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German Pages 360 Year 2016
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit
Edition Kulturwissenschaft | Band 59
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.)
Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft
Der Band wurde mit Unterstützung der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gedruckt.
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Inhalt ENDLICHKEIT DES MENSCHEN Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft
Andreas Bihrer/Anja Franke-Schwenk/Tine Stein │ 9 Endlichkeit und Lebenssinn
Thomas Rentsch │ 35 Endlichkeit des Erkennens und Endlichkeit des Lebens in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur
Markus Saur │ 53 Kollektivtod, Gemeinschaftsbildung und Genealogie. Bewältigungsstrategien menschlicher Endlichkeit im Erzählzusammenhang der Nibelungenüberlieferung
Timo Reuvekamp-Felber │ 75 Endzeitvorstellungen vor dem Hintergrund von Naturkatastrophen
Manfred Jakubowski-Tiessen │ 99 Radikale Endlichkeit in chinesischen Perspektiven
Angelika C. Messner │ 113
ENDLICHKEIT DER NATÜRLICHEN RESSOURCEN Entscheidungen im Schatten der Endlichkeit – Ein Plädoyer für eine neue Gesprächskultur in der Onkologie
Frank Gieseler/Valerie Schäfer/Werner Theobald │ 138 Sittlichkeit und Nachhaltigkeit in einer Postwachstumsgesellschaft. Eine Forschungsagenda
Konrad Ott │ 150 Nachhaltigkeit, Endlichkeit, Knappheit – Eine begriffliche Abgrenzung unter dem Aspekt der Verarbeitung von Wissen
Daniel Jesche │ 179
Endliche Welt und offene Zukunft. Die Verarbeitung von Endlichkeit im ökologischen politischen Denken der siebziger und achtziger Jahre
Tine Stein │ 199 Exzessiver Konsum: Was behindert die Erfahrung von Endlichkeit? Antworten der soziologischen Theorie
Jörn Lamla │ 221
ENDLICHKEIT SOZIALER KONFIGURATION Das Ende der Bilder im Horizont antiker Interessenlagen, Wahrnehmungsbedingungen und Handlungszusammenhänge. Eine Skizze für den griechischen Kontext
Annette Haug │ 245 Endlichkeit und dynastische Kontinuität. Memoria und generationsübergreifende Verträge am Beispiel der Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296-1689)
Franziska Hormuth │ 275 Vom Ende der geordneten Welt − Kulturkritik und Krisenerfahrung um 1900
Silke Göttsch-Elten │ 291 „Energie-Pioniere“. Eine kulturanthropologische Forschungsskizze zu Endlichkeit und Agency im Kontext erneuerbarer Energien
Markus Tauschek │ 311 Reparieren in Gemeinschaft: Ein Fallbeispiel zum kulturellen Umgang mit materieller Endlichkeit
Maria Grewe │ 331 Autorinnen und Autoren │ 351
Endlichkeit des Menschen
Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft A NDREAS B IHRER /A NJA F RANKE -S CHWENK /T INE S TEIN
1.
E NDLICHKEIT – EIN D ESIDERAT S OZIALWISSENSCHAFTEN
FÜR
G EISTES -
UND
Endlichkeit ist eine essentielle Erfahrung der menschlichen Existenz. Unter Endlichkeit soll verstanden werden, dass etwas oder jemand – seien dies Dinge, Strukturen, Prozesse oder Personen – in Zeit und Raum ein Ende haben. Die in diesem Band versammelten Untersuchungen interessiert, wie Menschen Endlichkeit in unterschiedlichen historischen und kulturellen Konstellationen erfahren und wie sie mit dieser Erfahrung umgehen. Dabei wird von drei großen thematischen Feldern ausgegangen, in denen die menschliche Erfahrung von Endlichkeit wesentlich ist: erstens die Endlichkeit des Menschen selbst, zweitens die Endlichkeit der ihn umgebenden natürlichen Welt, und drittens die Endlichkeit der ihn umgebenden sozialen Welt. Zu diesen drei Bereichen liegen vielfältige einzelne Forschungsanstrengungen und Ergebnisse vor, so etwa mit der Thanatologie in Bezug auf den Tod und das Sterben, zudem gibt es zahlreiche Arbeiten zur ökologischen Krise als einer Krise des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und schließlich liegt eine ebenso umfangreiche Forschungsdebatte zu sozialen Krisen und Umbruchsituationen vor. Allerdings sind die in den einzelnen Disziplinen und Forschungsansätzen geführten Debatten zu den einzelnen Facetten von Endlichkeit, auch der hier spezifisch fokussierten drei Felder, in der Regel nicht mit einander verbunden. Diesem Desiderat folgend wurden für die drei hier untersuchten thematischen Felder Fragestellungen und Prämissen formuliert, die die disziplinären Perspektiven verbinden, in dem sie von der gemeinsamen Ka-
10 │ A NDREAS B IHRER /A NJA F RANKE -S CHWENK /T INE S TEIN
tegorie Endlichkeit ausgehen, die für das menschliche Weltverhältnis zentral ist. Die thematischen Felder erschließen zum einen gewissermaßen das „Wo“ von Endlichkeit, das heißt, wo Menschen Endlichkeit erfahren. Zum anderen ist aber auch das „Wie“ von Endlichkeit zu explizieren, denn es lassen sich für Endlichkeit bestimmte Arten und Weisen, Modi, aufzeigen, in denen sich Endlichkeit äußert: Endlichkeit wird erfahren als Vergänglichkeit, im Sinne von Sterblichkeit, als Begrenztheit, im Sinne von Knappheit, und als Transformation, im Sinne der Veränderung der den Menschen umgebenden Welt. Wie erfahren und bewältigen Menschen ihre Vergänglichkeit im Sinne der Erfahrung von Sterblichkeit – etwa untersucht am Beispiel des Tods als Thema der römischen Dichtung oder mit Blick auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient bei unheilbaren Krankheiten? Wie gehen Menschen mit der Begrenztheit natürlicher Lebensgrundlagen um – wird dies als ein Ende der Menschheit wahrgenommen, als Begrenzung der offenen Zukunft oder werden vielmehr produktive Strategien des Umgangs mit dieser Erfahrung als einer Krise entwickelt, die einen Umschlagpunkt der Veränderung darstellt? Und wie erfahren sie die Transformationen in der sie umgebenden sozialen Welt – zeigt sich zum Beispiel in der Antike beim Umgang mit der Endlichkeit von Bildern? Die Modi Vergänglichkeit, Begrenztheit und Transformation, in denen sich Endlichkeit äußern kann, sind dabei nicht beschränkt auf je eines der drei thematischen Felder Mensch, Natur und soziale Konfiguration, sondern können sich auch in dem je anderen Feld aufweisen lassen. Von der bisherigen Forschung ist es noch nicht geleistet worden, einen solchen erfahrungswissenschaftlich geprägten Begriff von Endlichkeit zu erarbeiten. Das ist eine zentrale, die Beiträge dieses Bandes verbindende Forschungsfrage. In Philosophie, Theologie und auch Mathematik gibt es systematische Diskussionen über Endlichkeit im Unterschied zur unendlichen Ausdehnung in Raum und Zeit, aber es ermangelt an einer Begriffsarbeit, die ihren Ausgang von der menschlichen Erfahrung und der Verarbeitung dieser Erfahrung mittels bestimmter Umgangsweisen nimmt. Hier soll eine solche erfahrungswissenschaftlich geprägte Begriffsarbeit geleistet werden, die rekonstruiert und vergleichend ordnet, die versteht und erklärt, wie Menschen in den sie umgebenden Sinnstrukturen Tod und Vergänglichkeit, Begrenztheit in ökologischen Systemen und den Wandel in einer sozialen Figuration erleben und wie sie damit umgehen. Endlichkeit erscheint wie ein universeller Reflexionsraum, in dem individuelle und kollektive Perspektiven eingeschlossen sind, Materielles wie Ideelles, Zeit und Raum umgriffen sind und in dem auch die ethisch-normative Dimension enthalten ist: Wie sollen wir mit Endlichkeit umgehen? Und was gilt in unterschiedlichen sozio-historischen Kontexten als ein guter Umgang mit Endlichkeit? Diese
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umfassende begriffliche Perspektive auf Endlichkeit ist neu und verlangt eine Herangehensweise, die nicht auf eine Disziplin beschränkt ist. Die zweite Forschungsfrage, die für die Konzeption dieses Bandes leitend war und die ebenfalls ein Desiderat darstellt, zielt auf die Frage nach Unterschieden und Ähnlichkeiten in der Erfahrung von und im Umgang mit Endlichkeit. Legt man ein alltagsphänomenologisches Verständnis und eine kulturwissenschaftliche Perspektive zugrunde, dann ist evident, dass diese Erfahrung abhängig von den jeweiligen Sinndeutungen ist, in denen sich Menschen bewegen und die also historisch und kulturell bedingt sehr unterschiedlich ausfallen. Zugleich aber ist Endlichkeit eine so basale menschliche Erfahrung und so prägend für das Weltverhältnis des Menschen, dass auch plausibel angenommen werden kann, dass es Parallelen und Ähnlichkeiten in der Erfahrung von und im Umgang mit Endlichkeit gibt, die womöglich auf anthropologische Konstanten oder andere Erklärungen verweisen, die die Gemeinsamkeiten deuten. Diese beiden Perspektiven – Unterschiede und Gemeinsamkeiten – werden in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes wieder aufgenommen. Die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen sind dabei auch von gesellschaftlicher Relevanz. Denn wenn deutlich wird, wie schon innerhalb eines kulturellen Raumes wie dem des Westens, auf den sich die meisten der hier vorgelegten Untersuchungen beziehen, unterscheiden, zugleich aber auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in den Erfahrungsformen und den Umgangsweisen deutlich werden, dann kann dies dazu beitragen, sowohl das Verständnis für die Verschiedenartigkeit von Kulturen zu erhöhen, was in Zeiten einer enger zusammenwachsenden Welt ein wichtiger Aspekt für ein von Toleranz geprägtes Zusammenleben ist, zugleich aber auch Gemeinsamkeiten über Grenzen hinweg zu erkennen.
2.
E RFAHRUNG UND U MGANG ALS KONZEPTIONELLER R AHMEN ZUR U NTERSUCHUNG VON E NDLICHKEIT
Wenn also versucht werden soll, ein in thematischer Hinsicht für die Geistesund Sozialwissenschaften frappantes Desiderat zu schließen, dann kann dies nur gelingen, wenn hierbei auch eine Vielzahl der dort versammelten unterschiedlichen Disziplinen und ihrer Herangehensweisen und Methoden zum Einsatz kommen. In diesem Band sind Beiträge aus der Perspektive der Philosophie und Theologie, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Medizinethik, der Geschichtswissenschaft, der Sinologie und Europäischen Ethnologie, der Klassischen Archäologie und Philologie versammelt. Während die historischen, ethnologischen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen vornehmlich herme-
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neutische, diskursanalytische und kulturwissenschaftliche Zugänge verwenden, sind die philosophisch ausgerichteten Beiträge auch an normativen Aussagen interessiert und wollen das Rekonstruierte bewerten und handlungsleitende Erkenntnisse z.B. für politische Akteure gewinnen. Da Endlichkeit von Menschen individuell und/oder kollektiv erfahren werden kann und daraus immer eine Form der (wiederum individuellen und/oder kollektiven) Verarbeitung resultiert, stellen die Begriffe „Erfahrung“ und „Umgang“ die wesentlichen Forschungsperspektiven für die in diesem Band versammelten Beiträge dar. Im Folgenden soll daher das hier zugrundeliegende Verständnis der beiden Begriffe umrahmt werden. Erfahrung wird als subjektive Aneignung von Wirklichkeit verstanden, die in einer Form des Umgangs, der Bewältigung dieser Erfahrung mündet. Dieses Verständnis beruht auf drei Prämissen: Erstens wird Umgang mit Wirklichkeit als ein permanenter sozialer Kommunikationsprozess verstanden, in dem Wahrnehmung, Deutung, Verständigung und Handeln miteinander koordiniert werden. Dabei verarbeiten Individuen Wirklichkeit immer schon in einem vorgeprägten und gesellschaftlich vermittelten Deutungshorizont. Es gibt in diesem Sinne keine unmittelbare Erfahrung. Erfahrung unterliegt zudem einem Wandel, weil Individuen miteinander kommunizieren und dabei Deutungen und Sinnstiftungen verändert werden. Zweitens wird hier davon ausgegangen, dass der wissenssoziologische Erfahrungsbegriff die zeitliche Struktur von Erfahrung im Spannungsfeld zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ berücksichtigt.1 Erfahrungen sind immer anschlussfähig an andere Wahrnehmungen und Erfahrungen, seien es eigene Erfahrungen, Erfahrungen anderer Individuen oder aber kollektive Erfahrungen. Erfahrungen werden in ständiger Vermittlung mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen gebildet. Darin mitinbegriffen ist das, was unter dem Begriff des floating gap verhandelt wird, nämlich die Kluft zwischen individuellen Erfahrungen und kollektiven Tradierungen.2 Diese Verflechtung kann sich im
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Vgl. Koselleck, Reinhart (1995): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher
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Vgl. in diesem Sinne zum Begriff des floating gap Niethammer, Lutz (1995): Dies-
Zeiten, Frankfurt am Main. seits des ‚Floating Gap‘. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs, in: Platt, Kristin/ Dabag, Mihran (Hrsg.): Generation und Gedächtnis, Opladen, S. 25-50; vgl. zum floating gap im Sinne einer Epoche Vansina, Jan (1965): Oral Tradition as History, London; Assmann, Jan (2007): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Aufl., München.
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Falle fehlender Korrelation, wenn also kollektive Sinngebungen sich an der differierenden Erfahrung des Einzelnen brechen, auch destabilisierend für eine soziale Figuration wirken. Historisch tradierte Erfahrungen wirken in institutionalisierter Form auch als Rahmen für neue gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen. Durch generationenübergreifende und zwischenmenschliche Kommunikation sind Erfahrungen daher nicht statisch, sondern wandelbar und stehen in einem zeitlichen Spannungsverhältnis. Die Lesart gegenwärtiger Erfahrung ist somit ebenso von den vorgeprägten Deutungsmustern des „Erfahrungsraums“ (hier und jetzt) bestimmt wie von der Antizipation zukünftiger Erfahrungen, die den „Erwartungshorizont“ eines Akteurs abstecken (Zukunft, Projektionen). Drittens erscheinen gemachte Erfahrungen als mitteilenswert, d.h. es könnte für andere lohnend sein, von den Erfahrungen anderer zu erfahren. Daher gehört es zum Sinn von Erfahrungen, dass sie beanspruchen, zur Sprache gebracht zu werden. Erfahrungen sind immer individuell, aber nicht notwendig privat. So lässt sich begründen, dass sich soziale Strukturen durch Erfahrungen der Akteure verändern. Endlichkeitserfahrungen erzeugen sowohl eine Form von individuell und kollektiv vermitteltem Alltagswissen als auch verschiedene Deutungskonzepte oder auch Deutungsordnungen. Solche Deutungsordnungen finden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Zeugnissen des menschlichen Geistes. Sie können in unterschiedlichen Textsorten artikuliert werden, die sich in einem breiten Spektrum von alltagspraktischen Genres (Tagebücher, Briefe, Essays, Chroniken u.a.m.) bis zu Kunstgattungen bewegen (Roman, Novelle, Gedicht). Durch die Kommunikation von Erfahrungen kann es zu Schwenks in kollektiven Aufmerksamkeitsmustern und zu einer Transformation von Anerkennungsverhältnissen kommen. Erfahrungen von Endlichkeit wurden und werden auf vielfältige Weise artikuliert und damit der Kommunikation zugänglich gemacht. In die sprachliche Artikulation von Erfahrungen gehen mit Notwendigkeit deutende (sinnstiftende) Elemente mit ein, da sich individuelle Erfahrung immer im Medium übergreifender kultureller Deutungsmuster und -horizonte vollzieht. Deutungen sind Interpretationen. Zusammengefasst soll hier unter Erfahrung die Aneignung von Wirklichkeit unter der Prämisse einer Verschränkung von eigener Wahrnehmung und (gesellschaftlich vermitteltem) Deutungshorizont verstanden werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Kommunikation von kulturell gedeuteten und hermeneutisch interpretierten Erfahrungen für die Veränderung von lebensweltlichen Deutungsmustern, kollektiven Praktiken, Schemata der Handlungskoordination usw. relevant sein kann. Dem Begriff der Erfahrung ist – wie oben skizziert – der Begriff des Umgangs zur Seite gestellt, um Endlichkeit in seiner mehrdimensionalen Bedeutung
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sowohl für das Individuum als auch das Kollektiv zu fassen. Der Begriff des Umgangs umfasst die gebräuchliche Unterscheidung von intentionalem Handeln und Routine-Verhalten, geht aber auch darüber hinaus.3 Der Terminus fungiert hier als Oberbegriff für soziale Praktiken, Denkweisen und Haltungen. Wir gehen alltäglich mit Dingen, Menschen und sozialen Verhältnissen um. Der Begriff des Umgangs ist existentiell und pragmatisch – er ist lebenspraktisch und umfasst daher auch den Blick in lebensweltliche Hintergründe. Umgang wird „praktiziert“ und übersetzt dabei die Erfahrungen in eine praktische Konstitution von Sinnhaftigkeit bspw. durch Gebräuche, Diskurse, Etablierung von Wissensordnungen, ästhetische Produktionen (Literaturen, Kunst) und (politische, soziale, juristische) Regulierungen. Die deutende Verarbeitung von Endlichkeitserfahrungen führt zu vielfältigen Umgangsweisen mit Endlichkeit. Diese manifestieren sich als individuelle Haltungen (Einstellungen), soziale Praktiken und Diskurse, welche jeweils durch Modi gegenseitiger Anerkennung (Wertschätzung) vermittelt werden. Haltungen können eingeübt und ausgedrückt werden, Praktiken können darüber hinaus zu Überlieferungen (Traditionen) verstetigt werden.4 Als Umgangsformen mit Endlichkeitserfahrungen im Modus der Vergänglichkeit an der Schnittstelle zwischen Individuum und Kollektiv kann die Konstruktion von ordnungspolitischer Kontinuität durch Genealogien und Memoria aufgeführt werden. Solche Formen sozialer Praktiken können als Versuch bewertet werden, sowohl individuelle als auch kollektive Vergänglichkeit mit dem Ziel der Stabilisierung von personeller Herrschaft oder einer bestimmten sozialen
3
Der Umgangsbegriff ist in der Forschung bisher nicht ausgearbeitet. Ansatzpunkte bietet die soziwalwissenschaftliche Verarbeitung der Handlungstheorie und Einstellungsforschung: siehe etwa Hollstein, Bettina (2011): Handlung und Erfahrung: das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Erfurt; Albert, Martin (2011): Grundelemente des menschlichen Handelns, Darmstadt; Joas, Hans (2009): Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main; Mayerl, Jochen (2009): Kognitive Grundlagen sozialen Verhaltens, Wiesbaden; Joas, Hans (2007): Lehrbuch zur Soziologie, 3. Aufl. Frankfurt am Main; Berger, Peter l./ Luckmann, Thomas (1972): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 3. Aufl., Frankfurt am Main; Weber, Max (1921): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen.
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Einen umfassenden (empirischen) Überblick über Umgangsformen mit vorrangig individuellen Endlichkeitserfahrungen vom Mittelalter bis in die hochindustrialisierte Gegenwart bietet Mischke, Marianne (1996): Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Geschichte, Berlin.
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Ordnung zu überwinden.5 Diese Praktiken verdeutlichen, dass der Mensch die Begrenztheit seiner Vergänglichkeit zu überwinden und zu transformieren sucht. Der Umgang mit Endlichkeitserfahrungen prägt sich – ähnlich wie dies bereits für den Erfahrungsbegriff ausgeführt wurde – auf vielfältige Weise aus. Im Rahmen von Wissensordnungen und Diskursen drückt er sich auf der Ebene der Sprache aus. Die hier diskutierten Ideen und Konzepte bilden wiederum oftmals die Grundlage gesellschaftlicher, politischer und juristischer (Neu-) Regulierungen. Darüber hinaus stellen aber auch soziale Tradierungen in Form von bspw. rituellen Praktiken, symbolischen Codierungen Umgangsformen dar. Der Umgangsbegriff dient als ein konzeptionelles Handwerkzeug, um einerseits die Verschiedenheit in den Kulturen und Epochen sichtbar werden zu lassen und andererseits Gemeinsamkeiten zu erkennen, die einen möglichen Rückschluss auf die Frage nach einer möglichen anthropologischen Konstante in Abgrenzung zur kulturspezifischen Kontextualität im Umgang mit Endlichkeit erlauben. Gerade der Blick auf den Umgang mit Endlichkeit in unterschiedlichen Kulturkreisen macht deutlich, dass binäre Denkmuster wie zum Beispiel die im Christentum tradierten Antagonismen von Endlichkeit/Unendlichkeit, Tod/ Leben und Diesseits/Jenseits nicht als eine universelle Kategorie unterstellt werden können und vielmehr durch eine Vielfalt von Vorstellungswelten zu ergänzen sind. Von wesentlichem Interesse sind auch die erfahrbaren Zwischenräume, die Grenzüberschreitungen und Endlichkeitsüberwindungen, die sich in den verschiedenen Umgangsformen und damit auch Endlichkeitserfahrungen der Kulturkreise und Epochen manifestieren. Schließlich ist der Begriff des Umgangs auch anschlussfähig für normativ-ethische Fragen nach einem angemessenen und verantwortlichen Handeln angesichts von Endlichkeit. Vor dem Hintergrund der so geschärften Begriffe Erfahrung und Umgang werden im Folgenden unterschiedliche Endlichkeitsphänomene untersucht, die
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Vgl. u.a. das Themenheft „Endlich“ der Zeitschrift „Polar“ (2011), Heft 10; Bliesemann de Guevara, Berit/ Reiber, Tatjana (Hrsg.) (2001): Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik, Frankfurt am Main; Großbölting, Thomas/ Schmidt, Rüdiger (Hrsg.) (2011): Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen; Liessmann, Konrad P. (Hrsg.) (2004): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit Endlichkeit, Wien; Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (Hrsg.) (2000): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen; Melville, Gert / Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.) (2004): Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln u a.; Kellner, Beate (2004): Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München.
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in drei thematische Rubriken sortiert sind: Endlichkeit des Menschen, Endlichkeit der natürlichen Lebensgrundlagen und Endlichkeit sozialer Konfigurationen.
3.
V ERGÄNGLICHKEIT
DES
M ENSCHEN
Die Vergänglichkeit des Individuums ist ein unhintergehbares Faktum, das im Tod eines jeden Lebewesens seinen finalen Ausdruck findet. Die Erfahrung der Irreversibilität des Todes führt dazu, dass sowohl individuelle als auch kollektive Sinnhorizonte und soziale Praktiken entstanden sind, die die Vergänglichkeit durch verschiedene Transzendierungsideen und -rituale zu verarbeiten suchen. Dabei variieren die Denkmuster auch entlang den jeweils vorherrschenden Zeitvorstellungen, das heißt, ob die Zeit zyklisch oder linear gedacht wird.6 Der Modus der Vergänglichkeit ist in erster Linie im Kontext des Wissens um die eigene Sterblichkeit als unhintergehbare Wahrnehmung des Todes im Leben präsent.7 Neben Tod und Sterben werden diese Erfahrungen in den einzelnen Disziplinen auch unter Termini wie Altern und Krankheit thematisiert. Gerade in diesen Lebensphasen wird die Vergänglichkeit besonders greifbar. Nicht selten sind Altern und Krankheit durch Situationen gekennzeichnet, die über Leben oder Tod entscheiden.8 In solchen Kontexten werden alte Sinnhorizonte und Rituale in
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Zur Diskussion linearer und zyklischer Zeitvorstellungen und den daraus resultierenden Denkmustern in Bezug auf Vergänglichkeit soll hier – neben den grundlegenden Studien von Reinhart Koselleck – auch verwiesen werden auf: Marramao, Giacomo (1989): Macht und Säkularisierung. Die Kategorie der Zeit, Frankfurt am Main sowie einführend für die den westlichen Kulturkreis prägende spezifisch christliche Zeitrechnung: Maier, Hans (2008): Die christliche Zeitrechnung. Ihre Geschichte, ihre Bedeutung, Freiburg.
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Vgl. Große, Jürgen (2008): Der Tod im Leben. Philosophische Deutungen von der Romantik bis zu den ‚life sciences‘, Hamburg; Theunissen, Michael (2002): Negative Theologie der Zeit, 4. Aufl., Frankfurt am Main; Nassehi, Armin (2003): Die Geschwätzigkeit des Todes. Oder: Der Tod als Parabel auf Offenheit durch Geschlossenheit, in: Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main, S. 287-309; ; Hahn, Alois (1968): Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart.
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Kruse, Andreas et al. (Hrsg.) (2012): Gutes Leben im hohen Alter. Das Altern in seinen Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsgrenzen verstehen, Heidelberg; Rentsch, Thomas (2012): Der Sinn des Alterns zwischen Glück und Leiden: Perspek-
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Frage gestellt und neue hervorgebracht oder auch bewährte kollektive Deutungsmuster und soziale Praktiken im individuellen Denken verfestigt. Die Sterblichkeit ist in der modernen existentialistischen Philosophie i.w.S. zu der schlechthinnigen Grunderfahrung von Endlichkeit aufgewertet worden,9 neben der die vielen undramatischen Enden und Beendigungen, von denen unsere Lebenspraxis durchzogen ist, gleichsam verblassen. Hierbei können negative existentielle Erfahrungen wie bspw. Scheitern, Verzweiflung, Verlassenheit, Vergeblichkeit und Trostlosigkeit fokussiert werden, aber auch Erlösung, Friedlichkeit, Einverständnis und Lebenssattheit.10 Wie prägend das Wissen um die eigene Sterblichkeit für das Weltverhältnis des Menschen ist, zeigt sich in prominenter Weise in religiösen Texten – im abendländischen Kulturkreis beispielsweise in der hebräischen Bibel als dem Grunddokument der drei monotheistischen Weltreligionen. Im Schöpfungsbericht (Genesis 1-3) wird Endlichkeit in drei Dimensionen entfaltet: als Endlichkeit des Lebensraums, als Endlichkeit der Weltdeutungsfähigkeit und als Endlichkeit der Lebenszeit. Im theologischen christlichen Denken markiert die Unterscheidung von „unendlich“ und „endlich“, von „ewig“ und „sterblich“ den kategorialen Unterschied von Schöpfergott und Geschöpf. Die Betonung menschlicher Endlichkeit bezieht sich daher in diesem Kontext direkt oder indirekt immer auf die Gottesidee. Endlichkeit wird dann nicht als ein defizitärer Zustand des Menschen verstanden, sondern gehört wesentlich zum Selbstverständnis des Menschen.11 In der christlich geprägten Religionsphilosophie ist der Tod entsprechend als „ontologische Ehre“ des Menschen verstanden worden, ohne den
tiven der Philosophischen Anthropologie und Ethik, in: Schicktanz, Silke/Schweda, Martin (Hrsg.): Pro-Age oder Anti-Aging? Altern im Fokus der modernen Medizin, Frankfurt/New York, S. 159-177. 9
Gehring, Petra (2010): Theorien des Todes. Zur Einführung, Hamburg; Wittwer, Hector (2009): Die Philosophie des Todes, Stuttgart.
10 Vgl. auch die soziologischen und kulturwissenschaftlichen Studien: Nassehi, Armin (2011): Sterben müssen, sterben wollen. Die Öffentlichkeit spricht heute nicht mehr über den Tod, sondern nur noch über den Weg dorthin. Ein Erklärungsversuch, in: ders. (Hrsg.): Gesellschaft verstehen, Hamburg, S. 196-215; Hahn, Alois (2009): Der Tod und das Sterben als soziales Ereignis (zusammen mit Matthias Hoffmann), in: Cornelia Klinger (Hrsg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien, S. 121-144. 11 Müller, Klaus (2010): Bleiben wollen, gehen müssen – und vom Glück der Endlichkeit, in: Hoff, Gregor Maria (Hrsg.): Endlich! Leben und Überleben, Innsbruck (Jahrbuch der Salzburger Hochschulwochen); Wien, S. 52-81.
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das Leben wertlos wäre.12 Und auch in der Kulturwissenschaft findet sich für diese Sichtweise auf Endlichkeit, die nach der Bedeutung von Endlichkeit für das Leben fragt, eine Entsprechung: hier wird Endlichkeit als angenommenes Begrenzt- und Vergänglich-Sein Generator menschlicher Produktivität und Kultur erkannt.13 Die Erfahrung von Endlichkeit im Sinne von Sterblichkeit wird unter den Bedingungen der Säkularisierung pluralisiert, wenn religiöse Hoffnungen auf ein „ewiges Leben“ nicht mehr allgemein geteilt werden. Wird dann das diesseitige Leben zu einem „Jammertal“ ohne „Hinterwelt“?14 Es liegt auch offenbar wenig Trost darin, dass mit dem Verlust der Aussicht auf ein „ewiges Leben“ auch die Angst vor einer möglichen „ewigen Verdammnis“ gegenstandslos wird, deren Drohung essentiell zur christlichen Lehre zählt, da das Gericht auch auf die Toten wartet („…zu richten die Lebenden und die Toten“). Jedenfalls ändert sich die Sicht auf den Tod grundlegend, wenn dieser nicht mehr als Statuspassage erscheint, sondern als säkulares „summum malum“, wie es in der modernen politischen Philosophie mit Thomas Hobbes Einzug gehalten hat.15 Dann ist umgekehrt das menschliche Leben das Höchste aller Güter. Die Todesfurcht, die im Naturzustand allgegenwärtig ist, wird bei Hobbes so zum entscheidenden Motiv, in die Unterordnung unter eine politische Herrschaft einzuwilligen, die allein das menschliche Leben sicher kann. Nach dieser säkularen Sicht in der Moderne, hat jeder Mensch nur ein Leben und das ist befristet und prekär. Dies kommt auch in
12 Guardini, Romano (2001): Der Tod des Sokrates: eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon, 7. Aufl., Mainz; Gerhard, Volker (2003): Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, in: Walter, Jens/ Seidensticker, Bernd (Hrsg.): Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne, Berlin /New York, S. 129-149. 13 Assmann, Jan/ Trauzettel, Rolf (Hrsg.) (2002): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg/ München. 14 Verwiesen sei hier u.a. auf die vieldiskutierte These, die gegenwärtige Zeit sei aufgrund des scheinbar unbeirrbaren Fortschrittsglaubens, der daraus resultierenden Beschleunigung und der Säkularisierung aus den Fugen geraten und der Mensch entsprechend in eine diffuse Unordnung ohne jeglichen Wahrheits-, Erfahrungs- und Orientierungswert gestellt. Vgl. Aleida Assmann (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München. Vgl. auch Rosa, Hartmut (2011): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin. 15 Matz, Ulrich (1975): Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, Freiburg, hier vor allem S. 165-180.
