel zu produzieren, beginnen sie gleichzeitig sich von den Tieren zu unterscheiden. Sie treten dadurch in einen Entwicklungsprozess ein, in dem sie diesen Unterschied immer mehr vergrößern. (Vgl. Marx/Engels 1969, 21). In dieser Schrift findet sich ebenfalls eine Kritik an Positionen, die den Unterschied im Denken sehen, aber nicht erklären können, woher wiederum das Denken kommt. 19 Hier wird die Nähe zum (neo-)liberalen Denken deutlich. Die Vereinzelung der Menschen als Privatproduzenten wird vorausgesetzt und zum Ausgangspunkt genommen. Das Resultat einer historischen Entwicklung wird damit dem gesamten Prozess untergeschoben.
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und widersprüchliche Einheit aus Ahistorizität und Entwicklungstheorie eine bestimmte ideologische Funktion erfüllen. Wenn die menschliche Entwicklung natürlich und von selbst geschieht, ohne dass das menschliche Handeln eine wesentliche Rolle spielt (geschweige denn qualitative Unterschiede hervorbringt), dann können die Menschen ihre Verhältnisse auch nicht bewusst verändern. Konsequent werden auch frühere gesellschaftliche Stufen durch heutige Verhaltensweise erklärt, die kapitalistische Gesellschaftsform als Modell jeder menschlichen Gesellschaft bestimmt. Damit wird einerseits die heutige Form des Zusammenlebens und Wirtschaftens zur natürlichen und andererseits durch die Betrachtung früherer Stufen durch die kapitalistische Brille verewigt. 20 Dazu passen auch die ökonomischen Motive, die der natürlichen Selektion immer wieder zugrunde gelegt werden. Der homo oeconomicus wird durch die Ausblendung von Gesellschaft und Geschichte zum ewigen menschlichen Wesen. Auch Menninghaus, der sich in einigen wesentlichen Punkten von anderen evolutionistischen Theoretikern unterscheidet und einige bemerkenswerte Überlegungen anstellt, scheitert letztlich an einer evolutionären Theorie der Künste – nicht zuletzt deswegen, weil ihm sein Gegenstand, dessen Besonderheit er herausstellen will, abhandenkommt. Da er keinen Begriff der Kunst entwickelt und bloß voraussetzt wir wüssten, was Kunst ist, kann er auch die Frage nach deren Genese nicht beantworten. So versucht er, die menschlichen von tierischen Künsten abzugrenzen, ohne ein Abgrenzungskriterium bestimmen zu können und es bleibt bei einem Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze. Der Mangel besteht dabei nicht darin, die Kunst/Künste aus dem Verhältnis der Menschen zur Natur ableiten zu wollen. Dieser Versuch macht sogar die Stärke des Evolutionismus aus; der genetische Aspekt ist besonders interessant. Allerdings kann der Versuch so lange nicht gelingen, wie die Gesellschaftlichkeit der Kunst ausgeklammert wird. 21 Mit der Fo-
20 Die Übertragung von Mustern der kapitalistischen Ökonomie auf die Natur hat bereits Friedrich Engels an Darwin kritisiert: „Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbeschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlichen Lehre von der Konkurrenz, sowie der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur.“ (Engels 1975, 565). 21 Einen bemerkenswerten, wenn auch ergänzungs- und kritikbedürftigten Versuch einer Ästhetik, die nicht von der Natürlichkeit der Menschen abstrahiert, sondern vielmehr die Gesellschaftlichkeit als menschliche Natur auffasst, entwirft Georg Lukács mit seiner Eigenart des Ästhetischen (1963). Vgl. hierzu auch die Beiträge in Pasternack (1990) und Bollenbeck (2008).
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kussierung auf die Entstehung der Kunst und der Orientierung an einem vorausgesetzten und unbestimmten Schönheitsbegriff können zudem konsequenterweise inhaltliche Fragen nicht gestellt werden, so dass die kritische Dimension von Kunst gar nicht in den Blick geraten kann. Dies wiederum ist eine deutliche Parallele zur Orientierung am aktuellen gesellschaftlichen Zustand, der durch die Interpretation der Natur bzw. Geschichte vermittels der kapitalistischen Gesellschaftsformation zugehöriger Deutungsmuster zur natürlichen (menschlichen) Lebensform wird. Das Anpassungs-Paradigma fügt sich dabei nahtlos ein in die Sachzwanglogik des (Neo-)Liberalismus, von Thatchers T.I.N.A. („there is no alternative“) bis zur Merkelschen Alternativlosigkeit. Die „Märkte“ sind die „Umwelt“, an die es sich anzupassen gilt. Passenderweise empfiehlt Menninghaus die Künste (neben der Religion) als Medium der Sinnproduktion. Die Naturalisierung der Kultur erweist sich hier als gedanklicher Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart und kann zu deren politischer Legitimation genutzt werden.
[4]
L ITERATUR :
Barck, Karlheinz/Kliche, Dieter (2000): „Art. ‚Ästhetik/ästhetisch.“ In: K. Barck et al.. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1. Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar: Metzler. S. 308-400. Bollenbeck, Georg (1999): Tradition – Avantgarde – Reaktion. Deutsche Kontroversen um die Moderne 1880-1945. Frankfurt/M.: S. Fischer Ders. (2008): „Notate zu einer Ästhetik, die mehr Aufhebens verdient hat.“ In: I. Hermann, A.-M. Jäger-Gogol (Hrsg.): Durchquerungen. Für Ralf Schnell zum 65. Geburtstag. Heidelberg: Winter. S. 45-54. Eibl, Karl (2004): Animal poeta. Baustein einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn: Mentis. Engels, Friedrich (1975): „Dialektik der Natur.“ In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 20. 6. Aufl. Berlin: Dietz. S. 307-570. Lukács, Georg (1963): Die Eigenart des Ästhetischen. Werke. Bde. 11 u. 12. Neuwied, Berlin: Luchterhand. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1969): Die deutsche Ideologie. Werke. Bd. 3. 4. Aufl. Berlin: Dietz. Menninghaus, Winfried (2011): Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Der Kulturbegriff der neoevolutionistischen Kulturkritik C LEMENS K NOBLOCH
Der Übergang vom Ideal der allseitig gebildeten Persönlichkeit zum Ideal des kollektiven Überlebens markiert eine geschichtliche Zäsur. […] Eine Humanität, die mit dem Rücken zur Wand darum kämpfen muss, dass die katastrophalen Eventualitäten abgewendet werden und die biologische Substanz der Spezies ,Mensch‘ erhalten bleibt, ist schon deswegen eine reduzierte Humanität. (PANAJOTIS KONDYLIS)
Von allen ökonomischen und sozialen Systemen ist der Kapitalismus zweifellos das natürlichste. Das genügt bereits, um darauf zu verweisen, dass er das schlimmste sein muss. (MICHEL HOULLEBECQ)
226 | CLEMENS K NOBLOCH
[1]
D IE AUSGANGSLAGE : K ULTUR ALS MASSENDEMOKRATISCHER S CHLEPPNETZ -B EGRIFF
Am Platz ist eine methodologische Vorbemerkung: Ich gehe davon aus, dass viel gebrauchte, intensional, extensional, konnotativ und pragmatisch vage Leitbegriffe des Typus Kultur über ein gestaffeltes Aktualisierungs- und Präzisierungspotential verfügen, dessen Ressourcen breit gestreut sind. Sie reichen von strikt lokalen Beziehbarkeiten und Bezügen, die an der jeweils laufenden Textoberfläche (bzw. der textuell manifestierten gesellschaftlichen Praxis) haften, über sprachsystemische Ressourcen, in denen die wechselnden Wertigkeiten und Feldbezüge (valeur im kanonischen Sinne Saussures)1 des Ausdrucks ebenso fungieren wie aktuelle oder vergangene Gegenbegriffe (Natur, Zivilisation, Rasse, Gesellschaft, Unterhaltung etc.), bis hin zu gesellschaftlich zirkulierenden und mit dem Gebrauch des Ausdrucks verbundenen Narrativen, als deren Konzentrat und Kürzel ein Ausdruck gewertet werden kann. So ist im narrativen „Hof“ von Kultur immer noch präsent, dass es sich dabei um etwas für den Menschen Spezifisches handelt – umso größer die Aufmerksamkeits- und Wirkungschance für Verwendungen, die (mehr oder minder weit reichende) „Ansätze“ von Kultur auch in der Tierwelt behaupten. Zu den fallweise aktivierbaren Präzisierungsressourcen gehören natürlich auch die begriffshistorisch langfristig akkumulierten Spuren der gesellschaftlich im jeweiligen Ausdruck „artikulierten“ Programme, Selbstdeutungen und Machtpraktiken (im Sinne von Maas 1985). So hat Kultur für die deutsche „Kulturnation“ einen starken identitätsstiftenden Unterton, der vor allem ex negativo an den Wirkungen gezeigt werden kann, die sich aus der Kombination mit ausgrenzen Stigmawörtern ergibt – bei Kultur schlagend gewiss an der Droh-, Angst- und Schreckparole vom (allenthalben grassierenden) Kulturbolschewismus, die am Ende der Weimarer Republik die „Gebildeten“ scharenweise der NSDAP zu trieb (Laser 2010). Ähnliche Intuitionen sucht etwa die „framesemantische“ Analyse von Terminologien zu systematisieren, die davon ausgeht, dass Ausdrücke im Gebrauch mit wechselnden (und fallweise rekonstruierbaren) Bezugssystemen verbunden und von diesen her gewissermaßen semantisch „gefüllt“ werden. Und in diesem Sinne gehören – neben sprachsystemischen valeurs und textuellen Ressourcen - auch Wissens- und Handlungsframes, die (mehr oder weniger) lokal aktiviert werden, zu den Präzisierungsressourcen, mit deren Hilfe die definitorische Unklarheit von Kultur im Sprachgebrauch „repariert“ wird.
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In dem Sinne, dass ein Ausdruck für alles steht, was er distributiv zugleich negiert , indem er es paradigmatisch ersetzt.
K ULTURBEGRIFF
DER NEOEVOLUTIONISTISCHEN
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Um die Bandbreite eines solchen „Schleppnetzbegriffs“ (Eibl 2009: 159) wie Kultur exemplarisch vorzuführen, beginne ich mit drei illustrativen Fällen. Zuvor sei noch erwähnt, dass ich einstweilen die Einzelsprachlichkeit des Kulturbegriffs ignoriere und ihn (bis auf weiteres) unzulässigerweise mit angelsächsisch culture gleichsetze. Die Grenzen dieses Verfahrens werden sich zeigen. [a] Mitt Romney, zur fraglichen Zeit US-Präsidentschaftskandidat der Republikaner, äußert gegenüber der Presse bei einem Wahlkampfbesuch in Israel, der (im Vergleich zu den Palästinensern) größere wirtschaftliche Erfolg der Israelis in der (israelisch besetzten) Westbank, habe seinen Grund in „kulturellen Unterschieden“ (cultural differences) zwischen den beiden Gruppen. Vorhersagbar (und zweifellos kalkuliert) ist das auf diese Äußerung einsetzende Aufheulen der liberalen Medien, welche an Jahrzehnte israelischer Okkupation, Landnahme, Zerstückelung, Behinderung palästinensischer Wirtschaft etc. erinnert wissen wollen (und ein gebräuchliches Muster der „Kulturalisierung“ machtpolitischer Gegensätze und imperialer Attitüden erkennen). Im Gegenzug können Fundamentalisten und Ultras (in den USA und Israel) für „kulturell“ gerne auch „religiös“ oder „ethnisch“ oder „rassisch“ einsetzen und den Kandidaten somit als einen der Ihren identifizieren. Polemisch bezieht sich die Äußerung auf das offiziös eingeforderte Bekenntnis zur „Gleichheit“ und „Gleichwertigkeit“ aller Kulturen. So heißt es in dem meist als „Brandt-Report“ zitierten Bericht der Nord-Süd-Kommission, der Geburtsurkunde des staatlichen Multikulturalismus: „We take it for granted that all cultures deserve equal respect, protection, and promotion“. Diese Episode verweist einesteils auf einen uralten Komplex der Legitimierung imperialer und kolonialer Vormacht durch selbst erklärte „kulturelle“ Überlegenheit. Sie zeigt Kultur als eine diskursive Sphäre, auf die Ungleichheit projiziert und zugerechnet und in der sie zugleich legitimiert und (horribile dictu) naturalisiert werden kann. Sie zeigt aber auch im konkreten Anlass, dass als Kern kultureller Überlegenheit der wirtschaftliche Erfolg zu gelten hat und negiert somit die semantischen Traditionen, die den zweckfrei-ästhetischen Komplex von Bildung & Kultur der zweckhaften Sphäre von Technologie und Wirtschaft entgegenstellt (und in der deutschen Tradition auch: überordnet). Dass zugleich die offiziöse Feiertagssemantik des staatlichen Multikulturalismus vorgeführt wird als das, was sie ist: pure Heuchelei, bildet gleichsam das Sahnehäubchen auf den so gebündelten diskursiven Ressourcen. Denn natürlich zögern die jetzt so empörten liberalen Medien keinen Augenblick, wenn es darum geht, jedes Vorrücken einer wirtschaftsliberal-hedonistischen Konsumkultur irgendwo in der Welt als „demokratischen“ und „kulturellen“ Fortschritt zu feiern. Auf die Kultur (bzw. auf kulturelle Unterschiede) lässt sich, so gesehen, projizieren, was machtpolitisch nicht
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direkt prozessiert werden kann, es handelt sich um eine Ausweichsphäre, von der her legitimiert werden kann, was ansonsten moralisch anstößige Übermacht wäre. [b] Zu einer ganz anderen Sphäre gehört das zweite exemplum. Es ist nur für den Kenner als zutiefst partisan zu erkennen, weil es auf den ersten Blick nahtlos zu den Meldungen passt, die in den Wissenschaftssparten der gehobenen Zeitungen zur täglichen Kost gehören: „Dolphins sponge up culture“, so titelt The Nation (5. August 2012) in einem von AFP übernommenen Text. Der berichtet darüber, dass in einer bestimmte Delphinart die Individuen, die gelernt haben, sich eines Schwammes zum Schutz ihrer Schnäbel und zum Aufschwämmen ihrer Beute bei der Nahrungssuche auf dem Meeresgrund zu bedienen, sich auch bevorzugt untereinander assoziieren, obwohl die Nahrungssuche eine „individuelle“ Aktivität ist, also keine Kooperation und auch kein wechselseitiges Lernen zwischen den Individuen erfordert. Eine solche „zweckfreie“, für die Reproduktion der Individuen „eigentlich“ nicht erforderliche Assoziation „gleichartiger“ Individuen, entspricht der genegoistischen Vorstellung von Kultur als einer Assoziation „gleicher“ Individuen, die aber dabei auf Kooperation und Altruismus der anderen nicht angewiesen sind – während für die konkurrierende Ansicht im Neoevolutionismus Kultur erst da beginnt, wo die Individuen lernen (oder mit der Anlage geboren sind), ihre Kräfte kooperativ zu bündeln, indem sie Gelerntes an andere Individuen derselben Gruppe weitergeben (vgl. Tomasello 2010: 9-12, Wilson 2012: 212-215). Die Meldung kündet also eigentlich von konkurrierenden Terminologisierungen des Ausdrucks „Kultur“ im Neoevolutionismus. Und in diesem Zusammenhang stützt sie das Deutungsmuster, wonach unter „Kultur“ eine jede genetisch nicht motivierte, sekundäre Vergesellschaftung individueller Akteure zu verstehen sei. Wir werden Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen. [c] Ein weiteres pragmatisch-semantisches Feld wird markiert durch einen Rundfunkbeitrag in WDR 5 (14.11.2012) zu dem Thema, ob Computerspiele eine „Kulturform“, ein „Kulturgut“ seien oder doch sein könnten. Wiewohl das Genre an der Öffentlichkeit schlimmstenfalls in dem Ruf der Verrohung und Verdummung („Ballerspiele“), bestenfalls in dem der bloßen Unterhaltung stehe. Hier wird Kulturalisierung als Aufwertungsstrategie greifbar. Indem die öffentliche Aufmerksamkeit auf „anspruchsvolle“ Computerspiele gelenkt wird, hilft man bei einer meliorativen Verschiebung der Denotationssphäre für diese auf der semantischen Treppe, die von bloßer „Unterhaltung“ über „Kultur“ aufwärts zu „Kunst“ führt. Es steht zu vermuten, dass in dieser Episode Restbestände des „deutschen Deutungsmusters“ nachwirken, mit deren Hilfe sich profane Formate aus Unterhaltung und „Massenkultur“ bildungsreligiös adeln lassen. Die Beispiele für dieses
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Verwendungsmuster sind Legion. Die SZ bringt (13.12.2012) einen mit „Kulturgut Fußball“ überschriebenen Leitkommentar, an dem sich die Strategie der diskursiven Aufwertung milliardenschwerer Massenunterhaltung bis in die Kollokationsstruktur der Sätze zeigen lässt: „Der Fußball hält sich mit einigem Recht für ein Kulturgut. Seine Profiklubs bezahlen etwa eine Milliarde Euro an Steuern im Jahr. Dass sie sich dagegen wehren, Polizeikosten in Rechnung gestellt zu bekommen, ist zu verstehen. […] wer Kulturgut sein will, muss sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung stellen. In der kommenden Saison erlösen die Profiklubs alleine aus der Vermarktung ihrer TV-Rechte 200 Millionen Euro mehr.“ (SZ vom 13.12.2012, S. 4)
Nicht sehr weit entfernt von diesem lassen sich die (leicht zu vermehrenden) Beispiele der „Wirtschafts- und Unternehmenskultur“ auf den Kommentarseiten der Qualitätszeitungen ansiedeln. Sobald sich in einem Wirtschaftsunternehmen Konturen von Bestechung, Misswirtschaft, überriskanter Spekulation abzeichnen, erfolgt stereotyp der Verweis auf die „Unternehmenskultur“, die verändert werden müsse. Bei Thyssen/Krupp leidet man gerade an dieser unliebsamen Publicity, weshalb die SZ nicht weniger fordert als eine „Kulturrevolution“ in diesem Großkonzern.2 Wenige Tage später ist Ähnliches über die Deutsche Bank zu lesen etc. Daneben stehen aber, nicht minder stereotyp, die Definitionen der „Wirtschaftskultur“ als Gesamtheit der zeitlich relativ stabilen Werte und Einstellungen, die selbst ein Faktor im Wettbewerb (und ergo diesem unterzuordnen) seien (vgl. Abelshauser, Gilgen & Leutzsch 2012). Im Wirtschaftsbereich der großen Zeitungen, im ökonomischen Interdiskurs, kann „Kultur“ ebenso wohl zur Aufwertung profitorientierter Aktivitäten oder zur Marginalisierung von ökonomischer Kriminalität wie auch als (mehr oder minder attraktiver) „Standortfaktor“ für die Ansiedlung von Unternehmen eingesetzt werden. Diese drei Episoden sind natürlich weit entfernt davon, die Bandbreite der medienöffentlichen Verwendung des Kulturbegriffs abzudecken. Sie markieren lediglich einige wenige Fähnchen auf einem schwer zu kartierenden Terrain, das die Gesamtheit der qua „Kultur“ aktivierbaren Sinnressourcen umfasst und hier keineswegs umfassend rekonstruiert werden kann. Die Episoden deuten nur an, womit die interdiskursive Verwendung von Kultur zu rechnen hat. Die folgende Untersuchung richtet sich ausschnitthaft lediglich auf die Thematisierungen von
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Maliziös ließe sich anmerken, dass eine solche „Kulturrevolution“ wohl darin bestünde, dass sich nicht viel ändert, aber die Medien womöglich günstiger berichteten.