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modernen Ethiktheorien zum Ausdruck, die danach fragen, was Menschen im Leben zuteil werden möge („gutes Leben“) und worauf sie einen berechtigten moralischen Anspruch haben („Rechte“). Diese und weitere Aspekte der Bedeutung der unhintergehbaren Endlichkeit des Lebens werden von den in der ersten Rubrik dieses Bandes versammelten Autorinnen und Autoren untersucht. Den Auftakt bildet der philosophische Aufsatz „Endlichkeit und Lebenssinn“ von Thomas Rentsch, in dem er die existenzielle Endlichkeit des Menschen als notwendige Bedingung für seine auch alltägliche Sinnkonstitution analysiert. Ausgang seiner Untersuchung ist eine kritische Darstellung der Todesanalyse Heideggers. Die Kritik an Heidegger dient in einem nächsten Schritt einer systematischen Transformation der Todesanalyse hin zu einer umfassenderen Analyse der Beziehung von Endlichkeit und Sinnkonstitution auch in einem interpersonalen und praktischen Rahmen. In einem letzten Schritt wird die Endlichkeitsanalyse auch auf den konkreten Fall des Alterns angewandt, das als konstitutiv für den Lebenssinn beschrieben wird. Dass der Mensch endlich, aber auch begrenzt in seinen Fähigkeiten ist, ist ein grundlegendes Thema in vielen religiösen Schriften. Der Alttestamentler Markus Saur untersucht in seinem Beitrag „Endlichkeit des Erkennens und Endlichkeit des Lebens in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur“ den innerhalb der Hebräischen Bibel greifbaren weisheitlichen Diskurs um die Endlichkeit des Menschen. Ausgehend von den wichtigsten alttestamentlichen Weisheitsschriften geht es ihm dabei vor allem um die Schnittstellen zwischen der Vorstellung begrenzter Erkenntnismöglichkeiten des Menschen und der Einsicht in die Sterblichkeit und den Tod des Menschen als einer Form letzter Endlichkeit. Beide Themenfelder sind in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur aufeinander bezogen: Die Rede von den Grenzen der Erkenntnisfähigkeit und der Blick auf die Grenzen des Lebens des Menschen bilden einen diskursiven Zusammenhang, der sich in den einschlägigen Texten abbildet. Um die textliche Verarbeitung von Endlichkeit geht es auch in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung von Timo Reuvekamp-Felber. In seinem Beitrag „Kollektivtod, Gemeinschaftsbildung und Genealogie. Bewältigungsstrategien menschlicher Endlichkeit im Erzählzusammenhang der Nibelungenüberlieferung“ analysiert und interpretiert er die Formen und Funktionen der literarischen Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit von menschlichen Kollektiven im Erzählverbund von „Nibelungenlied“ und „Nibelungenklage“. Neben genuin christlichen Deutungsmustern nutzen beide Texte innerweltliche Bewältigungsstrategien: die Todgeweihten funktionalisieren ihr bevorstehendes Ende zur Wiederherstellung einer verlorenen sozialen Gemeinschaft, die Hinterbliebenen greifen auf das genealogische Modell zurück, um die kollektive Ver-
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gänglichkeit in der dynastischen Erbfolge zu überwinden. Zudem lassen sich beispielhaft auch narrative Schemata und ihre funktionalen Besetzungen (Exemplarisierung, Perspektivwechsel, Neueinsatz) zur Transzendierung eines eigentlich trostlosen Geschehens erkennen. Die Erfahrung von Endlichkeit kann auch in eruptiver Form eine größere Gruppe von Menschen zugleich betreffen, wenn diese Naturkatastrophen ausgesetzt ist. Manfred Jakubowski-Tiessen geht in seinem historischen Beitrag „Endzeitvorstellungen vor dem Hintergrund von Naturkatastrophen“ der Frage nach, ob und auf welche Weise in der Vormoderne endzeitliche Konzepte zur Deutung und Bewältigung von Naturkatastrophen herangezogen wurden. Es wird gezeigt, dass neben der Rezeption antiker Vorstellungen vom Altern der Welt vor allem apokalyptische Imaginationen und eschatologische Erwartungen die religiösen Diskurse über Naturkatastrophen prägten. Eine Sonde in die Erfahrung und den Umgang mit Endlichkeit in einer außerwestlichen Kultur legt die Sinologin Angelika Messner, die in ihrem Aufsatz „Radikale Endlichkeit in chinesischen Perspektiven“ die Fragebehandelt, wie sich drei zu beobachtende Phänomene radikaler Endlichkeit in der gegenwärtigen Volksrepublik China als Ausdruck neuer Lebensrealitäten erforschen lassen. Erstens geht es um die abrupte Ablösung gesellschaftspolitischer Modelle in den 1950, 1960er, 1970er und 1980er Jahren; zweitens um den rapiden demographischen Wandel, der mit biologischen und gleichermaßen sozialen Veränderungen einhergeht; drittens um die veränderten Konstellationen, in denen alternde Menschen, Dinge und Infrastrukturen gegenwärtig interagieren. Mit einer bestimmten zeitgenössischen sozialen Praxis im Umgang Endlichkeit beschäftigen sich schließlich Frank Gieseler, Valerie Schäfer und Werner Theobald in ihrem medizinethischen Beitrag „Entscheidungen im Schatten der Endlichkeit“, in dem sie ein „Plädoyer für eine neue Gesprächskultur in der Onkologie“ entfalten. Die Erkenntnis der Endlichkeit des Lebens bei einer Krebsdiagnose beeinträchtigt die Fähigkeit komplexe Zusammenhänge rational zu bewerten, dennoch müssen im Arzt/Patientengespräch richtungweisende Entscheidungen getroffen werden. Aktuelle Kommunikationsmodelle müssen an die sich ändernde Situation der Kulturgesellschaft angepasst werden: (1) Patienten mit höherem Alter und Begleiterkrankungen, (2) leichterer Zugang zu richtigen und falschen Informationen, (3) vielfältigere Therapiemöglichkeiten. Unterschiedliche Aspekte der Endlichkeit und Begrenztheit: (4) zeitliche Begrenztheit der ärztlichen Routine, (5) finanzielle Begrenztheit des Gesundheitssystems. Diese Aspekte werden erläutert und ihre Bedeutung für das Arzt/Patientengespräch beleuchtet. Das Ziel ist die Entwicklung einer neuen Gesprächskultur und unter
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Berücksichtigung von fürsorglich-patriarchalen, partizipativen und Patientenorientierten Gesprächskonzepten. Der zweite hier untersuchte Bereich, in dem Endlichkeit erfahren und mit ihr umgegangen wird, betrifft die Begrenztheit natürlicher Lebensgrundlagen.
4.
B EGRENZTHEIT DER NATÜRLICHEN L EBENSGRUNDLAGEN
Die in dieser Rubrik versammelten Untersuchungen gehen von der Prämisse aus, dass es sich bei der Erkenntnis der Endlichkeit natürlicher Lebensgrundlagen nicht um ein besonderes Kennzeichen der Gegenwart handelt, sondern dass das Wissen über die Begrenztheit natürlicher Ressourcen so alt ist wie die Menschheit selbst. Strategien des individuellen wie kollektiven Umgangs mit der Begrenztheit einzelner, regional knapper natürlicher Ressourcen hat es daher von je her gegeben.16 Ein bekanntes Beispiel einer gelungenen sozialen Praxis des Umgangs mit der Endlichkeit einer natürlichen Ressource stellt die nachhaltige Waldbewirtschaftung in einigen Gegenden Mitteleuropas dar. Sie bildet ein Gegenbild sowohl zur Reduktion des Waldbestands im Mittelmeerraum in der Antike als auch zu gegenwärtigen Formen des Raubbaus an Wäldern.17 Für die Gegenwart spezifisch und im Verhältnis zu anderen Zeiträumen relativ neu ist dagegen die Einsicht in die Begrenztheit der Gesamtheit natürlicher Lebensgrundlagen als globales Phänomen. Diese Erfahrung einer globalen Naturkrise macht die Menschheit erst seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Als weiteres Problem tritt hinzu, wie insbesondere anhand des Klimawandels deutlich wird, dass auch die Fähigkeit ökologischer Systeme, anthropogene Einwirkungen auszugleichen, begrenzt ist. Vor diesem Hintergrund wird seit den späten 1960er Jahren unter dem Stichwort der „Grenzen des Wachstums“18 der
16 Radkau, Joachim (2002): Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München; schon früh hat darauf aufmerksam gemacht Marsh, George P. (1865): Man and Nature or Physical Geography as Modified by Human Action, New York. 17 Küster, Hansjörg (2008): Geschichte des Waldes, 2.Aufl., München, S. 101ff. 18 Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, Berlin; vgl. als derzeit stark in der Öffentlichkeit diskutierte Kritik am Wachstumsdenken: Jackson, Timothy (2011): Prosperity Without Growth. Economics for a finite planet, London, Washington, DC; Steurer, Reinhard (2002): Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik von der Wachstumseuphorie über „Grenzen des Wachstums“ zur Nachhaltigkeit, Berlin.
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Zusammenhang zwischen ökonomischem Wachstum und ökologischer Krise problematisiert19 Während in der frühen Rezeption des Berichts an den Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“20 die Verquickung von Bevölkerungswachstum, Verbrauch endlicher Ressourcen und Umweltverschmutzung generell im Mittelpunkt stand, richtet sich heute die Aufmerksamkeit zudem auf die Aufnahmekapazität von Umweltmedien für Emissionen, insbesondere die der Atmosphäre für Treibhausgase.21 Diese Aufnahmekapazität wird wie Rohstoffen vergleichbar als begrenzte Ressource verstanden. Natur ist damit nicht nur als Basis für Ressourcen im engeren Sinne, sondern auch als Senke für Abfälle und Emissionen begrenzt. Die Einsicht in diese neue globale Dimension der Endlichkeit der natürlichen Lebensgrundlagen führt zur Notwendigkeit einer umfassenden Transformation von kulturellen und wirtschaftlichen Strategien des Umgangs mit dieser Begrenztheit. Während die Naturwissenschaften die Begrenztheit einzelner natürlicher Bestände (Ressourcen oder Senken) empirisch erforschen, ist es Aufgabe der historisch arbeitenden Disziplinen, der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wie auch der Philosophie, die gesellschaftlichen Diskurse über die Wahrnehmung von und den Umgang mit der Begrenztheit von Natur kritisch zu rekonstruieren. Das ist die gemeinsame Aufgabenstellung der hier versammelten Studien. Dabei kann die kritische Rekonstruktion stärker historisch oder stärker normativ ansetzen, wobei beide Perspektiven sich wechselseitig befruchten. Während die historische Rekonstruktion den faktischen Verlauf von Diskursen über die Begrenztheit natürlicher Ressourcen zum Thema hat und diesen erklärt, rekonstruieren und analysieren normative Disziplinen die dabei erhobenen ethischen, politischen und ökonomischen Geltungsansprüche und bewerten sie hinsichtlich ihrer argumentativen Begründbarkeit. In besonderer Weise interessiert, inwiefern sich ein Wechselverhältnis zwischen der Erfahrung begrenzter natürlicher Rahmenbedingungen einerseits und dem sozialen Wandel als Umgang mit diesen endlichen Rahmenbedingungen andererseits herausarbeiten lässt. Dabei spielen drei Themenkomplexe eine zentrale Rolle: Wachstum, Lebensstilwandel und Gerechtigkeit.
19 Einen Überblick bietet Radkau, Joachim (2011): Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München. 20 Vgl. zur Rezeption in Deutschland etwa Gruhl, Herbert (1978): Ein Planet wird geplündert, Frankfurt am Main; Meadows (1972): Grenzen des Wachstums (FN 12). 21 Siehe dazu insbesondere die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change: http://www.ipcc.ch.
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Wachstum: Die Einsicht in die Begrenztheit der natürlichen Lebensgrundlagen stellt einen wesentlichen Ausgangspunkt für Wachstumskritik in Vergangenheit und Gegenwart dar. Wachstum als Integrationsfaktor moderner Gesellschaften wird in der ökologisch motivierten Gesellschaftskritik seit nunmehr vier Jahrzehnten radikal hinterfragt. Sollten sich die Hoffnungen auf eine absolute Entkopplung von ökonomischem Wachstum einerseits und Wachstum des Ressourcenverbrauchs wie auch Minderung der ökologisch problematischen Auswirkungen industrieller Produktions- und Konsumtionsweisen andererseits nicht erfüllen, ist die Frage nach der Endlichkeit in doppelter Hinsicht zu stellen: nämlich nicht nur bezüglich des physischen Input selbst, sondern auch der Möglichkeit weiteren Wirtschaftswachstums überhaupt. Diese Infragestellung des Wachstumsparadigmas berührt nicht nur ökologische und ökonomische, sondern auch gesellschaftstheoretische und sozialpsychologische Fragen. Wenn Wachstum in der bisherigen Form heute aus ökologischen Gründen als nicht zukunftsfähig gekennzeichnet werden kann, dann steht diese Problematik in einer Spannung zu den positiven Effekten, die wirtschaftlichem Wachstum als dem Garanten für Stabilität, inneren Frieden und Wohlfahrt zugeschrieben werden. Tatsächlich erodiert diese Deutung von Wachstum seit mehreren Jahrzehnten – was sich in einem Zeitraum von der Veröffentlichung des Berichts über die „Grenzen des Wachstums“ bis zur 2011 eingerichteten Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“22 zeigt. Die Einsicht in die Begrenztheit natürlicher Lebensgrundlagen verweist damit auf die Debatte um die Unausweichlichkeit eines Wandels gesellschaftlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Ordnungen im Sinne einer „großen Transformation“.23 Diese Debatte weist einige Verbindungen zu den Studien in der dritten Abteilung dieses Bandes auf, in denen der historische Wandel sozialer Figurationen vor dem Hintergrund von Endlichkeitserfahrungen erforscht wird. Lebensstilwandel: Eine beobachtbare Reaktion auf die Erfahrung von und die Einsicht in die Begrenztheit der natürlichen Lebensgrundlagen war und ist die Suche nach und die Diskussion über alternative Lebensweisen und damit auch über eine notwendige Transformation gesellschaftlicher Strukturen. Die entsprechenden Debatten und der teilweise eingeleitete soziale Wandel im Sinne einer gesellschaftlichen Transformation hin zu solchen Lebensweisen können daher als eine Art und Weise des Umgangs mit der Endlichkeit natürlicher Lebensgrundlagen gefasst werden. Vertreter solcher alternativer Lebensweisen begreifen die Notwendigkeit eines entsprechenden sozialen Wandels nicht per se
22 http://www.bundestag.de/bundestag/gremien/enquete/wachstum/ vom 03.09.2015. 23 WBGU (2011): Welt im Wandel.
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als Verlust von Wohlfahrt und Lebensqualität. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass der Zwang zu fortgesetztem wirtschaftlichen Wachstum auch mit hohen gesellschaftlichen Kosten in Form von Defensivkosten, Entkopplung der subjektiven Lebenszufriedenheit von Einkommenszuwächsen, neuartigen z.B. stressbedingten Krankheitsbildern, der Marginalisierung solcher Gruppen, die vom Wachstum nicht profitieren etc. verbunden war und ist.24 Daher betrachten sie die Einsicht in die Vergänglichkeit der Hochwachstums-Periode auch als Chance hinsichtlich neuer sozialer Praktiken gesellschaftlicher Integration, Anerkennungsverhältnisse und Lebensstile. Gerechtigkeit: Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen auf die Nutzung natürlicher Ressourcen essentiell angewiesen sind und dass diese natürlichen Ressourcen begrenzt sind, stellt die Frage nach dem Zugang zu und der Verteilung von diesen Ressourcen ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit (distributiver Gerechtigkeit) dar. Die Nutzung natürlicher Ressourcen ist immer schon gesellschaftlich vermittelt, so dass die Verteilungsfragen eine gesellschaftstheoretische Reflexion auf Grundstrukturen von Recht, Moral und Sittlichkeit verlangen. Vor dem Hintergrund der Einsicht in die Vergänglichkeit des Wachstumsparadigmas stellen sich Verteilungsfragen aber auch auf einer zweiten, indirekten Ebene: gesellschaftliche Transformationen weisen ihrerseits Verteilungswirkungen auf. Diese können beschrieben, aus einer normativen Perspektive jedoch auch auf zu spezifizierende Vorstellungen von Gerechtigkeit bezogen und so bewertet werden. Beide Probleme (Verteilungsgerechtigkeit und Verteilungswirkungen) stellen sich sowohl im intra- als auch intergenerationellen Kontext, das heißt Gerechtigkeit stellt hier eine normative Anforderung sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht dar. Der erste der in der zweiten Rubrik versammelten Beiträge verknüpft die Themenkomplexe Wachstum, Lebensstilwandel und Gerechtigkeit aus einer philosophischen Perspektive. Konrad Ott geht in seinem Beitrag „Sittlichkeit und Nachhaltigkeit in einer Postwachstumsgesellschaft“ von der Frage nach den gesellschaftstheoretischen Grundlagen einer Transformation hin zu einer nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft aus. Es soll die These begründet werden, dass sich die Grundstruktur der Rechtsphilosophie Hegels auch gegenwärtig dazu eignet, wesentliche gesellschaftstheoretische, normative und ethische Probleme
24 Sidelsky, Robert/ Sidelsky, Edward (2012): How much is enough? The Love of Money, and the Case for the Good Life, London; Binswanger, Mathias (2010): Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher; was können wir tun?, 5. Aufl. Freiburg im Breisgau; Bruni, Luigino/ Porta, Pier Luigi (Hrsg.) (2005): Economics and Happiness. Framing the Analysis, Oxford.
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einer solchen Transformation zu bearbeiten. Es werden in jeder Sphäre des „Rechten“ konkrete Forschungsfragen formuliert, die sich an der Idee eines verantwortlichen Umgang mit Begrenztheiten natürlicher Ressourcen ausrichten. Forschungsanalytischer Natur ist der aus der Perspektive der Politikwissenschaft geschriebene Beitrag „Nachhaltigkeit, Endlichkeit, Knappheit – eine begriffliche Abgrenzung unter dem Aspekt der Verarbeitung von Wissen“ von Daniel Jesche. Er stellt heraus, welche grundlegenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den genannten Begriffen existieren. Mit Blick auf die ökologische Wachstumskritik, die auf dem Konzept der Endlichkeit beruht, fragt der Autor, welche Rolle der Verarbeitung von empirischen Informationen in den drei vorgestellten Denkweisen über die Mensch-Natur-Beziehung zukommt. Es zeige sich, dass ein ökologisch-ökonomisches Management unter Annahme von Endlichkeit mit anderen Datenmengen zu operieren hätte, als es im Fall der konkurrierenden Ansätze heute allgemein erwartet werden kann. In der Frühphase des deutschen ökologischen politischen Denkens war allerdings die Annahme, dass das ökonomische Wachstum gewissermaßen an sich von Übel sei, da es die Bedingungen einer endlichen Welt negiere, eine Prämisse vieler Ansätze. Tine Stein geht in ihrem Aufsatz „Endliche Welt und offene Zukunft: Die Verarbeitung von Endlichkeit im ökologischen politischen Denken“ der Frage nach, wie seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Erfahrung der Endlichkeit der natürlichen Lebensgrundlagen als Bedrohung der gesamten Menschheit wahrgenommen wurde. In den Schriften von Hans Jonas und Rudolf Bahro wird die Kritik an der Naturzerstörung mit ethisch-politischen Reflexionen verbunden und nicht nur für einen grundlegend anderen Umgang mit Natur argumentiert, sondern auch zu einer radikalen politischen Umkehr aufgerufen. Stein arbeitet unter anderem heraus, dass die hier vorgetragene Kritik Parallelen zu den Zeitvorstellungen erkennen lässt, wie sie aus der jüdischen und christlichen Eschatologie bekannt sind. Wie tief der Lebensstil des Konsums in die soziale und ökonomische Struktur der Gegenwart eingeschrieben ist, und wie die soziologische Theorie darauf antwortet, untersucht Jörn Lamla in seinem Aufsatz „Exzessiver Konsum: Was behindert die Erfahrung von Endlichkeit? Antworten der soziologischen Theorie“. Es werden zunächst vier teils konkurrierende, teils komplementäre Erklärungsansätze vor, warum existenzielle Endlichkeitserfahrungen aus dem Konsumalltag systematisch verdrängt werden. Neben bleibenden Spannungen innerhalb der Welt des Konsums spricht insbesondere die weit verbreitete ökonomische Knappheitsfixierung dafür, dass eine Öffnung der Erfahrungsräume von Verbraucherinnen und Verbrauchern für andere Werthorizonte eine veränderte öffentliche Einstellung zur Verschwendung erforderlich macht. Diese sollte nicht
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primär als Endlichkeitsvergessenheit gebrandmarkt, sondern auch anerkannt und zum Gegenstand politischer Aushandlung gemacht werden, wenn das vorherrschende exzessive Konsummuster durch ein nachhaltigeres ersetzt werden können soll. Zusammenfassend untersuchen die Beiträge dieser Rubrik den Begriff der Endlichkeit mit Blick auf die Erfahrung der Begrenztheit natürlicher Ressourcen und auf die – sowohl die früher und gegenwärtig zu beobachtenden als auch die wünschenswerten – Strategien des Umgangs mit dieser Begrenztheit im Sinne der Herbeiführung eines sozialen Wandels. Damit spielt hier neben der Begrenztheit auch die Frage nach Wandel gesellschaftlicher Vorstellungswelten, Normen wie auch institutioneller Arrangements im Umgang mit Endlichkeit eine besondere Rolle. Die ökologische Krise wirkt hier als ein Katalysator in der Erfahrung von Endlichkeit, insofern die Endlichkeit im Sinne der Vergänglichkeit des individuellen Lebens mit der wahrgenommenen Aussicht auf die Gefahr eines „Endes der Menschheit“, das heißt als potentielle Vergänglichkeit der gesamten Menschheit, verschränkt wird.
5.
T RANSFORMATIONEN
SOZIALER
K ONFIGURATIONEN
Die Beiträge der dritten Rubrik zur „Endlichkeit in Aushandlungsprozessen gesellschaftlicher Figurationen“ nehmen schließlich explizit die soziale Dimension in den Blick und untersuchen die Auswirkungen von Endlichkeitserfahrungen auf die Verfasstheit von sozialen Figurationen. Die Vielschichtigkeit des Umgangs mit Endlichkeit innerhalb sozialer Figurationen mit einem jeweils anderen Referenzrahmen kann anhand unterschiedlicher Felder, in denen sich Endlichkeitserfahrungen artikulieren und materialisieren, und anhand differierender Figurationen in verschiedenen geographischen Räumen und Epochen beobachtet werden. Soziale Figurationen. Unter Figuration wird hier mit Elias „das sich wandelnde Muster, das Menschen („Spieler“) als Ganzes miteinander bilden“25 verstanden, und zwar nicht nur über Verträge oder Institutionalisierungen, sondern auch über ihre Deutungen und soziale Praktiken. Figurationen entstehen durch die Interdependenz der „Spieler“ (Akteure), die sowohl Zusammenspiel wie auch Gegnerschaft einschließt. Zwei Gründe sind maßgeblich dafür, dass hier das Konzept der „sozialen Figurationen“ anderen Beschreibungen von Vergemeinschaftungsformen vorgezogen wird: Der von Norbert Elias geprägte Figura-
25 Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, München 1970, S. 139-145, hier S. 142.
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tionsbegriff fasst Begriffe, mit welchen Sozialgebilde nur diffus, missverständlich oder mehrdeutig beschrieben werden können. Das Konzept der „sozialen Figuration“ erscheint hier präziser und in besonderem Maße anschlussfähig an neuere kulturwissenschaftliche Theorien wie die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, nach der auch Dinge als Akteure in interdependenten Beziehungen agieren können,26 sowie den Feldbegriff von Pierre Bourdieu: Unter Feld versteht Bourdieu soziale Einheiten und Einrichtungen, aus denen Gesellschaft besteht und die den Habitus hervorbringen, der einem spezifischen Feld adäquat ist.27 Während Habitus die inkorporierten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Bewertungsschemata der sozialen Akteure bezeichnet und die Hervorbringung sozialer Praktiken erklären soll, setzt der Feldbegriff bei sozialen Strukturen an und fragt nach der Positionierung der Akteure im sozialen Feld.28 Damit ist auch der Machtbegriff explizit gemacht, der im Konzept von Elias nur implizit enthalten ist. Nach Bourdieu sind es die Macht- und Positionierungskämpfe, die ein soziales Feld erhalten oder verändern. Mit dem in dieser Form erweiterten Konzept der sozialen Figurationen nach Elias können so unterschiedliche Sozialgebilde wie Gruppen, Gemeinschaften, Milieus, Personen- und Geschlechterverbände, Beziehungsgeflechte, Systeme, Ordnungen, Institutionen, soziale Räume, Hierarchien oder Hegemonien erfasst werden. Destabilisierung sozialer Figurationen. Die Studien fokussieren die Frage nach der Destabilisierung sozialer Figurationen in unterschiedlichen sozialen Gebilden und historischen Epochen. Sie gehen von der These aus, dass in Phasen der (tatsächlichen oder gedeuteten) Destabilisierung von Figurationen Aushandlungsprozesse um Endlichkeit forciert und damit auch offenkundig werden. Hervorgehoben sei, dass dem Fokus auf destabilisierende Momente heuristisches Potential innewohnt, da hier die zugrundeliegenden kulturellen und sozialen Muster aufbrechen. Als Reaktion auf diese Herausforderungen lassen sich unterschiedliche Strategien beobachten: Hierzu gehören Diskurse ebenso wie soziale Praktiken. Diese Strategien, die in Medien, Formaten und Dingen greifbar werden, dienen dazu, Stabilität zurückzugewinnen, also Endlichkeit zu transzendieren, sie sollen zum Beispiel Beziehungen wiederherstellen bzw. festigen, dynas-
26 Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007. 27 Bourdieu, Pierre: Das politische Feld: Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001; Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld: Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000. 28 Bourdieu, Pierre: „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974.
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tische Herrschaft untermauern, Legitimität (re-)etablieren, Utopien, orientiert an zukunftsorientierten oder rückwärtsgewandten sozialen Modellen, entwerfen oder aber apokalyptische Visionen imaginieren. Der Begriff der Destabilisierung ist anders als jener der Krise ein offenerer Begriff, der es erlaubt, Endlichkeitserfahrungen unterschiedlicher Qualität und auf unterschiedlichen Ebenen in den Blick zu nehmen. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie sich auf Umbruchzeiten beziehen, in denen scheinbar stabile gesellschaftliche Balancen neuverhandelt und transformiert werden. Aushandlungsprozesse. Die Studien untersuchen den Umgang mit Endlichkeit innerhalb dieser Sozialgebilde und damit Prozesse des Aushandelns bzw. Verhandelns, die im Gefolge des Poststrukturalismus in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind.29 Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass soziale Figurationen immer dann neu ausgehandelt werden müssen, wenn eine Destabilisierung wahrgenommen, erfahren oder postuliert wird. Die Formulierung „Aushandlungsprozesse sozialer Figurationen“ soll das zentrale Moment der Interaktion in Figurationen sowie die Prozesshaftigkeit einer solchen Interaktion verdeutlichen. Neben dem Aspekt des Dynamischen und Interaktiven transportiert der Titel aber auch den analytischen Blick auf die Produkte dieser Aushandlungsprozesse, das heißt auf Diskurse und soziale Praktiken, die von Endlichkeitserfahrungen neu geprägt werden. Von besonderem Interesse ist hierbei das historisch und kulturell je unterschiedliche Repertoire von Handlungsstrategien innerhalb von Entscheidungsprozessen. Die kulturell differierenden Formen von Partizipation, Lösungsstrategien und Modi der Entscheidungsfindung spielen hierbei eine zentrale Rolle. Dieses Repertoire kann nur vor dem Hintergrund der Struktur sozialer Beziehungen, im Kontext der kulturell und historisch spezifischen Formalisierungen und Institutionalisierungen, zudem nur mit Rekurs auf die Traditionen und Vorstellungen der Figurationen verstanden werden. Beleuchtet werden müssen zudem die Logik der Akteure und deren Handlungsmöglichkeiten sowie deren Rollen, überdies die Frage, welchen Habitus die Akteure ausbildeten. Entscheidend ist schließlich die Untersuchung der Medien und Formate unter Berücksichtigung von deren Eigengesetzlichkeiten. In den Blick kommen hiermit Sprachund Argumentationsformen sowie narrative Praktiken. Behandelt wird zudem die Rolle je konkreter Materialitäten im Kontext der skizzierten Aushandlungsprozesse sowie die Kontaktzonen zwischen diesen und den handelnden Akteuren, so zum Beispiel nach Formen der Einschreibung von Endlichkeitskonzepten
29 Berressem, Hanjo: „Poststrukturalismus“, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 4. Aufl., Stuttgart/Weimar 2008, S. 591-592.
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in Dinge oder nach der Genese neuer Ding-Mensch-Beziehungen als Resultat dieser Aushandlungsprozesse. Am Ende steht als Ergebnis dieser Debatten, Kontroversen und Konflikte, also als Ergebnis der Aushandlungsprozesse um Endlichkeit die neue Gestalt einer sozialen Figuration, unabhängig davon, ob dies die Zeitgenossen oder die Nachwelt als Offenheit der gesellschaftlichen Entwicklung, als Bewältigung, Überwindung oder Scheitern bewerteten. Interessen und Macht. Die Aushandlungsprozesse und deren Folgen können nicht ohne den Bezug auf Herrschaft, Macht und Deutungshoheit gedacht werden. Soziale Strategien beim Umgang mit Endlichkeitserfahrungen können zum Beispiel dazu dienen, Beziehungen herzustellen, Legitimität zu demonstrieren, Deutungsvorgaben zu machen oder herrschaftliche Ziele zu erreichen. Aus diesem Grund gilt das besondere Interesse den Motiven, Intentionen und Zielen der an den Aushandlungsprozessen beteiligten Akteure und Gruppen. Im Zentrum steht dabei die Frage, in welcher Form und mit welcher Absicht Endlichkeitserfahrungen eingesetzt, angeeignet und funktionalisiert wurden und werden. Hierbei ist zu beachten, dass spezifische kurzfristig angelegte Interessen neben breit aufgestellten langfristigen Konzeptionen stehen können. Von großer Aussagekraft sind Situationen, in denen Asymmetrien der Intentionen oder Konflikte bei der Durchsetzung von Interessen innerhalb von Figurationen zu beobachten sind. Transformation. Mit dem Wandel gesellschaftlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Kontexte geht in der Regel die Erfahrung der DeStabilisierung eines vertrauten Referenzrahmens einher.30 Bislang gültige Gewissheiten und Orientierungen werden als fragil wahrgenommen und zur Disposition gestellt; Prozesse des Wandels werden somit mit Endlichkeitserfahrungen in eins gesetzt. Solche Wahrnehmungen verstärken sich in Phasen kulturellen Wandels. Wandel im Sinne von Transformation bezeichnet somit einen Prozess, der auf verschiedenen Ebenen von unterschiedlicher Stärke und Intensität stattfinden kann, der aber stets von Gesellschaften eine Neujustierung bisher gelten-
30 Vgl. zur neueren kulturwissenschaftlichen Krisenforschung: Fenske, Uta/Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor (Hg.): Die Krise als Erzählung – Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld 2013; Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit J. (Hg.): Krisengeschichte(n). ,Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013; Mergel, Thomas (Hg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherung, Frankfurt a.M./ New York 2012; paradigmatisch hier auch der Beitrag von Reinhart Koselleck zum Krisenbegriff: vgl. Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617-650.
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der Ordnungen und Orientierungen verlangt. Die kulturwissenschaftliche Transformationsforschung31 richtet ihren Fokus vor allem auf die daran beteiligten Akteure, ihre Praktiken und Diskurse. Sie versteht „Transformationen als komplexe Wandlungsprozesse […], die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen“32. Die Transformation drückt sich in Veränderungen aus, die das Beziehungsgeflecht von Individuen und Gruppen, materieller Welt und Institutionen aus der Balance bringen. Das erfordert eine Neuordnung des Referenz- und des Aufnahmebereichs, das heißt das Verhältnis des Früheren zum Späteren bedarf einer grundlegenden Neubestimmung. Dabei wird der Referenzbereich (Vergangenheit) retrospektiv konstruiert und darin Endlichkeitsvorstellungen auch im Sinne einer ontologischen Perspektive eingeschrieben. Der Begriff der Transformation eröffnet eine Form der Dynamik von Prozessen und Ereignissen, die dem Begriff der Endlichkeit auf den ersten Blick fremd erscheinen. Während der Modus der Vergänglichkeit Endlichkeit als einen Prozess auf ein unwiderrufliches Ende hin erfahren lässt und der Modus Begrenztheit zwar die Möglichkeit der Überwindung oder auch des Hinausschiebens einer Grenze einschließt, doch zuvorderst deren trennende oder beschränkende Wirkung bekräftigt, so fokussiert der Modus Transformation den dynamischen Wandel als Resultat der Erfahrung von und des Umgangs mit Endlichkeit. Transformation als Dimension von Endlichkeit tritt besonders innerhalb von Aushandlungsprozessen sozialer Figurationen zu Tage, die auf Endlichkeitserfahrungen reagieren, welche innerhalb der Figurationen als Destabilisierung erfahren werden. Doch auch der Umgang mit der Erfahrung begrenzter Ressourcen kann Wandlungsprozesse auslösen oder als Antwort auf Transformationen verstanden werden. Wenngleich die Vergänglichkeit des Lebens im biologischen Sinne zwar nicht überwunden werden kann, so erfährt doch der Körper und auch der Geist im Laufe des Lebens eine Transformation im Sinne eines dynamischen Wandels, der geprägt ist durch die Erfahrung von biologischen Prozessen wie Krankheit und Altern oder eben durch lebensweltliche Erfahrungen der Be-
31 Böhme, Hartmut: „Einladung zur Transformation“, in: Hartmut Böhme et al. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, S. 7-37; Düllo, Thomas: Kultur als Transformation, Bielefeld 2001; Georgi, Sonja et al. (Hg.): Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption, Bielefeld 2015. 32 Bergemann, Lutz et al.: „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“, in: Hartmut Böhme et al. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, S. 39-58, hier S. 39.
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grenztheit von sozialen, politischen, räumlichen Gegebenheiten und der Sterblichkeit des Menschen an sich. Ähnlich wie Endlichkeitserfahrungen im Kontext von Vergänglichkeit und Begrenztheit bringen auch Wandel und Transformation Momente von Entscheidungssituationen hervor, in denen Lösungsstrategien erprobt werden und alte und neue Praktiken einer Prüfung unterzogen werden. Transformation kann dazu führen, dass einerseits Endlichkeit in ihren zahlreichen Erscheinungsformen überwunden wird sowie Dinge an ein Ende kommen, aber andererseits auch neue Endlichkeitswahrnehmungen entstehen. Vor dem Hintergrund dieser Herangehensweise ergibt sich eine Fülle möglicher Anknüpfungspunkte für Untersuchungen, die in dieser Rubrik wie schon in den beiden vorangegangenen aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln vorgenommen werden. Aus kunsthistorischer Perspektive untersucht Annette Haug in ihrem Beitrag „Das Ende der Bilder im Horizont antiker Interessenlagen, Wahrnehmungsbedingungen und Handlungszusammenhänge. Eine Skizze für den griechischen Kontext“ die visuelle und kommunikative Funktion von Bildern, mithin ihre Rolle als soziale Akteure. Dabei geht sie von Bildern in ‚problematischen‘ Kontexten aus: Bildern, die verborgen, geraubt, umgearbeitet, verletzt, verstümmelt, zerstört und dann auch ‚entsorgt‘ werden. An solchen problematischen Kontexten lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie Bilder in unterschiedlichen sozialen Konstellationen in immer neuer Weise in Anspruch genommen, mit neuem Sinn versehen werden können. Gerade darin wird ihre soziale Wirkmacht, ihre Bedeutung für die Transformation sozialer Figurationen, unmittelbar greifbar. Franziska Hormuth historische Untersuchung „Endlichkeit und dynastische Kontinuität. Memoria und generationsübergreifende Verträge am Beispiel der Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296-1689)“ arbeitet die Mechanismen politischer und repräsentativer Gestaltungmöglichkeiten vormoderner Fürsten bezogen auf den Umgang mit dem eigenen Tod heraus. Die Strategien zur Überwindung der eigenen Endlichkeit waren vielfältig in verschiedenen Politik- und Lebensbereiche einer fürstlichen Familie eingebunden, wobei die Ausgestaltung dieser Strategien von den individuellen Vorstellungen und Ansprüchen eines Fürsten abhingen. Bei der vorliegenden Untersuchung stehen als Beispiele einer solchen strategischen Ausrichtung die Memorialpolitik und die Erbverbrüderungen, generationsübergreifende Vertragswerke, im Mittelpunkt. Die Erfahrung eines Verlusts, der zu einer gesellschaftlichen Krise führt, kann sich auch auf Ordnungsstrukturen beziehen. Als Antwort auf die Krisenerfahrung am Ende des 19. Jahrhunderts wird eine fundamentale Kulturkritik entworfen, die von weiten Teilen der wilhelminischen Gesellschaft geteilt wird. Silke Göttsch-Elten untersucht, wie dem Be- und Aufbewahren der Vergangenheit
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v.a. in seiner Materialität dabei große Bedeutung beigemessen wird. Sie fragt in ihrem Beitrag „Vom Ende der geordneten Welt – Kulturkritik und Krisenerfahrung um 1900“ danach, wie die Rhetorik des Verlustes in Strategien des Bewahrens übersetzt wird. Damit sind Praktiken des Dokumentierens wie z. B. museales Sammeln, Fotografieren oder ethnografische Aufschreibsysteme gemeint, Praktiken des Zeigens wie Ausstellungsformate, mit denen dem Bewahrten Sinn verliehen wird und schließlich die Praktik des Ästhetisierens, in der Vergangenheit als Ressource genutzt wird, Lebensmodelle für die Zukunft zu entwerfen. Ebenfalls aus der disziplinären Perspektive der Europäischen Ethnologie untersucht Markus Tauschek in seinem Beitrag „‚Energiepioniere‘. Eine kulturanthropologische Forschungsskizze zu Endlichkeit und Agency im Kontext erneuerbarer Energien“ eine spezifische Akteursgruppe, die – so die zentrale These – produktiv mit der Erfahrung von Endlichkeit umgeht: Es geht um jene Akteure, die in einem öffentlichen Diskurs meist positiv als Pioniere charakterisiert werden und die im Rahmen der Energiewende selbst aktiv werden, andere Menschen von ihren Ideen überzeugen, neue Technologien entdecken, modifizieren und für sich nutzbar machen und so schließlich auch gesellschaftliche und politische Ordnungen hinterfragen oder gar transformieren. In Rückgriff auf die Akteur-Netzwerk Theorie und verbunden mit der Frage nach der Erschließung von Handlungshorizonten diskutiert der Beitrag, welche Rolle Endlichkeit, deren lebensweltliche Erfahrung und Deutung im Rahmen der Energiewende spielt. Sodann stellt Maria Grewe aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in ihrem Beitrag „Reparieren in Gemeinschaft: Ein Fallbeispiel zum kulturellen Umgang mit materieller Endlichkeit“ die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern Erfahrungen der Endlichkeit materieller Kultur und begrenzter Ressourcen am Beispiel von Reparaturcafés in konkrete Praktiken übersetzt werden. Mit Hilfe von Ehrenamtlichen reparieren Besucher in Reparaturcafés defekte Geräte und setzen Dinge wieder instand. Dem Reparieren in Gemeinschaft werden dabei soziale, politische, ökologische und ökonomische Funktionen zugeschrieben. Der Beitrag zeigt, dass Reparaturcafés als paradigmatische Orte das gesellschaftliche Interesse markieren, nachhaltige und ressourcenschonende Alltagspraktiken durch Graswurzelbewegungen zu etablieren. Zusammenfassend gehen die Studien zur „Endlichkeit in Aushandlungsprozessen sozialer Figurationen“ von der Annahme aus, dass Figurationen, die aufgrund von Endlichkeitserfahrungen aus dem Gleichgewicht gebracht wurden, darauf verstärkt mit diskursiven Praktiken reagieren, die in der Forschungsperspektive einen analytischen Zugang und daran anschließend eine historisch und sozial vergleichende Perspektive ermöglichen. Der Fokus liegt auf der Wirkweise von Endlichkeitserfahrungen auf soziale Figurationen, auf den Akteuren wie auf
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den „Produkten“, also den jeweils anvisierten und zu analysierenden Quellen. Allen Studien gemeinsam ist die Frage, wie Aushandlungsprozesse im Rahmen fundamentaler Erfahrungen von Endlichkeit strukturiert sind, wie soziale Figurationen durch solche Erfahrungen geformt bzw. überformt werden und wie im Spannungsfeld von Destabilisierung und Stabilisierung Figurationen zur Disposition gestellt werden.
N ACHSATZ Der Sammelband dokumentiert die Resultate eines gemeinsamen Forschungsvorhabens an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Universität und Fakultät finanzierten hierfür von 2012 bis 2015 das Projektkolleg „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“ mit der wissenschaftlichen Koordinatorin Anja-Franke-Schwenk und fünf Stipendiatinnen und Stipendiaten (Lucie Chamlian, Maria Grewe, Franziska Hormuth, Daniel Jesche und Katinka Seeger). Im Sommersemester 2013 hielten Kolleginnen und Kollegen an der Philosophischen Fakultät Vorträge im Rahmen einer Ringvorlesung, und am 11. und 12. April 2013 veranstaltete das Projektkolleg eine Tagung mit auswärtigen Referentinnen und Referenten. Die hier versammelten Beiträge gehen auf eine Auswahl von Vorträgen aus Ringvorlesung und Tagung zurück. Zudem sind Beiträge der Stipendiatinnen und Stipendiaten in diesen Band aufgenommen worden. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber bedanken sich herzlich bei den Verfasserinnen und Verfassern der Aufsätze für die Geduld bei der Erstellung dieses Bandes und bei allen weiteren Beteiligten an der fruchtbaren kooperativen Forschungsanstrengung im Projektkolleg „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“. Ein besonderer Dank geht an die anderen Mitglieder der „Kerngruppe“ im Projektkolleg, Thorsten Burkard, Silke Göttsch-Elten, Gabriele Lingelbach und Konrad Ott, mit denen gemeinsam die Grundkonzeption für das Projektkolleg verfasst wurde, die auch in diese Einleitung eingeflossen ist. Die Philosophische Fakultät hat diesen Band mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt. Besonders zu danken ist schließlich Kristina Böttcher für ihre sorgfältige Unterstützung bei den Redaktionsarbeiten. Kiel, im September 2015
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk und Tine Stein
Endlichkeit und Lebenssinn T HOMAS R ENTSCH
Nach einigen Bemerkungen zur Stellung der Reflexion auf Endlichkeit und Tod in der Geschichte der Philosophie – bei Sokrates und im Deutschen Idealismus, insbesondere bei Schelling, werde ich mein Thema in drei Schritten untersuchen: Erstens werde ich die Kernstruktur der Todesanalysen Heideggers freilegen und ihre Tragweite analysieren. Zweitens werde ich auf der Basis der Defizite dieser Analyse eine systematische Transformation der Bestimmung der Endlichkeit in interpersonaler und praktischer Hinsicht durchführen; die Beziehung von Endlichkeit und Sinnkonstitution soll hier grundlegend geklärt werden. Schließlich werde ich drittens eine weitere material-praktische Konkretisierung der Beziehung von Endlichkeit und Sinn im Blick auf eine philosophische Gerontologie und eine Ethik des Alterns unternehmen.1 Ich komme zu den historischen Bemerkungen. Gleich zu Beginn der Philosophie steht der Tod im Zentrum der Reflexion – bei Sokrates und in der Apologie des Sokrates durch Platon, angesichts seines Todes. Es ist nämlich ein großer und verbreiteter Irrtum, das Sokratische Nichtwissen beziehe sich auf alles Wissen. Das ist keineswegs der Fall. Vielmehr kennt Sokrates zwei Arten des Wissens, die sicher und tragfähig sind: erstens das Fachwissen jeglicher Art, der Bauer weiß zu pflanzen und zu ernten, der Fischer weiß zu fangen, der Architekt weiß zu bauen, der Arzt weiß, zu heilen; das zweite sichere und tragfähige Wissen ist das ethische Wissen – ich weiß, welches Handeln übel und schädlich ist, wenn ich zum Beispiel lüge, betrüge, verletze. Das Nichtwissen betrifft demge-
1
Aspekte der Thematik behandelte ich bereits in: Rentsch, Thomas: „Endlichkeit und Sinn“, in: Markus Höfner/Stephan Schaede/Günter Thomas (Hg.), Endliches Leben. Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen der Krankheit, Tübingen 2010, S. 25-38.
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genüber Grundfragen über das menschliche Leben im Ganzen und insbesondere das Verständnis des Todes.2 Angesichts des Todes erfährt das Nichtwissen seine „dramatischste Zuspitzung“: „[D]en Tod fürchten [...], das ist nichts anderes als sich einbilden, man wäre wissend, und es doch nicht sein. Es [den Tod fürchten] ist nämlich die Einbildung, das zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüssten sie gewiss, dass er das größte Übel ist. Und wie wäre dies nicht eben derselbe verrufene Unverstand, die Einbildung, etwas zu wissen, was man nicht weiß.“3
Am Ende der Apologie, in den letzten beiden Sätzen, akzentuiert Platons Sokrates noch einmal diesen Bezug des Nichtwissens auf den Tod. Sokrates wendet sich an seine Richter: „Jedoch, es ist nun Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen (ádelon) außer nur Gott.“4 Was es mit dem Tod in Wahrheit auf sich hat, bleibt undurchschaubar, (ádelon) rätselhaft. Diese Auffassung deckt sich mit der Bewusstseinslage des sechsten und fünften Jahrhunderts. Eines der typischsten Grabdenkmäler des Kerameikos, des damaligen Friedhofs von Athen, war ursprünglich einmal die Sphinx, das Rätselwesen par excellence. Wer zu jener Zeit in Athen die Gräber seiner Verstorbenen aufsuchte, wurde auf Schritt und Tritt mit der beunruhigenden Rätselhaftigkeit des Todes konfrontiert. Der Tod ist ein Beispiel, wenn auch ein dramatisches, wie sehr der Mensch, der die Unsicherheit nicht auszuhalten vermag und nach definitiven Antworten sucht, so oder so durch Scheinsicherheiten in die Irre geführt werden kann. Die zweite historische Vorbemerkung betrifft das Verhältnis von Endlichkeit und Sinn im Deutschen Idealismus. Auf verschiedene Weise haben die Zöglinge des Tübinger Stifts, kurz gesagt, Transformationen der Trinitätstheologie in philosophisch-anthropologische Konstitutionsanalysen vollzogen. Bei Hegel wird die Trinität dialektisch-begrifflich rezipiert, die Menschwerdung Gottes ist die Geistwerdung beziehungsweise die Begeisterung des endlichen Menschenwesens. Sein Kommen-zu-sich als Kommen zur Vernunft in der Endlichkeit, die
2
Vgl. Heitsch, Ernst: Platon. Apologie des Sokrates (= Platon: Werke, Band I 2), Göt-
3
Ebd.
4
Ebd., S. 42.
tingen 2002, S. 29.
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dadurch intern unendlich wird, ist Transzendenz in der Immanenz des vernünftigen Selbstbewusstseins. Die Trinität wird Paradigma, Modell der menschlichen Vernunftgeschichte in der zeitlichen Endlichkeit. Der empirische Tod ist für Hegel notwendige Bestätigung der vernünftigen Allgemeinheit5. Für Schelling ist ebenfalls eine verzeitlichend-verendlichende Transformation der Trinitätstheologie leitend. Die Personen der Trinität werden zu den Ekstasen der Zeitigung der Zeitlichkeit – so nimmt Schelling Heidegger vorweg. Das Absolute verendlicht sich in der Endlichkeit von unvordenklicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so in den Weltaltern, Vorgestalt auch der Theorien von Darwin und Freud. Auch hier ist die Verendlichung des Absoluten schlechthin Paradigma der Sinnkonstitution. Entgegen Hegels Ansatz der Gegenwärtigkeit des Geistes als der Gegenwart des Absoluten ist Schelling insofern christlicher – wenigstens aus der Sicht einiger Interpreten – als er die eschatologische Dimension der heilsgeschichtlichen Zukunft stark in seine Analyse der weltgeschichtlichen Sinnkonstitution einbezieht.6
1.
D IE S TRUKTUR
VON
H EIDEGGERS T ODESANALYSE
Betrachten wir nun paradigmatisch Heideggers Todesanalyse in „Sein und Zeit“.7 Einen ihrer Hintergründe bildet Kierkegaard, dessen Angstanalysen in der Schrift „Der Begriff Angst“ und dessen Zeitanalysen in der Schrift „Die Wiederholung“ für Heideggers existentielle Zeitanalyse der ekstatischen Zeitigung von zentraler Bedeutung sind. In „Die Krankheit zum Tode“ (1849) und in der „Rede an einem Grab“ (1845) thematisiert er die Todesthematik auf exemplarische Weise. So verbindet die Kierkegaard-Rezeption Heideggers die Hermeneutik und Kategorienlehre des (alltäglichen) Lebens mit den existentiell-religiösen Traditionen.8 Zunächst räumt Heidegger uneigentliche Vorstellungen vom Tod ab. Diese durch die Öffentlichkeit des „Man“ begünstigten, nivellierenden Vorstellungen
5
Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte
6
Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph/Manfred Frank (Hg.): Philosophie der Of-
Werke, Band 9), Berlin 1980, S. 405-410 sowie S. 412f. fenbarung: 1841/42, Frankfurt a.M. 1977, 15. Vorlesung (II). 7
Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 235-267.
8
Vgl. Rentsch, Thomas: „Sein und Zeit. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit“, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben – Werk − Wirkung, Stuttgart 2013, S. 52f.
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thematisieren den Tod nur wie ein unbeteiligter Beobachter: „Das ,man stirbtʻ verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man [...]. Das ,Sterbenʻ wird auf ein Vorkommnis nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemandem eigens zugehört.“9 Mit der Todesanalyse gewinnt Heidegger einen Standpunkt radikaler Immanenz: Die endliche Totalität des Daseins in der Einheit von Faktizität, Existenz und Verfallen soll als einzigartige Ganzheit erfasst werden. Die „Geworfenheit in die Welt“ radikalisiert sich zur „Geworfenheit in den Tod“10, die AngstAnalyse wird zur Todesangst-Analyse. Gewöhnlich flieht das Dasein den Tod; zunächst sterben immer nur die anderen – ich nicht. In Wahrheit aber stirbt jeder einzelne ständig. Aber dieses lebenslange Sterben wird im Alltag verdeckt und geflohen. Die Diagnose dieser Verdecktheit und Anonymisierung des Todes ist auch für die gegenwärtigen Gesellschaften des Westens durchaus noch aktuell. Heideggers Phänomenologie des Todes hat weitreichende ethische und moralphilosophische Implikationen. Die gesamten Eigentlichkeitsanalysen von Sein und Zeit lassen sich, zumal, wenn wir sie von ihrem expressionistischen Pathos befreien, in der Perspektive einer Bestimmung der Würde des Menschen lesen. Ein weiterer Aspekt ist bei der so vollzogenen Immanentisierung wichtig: Während häufig – gerade in der unmittelbaren und auch in der existenzialistischen Rezeption – ein dualistisch-gegensätzliches, dezisionistisches Verständnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit Verbreitung fand, lässt sich durchaus ein gradualistisches Verständnis aus dem Text gewinnen. Ein solches abgestuftes Verständnis verschiedener Formen mehr oder weniger authentischer Handlungsund Lebensformen ist der Lebensrealität angemessener. Bei näherer Betrachtung lässt sich zudem zeigen, dass es Eigentlichkeit nie an sich gibt, sondern nur in jeweiliger Abhebung und inmitten von Uneigentlichkeit. Der Tod ist keine kategoriale, sondern eine existenziale Bestimmung, eine Form des ganzen Lebens. Heidegger bezieht sich produktiv auf Tolstois berühmte Novelle „Der Tod des Ivan Iljitsch“11, auf Georg Simmels späte lebensphilosophische Todesanalyse12 und auf die spätmittelalterliche Schrift „Der Ackermann aus Böhmen“ des Johannes von Tepl: „Sobald ein Mensch zum Leben
9
M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 253; vgl. zum Folgenden auch: T. Rentsch: Sein und Zeit, S. 51-80.
10 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 251. 11 Ebd., S. 254. 12 Ebd.
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kommt, ist er alt genug zu sterben.“13 Mit diesen Quellen sind die Strukturen eines eigentlichen Todesverständnisses auf der existenziellen Ebene exemplarisch vorgezeichnet. Bereits bei Simmel fungiert die Sterblichkeit als das wesentliche Prinzip der Individuation – sie konstituiert die Einzigartigkeit des individuellen Lebens, denn „in jedem einzelnen Momente des Lebens sind wir solche, die sterben werden [...]. Dies erst macht die formgebende Bedeutung des Todes klar. Er begrenzt, das heißt er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt.“14 In der Schrift des Johannes von Tepl doziert der Tod: „Du fragst, was Wir seien. Wir sind nichts und sind doch etwas. Deshalb nichts, weil Wir weder Leben, noch Wesen, noch Gestalt haben, kein Geist sind, nicht sichtbar, nicht greifbar sind; deshalb etwas, weil Wir des Lebens Ende sind, des Daseins Ende, des Nichtseins Anfang, ein Mittelding zwischen ihnen beiden. Wir sind ein Geschehen, das alle Menschen fället. [...] Du fragst, wo Wir seien. Nicht feststellbar sind Wir.“15
Heideggers Explikation des „vollen existenzialen Begriffs des Todes“ transformiert diese majestätische Selbstoffenbarung des Todes auf die begriffliche Ebene seiner phänomenologischen Analyse. Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, sondern Leben selbst ist „Sein zum Ende“16. Als zum Dasein konstitutiv gehörendes „Noch-nicht“ steht der Tod aus.17 Gerade das, was Dasein noch nicht ist, charakterisiert wesentlich sein Sein. Dasein ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist: Dasein ist seine eigene „Nichtigkeit“. Als ständig ausstehend ist der Tod erstens „die Möglichkeit der Unmöglichkeit der eigenen Existenz überhaupt“18 und zweitens die „eigenste Möglichkeit“ jedes Menschen. Er ist die Instanz, angesichts derer das Dasein seiner Einzigkeit innewerden und sich so dem „Man“ entreißen kann. So wird inmitten der „Verlorenheit“ an die Alltagsrouti-
13 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 245; vgl. in abweichender Übersetzung: von Tepl, Johannes: Der Ackermann aus Böhmen, Stuttgart 1963, S. 62. 14 Simmel, Georg, „Zur Metaphysik des Todes“, in: Ders. (Hg.), Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susmann herausgegeben von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 29-36, hier S. 31. 15 J. v. Tepl: Der Ackermann aus Böhmen, S. 57. 16 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 245. 17 Vgl. die Zeit als ek-statikon. 18 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 262.
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nen und das belanglose Gerede ein eigentliches Selbstverständnis möglich.19 Die Möglichkeit des Todes ist drittens eine „unbezügliche“: An ihr zeigt sich auf eminente Weise die „Jemeinigkeit“ des Daseins:20 Dass Dasein „je meines“ ist, dass mir mein Dasein niemand abnehmen kann. Mit dem Tod ist die „innerste Endlichkeit“ des Daseins aufgewiesen – eine Formulierung, die später für Heideggers existenziale Kant-Interpretation wichtig wird. Die Möglichkeit des Todes ist auf nichts anderes bezogen als auf das Dasein (das je-meinige Leben) selbst. In diesem Kontext bilden sich Züge eines existenzialen Solipsismus aus. Der Tod ist das Paradigma menschlicher Selbstbezüglichkeit, die an ihm auch ihre letzte Grenze und ihr Ende findet. Somit ist der Tod 4. die „unüberholbare“ Möglichkeit des Daseins schlechthin.21 Die „eigentliche“ Todeskonzeption Heideggers spricht in einem eigentümlichen Bild vom „Vorlaufen in den Tod“. Das „Vorlaufen“ reißt heraus aus der „Verfallenheit“ und „Verlorenheit“: „Das Vorlaufen [...] weicht der Unüberholbarkeit nicht aus wie das uneigentliche Sein zum Tode, sondern gibt sich frei für sie. Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, dass es die faktischen Möglichkeiten, die den unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen lässt. Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je erreichte Existenz.“22
Fünftens kennzeichnet den Tod das Strukturmoment der „Gewissheit“. Es handelt sich nicht um eine aus Erfahrung gewonnene oder gewinnbare Gewissheit: Die „Gewissheit des Todes kann nicht errechnet werden aus Feststellungen von begegnenden Todesfällen“. Sie „hält sich überhaupt nicht in einer Wahrheit des Vorhandenen“23. Sechstens: Schließlich bestimmt Heidegger den Tod als „unbestimmt“24. Er bezieht sich auf die Angst-Analyse zurück: Die Stimmung der Angst bringt das Dasein vor seine Geworfenheit. Indem das Dasein sich in der Todesangst „vor dem Nichts“ befindet, schwinden alle möglichen inhaltlichen Bestimmungen.
19 Ebd., 263. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 264. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 265.
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Die dramatische Todesanalyse wurde vielfach wiederum Anlass zu ideologiekritischen Analysen. Dennoch lassen sich ihre Elemente ganz formal-strukturell auffassen, wenn in ihr von der ständigen, eigensten, unbezüglichen, unüberholbaren, gewissen und unbestimmten Möglichkeit des Todes die Rede ist. Dass ein angemessenes (auch ethisch-moralisches) Selbst- und Lebensverständnis nur mit Rückbezug auf die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit zu gewinnen ist, eint so unterschiedliche philosophische Ansätze wie die des Sokrates, die der Stoa und Senecas, die mittelalterliche meditatio mortis und das Denken Montaignes. Und ist es nicht wahr: Den letzten Ernst (wie auch die mögliche „Leichtigkeit“) des Lebens begreift man nur, wenn man die Endlichkeit und Einmaligkeit des eigenen Lebens begreift. Nur so wird ja einsichtig, welche Bedeutung weichenstellende Entscheidungen haben, welche Tragweite dem Ergreifen von – und damit gleichzeitig dem Nicht-Ergreifen vieler anderer – Möglichkeiten zukommt, wie kostbar Momente der Erfüllung sind. Auf der einen Seite etabliert die Todesanalyse einen lückenlosen faktischen Immanenzzusammenhang der Nichtigkeit, des existenziellen „Stehens vor dem Nichts“. Isoliert man diesen Aspekt des Textes und liest ihn noch aus der Perspektive des späteren Existenzialismus, dann erhält man den Eindruck einer dramatischen Apotheose des Nihilismus. Dieser Eindruck ist ersichtlich einseitig und sogar falsch, wenn man berücksichtigt, auf welche Weise die Angst- und die Todesanalysen in weitreichende systematische wie auch ethisch-praktische Kontexte eingebunden werden, auch wenn Heidegger sie nicht so nennt. Denn der Weg zum Nichts ist gerade nicht die Endstation, sondern nur Durchgangsstation zum begriffenen „eigentlichen Seinkönnen“ in der Bezeugung des „Gewissens“ (§§ 54-60). Entgegen der durchschnittlichen Selbstvergessenheit des Alltags, dem oberflächlichen Gerede, dem „Lärm“ des Tages macht sich – konstitutiv für ein eigentliches Selbstverständnis – der „Ruf des Gewissens“ (§ 56) geltend. Was Heidegger hier in seiner Struktur freizulegen beansprucht, das ist – mit anderen Worten reformuliert – das explizite praktische Selbstverhältnis des Menschen. Wenn ich mir meiner letzten Verantwortung und damit meiner Freiheit bewusst werde, dann gibt es für mich keine weltlichen oder mitmenschlichen Flucht- oder Rekursinstanzen mehr, auf die ich mich zurückziehen kann. Nur das tua res agitur bleibt. Deswegen wird es „unheimlich“ (§ 57), wenn sich das Gewissen meldet. Das „Vorlaufen in den Tod“, der Ruf des Gewissens, selbst die Situation des Daseins als „nackte[m] ‚Dass‘ im Nichts der Welt“ (SZ 276f.) dienen methodisch der Freilegung radikaler Verantwortlichkeit und praktischer Freiheit. Die formale Grundstruktur menschlicher Existenz, wie sie Heidegger nun freigelegt hat, trägt, vergleicht man sie mit einer christlichen StandardDogmatik, Züge einer gottlosen Theologie. Der Lehre von der Schöpfung ent-
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spricht die von der Geworfenheit, der Lehre von Freiheit und Sündenfall die von Entwurf und Verfallen, der Lehre von der Erlösung und vom Geist die von der Eigentlichkeit und der durch Todesangst und Gewissensruf erschlossenen Ganzheit, der Lehre von der Vollendung die vom entschlossenen Vorlaufen in den Tod.25 An die Stelle Gottes tritt aber das endliche In-der-Welt-sein. Heidegger selbst allerdings wendet sich in § 44 vehement gegen eine Philosophie, die Anleihen bei der christlichen Theologie macht. Auf die Komplexität und Ambivalenz seines Verhältnisses zum theologischen Erbe kann in unserem Kontext nur hingewiesen werden; sie verdiente ausführliche Aufklärung.26 Die Vertiefung der strukturellen Zeitanalysen in den §§ 61-66 steht ganz im Zeichen einer transzendentalen wie auch existenzial-ontologischen Phänomenologie der Weltkonstitution. Die Sorge-Analyse wird auf die ekstatische, endliche Zeitigung der Zeitlichkeit hin vertieft. Knapp gesagt: Was Menschen tun und tun müssen, das sind nicht nur jeweils endliche Vollzüge, sondern lässt sich näherhin fassen als Sorge um das eigene Endlich-sein-können. Diesem Urfaktum gleichsam reflexiv inne zu werden, bedarf es des Todesbewusstseins. Es bedarf seiner, um der eigentlichkeitsermöglichenden endlichen Zeitlichkeit des Selbstseinkönnens bewusst zu werden. Die „ursprüngliche“ Zeit ist somit die ekstatischendliche Lebenszeit; alle anderen Weisen des Zeitverhältnisses – natürliche, kosmische, physikalische, messbare, lineare – zum Beispiel die Uhrzeit – sind von dieser Zeit erst derivierte, kategorial fassbare Modi. Das abschließende Kapitel zum Verhältnis von Existenzialontologie und Geschichtlichkeit (SZ §§72-83) unternimmt im konsequenten Duktus des Fundierungsgedankens eine existenziale Deduktion der Weltgeschichte aus der existenziellen Zeitlichkeit des Daseins. Die vielen hier auftretenden Brüche und sich aufdrängenden Fragen deuten schon auf den Abbruch von „Sein und Zeit“ hin. Heideggers These ist, dass sich ein ontologisches Verhältnis von Geschichtlichkeit nur aus der eigentlichen existenziellen Zeitlichkeit gewinnen lässt. Somit muss eine „existenziale Konstruktion der Geschichte“ erfolgen27 und zwar gegen das übliche „vulgäre“ Geschichtsverständnis. Dieser Ansatz macht nun Vermittlungsbegriffe beziehungsweise -phänomene erforderlich, die „zwischen“ dem einzelnen Dasein und der Weltgeschichte eine sinnkonstitutive Verbindung herstellen. Solche sind das „Erbe“ (SZ 385), das „Schicksal“ (SZ 384) und die
25 Vgl. Rentsch, Thomas: Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung, München 1989, S. 149ff. 26 Vgl. Jung, Matthias/Holger Zaborowski: „Theologie. Konstellationen zwischen Vereinnahmung und Distanz“, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, S. 491-497. 27 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 376.