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„Kultur“, die vom Boden des populären Evolutionismus aus erfolgt, also von einer programmatisch weit ausgreifenden Naturwissenschaft mit „Schlüsselattitüde“. Gegenüber dem diskursiven Terrain der „Kultur“ kann sich der populäre Evolutionismus auf ganz unterschiedliche Weise positionieren. Er kann sich für „unzuständig“ erklären, den eigenen Erklärungsanspruch auf traditionell für „kulturwissenschaftlich“ geltende Fragen ausweiten (z.B. durch den Nachweis „kultureller“ Wirkfaktoren nicht bloß bei Menschen oder durch Zuständigkeitserklärung für die natürlichen Grundlagen aller Kulturen),3 die Differenzen naturevolutionär und kultureller Tradierung von Merkmalen herausstellen (etwa in dem Topos „darwinistische Naturevolution“ vs. „lamarckistische Kulturevolution“), alle „kulturellen“ Ordnungen für Epiphenomene evolutionsanaloger Naturgesetze erklären etc. Sehr auffallend ist das Miteinander und Nacheinander höchst heterogener und (auch in sich) widersprüchlicher Konzeptualisierungen des Kulturellen im Evolutionismus, das als konzeptuelle Schwäche ausgelegt werden könnte, tatsächlich den Anspruch auf autoritative Deutungen der Kultur jedoch unterstreicht: Im Spiel gibt es eine Vielzahl evolutionistischer Modelle der Kultur. In jedem Falle aber geraten diese in Kontakt mit den historisch kumulierten Sinnressourcen des interdiskursiven Kulturbegriffes, müssen diese abstoßen oder integrieren etc. Auch die Thematisierung von Kultur in den Grenzen des Evolutionismus hat naturgemäß (ist man versucht zu sagen) mit den Sedimentierungen der eigenen Diskursgeschichte zu rechnen. So galt mehreren Generationen von Darwinisten Kultur (qua Gesellschaftsbildung und Konstruktion eigener Umwelten) als „Insulation“4 und Abschirmung der Individuen gegen natürlichen Selektionsdruck. Unter den Bedingungen kultureller Reproduktion, so meinte man, überlebt auch, was den Härten der natürlichen Auslese ansonsten nicht gewachsen wäre – und man tradierte damit die in einer solchen Axiomatik unweigerliche mitlaufenden „Chancen“ der Naturüberwindung und die kollateralen „Risiken“ der Degeneration (oder „Verhausschweinung“ des Menschen, wie Konrad Lorenz zu schreiben beliebte). Neben diesen vor allem in der Kulturkritik weiter laufenden und abrufbaren Ambivalenzen gibt es aber auch die (womöglich tiefer sitzende) Überzeugung von der Überlegenheit kultureller Adaptierungen gegen die kurzsichtige natürliche Selektion: „Humans seem to be predisposed to believe that culture provides a fundamentally superior mode of adaptation.“ (Boyd & Richersen 1985: 283)
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Dies ist erkennbar das Muster der Soziobiologie und der evolutionistischen Psychologie.
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Zu diesem auf Hugh Miller (1964) zurückgehenden Theorem der „insulation from selective pressure“ vgl. Claessens (1970), der einen vorzüglichen Überblick über die damalige Welle evolutionistischen Denkens in den Humanwissenschaften gibt.
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So argwöhnen die beiden Vertreter einer dual inheritance-Theorie des menschlichen Tuns, nach welcher die natürliche Selektion langfristig auch an kulturell erzeugter Variation ansetzt, umgekehrt Kulturen aber auch Züge und Verhaltensweisen bestätigen können, welche die genetische Fitness ihrer Träger keineswegs erhöhen (Boyd & Richerson 1985: 285). Erkennbar werden die Konturen einer Konstellation, in der einerseits die Strahlkraft des Kollektivsingulars „Kultur“ (durch biologische Relativierungen) abnimmt, während andererseits die multikulturelle Varianz naturevolutionären und biologischen (bzw. ökologischen) Beurteilungskriterien unterworfen wird. Eine weitere These, die ich in diesem Zusammenhang en passant plausibel machen möchte, ist eher wissenschaftssoziologischer Natur. Sie lautet: Die Schlacht um den evolutionistischen Kulturbegriff, ja die gesamte Auseinandersetzung über die Axiomatik des modernen Evolutionismus wird zusehends nicht im Feld der (sei es biologischen, sei es sozialwissenschaftlichen) Fachdiskurse geführt, sondern im Medium breit und außerfachlich adressierter interdiskursiver Foren. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Neuauflage des Haeckelschen Monismus, dessen breite politisch-weltanschauliche Wirkung (Sozialdarwinismus, Eugenik, Rassenkunde etc.) bei allem fortdauernden Streit im Detail unbestritten ist, entpuppt sich als etwas durchaus Neues: Während der Monismus der „Welträtsel“ ebenfalls ein breites Publikum erreichte und dessen „naturwissenschaftliche“ Einstellung zu gesellschaftlichen Fragen prägte, hielt sich sein Einfluss auf disziplinäre Axiomatiken (die biologische eingeschlossen!) in sehr engen Grenzen. Der moderne, populäre Evolutionismus hingegen prägt nicht allein die kurrente Weltanschauung, er dringt auch tief in die Grundlagen fachlicher Diskurse in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in Psychologie und Soziologie ein. Und er bringt die axiomatischen Entscheidungen der Evolutionsbiologie (Egoismus vs. Kooperation, Gene als Replikatoren, Individual- vs. Gruppenselektion etc.) vor ein breites, außer- und überfachliches Publikum. So betrachtet handelt es sich bei der neoevolutionistischen Kulturdebatte um ein Symptom für das, was Weingart (2001: 26f) als geschrumpfte Distanz zwischen Wissenschaft und (Medien-) Öffentlichkeit bzw. als Politisierung, Ökonomisierung und Medialisierung der Wissenschaften in den Blick nimmt.
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D IE E NDMORÄNEN DES „ DEUTSCHEN D EUTUNGSMUSTERS “; R ÜCKBAU DES B EWEGUNGSBEGRIFFS , POSTKOLONIALE UND MULTIKULTURELLE „E GALITÄT “, W ERTUNGSABSTINENZ , E RFOLGSPRINZIP , M ASSENKULTUR ALS M ASSSTAB
Zur begrifflichen Ausgangslage in Sachen „Kultur“ gehört es, dass die bildungsreligiöse Emphase des „deutschen Deutungsmusters“ (Bollenbeck 1994) mit dem Niedergang seiner Trägerschichten stark ernüchtert, ihrer Strahlkraft beraubt und programmatisch weitgehend neutralisiert worden ist. Die Kulturnation ist eine nostalgische Reminiszenz, und an die Stelle exklusiv-emphatischer Hoch- und Eigenkultur tritt nicht allein der offiziöse egalitäre „Multikulturalismus“5 der Brandt-Kommission (s.o. Abschnitt [1a]), zu verzeichnen ist auch ein Vorrücken des rein deskriptiven Kulturbegriffs der Ethnographie, der als „Kultur“ einfach die Gesamtheit der symbolisch-institutionellen Ordnungen einer beliebigen Gesellschaft verstanden wissen möchte. Auf dem (denotativ sehr viel engeren) Gebiet der (sagen wir:) Feuilletonkultur entspricht dieser Ernüchterung und Egalisierung das Vorrücken der ehedem als „Massenkultur“ abgegrenzten Felder (Popmusik, Jazz, Musical, Comic, Massensport etc.) zu gleichberechtigten Themen der Kultursparte auch in den „Qualitätszeitungen“ und die Einsortierung der ehemals „hochkulturellen“ Gebiete (Theater, Oper, klassische Musik, Literatur) als Subkulturen unter anderen Subkulturen. Vor einem solchen Hintergrund ist die oben umrissene sprachliche Aufwertung etwa von Computerspielen als „Kultur“ oder gar „Kunst“ (in [1c]) zu verstehen. Mit dieser massen- und multikulturellen „Egalisierung“ der Kultur geht beinahe zwangsläufig der Verzicht auf offen wertende, hierarchisierende Sprachpraktiken einher. Systemtheoretisch gesprochen fehlt der egalisierten und ernüchterten Kultur der Gegenbegriff und somit das Exklusionspotential (vgl. Luhmann 1996). Kulturen könne offiziell verglichen, aber nicht gerankt werden. So wenig es als „politisch korrekt“ gilt, wirtschaftlichen Erfolg auf kulturelle Überlegenheit zurückzuführen, so sicher ist die Hypothese, dass der (vor allem ökonomische) Erfolg tatsächlich im Orientierungswissen der Akteure die manifeste Wertung vertritt und ablöst.. Was sich als Wirtschaftsfaktor ausweisen lässt, ist auch leicht
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Ein Schlagwort, das selbst natürlich bereits vielfach diskurslinguistisch seziert worden ist.
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kulturell zu adeln. Die symbolische (und zunehmend auch ökonomische) Unterwerfung von „Bildung und Kultur“ unter Verwertungszwänge fördert die stillschweigende Gleichsetzung von ökonomischem Erfolg und kulturellem Wert. Niklas Luhmann (1996), der in der historischen Semantik die großen Linien liebt, sieht (auf Herder verweisend) die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommende und reüssierende Kultursemantik als den Vorboten eines Modus der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, der zwar an Vergleichen (neudeutsch: an diversity) interessiert ist, aber nicht mehr an der kämpferischen Exklusion des „anderen“ als fremd, barbarisch, minderwertig, wie sie in der Architektonik asymmetrischer Gegenbegriffe (Christen/Heiden, Griechen/Barbaren, Arier/Juden) realisiert ist. Möglicherweise verlegt er da etwas an die Quelle der Kultursemantik, was erst an deren (gegenwartsnaher) Mündung wirklich wirkmächtig geworden ist. Denn die Konjunktur der Fortschrittslinie von Wildheit über Barbarei zu Zivilisation steht ja – ebenso wie der Imperialismus - da noch bevor.6 Aber an der Stichhaltigkeit dieser inversen Prophetie für die neueren Verwendungen des Kulturbegriffs besteht kein Zweifel. Dass der alte, deutsche Kollektivsingular „Kultur“ längst wieder repluralisiert ist zum Sortenplural „Kulturen“, mag da bloß ein äußerliches Symptom sein. Und dass hinter der fröhlichen Multikulti-Konjunktur ein (nach seiner Reichweite schwer einzuschätzendes) All-Inklusionsprogramm steht, ist ebenfalls kaum ernsthaft zu bezweifeln. Kaum zu bezweifeln ist allerdings auch der reaktive Charakter dieser semantischen Umarmung des Fremden in den hegemonialen Kulturen: Sie dient in praxi dazu, die Abwehr- und Exklusionsbereitschaft der Eigengruppe zu zähmen und zu dämpfen (und sie nach außen hin möglichst unsichtbar zu machen). Das egalitäre semantische Programm verbannt die (im Zweifel höchst eindeutige) Bewertung und Hierarchisierung der Kulturen lediglich auf die Hinterbühne, inoffizialisiert sie gewissermaßen. Im manifesten Krisenfall taucht sie dann, keineswegs unerwartet, wieder auf: „Die Griechen“ wollen nicht sparen, wie wir wissen – und das, obwohl „wir“ sie seit Jahren unverzagt „retten“. Dennoch hat Luhmann (1996) sicher etwas Richtiges getroffen: Uns erscheinen Kulturen, z.B. Religionen, die Nicht-Zugehörige als Barbaren, Ungläubige etc. „barbarisieren“ und mit asymmetrischen Gegenbegriffen traktieren, ihrerseits als barbarisch, d.h. sie werden von uns mit Exklusion bedacht. Weiterhin unterstreicht der Anspruch des populären Evolutionismus, Aussagen über Kultur schlechthin zu machen, die naturwissenschaftliche Erneuerung des Kollektivsingulars, dass es um Inklusion und Vergleichung geht – was eben Wertung und Ausschluss auf die Hinterbühne drängt. Der Evolutionismus misst (wie
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In diesem Zusammenhang und an dieser Sach- und Zeitstelle dürfen wir „Zivilisation“ getrost als Quasi-Synonym von „Kultur“ nehmen.
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zu zeigen sein wird) die Kulturen an der nachhaltigen Stabilisierbarkeit ihrer organisierten Natur- und Gesellschaftsbeziehungen. Während die selbst vom Geist des evolutionistischen Fortschritts durchdrungene Kulturanthropologie des späten 19. Jahrhunderts (mit ihren Stufen der der „Wildheit“, der „Barbarei“ und schließlich der „Zivilisation“) Selbstbeschreibungsbegriffe (Kultur/Zivilisation) ganz selbstverständlich mit Fremdbeschreibungsbegriffen linear koppelt – wer das Schema verwendete, rechnete sich selbst unweigerlich zur Stufe der „Zivilisation“ –, entwickelt sich spätestens seit Franz Boas auch eine Perspektive, welche „Kulturen“ zugleich universalisiert und singularisiert und sich der suggestiven „Vorgängeroptik“ entzieht, die alles andere nur als ein evolutionär Früheres, als ein „noch nicht“ wahrnehmen kann. Gleichwohl bleiben Verzeitlichung und Wertung natürlich latent an Bord, wenn von Kulturen die Rede ist. Man muss nur neben einander stellen, was Diamond (2005) veranstaltet, wo er längst untergegangene vorindustrielle „Kulturen“ mit der gefährdeten Gegenwart unter dem Gesichtspunkt nachhaltig auf Dauer stellbarer Naturverhältnisse vergleicht, und was er in seinem jüngsten Buch (Diamond 2012) als bedenkenswerte Lektionen vorstellt, die traditionelle Sammler-und-Jäger-Gesellschaften der industriekapitalistischen Gegenwart erteilen könnten (Kindererziehung, Umgang mit Gefahren, Konfliktregulierung etc.). Einerseits ist der Kulturvergleich enttemporalisiert: Nichts spricht gegen eine direkte Konfrontation von Spätkapitalismus und Sammler-Jäger-Kulturen, andererseits heißt „später“ in der Hauptsache nicht „besser“, sondern wegen potenzierter technischer Möglichkeiten vor allem „gefährlicher“ – mit Bezug auf die Dauerhaftigkeit und „Nachhaltigkeit“ der Naturverhältnisse. Vermieden wird mit der Entkopplung von Zeit und Wertung (zumindest potentiell) der Motivkreis vom edlen Wilden (Die Steinzeitjäger haben überall, wo sie sich ausgebreitet haben, die Großsäuger ausgerottet, sie waren ökologisch „auch nicht besser als wir“ etc.). Es gibt keinen automatischen Fortschritt, aber auch keinen automatischen Rückschritt. Und so entsteht ein Raum, in dem vernünftig und rational gehandelt werden kann (und in dem ungleichzeitige Kulturen evaluativ verglichen werden können). In Frage steht eher die langfristige Vereinbarkeit kultureller Ordnungen (oder DER Menschenkultur schlechthin) mit dem „Rest“ der Natur und ihrer Evolution. Offiziöse kulturelle Selbst- und Fremdbeschreibungen finden im Medium „multikultureller“ Toleranz und prinzipiell unterstellter Gleichwertigkeit statt. Programmatische Überlegenheitserklärungen der jeweiligen Eigenkultur sind verpönt und „unkorrekt“, wie die Reaktionen auf das oben skizzierte Israel/PalästinaBeispiel zeigen. Gleichwohl wäre blind, wer übersehen wollte, dass allenthalben kulturell kodierte Konflikte ausgetragen werden. Kondylis (2001: 90ff) hat argumentiert, dass einesteils die defensive Berufung auf Kultur den Anspruch geltend
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macht, als autonomes Subjekt wahrgenommen zu werden (und nicht als koloniales Objekt), dass anderenteils die kulturelle Differenz dann polemisch aufgeboten wird, wenn innere und äußere Gegner als nicht integrierbar dargestellt werden. Rhetorisch endet die Gleichwertigkeit der Kulturen bei der Diagnose „Fundamentalismus“ oder „Missachtung der Menschenrechte“, aber subkutan und implizit ist die Höherbewertung der Eigenkultur bereits in den „Normalitätsklassen“ der Länder und Regionen präsent (Link 2006). Im politischen Interdiskurs – und das legt Kondylis (2001) bereits frei - ist die rhetorische Kulturalisierung von Konfliktlinien demnach sowohl ein Mittel der multikulturellen Einhegung als auch ein Mittel der Eskalation und Verschärfung der Gegensätze. Gegensätze können „bloß“ kulturell sein und damit bearbeitbar und tolerierbar oder aber prinzipiell kulturell und damit unvereinbar. Mit solchen – auf den ersten Blick unüberbrückbaren – Gegensätzen wird bei der Analyse des zeitgenössischen Kulturbegriffes zu rechnen sein. Womöglich bildet die friedliche Koexistenz von Eskalations- und Deeskalationspotentialen im nämlichen Ausdruck die massendemokratisch interessanteste Ressource der Kultur. Es ist vor allen Dingen die „Naturalisierung“ kultureller Differenzen qua Gene, Rasse etc., auf die der neue, multikulturelle Evolutionismus demonstrativ verzichtet. Bei Jared Diamond (1994: 280) können wir lesen, dass die Konflikte zwischen expandierenden und anderen menschlichen Populationen immer von kultureller Diskrepanz geprägt worden seien. Militärische, wirtschaftliche, institutionelle Überlegenheit seien dafür verantwortlich, wer sich durchgesetzt habe: „All diese kulturellen Unterschiede wurden früher auf eine genetische Überlegenheit der vordringenden, ‚höher entwickelten‘ Völker über die eroberten ‚Wilden‘ zurückgeführt. Dafür fehlt indessen jeder Beweis. Dass Erbanlagen die ihnen zugedachte Rolle spielen könnten, wird schon durch die Leichtigkeit widerlegt, mit der Menschen unterschiedlichster Abstammung fremd kulturelle Techniken meistern, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen, sie zu erlernen.“ (Diamond 1994: 280)
Das hartnäckige Fortbestehen kultureller „Fehlanpassungen“ wird im Neoevolutionismus auf zwei Quellen zurückgeführt: Irrationale, schädliche (oft: religiöse) kulturelle Eigenregeln und –normen oder auf das „Steinzeitjäger im Spätkapitalismus“ – Motiv, das davon handelt, dass unsere Natur nach wie vor an steinzeitliche Verhältnisse angepasst sei, an die Verhältnisse also, die sie allererst stabilisiert habe. In jedem Falle ist „Kultur“ auch im diskursiven Rahmen einer Gesellschaft nicht (oder kaum noch; s.o.) exkludierend zu gebrauchen. Kultur ist, was wir teilen, was uns gemeinsam ist, ist „Massenkultur“ (wobei die Anführungszeichen
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darauf hinweisen, dass der Ausdruck Massenkultur referentiell in der Hauptsache nur auf einen Sektor des Kulturbetriebs verweist). Als Selbstbeschreibungsbegriff im Feld von Evolutionismus und Ökologie verweist „Kultur“ zusehends auf unsere konsumistische, unökologische, die eigene Reproduktion langfristig gefährdende Lebensweise. Es handelt sich somit um einen Begriff, der (z.B. unter Absehung von jeglicher sozialen, subkulturellen etc. Differenzierung) ein masseninkludierendes, selbstgefährdendes „Wir“ konstituiert, eine Art milde selbstkritisches Synonym für „unsere Lebensweise“.