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„Treue der Existenz zum eigenen Selbst“ (SZ 391), die wiederum durch explizite „Wiederholung“ des sonst bloß Vergangenen ermöglicht wird. Durch diesen Zugriff wird das „eigentliche Sein zum Tode, das heißt die Endlichkeit der Zeitlichkeit [...] der verborgene Grund der Geschichtlichkeit“ (SZ 386), denn nur „wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt gleichursprünglich zusammenwohnen wie in der Sorge, kann es im Modus des Schicksals existieren, das heißt im Grunde seiner Existenz geschichtlich sein“ (SZ 385). Bei aller Problematik der Heideggerschen Analyse kann darauf hingewiesen werden, dass auch beim späten Freud die Kultur als Todesangstbewältigungsunternehmen analysiert wird, und auch in Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“. Um von der Eigentlichkeit des Einzelnen zur Gemeinsamkeit zu gelangen, führt Heidegger unvermittelt den Volksbegriff ein. Aber die thanatologische Engführung der existenzialen Analytik vermag zu einer überzeugenden Analyse gesellschaftlich-geschichtlicher Öffentlichkeit nicht recht anzuleiten und nicht zu passen. In „Mitteilung“ und „Kampf“ (SZ 384) sieht Heidegger Modi, in denen das Dasein sich authentisch in seine Gemeinschaft, sein Volk integriert und sein Erbe und sein Schicksal übernimmt. Die subtilen Analysen Hegels zur sozialen Interaktion und zur Konstitution von Sittlichkeit, Gesellschaft und Staat ignoriert Heidegger, wenn er Hegel pauschal ein uneigentliches Geschichtsverständnis attestiert (SZ § 82). Letztlich gründet auch die „Weltzeit“, die durch „Datierbarkeit, Spanne und Öffentlichkeit“ (SZ §69) charakterisiert ist, im zeitlich-endlichen Besorgen der Daseinsvollzüge. Die einzigartige Fundierungsfunktion der ekstatischen, endlichen Zeitigung der Zeitlichkeit für alle anderen weltlichen und alltäglichen Phänomene, die Heidegger im Medium der Todesanalyse auf die Spitze treibt, bleibt im existentialen Zugriff auf Geschichtlichkeit, Weltgeschichte und Weltzeit – aporetisch – erhalten. Der Weg hat vom Sein zum Tod geführt.
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S INNKONSTITUTION
Ich bin systematisch der Überzeugung, dass wir das Konstitutionsverhältnis von Endlichkeit und Sinn erst dann angemessen erfassen, wenn wir zwar die Analysen Heideggers produktiv aufgreifen, sie aber auf andere Weise weiterführen. Meine These ist, dass Heideggers Analysen gerade aufgrund ihrer Konzentration auf die endliche Zeitlichkeit und die Todesangst eine temporale und thanatologische Engführung vollziehen, die auf diese Weise auch das Spezifische des Konstitutionsverhältnisses von Endlichkeit und Sinn verfehlen. Das existentielle Erschließungsphänomen der Todesangst führt Heidegger mit der existentialen
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Ebene eng und lässt mit der „Handlung“ des „Vorlaufens in den Tod“ das Dasein seine unüberbietbare Ganzheit erreichen. Damit ist ein hermetischer Solipsismus der Ganzheit verbunden. Sternberger stellt bereits früh fest, „dass dieses Dasein durch nichts ihm Fremdes begrenzt wird (da es ja selber die zum eignen Raum erschlossene ‚Grenzeʻ ist) […], dass das Dasein es also immer und überall einzig und allein mit sich selber zu tun hat, ,dass ebendasselbeʻ Sein, um das es im Tode geht, diesen gleichen Tod erst konstituiert!“28. Demgegenüber müssen wir die Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens radikaler fassen, als es die Todesanalyse Heideggers leistet. Meine These ist, dass eine solipsistische bzw. subjektivistische Analyse, die bei Heidegger in die thanatologische Engführung mündet, ferner die Deduktion der Weltgeschichte aus der existentiellen Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins begründet, dass eine solche primär monologische Analyse die Konstitution von Endlichkeit und Sinn letztlich verfehlt. Demgegenüber müssen wir die intersubjektive, die interpersonale, in meiner Terminologie: die interexistentielle Verfassung der menschlichen Welt ins Zentrum rücken.29 Durch Heideggers Analyse werden eigentliche Modi des gemeinsamen Lebens methodisch tendenziell ausgeschlossen. In seiner Beschreibung der zeitlichformalen Endlichkeit geht das Moment der interexistentiellen Konstitution einer menschlichen Welt nicht strukturell ein. Wir aber müssen die apriorische Interexistentialität auch und gerade wegen unserer Endlichkeit erfassen. Nur so kommt auch die fundamental ethische Dimension der humanen Welt in den Blick. Es ist nicht so – wie Heidegger nahe legt – dass der Tod der Anderen zur Verdrängung der eigenen Sterblichkeit dient. Intensiv erfahren wir in der lebensweltlichen Alltäglichkeit den Tod naher Angehöriger, der Großeltern, Eltern, Partner, Geschwister, naher Verwandter und Freunde. Die Kultur des Umgangs mit endgültigem Verlust, Abschied und Trauer, Erinnerung und Gegenwärtighalten ist der primär soziale Ort dieser interpersonalen Erfahrung. Gelingende (und misslingende) Formen gemeinsamen Lebens bilden auch hier die primären Modi situativer Erschlossenheit, wie auch auf den anderen Ebenen der menschlichen Orientierungspraxis. Als orientierungs- und lebenstragend für unsere Praxis erweisen sich kommunikative Interexistentiale wie zum Beispiel Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauen, gegenseitige Hilfe, Bemühen um Klarheit. Unsere Endlichkeit und Begrenztheit im Leben (wie im Sterben) zeigt sich mithin primär und konstitutiv im Medium der interexistentiellen Transzendenz, der Transzendenz der Anderen bzw. des Anderen. Der konstitutive Konnex
28 Sternberg, Dolf: Über den Tod, Frankfurt a.M. 1977, S. 106. 29 Vgl. Rentsch, Thomas: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999.
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von Endlichkeit und Sinn zeigt sich in der Unverfügbarkeit des bzw. der Anderen. Nur weil der Andere aus Freiheit auf mich zukommen kann und ich auf ihn, wird interpersonaler Sinn möglich und je wirklich. Auch im Sterben und Tod, wie in Geburt und Aufwachsen der Anderen zeigt sich die sinnkonstitutive Unverfügbarkeit, die wir als interexistentielle Transzendenz bezeichnen können.30 Wir dürfen uns diese uns jeweils begrenzende und ermöglichende Transzendenz der Anderen nicht vereinfachend vorstellen, denn sie konstituiert in ihrer ganzen Komplexität unsere Lebensformen. Während wir in der Heideggerschen Terminologie primär „da“ sind, sind die Anderen schon in der Immanenz des Lebenszusammenhangs primär fern. Sie sind abwesend. In dieser Ferne und Abwesenheit liegt auch das Potential möglicher Nähe und Kommunikation. Die Unverfügbarkeit der Anderen ist eine sinnkonstitutive Grenze unserer selbst, ohne die wir uns nicht verstehen, ohne die wir nicht zu uns selbst werden können. Zur Transzendenz unserer Existenz gehört die Transzendenz der Anderen, die interexistentielle Transzendenz. Die authentiekonstitutive Klimax, die Heidegger im Vorlaufen in den jemeinigen Tod verortet, verdeckt die sinnkonstitutive Endlichkeit, die in dieser Begrenztheit durch die mir fernen bzw. nahen, jedenfalls primär entzogenen Mitmenschen erschlossen ist. Hinzu kommt angesichts der praktisch sinnkonstitutiven interexistentiellen Transzendenz zweierlei: Erstens sind die meisten Menschen entweder schon gestorben oder noch nicht geboren. Wir leben dennoch mit ihnen und durch sie bzw. von ihnen. Abwesenheit und Ferne sind in diesem Kontext konkrete Sinngestalten des interexistentiellen Lebens, die durch Andenken und Erinnerung bzw. durch die Verantwortung vor künftigen Generationen kultiviert werden. Die interexistentielle Transzendenz überschreitet in jeder Hinsicht die endliche Sterblichkeit des Einzelnen, und zwar völlig und grundsätzlich. Und zweitens: Auch meine eigene existentielle Endlichkeit prägt und konstituiert mein ganzes Leben und dies wiederum nicht zentriert und fokussiert auf mein Sterben und meinen Tod, sondern im Blick auf alle Zeiten meines Lebens. Wer war ich als Kind, als zehnjähriger Schüler, als Gymnasiast, als Sanitäter, in der Tanzstunde? Wer war ich als Privatdozent in Berlin, in Halle kurz nach der Wende? Wer war ich – denken wir an Freud – als Baby? Ich weiß es nicht bzw. die Erinnerung ist eine eigene Arbeit an der Sinnkonstitution im Blick auf die eigene existentielle Transzendenz und Unverfügbarkeit. Die Sinnkonstitution ist ekstatisch – hierin hat Heidegger Recht. Aber diese ekstatische Konstitution ist
30 Vgl. dazu Rentsch, Thomas: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000; Ders.: Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin 2011.
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nicht primär monologisch und formal-zeitlich-endlich verstehbar, sondern sie ist primär interpersonal, kommunikativ, material und konkret an Sinnentwürfe im gemeinsamen Leben gebunden und nur so verstehbar. Die Rekonstruktion der ekstatischen, trinitarischen Struktur des Geistes, des Logos, der Vernunft im Deutschen Idealismus weist in genau diese Richtung: bei Hegel in die Sphäre der gesellschaftlich-kulturellen und institutionellen Konstitution, bei Schelling auch in die Sphäre der naturgeschichtlichen, evolutionsbiologischen, archaischen, paläo-anthropologischen und mythologischen Konstitution. Heideggers Thanatologie ist somit ein stark reduktionistischer Torso dieser Rekonstruktion. In der Tat: Sinnhafte Lebensformen können und müssen sich in einzigartiger Weise zeitlichendlich und mithin vergänglich konkretisieren. Aber alles zeitlich-endliche Sichzu-sich-Verhalten (auch das zu meiner eigenen vergangenen und zukünftigen Existenz) ist durch das gemeinsame Leben zugänglich und geformt: Durch kommunikativ-interexistentielle Verhältnisse, Ekstasen der Interpersonalität, wie Zuhören, Helfen, sich beraten, an jemanden denken, für jemanden arbeiten, jemanden lieben, auf jemanden warten, jemandem etwas beibringen. Die endliche lebensweltliche Sinnkonstitution ist strukturiert durch interpersonale Relationen zwischen den Menschen, durch kommunikative Interexistentiale. Und das jemeinige Sich-zu-sich-Verhalten hat auch diese Struktur der kommunikativen Selbstreflexivität. Auch und gerade die singuläre Totalität der einzelnen, einzigartigen, personalen, individuellen Existenz wird kommunikativ-interexistentiell konstituiert und kann nur so zu sich selbst kommen und zu sich selbst werden. Heideggers eigentümliche Metapher des Vorlaufens in den Tod ist demgegenüber ein reduktionistisches räumliches Bild für die Reflexion meiner Endlichkeit auf allen Ebenen der Lebenserfahrung und Lebensgestaltung, ein Bild zudem, das die verdrängte Leiblichkeit von „Sein und Zeit“ indirekt artikuliert. Dennoch gehören Endlichkeit, Sterblichkeit und Tod irreduzibel zur Sinngestalt des menschlichen Lebens. Nur ist die Verbindung von Endlichkeit und Sinn viel umfassender und intern viel reichhaltiger und komplex binnendifferenzierter, als dies in einer thanatologischen Reduktion erscheint. In einem weiteren systematischen Schritt will ich diese Verbindung daher noch schärfer herausarbeiten. Grenzen sind für uns sinnkonstitutiv: Grenzen der Welt, Grenzen des Lebens, Grenzen der Vernunft, Grenzen der Sprache. Wesentliche Formen der menschlichen Selbstverfehlung entspringen dem Verkennen der Grenzen des Lebens und der Praxis. Sie entspringen dem Verkennen des Unmöglichen. Demgegenüber können wir durch philosophische Sinngrenzanalyse Unmöglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Sinnkonstitution freilegen. Als Sinngrenzanalysen
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sind diese auch Sinngrundanalysen, wie zu zeigen ist. Sie weisen anders gesagt, Aspekte lebensweltlicher Transzendenz auf.31 Als erste sinnkonstitutive Grenze der menschlichen Welt lässt sich die Unmöglichkeit der restlosen Objektivierbarkeit und Erklärbarkeit unserer selbst und unseres Handelns und Sprechens aufweisen. Dass wir handeln, sprechen und denken können, das können wir noch nicht einmal erklären oder begründen, weder naturalistisch noch idealistisch. Denn alles Erklären und Begründen setzt bereits voraus, dass wir sinnvoll handeln können. Es lässt sich kein vorhandener, vergegenständlichbarer „Grund“ unseres Handelns feststellen. Hinter unser Handeln können wir weder pragmatisch noch reflexiv zurückgehen in einen ontologisch separaten Bereich. Diese Unmöglichkeit weist auf das hin, was Kant als Spontaneität bezeichnet. Die Uneinholbarkeit unserer selbst ist in Wahrheit befreiend: Wir stehen unter dem Schutz der Negativität, den aus prinzipiellen Gründen kein Modell der Neurobiologie und kein Computermodell des Geistes durchbrechen kann. Die zweite Unmöglichkeitsbedingung ist die Unmöglichkeit, die einzigartige Ganzheit unseres Lebens zu erfassen und zu vergegenständlichen. Individuum est ineffabile. Unser Leben ist eine einzigartige Ganzheit. Hinter die Möglichkeit, in einzigartigen Lebenssituationen zu sprechen und zu handeln, können wir nicht zurückgehen. Dieser Aspekt der Endlichkeit erschließt eine innere Unendlichkeit (wie auch die des freien Handelns). Die einzigartige Ganzheit jedes Augenblicks der Gegenwart ist unfassbar, unvorstellbar. Jeder unsagbare Augenblick gehört zum Sinn unseres Menschseins und erschließt ihn. Die Endlichkeit und die Grenze unseres Erkennens von Personalität und Individualität, die Unmöglichkeit, sie positiv letztlich zu objektivieren, erschließt die Dimensionen der Freiheit und der Würde. Die dritte Unmöglichkeit ist die bereits angesichts der Kritik der thanatologischen Engführung von mir akzentuierte sinnkonstitutive Entzogenheit der Mitmenschen, die interexistentielle Unverfügbarkeit. Der Schutz der Negativität ermöglicht hier wechselseitige normale und authentische Verhältnisse. Wenn wir uns etwas versprechen, so wird dies dadurch ermöglicht, dass keine instrumentelle Beherrschbarkeit des Verhältnisses besteht. Ohne sich auf Andere verlassen zu können, ohne ein Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt auf Dauer keine gemeinsame Praxis zustande. Die Tradition unterschied die securitas im Sinn technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für inter-
31 Vgl. dazu Rentsch, Thomas: „Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution. Aspekte einer negativen Existentialpragmatik“, in: Ders. (Hg.), Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin 2011; M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 217-232.
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personale Verhältnisse zentralen certitudo, der gewissmachenden Gewissheit. Sie ist konstitutiv für Glaube, Liebe und Hoffnung, das heißt für Formen des praktischen Transzendierens. Es zeigt sich: Was wir nicht können, ermöglicht gerade lebensweltlichen Sinn. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk „Vita activa“ darauf hingewiesen, dass unsere ganze moralische Welt auf Verzeihen und Vergeben beruhe und dass diese Einsicht einzig in den Lehren Jesu eine zentrale Stellung einnehme, in der Philosophie hingegen kaum bewusst sei. Analysieren wir die zeitliche Endlichkeit des Lebens genauer, so können wir die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, die Unumkehrbarkeit der sterblichen Lebensbewegung, die Unvermeidlichkeit der zukünftigen Situationen, die Endgültigkeit und Irreversibilität allen Geschehens, die Unvordenklichkeit der Anfänge sinnhaften und bewussten Lebens und die Unvorhersehbarkeit seines Endens aufweisen. Alle diese Aspekte prägen ständig unsere Lebenspraxis. Das heißt: In der lebensweltlichen Praxis sind Endlichkeit und Sinn unlöslich verbunden.
3.
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Beziehen wir diese bisherigen Analysen auf den Prozess des Alterns und die Thematik der Selbstbeschränkung, so lässt sich feststellen: Unser Leben ist ein Verendlichungsprozess, den wir nur in der Perspektive der einmaligen, endlichen Sinnkonstitution angemessen begreifen können. Das Altern ist das Werden des Menschen zu sich selbst in endlichen, einmaligen Lebenssituationen.32 Wiederum wird sichtbar: Die Lebenszeiten haben durch ihre Endlichkeit und Begrenztheit ihren spezifischen Sinn. Sie bilden ein intern hochkomplexes Gefüge, indem sie einerseits ganz spezifische Modi der Einmaligkeit entwickeln: in der Mutter, als Baby, als Kleinkind, in Kindheit und Jugend, in der Zeit des Erwachsenwerdens, in den vielen Formen der Gestaltwerdung und des Älter- und Altwerdens. Andererseits durchdringen sich die Lebenszeiten, sind ohne einander nicht begreifbar. Denn: Ich bin immer noch auch das leibliche Wesen, das im Mutterleib war, das Baby, das geboren wurde, und ich bleibe es bis zum Lebensende. Es ist daher irreführend und verfehlt, Lebenszeiten abgespalten und schematisch zu fixieren: „Das“ Alter wird dann im schlimmsten Fall zum Horrorszena-
32 Vgl. dazu Rentsch, Thomas: „Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit“, in: Ders./Morris Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart 2012, S. 189-206.
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rio mit allen geradezu ideologischen Assoziationen der Beeinträchtigung. Es ist aus ideologiekritischer Sicht auffällig, dass wir diese negativ-ideologischen Assoziationen mit den Babies nicht verbinden. Es ist ganz natürlich, dass diese auf vielfältige Weise hilfsbedürftig sind. Bei hochaltrigen Menschen wird diese Hilfsbedürftigkeit vielfach als lästig empfunden. Die Asymmetrie der intuitiven Bewertung von Lebenszeiten ist nicht begründet und aus ethischer Sicht zu kritisieren. Denn: Die Gesten der Hilfe und Anteilnahme, die dem Kleinkind zugutekommen, sie sind ebenso wichtig und wertvoll für den hochaltrigen Mitmenschen. Durch die allumfassende, konsumorientierte Fitness-Wellness-„Kultur“ ist die Tendenz zum Verdrängen und zur Geringschätzung des Alters (und somit der alle Lebenszeiten prägenden Endlichkeit) außergewöhnlich stark, ja in vielen Bereichen dominierend geworden. Mythisch-suggestive Schlagworte wie die „Alterslawine“, die „Rentnerschwemme“ oder das „Methusalem-Komplott“ finden weite Verbreitung. Insbesondere in den USA entwickelte sich eine AntiAging-Ideologie, in der sich Altersfeindschaft, Träume von ewiger Jugend, pharmakologische und ökonomische Interessen verbinden. Wer erfindet das Mittel, um das Leben um 100, 200 oder gar 300 Jahre zu verlängern, und natürlich, dabei fit zu bleiben? Oder gar, dies ist kein Scherz, das Forschungsprojekt wird direkt mit dem Ziel überschrieben: „Abschaffung des Todes“. Ich kann die Kritik an der Anti-Aging-Bewegung hier nicht vertiefen. Selbstverständlich ist es völlig vernünftig und nachvollziehbar, länger gesund leben zu wollen, und auf diesem Weg sind wir ja in den westlichen Industrienationen schon recht weit gekommen. Aber mit einer Verteufelung des Alters, der Endlichkeit oder gar des Todes haben diese sinnvollen Entwicklungen nichts zu tun. Demgegenüber gilt es, und dies ist die ethisch-philosophische Kernthese meiner Überlegungen, die Verbindung von Endlichkeit und Sinn, von Lebensgrenzen und Lebenssinn in Erziehung und Bildung, in Politik und Medien viel deutlicher bewusst zu machen, als dies bisher geschieht. Ein Projekt, das ich seit langem in der philosophischen EthiklehrerInnenausbildung und auch mit dem Band „Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen“33 verfolge, ist das Projekt einer Aufklärung über das ganze Leben in der Schule. Während „Aufklärung“ in diesem Kontext bezeichnenderweise fast synonym mit dem Begriff „Sexualaufklärung“ verwendet wird, geht es aus ethischer Sicht darum, über das ganze Leben aufzuklären, unter Einschluss von Krankheit, Behinderung, Verletzlichkeit, Endlichkeit, Sterblichkeit und Tod.
33 Vgl. Rentsch, Thomas/Morris Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart 2012.
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Die spätmoderne Gesellschaft des Westens steht vor der großen Aufgabe, Altern, Hochaltrigkeit und Sterblichkeit wiederum in das Leben, das gemeinsame Leben, zurückzuholen. Das gilt für die Wertschätzung der Pflegeberufe, für den Umgang mit Demenz und Alzheimer-Erkrankungen, ja es gilt auch für die Sterbebegleitung, die Palliativmedizin und für die Zeit und das Geld, die für solche menschlich zentralen Leistungen aufgeboten werden können. Wiederum können wir auf die Asymmetrie im Umgang mit sehr kleinen, jungen Menschen im Vergleich mit dem Umgang mit sehr alten, hinfälligen Menschen hinweisen. Während es als selbstverständlich gilt, dem Baby in allen Bedürfnissen und Notsituationen beizustehen, ist im Bereich der Hochaltrigkeit recht schnell die Erwägung im Raum, ob sich etwas noch lohnt, insbesondere, was die Kosten anbetrifft. Wir geraten hier unversehens in die Gefahr, die Menschenwürde zu relativieren, zu quantifizieren, und damit in die Gefahr, sie anzutasten, das heißt zu verletzen. Die vielen Berichte aus den Pflegeheimen, in denen von der knappen Zeit für die Hilfe beziehungsweise von der ständigen Überforderung der Pflegekräfte bei gleichzeitig schlechtem Lohn zu erfahren ist, zeugen ebenfalls von einer bedenklichen Fehlentwicklung. Demgegenüber gilt es, ein neues Bewusstsein der konstitutiven Verbindung von Endlichkeit, Begrenztheit und Sinn wachzurufen. Es gilt, Formen des vernünftigen Umgangs mit Endlichkeit und den Grenzen des Handelns und des Lebens zu vergegenwärtigen und überhaupt erst wieder bekannt zu machen. Wie ist es möglich, in einer Gesellschaft, die ganz auf Steigerung, Beschleunigung, Wachstum ausgerichtet zu sein scheint, ein Bewusstsein des Maßes, der Mitte, der sinnvollen Eingrenzung und Einschränkung zu schaffen und dieses Bewusstsein auch zu stabilisieren und zu kultivieren? In den großen Philosophien und Bildungstraditionen haben wir Ansätze, die es neu zu beleben gilt. Neben der Lehre des Aristoteles vom Maß und der Mitte als der Höhe nenne ich hier den Grundbegriff Goethes für die spätere Lebenszeit: Es ist der Begriff der Entsagung. Entsagung besagt nicht jammervollen Verzicht, klagenden Rückzug, ein Aufgeben im schlimmen Sinne. Mit Entsagung ist vielmehr die höchste Form von Selbstbestimmung, von Souveränität gemeint, eine autonome Selbstwerdung im Alternsprozess. Entsagung meint die Konzentration auf das Wesentliche, das Freiwerden vom Unnötigen, das Abgleiten des Überflüssigen – kurz: das authentische Werden zu sich selbst. Auch der lateinische Begriff, der hinter dem Begriff Entsagung steht, resignatio, führt in der gegenwärtigen Wahrnehmung die angesprochenen Missverständnisse mit sich. Resignation – wie klingt das heute? Ich habe resigniert – ich habe aufgegeben. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Das Wort hört sich heute geradezu nihilistisch, ja suizidal an. Doch die traditionelle Bedeutung meint gerade eine vertiefte Lebenssinndimension, die als
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höchste Form authentischen Lebens zu verstehen ist. Resignare bedeutet eigentlich „entriegeln“ und „öffnen“, „eröffnen“; es bedeutet ein Sich-Öffnen zur Freiheit des Herzens, zu einer wahrhaftigen Form der Freiheit, die in der mystischen Tradition auch als Gelassenheit bezeichnet wird. Und Gelassenheit inmitten der Endlichkeit, das bedeutet auch Loslassenkönnen, Seinlassen, freien Verzicht. An den Aufweisen der Begriffsgeschichte zu Entsagung und Resignation wird noch einmal drastisch deutlich, welche Sinndimensionen der Begrenztheit und Selbstbeschränkung uns in der Moderne und Spätmoderne verloren gegangen sind. Die Wiedergewinnung dieser Sinndimension muss in Aufklärung, Erziehung und Bildung existentiell-ethisch ausgerichtet sein. Sie hat aber, das sage ich als Philosoph, darüber hinaus eine viel weiter reichende Bedeutung. Die Grenzen unseres Menschseins werden uns ökonomisch, ökologisch wie auch interkulturell im Prozess der Globalisierung mittlerweile ständig dramatisch vor Augen geführt. Die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Wir benötigen ein Bewusstsein des humanen Sinns der Endlichkeit, Begrenztheit und Verletzlichkeit des Menschen, ein Bewusstsein vom Wert der Langsamkeit, des Innehaltens, des ruhigen Zurückblickens, der Mündlichkeit – des wirklichen Gesprächs zwischen konkreten Personen, schließlich der Zurückhaltung und Zurücknahme. Langsamkeit, Innehalten und konkrete Mündlichkeit sind nämlich paradoxerweise die wesentlichen Möglichkeiten, den Verendlichungsprozess durch die Gewinnung von Tiefe zu besiegen. Das ruhige Zurückblicken – und nur es – vermag zur befreienden Lebensklärung zu verhelfen. An diese humanen Sinnqualitäten bleiben alle sonstigen gesellschaftlichen Steigerungs- und Beschleunigungsprozesse bleibend gebunden. Humane Würde im gelassenen Umgang mit der eigenen Endlichkeit nicht nur bewahren, sondern erst eigentlich gewinnen – das ist es, was eine sehr moderne Gesellschaft vom Altern als dem einzigen menschlichen Selbstwerdungsprozess lernen kann, den wir kennen. Mein Lehrer Hans Blumenberg verdeutlichte das, was ich meine, plastisch in einer Analyse zum ersten Mondflug. Der Aufbruch ins Weltall endete mit kleinen Fußabdrücken, vor allem aber in seiner völligen Inversion; der Blick richtete sich nicht zu den Galaxien im Unendlichen, sondern als Rückblick auf eine kleine blaue Kugel – auf unseren Heimatplaneten in seiner ganzen Endlichkeit – ein unvergesslicher Augenblick und das Sichtbarwerden der Untrennbarkeit von Endlichkeit und Lebenssinn.
Endlichkeit des Erkennens und Endlichkeit des Lebens in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur M ARKUS S AUR
1.
E INFÜHRUNG
Im Buch des Propheten Amos, der im 8. Jahrhundert vor Christus aufgetreten sein soll und unter dessen Namen jahrhundertelang Worte tradiert und fortgeschrieben wurden,1 findet sich eine bemerkenswerte Aussage, mit der Jhwh,2 der Gott Israels, seinem Volk das Ende ansagt: Er sprach: Was siehst du, Amos? Ich antwortete: Einen Korb mit reifem Obst. Da sagte Jhwh zu mir: Gekommen ist das Ende zu meinem Volk Israel. Ich kann nicht mehr an ihm vorübergehen. (Amos 8,2)
Mit diesem Wort wird innerhalb des Prophetenbuches auf bemerkenswerte Weise eine Grenze gezogen, die über die rein zeitliche Dimension hinausgeht und das Ende nicht nur als quantitatives Ende eines bestimmen Zeitablaufs versteht, sondern das Ende vor allem in qualitativer Perspektive als den Schlusspunkt einer Geschichte Jhwhs mit seinem Volk begreift. Das Ende wird hier als eine existentielle Randbestimmung greifbar: Das Ende kommt, wenn die Zeit dafür 1
Vgl. dazu Jeremias, Jörg: Der Prophet Amos (= Das Alte Testament Deutsch,
2
Mit der Konsonantenfolge „Jhwh“ wird hier und im Folgenden der hebräische Gottes-
Band 24,2), Göttingen 1995, S. XV-XXII. name wiedergegeben.