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S PIELARTEN DES SZIENTIFIZIERTEN K ULTURBEGRIFFS IM E VOLUTIONISMUS
Es war eigentlich erst die Ethologie, die den Evolutionismus auf das angestammte Terrain der Kultur befördert hat. Die von Heinroth, Lorenz, Tinbergen begründete Tierverhaltenslehre revolutionierte das evolutionistische Denken, indem sie Verhaltensmerkmale als ebenso durch Gene, Selektion und Überlebensvorteile bestimmt und geformt postulierte wie Körperbau und Anatomie. Auch veränderte Signal- und Verhaltensrepertoires können zur Herausbildung neuer Arten führen (viele Singvogelarten weisen z.B. kaum anatomische Unterschiede auf). Die verhaltenswissenschaftliche Terminologie (Prägung, Ritualisierung etc.) beförderte zusätzliche den Transfer zwischen Kultur und Tierverhalten, und es ist hernach wenig verwunderlich, dass die ersten Gehversuche der Evolutionslehre im Feld des menschlichen Verhaltens da stattfanden, wo es (in der humanethologischen Perspektive) gefährliche Domestikationseffekte des Menschentiers durch Kultur zu besichtigen gab. Als domestikationsähnliches Phänomen galt Kultur als von Anfang an gefährdet, was die Brücke schlägt zum Rousseauistischen Entfremdungsrisiko, das die Menschheitsgeschichte von Anbeginn (oder jedenfalls vom Beginn des Eigentums an!) begleitet. Kultur, so kann man resümieren, galt der ersten Ethologengeneration als ein prekärer Modus der Bildung von Pseudospezies´ durch verselbständigte Modi und Techniken des Signalisierens. Die Einbeziehung von Verhaltensmustern in das evolutionäre Geschehen bahnt überhaupt erst den Weg zur strikten Analogisierung von Arten und Kulturen, wie wir sie (nicht nur, aber vor allem) in den populären und extrem einflussreichen Schriften von Konrad Lorenz (1963, 1973) finden:
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„Menschliche Kulturen entstehen also nicht, wie eine vereinheitlichende Geschichtsphilosophie postulierte, in linearer Aufeinanderfolge und einer einheitlichen Gesetzlichkeit folgend, sondern, genau wie Tier- und Pflanzenarten, unabhängig voneinander, ‚polyphyletisch‘, wie der Stammesgeschichtsforscher sagen würde.“ (Lorenz 1973: 236)
Alle Kulturen bauen auf phylogenetischen Grundlagen, ihre Leistungen sind nicht trennscharf abzusetzen von der Stammesgeschichte. Die (quasi-lamarckistische) Weitergabe erworbener Eigenschaften ist eine allgemeine Errungenschaft aller Kulturen, aber selbstverständlich können Errungenschaften auch wieder verloren gehen. Lorenz arbeitet zwar unbefangen mit den evaluativen Epitheta „höher“ und „niedriger“, lehnt aber, wie das obige Zitat zeigt, den Automatismus von Wildheit – Barbarei – Zivilisation, der für das 19. Jahrhundert so kennzeichnend ist, strikt ab. Jede Kultur entwickelt sich sozusagen auf eigene Rechnung und ungeplant in eine Richtung, die von ihrer eigenen Dynamik bestimmt ist, allgemeine Gesetze gibt es nicht. Sein zentrales kulturkritisches Narrativ lautet: die hoch dynamischen und (im Vergleich mit der Evolution) sehr „schnellen“ Kulturen laufen der phylogenetisch programmierten Natur der Menschen davon, sie geraten in Widerspruch zu dieser, und das führt zu ihrem schließlichen Untergang. Weil Kulturen sich als „Pseudospezies“ leicht kreuzen, mischen, bastardieren lassen (Lorenz 1973: 255), sind sie weiterhin auch gefährdet durch den Verlust der für positive interkulturelle Selektion nötigen Varianz. Die „egalitäre“ Menschheitskultur, die Konrad Lorenz heraufziehen sah, konzentriere Konkurrenz in einem, nämlich dem wirtschaftlichen Sektor und ruiniere somit die sozialen Instinkte der Individuen, die doch auf vielen Wegen nach Anerkennung durch die Gruppe streben. Ein Mensch sei gar kein Mensch, schreibt Lorenz (1973: 272), den analogen Satz des Schimpansenforschers Yerkes aufgreifend, der gesagt hat, ein Schimpanse allein sei gar kein Schimpanse. Es ist natürlich bezeichnend, dass der universalisierte wirtschaftliche Egoismus, der bei Lorenz als so etwas wie ein kulturelles Entartungsprodukt erscheint, im späteren genegoistischen Paradigma des Neoevolutionismus zum allgemeinen Natur- und Normalzustand mutiert. Umgekehrt sieht Lorenz das heraufziehende „menschheitliche“ Wir, das den gedämpften Optimismus der jüngeren evolutionistischen Kulturkritik (Jared Diamond) begründet, eher als Verlust kultureller Varianz! Zwischen Konrad Lorenz und Richard Dawkins wechseln das „Normale“ und das „Pathologische“ beinahe vollkommen die Seiten. Als wichtigster Scharnierbegriff zwischen Stammesgeschichte und Kultur fungiert die „Ritualisierung“. Allenthalben findet man innerartlich ritualisierte, für Signalzwecke überprägnant und unwahrscheinlich herausgearbeitete Verhaltensweisen, die das Ineinandergreifen der Verhaltensweisen bei Paarung, Balz, Fütte-
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rung der Jungen etc. steuern. Hoch ritualisierte Kommentkämpfe regeln die Rangordnung der um Fortpflanzungschancen konkurrierenden Männchen bei vielen Arten. Droh- und Befriedungsrituale regeln das Sozialleben geselliger Tiere etc. Kulturen gelten als humanspezifische Ritualordnungen: „So ziemlich alles, was wir in Gegenwart anderer tun, ist von kultureller Ritualisierung beeinflusst.“ (Lorenz 1973: 284) Kulturelle Ritualisierungen durchziehen das wahrnehmbare Verhalten von Kulturangehörigen. Scham und andere peinliche Gefühle sorgen dafür, dass wir Verletzungen der rituellen Ordnung meiden. Die Symbole des Gruppenzusammenhalts sind ebenfalls kulturelle Ritualisierungen etc. Der Hang, das Verhalten anderer Mitglieder der Eigengruppe zu imitieren, ist artspezifisch angeboren und wird in allen Kulturen ausgenutzt. Lorenz (1973: 306) zieht eine ausdrückliche Parallele zwischen stammesgeschichtlichen und kulturellen Formen der Ritualisierung – beide gelten als Weisen der Wissenskumulation.7 Sprachliche Kommunikation liefert Form und Stoff für die kollektiven kulturellen Riten, von denen der Zusammenhalt der Eigengruppe abhängt, und sie liefert die Mittel und Werkzeuge für eine kulturell verbindliche Invariantisierung und Verbegrifflichung des Denkens (Lorenz 1973: 303). Aber die postulierten Parallelen zwischen stammesgeschichtlicher und kultureller Ritualisierung gehen noch viel weiter. So gilt kulturell kanalisierte intraspezifische Aggression, für Lorenz nicht abtrainierbarer und wichtiger Bestandteil unseres Naturerbes, als der Treibstoff für Konkurrenz, Ehrgeiz, sportlichen Wettkampf, Wunsch, sich vor andren auszuzeichnen etc. (Lorenz 1963: 385). In den suggestiven Analogien zwischen stammesgeschichtlicher und kultureller Ritualisierung wird das Verständnis von Kulturen als „Pseudospezies“ deutlich fassbar. Denn bei allen sozial lebenden Tierarten scheint die Integration der Verbände von diversen Formen der Ritualisierung des Verhaltens getragen. Arnold Gehlen resümiert die Befunde der biologischen Verhaltenswissenschaft in diesem Punkte so: „Sie führt zu der Einsicht, dass die gesamte Soziologie höherer Tiere sich auf Auslösern, angeborenen Empfangsanlagen und angeborenen sinnvollen Bewegungen aufbaut, also auf Signalapparaturen.“ (Gehlen 1975: 128)
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Wer Erving Goffmans mikrosoziologische Analysen der interaktiven Ritualisierungen in der modernen Gesellschaft kennt, der wird sich in der Tat darüber wundern, wie weit die Parallele zwischen naturgeschichtlichen und kulturellen Ritualisierungen tragen kann.
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Und insofern dieser im Kern evolutionär entwickelte und tradierte Signalapparat beim Menschen stark reduziert (und eigentlich nur im ersten nachgeburtlichen Lebensjahr nachweisbar) ist, treten kulturell symbolische Ritualisierungen in den Hiatus zwischen (unbestimmter) Natur und kulturell „sinnvollem“ Verhalten. Mit dem Ergebnis, „dass es eine vorkulturell fassbare menschliche Natur überhaupt nicht gibt“ (Gehlen 1975: 104). Hier handelt es sich um eine bis in die jüngsten Diskussionen hinein wirksame axiomatische Position derjenigen, die den biologischen Reduktionismus der „streng“ individualistischen Soziobiologen zurückweisen. Was uns unmittelbar in den nächsten Abschnitt führt.
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ALS
„Z WISCHENWELT “ UND I NTERFACE
Zu den evolutionistischen „Theoretisierungen“ des Kulturbegriffs, die kulturwissenschaftliche „Öffnung“ hin zur Biologie ebenso markieren wie den Relevanzanspruch der Evolutionsbiologie für die Menschenwissenschaften, gehört das Denkmodell der kulturellen „Zwischenwelten“, die als eine Art notwendiges symbolisches Interface zwischen die naturgeschichtlich gewordenen Menschennatur und die Welt bzw. Umwelt der jeweiligen Kultur treten. Im Deutschen wird eine solche These z.B. vertreten von (Eibl 2009), der sich auf den Hiatus-Gedanken der klassischen philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens stützt. Durch seine natürliche Ausstattung ist der Mensch nicht kurzschlüssig und triebhaft auf bestimmte Umwelt-Merkmale bezogen, vielmehr gibt es ein vermittelndes kulturelles Zwischenreich, das die Chance für Distanz, Reflexion und Wahl eröffnet, aber auch sekundär stabilisierend und festlegend auf die plastischen Antriebe wirkt. Trotz Eibls (2009) Reserven gegenüber diesem Gedanken verweist die Zwischenwelt-Theorie auf Herders Mängelwesen und die (im 20.Jahrhundert besonders von Arnold Gehlen beförderte) Tradition des nicht festgelegten Tiers. Eibl (2009) schlägt sich explizit auf die Seite der genegoistischen Soziobiologie, verwirft Arterhaltung und Gruppenselektion nach dem Modell der älteren Ethologie (Konrad Lorenz), betrachtet aber kulturelle „Fehlanpassungen“ der Gegenwart (Fett- und Zuckerverbrauch, Bewegungsmangel etc.) vor dem Hintergrund des Standardnarrativs, nach dem es sich bei all diesen Dingen um adaptive Verhaltenstendenzen aus unserer Sammler-und-Jäger-Vorzeit handelt, die mittlerweile ihren Anpassungswert verloren haben. Es ist dies das für die evolutionäre Psychologie konstitutive Narrativ vom „Steinzeitkämpfer im Spätkapitalismus“ (so die deutsche Übersetzung von Tiger & Fox 1976), der längst obsolet gewordene Anpassungen weiterlebt und der da besonders manipulierbar wird, wo seine alte evolutionäre Natur ins Spiel kommt.
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Trotz des aus Leo Weisgerbers volkhafter Sprachforschung entliehenen Begriffes der „Zwischenwelt“ (und obwohl sich auch Eibl (2009) sehr stark auf die kulturbegründende Kraft der Sprachen stützt), und wiewohl die kulturellen Zwischenwelten eindeutig als semantisch, symbolisch und kollektiv apostrophiert werden, bleibt Eibl (2009) im Umkreis der soziobiologischen Grund- und Leitfrage nach der Möglichkeit und dem Nutzen von Gruppen- und Gesellschaftsbildung, obwohl doch die evolutionäre Selektion lediglich die Fitness des Einzelnen belohnt bzw. bestraft. Hier bleibt einerseits ein völlig unvermittelter Widerspruch in der Axiomatik, da die gemeinsamen und verbindenden Kräfte der sprachlichkulturellen Zwischenwelt in der Lehre des genegoistischen Individuums völlig in der Luft hängen. Signale sind für Dawkins Mittel zur Manipulation eines anderen Individuums und keineswegs von vornherein verbindende oder geteilte Bestände. Sprachevolution ist in einer Welt rationaler Genegoisten nicht vorstellbar, weil symbolische Vergesellschaftung geteilte Aufmerksamkeit voraussetzt und exklusive Gruppen definiert. Andererseits wird Eibls (2009) evolutionistische Kulturtheorie so anschlussfähig für echte Symboltheorien der Kultur(en), wie Geertz (1993), die gerade darauf abheben, dass Kulturen als öffentliche Bedeutungssysteme den Individuen jeweils vorgegeben sind und ihnen erst die Mittel der Individuierung liefern. Die narrative Brücke zwischen Genegoismus und (sub-)kultureller Konformität schlägt in Eibls (2009: 110ff) Narrativ die (angeblich) dem einzelnen genetisch überkommene Neigung zur „Nachahmung der Erfolgreichen“, die ihren subkulturellen Gegenhalt freilich in jeder lokalen und temporären Mode haben kann (und so den harten Genegoisten kaum mit dem außen geleiteten Konformisten zu versöhnen geeignet ist!). Denn unter der Hand ist das Kriterium für „erfolgreich“ längst nicht mehr das des egoistischen Gens, sondern das einer zufälligen kulturellen Bezugsgruppe. Anschluss verschafft dieser Teil der Kulturtheorie jedoch an die Welt der Reputationsspiele, in der es darum geht herauszufinden, welchen Preis der einzelne zu zahlen bereit ist, um sein Ansehen in einer Gruppe zu steigern: „Kultur beruht unter anderem auf der genetischen Neigung, die Erfolgreichen (oder zumindest Erfolgversprechenden) nachzuahmen. Dieses Prinzip ist dafür verantwortlich, dass Individuen sich an Gruppen anschließen oder in sie hineinwachsen.“ (Eibl 2009: 113)
Da ändert auch die von Eckart Voland geprägte und darwinistisch anmutende Formulierung der „imitation of the fittest“ nichts mehr daran, dass wir unter der Hand die Welt der nichtzufälligen Weitergabe von adaptiver Variation längst verlassen
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haben – und „fitness“ subkulturell eben nur zirkulär als das jeweils „nachgeahmte“, das kulturspezifisch prämierte und insofern vorbildliche Verhalten definiert werden kann. Wie zufällig das ist, beweist die Vielfalt der Kulturen sowie der Subkulturen und Subsysteme mit je eigenen Reproduktionsregeln. Hier setzen nicht nur populäre kulturkritische Motivstränge ein (warum imitieren weltweit die konsumstarken Mittelschichten die offenbar reputierliche Gewohnheit, bullige und ökologisch komplett wahnsinnige SUVs in die innerstädtischen Parkgaragen zu steuern, für die sie viel zu hoch gebaut sind?). Hier setzt auch eine weitere Denk- und Argumentationsfigur ein, die wir bei den Vertretern der dual-inheritance-Lehren (Boyd & Richerson 1985) ebenso finden wie in der „Zwischenwelt“ Eibls (2009). Der Gedanke nämlich, dass Kulturen Varianz produzieren und bewahren (und unter den je eigenen „Insulationsbedingungen“ erproben), Varianz nämlich, die eventuell unter späteren Ernstfallbedingungen wieder gebraucht werden kann (Eibl 2009: 109f.): „Der ganze Komplex dessen, was als ‚kulturelles Gedächtnis‘ bezeichnet wird, besteht ganz wesentlich aus dem aktuell folgenlosen Lebendighalten solcher Vorräte.“ (Eibl 2009: 110) Zum harten Kern des Erfolgsrezeptes der Kulturkritik Jared Diamonds (2005, 2012) gehört die wertende Prüfung alter Kulturen darauf hin, ob sie nicht vielleicht Motivvoräte und Deutungsmuster erzeugt und konserviert haben könnten, die, menschheitlich reaktiviert, zur Lösung der gegenwärtigen globalen Ökologieprobleme beitragen. Ein solches Programm schließt niemanden aus und bewahrt doch eine gerichtete Selektivität. Es befindet sich insofern im Einklang mit den oben erhobenen semantischen Eigenschaften eines Kulturbegriffs, der auf Egalität, Gleichbehandlung und Toleranz gestellt ist – und doch auf den wertenden Vergleich nicht verzichtet. Als eigenständiger Modus der Erzeugung, Verteilung und Weitergabe von (verhaltensmäßiger) Varianz würden Kulturen einesteils Gegenwirkung gegen die tendenziell gleichrichtenden Kräfte der Naturevolution aufbauen, anderenteils wären sie eben auch in der Lage, langfristig dysfunktionale und (für die eigene Spezies und für andere) destruktive Verhaltenszüge auf Dauer zu stellen – woran ja niemand ernstlich zweifelt.
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K ULTUR , AN DER BIOGENETISCHEN L EINE (W ILSON ), VS . K ULTUR ALS DAS RADIKAL „ ANDERE “
GEFÜHRT
Innerhalb des neoevolutionistischen Diskurses ist der Umgang mit „Kultur“ kontrovers, er ist, wie sich leicht nachweisen lässt (s.u.), hoch emotional besetzt, schwankt zwischen (entschlossenen oder zögerlichen) Besetzungsversuchen und einer (ebenso entschlossenen oder zögerlichen) hands-off-Politik. Diese Ambivalenz folgt nahtlos aus dem Umstand, dass „Kultur“ für Evolutionisten einerseits ein (eben zu besetzendes) semantisches Hochwertterritorium markiert, andererseits aber gleichzeitig in seiner (autonomen) Bedeutung herabgesetzt werden muss, damit die territorialen Ansprüche des Evolutionismus berechtigt erscheinen. Nicht das geringste Problem bei Edward O. Wilsons Soziobiologie (Wilson 1975) ist, dass das Buch heute nicht mehr gelesen wird, enthält es doch eine Vielzahl oft geradezu aphoristisch zugespitzter Bemerkungen über die Paradoxien des Verhältnisses zwischen Biologie und Soziologie bzw. Kultur. „Social organization“, so heißt es da, „is the class of phenotypes furthest removed from the genes” (Wilson 1975: 11) – aber zugleich am nächsten an der Realität des Verhaltens und damit der Motor der verhaltensgetriebenen Evolution. Und über die Schwierigkeit der Biologie, Verhaltensprinzipien zu axiomatisieren, heißt es in aller Vorsicht (und mit demonstrativer Distanz gegen den hypertrophen Gebietsanspruch der Soziobiologie, den Wilson ebenfalls zu präsentieren weiß!): „The theories of behavioral biology are riddled with semantic ambiguity. Like buildings constructed hastily on unknown ground, they sink, crack, and fall to pieces at a distressing rate for reasons seldom understood by their architects.“ (Wilson 1975: 21)
Auch seiner eigenen, in On Human Nature (Wilson 1978, 1980) vorgetragenen Lehre von der Kultur als einem biologischen Epiphänomen, einem Mittel unter anderen, mit dem die Gene ihre eigene Verbreitung optimieren, ist es nicht anders gegangen. Wiewohl eine Reihe „harter“ Soziobiologen nach wie vor unter der Flagge des Epiphenomenalismus segeln (Richard Alexander, Eckart Voland z.B.), stützt sich die Mehrheit der Evolutionsbiologen auf die (relativ autonome) Ebene der sozialen Organisation, der Naturbeherrschung, der Nahrungsproduktion, der organisierten Konkurrenz und Monopolisierung von Macht etc. und gewinnt dort ihre Kriterien für den „Erfolg“ von Kulturen qua Gruppen. Auch Wilson selbst scheint (vgl. Wilson 2012) diesbezüglich zu den eigenen Anfängen zurückgekehrt zu sein, wenn er die selektionstreibende Konkurrenz bei menschlicher „Eusozialität“ auf die Gruppenebene, auf Gruppenwerte und soziale Organisation verlagert.
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Der Wirbel, den Edward O. Wilsons „Widerruf“ (Wilson 2012) in der Evolutionistengemeinde ausgelöst hat, ist beträchtlich und aufschlussreich. Nachdem schon zwei Jahre zuvor ein offener Brief von 130 Wissenschaftlern an die Zeitschrift Nature eine Veröffentlichung flankiert hatte, in der Wilson zusammen mit zwei Mathematikern und Biologen das Prinzip von kin selection und die Berechnung von inclusive fitness – Effekten (und damit einen Eckstein des genegoistischen Modells) in Zweifel zog, erzeugt die Veröffentlichung von Wilson (2012) einen kleinen Aufruhr, an dessen Spitze wir wundersamerweise Richard Dawkins finden. Dessen Rezension in Prospect Magazine (24.5.2012 unter dem beziehungsreichen Titel „The descent of Edward Wilson“) ist Auftakt einer (auf den Seiten von Prospect dokumentierten) Netzkontroverse über das Buch, die als Kommentarserie zu Dawkinsʼ Rezension geführt wird. Die Kampflinie wird markiert durch das Thema group selection. Dawkins argumentiert, selbstverständlich könnten Individuen von diversen Formen der Gruppenbildung profitieren, aber Gruppen selbst könnten nicht profitieren und seien ergo keine selektionsrelevante Größe (das kennen wir bereits). Es ist unmöglich, diese Kontroverse hier auch nur in den Hauptlinien nachzuzeichnen. Aufschlussreich ist lediglich eine Reihe von Figuren, die wohl nur auf dieser wissenschaftlichen Hinterbühne auftreten können und gerade darum verraten, wovon die für den Auftritt auf der Vorderbühne erforderliche Reputation abhängt. Ich nenne nur einige: [a] Dawkins und Wilson versuchen beide, aus dem Evolutionismus eine Theorie der Kultur zu entwickeln – was aber nicht geht; diese Figur wird benutzt sowohl von einer Biologenfraktion, die den Sozialwissenschaftlern „ihr“ Feld überlasen wollen, als auch von evolutionsfreundlichen Sozialwissenschaftlern selbst. [b] X versteht etwas/versteht nichts von der Mathematik der Evolution; spieltheoretische Mathematik und Statistik fungieren als Zugangshürde zum inner circle; [c] Wilson wird als echter working scientist auf- und Dawkins als Popularisator und Rhetoriker abgewertet; [d] In Sport und Militär sind es Gruppen, die sich durchsetzen (oder nicht); sich durchsetzen „in der Gruppe“ und sich durchsetzen „mit der Gruppe“ sind competing instincts; das entspricht auch Wilsons alter Position zur Gruppenselektion.
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[e] Alle Spieltheoretiker gehen davon aus, dass Vorteil und Reproduktionsfähigkeit individueller Strategien von deren Verhältnis zu anderen in der interagierenden Population vertretenen Strategien abhängig sind – was unterscheidet diese Annahme von group selection? Der elektronische Schlagabtausch zeigt jedenfalls, dass es in der gegenwärtigen Evolutionistengemeinde durchaus eine Fraktion gibt, die das Territorium Kultur für nicht einnehmbar (oder auch für nicht einnehmenswert) hält. Das stets wiederholte Gegenargument, zeigt die einfache sprachlogische Paradoxie. Es lautet: Wie in aller Welt soll Kultur denn sonst entstanden sein, wenn nicht durch Evolution? Und also müsse der Evolutionismus ihre Entstehung erklären können. In dieser Figur zeigt sich ein latentes Antonym zu „evolutionär“ – nämlich „als Ergebnis bewussten Handelns“. Und da kein vernünftiger Mensch behaupten wird, die Kulturen der Welt seien planmäßige Erzeugungen eines intelligent design, ist diese Figur unwiderlegbar. Wenn alles, was nicht planmäßig und bewusst erzeugt ist, durch Evolution entsteht, dann muss auch die Evolutionslehre zur Entstehung von Kultur Stellung nehmen. Aus den eben nicht planmäßig gerichteten Prozesslogiken der Geschichte bzw. der „sozialen Evolution“ ergibt sich in sofern von alleine eine Art „Zuständigkeit“ des Evolutionismus für bewusstlose Prozesse in Gesellschaft und Geschichte (vgl. Müller 2010). Dass auf allen Seiten nichts ohne die höhere Mathematik geht, die den Garant der esoterischen „Wissenschaftlichkeit“ bereitstellt, lässt sich ebenfalls aus dem Austausch entnehmen. Wer nichts von Mathematik versteht, ist aus dem Rennen – wie auch das Bemühen vieler, zwischen esoterischer Fachlichkeit und exoterischer Außenkommunikation wieder eine deutlichere Grenze einzuziehen. Vergleicht man das mit den forschen Besetzungspraktiken der 1980er Jahre, so wird jedenfalls zunehmender Realismus unübersehbar. Als typische symbolische Landnahme mag Bonner (1983) gelten, der mit dem Titel Kulturevolution bei Tieren Kultur als nichtgenetische (aber auch nicht symbolische!) Informationsweitergabe von Generation zu Generation definiert. Diesen Modus erklärt Bonner sodann für keineswegs exklusiv menschlich, mit der Folge, dass „wir die Ursprünge der menschlichen Kultur in einer sehr frühen Periode der biologischen Evolution finden können“ (Bonner 1983: 11). „Information“ ist der Scharnierbegriff zwischen genetischer und kultureller Evolution. Der Vorzug der kulturellen Evolution, die als schneller und flexibler in der Reaktion auf Veränderungen gilt, erstreckt sich auch auf die Genetik. Tendenziell bilden Signale, Kommunikationen sowie soziale Gruppenbildung und Hierarchien/Hackordnungen etc. die biologische Vorgeschichte der menschlichen Kulturen – eine Argumentationsfigur, die durchaus noch in die Konrad-Lorenz-Tradition passt. Diskurstaktisch folgt aus der
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Verlegung der Anfänge von Kultur in das tiefste Tierreich freilich, dass der Mensch nichts wirklich Neues macht und somit auch keine Sonderstellung beanspruchen kann. Vom Denkstil der modernen Genegoisten unterscheidet Bonner (1983) sich darin vorteilhaft, dass er in Natur- und Kulturevolution Kontingenz zulässt: Nicht alles muss adaptiv sein, nicht alles ist als Folge von Selektionsdruck interpretierbar (Bonner 1983: 193). Die Kommunikation umgeht gewissermaßen das Genom und schafft damit Selektionsdruck auf Gehirn und Informationsverarbeitungskapazität. Edward Wilsons Bild von der „kurzen Leine“ der Gene, an welcher der Spielraum der Kulturen zu bemessen sei, fordert natürlich zu spöttischen Weiterungen heraus, die auch nicht ausgeblieben sind. So erinnern die Protagonisten der dual inheritance (Boyd & Richerson 2005) daran, dass am Ende mancher kurzen Leine ein großer und grimmiger Hund so stark zieht, dass man am Ende nicht mehr weiß, wer da mit wem spazieren geht. Auch scheint die Frage nach der genetischen Determination kultureller Spielräume heuristisch ziemlich unfruchtbar zu sein, da sie sich stets zwischen zwei gleichermaßen plausiblen Beobachtungsfeldern hin und her treibt: Die Adaptionisten werden nicht müde, auf den biologischen Gesamterfolg der menschlichen Spezies und deren unglaubliche Fortpflanzungsfitness zu verweisen – ein Erfolg, der natürlich nur erklärbar ist, wenn kulturelle Selektion im Ganzen der biologischen nicht entgegenwirkt. Und die Autonomisten führen unendliche lange Listen von kulturell etablierten und sanktionierten Verhaltensweisen, welche die Fortpflanzungschancen derer, die sie übernehmen, keineswegs zu befördern geeignet sind. Argumentativ sind die einschlägigen Figuren, salopp gesagt, meistens so lang wie breit: Dass in der neoliberalen Gegenwart sehr viele (namentlich im Wissenschaftsbetrieb!) ihren beruflichen Erfolg mit dem Verzicht auf biologische Fortpflanzung zu bezahlen haben,8 kultureller Erfolg also die biologische Fitness reduziert, stimmt ebenso wie die umgekehrte Figur, wonach kultureller Erfolg vielfach ein Mittel sein kann, die eigenen Fortpflanzungschancen zu verbessern. Soziobiologische und evolutionspsychologische Prestigelehren (und davon gibt es nicht wenige) sehen den kulturellen Ansehenserwerb grundsätzlich als „Mittel“ der Fitnesssteigerung, aber was wäre typischer für kulturelle Verhaltensweisen als der Umstand, dass Mittel sich zu Zielen verselbständigen können?
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Ganz zu schweigen von dem Umstand, dass Kinder unterhalb der oberen Mittelschicht mit einigem Recht als Hauptarmutsrisiko gelten, was nicht gerade für einen Gleichlauf zwischen Natur- und Kulturevolution hindeutet.
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Und gewiss würde auch der radikalste Kulturalist sich nicht in die Behauptung verrennen, dass die Wirksamkeit evolutionsbiologischer Gesetze mit dem Einsetzen kultureller Entwicklung ein Ende habe. Dass unübersehbare ökologische Probleme uns wieder mit der Nase darauf stoßen, dass wir immer noch Bestandteil naturevolutionärer Dynamiken und Wechselwirkungen sind, ist ja der Auslöser der gesamten diskursiven Renaturalisierungswelle. Und dass „Natur“ selbst ein historisch hoch variabler kultureller Reflexionsbegriff ist,9 versteht sich für einen Sprachwissenschaftler von selbst. Wenn dann allerdings Geisteswissenschaftler im Brustton der Überzeugung eigener Wichtigkeit erklären, mit der Hominisation, der Naturevolution des Menschen, sei das Ende der biologischen Fahnenstange erreicht (vgl. den Eintrag „Natur/Kultur“ in Sarasin & Sommer 2010) – was wohl immer heißen soll, dass ab dann ausschließlich historisch-kulturelle Gesetzmäßigkeiten das Ruder übernehmen, weil sich genetisch seit hunderttausenden von Jahren nichts getan habe – so wäre gewiss mit einigem Recht zu entgegnen, dass die biologische Evolution niemals zu Ende ist und so leicht niemanden aus ihren Reihen entlässt. Realistischer wäre vermutlich die Annahme, dass genetisch-biologische Variation seither nicht mehr ohne kulturelle Filterung in Aktion tritt. Es fehlt ja nicht an Belegen dafür, dass kulturelle Praktiken darüber mit entscheiden, welche genetischen Dispositionen weiter gegeben werden und welche nicht. Die zentrale Figur der neoevolutionistischen Kulturkritik lautet ja, dass die global dominanten kulturellen Verhaltens- und Bewertungsstandards (Ressourcenverbrauch, Naturausbeutung, Treibhauseffekt etc.) tendenziell sogar die biologische Reproduktion der Spezies bedrohen. Allerdings gehört es zur paradoxen Logik dieser Debatten, dass es zu jeder kulturalistischen Interpretationsfigur eine korrespondierende naturalisierende Interpretationsfigur gibt. Was den Hang zum hemmungslosen Ressourcenverbrauch betrifft, so lautet diese (von Malthus bis Reichholf): Es sei eine Naturkonstante, dass Individuen und Arten verfügbare Ressourcen bis an die Grenzen ausbeuten, an denen andere, entgegenwirkende Kräfte ihnen Einhalt gebieten. Der Mensch sei also auch insofern gar nichts besonderes (hierzu den Beitrag zur „Tragedy of the Commons“ in diesem Band). Am Ende bleibt als praktische Konsequenz der kulturalistischen wie der naturalistischen Deutungen, dass man entweder zynisch auf die „normalisierende“ Kraft der Naturevolution baut, die den menschlichen Störenfried entweder zähmt oder beseitigt (John Gray 2010 und seinesgleichen), oder aber auf Kultur und Einsicht, die Verhaltensänderungen fördern und stabilisieren können (wie Jared Diamond).