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reif ist. Aus der Konkretion und Anschaulichkeit des reifen Obstkorbs wird zwar kein abstrakter Begriff vom Ende entwickelt, dennoch aber ein konzeptioneller Anstoß gegeben, der Anlass zu weiteren Denkprozessen gegeben haben dürfte. Über Endlichkeit wird im antiken Israel und Juda im ersten Jahrtausend vor Christus demnach nachgedacht – und das nicht nur in den Gerichtsworten der Prophetenbücher, sondern auch in einer Reihe von weisheitlichen Texten, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich nicht vorrangig mit der Geschichte Jhwhs mit seinem Volk, sondern mit den Herausforderungen des Alltags befassen und sich dabei – ausgehend von einzelnen Sentenzen und Sprichworten – zu grundlegenden Reflexionen über den Menschen und seine Stellung in der Welt aufschwingen. Solche weisheitlichen Reflexionen finden sich nicht nur im Alten Testament bzw. der Hebräischen Bibel, sondern in sämtlichen Literaturen des Vorderen Orients. Die Hebräische Bibel erweist sich als eine Bibliothek aus dem Vorderen Orient des 1. Jahrtausends vor Christus. Diese Bibliothek zeichnet sich nicht durch ihre systematische Geschlossenheit, sondern durch ein hohes Maß an Vielfalt aus: Das Alte Testament konfrontiert seine Leserinnen und Leser nicht mit einem einheitlichen Denksystem, sondern bietet eine bemerkenswert große positionelle Offenheit. Diese offene Vielfalt ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Entstehungsprozesses, der nicht durch das Prinzip der Exklusion, sondern durch Integration und Inklusion geprägt ist: Die einzelnen Teile der Hebräischen Bibel lassen erkennen, dass hinter den Texten Diskussionen und Auseinandersetzungen liegen, die sich in der vorliegenden Form literarisch verdichtet haben. Hinter den Texten steht nicht ein einzelner Autor mit einer einzelnen Position, die Texte sind vielmehr das Ergebnis eines Prozesses, in dessen Verlauf immer wieder an ihnen gearbeitet wurde: Literarische Ergänzungen, Erweiterungen, Fortschreibungen und Aktualisierungen sind der Normalfall, die Texte der Hebräischen Bibel lassen sich weitgehend als Traditionsliteratur bestimmen. Wer sich also mit der Hebräischen Bibel befasst, wird Zeuge eines Diskussionszusammenhangs. Die Rekonstruktion der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel vollzieht sich demnach in der Dechiffrierung eines Diskurses, der um unterschiedliche Themen kreist und verschiedene Positionen auslotet. Die Tiefenstrukturen dieses Denkens liegen in der Sprachwelt der Hebräischen Bibel begründet. Semitische Sprachen zeichnen sich durch eine starke Orientierung am Verbum aus, was ein hohes Maß an Dynamik in die sprachliche Erfassung der Wirklichkeit einträgt. Das Althebräische ist zudem durch einen vergleichsweise kleinen Wortschatz sprachlich beschränkt: Die Vielfalt der Wirklichkeit muss mit wenigen Begriffen beschrieben werden. Diese Beschränkung ist aber zugleich eine Stärke, da das notwendigerweise geringere Maß an Präzision, das sich durch die Polysemie der Begriffe ergibt, ein größeres Maß an
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Unschärfe und Offenheit in die hebräischen Texte einträgt. Diese Unschärfe und Offenheit bedarf der Auslegung und Deutung – und wo ausgelegt und gedeutet wird, beginnt ein Diskurs um die in Frage stehenden Themen und Themenfelder. Unscharf und offen ist in der Konsequenz dieser sprachlichen Tiefenstrukturen auch eine der gebräuchlichsten Stilfiguren der hebräischen Literatur, der sogenannte parallelismus membrorum, mit dessen Hilfe ein Sachverhalt nicht exakt auf den Punkt gebracht, sondern von zwei oder mehreren Seiten her eingegrenzt wird. Im Sprüchebuch finden sich zahlreiche Einzelworte, die in Form des parallelismus membrorum überliefert werden: Wer eine Grube gräbt, fällt in sie hinein, und wer einen Stein wälzt, auf den rollt er zurück. (Sprüche 26,27)
In diesem Spruch werden zwei Beobachtungen aneinandergereiht und damit ein hinter diesen Beobachtungen liegender Grundgedanke aus zwei konkreten Perspektiven in den Blick genommen: Das Handeln des Menschen fällt auf ihn zurück.3 Diesen mehr oder weniger abstrakten Grundgedanken muss der Leser allerdings selber aus den angeführten Beobachtungen ableiten – und er wird damit in die Sinnkonstitution eingebunden. Diese Form einer mindestens zweidimensionalen Erfassung der Wirklichkeit ist nicht nur auf der Ebene einzelner Verse prägend, sondern bestimmt auch das Arrangement ganzer Textblöcke, die nach dem Prinzip der Zweiseitigkeit komponiert zu sein scheinen und auf diese Weise den Leser zur eigenständigen Auseinandersetzung mit den jeweils verhandelten Themen herausfordern. Das lässt sich beispielsweise am Anfang der Hebräischen Bibel beobachten, wo nicht in einem, sondern in zwei unterschiedlichen Berichten von der uranfänglichen Schöpfung erzählt wird. Schöpfung ist – diesem Nebeneinander zufolge – weder durch die eine noch durch die andere Darstellung abschließend erfasst, sondern höchstens narrativ eingegrenzt.4 Dass eine solche Haltung, die da-
3
Zu Sprüche 26,27 vgl. Sæbø, Magne: Sprüche (= Das Alte Testament Deutsch, Band 16,1), Göttingen 2012, S. 328, demzufolge dieses Wort „als ein klassischer Ausdruck des für die Weisen grundlegenden Lehrpunkts vom Tun-Ergehen-Zusammenhang angesehen werden darf“ – auf diesen Zusammenhang wird unter 2. noch weiter eingegangen.
4
Vgl. dazu Knauf, Ernst Axel: „Audiatur et altera pars. Zur Logik der PentateuchRedaktion“, in: Bibel und Kirche 53 (1998), S. 118-126; Saur, Markus: „Dialog als Prinzip. Alttestamentliche Texte und ihre Deutungsoffenheit in der neueren exegeti-
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rum weiß, dass man die Dinge noch einmal je anders sagen oder beschreiben könnte, ihrem Wesen nach nicht fundamentalistisch sein kann, weil sie um die Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit der Fundamente weiß, gehört zu den großen Stärken der alttestamentlichen Textwelt und steht dem obsessiven Streben nach Eindeutigkeit und Präzision, das sich der Illusion hingibt, die Dinge seien präzise und eindeutig erfassbar, strikt entgegen. Wer sich mit der Hebräischen Bibel befasst, muss sich also über diese beiden grob skizzierten Besonderheiten Rechenschaft ablegen: Man hat es hier erstens nicht mit Autoren-, sondern mit Traditionsliteratur zu tun. Und das Denken, das hinter dieser Traditionsliteratur steht, ist zweitens stereometrisch5 verfasst und sucht nicht nach Eindeutigkeit. Wie wird nun innerhalb der Hebräischen Bibel und hier insbesondere im Bereich der Weisheitsliteratur von Endlichkeit und Tod gesprochen? Welche Positionen und welche Diskussionszusammenhänge lassen sich erkennen? Gibt es so etwas wie einen Diskurs um Endlichkeit und Tod innerhalb der Trägergruppen des Weisheitsdenkens? Im Folgenden sollen zwei Dimensionen dieses Themenfelds etwas genauer in den Blick genommen werden: zum einen die Frage nach der Endlichkeit menschlichen Erkennens und zum anderen das Problem des menschlichen Todes. Inwieweit diese beiden Dimensionen zusammenhängen, ob und wie also die Endlichkeit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten und die Endlichkeit des menschlichen Lebens in einem Zusammenhang stehen, wird abschließend zu fragen sein.
2.
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Die älteste Gattung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur stellt das Weisheitswort oder der Spruch dar, der gewissermaßen eine auf die kürzeste Form gebrachte, verdichtete Form der Erfahrung spiegelt.6 Beispiele für diese Formen
schen Diskussion“, in: Pohl-Patalong, Uta/Saur, Markus (Hg.), Bibel und Hermeneutik (= Praktische Theologie, Band 49), Göttingen 2014, S. 136-142, hier S. 137-138. 5
Zum Begriff der Stereometrie vgl. Janowski, Bernd: Konfliktgespräche mit Gott. Eine
6
Vgl. dazu von Rad, Gerhard: Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970, S. 40-53;
Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, S. 13-21. Krüger, Thomas: „Erkenntnisbindung im Weisheitsspruch. Überlegungen im Anschluss an Gerhard von Rad“, in: Clines, David J.A./Lichtenberger, Hermann/Müller,
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von „Alltagsweisheit“ finden sich vor allem im Sprüchebuch in den Kapiteln 1029. So ist etwa in Sprüche 10 zu lesen: Arm ist, wer mit träger Hand arbeitet, die Hand der Fleißigen aber macht reich. (Sprüche 10,4) Hass weckt Streit, alle Vergehen deckt Liebe zu. (Sprüche 10,12)
Solche Sprichwörter und Sentenzen sind aus vielen Kulturen bekannt – wie auch die in diesen Einzelworten gesammelten Erfahrungen sich über Kulturräume hinweg gleichen. Die tragende Denkfigur der Spruchweisheit ist die Annahme eines Zusammenhangs zwischen dem Tun des Einzelnen und seinem Ergehen. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Mensch mit seinem Handeln eine Sphäre des Guten oder Bösen schafft, die auf ihn zurückwirkt, sodass sich Tun und Ergehen über kurz oder lang entsprechen:7 Der Fleißige lebt in Wohlstand, der Hassende lebt im Streit. Wo dieser Zusammenhang als geltend angenommen wird, ergibt sich eine gewisse Durchschaubarkeit und Berechenbarkeit der Welt, da das Tun ja vorhersehbare Folgen nach sich ziehen wird. Die Spruchweisheit steht damit in einer älteren Weisheitstradition, der sogenannten mesopotamischen Listenwissenschaft, die die bekannten Erscheinungsformen der Wirklichkeit in Wortreihen zu bringen und so intellektuell beherrschbar zu machen versuchte.8 Es geht dieser Weisheit ihrem Wesen nach um die Durchdringung der Welt mit den Mitteln der Erfahrung. Dass Erfahrung und Erkenntnis zwei Seiten derselben Medaille darstellen, zeigt sich an der hebräischen Begrifflichkeit: Das
Hans-Peter (Hg.), Weisheit in Israel (= Altes Testament und Moderne, Band 12), Münster u.a. 2003, S. 53-66. 7
Vgl. dazu Koch, Klaus: „Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 52 (1955), S. 1-42, und Janowski, Bernd: „Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des ‚Tun-ErgehenZusammenhangs‘“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 91 (1994), S. 247-271, sowie Freuling, Georg: „Wer eine Grube gräbt ...“. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (= Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, Band 102), Neukirchen-Vluyn 2004.
8
Vgl. dazu Soden, Wolfram von: Einführung in die Altorientalistik, Darmstadt 21992, S. 138-145.
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semantische Feld des hebräischen Verbums jd`, das häufig mit „wissen“ oder „erkennen“ übersetzt wird, umfasst eine taktil-haptische Dimension, die sich im Deutschen adäquat mit „begreifen“ wiedergeben lässt. Dass ein Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen, der die Welt bis zu einem gewissen Punkt zu ordnen hilft, aus der täglichen Erfahrung abgeleitet werden kann, ist allerdings nur das eine Ergebnis weisheitlichen Denkens. Das andere Ergebnis folgt in gleicher Weise aus der Erfahrung und stellt das erste Ergebnis grundsätzlich in Frage: Dem einerseits beobachtbaren Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen des Einzelnen steht andererseits die Beobachtung entgegen, dass dieser Zusammenhang keine durchgehende Geltung hat, dass es vielmehr Fälle gibt, in denen Tun und Ergehen eines Menschen in einem eklatanten Widerspruch zueinander stehen. Hier brechen Abgründe auf, die deutlich machen, dass es möglicherweise zu optimistisch ist, von einer grundsätzlichen Durchschaubarkeit der Wirklichkeit auszugehen, dass also die Welt nur in Teilen verstanden werden kann und Erkenntnis daher prinzipiell fragmentarisch bleibt. In diesem Themenfeld bewegt sich offensichtlich ein Diskussionszusammenhang im antiken Israel und Juda, der seine Spuren unter anderem im Sprüchebuch, im Hiobbuch und im Buch Kohelet hinterlassen hat. Die Trägergruppen des Sprüchebuches sind weitgehend davon überzeugt, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang die Wirklichkeit erschließt. Zahllose Einzelsprüche spiegeln die Grundüberzeugung, dass das Tun des Einzelnen und sein Ergehen in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Offene Probleme im Umfeld dieses Zusammenhangs werden im Sprüchebuch durch eine stereotype Affirmation des umfassenden Potentials der Weisheit überblendet. Diese massive Affirmation wird in den einleitenden Kapiteln des Buches in Sprüche 19 greifbar, die den folgenden Sammlungen von Einzelsprüchen in Sprüche 10ff. nachträglich vorangestellt wurden, um die Einzelsprüche und ihre denkerischen Grundlagen gegen Angriffe von außen abzusichern. In diesen einleitenden Texten ergreift eine personifizierte Weisheit selber das Wort und tritt als Werbeträgerin in eigener Sache auf:9
9
Vgl. zu diesen Texten Saur, Markus: „Die literarische Funktion und die theologische Intention der Weisheitsreden des Sprüchebuches“, in: Vetus Testamentum 61 (2011), S. 447-460. Zur Vorstellung einer personifizierten Weisheit vgl. Leuenberger, Martin: Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im alten Israel (= Forschungen zum Alten Testament, Band 76), Tübingen 2011, S. 279-312.
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Ruft nicht die Weisheit, und erhebt nicht die Einsicht ihre Stimme? Oben auf den Höhen, am Weg, wo die Straßen sich kreuzen, steht sie. Bei den Pforten, am Zugang zur Stadt, am Eingang der Tore ruft sie: Euch, Männer, rufe ich, und an die Menschen richtet sich meine Rede. Werdet klug, ihr Einfältigen, und ihr Dummen, werdet verständig! Hört zu, denn Richtiges will ich reden und meine Lippen öffnen für das, was recht ist. Meine Zunge spricht Wahrheit, und Frevel verabscheuen meinen Lippen. Gerecht sind alle Worte meines Mundes, nichts Hinterlistiges und Falsches ist in ihnen. Recht sind sie alle für den Verständigen und richtig für die, die Wissen erlangen wollen. Statt Silber nehmt meine Unterweisung an, und Wissen lieber als reines Gold. Denn Weisheit ist besser als Perlen, und keine Kostbarkeit kommt ihr gleich. Ich, die Weisheit, wohne bei der Klugheit und finde umsichtiges Wissen.
(Sprüche 8,1-12)
Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen hat sie aufgerichtet. Sie hat ihr Vieh geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt. Ihre jungen Frauen hat sie ausgesandt, sie ruft oben auf den Höhen der Stadt: Wer einfältig ist, kehre hier ein! Zu dem, dem es an Verstand fehlt, spricht sie: Kommt, esst von meiner Speise und trinkt vom Wein, den ich gemischt habe. Lasst ab von der Einfalt, so werdet ihr leben, und geht auf dem Weg des Verstandes.
(Sprüche 9,1-6)10
10 Die Übersetzungen folgen der Zürcher Bibel (2007).
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Mit großem Optimismus gehen die Verfasser dieser Texte davon aus, dass man es mit der Weisheit weit bringen wird. Der Gedanke an die Begrenzung oder Endlichkeit der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten scheint diesen Weisheitskreisen mehr oder weniger fremd zu sein, Erkenntnis und Weisheit sind erreichbar, man muss sich ihnen nur zuwenden und nach ihnen suchen. Dass diese Suche auch ins Leere laufen kann, wird innerhalb des Sprüchebuches nur in einem kurzen Abschnitt am Ende des Buches gestreift. Hier heißt es in Sprüche 30,2-4: Fürwahr, dümmer bin ich als irgendjemand, und menschliche Einsicht habe ich keine. Und Weisheit habe ich nicht erlernt, dass ich Kenntnis von heiligen [Dingen] hätte. Wer ist hinaufgestiegen in den Himmel und herabgekomen? Wer hat Wind in seinen Handflächen gesammelt? Wer hat Wasser im Mantel eingewickelt? Wer hat alle Enden der Erde aufgerichtet? Wie ist sein Name? Und wie der Name seines Sohnes – wenn du es weißt?
Der Text ist auf der philologischen Ebene nur schwer zu erschließen und bietet zahlreiche Unsicherheiten. Die inhaltliche Position ist in ihren Grundzügen aber rekonstruierbar:11 Der Sprecher beklagt seine fehlende Einsicht, Weisheit und Erkenntnis. Kein Mensch verfügt über Himmel und Erde, Wind und Wasser – und keiner hat daher Einsicht in die die Wirklichkeit bestimmenden Mechanismen. Dass die Trägergruppen des Sprüchebuches, das ansonsten durch ein hohes Maß an Erkenntnisoptimismus gekennzeichnet ist, eine derart fragende Stimme in ihrer Weisheitssammlung dokumentiert haben, ist bemerkenswert. Man könnte im Blick auf das Sprüchebuch von einem buchinternen Diskurs sprechen, innerhalb dessen sich zumindest am Rand zweifelnde Anfragen an das weisheitliche Grundkonzept des Buches abzeichnen: Die Annahme der Erkennbarkeit der Welt wird buchintern problematisiert. Während sich solche Fragen innerhalb des Sprüchebuches auf nur wenige Verse beschränken, werden die kritischen Problematisierungen innerhalb des Hiobbuches auf der einen und des Koheletbuches auf der anderen Seite in ganzer Breite ausgeführt. Man kann beide Bücher als Zeugnisse einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang lesen, dessen sichtbare
11 Vgl. Saur, Markus: „Prophetie, Weisheit und Gebet. Überlegungen zu den Worten Agurs in Prov 30,1-9“, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 126 (2014), S. 570-583.
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Brüchigkeit zu der grundlegenden Frage nach den Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeiten führt. Das Hiobbuch zeigt am Beispiel des unschuldig leidenden Gerechten, wie wenig erschließend der angenommene Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen eigentlich ist: Das Tun des gerechten Hiob und sein übles Ergehen stehen in einem eklatanten Widerspruch – eine Berechenbarkeit der Welt oder eine Erkenntnis der Binnenmechanismen der Wirklichkeit ist offenkundig nicht möglich. In langen Gesprächen mit seinen Freunden führt Hiob dieses Problem aus, wobei die Freunde als gewissermaßen „orthodoxe“ Vertreter der reinen Lehre vom Tun-Ergehen-Zusammenhang ausgehen und Hiob auf der Linie dieses Denkens unterstellen, dass sein dem Leid vorausgehendes Verhalten nicht so untadelig gewesen sein kann, wie er es zu sein vorgibt. Hiob erscheint dagegen als der an Gott, Welt und Mensch zerbrechende Einzelne, dem sich die Unberechenbarkeit der Wirklichkeit in der Form eines Abgrunds auftut, den zu überbrücken ihm mit den konventionellen intellektuellen Mitteln nicht gelingt. Das Hiobbuch setzt sich aus unterschiedlichen literarischen Einheiten zusammen, die voneinander zu unterscheiden sind;12 es lässt sich deutlich erkennen, dass es im Verlauf seiner Überlieferung mehrfach überarbeitet und fortgeschrieben wurde – offensichtlich, um das Profil des Buches je neu zu akzentuieren und an die Herausforderungen der jeweiligen Zeit anzupassen. Einer der spätesten Texte innerhalb dieser Literargeschichte steht am Ende der Diskussion Hiobs mit seinen Freunden. In Hi 28 findet sich ein Hymnus auf die Weisheit, in dessen Zentrum die Einsicht in die Begrenzung und Endlichkeit menschlicher Erkenntnis steht. Bemerkenswert ist dabei die Kontextualisierung: Die Grenzen des Menschen und seiner Fähigkeiten werden vor dem Hintergrund seiner Errungenschaften aufgezeigt, denn der Bereich, an dessen Beispiel die menschlichen Fähigkeiten illustriert werden, ist das Bergbauwesen, mit dem man es bis an die Spitze des technischen Fortschritts gebracht hatte. So ist in Hiob 28 zu lesen: Es gibt eine Fundstätte für das Silber und einen Ort für das Gold, das man läutert. Aus der Erde wird Eisen gewonnen,
12 Zur literarischen Genese vgl. van Oorschot, Jürgen: „Die Entstehung des Hiobbuches“, in: Thomas Krüger et al. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen (= Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments, Band 88), Zürich 2007, S. 165-184; zur theologischen Struktur vgl. Schmid, Konrad: Hiob als biblisches und antikes Buch. Historische und intellektuelle Kontexte seiner Theologie (= Stuttgarter Bibelstudien, Band 219), Stuttgart 2010.
62 │ M ARKUS S AUR und aus dem Gestein wird Kupfer geschmolzen. Der Finsternis hat man ein Ende gesetzt, bis in den letzten Winkel erforscht man das dunkle und finstere Gestein. Fremde Leute haben einen Schacht gebrochen, niemand denkt an sie, ohne Halt für den Fuß hängen sie, schweben sie fern von den Menschen. Oben auf der Erde sprosst das Getreide, und unten wird sie zerwühlt wie von Feuer. Ihr Gestein ist der Ort des Lapislazuli, und Goldstaub findet sich darin. Kein Raubvogel kennt den Pfad, und das Auge des Habichts hat ihn nicht erspäht. Die stolzen Tiere haben ihn nicht betreten, der Löwe ist nicht auf ihm geschritten. An Kieselgestein hat man die Hand gelegt, von Grund auf die Berge umgewühlt. Durch die Felsen hat man Stollen geschlagen, und lauter Kostbares hat das Auge erblickt. Die Wasseradern hat man eingedämmt, und was verborgen ist, bringt man ans Licht. Die Weisheit aber, wo ist sie zu finden, und wo ist der Ort der Erkenntnis? Kein Mensch kennt ihren Wert, und im Land der Lebenden ist sie nicht zu finden. Die Urflut spricht: In mir ist sie nicht, und das Meer spricht: Bei mir ist sie nicht. Man kann sie nicht mit Feingold kaufen und ihren Preis nicht mit Silber aufwiegen. Mit Ofirgold kann man sie nicht bezahlen, nicht mit kostbarem Karneol oder Lapislazuli. Gold und Glas haben nicht ihren Wert, und gegen goldenes Gerät kann man sie nicht eintauschen, zu schweigen von Korallen und Kristall. Und wer Weisheit hat, besitzt mehr als Perlen. Der Chrysolith aus Kusch hat nicht ihren Wert, mit reinem Gold kann man sie nicht bezahlen.
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Und die Weisheit, woher kommt sie, und wo hat die Erkenntnis ihren Ort? Den Augen aller Lebenden ist sie verborgen, und vor den Vögeln des Himmels ist sie versteckt. Abgrund und Tod sprechen: Die Kunde von ihr kam uns zu Ohren. Gott weiß den Weg zu ihr, und er kennt ihren Ort. Denn er schaut bis zu den Enden der Erde, er sieht alles, was unter dem Himmel ist. Als er dem Wind sein Gewicht gab und das Maß des Wassers bestimmte, als er dem Regen eine Grenze schuf und Blitz und Donner einen Weg, da hat er sie gesehen und ermessen, er hat sie gefestigt und ergründet. Zum Menschen aber sprach er: Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und Böses meiden ist Erkenntnis. (Hiob 28)13
Der Mensch geht bis an die Enden der Erde und stellt dort fest, dass er das, wonach er sucht, in diesem Fall: die Weisheit, nicht finden kann.14 Dieser Hymnus auf die Unauffindbarkeit der Weisheit bleibt eine Antwort auf die Fragen des Hiobbuches schuldig, denn es wird keineswegs geklärt, worin nun das Fehlverhalten Hiobs besteht und was der Grund für sein Ergehen ist. Hiob 28 verweist vielmehr über die Problemkonstellation des Buches hinaus auf Gott, von dem gesagt wird, dass er den Weg zur Weisheit kenne; aus dieser Perspektive heraus ergibt sich der Ratschlag am Ende des Hymnus, in der Gottesfurcht die eigentliche Weisheit zu suchen. Die Begrenzung und Endlichkeit menschlicher Möglichkeiten wird hier theologisch gewendet und durch den Verweis auf Gott verarbeitet, dem unbegrenzte und unendliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
13 Die Übersetzung folgt der Zürcher Bibel (2007). 14 Zur Auslegung von Hiob 28 vgl. insbesondere van Oorschot, Jürgen: „Hiob 28: Die verborgene Weisheit und die Furcht Gottes als Überwindung einer generalisierten håkmâ“, in: Willem A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job (= Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, Band 114), Leuven 1994, S. 183-201.
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Bei genauerem Hinsehen kreist das gesamte Hiobbuch um die Grundfrage nach dem Wesen Gottes, der sich dem Menschen entzieht und damit zugleich die Welt für den Menschen unerkennbar macht. Gott ist damit die Grenze und das Ende der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. An diesem Punkt steht Kohelet an der Seite des Hiobbuches. Mit Kohelet tritt ebenfalls ein Weisheitslehrer auf, der sich an der überlieferten Weisheitstradition abarbeitet und deren Grundstrukturen in Frage stellt. In der Schlussnotiz der Herausgeber am Ende des Buches wird Kohelet gewissermaßen als „orthodoxer“ Weisheitslehrer profiliert; so heißt es in Kohelet 12,9: Es bleibt noch anzufügen, dass Kohelet ein Weiser war, mehr noch: Er lehrte das Volk Erkenntnis. Und er wog ab und prüfte, berichtigte Sprüche vielerart.
Kohelet wird hier vordergründig ganz eng mit den Trägergruppen der Weisheit des Sprüchebuches verbunden. Dahinter steckt aber vor allem eine Strategie der Herausgeber des Buches, die mit Hilfe dieser Schlussnotiz dafür sorgen, dass das Koheletbuch als Weisheitsschrift überliefert wird.15 Dass Kohelet den Erkenntnisoptimismus der Spruchweisheit in keiner Weise teilt, erschließt sich im Buchkorpus unmittelbar.16 So ist in Kohelet 3 zu lesen: Ich sah die Angelegenheit, die Gott den Menschen gegeben hat, um sich damit abzumühen. Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit. Auch die ferne Zeit hat er in ihr Herz gegeben, ohne dass der Mensch das Werk, das Gott getan hat, von Anfang bis Ende begreifen könnte. Ich erkannte, dass es nichts Gutes unter ihnen gibt, als sich zu freuen und Gutes zu tun in seinem Leben. Und auch jeder Mensch, der isst und trinkt und Gutes genießt bei aller seiner Mühe – eine Gabe Gottes ist dies. Ich erkannte, dass alles, was Gott macht, für immer sein wird. Ihm ist nichts hinzuzufügen, und von ihm ist nichts wegzunehmen. Und Gott hat es so gemacht, dass man sich vor ihm fürchte. Was einmal geschah, ist längst wieder geschehen, und was geschehen wird, ist längst schon geschehen. Gott aber sucht das Entschwundene. [...] Ich dachte über die Menschen: Gott hob sie heraus und sah, dass sie doch nur Tiere sind.
15 Zu den Problemen des Epilogs vgl. Krüger, Thomas: Kohelet (Prediger) (= Biblischer Kommentar Altes Testament, Band 19), Neukirchen-Vluyn 2000, S. 363-376. 16 Vgl. dazu grundlegend Schellenberg, Annette: Erkenntnis als Problem. Qohelet und die alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen (= Orbis Biblicus et Orientalis, Band 188), Fribourg/Göttingen 2002.
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Denn das Geschick der Menschen und das Geschick der Tiere – ein Geschick ist es für sie. Wie der Tod dieses so ist auch der Tod jenes. Und beide haben denselben Lebensodem. Und einen Vorzug des Menschen vor dem Tier gibt es nicht, denn flüchtig sind sie alle. Alle gehen an einen Ort, alle sind aus Staub entstanden und alle kehren zurück zum Staub. Wer weiß denn, ob der Lebensodem des Menschen nach oben hinaufsteigt, der Lebensgeist der Tiere dagegen hinab in die Erde geht? So sah ich, dass es nichts Besseres gibt, als dass der Mensch sich freut bei seinen Werken, denn das ist sein Teil. Denn wer würde ihn dazu bringen zu sehen, was nach ihm sein wird? (Kohelet 3,10-15.18-22)
Die Endlichkeit des Menschen wird hier nach zwei Seiten hin entfaltet: Zum einen sind die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen begrenzt – der Mensch kann die Welt nicht von Anfang bis Ende erfassen, auch wenn er eine Ahnung davon hat, dass es mehr zu erfassen gibt, als ihm möglich ist. Und zum anderen ist die Lebenszeit des Menschen begrenzt – wie das Tier ist auch der Mensch sterblich und keiner weiß, ob der Weg des Menschen nach seinem Tod nach oben und der des Tieres nach unten führen wird. Kohelet geht davon aus, dass beide an denselben Ort gehen werden. Die Einsichten in die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis und die Endlichkeit des menschlichen Lebens führen Kohelet nun allerdings nicht in einen grundlegenden Pessimismus oder eine fatalistische Einstellung dem Leben gegenüber, sondern bringen eine gewisse Gelassenheit hervor, mit der Kohelet schlichtweg empfiehlt, das Leben zu genießen. Die Erfahrung der Endlichkeit wird hier mit einer bestimmten Haltung bewältigt: Der Mensch gibt sich angesichts seiner Begrenzungen nicht der Klage über seine Endlichkeit hin, sondern lässt sich durch die ihm gesetzten Grenzen einen Lebensraum erschließen, innerhalb dessen das Leben gelingen kann.17
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Erkenntnis und Leben stehen für Kohelet aufgrund ihrer Begrenzung in einem Zusammenhang, wobei die Endlichkeit der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen eine Folge der Endlichkeit seines Lebens zu sein scheint: Weil der Mensch am Ende seines Lebens stirbt, kann er keine übergreifenden Einsichten in die Mechanismen der Wirklichkeit haben – dafür müsste er die Zeit insgesamt überschauen können. Sterblichkeit impliziert Beschränkung – auch über die engere
17 Vgl. zu dieser Auslegung Saur, Markus: Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Darmstadt 2012, S. 116-121.
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biologische Dimension hinaus. Kohelet reagiert damit auf eine weisheitliche Position, die die Dinge genau umgekehrt zu sehen scheint: Würde man nur einsichtig genug sein und würde man nur genug Weisheit anhäufen, hätte der Tod keine Bedeutung – Weisheit garantiert das Leben, wie zahlreiche Texte innerhalb des Sprüchebuches ausführen. Bereits im Prolog des Sprüchebuches sagt die personifizierte Weisheit von sich selber: Aber wer mich verfehlt, zerstört sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod. (Sprüche 8,36)
Der Tod wird hier als das Ende des Lebens in einem sehr weiten Sinn verstanden: Von Tod kann bereits da im Leben eines Menschen die Rede sein, wo der Mensch sein Leben unkontrolliert und ohne Einsicht ablaufen lässt – hier greift der Tod in das Leben hinein und nimmt ihm seine eigentliche Qualität.18 Was die personifizierte Weisheit in Sprüche 8 auf einer recht formalen Ebene bewirbt, wird in einer Reihe von Einzelsprüchen in den folgenden Spruchsammlungen material konkretisiert: Unrecht erworbene Schätze nützen nichts, Gerechtigkeit aber rettet vor dem Tod. (Sprüche 10,2) Die Lippen eines Gerechten leiten viele, aber die Toren sterben an ihrer Unvernunft. (Sprüche 10,21)
18 Vgl. zu diesem Todesverständnis die klassische Studie von Barth, Christoph: Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des Alten Testamentes. Mit zwei Anhängen, einer Bibliographie und Registern neu herausgegeben von Bernd Janowski, Zürich 21987, hier insbesondere S. 89: „Das Totenreich beschränkt sich nicht, wie irgend ein Weltteil, auf einen besonderen, ihm zugewiesenen Raum. Zu seinem Wesen gehört ein ständiges über-die-Ufer-treten, ein Bedrohen, Angreifen und Erobern von Räumen, die eigentlich der Lebenswelt angehören. Was immer schwach, d.h. an Lebenskraft im weitesten Sinne arm ist, fällt seiner Macht anheim.“ Barth entwickelt diese Interpretation zwar ausgehend von den Psalmen, die Vorstellung einer in das Leben hineinragenden Macht des Todes prägt aber auch andere Textbereiche der Hebräischen Bibel.