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Und wir nach einer historisch langen Phase der bösen und feindlichen „Natur“ gegenwärtig eine gute und harmonische „Natur“ (nun ja) haben, weil wir drohende Naturerscheinungen uns selbst zuzurechnen gelernt haben (vgl. Reichholf 2007: 86 und öfter).
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Es gehört ebenfalls zu den Paradoxien dieser Geschichte, dass auch die Naturalisten in dieser Sache einzig auf die Möglichkeiten kultureller Verhaltensänderung setzen können.
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ALS KOMPETITIVE
M EMREPRODUKTION
Im Allgemeinen hat die von Richard Dawkins ins Spiel gebrachte kulturelle Replikationseinheit mit dem Namen „Mem“ bei Kultur- und Sozialwissenschaftlern keine gute Presse. Zu offensichtlich ist die suggestive und in der Sache nicht weit tragende Analogie zwischen „Gen“ und „Mem“. Zu offensichtlich ist weiterhin der nicht minder suggestive Konnotationsraum, in dem das „Mem“ kulturwissenschaftliche Begrifflichkeit (memory, memoire, aber auch die alle auf –em endenden Einheitsbegriffe der strukturalistischen Tradition wie Phonem, Morphem, Tagmem etc.) aufnimmt und in ein genetisches Umfeld transponiert. Begriffsstrategisch dürfte dieses semantische Umfeld jedoch am fachdiskursiven und interdiskursiven Streupotential des „Mems“ erheblichen Anteil haben – ebenso aber auch daran, dass der Ausdruck zu vage bleibt, als dass sich um ihn herum eine halbwegs einheitliche Theorie gruppieren ließe. Die offenkundige Beliebigkeit dessen, was als kulturelle Replikationseinheit fallweise konfiguriert wird (von Wort, Phrase, Konstruktion über Objekte der materiellen Kultur bis hin zu Symphonien und anderen kulturellen Makrosymbolen), tut das Ihrige hinzu zur schlechten Reputation des „Mems“. Dawkins selbst hat im Bereich der Kultur auch mit anderen Denkmodellen experimentiert, u.a. mit der Vorstellung, bei den Produkten des Verhaltens (Nester bei Vögeln, Dämme bei Bibern etc.) handele es sich um Extensionen der phänotypischen Expression im System der Genreproduktion (in The Extended Phenotype, Dawkins 1982 [1999]). Übersehen wird vor dieser Fassade leicht der Umstand, dass die axiomatische Setzung einer autonomen kulturellen Replikationseinheit „Mem“ immerhin implizit auch die Anerkennung einer relativen Autonomie kultureller Reproduktion und Proliferation gegenüber der genegoistischen „Basis“ enthält, mit der sich die Soziobiologen der strengen Observanz ansonsten eher schwer tun. Sie bevorzugen ansonsten ja das (von Edward O. Wilson initiierte) Bild, wonach die Kultur(en) von den Genen an einer (ziemlich straffen) Leine geführt werden und lediglich metaphorische Erweiterungen des reproduktiven Systems der Gene darstellen.10
10 So die Position von Richard Alexander; vgl. den Eintrag „Kultur“ in Toepfer (2011 I: 341-373).
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In jedem Falle entlasten Memmodelle die Soziobiologie von der lästigen Pflichtübung, bei jedem kulturellen Merkmal oder Verhalten nach dessen selektivem Nutzen für die Gene des Trägers zu fragen (und das Merkmal bzw. Verhalten dann für „begründet“ zu halten, wenn dieser Nutzen erst einmal gefunden ist). Denkbar wird aus der Memperspektive, dass Kulturen in ihrem eigenen Geltungsbereich (segmental) auch Verhaltensweisen stabilisieren, die den Genen ihrer Träger weder kurz- noch langfristig Ausbreitungsvorteile verschaffen. Zölibatäre Vorschriften für bestimmte Gruppen von Individuen sind hier naturgemäß Lieblingsbeispiele.11 In jedem Falle folgt die relative Autonomie kultureller Replikation gegenüber den Genen schon „motivgrammatisch“ aus der Dopplung von Gen und Mem. Entscheidend für den resultierenden Kulturbegriff ist allerdings eine andre Frage, und zwar die nach dem Kopier- und Ausbreitungsmodus der als „Meme“ konfigurierten kulturellen Replikatoren. Vor dem Hintergrund der kurrenten Mem-Beispiele kommt alles darauf an, ob die Weitergabe als sinnfreie Kopie bzw. Imitation, als Information oder Instruktion oder aber als signifikanter, Perspektivenübernahme einschließender Interpretationsprozess (im Sinne der Tradition von G.H. Mead 1934) verstanden werden soll. Im letzteren Falle bilden die Meme symbolische Einheiten und schaffen Anschluss an Symboltheorien der Kultur (z.B. Geertz 1993), Kopiertreue korreliert auf kurze Distanz tendenziell mit Sinnübertragung, wiewohl (wie jeder Sprachforscher weiß) langfristiger Bedeutungswandel mit Übertragungstreue im Einzelfall durchaus vereinbar ist. Wie nicht anders zu erwarten, tun sich Evolutionisten mit dieser „Lösung“ schwer. Sie käme einer Anerkennung der Tatsache nahe, dass symbolische Kopiertreue perspektivische Variation und Sinnhaftigkeit einschließt, dass sie kein bloßer Replikationsprozess, keine sinnfreie Übertragung von Information etc. ist. Und damit fiele zumindest tendenziell die Aussicht, Kulturen könnten in dem knappen Umkreis gehalten werden, den die straffe Leine der genetischen Replikation ihnen lässt. Zirkuläre Definitionen des Typs, Meme seien eben das, was qua Imitation weitergegeben wird (Müller 2010: 48ff über Blackmore), versuchen zu punkten, indem sie just die Frage nach dem Modus der Replikation ausblenden oder im Halbdunkel lassen. Wäre indessen die Weitergabe kultureller Merkmale etc. axiomatisch an deren Interpretation (an ihren semiotischen Charakter) gebunden, an einen genuin symbolischen Neuaneignungsprozess durch jede Generation, so könnte jedenfalls von
11 Aus denen im Übrigen hervorgeht, dass es mit Memreplikation nicht getan ist, dass Institutionen, Organisationen, Gruppenchancen etc. hinzukommen müssen, damit unwahrscheinliche Verhaltensweisen stabilisiert werden können.
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zufälliger Variation nicht die Rede sein. Jede neu auftretende Variante eines Verhaltens, Merkmals wäre dann die Reinterpretation einer alten – und Selektion wäre dann ein normativer Prozess der Auswahl zulässiger Varianten (ähnlich wie man es aus der Theorie des Sprachwandels kennt, wo Verschiebungen im normativen Gefüge der Varietäten einen – zunächst als Normverstoß angeprangerten, aber dann als neue Norm akzeptierten – neuen temporären Gleichgewichtszustand herbeiführen). Dass Kulturen per Institution, Organisation, Macht, Arbeitsteilung, Kommunikation Verhaltensweisen erzeugen und stabilisieren können, die keinen stammesgeschichtlichen Unbedenklichkeitsausweis mitführen, ist ja die Voraussetzung dafür, dass Sozial- und Kulturwissenschaften im Feld wissenschaftlicher Disziplinen einen eigenen Platz für sich beanspruchen. Vor diesem Hintergrund ist Kultur „unhintergehbar“, ein Letztprinzip, das als explanans für Verhaltensweisen und Verhältnisse, für genuin soziale Phänomene eingesetzt werden kann, die ohne intellektuelle Gewaltanwendung kaum auf genegoistische Dispositionen zurückgeführt werden können. Demgegenüber beharren harte Reduktionisten und strenge Darwinianer darauf, dass Kultur als explanans überhaupt nicht taugt, sondern als explanandum einer naturwissenschaftlich-biologischen Theorie angesehen werden muss. Ich gebe ein nicht untypisches Zitat von Stephen K. Sanderson, der nach einer schnippischen Bemerkung über den Anspruch, etwas per Kultur zu erklären, fortfährt: „What we need instead is a complete reinvention of sociology that radically reconceptualizes ‚culture‘. As George Homans has famously said, culture does not explain anything, but itself has to be explained.“ (Sanderson 2008: 203)
Es fällt schwer, diese Konstellation zwischen Soziologie und Biologie nicht in strikter (symbolischer) Analogie zu innerartlichen Territorialkämpfen zwischen konkurrierenden Männchen zu konfigurieren, die auf das nämliche Fleckchen Land Anspruch erheben und es unter Einsatz ihres Lebens gegen Eindringlinge verteidigen. Kulturwissenschaftliche Erklärungsansprüche werden zurückgewiesen durch die Behauptung, Kultur könne gar nichts erklären, sondern bedürfe selbst einer biologischen Erklärung. Das explanans des einen ist das explanandum des anderen, und vice versa. Das ist natürlich der latente, aber eigentliche Knackpunkt all dieser Debatten: Können Kulturwissenschaftler, Soziologen, Historiker die Bedingungen für den Erfolg des Evolutionismus erklären oder haben Evolutionsbiologen die Fähigkeit und Autorität, umgekehrt den Erklärungsanspruch qua „Kultur“ biologisch zu unterfüttern bzw. auch zu relativieren?
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Diese Frage müssen wir hier leider unbeantwortet stehen lassen. Wer hier weiterkommen möchte, der müsste (bemerkenswerterweise) mehr über die Zirkulationsfähigkeit memartiger Ideengebilde in den Kommunikationsräumen wissen, die als „wissenschaftlich“ ausgeflaggt sind. Und davon, wovon deren reproduktive fitness abhängt. Offensichtlich lässt die memetische Reproduktions- und Überzeugungskraft soziologisch-kulturwissenschaftlicher Ideen gegenwärtig nach, während die reproduktive fitness biologisch-evolutionärer Ideen in unserer Kultur zunimmt. Die Kulturwissenschaften fallen, bildlich gesprochen, zusehends unter das Beuteschema des Universal Darwinism. Der beansprucht wachsende Teile ihres angestammten Territoriums für sich. Und paradoxerweise lassen sich für diesen kulturökologischen Wandel viele symbolisch-kulturelle Motive angeben, aber durchaus keine, die mit genetischer Fitness zusammenhingen. Zu den unsichtbare-Hand-Modellen der wissenschaftlichen Ideenreproduktion, die in der Tradition des Memgedankens prozedieren, gehört David Hull (1988, 1989). Inhärentes Ziel einer jeden wissenschaftlichen Kommunikation ist es laut Hull, die eigenen Gedanken und Ideen in das Korpus des fachlich akzeptierten wissenschaftlichen Wissens zu integrieren. Dazu müssen sie einerseits hinreichend neu und originell sein (bloße Replikation des Etablierten ist heute – anders als in der Aristotelischen Tradition bis in die frühe Neuzeit – nicht mehr akzeptabel), andererseits müssen sie aber denkstilmäßig so vertraut oder wenigstens assimilierbar sein, dass die Zeit- und Fachgenossen sie in das etablierte Korpus der bereits geteilten Erkenntnisse einbauen können (Hull 1989: 250ff). Kein wissenschaftlich Tätiger wird ernstlich bezweifeln, dass diese Motivkonstellation in der Tat die eigene wissenschaftliche Produktion und Kommunikation instruiert. Und in dieser Motivkonstellation von Hull (1989) steckt auch eine weise Axiomatik für das Verhältnis von „Egoismus“ und „Altruismus“ in wissenschaftlichen (und anderen) Teilsystemen gesellschaftlicher Organisation. Natürlich ist das Streben nach Anerkennung und Reputation auf das Individuum bezogen und darin egoistisch, aber erfüllt wird es nur in der Anerkennung der anderen, die es insofern von Anfang an einbeziehen muss, um egoistisch erfolgreich zu sein. Der Egoismus ist nur erfolgreich, wenn er den Sinn für die Anliegen der anderen in sich selbst einzubauen weiß. Solche suggestiven Einzelbeispiele sind natürlich als Basis für hoch aggregierte Verallgemeinerungen unzulässig. Das heißt aber nicht, dass sie für solche Zwecke nicht genutzt werden. Niklas Luhmanns Systemsoziologie lebt, insofern sie mem-evolutionistisch argumentiert, vom Prinzip der (multiplen) kommunikativen Anschlussfähigkeit als der sinnsystemischen fitness von Kommunikationen – auch wenn Luhmann den dubiosen Ausdruck „Mem“ keineswegs gebraucht. In der Luhmannschen Systemarchitektonik besetzt der axiomatische Ausdruck
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„Sinn“ die allenthalben als notwendig unterstellte Position einer Instanz, die bei der Replikation von Memen zugleich Kopierfehler reduziert (sinnfreies Verhalten ist, wie die Psychologen wissen, weit schwerer zu imitieren als sinnvolles) und selbst wieder anschlussfähige Varianz erzeugt (vgl. Luhmann 2004). Dass auf dem qua Mem „terminologisch“12 abgesteckten Gelände populärwissenschaftliche Trittbrettfahrer und andere „loose thinkers“ dominieren, dürfte ein Grund dafür sein, dass die Berührungsangst gegenüber dem Mem mit dem eigenen fachlichen Seriositätsanspruch wächst. Umgekehrt wächst natürlich auch die interdiskursive Reichweite der eigenen Ideen, wenn man sie in ein populäres MemGewand kleidet. Meme findet man also bevorzugt in der populären Literatur. Dieses Paar gegensätzlicher Kräfte, die am Membegriff ansetzen, ist symptomatisch für die Stoßmichziehdich-Konstellation, in der sich der moderne Evolutionismus bewegt: Er muss einesteils über mächtig streuende Anschlussstellen zum populären Interdiskurs verfügen, um seinen Anspruch auf „Schlüsselattitüde“ zu sichern, er darf diese Tendenzen aber anderenteils nicht zu weit treiben, wenn er den eigenen Wissenschaftlichkeitsanspruch nicht in Gefahr bringen möchte. Auch Dawkins eigenes, über die Zeit höchst widersprüchliches Verhalten gegenüber dem (von ihm selbst in die Welt gesetzten) Mem ist nur vor diesem Hintergrund verständlich. „Durchgeknallte“ Autoren wie Tyler (2011) – hier nur als Beispiel für ein ganzes Heer fachwissenschaftlich höchst dubioser „Memetiker“ – mögen für die evolutionistische Kulturwissenschaft eine Peinlichkeit darstellen. Wer sich freilich für das interdiskursive Streupotential des modernen Evolutionismus interessiert, der darf gerade diese Gruppe nicht vernachlässigen. Tyler (2011) lebt13 u.a. von der Ausarbeitung des immunologischen Tropus, Meme seien kulturelle Replikatoren mit Eigenleben, welche wie Viren unsere Gehirne befallen und besiedeln und in ihnen dergestalt um Speicherplatz konkurrieren, dass nur die „fittesten“ unter ihnen zu reüssieren vermögen.14 Meme, so heißt es, können sich nur vermittels unseres Gehirns reproduzieren. Die Menschen (Tyler 2011: 5) seien von der Symbiose mit virusartigen Memen ebenso abhängig wie von ihren Darmbakterien. Und ganz analog zur Welt der Mikroorganismen gibt es auch unter den Memen
12 „Terminologisch“ darum in Anführungszeichen, weil es der Ausdruck „Mem“ nirgendwo zu dem theoretischen und axiomatischen Backing gebracht hat, das für Terminologien unentbehrlich ist. 13 Wie im Übrigen auch der „seriösere“ Philosoph Daniel C. Dennett. 14 Es gibt durchaus Berührungspunkte mit der der mediensoziologischen Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie!
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für den Menschen nützliche, schädliche und neutrale. Je fitter ein Mem, desto „ansteckender“ ist es auch, Meme müssen irgendwie die Zone zwischen zwei „minds“ überbrücken können. Nicht anders als die seriösen Memetiker prüft auch Tyler (2011) Analogie und Differenzen zwischen biologischer und kultureller Weitergabe. Unter den Analogien führt er die Weitergabe, die Variation und den differentiellen Reproduktionserfolg. Als limitierende Ressource für die Memreproduktion gilt (ganz analog zum malthusianischen Kern der Darwinschen Lehre) die menschliche Gehirnkapazität (Tyler 2011: 14) – was dann den heiter-düsteren Ausblick ermöglicht, das Internet emanzipiere die Memwelt vom Zwang, menschliche Träger zu besiedeln! Das Büchlein wimmelt weiterhin von Gen-Mem-Engführungen, bei denen man sich fragt, ob nicht auch das satirische Potential der Analogie erprobt werden soll. So findet sich im Abschnitt über „Vektoren“ (=Akteure, die Parasiten verbreiten) ein Bildpaar mit einer Zecke und einem katholischen Priester und den Bildunterschriften: „Deer tick: spreads Lyme disease“ und „Preacher: spreads catholicism“ (Tyler 2011: 64). Genotyp und Phänotyp werden im Membereich analogisiert mit Rezept vs. Gericht, Kuchen etc., so dass eine Dualisierung zwischen virtuellen (und teils aufgezeichneten) Plänen, Mustern, Schemata und ihrer tatsächlichen Ausführung entsteht, die zwar sozialwissenschaftlich Tradition hat (etwa in skript- und schemaorientierten Handlungslehren), aber wohl kaum in irgend einem Punkt dem Verhältnis zwischen Genotyp und Phänotyp in der Biologie entspricht. Andere populäre Autoren (z.B. Schurz 2013: 210) bemühen in diesem Zusammenhang analogisch das Verhältnis von Software/Programm und programmiertem Verhalten als Phänotyp, die aber ebenso wenig passt – schon gar nicht, wenn man das Verhalten bereits als phänotypisches Ergebnis der genetischen Programmierung zu verstehen geneigt ist! Nicht ganz irrelevant für das praktische Memverständnis sind auch die textlich dokumentierten Spuren von terminologischer Selbstreflexion: Terminologie sei wichtig, „since language controls thought“, und darum gilt: „getting technical words right helps to produce clear thinking“ (Tyler 2011: 39). Für jede auch nur halbwegs reflektierte fachliche Terminologie sollte im Gegenteil gelten, dass konnotative Suggestionen aus der Bezeichnungswahl auf ein Minimum zu reduzieren wären – eben weil sonst die alltagssprachlichen Suggestionspotentiale den „Terminus“ unkontrolliert überwuchern. Am Ende wundert sich der Leser von Tyler (2011) dann nicht mehr dass ihm ein potentiell katastrophischer Mem-takeover bevorsteht, in welchem der altehrwürdige DNA-Modus von Memmaschinen überflügelt und abgelöst wird – mit unabsehbaren Folgen für die Menschheit – woraus sich gewiss ein hübsches Hollywood-Drehbuch machen ließe. Aber sonst eben nichts.
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Eibl (2009) resümiert seine kritische Darstellung der Gen-Mem-Analogie folgendermaßen: „Das Wort Mem muss keinen Schaden anrichten, vorausgesetzt, man hält es nicht für die Lösung irgendeines Problems. Es ist dann freilich nicht recht einzusehen, weshalb man es überhaupt benutzen soll. Sein Vorzug ist allenfalls, dass es referentiell so ungenau ist. Umso mehr kann es dann als Leeformel mit Platzhalter-Qualitäten dienen. Es verdeckt damit aber, dass es in den Kulturwissenschaften bereits eine lange Tradition der Ideengeschichte, Ideologiegeschichte, Begriffsgeschichte mit einer Fülle von Materialien und Ergebnissen gibt.“ (Eibl 2009: 107)
Dem ist nichts hinzuzufügen.
[9]
Z UR V ORGESCHICHTE DES V ERHÄLTNISSES VON K ULTUR
UND
E VOLUTION
In Konrad Lorenzʼ Domestikationsmotiv (die „Verhausschweinung“ des Menschen) klingt bereits ein Verständnis von Kultur an, das einen Antagonismus zwischen der radikalen, aber effizient steigernden Naturevolution und der laschen, natürlichen Selektionsdruck potentiell mildernden Kultur postuliert (ganz im Unterschied zu den modernen Neoevolutionisten, die den Konformitätszwang herausstreichen, den die Naturevolution allen Kulturen auferlegen). Die nunmehr unwiderlegliche Figur heißt: Keine Kultur, die im Gegensatz zu den harten Gesetzen der Naturevolution operiert, kann langfristig überleben. Dass alle Kultur ein stets gefährdetes, der rohen und triebhaften menschlichen „Natur“ unter Mühen und vorläufig abgewonnenes Terrain sei (=die Freudianische Version) steht zu diesem Narrativ in merkwürdigem Gegensatz. Aber davon weiter unten mehr. - Ich beginne, zur Auflockerung des Textes, mit einem literarischen Beleg für den (in mehreren Varianten zirkulierenden) Nexus der hier einschlägigen Kulturerzählungen. In Anton Tschechows kleinem Roman Das Duell, in dem sozialdarwinistische Motive den Topos vom „überflüssigen Menschen“ umspielen, lässt der Autor den Deutschrussen und Naturwissenschaftler von Koren über seinen (oblomovesken, untätig-verträumten und romantischen Selbsttäuschungen unterliegenden) Widersacher sagen: „Denke nur daran […], dass die Urgesellschaft vor solchen Menschen wie Lajewskij durch den Kampf ums Dasein und die natürliche Auslese geschützt wurde. Heutzutage aber hat unsere Kultur den Kampf ums Dasein und die natürliche Auslese bedeutend abgeschwächt,
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und wir müssen selbst für die Beseitigung der Schwachen und Untauglichen sorgen, anderenfalls, wenn sich die Lajewskijs vermehren, ginge die Zivilisation zugrunde, und die Menschheit würde völlig degenerieren.“ (Tschechow, S. 112)
Obendrein würden sich die Lajewskijs, wenn man sie nicht daran hindere, noch stärker fortpflanzen als die „anständigen“ (heute würde man sagen) Leistungsträger, lässt Tschechow seinen Antihelden anmerken, und auf den späteren Einwand, wieso denn die Natur bei all ihrer Weisheit auch Wesen hervorgebracht habe, die völlig unabhängig vom eigenen Fress- und Überlebensvorteil Vögel, Nester, andere Kleintiere etc. töten, lässt er von Koren erwidern: „Nun, was ist dabei? Der Vogel wurde erwischt, weil er unvorsichtig war, das Nest mit den Eiern wurde zerstört, weil der Vogel das Nest schlecht gebaut und nicht getarnt hatte. Der Frosch hatte wahrscheinlich einen Fehler in der Schutzfärbung, sonst hätte ihn das Tierchen nicht gesehen, und so weiter. Dein Tier vernichtet nur Schwache, Ungeschickte und Unvorsichtige – kurz, jene, die Mängel haben, bei denen die Natur nicht für notwendig hält, sie an die Nachkommenschaft weiterzugeben. Am leben bleibt nur, wer gewandt, vorsichtig, stark und entwickelt ist. Somit dient dein Tierchen, ohne es selbst zu vermuten, den großen Zielen der Vervollkommenung.“ (Tschechow, S. 153)
Hier haben wir den echt sozialdarwinistischen Imperativ, der besagt, dass Kulturen degenerieren, wenn sie nicht selbst einen starken Selektionsdruck aufbauen. Gegebenenfalls müssen sie selbst an den Schwachen und Lebensuntüchtigen vollstrecken, was die natürliche Auslese, kulturell gemindert, nicht mehr vollstrecken kann. Das liefert dann den ideologischen Treibstoff für Euthanasie, Tötung Kranker und Behinderter etc. Von diesem „individualistischen“ sozialdarwinistischen Narrativ ist (graduell) das ethnodarwinistische zu unterscheiden, das im historischen Geschehen den Überlebenskampf der Völker, Ethnien, Nationen, Rassen, auch: Sprachen sieht, die Subjekte sind hier jedenfalls konkurrierende, nach innen mehr oder minder integrierte Kollektive, nicht Individuen. Während die ethnodarwinistische Variante im modernen Neoevolutionismus völlig verschwunden ist, lebt die individualistische, umgebaut und angepasst, im egoistischen Gen fort. In der ethnodarwinistischen Variante – sie ist völkisch – werden die Kollektive (als Völker, Rassen, Staaten, Sprachgemeinschaften, Kulturen etc.) nach ihrer kollektiven Fitness in der Auseinandersetzung mit anderen Kollektiven bewertet. Ihre Attraktivität für imperialistische und kolonialistische Nationen rührt daher, dass sie den legitimatorischen Geschichten von der Überlegenheit der (kolonisierenden) westlichen Zivilisationen über die kolonisierten einen soliden naturgeschichtlichen Unterbau (und damit denkstilgemäße Modernität) verleihen. Am
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„modernsten“ (nicht nur am radikalsten) waren diesbezüglich die rassischen Varianten des Ethnodarwinismus (wie schon Hannah Arendt wusste). „Menschenrassen“ verbinden, gerade weil es sie nicht wirklich gibt, ein flexibles Ein- und Ausschließungspotential mit höchsten naturwissenschaftlichen Weihen. Sozialdarwinismus und Ethnodarwinismus sauber zu trennen, ist schon darum wichtig, weil beide in vielen politisch-weltanschaulichen Fragen zu konträren Imperativen kommen können: Während ausgleichende Sozialpolitik, Schutz der Schwachen etc. für einen echten Sozialdarwinisten immer kontraselektiv (und damit „schlecht“) ist, kann der Ethnodarwinist alles für „gut“ halten, was das Eigenkollektiv für die Auseinandersetzung mit anderen Kollektiven stärkt. Die (alle politisch-weltanschaulichen Lager übergreifende) Verbreitung dieser klassisch sozialdarwinistischen Figuren zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist vielfach belegt. Ich erspare mir den Hinweis auf die übliche Literatur. Festzuhalten ist hier allein: Als „widernatürlich“ und potentiell degenerativ gilt vor diesem Hintergrund der Umstand, dass Kultur zu einer tendenziellen Verminderung des natürlichen Selektionsdrucks beim Menschen führt. Daraus lassen sich nun Maximen ableiten, wie eine „gute“ Kultur beschaffen sein sollte, wie sie eigenen Selektionsdruck benötige oder anderweitig die fehlende Selektivität ausgleiche. Aber selbstverständlich weiß, wer an Kenneth Burkes „Dramatism“ textanalytisch geschult ist, dass die erzählgrammatische Konstellation, aus der sozialdarwinistische Motivkomplexe erwachsen, auch andere grammatische und rhetorische Möglichkeiten birgt. Warum die einen populär werden, die anderen ein „Nischendasein“ führen, ist eine andere Frage. Denn der kulturbedingte „Verlust“ natürlicher Selektivität kann natürlich (ist man versucht zu sagen) auch als „Befreiung“ von deren Zwängen und zu neuen Möglichkeiten kodiert und verstanden werden. Claessens (1970) hat zusammengetragen, was in den Grenz- und Übergangsdiskursen zwischen der Biologie und der Soziologie seiner Zeit in diese Richtung führt. Da ist zunächst die These von Hugh Miller (1964), wonach jedwede Form von Gruppenbildung einen gewissen Schutz gegen selektiven Spezialisierungsdruck bildet. Selbst eng stehende Pflanzen können „nach innen hin“, etwa durch das Abhalten von Wind und Kälte, Bedingungen erzeugen, die sich nicht unerheblich von denen „nach außen hin“ unterscheiden (Claessens 1970: 95f). Und vom Verteidigungsring der grasenden Rinderherde bis zum befestigten Nistplatz gilt, dass jede Form von Kooperation den Selektionsdruck reduziert, der auf dem Einzelnen lastet. Generell gilt für Miller (1964) die Gruppenbildung als DAS Mittel der „insulation from selective pressure“. Und jeder Historiker des Darwinismus wird an dieser Stelle anzumerken wünschen, dass die Ausläufer und Endmoränen von Kropotkins „gegenseitiger Hilfe“ in der Tier- und Menschenwelt (Kropotkin
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1975 [1902]) ins Blickfeld rücken. Damit betreten wir einen Kreis von Themen und Motiven, die das (im Neoevolutionismus stark verminte) Gelände der „Gruppenselektion“ betreffen und noch in der jüngsten Apologie der Gruppenselektion, die der Vater der Soziobiologie, Edward O. Wilson (2012), veröffentlich hat, nachklingt – in der zur Bedingung für Eusozialität erhobenen Existenz eines „defensible nest“, das von der Folgegeneration nicht verlassen wird und ein arbeitsteiliges inneres Milieu entstehen lässt, das eine neuen Typ von Anpassungen – an der individuellen organischen oder ethologischen Spezialisierung vorbei – erzwingt. Zu beachten ist, dass der hier von Hugh Miller bis Edward O. Wilson in Anspruch genommene Mechanismus ein ganz und gar naturevolutionärer ist und selbst keinerlei „kulturelle“ Züge aufweist. Er markiert lediglich eine „Bedingung der Möglichkeit“ für die Entstehung von Kultur – gewissermaßen im Windschatten des durch Gruppenbildung verminderten natürlichen Selektionsdrucks. Damit wird aus der „verminderten“ Selektivität qua kultureller Gruppenbildung eine „veränderte“, welche die vereinzelten „Genegoisten“ zur Anpassung an das Binnenmilieu oder Binnenbiotop der Gruppenprozesse zwingt und die entsprechenden Verhaltensweisen fördert und befestigt. Entlang dieser Linie argumentierte schon Darwin für die wichtige Rolle der Gruppenselektion bei der Menschwerdung. Und entlang dieser Linie argumentieren (gegen die Rolle der Gruppenselektion!) dann auch die Vertreter des strengen Genegoisten, dass der (keineswegs pauschal abzustreitende) Nutzen der Gruppenbildung (zum gemeinsamen Grasen, Fliehen, Jungenaufziehen, bei der Frühwarnung vor Fressfeinden etc.) ein strikt individueller sei, das einzelne Individuum profitiere davon, dass es durch seine Gene zur Gruppenbildung in bestimmten Lebenslagen angehalten werde, die Gruppe selbst sei bloß ein Mittel des Einzelnen, ein Epiphenomen ohne eigenständigen Akteurstatus. Einmal mehr landen wir somit bei der eingangs zitierten Gruppierung und sekundären Vergesellschaftung gleichartiger Individuen, die in dem oben zitierten Verwendungsbeispiel mit den Delphinen anklang. Es ist durchaus kein Zufall, dass sich die vehemente explizite Debatte über den Kulturbegriff des Neoevolutionismus um die Frage nach der „Gruppenselektion“ herum kristallisiert. Sie ist es, an der sich „Freund“ und „Feind“ radikal scheiden. Ist die Gruppe so etwas wie eine eigenständige Produktivkraft des Biologischen und des Kulturellen, die die ursprüngliche Entwicklungsrichtung, den „Pfad“, umkehrt oder radikal verändert, oder ist sie ein nominalistisches Artefakt der Tatsache, dass der Zusammenschluss den einsamen Genegoisten in manchen Lebenslagen Vorteile verschafft? In der Sache ist diese Frage natürlich nicht zu entscheiden, weil Grenzen zwischen Kooperation und wechselseitiger Exploitation eben in der Sache nicht zu ziehen sind.
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Wie bereits an anderer Stelle in diesem Band15 zitiert: Burke (1969: 25 [1950]) schreibt, als hätte er die Debatte schon geahnt: „who is to say, once and for all, just where ‚cooperation‘ ends and one partnerʼs ‚exploitation‘ of the other begins?” Auch hier entpuppt sich die letzte Instanz als eine Instanz des moralischen Bekenntnisses. „Egoismus“ konnotiert moralisch negativ und verschafft seinen Bekennern den Bonus des zynisch-realistischen Aufklärers. „Kooperation“ konnotiert moralisch positiv und verschafft seinen Bekennern den Bonus des historisch-optimistischen Gutmenschen. Hugh Miller (1964) hingegen konfiguriert die Gruppenbildung als eine genuin evolutionistische Produktivkraft: Sie reduziert den Anpassungsdruck auf den Einzelnen, sie verhindert physiologische Spezialisierung und schafft ein (leicht veränderbares) Binnenklima, das seinerseits einen alternativen und immer symbolisch abgemilderten Selektionsdruck kanalisiert. Claessens (1970) argumentiert in seinem zu Unrecht weitgehend vergessenen Text dafür, Millers Insulationsthese mit einem weiteren marginalen Narrationsstrang der Evolutionslehren zu koppeln: mit Alsbergs (1922) Prinzip der Indirektheit und der „Körperausschaltung“. Biologen müsste doch eigentlich der Umstand beeindrucken, dass der Mensch (ohne die ansonsten definitorischen physiologischen Merkmale der Räuber: scharfe Eckzähne, Hauer, Hörner oder sonstige natürliche Waffen, ohne hoch differenzierte sensorische Beuteschemata etc.) das Ensemble der ebenfalls „sozial“ organisierten Jäger (Löwen, Wolfsartige, Hyänen) aus dem Feld geschlagen haben. Was ja ohne genuine und dominante Gruppen-, d.h. Kooperationseffekte gar nicht geht. Alsbergs (1922) Körperausschaltung freilich ist nur eine Variante des uralten Werkzeuggedankens, der ja ebenfalls (kompatibel mit Symbolen als den Werkzeugen der Kognition) die evolutionistischen Kulturdebatten so lange beherrscht hat, wie materialistische Modelle der Selbstproduktion des Menschen durch kollektiven Werkzeuggebrauch und Sprache en vogue waren. Über mehrere Jahrzehnte hinweg konnte sich jeder, der zum Verhältnis von Natur- und Kulturevolution arbeiten wollte, darauf verlassen, dass er zuverlässig mit jenen japanischen Makaken zusammentreffen würde, die gelernt hatten, ihre Süßkartoffeln im Meer zu waschen und zu würzen. Es war dies wohl der erste wirklich beobachtete „Fall“ der (kulturellen) Weitergabe einer ontogenetisch erworbenen Technik, der seit dem frühen Bericht aus dem Jahr 1953 bis heute immer wieder debattiert wird. Allerdings gilt das (gelernte und weitergegebene) Waschen und Salzen von Süßkartoffeln heute nicht mehr unangefochten als „repräsentative Anekdote“ für Kultur (vgl. Tomasello 2002: 23-49). Nicht zuletzt des-
15 Vgl. den Beitrag zur „Tragedy of the Commons“ in diesem Band.
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wegen, weil das beobachtete Ausbreitungsmuster für dieses Verhalten sehr langsam und familienzentriert zu sein scheint, während echte soziale Imitation exponentielle Ausbreitung von erfolgreichen Verhaltensmodellen in einer Population erwartbar machen würde. Weiterhin hat man (wie Tomasello 2002: 38f berichtet) alsbald festgestellt, dass das Waschen und Säubern von Nahrung relativ oft spontan bei Makakenarten zu beobachten ist und somit durchaus nicht klar von deren „natürlichem“ Verhaltensrepertoire absticht, das ja durchaus eine erhebliche Variationsbreite aufweisen kann. Immerhin illustriert der Fall der japanischen Makaken bis heute, wie schwierig die Abgrenzung zwischen „Kultur“ und „Natur“ ist, wenn es um konkrete Verhaltensweisen geht. Die viel zitierten Schimpansen mit ihren populationsspezifischen und oft Generationen überdauernden lokalen Traditionen in Futterwahl, Gesten und Werkzeuggebrauch (z.B. Termiten angeln mit dazu präparierten Stöckchen) lassen sich auch als Ergebnis „umweltbedingter Formung“ (Tomasello 2002: 40) angeborener Verhaltensweisen interpretieren. Tomasello (2002) selbst argumentiert darum sinngemäß, dass wir erst dann definitiv die Grenze zwischen „Natur“ und „Kultur“ überschreiten, wenn die Imitation (im Meadschen Sinne) signifikant wird, auf Intentionsunterstellung und Perspektivenübernahme beruht und sich somit vom Signalmodus der ontogenetischen Ritualisierung deutlich absetzt. Und so gesehen wäre das einzige, was Neugeborene „von Natur“ mitbringen würden, eben die angeborene Fähigkeit zu Perspektivenübernahme und Intentionsunterstellung. Denn da jedes Neugeborene in jede Kultur „hineinwachsen“ kann, müsste sich alles Übrige aus dieser selbst ergeben (und eventuell noch aus den kulturspezifischen Einrichtungen, die dieses „Hineinwachsen“ organisieren helfen). Ganz im Gegensatz zu Edward O. Wilsons „kurzer Leine“ wäre dann allerdings anzunehmen, dass es zwischen dem Verhalten eines kulturalisierten Erwachsenen und dessen Genen gar keine direkte und kausale Verbindung geben sollte (Tomasello 2002: 113).