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Besitz nützt nichts am Tag des Zorns, Gerechtigkeit aber rettet vor dem Tod. (Sprüche 11,4) Wer fest steht in der Gerechtigkeit, dem gereicht es zum Leben, wer aber dem Bösen nachjagt, dem gereicht es zum Tod. (Sprüche 11,19)19
In diesen Sprüchen geht es im weiteren Sinn um das soziale Miteinander: Das gemeinschaftsfördernde Verhalten ist zugleich für den Handelnden lebensfördernd, während gemeinschaftszersetzendes Verhalten den Handelnden in die Sphäre des Todes stellt. Es gibt neben dem natürlichen Tod als der letzten Form menschlicher Endlichkeit offensichtlich auch so etwas wie den sozialen Tod als eine Form von Endlichkeit im Bereich des Miteinanders: Wo das Verhalten des Einzelnen die Gemeinschaft verletzt, stellt sich dieser einzelne an den Rand der Gemeinschaft – damit ist das Ende seiner Beziehungsfähigkeit erreicht. Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang von „konnektiver Gerechtigkeit“20 und verweist auf das altägyptische Konzept, das stark vom Gedanken eines den Einzelnen in das Sozialgefüge einbindenden gerechten Sozialverhaltens geprägt ist und im Ägyptischen mit dem Terminus ma‘at beschrieben wird.21 ma‘at ist als ein für die Welt grundlegendes Strukturprinzip zu verstehen und kann durchaus auch in personifizierter Form als Göttin konzeptualisiert werden. In ganz ähnlicher Weise steht das Konzept einer iustitia connectiva auch hinter den zitierten Worten aus dem Sprüchebuch – und wird auch hier in den einleitenden Kapiteln durch eine personifizierte „Frau Weisheit“ gewissermaßen fundiert. Während Kohelet den Tod als die letzte Grenze des Menschen und sein definitives Ende begreift und von daher auch keine Möglichkeiten sieht, dem Tod zu entrinnen, geht die durchweg pädagogisch ausgerichtete Weisheit des Sprüche-
19 Die Übersetzungen folgen der Zürcher Bibel (2007). 20 Vgl. Assmann, Jan: Ma‘at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, S. 60-69, S. 283-288, und Assmann, Jan/Janowski, Bernd/Welker, Michael: „Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption“, in: Dies. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, S. 9-35. 21 Vgl. J. Assmann: Ma‘at, S. 283: „Das Prinzip Ma‘at begründet eine Sphäre der Geltung von Normen, die die Menschen miteinander und die Folgen mit dem Handeln verbinden.“
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buches von einem gewissermaßen „sozialen“ Todesverständnis aus und bietet Strategien der Todesbewältigung im Leben an: Dem Tod mitten im Leben kann man entgehen, wenn man sich der Gemeinschaft gemäß verhält. Während das Sprüchebuch sehr stark von einem überindividuellen Denken geprägt zu sein scheint und aus diesem Denken heraus sein Todesverständnis entwickelt, lässt sich bei Kohelet eine Wendung hin zum Einzelnen beobachten, die ihren Entstehungshintergrund in neuen Herausforderungen zu haben scheint. In dieser weisheitlichen Konstellation, die sich zwischen dem Sprüchebuch und Kohelet erkennen lässt, ist keine Entwicklung von einer „älteren“ hin zu einer „jüngeren“ Weisheit anzunehmen und hier ist auch keine „Krise der Weisheit“ zu diagnostizieren. Die Spruchweisheit auf der einen und Kohelet auf der anderen Seite stehen vielmehr für verschiedene Positionen innerhalb eines größeren weisheitlichen Diskurses, der sich historisch im perserzeitlichhellenistischen Juda verorten lassen dürfte.22 Mit den skizzierten Positionen aus dem Sprüchebuch und dem Koheletbuch sind nur Teile des Diskurses erfasst. Im Hiobbuch wird ein weiterer Aspekt der Diskussion um den Tod greifbar, den auch Kohelet im Blick hat. In der Diskussion mit seinen Freunden geht Hiob auf die Unterschiedlichkeit des Sterbens und die Gemeinsamkeit des Todes ein: Der eine stirbt in voller Kraft friedlich und ohne jede Sorge. Voll Milch sind seine Tröge und saftig ist das Mark seiner Knochen. Der andere stirbt im Herzen verbittert und hat vom Guten nie gekostet. Zusammen liegen sie im Staub und Maden bedecken sie. (Hiob 21,23-26)
Kohelet sieht in Kohelet 3,18-22 den Menschen und das Tier einem gemeinsamen Ende entgegengehen. Hiob 21,23-26 verweist darauf, dass der Tod den Sorglosen wie den Verbitterten trifft – beide finden sich am Ende zusammen im Staub wieder. Der entscheidende Unterschied zwischen Hiob und Kohelet besteht in den Schlüssen, die beide aus dieser Einsicht ziehen. Für Hiob ist der Tod
22 Vgl. Saur, Markus: „Sapientia discursiva. Die alttestamentliche Weisheitsliteratur als theologischer Diskurs“, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 123 (2011), S. 236-249.
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der große Gleichmacher – und diese Gleichheit ist ein Zeichen dafür, dass es keinen Zusammenhang von Tun und Ergehen gibt, wenn der Böse bis in den Tod hinein ungeschoren davon kommt: Am Tag des Verderbens bleibt der Böse verschont, am Tag der Zornesfluten wird er gerettet. Wer hält ihm ins Gesicht seinen Wandel vor, und wer vergilt ihm, was er getan hat? Er aber wird zur Grabstätte geleitet, und bei seinem Grab hält man Wache. Die Schollen des Schachtes sind ihm angenehm, und hinter ihm her zieht alle Welt und vor ihm die zahllose Menge. (Hiob 21,30-33)23
Hiob verzweifelt an dem für ihn unhaltbaren Zustand, dass Tun und Ergehen in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen, dass also das Fundament seines Weltbildes von der alltäglichen Erfahrung erschüttert wird. Kohelet dagegen zieht aus der Einsicht in die Gleichheit am Ende des Lebens mehr oder weniger gelassen den Schluss, dass es angesichts dieser Zustände durchaus angemessen ist, das Leben zu genießen und es sich gut gehen zu lassen. Das ist kein hedonistischer Eskapismus, sondern ein höchst vitaler Realismus, der die Grenzen des Menschen als eine Gegebenheit versteht. Man kann sich gegen die Endlichkeiten auflehnen und damit das Leben verfehlen – oder man sieht die Endlichkeit als einen grundlegenden Bestandteil menschlicher Existenz und ist von daher in der Lage, dem Leben so etwas wie Lebensqualität zu geben.24 Über das Sprüchebuch, das Hiobbuch und Kohelets Reflexionen hinaus prägt weisheitliches Denken auch andere Textbereiche der Hebräischen Bibel. So finden sich etwa im Psalter einige Weisheitspsalmen.25 Einer dieser Texte greift das
23 Die Übersetzungen folgen der Zürcher Bibel (2007). 24 Vgl. dazu Krüger, Thomas: „Leben und Tod nach Kohelet und Paulus“, in: Martin Ebner et al. (Hg.), Leben trotz Tod (= Jahrbuch für Biblische Theologie, Band 19), Neukirchen-Vluyn 2004, S. 195-216, hier S. 200: „Während also nach Kohelet der Widerstand des Menschen gegen seine Endlichkeit zum Scheitern verurteilt ist (wie das Beispiel des Königs in Koh 1-2 zeigt), kann ihn die Annahme seiner geschöpflichen Grenzen zu einem glücklichen Leben in Gemeinschaft mit anderen führen.“ 25 Vgl. dazu Witte, Markus: Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Weisheit und Geschichte in den Psalmen (= Biblisch-Theologische Studien, Band 146), Neukirchen-Vluyn 2014; Saur, Markus: „Die Weisheitspsalmen Ps 49 und Ps 73 und ihre Bedeutung für die
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Thema des Todes in einer Weise auf, die mit den Positionen Kohelets und Hiobs vergleichbar ist: Auch hier wird der Tod als der große Gleichmacher verstanden, der Mensch und Tier miteinander verbindet: Fürwahr, man sieht, dass Weise sterben, gemeinsam mit einem Törichten und Dummen gehen sie zugrunde, und haben anderen zurückgelassen ihr Vermögen. Ihr Grab ist ihr Haus auf ewig, ihre Bleibe von Generation zur Generation – man hat ihre Namen auf Erden genannt. Und [der] Mensch in Glanz – er bleibt nicht. Er gleicht dem Vieh, das vernichtet wurde. Dies ist ihr Weg – Torheit zeichnet sie aus. Und nach ihnen hat man an ihrem Mund Gefallen. Sela. Wie die Tiere, die man in die Scheol gesetzt hat, weidet sie [der] Tod. Und es beherrschten sie Gerechte des Morgens, um ihre Gestalt schwinden zu lassen. Die Unterwelt ist eine Wohnung für sie. Gewiss, Gott kann mich loskaufen aus Scheolgewalt, ja, er wird mich [an-]nehmen. Sela. (Psalm 49,11-16)26
Der Zusammenhang von Tun und Ergehen scheint für den Psalmdichter spätestens an der Todesgrenze aufgehoben zu sein: Der Weise wie der Törichte und Dumme kommen gleichermaßen um – es gibt für den Toren keine bösere Zukunft als für den Weisen und es gibt für den Weisen keine besseren Aussichten als für den Dummen. Die Einsicht findet sich in ähnlicher Weise auch bei Hiob und Kohelet: Das innerweltliche Tun des Menschen hat über die Todesgrenze hinaus keine Konsequenzen. Am Ende des Psalms blitzt allerdings ein Gedanke auf, der über Hiob und Kohelet hinausführt und vor dem Hintergrund der Eigenarten der Psalmen verstanden werden muss. In zahlreichen Psalmen spielt das Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Mensch eine herausragende Rolle, an vielen Stellen tröstet ein angefochtener Beter sich damit, dass er auf Gottes Hilfe vertrauen kann und deswegen nicht endgültig in die Hand seiner Gegner fallen wird. Diese Topoi der sogenannten Vertrauenspsalmen werden in Psalm 49 rezi-
theologische Architektur des Psalters“, in: Ders. (Hg.), Die kleine Biblia. Beiträge zur Theologie der Psalmen und des Psalters (= Biblisch-Theologische Studien, Band 148), Neukirchen-Vluyn 2014, S. 121-149; ders., „Where Can Wisdom Be Found? New Perspectives on the Wisdom Psalms“ (im Druck). 26 Zu den textkritischen Problemen vgl. M. Saur: Weisheitspsalmen, S. 126-128.
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piert, allerdings durch den vorangehenden Kontext in ein besonderes Licht gerückt: Gott kann den Menschen aus dem Bereich des Todes herausreißen. Was in den Psalmen zunächst einmal den Bereich des sozialen Todes als eines Todes im Leben meint, gewinnt im Kontext von Psalm 49, der ja ganz explizit vom Tod als dem Ende des natürlichen Lebens handelt, eine neue Dimension. Hier sind zwar keinesfalls die Anfänge einer Auferstehungshoffnung zu greifen.27 Es ist aber doch zu bemerken, dass hier ein Dichter sein Irrewerden an der Todesgrenze tastend zu bewältigen versucht und einen ihm bekannten Gedanken, nämlich den der bleibenden Vertrauensbeziehung zwischen Gott und Mensch, neu kontextualisiert. Vieles bleibt hier ungesagt und das Gesagte bleibt sehr deutungsoffen. Und es bedurfte weiterer Deutungen und Interpretationen, um aus diesen Ansätzen heraus die Vorstellung einer Überwindung des Todes zu entwickeln.28 Das vollzieht sich dann allerdings nicht mehr im Bereich der weisheitlichen Literatur, sondern in der späten Prophetie und vor allem in der Apokalyptik, die in ausgreifenden Untergangsszenarien und Gerichtsbildern die Gegenwart als Endzeit dramatisiert und damit ihrer eigenen Qualität als Lebenszeit beraubt.
4.
A USBLICK
Die Weisheitsliteratur des antiken Israel und Juda geht mit dem Thema „Endlichkeit“ in einer ausgesprochen produktiven Weise um. Deutlich markiert werden dabei die Grenzen des Menschen. Diese Grenzen setzen zwar bestimmte Enden, diesseits dieser Enden entstehen aber Räume, die als Lebensräume erschlossen werden können. Grenzen können somit auch zu Quellen werden: Grenzen des Lebens zu Quellen des Lebens und „Grenzen der Erkenntnis“ zu „Quellen der Erkenntnis“.29 Die Endlichkeit des Menschen wird damit zu einem
27 Zu den unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten von Psalm 49,16, vgl. M. Witte: Ewigkeit, S. 78-84. 28 Vgl. dazu Schnocks, Johannes: Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung (= Bonner Biblische Beiträge, Band 158), Göttingen 2009. 29 Vgl. dazu van Oorschot, Jürgen: „Grenzen der Erkenntnis als Quellen der Erkenntnis. Ein alttestamentlicher Beitrag zu Weisheit und Wissenschaft“, in: Theologische Literaturzeitung 132 (2007), S. 1277-1291; ders.: „Grenzen von Weisheit und Wissen. Alttestamentliche Weisheit in Reaktion auf theologische und anthropologische Aporetik“, in: Markus Saur (Hg.), Die theologische Bedeutung der alttestamentlichen Weis-
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Ermöglichungsgrund von Leben in seiner eigentlichen Form, denn das Leben ist seinem Wesen nach ja genau dadurch bestimmt, dass es eben nicht der Tod ist. Wo es einen Tod und ein Ende gibt, da gibt es diesseits von Tod und Ende Leben und Lebensräume. Der Tod als die letzte Form menschlicher Endlichkeit steht in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur in einer Beziehung zu den Grenzen der Erkenntnis als einer wesentlichen Form menschlicher Endlichkeit. In der Rekonstruktion und Beschreibung dieser Beziehungsstruktur liegt eine Aufgabe, deren weitere Bearbeitung für die Frage nach der Erfahrung von Endlichkeit insofern von einiger Bedeutung ist, als sich hier ein Zusammenhang erkennen lässt, der bei einer isolierten Konzentration auf den Tod als dem letzten Ende des Menschen aus dem Blick zu geraten droht: dass sich nämlich neben dieser letzten Endlichkeit auch Erfahrungen von Endlichkeit erfassen lassen, die sich aus dieser letzten Endlichkeit ergeben, allerdings nicht mit ihr identisch sind. Das wurde insbesondere am Beispiel Kohelets deutlich, dessen Zurückhaltung im Blick auf die menschlichen Möglichkeiten und dessen Zweifel an der Erfassbarkeit der Welt sich unmittelbar aus der Einsicht in die Endlichkeit des Menschen ergeben, dessen Sterblichkeit ihm Grenzen setzt, die nicht erst am Ende, sondern schon im Verlauf des Lebens erkennbar sind und das Leben des Menschen prägen. Das Ende und die Endlichkeit des Menschen sind damit Grenzerfahrungen, die den Menschen von Anfang an begleiten und ihn zum Umgang mit ihnen herausfordern. Möglicherweise ist der Beitrag der alttestamentlichen Weisheitsliteratur zur Endlichkeitsthematik aber auch über die inhaltlichen Positionen hinaus von nicht geringer Bedeutung, denn innerhalb der Hebräischen Bibel wird auf formaler Ebene vor Augen geführt, wie Differenzen und Unterschiede durch ihr Nebeneinander innerhalb derselben Bücher und Buchzusammenhänge einen produktiven Prozess der Auseinandersetzung in Gang setzen – so stehen etwa dem Erkenntnisoptimismus des Sprüchebuches die zurückhaltenden Positionen Hiobs und Kohelets entgegen. Leserinnen und Leser dieser Texte sind nach der Lektüre mehr oder weniger gezwungen, sich zu den in Frage stehenden Themen und Positionen in Beziehung zu setzen, ohne dass die Texte selber dafür eine klare und eindeutige Richtung vorgeben würden. In der Erfahrung dieser Spannung, die sich aus der Vielfalt der Perspektiven und Positionen ergibt, liegt ein produktives Moment, das einen Umgang mit dieser spannungsreichen Vielfalt provoziert, der nicht durch die Suche nach einlinigen Antworten oder sogar Eindeutigkeit, son-
heitsliteratur (= Biblisch-Theologische Studien, Band 125), Neukirchen-Vluyn 2012, S. 67-90.
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dern durch die Einsicht, dass die Dinge immer auch noch einmal anders sein beziehungsweise gedeutet werden könnten, geprägt ist. Mehr, als das Feld solcher Deutungsmöglichkeiten auszuloten, wird am Ende nicht zu leisten sein.
Kollektivtod, Gemeinschaftsbildung und Genealogie. Bewältigungsstrategien menschlicher Endlichkeit im Erzählzusammenhang der Nibelungenüberlieferung T IMO R EUVEKAMP -F ELBER
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F RAGESTELLUNG
Der Tod gebiert den Schrecken. Menschliche Kulturen bilden angesichts dieser radikalen Negativität des Todes folglich unterschiedliche Praktiken des Umgangs mit der Erfahrung von Endlichkeit aus, zu denen auch Deutungskonzepte und Sinnangebote gehören, die sich in reflexiven Diskursen wie Religion, Philosophie und Kunst niederschlagen.1 Seit den frühesten Zeugnissen antiker Schriftkultur besteht eine der herausragenden Funktionen von Literatur darin, sich mit der Vergänglichkeit des Menschen auseinanderzusetzen.2 Die Vergäng1
Es ist sogar generell und spekulativ erwogen worden, dass die Kulturbildung selbst aus dem Versuch der Bewältigung des Todes resultiert. So behauptet de Marchi, Luigi: Der Urschock. Unsere Psyche, die Kultur und der Tod, Darmstadt 1988, S. 29, „daß jede Form von Kultur ihre Matrix in dem existentiellen Schock und dem daraus folgenden ursprünglichen Bedürfnis hat, den Tod zu exorzieren und sich gegen die Todesangst zu schützen“.
2
Dabei kommt der Literatur eine zentrale Funktion darin zu, einen Erinnerungsraum zu bilden und die Vergänglichkeit des Menschen in Form erinnerungswürdiger Taten historischer Persönlichkeiten oder darstellungswürdiger Handlungen fiktiver Figuren zu transzendieren.
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lichkeitsreflexionen in der Dichtung spiegeln allerdings nicht einfach philosophische oder alltagspragmatische Umgangsweisen mit der Sterblichkeit des Menschen, sondern besetzen diese im Rahmen der eigenen Welt literarischer Imagination spezifisch um. Zwar ist Literatur nicht autonom, aber durch eine „Umformulierung formulierter Welt“3 und ihrer kulturellen Symbolik charakterisiert. Konfigurationen und Deutungsmuster der Vergänglichkeit in literarischen Texten können daher nicht ungebrochen als „Modelle gesellschaftlicher Selbstbeschreibung“4 interpretiert werden, sondern sind zuerst einmal abhängig von Gattungskonventionen, Schreibweisen und funktionalen Besetzungen innerhalb des erzählten Geschehens. Am Beispiel des Erzählzusammenhangs von „Nibelungenlied“ und „Nibelungenklage“ soll im Folgenden der Umgang mit dem vorhergesagten und schließlich eintretenden Kollektivtod der Burgunden deskriptiv erfasst, seine literarische Funktionalisierung herausgearbeitet und auf seine kulturellen Implikationen hin befragt werden, zeigen sich doch an dem narrativierten Untergangsgeschehen paradigmatisch grundlegende literarische Bewältigungsformen menschlicher Sterblichkeit im Mittelalter abseits eines zeitgenössisch dominanten christlichen Sinnhorizontes. Die beiden zentralen Bewältigungsformen der Nibelungenerzählungen, die sich sowohl der Eigengesetzlichkeit des literarischen Mediums als auch kultureller Sinnmuster verdanken und sich mit den Stichworten „Gemeinschaftsbildung“ sowie „Genealogie“ charakterisieren lassen, werden nachfolgend textanalytisch erschlossen. Zuvor soll kurz in die der Forschung bereits hinlänglich vertraute historische Dimension des Nibelungenstoffs eingeführt werden, dessen mündliche Ausformungen bereits den Kollektivtod des germanischen Stammes der Burgunden im 5. Jahrhundert mithilfe narrativer Muster neu gedeutet haben, wohl um dieses katastrophale Untergangsgeschehen zu bewältigen.
3
Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropo-
4
Knaeble, Susanne/Silvan Wagner/Viola Wittmann: „Gott und Tod in der höfischen
logie, Frankfurt a.M. 1991, S. 231. Kultur des Mittelalters. Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters, Berlin 2011, S. 9.
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2.
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B EWÄLTIGUNG
DURCH NARRATIVE M USTER IN DER MÜNDLICHEN N IBELUNGENÜBERLIEFERUNG
Der mittelalterlichen Heldenepik liegen zumeist ein historisches Geschehen sowie lebensweltliche Akteure als Figurenpersonal zugrunde.5 Dies gilt auch für das um das Jahr 1200 entstandene „Nibelungenlied“, das sich im uns hier interessierenden zweiten Teil seiner Handlung an Geschehnissen orientiert, die in die Völkerwanderungszeit des 5. Jahrhunderts zurückreichen, und historische Personen aus einem Zeitraum von mehr als 100 Jahren als Zeitgenossen imaginiert, die in einer agonalen Situation aufeinandertreffen. Als historisch referentialisierbares Substrat liegt diesem Geschichtssynkretismus der Untergang eines burgundischen Reiches zugrunde, dessen König Gundahari (retextualisiert als Gunther des „Nibelungenliedes“) die über Gallien herrschenden Römer herausgefordert hat und von deren Feldherrn Aëtius in Kooperation mit hunnischen Hilfstruppen 436/37 vernichtend geschlagen wurde. Diese militärische Niederlage ging mit der Liquidation nahezu aller männlichen Vertreter des germanischen Volksstammes der Burgunden einher und der Umsiedlung der wenigen Überlebenden in die Westschweiz sowie in das Gebiet der späteren Freigrafschaft Burgund an Rhône und Saône. Das „Nibelungenlied“ wie bereits im Laufe der Sagengeschichte seine mündlich tradierten Vorläufer verlegen den Kollektivtod der burgundischen Krieger an den Hof des hunnischen Königs Attila, im Mittelhochdeutschen Etzel, der eigentlich nicht in die historisch bezeugte Niederlage Gundaharis und seines Volkes involviert war und erst 445 nach dem Tod seines Bruders Bleda (retextualisiert als Blödelin im „Nibelungenlied“) zum Alleinherrscher aufstieg. Zudem agiert im „Nibelungenlied“ als Gegner der Burgunden am Etzelhof Dietrich von Bern, die epische Verkörperung Theoderichs des Großen, der zwischen 454 und 526 lebte und als König der Ostgoten mit byzantinischer Unterstützung eine Herrschaft über weite Teile Italiens errichtete.6 Historisch bezeugte Personen aus verschiedenen Zeiten und Räumen der kulturellen Umbruchsepoche des 5. Jahrhunderts werden so wahrscheinlich bereits in der Nibelungensage und nicht erst im verschriftlichten Epos um 1200 aufgrund ihrer Eignung zur Heroisierung und ihrer Prominenz als erfolgreiche Heerführer sowie
5
Vgl. zum Folgenden Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied, Berlin 32009, S. 19-34; Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997.
6
Zu Theoderich und seiner Literarisierung in der Volkssprache vor dem „Nibelungenlied“ vgl. Heinzle, Joachim: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin/New York 1999, S. 1-23.
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Herrscher im kollektiven Gedächtnis mit dem Kollektivtod der Burgunden in Zusammenhang gebracht. Doch die Sagenerinnerung an den Untergang des Burgundenreiches zeichnet sich nicht nur durch ihren Synkretismus aus, sondern auch durch ihre Aneignung der Vergangenheit mithilfe von narrativen Schemata.7 Narrativierte Perspektivierungen historischen Wissens unterliegen zwar schon immer (und auch noch in ihrer modernen Form der Geschichtserzählung) spezifischen Erzählschemata, sodass Realität mittels einer an literarischen Paradigmen orientierten Darstellung sinnhaft konstruiert wird,8 doch verfährt die Nibelungensage genau umgekehrt: Sie suspendiert die historischen Zusammenhänge und nutzt Elemente der Historie, um das singuläre Geschehen in eine Geschichte von exemplarischer Bedeutung zu transformieren.9 Konkret wird der burgundische Kollektivtod von seinen
7
Unsere Kenntnis der vorschriftlichen Nibelungenüberlieferung verdankt sich allerdings nur undeutlichen Spuren und wenigen Zeugnissen (Anspielungen in anderen Dichtungen und historiographischen Texten, unsicheren Bildzeugnissen). Wir wissen also nicht mit Sicherheit, welcher poetischen Formen und welcher narrativen Schemata sich das mündliche Erzählen bediente. Daher sind wir – wenn wir Aussagen über die konkrete Gestalt der Sagenüberlieferung treffen wollen – auf plausible Rekonstruktionen angewiesen, die sich sowohl an den Ergebnissen der Forschung zur oral poetry des 20. Jahrhunderts als auch an den scheinbar Mündlichkeit konservierenden Schrifttexten der nordischen Sagentradition des „Nibelungenlieds“ (die Lieder-Edda, die Thidrekssaga) orientieren. Vgl. zur oral formulaic epic immer noch Lord, Albert B.: Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht, München 1965. Zur Sagenerinnerung vgl. Heinzle, Joachim: Die Nibelungen. Lied und Sage, Darmstadt 2005, S. 20-26 sowie 31-38.
8
Vgl. dazu White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in NineteenthCentury Europe, Frankfurt a.M. 1991; ders.: „Der historische Text als literarisches Kunstwerk“, in: Ders. (Hg.), Auch Klio dichtet oder: Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (= Sprache und Geschichte, Band 10), Stuttgart 1986, S. 101-122, der die möglichen archetypischen Handlungsschemata historischen und fiktionalen Erzählens gleichermaßen mit den vier sehr allgemeinen literarischen Modi Romanze, Satire, Komödie und Tragödie zu erfassen versucht.
9
Anders Heinzle, Joachim: Das Nibelungenlied. Eine Einführung. Überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1994, S. 25. Seiner Einschätzung, dass das „Nibelungenlied“ eine spezifische Form laikaler Geschichtsschreibung darstelle, ist der Großteil der Forschung gefolgt. Jan-Dirk Müller z. B. warnt entsprechend davor, „das Epos als ,Dichtungʻ einem vagen Komplex ,Geschichteʻ entgegenzusetzen“ (J.-D. Müller: Das Nibelungenlied, S. 24).
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historischen Kausalitäten gelöst und in einen Zusammenhang von Brautwerbung und einer verräterischen Einladung transformiert. Ein komplexer machtpolitischer Geschehenszusammenhang wird auf eine einfache personale Konstellation „und elementare persönliche Konflikte reduziert und zu einprägsamen Geschichten strukturiert“10. Die Sage organisiert das Geschehen mithilfe bekannter Erzählschemata und bindet es in einen vertrauten Erfahrungsraum, nämlich den der Verwandtschaft, ein. Damit ist gewährleistet, dass der Kollektivtod der Burgunden in einen Sinnzusammenhang gestellt wird, der von den Signifikanten allgemein-menschlicher Hinfälligkeit gebildet wird, die sich in persönlichen Motivationen wie Hass, Liebe, Neid, Besitzgier und so weiter ausprägt. Das katastrophale und wohl als singulär wahrgenommene Untergangsgeschehen wird bewältigt, indem es ins Vertraute und potentiell immer Wiederholbare überführt wird. Zur Zeit der Entstehung des „Nibelungenliedes“ lag der Kollektivtod der Burgunden bereits 700 Jahre zurück und war ein längst fremd gewordenes Ereignis, das nicht im kollektiven Gedächtnis verankert war und daher auch keiner Bewältigung bedurfte. Die Erzählung vom katastrophalen Untergang hat aber auch im 12. Jahrhundert ihr Faszinationspotential bewahrt, was ihren Weg in die Schriftlichkeit geebnet haben dürfte. Im Zuge ihrer Verschriftlichung wurde die Sage nicht nur mit den Rede-, Werte- sowie Wissensordnungen der Klerikerkultur konfrontiert, sondern auch mit veränderten Interessen und gewandelten Verstehensbedingungen ihrer adligen Trägerschicht. Diese Aktualisierung der Sage im Schrifttext betraf nicht die Erzählschemata und Erfahrungsräume, aber deren konkrete Besetzungen (in Formen einer personalisierten höfischen Liebe zwischen Kriemhild und Siegfried, in den vielfältigen Formen adliger Sachkultur und so weiter), führte aber auch zu einer neuen Bewältigungsstrategie des trostlosen Untergangsgeschehens. Bis ins 15. Jahrhundert wird nämlich in allen handschriftlichen Zeugnissen dem „Nibelungenlied“ eine Bewältigungsgeschichte angehängt: die „Nibelungenklage“. Ohne diese Bewältigungsgeschichte gibt es das „Nibelungenlied“ nicht.11 Dies hat augenscheinlich mit der Perspektivlosigkeit des „Nibelungenlieds“ zu tun, das mit dem Kollektivtod der Burgunden seinen Abschluss findet. Der Ausblick auf die kollektive Vergänglichkeit bedarf anscheinend um 1200 eines Phantasmas des Fortbestehens. Die scheinbare Unvergänglichkeit des Kollektivs, von dem die „Nibelungenklage“ unter anderem
10 J.-D. Müller: Das Nibelungenlied, S. 25. 11 Vgl. grundlegend zur Bezogenheit der „Klage“ auf das „Nibelungenlied“ Henkel, Nikolaus: „‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200“, in: Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Mittelalterliche Literatur im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, S. 73-98.
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berichtet, scheint durch die Weiterexistenz von Familie, Freunden und Getreuen nötigen Trost zu vermitteln. Auch andere Narrationen des 12. und 13. Jahrhunderts, die vom Untergang von Kollektiven erzählen, bemühen weniger etablierte christliche Deutungsmuster des Sterbens als vielmehr innerweltliche Figuren des Neuanfangs oder Perspektivenwechsels, um den Schrecken kollektiver Auslöschung zu bannen. Die Figur des Neuanfangs kennzeichnet zum Beispiel mittelalterliche Geschichten, die sich an das Ende des Trojauntergangs anlagern, trojanische Flüchtlinge als mythische Gründungsfiguren von Städten, Reichen und Dynastien profilieren und damit der apokalyptisch wirkenden Zerstörung Trojas ihre Endgültigkeit nehmen. Die Figur des Perspektivenwechsels begegnet bereits am Ende antiker Trojaerzählungen (so bei Dictys Chretensis) und wird in der mittelalterlichen Erzähltradition adaptiert: Sowohl der französische Autor Benoît de Sainte-Maure als auch die deutschsprachigen Autoren Herbort von Fritslar und Konrad von Würzburg beenden ihre narrationes nicht mit dem Fall Trojas, sondern berichten noch ausführlich von den Heimfahrten der exponierten griechischen Kämpfer.12 Beide Möglichkeiten, die Vergänglichkeit eines Kollektivs im Erzählakt zu bewältigen, also Perspektivenwechsel und Neuanfang, nutzt die „Nibelungenklage“. Dies möchte ich im Folgenden in einem Verfahren des close reading aufzeigen. Zuvor soll allerdings noch einer Form der Bewältigung des Kollektivtods im „Nibelungenlied“ selbst nachgegangen werden, die nicht wie in der „Nibelungenklage“ die Nachlebenden betrifft, sondern diejenigen, die als Teile des Kollektivs dem Untergang wissend entgegengehen. Ihnen dient der drohende Kollektivtod zur Gemeinschaftsbildung.
3.
B EWÄLTIGUNG DURCH G EMEINSCHAFTSBILDUNG IM „N IBELUNGENLIED “
Das „Nibelungenlied“ beginnt seine narratio mit einer ausführlichen Exposition des burgundischen Königshofes und seiner Akteure in Worms. Er wird als ein Muster gesellschaftlicher Ordnung profiliert, dem sich die dem Hof zugehörigen Figuren verpflichtet fühlen. Gezeigt wird eine harmonische höfische Welt, die durch ihren funktionalen Aufbau sowie das geregelte und konfliktlose Miteinander ihrer Akteure gekennzeichnet ist. Weder die negativen Prolepsen des Erzählers, der das zukünftige Untergangsgeschehen kontrastierend zur Idealität des Gesellschaftsentwurfs vorwegnimmt, noch der Falkentraum Kriemhilds mit sei-
12 Herbort von Fritzlar: liet von Troye, Quedlinburg, Leipzig 1837; von Würzburg, Konrad: Der trojanische Krieg, Amsterdam 1965.