[10] K ULTUR
ALS GESELLSCHAFTLICH ORGANISIERTES
UND SYMBOLISCH REFLEKTIERTES
N ATURVERHÄLTNIS
Führt man dem im letzten Abschnitt umrissenen Gedankengang (der erkennbar der „kulturhistorischen“ Denktradition Lew S. Wygotskis und seiner späteren Adepten – von Alexander Lurija bis Jerome Bruner – folgt), so ergibt sich ein neuer Blick auf den lamarckistischen Charakter kultureller Dynamik. „Lamarckistisch“ ist hier natürlich stets mit Anführungszeichen zu nehmen, da der OriginalLamarckismus ja die genetische Weitergabe individuell erworbener Merkmale (in
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Verhalten und Anatomie) postulierte, die wohl mittlerweile allgemein für ausgeschlossen gilt. Wer sich auf den „Lamarckismus“ kultureller Entwicklung beruft, der meint de facto wohl stets deren kumulative Natur: Potentiell wächst jedes Individuum in den jeweils letzten und „höchsten“ Stand der erreichten kulturellen Entwicklungen hinein. Begrenzt wird diese Möglichkeit de facto durch Klassentrennung, soziale Ungleichheit, Segregation (und die Aufgabe gesellschaftlicher Bildungsinstitutionen ist die Minimierung der Auswirkungen dieser Grenzen). Das heißt im Gegenzug aber auch, dass die kumulative kulturelle Entwicklung entweder in der natürlichen Reichweite der nachwachsenden Individuen bleiben oder diese gewissermaßen mitziehen muss. Für die Gesamtheit dieser „lamarckistischen“ Phänomene hat sich die Bezeichnung „Wagenhebereffekt“ (Tomasello 2010) durchgesetzt. Illustrieren lässt sich das durch den kindlichen Erstspracherwerb: Für Sprachwissenschaftler der nativistischen Tradition bilden die Kinder der jeweils nächsten Generation die Prüfinstanz für Sprachveränderungen, was deren Kompatibilität mit der angeborenen Universalgrammatik betrifft: Nicht Systemgemäßes würde durch den angeborenen Erwerbsmechanismus verworfen und müsste wieder verschwinden. Das wäre die Option der natürlichen Begrenzung kulturellen Wandels. Für einen eher kulturalistischen Spracherwerbsforscher wäre im Gegenzug der historische Sprachausbau durch Schrift und Schriftlichkeit, Buchdruck, Medienrevolutionen etc. ein Faktor, der die Individuen der nächsten Generation qua Spracherwerbsdruck (und Verbesserung der Bildungsinstitutionen etc.) auf eine höhere (oder jedenfalls andere!) Ebene mitziehen müsste. Die Reichweite der je nächsten Generation wäre bestimmt durch die ihr verfügbaren und bereit stehenden Werkzeuge, Produkte, Artefakte, Symbole, die ihrerseits das Ergebnis vergangener kultureller Kumulation bilden (wie etwa im Modell von Tomasello 2002). Der Wagenhebereffekt wäre dann verantwortlich für die Plausibilität der Erfahrung und Erwartung kulturellen Fortschritts – aber er wäre auch ein Transporteur für die bloß modische Variation des jeweils Angezeigten und Angesagten, die sich als Fortschritt gibt. In jedem Falle – und das ist gewiss erst ein Ergebnis unserer globalen und „ungleichzeitigen“ Erfahrungen – ist die natürliche Ausstattung, mit der wir auf die Welt kommen, mit steinzeitlichen Sammler- und Jägerexistenzen ebenso mühelos kompatibel wie mit Düsenjet, Atomkraftwerk und Internet (worauf Jared Diamond immer wieder hinzuweisen nicht müde wird). Erkennbar werden in dieser Konstellation die Konturen eines evolutionistischen Kulturbegriffs, der nicht nur rhetorisch, sondern auch heuristisch interessant wäre, weil er über die induktive Suche nach kulturellen Universalien hinaus (vgl.
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Antweiler 2007) sensomotorische und soziosemiotische Grenzbedingungen kultureller Vermittlung allgemeiner in den Blick nehmen könnte, wie sie auf Teilgebieten der Spracherwerbs- und Kognitionsforschung längst auf der Tagesordnung stehen: inwiefern etwa das Sprechen in allen Kulturen „von selbst“ (ohne Institutionen) gelernt wird, das Schreiben und Lesen aber der Unterweisung in höherem Maße bedarf. Der kulturelle „Wagenheber“ sorgt (wie es Tomasello 2002: 234f formuliert) für eine völlig neue Ordnung der Zeitskalen. Zwischen Phylogenese und Ontogenese schaltet sich die kumulative kulturelle „Vererbung“ mit ihren materiellen und symbolischen Artefakten, an deren „letztem Stand“ sich die Ontogenese abzuarbeiten (und gewissermaßen hochzuziehen) hat. Eine starre, phylogenetisch evolvierte und kleinteilig modulare psychische Organisation, wie sie den führenden Evolutionspsychologen (z.B. Tooby & Cosmides) vorschwebt, wäre für solche Verhältnisse völlig ungeeignet, weil hochgradige Plastizität der Individuen für die verschiedensten kulturellen Anforderungen unabdingbare Voraussetzung wäre (in der anthropologischen Tradition als „Nichtfestgelegtheit“ thematisiert, etwa bei Arnold Gehlen). Zur menschlichen „Natur“ gehört es eben auch, binnen einer (oder weniger) Generationen von steinzeitlichen zu spätkapitalistischen Kulturen übergehen zu können. Hier jedenfalls beinhaltet das „lamarckistische“ Denkmodell die Vorstellung, Kulturevolution verhalte sich zur Naturevolution wie die Herauszüchtung erwünschter Eigenschaften in der Ontogenese zur pfadgebundenen Blindheit der natürlichen Selektion. Wechsel zwischen zwei höchst ungleichen Kulturen ist im Prinzip zwischen zwei Generationen möglich. Das Narrativ vom „Steinzeitjäger im Spätkapitalismus“ (Tiger & Fox 1976) müsste aus dieser Perspektive ganz anders gedeutet werden: nicht als Beleg für Rückständigkeit und Überforderung der menschlichen „Natur“ in der modernen „Massengesellschaft“, sondern vielmehr als Staunen über die schier unbegrenzte Steigerungsfähigkeit und Plastizität dieser Natur. Und damit sind wir bei einer weiteren, höchst wirkmächtigen Traditionslinie des Kulturbegriffes angekommen, die durch den Neoevolutionismus extrem stark tangiert wird: der psychoanalytischen. Freuds „Kultur“ bildet einen stets prekären Firnis über unserer antisozialen Triebnatur. Sie nötigt uns mit Zwang (und dann bei Norbert Elias auch mit „gesellschaftlichem Zwang zum Selbstzwang“!) zur Beschränkung und Einhegung unserer Triebe. Zwischen natürlichen Antrieben und kulturellen Forderungen gibt es stets einen unversöhnlichen Gegensatz, und jede Kultur ist so etwas wie eine Verlaufsform für diesen Gegensatz, sie stabilisiert sich im Verhältnis von äußeren Institutionen und inneren Instanzen (Überich, Ichideal). Jede Kultur – so heißt es in Die Zukunft einer Illusion (1927) – muss auf Zwang und Triebverzicht aufbauen (Freud 1974: 121). Sie kann nur gegen die Natur (und eigentlich nie dauerhaft und „nachhaltig“) aufgebaut und stabilisiert
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werden. Quelle des erforderlichen Zwanges ist der soziale Zusammenschluss, der die zur Disziplinierung der Triebnatur erforderlichen Machtkonzentrationen hervorbringt. Ganz im Geiste Darwins sieht auch Freud die Dialektik zwischen den kulturellen Innenbeziehungen zur Eigengruppe und den Beziehungen zur Fremdgruppe: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben. […] Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden.“ (Freud 1974: 243)
Es ist schon oft bemerkt worden (z.B. Gould 1984: 220f), dass dieses Freudsche Narrativ einen zutiefst religiösen Typ von Binarisierung praktiziert: Was wir an uns selbst kritisieren und abwerten (Triebhaftigkeit, Egoismus etc.), das schreiben wir auf unser „animalisches“ Konto, und was wir qua „Kultur“ hoch schätzen, das betrachten wir als fortschreitend ratioide Eigenleistung oder (mit den Worten von Gould 1984: 220) „als einzigartigen Überbau, von unserer Vernunft entworfen und einem unwilligen Körper aufgezwungen“. Dieses enorm zeitstabile Motiv der fortschreitenden Selbstdomestikation durch Kultur (es ist z.B. auch im Zivilisationsmodell des Soziologen Norbert Elias enthalten) wird in der neoevolutionistischen Kulturkritik an zwei Stellen durchlöchert: einmal durch die Elemente von biologischem Determinismus, die jedwede kulturelle „Steigerung“ unserer biologischen Natur als fromme Selbsttäuschung erscheinen lassen, noch nachhaltiger aber durch das ökologische Denormalisierungspotential der (nicht mehr „unterworfenen“, sondern sich als ultimative Limitierung aller Ressourcen ins Spiel bringenden) äußeren Natur.16 Wer den Darwinismus ernst nimmt, kann jedenfalls nicht mehr derart naiv binarisieren. Selbst ein „linker“ Evolutionist wie Gould schreibt (gegen ad-hoc-Binarisierungen wie: Großstädte seien „unnatürlich“): „Menschen sind Tiere, und alles, was wir tun, liegt in unserem biologischen Potential“ (Gould 1984: 211). Um dann freilich fortzufahren, dass das, was wir wirklich tun, nur vor dem Hintergrund unserer kulturellen Kodierungen Sinn ergibt Zynische Evolutionisten wie Gray (2010) nutzen den Umstand, dass diese Binarisierung nicht mehr zur Verfügung steht, freilich anders: Keine Spezies könne (qua „Kultur“ oder sonst wie) ihr evolutionäres
16 Was verständlicherweise auch den Malthusianismus revitalisiert; vgl. zur „Tragedy of the commons“ in diesem Band.
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Schicksal selbst in die Hand nehmen, das Internet sei ebenso ein Phänomen der Natur wie ein Spinnennetz etc. (Gray 2010: 17, 31). Das „alte“ Selbstdomestikationsnarrativ läuft freilich daneben immer noch mit, wenn z.B. Dawkins nicht müde wird zu predigen, dass wir eben darum Güte und Altruismus lehren müssten, weil die Natur uns zu rücksichtslosen Egoisten gemacht habe.
[11] K ULTUREVOLUTION UND N ATUREVOLUTION Dass die lang andauernde Engführung von Naturevolution und Kulturevolution im Zeichen von Fortschritt, Steigerung und Komplexitätsgewinn inzwischen von beiden Seiten her aufgelöst ist, wird heute niemand bezweifeln. Kein Biologe wird heute unbefangen vom „Fortschritt“ in der Natur sprechen, und kein historischer Soziologie vom teleologischen oder gesetzmäßigen „Fortschritt“ in der Entwicklung von Gesellschaften. Sicher gibt es diesseits noch das Narrativ „vom Einzeller zum Menschen“ und jenseits das Narrativ „vom Sammler und Jäger über den sesshaften Ackerbauer und Viehzüchter zur Industriegesellschaft“ – aber beide werden nicht mehr als einfach lineare Fortschrittsgeschichten erzählt. Von Reichholf bis Jared Diamond ist man einig, dass Ackerbauern und Viehzüchter zwar größere Populationen ernähren können als Sammler und Jäger, dass sie aber durchweg zunächst schlechter ernährt, weniger gesund und keineswegs rundum „besser dran“ waren als ihre sammelnden und jagenden Vorfahren. Und was das Verhältnis von Natur- und Kulturevolution angeht, so gilt: Evolution ist als Letztbegriff unbezweifelbar. Wer, wie Kreationisten und andere religiöse Fundamentalisten, die „Realität“ der Naturevolution (oder ihre Relevanz für den Menschen) abstreitet, der stellt sich außerhalb jeder rational aufgeklärten und wissenschaftlichen Debatte. Das macht eine antireligiöse Suada wie Dawkins´ Gotteswahn (Dawkins 2006) zu einem Selbstläufer in der populären massenkulturellen Welt, auch wenn der Autor nicht gerade mit theologischer Fachkenntnis glänzt. Darauf kommt es nämlich gar nicht an. Recht hat er, weil man über den verfehlten Anspruch religiöser Welterklärung (intelligent design etc.) bereits von vornherein verständigt ist. Und selbst ein hart gesottener Kulturalist würde niemals öffentlich bezweifeln, dass auch alle menschlichen Kulturen „letztlich“ den Gesetzen der Naturevolution unterworfen sind – bei Strafe des Untergangs. Schon dieser Umstand ernüchtert und dämpft kulturwissenschaftliche Deutungsansprüche im Zeitalter der globalen Ökologie erheblich. Er wirkt wie eine sanfte Nötigung für Kulturwissenschaftler, doch gefälligst ihre Axiomatiken evolutionskom-
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patibel einzurichten – wie es Sprachhistoriker, Soziologen, Psychologen, Ökonomen längst getan haben. Man mag diese symbolische Verbeugung vor der Evolution ridikülisieren oder sie als sekundäre Ritualisierung im Dienste des Zusammenhalts natur- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen schmähen. Los wird man sie so nicht. Erkenntnisse, die sich qua „Evolution“ ausweisen und rechtfertigen können, müssen als jedweder Wertung entzogen hingenommen werden, ob man sie mag oder nicht. Sie erwerben den (kulturellen!) Status von Sachzwängen, wenn man sich darüber einigen kann, was aus ihnen folgt! Allerdings gilt für diese narrative Engführung von kulturellen und biologischen Evolutionsprozessen (Darwin bezog bekanntlich nicht wenige seiner Anregungen von der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft seiner Zeit),17 dass man stets neu daran erinnert wird, dass unsere Modellgedanken über Natur und Gesellschaft aus den gleichen Quellen stammen und aus den gleichen Quellen gespeist werden. Ganz ähnlich wie sich eine handfeste „Sprache“ bei näherer Betrachtung in ein höchst unübersichtliches Bündel von (wechselseitig partiell verständlichen?) Varietäten – und bei noch näherer Betrachtung in die „Sprechtätigkeit der Individuen“ – auflöst, so entpuppen sich auch Arten und Kulturen zusehends als Formen von geordneter Variation, bei denen wir nie ganz sicher sein können, wie viel der wahrgenommenen Ordnung aus unserer zur aktiven Typisierung neigenden kognitiven Auffassungsgabe (und wie viel aus dem Beobachtungsfeld selbst) stammt. Es ist verständlich, dass ein weißer Mitteleuropäer einen schwarzen Zentralafrikaner (oder vice versa) zu einer anderen „Menschenrasse“ rechnet. Aber ein Evolutionsbiologe, der seine Murmeln beisammen hat, wird darauf verweisen, dass es bezüglich aller einzelnen typisierenden Merkmale ein vollständiges Kontinuum von Übergängen zwischen dem gibt, was für den weißen Mitteleuropäer, und dem, was für den Schwarzafrikaner „charakteristisch“ ist – ergo keinerlei Anhaltspunkte für die Identifikation von „Menschenrassen“ (Gould 1984: 195).18 Ganz Ähnliches widerfuhr den Junggrammatikern, als sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an die empirische Beschreibung der „Dialekte“ machten, die sich nämlich unter der Hand in Merkmalsaggregierungen auflösten, deren jedes einzelne eine eigene räumliche Grenze aufzuweisen hat (wie jeder weiß, der in eine Isoglossenkarte geschaut hat), so dass am Ende kein „Dialekt“ wirklich zu fassen oder scharf zu begrenzen ist. Demnach ist es kaum verwunderlich, wenn sich auch „Kulturen“, symbolische Ordnungen, als solchermaßen scheindiskret erweisen, als Varianzmuster, bei denen innere und äußere Variation
17 Man vergleiche nur das berühmte 3. Kapitel aus dem Descent of Man! 18 Ich erinnere nochmals daran, dass so gut wie alle Neoevolutionisten dem Rat Goulds gefolgt sind, jede „rassische“ Klassifikation der Menschen aufzugeben.