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ner Symbolik von Gewalt und Tod stören den Entwurf einer idealen, weil konsensualen Gemeinschaft, da die auf der Diskursebene angesiedelten Prolepsen das Selbstverständnis der Figuren auf der Geschichtsebene nicht tangieren und der Traum für die Akteure zwar Warnung ist, aber keine Zukunftsgewissheit bedeutet.13 Die latente Sprengkraft, die die sexuelle Liebe in diesem Panorama einer konsensualen Gemeinschaft entfalten kann, ist den Akteuren durch den Traum und seine Deutung zwar bewusst, wird aber im Sinne einer Zukunftsoffenheit nicht manifest. So schein das Glück der ritterlichen Gemeinschaft und die Konsensfähigkeit ihrer Mitglieder für diese unvergänglich zu sein: Von des hoves krefte und von ir wîten kraft, von ir vil hôhen werdekeit und von ir ritterscaft, der die herren pflâgen mit vröuden al ir leben, des enkunde iu ze wâre niemen gar ein ende geben (NL, Str. 12).14
[Von der Macht des Hofes und seiner Mitglieder, von ihrer außerordentlichen Würde und ihrer Ritterlichkeit, die die Herren ihr ganzes Leben hindurch in Glückseligkeit ausübten, könnte wahrhaftig niemand in seinem Bericht an ein Ende gelangen.] Dieses solcherart profilierte Kollektiv, ein Personenverband adliger Krieger, ist als Ausgangs- und Endpunkt der Handlung des „Nibelungenliedes“ der Protagonist des Epos.15 Doch dieser durch den Konsens seiner Mitglieder ausgezeichnete Personenverband verliert seine perfekte gesellschaftliche Harmonie mit dem Einzug Siegfrieds in Worms. Der Königssohn aus Xanten, der aus Liebe zu
13 So weiß Kriemhilds Mutter Ute als Traumdeuterin, dass ein Traum zwar einen möglichen Einblick in zukünftiges Geschehen bieten, aber Gewissheit nur Gott haben kann (Str. 14). Und Kriemhild selbst schwört jedweder Liebe ab, um gar nicht erst Leid erfahren zu müssen (Str. 17). 14 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert v. Siegfried Grosse (RUB, Band 644), Stuttgart 1997. 15 Dieser Gedanke, dass nicht etwa Kriemhild, Hagen oder Siegfried, sondern ein kollektiver Herrschaftsverband der Protagonist des Epos ist, findet sich bereits bei Müller, Jan-Dirk: „Motivationsstrukturen und personale Identität im ‚Nibelungenlied‘. Zur Gattungsdiskussion um ,Eposʻ oder ,Romanʻ“, in: Fritz Peter Knapp (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, Heidelberg 1987, S. 221-256.
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Kriemhild nach Worms kommt, um dort um ihre Hand anzuhalten, fordert den burgundischen Hof zum Kampf um die Herrschaft auf. Mit der aggressiven Bedrohung von außen geht das Konsensprinzip des burgundischen Herrschaftsverbandes verloren. Während die Königsbrüder Gunther und Gernot auf die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft verweisen und Siegfrieds Herausforderung damit als unrechtmäßig qualifizieren, also bemüht sind, den drohenden Konflikt mit diplomatischem Geschick auf einer juristischen Ebene abzuwehren, plädieren deren Vasallen für eine gewaltsame Replik. Als Stellvertreter dieser Gruppe diskreditiert Ortwin von Metz, der Truchsess des Königs, den Versuch des diplomatischen Ausgleichs und stellt in Aussicht, dass die Vasallen anders handeln werden, als es der König befiehlt: der sprach: „disiu suone16 diu ist mir harte leit. iu hât der starke Sîvrit unverdienet widerseit. Ob ir und iuwer bruoder hetet niht die wer, und ob er danne fuorte ein ganzez küneges her, ich trûte wol erstrîten, daz der küene man diz starkez übermüeten von wâren schulden müese lân.“ [...] Nâch swerten rief dô sêre von Metzen Ortwîn (NL, Str. 116,3-119,1).
[Der sprach: „Diese Aussöhnung bedauere ich sehr. Euch hat der starke Siegfried grundlos den Krieg erklärt. Wenn ihr und euer Bruder nicht wehrhaft wäret und selbst wenn Siegfried ein ganzes königliches Herr aufböte, würde ich allein mir durchaus zutrauen, mit Kampf dafür zu sorgen, dass der kühne Mann von seinen allzu übermütigen Plänen absehen müsste.“ […] Nach Waffen schrie Ortwin von Metz.] Mit dieser Aufkündigung der Gefolgschaft steht die Herrschaft des Königs selbst in Frage. Die äußere Bedrohung durch Siegfried wird durch eine Bedrohung von innen, der Auflösung der formierten Gesellschaft, flankiert. Gernot als Sprachrohr seines Bruders, König Gunther, kann zwar den drohenden Waffengang mit königlicher Autorität noch verhindern und Siegfried in den Personenverband in-
16 Zum rechtsverbindlichen Charakter der suone als dauerhafte Beilegung eines Konflikts vgl. den entsprechenden Artikel von Kaufmann, Ekkehard: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 5, S. 73-76, sowie Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, v.a. S. 57-84.
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tegrieren, doch bleibt ein latenter Riss in der Konsensgesellschaft, der sich im weiteren Handlungsverlauf wiederholt im Umgang der männlichen Exponenten des Hofes mit Konfliktsituationen an der Oberfläche zeigt.17 Bevor der unaufgelöste Konflikt mit Siegfried schließlich sein destruktives Potential entfaltet, scheint die politische Verbindung zwischen Worms und Xanten aber erst einmal eine Erfolgsgeschichte zu werden: Mithilfe Siegfrieds gewinnen die Burgunden einen Verteidigungskrieg gegen ein Bündnis aus Dänen sowie Sachsen und wirbt König Gunther erfolgreich um die amazonenhafte Brünhild, Königin von Island. Als Gegenleistung wird der exorbitante Krieger sowie erfolgreiche Ratgeber mit Kriemhild verheiratet und damit als kognatischer Verwandter an den Wormser Hof gebunden. Die scheinbare Dauerhaftigkeit des Machtzuwachses des Wormser Hofes durch diese strategisch ausgerichtete Bündnis- und Heiratspolitik drückt sich nicht zuletzt in den Namen der erstgeborenen Söhne beider Königspaare aus: Während der Älteste in Worms den Vornamen Siegfried erhält, heißt dieser in Xanten Gunther. In dieser analogen Namensnennung drückt sich der Wunsch aus, die Herrschaftshäuser auch nach einem Thronwechsel in der nächsten Generation miteinander verbunden zu wissen. Dieses auf gegenseitige Anerkennung gründende Bündnis zwischen den Königshäusern wird durch den berechtigten Zweifel der neuen Wormser Königin Brünhild an der Rechtmäßigkeit ihrer Ehe mit Gunther zerstört. Dieser Zweifel gründet auf einige Ungereimtheiten bei ihrer Eheschließung. Die mit übermenschlicher Körperkraft ausgestattete Brünhild hatte nämlich als isländische Herrscherin verfügt, nur einen Mann heiraten zu wollen, der sie in einem sportlichen Dreikampf (Steinwurf, Weitsprung, Speerwurf) besiegt. Als Siegfried ihr in Island gegenübertritt und Gunther als Brautwerber vorstellt, formuliert sie als Bedingungen für eine Ehe mit dem Wormser König entsprechend nicht nur dessen körperliche Überlegenheit, sondern darüber hinaus, dass dieser über den Heros Siegfried herrscht:
17 Ein unausgetragener Konflikt ergibt sich auch aus dem Verlust politischer und militärischer Funktionen von Mitgliedern des Personenverbands, nachdem Siegfried am Wormser Hof verbleibt und sowohl die Ratgeberfunktion Hagens im Sachsenkrieg (Str. 313-315) sowie bei der Werbung um Brünhild und die militärischen Funktionen der burgundischen Vasallen durch seine Exorbitanz okkupiert (Str. 215-217, 227238). Diese latente Konkurrenzsituation der Höflinge zu Siegfried wird erst in dem Moment thematisch, als dieser eine Angriffsfläche durch den öffentlichen Vorwurf seiner Ehefrau Kriemhild bietet, die Königin Brünhild sei seine Kebse.
84 │ T IMO R EUVEKAMP -F ELBER „ist er din herre unt bistu sîn man, diu spil, diu ich im teile, getar er diu bestân, behabt er des die meisterschaft, sô wirdʻ ich sîn wîp“ (NL, Str. 423,1-3).18
[„Wenn er dein Herr und du sein Mann bist und er aus den Wettkämpfen, die ich ihm auferlege, erfolgreich hervorgeht, so werde ich seine Frau.“] Im Anschluss daran versuchen beide Männer, Brünhild Glauben zu machen, dass die formulierten Ehebedingungen im Falle des Wormser Königs erfüllt sind: Zum einen leugnen sie ihre bestehende Gleichrangigkeit und inszenieren Siegfried als Untergebenen Gunthers. Zum anderen geht der sichtbare Gunther in der Wahrnehmung Brünhilds und ihres Hofes als Sieger aus dem Wettstreit hervor, während es in Wirklichkeit der unsichtbare Siegfried ist, der unter Zuhilfenahme magischer Utensilien (Tarnkappe und kräftigender Zaubergürtel) die Wettkämpfe gewinnt. Dieser Betrug der Männer wiederholt sich in Worms, wohin die isländische Königin den Werbern nach der Niederlage im Wettkampf folgt. Als Brünhild dort nach der Eheschließung noch in der Brautnacht erkennt, dass Gunther keineswegs über herausragende Körperkräfte verfügt, verweigert sie sich ihm sexuell, fesselt ihn kurzerhand mit ihrem Gürtel und hängt ihn an einen Nagel an die Wand. Wiederum ist es der unsichtbare Siegfried, der in einer zweiten Brautnacht auf dem Kampfplatz des Ehebettes Brünhild im Ringkampf bezwingen muss, bevor der König seine Frau entjungfern kann. Brünhild, die mit der Entjungferung ihre übermenschlichen Körperkräfte einbüßt, schließt in der Folgezeit aus der nicht vorhandenen Bereitschaft Siegfrieds, Lehnsdienst zu leisten, und der Unterlegenheit Gunthers in der ersten Brautnacht, dass bei der Brautwerbung irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Um die Wahrheit zu ergründen, lädt sie das Xantener Königspaar einige Jahre nach der Hochzeit zu einem Fest ein. Als sie dann während eines Turniers ihre Schwägerin Kriemhild in der Öffentlichkeit damit konfrontiert, dass deren Ehemann kein unabhängiger König, sondern – wie sie es von ihm selbst während der Brautwerbung gehört habe – lediglich der eigenholt [Dienstmann] Gunthers sei, stellt Kriemhild sie bloß, indem sie behauptet, dass es Siegfried und nicht der König gewesen sei, der sie entjungfert habe.19
18 Vgl. zu diesen Ehebedingungen auch Schausten, Monika: „Der Körper des Helden und das ,Lebenʻ der Königin: Geschlechter- und Machtkonstellationen im ‚Nibelungenlied‘“, in: ZfdPh 118 (1999), S. 27-49. 19 Als Beweis ihrer Behauptung präsentiert Kriemhild einen Ring Brünhilds und den Gürtel, mit dem die Wormser Königin ihren Mann in der ersten Brautnacht an den
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Diese Behauptung führt zu einer Herrschaftskrise in Worms. Brünhild, die nun weiß, dass sie betrogen worden ist und gemäß ihres Selbstverständnisses und ihrer darauf gründenden Wettkampfbedingungen den falschen Mann geheiratet hat, gibt sich ihrer Trauer hin und fungiert nicht länger als Herrscherin. Diese Herrschaftskrise wird nicht nur durch ihre Tränen symbolisiert, die der Verpflichtung des Herrscherpaars zur höfischen vreude widersprechen, sondern konkretisiert sich vor allem in ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit des Hofes und damit dem politischen Aktionsraum, in dem adelige Herrschaft körperlich repräsentiert werden muss. Da auf dem während des Festes stattfindenden Turnier nur mehr Kriemhild präsent ist und sie den Vorrang ihres Mannes vor Gunther zeichenhaft verkörpert, führt dies zum Unmut des Wormser Personenverbandes: hey waz man starker schefte vor dem münster brach vor Sîfrides wîbe al zuo dem sale dan! dô wâren in unmuote genuoge Guntheres man (NL, Str. 871,2-4).20
[Ach, wie viele starke Schäfte wurden dann vor dem Münster und vor der Frau Siegfrieds, die sich im Saal aufhielt, zerbrochen. Da waren viele Männer Gunthers empört.] In dieser Situation wiederholen sich die Auseinandersetzungen innerhalb der Hofgesellschaft um den richtigen Umgang mit Siegfried als Bedrohung burgundischer Herrschaft. Der Streit zwischen den Frauen wird in der Öffentlichkeit sofort als Stellvertretung einer Auseinandersetzung der Männer perspektiviert. Während das Königshaus erneut auf Formen juristischer Konfliktbeilegung setzt und Gunther Siegfried durch den Rechtsakt des Reinigungseides von jeder Schuld öffentlich freispricht (NL, Str. 857-860), drängen die Vasallen darauf, den unaufgelösten und schwelenden Konflikt mit Gewalt zu beenden. Es sind dieselben Akteure wie bei der ersten Begegnung mit Siegfried, die nun zum Mord aus „Staatsräson“ raten: Ortwin von Metz und Hagen (NL, Str. 867-869). Die Kontroverse, wie mit der Krise zu verfahren sei, erfasst jetzt nicht mehr al-
Nagel gehängt hatte. Beide Gegenstände hatte Siegfried nach der zweiten Brautnacht als Trophäen aus der Kemenate Brünhilds mitgenommen und sie seiner Frau überlassen. 20 Zur Textstelle und ihren machtpolitischen Implikationen vgl. Haug, Walter: „Montage und Individualität im ‚Nibelungenlied‘“, in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 326-338.
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lein die Männer, sondern alle Angehörigen des Hofes: Mit rede was gescheiden manic schoene wîp (NL, Str. 863,1) [Viele schöne Frauen stritten miteinander]. Die Destabilisierung politischer Ordnung wird schließlich anders als bei der Ankunft Siegfrieds in Worms nicht durch dessen strategische Einbindung in den Herrschaftsverband vorübergehend aufgehoben, sondern durch dessen Ermordung scheinbar endgültig beseitigt. Hagen von Tronje zieht den König nun auf die Seite der Vasallen, indem er ihm in einer heimlichen Unterredung einen Machtzuwachs in Aussicht stellt, wenn Siegfried getötet würde (NL, Str. 870). In dieser Auseinandersetzung um den richtigen Umgang mit der politischen Krise zeigt sich erneut, wie fragil das Verhältnis zwischen König und Adel ist und dass ein gemeinsamer gesellschaftlicher Wille sich nicht herstellen lässt. Mit der Beseitigung Siegfrieds eliminiert Hagen von Tronje schließlich erst einmal die äußere Bedrohung der burgundischen Königsherrschaft, doch wird durch den damit in Gang gesetzten Rachewunsch der Genozid aus dem Inneren der Gesellschaft heraus erst ermöglicht. Kriemhild ist es, die den Tod ihres Mannes nicht verwinden kann. Im Anschluss an die Tat fordert sie nachvollziehbarerweise die Bestrafung Hagens, doch wird dieser vom König geschützt. Die Wormser Hofgesellschaft zeigt sich in der Folge gespalten im Hinblick auf den Umgang mit der Witwe. Auf der einen Seite stehen ir getriuwe mâge (NL, Str. 1081,3) [treue Verwandte] wie Giselher, Gernot und die Mutter Ute, die Kriemhild bei der Trauerarbeit unterstützen, ihr trost (NL, Str. 1082,3) anbieten und eine Entschädigung in Aussicht stellen (NL, Str. 1080,3), auf der anderen Seite diejenigen, die für den Mord an Siegfried verantwortlich zeichnen beziehungsweise diesen auch im Nachhinein gutheißen. Diese Spaltung setzt sich fort in den Diskussionen um die Brautwerbung Etzels, in denen Hagen als Vertreter der Vasallengruppe von einer Wiederverheiratung Kriemhilds abrät, um ihr keine Machtbasis für eine mögliche Rache zu verschaffen. Als Vertreter der getriuwen mâgen gerät Giselher ob dieses Ratschlags in zorn (1213,1), was seit dem homerischen Aias generell das blindwütige Rasen des Heros in der Heldenepik kennzeichnet21 und in dieser Situation konkret als affektische Reaktion eine Gewaltbereitschaft signalisiert, die sich gegen Hagen und damit gegen den eigenen Personenverband richtet. Giselher und die Königsbrüder setzen sich schließlich mit ihrem Einverständnis zur Neuvermählung Kriemhilds gegen den Rat des Vasallen Hagen durch, der ungemuot (NL, Str. 1214,1) [aufgebracht] zurückbleibt.
21 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1988, S. 204, der den Begriff im Rahmen seiner Nibelungischen Anthropologie analysiert und zum Ergebnis kommt: „Zorn kennzeichnet eine Situation gewaltsamer Konfrontation“ (S. 208).
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Die aufscheinende Bereitschaft der Männer zur gewaltsamen Konfrontation, die Folge der Mehrstimmigkeit im Umgang mit Bedrohungspotentialen für den burgundischen Personenverband ist, kann erneut durch den Entschluss des Königs und die Gepflogenheiten des friedfertigen Umgangs am Hof aufgehoben werden. Diese agonale Konstellation zeigt sich erneut, als die Burgunden beschließen, 13 Jahre später einer Einladung ihrer Schwester und ihres neuen Ehemanns Etzel Folge zu leisten und ins Land der Hunnen zu ziehen. Wieder stehen sich Hagen und Giselher als Antagonisten der beiden Gruppen innerhalb des Hofes gegenüber. Der jüngste Bruder Kriemhilds wirft dem Vasallen, der vom Besuch des Etzelhofes dringend abrät, vor, aus Feigheit die Reise nicht antreten zu wollen. Nun ist es Hagen, der in Zorn gerät, und Kampfbereitschaft zeigt: Dô begonde zürnen von Tronege der degen (NL, Str. 1464,1) [Darauf geriet der Kämpfer Hagen von Tronje in Zorn], den Feigheitsvorwurf verbal zurückweist und sich schließlich dem Heerzug ins Hunnenland wider besseren Wissens anschließt. Dieser permanent drohende Zerfall der burgundischen Gesellschaft endet erst, nachdem zwei Meerfrauen Hagen bei der Donauüberquerung in Bayern prophezeien, dass alle Burgunden am Hofe Etzels sterben werden. Wie schon nach der ersten Auseinandersetzung mit Giselher bleibt Hagen ungemuot (NL, Str. 1545,1) zurück, weiß er doch den Wahrheitswert dieser Prophezeiung noch nicht richtig einzuschätzen. Dies ändert sich, als Hagen erkennt, dass die Meerfrauen die Zukunft verlässlich vorausgesagt haben und der Tod der 10.000 burgundischen Kämpfer sowie Knappen unausweichlich ist. Im heldenepischen Text führt die Gewissheit des Kollektivtods bei den Betroffenen nicht etwa zu einer christlich fundierten Vorbereitung auf den Tod, auf einen Bußweg geistlicher Abkehr vom Weltlichen, sondern zu einer zunehmenden Amoralisierung und Enthemmung, die ihren Ausdruck in sinnlosen Gräueltaten und hemmungslosem Morden finden.22 Die anfängliche Todesangst der Burgunden23 schlägt um
22 Allerdings werden die zahlreichen Gräueltaten der Burgunden – die Ermordung des eitlen hunnischen Kriegers während des Turniers, die Tötung des kleinen Ortliebs, Etzels Erbsohn, während des Festmahls usw. – flankiert von heroischen Gesten, die die Sympathie des Lesers evozieren – wie z.B. der Kampfverzicht Hagens, der auf die Schildgabe Rüdigers folgt –, und mit durchaus komischen Erzählverfahren kontrastiert (vgl. dazu J.-D. Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, S. 427-430). Aufgrund der Ambiguisierung des Erzählten, die sich in der Kritik an höfischen sowie heroischen Verhaltensmustern bei gleichzeitiger und potentiell faszinierender Inszenierung einprägsamer Bilder heroischer Männlichkeit manifestiert, lässt sich nicht schließen, dass das „Nibelungenlied“ eine „Clerical Rebellion
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in eine Todesbejahung, die sich in gewalttätigen Akten der Vernichtung äußert. Und diese Zukunftsgewissheit des kollektiven Sterbens, also die vorbestehende Auflösung der Gemeinschaft, führt paradoxerweise zu einer Restituierung der Konsensgemeinschaft wie zu Beginn des Epos. Im Angesicht des sicheren Todes entwickeln alle Mitglieder des Personenverbandes ein Einheitsphantasma, das keinen Raum mehr für Auseinandersetzungen und widerstreitende Gruppen lässt, wie sie sich zuvor in der Reaktion auf Bedrohungen von innerhalb und außerhalb der Gesellschaft ausgeprägt hatten. Dies wird an den Antagonisten am Wormser Hof nach der Ermordung Siegfrieds, Hagen und Giselher, paradigmatisch demonstriert. Nachdem nämlich Hagen allen Burgunden von der Prophezeiung sowie der Ermordung des Fährmanns erzählt und den Rat erteilt hat, nicht wie Feiglinge aus Bayern zu flüchten, sondern sich auf Kampfhandlungen nach dem Tod des Schiffers vorzubereiten, weist der Text ausgerechnet den stets kompromissbereiten und um Ausgleich bemühten Giselher als den Ersten aus, der sich dem heroischen Denken Hagens anschließt (NL, Str. 1593,4). Als Zeremonienmeister heroischen Sterbens führt Hagen in der Folge eine formierte Gesellschaft in den Tod, in denen Rangunterschiede nivelliert sind und abweichende Positionen nicht länger Bestand haben. Die Todeserfahrung fungiert paradoxerweise als letzte Bastion der Gemeinschaft vor ihrem Zerfall,24 insofern als die Einigungskraft des künftigen Kollektivtods die konfligierenden Kräfte beseitigt, die seit der Bedrohung durch Siegfried die Gemeinschaft geprägt haben; deren Verschwinden kann – so zeigt es das „Nibelungenlied“ in Vorwegnahme eines To-
against Courtesy“ darstellt – so Jaeger, C. Stephen: „The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy“, in: William C. McDonald (Hg.), Spectrum Medii Aevi. Essays in Early German Literature in Honor of George Fenwick Jones (GAG, Band 362), Göppingen 1983, S. 177-205. Das Epos verweigert sich einer solchen Eindeutigkeit (vgl. dazu J.-D. Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, S. 435-455). 23 des wurden snelle helde vor leide missevar, / do si begonden sorgen ûf den herten tôt / an dirre hovereise; des gie in waerlîche nôt (NL. Str. 1590,2-4) [Die tapferen Kämpfer erblassten vor Angst, als sie wegen des bitteren Todes auf der Hofreise in Sorge gerieten; das stürzte sie in große Not]. 24 Vgl. zu diesem Gedanken auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: „Phänomenologie des Geistes“, in: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.), Werke in 20 Bänden auf der Grundlage der Werke von 1832-1845, Frankfurt a.M. 1986, S. 335.
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pos der politischen Philosophie der Moderne – „vermeintlich allein durch den Horizont einer kollektiven Todesdrohung aufgehalten werden“25.
4.
B EWÄLTIGUNG DURCH G ENEALOGIE IN DER „N IBELUNGENKLAGE “
Im „Nibelungenlied“ dient die Gemeinschaftsbildung dem Kollektiv dazu, seine bevorstehende Vergänglichkeit zu bewältigen und diese heroisch anzunehmen. Gemeinschaftsbildung ist aber auch Teil der gesellschaftlich verantworteten, christlichen Trauerarbeit der Hinterbliebenen, die sich im öffentlichen Raum in kollektiven Ritualen, Bestattungszeremonien und Klagereden beziehungsweise gesten ausdrückt. Dieser gemeinschaftsbildende Akt der Trauer zeigt sich beim Tod Siegfrieds, der Verwandte, Hofangehörige, Angehörige der städtischen Oberschicht sowie die Dienerschaft im Klagen vereint und in der Kirche als Ort der christlichen Bewältigung des Todes zusammenführt: Allez ir gesinde klagete und schrê mit ir lieben vrouwen (NL, Str. 1013,1f.), Si [die burgaere] klageten mit den gesten, want in was harte leit […]. dô weinten mit den vrouwen der guoten burgaere wîp (NL, Str. 1037,1-4), Si [Gernot, Giselher, Höflinge] weinten inneclîche den Kriemhilde man. Man solde messe singen. zuo dem münster dan giengen allenthalben wîp, man unt kint. Die sîn doch lîht' enbâren, die weinten Sîfriden sint (NL, Str. 1048).
[Ihre ganze Dienerschaft klagte und schrie mit ihrer geliebten Herrin. Die edlen Bürger klagten mit den Verwandten, denn es schmerzte sie sehr [...]. Zusammen mit den adeligen Damen weinten die Frauen der edlen Bürger. Gernot, Giselher und die Höflinge beweinten andächtig den Mann Kriemhilds. Man feierte eine Messe. Von allen Seiten gingen daraufhin Frauen, Männer und Kinder zum Münster. Die auf ihn gut verzichten konnten, weinten erst später wegen Siegfried.]
25 Scholz, Leander: Der Tod der Gemeinschaft. Ein Topos der politischen Philosophie, Berlin 2012, S. 18.
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Eine solche Form kollektiver Trauerarbeit bestimmt in ihrem ersten Handlungsteil auch die „Nibelungenklage“, die in der Forschung auch als literarisierte christliche Bewältigung des trostlosen Untergangsgeschehens im „Nibelungenlied“ firmiert: „Sie zeigt, dass früh ein Bedürfnis nach Korrektur des Epengeschehens bestand und nach seiner Einbettung in allgemein akzeptierte Sinngebungshorizonte: Der Untergang […] kann als göttliche Strafe für menschliches Fehlverhalten verstanden werden.“26 Bereits das „Nibelungenlied“ hatte die gewalttätigen Verhaltensformen der Burgunden an verschiedenen Textstellen als übermüete gekennzeichnet und damit vor einem christlichen Wertehorizont negativ bewertet. Insofern stimmen beide Texte in ihrer Verwurzelung in einem christlichen Sinnhorizont durchaus überein und lassen keinen Zweifel daran, dass die Burgunden ihren Untergang mitverschuldet haben. Zugleich wird den Figuren aber in ihrer heroischen Exorbitanz, der sich die erzählte Welt des „Nibelungenlieds“ verpflichtet fühlt – was wiederum zu Ambivalenzen auf der Ebene des discours führt27 –, eine positive Ausnahmestellung zugesprochen. Dieser positive Status führt dazu, dass die Totenklagen sowie die Bestattung der Helden im ersten Teil der „Nibelungenklage“ breits ausgestaltet und mit „buchhalterischer Genauigkeit“28 registriert werden. In diesen emotionalen wie logistischen „Aufräumarbeiten“ werden nicht nur das massenhafte Sterben aus der Sicht der Überlebenden rekapituliert sowie die verstorbenen Akteure und ihre zugleich heldenhaften wie zweifelhaften Handlungen im Sinne einer zeitgenössischen Memorialkultur aktualisiert, sondern auch ein Perspektivenwechsel auf bisherige Nebenfiguren der Handlung vorgenommen (Etzel, Dietrich und Hildebrand) sowie deren Umgang mit dem monströsen Untergangsgeschehen genauestens beobachtet. In diesem Perspektivenwechsel, der an das apokalyptisch anmutende Ende des Epos eine Folgehandlung anschließt und damit Endlichkeit bereits im Er-
26 J.-D. Müller: Das Nibelungenlied, S. 169. 27 So auch ebd., S. 177: „Das Epos hat Eindeutigkeit verweigert, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass es weder bruchlos als heroische Kritik an höfischem Optimismus noch als höfische Kritik an heroischem Gemetzel verstanden werden kann. Es stellt Antagonismen und Ambivalenzen der nibelungischen Welt aus, ohne die Geltung ihrer Ordnungen je ausdrücklich in Frage zu stellen.“ Nicht folgen kann ich Müller, wenn er ebd. konstatiert, dass die „Klage“ die Komplexität des Epos reduziere und die Ambivalenzen beseitige. 28 Ebd., S. 172.
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zählakt dementiert,29 fallen die Bewertungen des Geschehenen, die Formen der Bewältigung sowie die Versuche, in die „Normalität“ zurückzukehren, durchaus unterschiedlich aus. Hildebrand zeigt sich unversöhnlich und weist einzelnen Akteuren oder dem ganzen Kollektiv Schuld am Untergangsgeschehen zu,30 Dietrich hingegen lässt angesichts des Todes Versöhnungsbereitschaft erkennen und betrauert zum Beispiel aufrichtig die triuwe (Kl., V. 784) Kriemhilds, der er im Epos noch feindlich gegenüber gestanden hat, Etzel schließlich gibt sich ganz seiner Trauer hin und kommt dadurch seinen Herrschaftspflichten nicht mehr nach. In den unterschiedlichen Positionen Dietrichs und Hildebrands werden exemplarisch die beiden Möglichkeiten aufgezeigt, den ehemaligen Gegnern zu gedenken: diesen entweder Hass über den Tod hinaus entgegenzubringen oder – im Bewusstsein einer generellen Hinfälligkeit des Menschen – deren positive Seiten zu würdigen. Dieser Antagonismus zeigt sich wiederholt in den Totenklagen. Als Beispiel kann die Reflexion über Dankwart dienen, der – so hält es der Erzähler fest – viermal so viele Gegner getötet habe wie Hagen. Dass Dietrich den Burgunden wegen seines Charakters und seiner Handlungen rühmt, kritisiert Hildebrand:
29 Dem Ende des „Nibelungenliedes“ (hie hât daz maere ein ende: / daz ist der Nibelunge nôt, Str. 2379,4 [Hiermit ist die Erzählung zu Ende: Sie heißt „Die Not der Nibelungen“]) wird zu Beginn der „Nibelungenklage“ programmatisch ein Neueinsatz gegenübergestellt: Hie hebt sich ein maere [Hier beginnt eine Erzählung] (Die „Nibelungenklage“. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. v. Joachim Bumke, Berlin/New York 1999, V. 1 [zitiert wird hier und in der Folge nach der Handschrift B]). Die Irritationen, die kollektive Untergänge in vormodernen Gesellschaften verursachten, werden durch solche Perspektivenwechsel anscheinend abgeschwächt. Davon könnten jedenfalls die Nachgeschichten in den Troja-Erzählungen, im „ProsaLancelot“ und auch in den Nibelungenerzählungen Zeugnis ablegen. 30 So bezeichnet er Hagen im Gespräch mit Etzel als vâlant [Teufel] (Kl., V. 1250), der für alles verantwortlich war, und betont zugleich, dass die Burgunden an ihrem Tod alle gleichermaßen die Schuld trügen („daz hânt si in selbe erworben“, Kl., V. 1282). Volker, dem Waffenbruder Hagens, dem er im Zweikampf zu unterliegen drohte, wünscht er ewige Verdammnis („Er hât gedienet sô den solt, / daz ich der sêle immer holt / wol werden nemac“, Kl., V. 1335-37 [Er hat es verdient, dass ich seine Seele für immer verdamme]) und betont, dass der Tod ihn zurecht ereilt habe („got wil ich des danc sagen, / daz er langer niht genas“, Kl., V. 1374f. [„Ich danke Gott dafür, dass er nicht länger am Leben blieb“]).