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so wenig zu trennen sind wie bei den Dialekten (vgl. Antweiler 2007: 135ff, der nach dem Stoßseufzer „Ich kann hier unmöglich den Kulturbegriff ausführlich diskutieren“ dartut, dass nur aus der „emischen“ Innenperspektive so etwas wie Kulturzugehörigkeit fixiert werden kann). Womöglich schönt oder verzerrt unsere kognitive Ausstattung gerne komplexe Eindrücke hin zur abstraktiven Gestaltbildung und Typisierung – gegenüber der Natur wie gegenüber der Kultur. Was ja denn selbst wieder als evolutionäre Anpassung thematisiert werden könnte! Indessen etabliert sich in den Schnittflächen von biologischer Evolution und Gesellschaftswissenschaften so etwas wie eine übergreifende Minimaldefinition von Kultur. Über deren Ausgestaltung im Detail gibt es durchaus Streit, insbesondere darum, wie sich kulturelle Merkmale verbreiten, ob sie auf die natürliche Selektion zurückwirken (können) etc. In jedem Falle gehören Imitation, Variation, Weitergabe und Gruppendifferenzierung zur definitorischen Minimalausstattung. Hören wir zum Abschluss Edward O. Wilson: „As defined broadly by both anthropologists and biologists, culture is the combination of traits that distinguishes one group from another. A culture trait is a behaviour that is either first invented within a group or else learned from another group, then transmitted among the members of the group. Most researchers also agree that the concept of culture should be applied to animals and humans alike, in order to stress its continuity from one to the other and notwithstanding the immensely greater complexity of human behaviour.“ (Wilson 2012: 213)
Handgreiflich ist in dieser Definition die Ablösung eines prinzipiellen durch einen graduellen Unterschied. Wilson verweist allerdings im folgenden Passus durchaus auf die scharfe Diskontinuität zwischen dem sozialen Lernen bei Schimpansen, die in vielen neueren Untersuchungen festgestellt worden ist (u.a. Tomasello 2002, 2010). Und dann kommt er zu sprechen auf die bottlenose dolphins vor der australischen Küste, die uns bereits eingangs in einer medialen Anschlusskommunikation begegnet sind: „A striking example of innovation and cultural transmission in the latter animals is spongefishing by the bottlenose dolphins of Australia´s Shark Bay. A small minority of females attach a fragment of sponge to their nose, then push with it to flush fish from tight hiding places on the bottom of the bay channels. Culture in dolphins should not come as a great surprise. They are among the most intelligent of all animals, ranking in that respect just below monkeys and apes. Because dolphins are also intensely imitative during their social interactions, it seems very likely that the Shark Bay innovators engage in true cultural transmission.“ (Wilson 2012: 214)
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Damit schließt sich der Kreis. So ganz wollte der medienerfahrene Wilson dann doch nicht auf den massenkulturellen Flipper-Effekt verzichten, der letztlich dafür verantwortlich ist, dass wir den Delphinen manches zutrauen. Eben auch Kultur.
[12] S CHLUSS Es ist nicht ganz einfach, den hier aufgehäuften Wust von Beobachtungen und populären Theoretisierungsversuchen am evolutionistischen Kulturbegriff zu resümieren. Paradoxerweise scheint das höchst abstrakte „Tieferlegen“ des Kulturbegriffs, das Luhmann verschiedentlich empfohlen hat, einen Großteil dessen zu erfassen, was die Beobachtungen ergeben haben. Danach wird ein Phänomen dadurch zu „Kultur“, dass es vergleichend, und damit als „auch anders möglich“ beobachtet wird. Kulturell deckt sich da weitgehend mit kontingent. Dem gegenüber konstituiert die Beobachtung eines Phänomens als „Natur“ dieses traditionellerweise als „notwendig so, wie es ist“, als „nicht anders möglich“. Die soziobiologische Beobachtung von Gesellschaften geht ihrem Anspruch nach gewiss auf das, was als gesellschaftliche Organisationsform biologischer Notwendigkeiten gelten soll und somit jedenfalls kulturelle Variation begrenzt. Andererseits gilt natürlich gerade für den modernen Evolutionsbegriff, so weit er nicht ganz und gar adaptionistisch verrannt ist, dass auch die Biologie der Lebewesen keineswegs notwendigerweise so ist, wie sie ist, sondern einfach nur mehr oder minder zweckmäßig, aber durchaus (das beweist die stets vorhanden Variation) „auch anders möglich“. Dadurch gelingt es, auch einen nicht ganz unbeträchtlichen Teil tierischen Verhaltens als „kulturanalog“ zu beobachten – und Kulturen bzw. Gesellschaften als Pseudospezies´. Selbst die trivial-meliorativen Verwendungen von „Kultur“, von denen einleitend die Rede war, lassen sich in dieses abstrakte Muster einfügen. Festzuhalten ist allerdings, dass die Naturalisierung menschlichen Verhaltens ebenso dazu taugt, dessen moralische und wertmäßige Dimensionen auszublenden, wie umgekehrt die Kulturalisierung „natürlicher“ Prozesse und Verhaltensweisen deren moralische Dimension erst sichtbar macht. Die quasi-kulturelle Beobachtung der nichtmenschlichen Natur zeigt uns diese als ebenfalls kontingent, und sie zeigt uns im ökologischen Zeitalter auch, wie sehr das, was uns als projizierte „Natur“ gilt, bereits Ergebnis unserer eigenen Einwirkung und Aneignung ist. Die induktive (bzw. überwiegend abduktive) Beobachtung der Kulturen und Gesellschaften zeigt uns im Gegenzug, wie wenig die spektakulären Erfolge unserer Naturaneignung uns wirklich von den harten Vorgaben befreit haben, die wir als Naturwesen einzuhalten haben.
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In diesem Zusammenhang hat Hannah Arendt bereits in den 50er Jahren, also lange vor jedweder öffentlichen Ökologiekonjunktur, hingewiesen, wo sie von den langfristigen Ähnlichkeiten zwischen unseren Natur- und Geschichtsvorstellungen spricht. In einem Vortrag aus dem Jahr 1957 mit dem Titel „Natur und Geschichte“ (abgedruckt in Arendt 1994: 54-79) heißt es: „Dieser Unterschied zwischen Natur und Geschichte, der unser Denken so lange beherrscht hat, ist heute eine Sache der Vergangenheit. So wie wir dachten, Geschichte zu machen, nämlich durch unser Handeln bestimmte Prozesse loszulassen, deren Folgen letztlich unvorhersehbar sind, die aber dennoch den Geschichtsprozess im Ganzen bestimmen, so können wir auch Natur ‚machen‘. Dies Stadium haben wir allerdings erst mit der Atomphysik erreicht.“ (Arendt 1994: 71)
Und nicht weniger drastisch erscheinen die alten Wahlverwandtschaften zwischen Evolution und Geschichte in dem Satz, den Friedrich Engels beim Begräbnis von Karl Marx geäußert hat: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte.“ (MEW 19, S. 335). Auch in dieser Version der Geschichte gibt es wenig Raum für kulturelle Kontingenz. In toto verschiebt sich durch die neoevolutionistischen Debatten das semantische Feld radikal, in dem der Kulturbegriff operiert. Die ehedem unstrittige Basisopposition: „Kultur“ – das sind in jedem Falle „Wir“, und „Natur“ – das ist in jedem Falle das andere, was wir uns kulturell aneignen und nach Belieben symbolisch definieren können, löst sich rasch auf, im Verhältnis zur Tierwelt ebenso wie im Verhältnis zur Umwelt im weiteren Sinne. Das (gesellschaftliche) Naturverhältnis erscheint zusehends als variables, aber entscheidendes Kernstück in der Vielfalt der Kulturen. Jared Diamond macht Erfolg und Überleben der Kulturen (die damit natürlich immer noch aussehen wie „Pseudospezies´“ – in der Terminologie von Konrad Lorenz) davon abhängig, ob ihre Leit- und Wertsysteme langfristig durchhaltbare Formen des Naturverhältnisses vorsehen (oder wenigstens erlauben). Die Entgegensetzung von „Kultur“ und „Natur“ hat ihre Anfangsplausibilität eingebüßt. Kulturelle Mechanismen sind nicht (mehr) exklusiv menschlich, und der Spielraum kultureller Variation und Variabilität erscheint radikal begrenzt durch ökologische Faktoren. Was den (mehr oder minder automatischen) kulturellen „Fortschritt“ betrifft, so ist dessen selbstverstärkende Bindung an eine gleichfalls fortschrittsgläubige Evolution von beiden Seiten nicht bloß gelockert, sondern bis auf wenige thematische Stränge (Wirtschaftswachstum, technische Vervollkommenung von Werkzeug, Maschinen, Aufklärungs- und Wissensfortschritt vielleicht) zertrennt. Wer
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auf historisch-kulturelle Besserungserfahrungen und Besserungserwartungen verweist, ohne die es ja keinerlei mobilisierende politische Projekte geben kann, der wird auf das evolutionistische Axiom verwiesen, dass die besten Anpassungen nichts mehr taugen, wenn sich (bzw. wenn wir!) die Umweltanforderungen radikal verändern. Gewiss sei der Mensch gegenwärtig die „fitteste“ Spezies der Erde (Schurz 2013: 191), aber vor dem zeitlichen Horizont der Evolution sei dessen Dominanz eine marginale Episode, seien Ameisen und Kakerlaken womöglich auf Dauer „fitter“. Wir, die Menschen – so geht Jared Diamonds große Erzählung – sind dabei, den „Fortschritt“ der letzten Jahrtausende unwiderruflich zu verspielen. Als multikulturell im durchaus politischen Sinne erweist sich auch der Evolutionismus. Auch er erkennt die Einladung zu exklusiver Wir-Bildung und Identifikation an die Eigengruppe und Abstoßung der Fremdgruppen, die in jeder Kultur verborgen liegt, nimmt aber keine spezielle Einladung an (außer der, die die Kultur des Evolutionismus selbst ihm bietet – Und die ist natürlich der kreationistischen, antievolutionistischen etc. weit überlegen!). Ebenso wie im politischen Multikulturalismus wird jedoch auch im evolutionistischen die differenzierende Bewertung der Kulturen keineswegs aufgegeben. Sie rückt lediglich an den anerkannt überlebenswichtigen Horizont der kulturellen Naturverhältnisse. Hauptgegenstand der neoevolutionistischen Kulturkritik ist darum die „Naturvergessenheit“ der Kulturen. Dem vergleichenden Außenblick bieten die Kulturen eine zunächst kontingent wirkende Variation, dem Innenblick der „Teilnehmer“ erscheinen ihre Bedeutungen, Werte, Regeln jedoch teils „natürlich“ (horribile dictu) und teils gar heilig. Letzteres wohl vor allem dann, wenn sie vor dem Hintergrund erwartbarer Normalität unwahrscheinlich sind und erhebliche Machtquanten erforderlich sind, sie durchzusetzen. Der neoevolutionistischen Außenblick beansprucht einerseits, für die gesamte Bandbreite der realisierten Variation natürlich Konstanten aufzustellen (vgl. die Diskussion bei Antweiler 2007). Die Soziobiologenfraktion konzentriert sich dabei auf die monotone und monomane Suche nach dem (bisweilen gut versteckten!) Fortpflanzungsvorteil in kulturellen Regeln. Die Memfraktion akzeptiert eine relative Autonomie kultureller Replikatoren, begrenzt deren Variation/Selektion allerdings qua Kompatibilität mit den basalen und harten Regeln der Selektion auf der egoistischen Genebene. Die konnotative Resteverwertung des identifikatorischen Hochwertbegriffes Kultur lebt weiter in der aufwertenden Kulturalisierung reputativ niedriger sozialer Sphären. Sie lebt auch fort in formelhaften Konstruktionskontexten wie „die Kultur des Gesprächs, der Verständigung“ etc. Ansonsten darf der spezifisch deut-
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sche, bildungsreligiöse und pathetische Kulturbegriff spätestens seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts als abgetan gelten. Was Hannah Arendt (ebenfalls bereits in den 50er Jahren!) über diesen Kulturbegriff schreibt, dass kann jedenfalls durch den evolutionistischen Kulturbegriff als eingelöst gelten: „Wir brauchen uns nicht mehr über die ‚gebildeten Philister‘ zu erzürnen, die durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch […] den Verlust echter Autorität mit einer unausstehlichen Verhimmelung von ‚Kultur‘ wettzumachen suchten. Diese Kultur nimmt sich ohnehin für die meisten Menschen von heute wie ein Ruinenfeld aus, das, weit entfernt, ihnen zu imponieren, kaum ihr Interesse zu fesseln vermag. Man kann diese Tatsache beklagen, aber in ihr liegt die große Chance, auf die Vergangenheit mit einem von keiner Überlieferung getrübten Blick zu schauen.“ (Arendt 1994: 37)
Diesen Blick jedenfalls ermöglicht der enthistorisierte Kulturbegriff des Evolutionismus ohne Zweifel. Nicht wirklich überwunden ist hingegen in der neoevolutionistischen Kulturdebatte die (ziemlich robuste) Ausgangskonstellation aller Natur-Kultur-Binarisierungen, was die menschlichen Verhältnisse betrifft: Wir sind entweder von Natur aggressiv und egoistisch und müssen durch Kultur und Gesellschaft domestiziert werden (das „pessimistische“ Modell von Hobbes) oder wir sind von Natur kooperativ und altruistisch und werden durch Kultur und Gesellschaft korrumpiert, unserer Natur entfremdet (das „optimistische“ Modell von Rousseau).19 Als weitere Komplikation lässt sich in dieses Schema die Variable eintragen: lasche, natürlichen Selektionsdruck mindernde Kultur (mit potentiell humanisierenden oder aber degenerativen Konsequenzen)20 vs. überstrenge (und darum stets prekäre) kulturelle Landnahme auf Kosten unserer „Natürlichkeit“ (Freuds „Unbehagen“). Bezeichnenderweise ist das Letztelement in diesen Verzweigungen stets eine moralische Opposition.21 Und das trägt möglicherweise mit dazu bei, dass wir erklären können, warum die axiomatischen Debatten des Neoevolutionismus nicht nur in der fachlichen Teilöffentlichkeit der Biologen verhandelt werden, sondern im grellen Scheinwerferlicht der massendemokratischen Öffentlichkeit.
19 Das bei näherer Betrachtung nicht so optimistisch ist, wie es hier geschildert wird. 20 Toepfer (2011: 341-373, Eintrag „Kultur“) führt den ideengeschichtlichen Strang der kulturellen Isolierung gegen Selektionsdruck bis auf Wallace zurück, die Konkurrenz von Gruppen- und Individualselektion auf Darwin. 21 Mehr zur moralischen Dimension des Neoevolutionismus im Beitrag „Die Moral des Neoevolutionismus“ in diesem Band.
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Zu offenkundig korreliert der Siegeszug von Genegoismus und deterministischer Soziobiologie mit dem globalen Durchmarsch des Neoliberalismus in Politik und Wirtschaft. Es handelt sich um denkstilkonforme Phänomene, die einander mit Resonanz- und Anschlussmöglichkeiten befördern und für einander Ressourcen bereitstellen. Der Aufruhr, den Edward Wilsons Soziobiologie mit ihrem biologischen Deutungsanspruch für Gesellschaft nach 1975 auslöste, wich nach 1990 allgemeiner Zustimmung und kaum in Frage gestellter Hegemonie. Seither laufen soziologisch-politische Grundsatzfragen in den öffentlich ausgetragenen Axiomatik-Debatten der Biologie mit! Wer eine solidarische und kooperative Gesellschaft will, der fühlt sich gehalten zu behaupten, das Gen sei gar nicht egoistisch und überhaupt setze sich in der Evolution allenthalben Kooperation und Altruismus durch! „Das kooperative Gen“ bildet im vergangenen Jahrzehnt so etwas wie ein kommunikatives Genre, auf dem sich populäre Wissenschaftsjournalisten (Klein 2010), aber auch gestandene Biologen (Bauer 2008, Roughgarden 2009) tummeln. Ironischerweise werden die Kernbehauptungen des biologischen Determinismus durch solchermaßen „einfache Negation“ keineswegs in Frage gestellt, sondern klar bestätigt. Der Rückenwind der Natur soll möglichst die eigenen Segel schwellen. Wenn Kooperation das Erfolgsprinzip der Evolution ist, dann sollten auch wir kooperieren. Auch die populären Prediger egalitärer Gesellschaften (Wilkinson & Pickett 2009: 232ff) berufen sich nicht auf Geschichte oder Sozialwissenschaft, sondern geben dem Bonobo in uns (Sex/Kooperation/egalitär) den Vorzug vor dem Schimpansen in uns (Macht/Hierarchie/Egoismus)! Wissenschaftshistoriker werden in dieser Konstellation unschwer eine farcenhafte Wiederaufführung des Stückes sehen, das vor über 100 Jahren von Thomas Huxley und Peter Kropotkin auf die Bühne gebracht wurde (Kropotkin 1975) – damals mit freilich deutlich besseren Argumenten.
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Autorenverzeichnis
Fabian Deus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen. Er promoviert dort über die Begriffsgeschichte von „Fortschritt“. Anna-Lena Dießelmann arbeitet in der Forschungsgruppe Hermes der Universidad del Valle Cali (Kolumbien) und promoviert an der Universität Siegen über die Rhetorik und Semantik politischer Ausnahmezustände. Luisa Fischer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Sie promoviert dort über Wachstum und Wachstumskritik. Daniel Göcht hat Philosophie und Germanistik an der Universität Siegen studiert, ist in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung tätig und promoviert zurzeit an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. In seiner Dissertation untersucht er das Verhältnis von Realismus und Subjektivität in der späten Ästhetik von Georg Lukács. Clemens Knobloch lehrt Germanistische Linguistik an der Universität Siegen. Forschungsgebiete: Geschichte der Sprachwissenschaft, politische Kommunikation, Sprachpsychologie, deutsche Grammatik.
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