92 │ T IMO R EUVEKAMP -F ELBER „Er riuwet mich“, sprach Dietrîch. „sîn muot der was sô tugentlîch. ob ez ein künec waere, sôn moht der helt maere niht hêrlîcher hân getân.“ „Ir mügt in ungelobt lân vil wol“, sprach dô Hildebrant. „gesaehet ir, wie iu sîn hant hât gedienet in sînen lesten tagen, sô muoz iu deste wirs behagen, daz er ellen ie gewan.“ (Kl., V. 1423-1433)
[„Er erweckt mein Mitleid“, sagte Dietrich. „Vortrefflich war er. Als König hätte dieser berühmte Held nicht ausgezeichneter handeln können.“ „Ihr könnt gut darauf verzichten, ihn zu loben“, entgegnete Hildebrand. „Wenn ihr nur sehen würdet, was er euch in seinen letzten Tagen angetan hat, so kann euch seine Tapferkeit nur umso mehr missfallen.“] Die „Nibelungenklage“ zeigt in solchen Verhandlungen unterschiedliche Formen des Umgangs mit den Verstorbenen auf, die auf generelle Möglichkeiten der Konfliktbewältigung verweisen: Ausgleich, Versöhnungsbereitschaft sowie Nachsicht und damit christliche Leitvorstellungen bei Dietrich stehen einer Haltung Hildebrands gegenüber, die in ihrer Unversöhnlichkeit, Selbstgerechtigkeit und Gewaltbereitschaft den heroischen Habitus der burgundischen Krieger perpetuieren. Diese Dichotomie, die die Figuren im Umgang mit ihren toten Gegnern in der „Klage“ zeigen, äußert sich bereits im „Nibelungenlied“ in ihrem Umgang mit dem gewaltsamen Konflikt am Etzelhof. Während Dietrich sich aus diesem heraushält, Gewaltverzicht von seinen Männern einfordert und erst dann in der Hoffnung auf einen Friedensschluss in die Kämpfe eingreift, als dies ohne Gegnertötung möglich erscheint, ist Hildebrand nicht nur begierig, gegen die Burgunden zu kämpfen (vgl. NL, Str. 2274), sondern zerstückelt am Ende des Epos mit zorne (NL, Str. 2376,1) Kriemhild wegen der Tötung Hagens. Damit macht er sich sowohl die Rachelogik Kriemhilds als auch die Position der Burgunden zu eigen. Epos und Klage markieren deutlich ihre Sympathie mit der Position Dietrichs, der christliche Werte zugrunde liegen, doch scheitert er in seinem Bemühen um friedlichen Ausgleich im „Nibelungenlied“ ebenso wie in sei-
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ner Hoffnung auf eine gelingende Bewältigung des Untergangsgeschehens in der „Klage“.31 Die weiter oben beschriebenen Formen kollektiver Trauer stellen in den Nibelungenerzählungen trotz ihrer Alternativlosigkeit nur unzureichende Formen der Todesbewältigung dar. Zwar geht das Leben nach der kollektiven Trauerarbeit für nahezu alle Menschen seinen gewohnten Gang: doch mohten si dem lîbe sô gar geswîchen niht: / si nerten sich nâch sorgen, sô noch genuogen geschicht (NL, Str. 1072,3f.) [Dem Leben konnten die Trauernden nicht entfliehen: Sie erholten sich nach ihrem Kummer, wie es noch üblicherweise geschieht], doch eröffnen die Trauerrituale Einzelnen wie Kriemhild im „Nibelungenlied“ gerade keine Bewältigungsmöglichkeit des Schreckens und scheitern in ihrer Funktion, Trost zu vermitteln: Gêrnôt und Gîselher die sprâchen: „swester mîn, nu troeste dich nâch tôde, als iz doch muoz sîn. wir wellen dichs ergetzen, die wîle wir geleben.“ done kunde ir trôst deheinen zer werlde niemen gegeben. (NL, Str. 1049)
[Gernot und Giselher sagten: „Schwester, es muss doch sein, dass du nach dem Tod dich tröstest. Solange wir leben, wollen wir dich für den Verlust entschädigen.“ Doch konnte niemand auf der Welt ihr Trost schenken.] Während bei Kriemhild die nicht religiös zu bewältigende Gewalterfahrung zu krankem sinne (Klage, V. 243) sowie unmäßiger Rache führt, sind die Akteure der „Nibelungenklage“ vor einer weiteren Eskalation der Gewalt gefeit. Stattdessen wird in der „Nibelungenklage“ thematisch, wie man angesichts des exorbitanten Leidens wieder ein normales Leben führen kann. Etzel kann dies nicht und verliert seine Herrschaftsfähigkeit sowie den Sinn fürs Leben durch übermäßige Trauer und in Ermangelung einer dynastischen Perspektive, da sein Sohn Ortliep als einer der Ersten den Intrigen seiner Gattin und dem Gemetzel der Burgunden zum Opfer gefallen war. Als Dietrich ihn nach der gemeinsamen Klage und den Begräbnisriten auffordert, ins frühere Leben als Herrscher zurückzufinden, stellt er den Sinn eines Nachlebens in Frage, kehrt sich von der Herrschaft ab und gibt sich ganz der Trauer hin, von der er sich nicht lösen kann:
31 Vgl. zur Positivierung der Dietrich-Figur in den Nibelungen-Erzählungen Toepfer, Regina: „Spielregeln für das Überleben. Dietrich von Bern im ‚Nibelungenlied‘ und in der ‚Nibelungenklage‘“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), S. 310-334.
94 │ T IMO R EUVEKAMP -F ELBER Dietrîch sprach: „jâ sult ir lân iuwer grôze ungehaben. […] her künec, jâ mügt ir iuwer lant mit helden noch besetzen. got mac iuch ergetzen gnaedeclîch der leide […].“ „Waz hilfet daz?“ sprach er dô. […] „mîne man sint erstorben, dar zu kint und wîp. war zu sol mir der lîp, zeptrum oder krône? diu mir ê vil schône stuont in allen mînen tagen, diene wil ich nimmer mêr getragen. […] er hete ze vil verlorn. […] der künec weinen began, sam dô ers aller êrste pflac“ (Kl., V. 2444-89).
[Dietrich sagte: „Lasst ab von eurem großen Leiden! […] Herr König, ihr könnt doch euer Land wieder mit Helden bevölkern. Gott wird euch gnädig für euer Leid entschädigen […].“ „Was hilft das?“, fragte Etzel. […] „Meine Männer sind gestorben, dazu mein Kind und meine Frau. Warum soll ich weiterleben, Zepter und Krone tragen? Die mir mein ganzes Leben lang vortrefflich standen, werde ich niemals mehr tragen.“ […] Er hatte zu viel verloren. […] Der König fing an zu weinen, wie er es schon am Anfang getan hatte.“] Etzel fixiert sich wie schon Kriemhild auf die Trauer um die Toten. Während die burgundische Prinzessin ihre traumatische Gewalterfahrung in Aggression und Blutrache verwandelt, leidet der hunnische König nach innen und zerstört damit alle seine menschlichen Bindungen. An verschiedenen Stellen macht die „Nibelungenklage“ deutlich, dass es notwendig sei, in die Normalität zurückzukehren. So rät der vorbildliche Passauer Bischof Pilgrim, ein Onkel der Nibelungischen Herrscher: „man muoz die varn lâzen, / die uns tegelîch der tôt nimt“ (Kl., V. 3444f.) [Man muss die loslassen, die uns der Tod täglich nimmt]. So reflektiert der Erzähler anlässlich der Trauerpraxis in Worms, nachdem Etzels Spielmann Swemmel die Nachricht vom Tod der burgundischen Krieger dorthin übermittelt hat, dass nur der Narr nach dem Ende der dreitägigen Klagezeit in immer größere Trauer gerät, während der Weise seine Trauer dämpft: der wîse ez senften be-
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gan; / der tumbe machtes ie mêre (Kl., V. 3726f.). Und so rät es Sindolt, der vorbildliche Mundschenk des burgundischen Königs, dessen Witwe Brünhild: „vrouwe, nû mâzet iuwer klagen!32 jâne kan niemen entsagen wol dem andern den tôt. werte nû immer disiu nôt, sine wurden doch niht lebhaft. der klage diu ungevüege kraft müese doch ein ende hân“ (Kl., V. 3747-53).
[„Herrin, mäßigt eure Klage! Niemand kann doch den Tod eines Anderen ungeschehen machen. Auch wenn ewig geklagt würde, würden sie nicht wieder lebendig. Die maßlose Gewalt der Klage muss also ein Ende haben.“] Etzel verharrt bis zum Ende der Erzählung im Zustand der Trauer, der ihn in den Wahnsinn treibt, der im Text als ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod semantisiert wird. Wie zuvor bei Kriemhild hat die Erfahrung von Gewalt zu kranker witze (Kl. V. 4188) [zum Wahnsinn] bei Etzel geführt:33 im was an sîn herze kumen diu riuwe alsô manecvalt, daz in daz leit mit gewalt lie selten sît gesprechen wort. ern was weder hie noch dort, ern was tôt noch enlebete. in einem twalme er swebete (Kl., V. 4192-98).
[Seine Gefühle wurden von so großer Trauer beherrscht, dass ihn das gewaltige Leid für immer verstummen ließ. Er war weder hier noch dort, er war weder tot noch lebte er. In einem Äther schwebte er.]
32 In der Handschrift C fordert Sindolt Brünhild gar auf, nicht länger zu trauern: „vrouwe, lâzet iuwer klagen!“ (Kl., V. 3831). 33 Dies widerfährt auch Gotelind, der Gattin des Markgrafen Rüdiger, der von Gernot erschlagen wurde. Nachdem sie vom Tod Rüdigers erfährt, kommt sie vor unsinne (Kl., V. 3244) [Torheit, Unverstand] erst ihren Herrschaftspflichten nicht nach und stirbt schließlich kurze Zeit später.
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Der positive Gegenentwurf zum verzweifelnden Etzel ist ausgerechnet der Wormser Hof, von dem die Gewalt ihren Ausgang nahm und wo eine von Brünhild initiierte Herrschaftsweitergabe an ihren Sohn die vreude der Gesellschaft zu restituieren vermag:34 „Der Hof, wie er zu Beginn des Epos bestand, wird wieder aufgebaut, ein Hof, der auf Recht und Tradition beruht.“35 Das Krönungsfest des jungen Erbsohns zeigt die Rückkehr zu der Konsensgemeinschaft des Anfangs, die sich ohne Zwist und Hader an adliger vreude zu orientieren vermag: der hof und daz gesinde / wâren ein teil in vreude komen (Klage, V. 4098f.) [Der Hof und die Gefolgschaft waren schon wieder ein wenig zur Freude gelangt].36 Damit ist es am Ende der Nibelungenerzählungen das genealogische Modell, das abseits christlicher Jenseitsfiktionen eine innerweltliche Überwindung der kollektiven Vergänglichkeit in der dynastischen Erbfolge ermöglicht, weil es der Herrschaft durch die Idee einer Transpersonalität eine eigene „Wesenheit“ zugesteht, die trotz der Vergänglichkeit des einzelnen Menschen in Geltung bleibt.37 Das zentrale Element genealogischen Denkens besteht im Rahmen
34 Vgl. dazu McConnell, Winder: „The Problem of Continuity in ‚Die Klage‘“, in: Neophilologus 70 (1986), S. 248-255. 35 J.-D. Müller: Das Nibelungenlied, S. 175. 36 Auch die Handschrift C bindet an die Denkfigur der Genealogie den Umschlag von Leid in Freude und damit die Bewältigung des Kollektivtods: der hof und das gesinde / ir leit mit vreuden sît vergaz (V. 4150f.) [Der Hof und die Gefolgschaft ersetzten später ihr Leid durch Freude]. Während in Worms die Thronnachfolge eine Rückkehr in die Normalität ermöglicht, heißt es wenige Verse später, dass Etzel eine solche vreude als Voraussetzung adliger Herrschaft für immer versagt bleibe: an Etzeln sît der stunde / vreude niemen vant (Kl., V. 4112f.). 37 Vgl. zur Genealogie als einer Urform des Weltverstehens und zentraler Denkform antiker und mittelalterlicher Gesellschaftsordnung Speyer, Wolfgang: „Art. ‚Genealogie‘“, in: Reallexikon für Antike und Christentum 9 (1976), Sp. 1145-1268; Heck, Kilian/Bernhard Jahn (Hg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 80), Tübingen 2000; Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004; Dies.: „Zur Konstruktion von Kontinuität durch Genealogie. Herleitungen aus Troja am Beispiel von Heinrichs von Veldeke ‚Eneasroman‘“, in: Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen.
Beiträge
zur
institutionellen
Konstruktion
von
Kontinuität,
Köln/Weimar/Wien 2004, S. 37-59; dies.: „Art. ‚Genealogien‘“, in: Werner Paravicini (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Hof und Schrift (= Residenzenforschung, Band 15.3), Ostfildern 2007, S. 347-360. Für den Bereich der Hel-
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hochmittelalterlicher Herrschaftspraxis in dieser Vorstellung einer Kontinuität eines kollektiven Körpers der lignage, wobei dem (ältesten) Sohn die Aufgabe zukommt, den Vater in seiner gesellschaftlichen Position zu perpetuieren, seinen Verlust zugleich vergessen zu machen und die Dynastie weiterzuführen. Diesen Rat erteilt in der „Nibelungenklage“ Sinold der Königinnenwitwe Brünhild und schafft damit in einer nach dem Tode des Königs instabilen Herrschaftssituation die Voraussetzungen für friedliche Kontinuität sowie Verlustbewältigung am Wormser Hof: „ir mügt noch vil wol krône tragen. vrouwe, ez sol in kurzen tagen iuwer sun bî iu gekroenet sîn. sô ergetzet iuch daz kindelîn und uns der grôzen leide. […] iu und iuwern kinden wir dienen sam vorhtlîchen sô bî Gunthêre dem rîchen.“ (Kl., V. 3755-3764)
[„Ihr werdet noch unangefochten die Krone tragen. Herrin, schon bald wird euer Sohn an eurer Seite gekrönt werden. So entschädigt das Kindchen euch und uns für das große Leid. […] Euch und euren Kindern werden wir ebenso gehorsam dienen wie dem mächtigen Gunther.“] Dass die Genealogie als Kontinuitätsphantasma adliger Herrschaft sich ausgerechnet in einem Thronfolger namens Siegfried konkretisiert, zeigt, welche Integrationskraft diese Denkform in den Nibelungenerzählungen besitzt. Siegfried als Herrscher auf dem Wormser Königsthron: In diesem Kontinuität und Neuanfang gleichermaßen berücksichtigenden Modell löst sich die Infragestellung burgundischer Herrschaft durch den Heros Siegfried namenssymbolisch auf. Am Ende sitzt ein Siegfried in friedlicher Form der Herrschaftstranslation auf dem Wormser Königsthron und ist der Kollektivtod in der Erfahrung von dynastischer Kontinuität positiv bewältigt.
dendichtung leuchtet die Relevanz der Genealogie als Denkform Lange, Gunda S. (Hg.): Nibelungische Intertextualität: Generationenbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters (= Trends in Medieval Philology, Band 17), Berlin/New York 2009, aus.
Endzeitvorstellungen vor dem Hintergrund von Naturkatastrophen M ANFRED J AKUBOWSKI -T IESSEN
1.
D IE H UNGERKRISE VON 1570 – APOKALYPTISCHE Ä NGSTE UND ESCHATOLOGISCHE E RWARTUNGEN
„Alle Creatur sehnet sich gegen jener herrligkeit / nit allein die Menschen / sondern die gantze Welt ist dieses Wesens vberdrüssig / wie ein alter Mensch wird des Lebens satt vnd müde / weil es so seltzam zugehet / solche Trübsal vnnd grosse schwacheit ist / Also wird die Welt des wesens müde / weil solche Vntrew ist / Vnd alle Creatur also abnimpt / der Himel / die Lufft wird seltzam / die Erde gibt nicht mehr jhr vermügen / Die Fische im Wasser / die Vögel in der Lufft verschwinden / nu will alles zu wenig werden / Vnnd wenn etwa zimliche genüge ist / so reissets der Geitz zu sich / Darumb / was thue ich denckt die Sonne / das ich die Gottlosen bediene? Was thue ich Erde / das ich so viel früchte trage den Gottlosen ... “1
1
Praetorius, Zacharias/Pastorum, Sylua: Das ist / Materienbuch allerhandt predigten für einen Christlichen Pfarrherr vnnd Seelsorger, Magdeburg 1575, S. 273v; vgl. auch Tauber, Ambrosius: Bussrufer ausgesand zu verkündigen und zu ruffen… „Das X. Zeichen“, Magdeburg 1596: „Alle creaturen nehmen ab und sind uberdrussig / der Grund gottlosen Welt zu dienen / wie S. Paulus Röm. 9, sagt: Das engstigliche harren der Creatur / wartet auff die Offenbahrung der Kinder gottes / alle Creatur sehnet sich mit uns / und engstet sich noch immerdar.“ Die Sonne verberge sich immer häufiger hinter den sich zusammenziehenden Wolken und verschwinde für lange Zeit, als ob sie gar nicht mehr erscheinen wolle: „Oftmals ist sie Blutroth gewesen / und in etlichen tagen wenig scheins von sich gegeben. Sie scheinet nicht mehr so lieblich / und
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Der Geistliche Zacharias Praetorius aus Eisleben2 zeichnet in seiner 1575 veröffentlichten Predigt das Bild einer sich ihrem Ende zuneigenden Welt, in der sich die Natur verändert habe und in Unordnung geraten sei. Das Wetter sei „seltsam“ geworden, die Ernten würden schlecht ausfallen und das Tierreich lichte sich zunehmend. Diese Veränderungen in der Natur werden als Zeichen für die Altersschwachheit der Welt und ihr abzusehendes Ende gedeutet.3 Der Glaube an ein Ende des Erdzeitalters war im letzten Drittel des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts nicht außergewöhnlich, sondern wurde von vielen Zeitgenossen geteilt.4 Auch dass vor dem Jüngsten Tag noch eine Zeit des Leidens zu bewältigen sei, war den bibelkundigen Menschen jener Zeit vertraut.5 Neu
ist nicht mehr so warmer frölicher und bestendiger Sommer / sondern das Wetter und alles verendert sich / und nahet sich alles Augenscheinlich zu ende“. Zitiert bei Barnes, Robin B.: „Der herabstürzende Himmel. Kosmos und Apokalypse unter Luthers Erben um 1600“, in: Manfred Jakubowski-Tiessen et al. (Hg.), Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 155), Göttingen 1999, S. 139f. 2
Zu Zacharias Praetroius siehe Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines GelehrtenLexicon, Band 3, Leipzig 1751, Sp. 1751f.
3
Vgl. Z. Praetorius: „Predigt von den Zeichen des Jüngsten Tages“, in: Praetorius/Pastorum: Das ist / Materienbuch allerhandt predigten für einen Christlichen Pfarrherr vnnd Seelsorger (1575), S. 86ff; „Je elter die Welt / je ärger sie würdt / wie die tägliche Erfahrung bezeuget.“ Vgl. Pflacher, Moses: Postill / oder Predigten / Vber die Sontägliche / vnd fürnembsten Fest / Evangelien, Tübingen 1602, S. 397. Die Predigt wurde am Sonntag Invocavit gehalten, das Jahr ist allerdings nicht bekannt. Auf die Hungerjahre nach 1570 wird auf S. 231 Bezug genommen, wenn es heißt: „Wir haben vnlangst vor wenig jaren auch ein grosse vnd schwere Notfasten gehabt.“ Es ist anzumerken, dass Pflacher in den Jahrzehnten der Not nach der großen Hungerskrise von 1570 schon ein Buch über die Kunst des Sterbens herausgebracht hatte: M. Pflacher: Die gantze Lehr vom Tod und Ableben des Menschen / in ein richtige ordnung kurtz gefasset, und geprediget, Herborn 1589.
4
Vgl. Lehmann, Hartmut: „Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der ‚Kleinen Eiszeit‘“, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Otto Ulbricht (Hg.), Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, Göttingen 1996, S. 71; R.B. Barnes: Der herabstürzende Himmel. Kosmos und Apokalypse unter Luthers Erben um 1600, S. 129ff., 139ff.
5
Über das apokalyptische Denken um 1600 siehe R. B. Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalyptism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988; Kaufmann, Thomas: „1600 – Deutungen der Jahrhundertwende im deutschen Luthertum“, in: M.
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war, dass das Leiden der Welt nun aufs engste mit aktuellen Veränderungen in Natur und Klima ursächlich verbunden wurde und diese Veränderungen als Zeichen der herannahenden Endzeit gedeutet wurden.6 „Und wie in einem alten Haus / die Fenster dunkel werden / und an einem verlebten Körper das Gesicht abnimmt / also gehets jetzt mit der alten und kalten Welt auch / die nimmt zusehends ab / die Sonn / Mond / und andere Sterne / leuchten / scheinen und wirken nicht mehr so kräftig als zuvor / es ist kein rechter beständiger Sonnenschein / kein steter Winter und Sommer / die Früchte und Gewächs auf Erden / werden nicht mehr so reif / sind nicht mehr so gesund / als sie wohl ehezeit gewesen“,
so schreibt der Pfarrer Daniel Schaller aus Stendal in einer 1595 publizierten Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Herolt: Außgesandt in allen Landen offendtlich zuverkündigen … dass diese Weldt mit jrem wesen bald vergehen werde“. Schaller bemüht sich in seiner Schrift die Zeichen zusammenzutragen, die seiner Ansicht nach untrüglich auf das Ende der Welt hindeuten.7 Diese Beobachtungen und Reflexionen der beiden Pastoren Praetorius und Schaller beziehen sich auf Zeiten einschneidender klimatischer Veränderungen im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, in dem es zu einer dichten Folge von Wetteranomalien und damit verbundenen Missernten kam, wie sie sich in der Phase der sogenannten „Kleinen Eiszeit“ in Europa wiederholt ereigneten.8 Eine
Jakubowski-Tiessen et al., Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert (1999), S. 73-128; Lehmann, Hartmut: „Weltende 1630: Daniel Schallers Vorhersage von 1595“, in: Ebd., S. 147-161. 6
Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Das Leiden Christi und das Leiden der Welt – Die Entstehung des lutherischen Karfreitags“, in: Wolfgang Behringer/Hartmut Lehmann/Christian Pfister (Hg.), Die kulturellen Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“, Göttingen 2005, S. 195-213; vgl. auch Lehmann, Hartmut: „Martin Behms Kirchenlieder als sozialhistorische Quelle“, in: Axel Lubinski/Thomas Rudert/Martina Schattkowsky (Hg.), Historie und Eigen-Sinn, Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997, S. 227-235.
7
Schaller, Daniel: Herolt: Außgesandt in allen Landen offendtlich zuverkündigen … dass diese Weldt mit jrem wesen bald vergehen werde, Magdeburg 1595; zit. nach H. Lehmann: Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der „Kleinen Eiszeit“, S. 68.
8
Als „Kleine Eiszeit“ wird eine Periode bezeichnet, in der es im Vergleich zur vorhergehenden und nachfolgenden Periode zu einem Absinken der Durchschnittstemperaturen gekommen ist. Sie erstreckte sich von Mitte des 14. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Siehe Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas. 1000
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der größten Hungerkrisen der Frühen Neuzeit, die Hungerkrise der 1570er Jahre, bildet den Erfahrungshintergrund ihrer Darlegungen.9 In Schallers Schrift wird auf diese durch Missernten verursachte Hungerkrise direkt Bezug genommen: „Das Feld und der Acker ist des Fruchttragens auch müde worden / und gar ausgemergelt / wie darüber groß winseln und wehklagens / unter Ackerleuten / in Städten und Dörfern gehöret wird / und dannenhero die große Teuerung und Hungersnot sich verursachet.“10
Die Krise von 1570 begann in Mitteluropa mit einem extrem kalten und langen Winter im Jahr 1568/1569. Der Frühling ließ lange auf sich warten und war dann durch starke Regenfälle gekennzeichnet. Nach einem sonnigen Juni folgte ein nasser Sommer und ein ebenso nasser Herbst. Die Folge war, dass die Ernte dieses Jahres äußerst schlecht ausfiel. Der Winter 1569/1570 war wiederum extrem kalt und schneereich. Nicht allein Flüsse in Norddeutschland wie die Elbe, sondern auch die Rhone in Südfrankreich froren in diesem Winter zu. Ein im Februar einsetzendes Tauwetter führte zu zahlreichen Überschwemmungen. Im April setzte erneut eine längere Kaltphase ein, welche das Reifen des Saatgetreides verzögerte. Der Sommer 1570 war anfangs warm, doch wurde er in der zweiten Hälfte kalt und regnerisch bis zur Erntezeit, so dass sich wiederum eine Missernte wie schon im Vorjahr abzeichnete. In den folgenden drei Jahren setzte sich diese ungünstige Witterungsphase fort: kalte Winter, spät einsetzende, kühle Frühjahre und verregnete Sommer. Die Durchschnittstemperaturen der Jahre von 1569 bis 1573 lagen deutlich unter denen der Jahrzehnte vorher.11
Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2008, S. 119-122; Pfister, Christian: „Weeping in the Snow, The Second Period of Little Ice Age-type Impacts, 15701630“, in: W. Behringer/H. Lehmann/C. Pfister (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“ (2005), S. 31-86. 9
Behringer, Wolfgang: „Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit“, in: Jakubowski-Tiessen, Manfred/Lehmann, Hartmut (Hg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 51-156; W. Behringer: „‚Kleine Eiszeit‘ und Frühe Neuzeit“, in: Ders./H. Lehmann/C. Pfister (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“ (2005), S. 415-508.
10 Schaller, Daniel: Herolt, S. 156f., zit. n. Lehmann, Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der „Kleinen Eiszeit“, S. 68. 11 Pfister, Christian: Klimageschichte der Schweiz 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bern/Stuttgart 1984, S. 116, 119f.; vgl. auch Abel, Wilhelm: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg/Berlin 1974, S. 77.
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Die folgenden Jahrzehnte bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts und noch darüber hinaus bis in die Zeit des 30jährigen Krieges wiesen zwar keine vergleichbare Kette von Missernten auf wie die Jahre von 1569 bis 1573, jedoch blieben sie eine Periode mit etlichen Witterungsanomalien, die zu erneuten kurzfristigen Subsistenzkrisen führten.12 Die Menschen wurden, bevor sie sich von einem Schock erholt hatten, bereits mit dem nächsten konfrontiert.13 Ein chronikalischer Eintrag spiegelt die wechselhaften Verhältnisse dieser letzten Dekaden des 16. Jahrhunderts wider: „Anno 1586 ist die Feldfrucht und allerlei Getreide fast übel geraten, dahero man auch wenig eingesammlet […] Das darauf folgende Jahr war leider nicht viel besser, wie auch gleichfalls das 1588ste Jahr, das 1593ste und das 1594ste. Summa: Es ist nunmehr in die teuren Jahre kommen, davon man lange Zeit zuvor geweissaget hat, und ist wenig Besserung zu hoffen, es komme denn unser lieber Herr Jesus Christus mit dem lieben Jüngsten Tag.“14
Die durch die „Kleine Eiszeit“ bedingten Veränderungen in der Natur und deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen werden im Lichte apokalyptischen Denkens gedeutet. Zwei Komponenten einer teleologischen Weltsicht fließen dabei zusammen: zum einen die bereits auf die Antike zurückgehende Vorstellung vom Altern der Welt, der Mundus senescens-Topos,15 und zum anderen das heilsgeschichtlich-eschatologische Konzept des Weltendes mit dem Jüngsten Gericht. Apokalyptische Ängste und eschatologische Erwartungen stehen somit nebeneinander, das Weltgericht und der „liebe Jüngste Tag“.16 Der Glaube an die apokalyptische Endzeit evozierte zumeist ambivalente Gefühle. Einerseits fürchteten sich die Zeitgenossen vor den in der Bibel prophezeiten Drangsalen der Endzeit, in denen man sich nun schon zu befinden glaubte. Andererseits war die
12 R. Glaser, Klimageschichte Mitteleuropa, S. 124-139; W. Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 99-118. 13 C. Pfister: Weeping in the snow. The Second Period of Little Ice Age-type Impacts, 1570-1630, Bern 2005, S. 83. 14 Vgl. Letzner, Johann: Dasselische und Einbeckische Chronica, Erfurt 1596; zit. nach W. Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 104. 15 Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte: Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 42. 16 Schilling, Johannes: „Der liebe Jüngste Tag. Endzeiterwartung um 1500“, in: M. Jakubowski-Tiessen et al., Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert (1999), S. 15-26.
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Vorstellung des möglichen Weltendes für die Gläubigen stets mit einer Erlösungserwartung verbunden: Die alte Welt wird vergehen, aber „ein neuer Himmel und eine neue Erde“ werden entstehen, wie es in der Offenbarung des Johannes (21,1) heißt.
2.
S TURMFLUTEN – Z EICHEN
DER
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Im Rahmen der theologisch-eschatologischen Deutungstradition wurden Naturkatastrophen in der Frühen Neuzeit stets als Vorboten des Weltendes angesehen. Das zeigen beispielsweise auch die Deutungs- und Erklärungsmuster für frühneuzeitliche Sturmflutkatastrophen.17 Verheerende Sturmfluten sind geradezu als ein präfiguriertes Weltende wahrgenommen worden, wenn sie als „kleine Sintflut“ oder „partielle Sintflut“ bezeichnet werden.18 Johann Matthäus Meyfart, bekannt als ein entschiedener Gegner der Hexenverfolgung,19 berichtet in seinem 1632 veröffentlichten Buch „Das Jüngste Gericht“, kurz vor dem Jüngsten Tag würden sich neben uns „verunruhigen die Oceanischen Meer / und grosse Gefahr denen / die am Ufer wohnen / drohen / und denen / die auff den Fluthen schiffen“20. Und auch an anderer Stelle schreibt er davon, „daß vor dem Jüngsten Gericht der Erdboden erschrecklicher weise
17 Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Gotteszorn und Meereswüten. Deutungen von Sturmfluten vom 16. bis 19. Jahrhundert“, in: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Wahrnehmung, Deutung und Darstellung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (= Literatur und Anthropologie, Band 13), Tübingen 2003, S. 101-118. 18 Die Sturmfluth hätte ihnen „gleichsam eine halbe Sündfluth zum erschrecklichen Anschauen“ vorgestellt, schrieb der Kammerrat Röhmer. Staatsarchiv Oldenburg: Bstd. 26, 1263: Schreiben an die Oldenburger Regierung am 3. Januar 1718; siehe z. B. ferner Georg Johann Hencke: Gott der HErr Als der Rechte Richter / Bey Veranlassung der grossen Wasser=Fluth In Ost=Frießland / wie auch An der Elbe und Weser / Aus dem 29. Psalm, v. 10. In der St. Georgen Kirche zu Glaucha an Halle, Halle [1718], S. 21f; Die Denckmahle der Göttlichen Zorn=Gerichte Uber den grösten Theil von Europa, und sonderlich die an den Küsten der West=See In Nieder=Teutschland Sich befindende Einwohner, Leipzig 1718, S. 3. 19 Trunz, Erich/Meyfart, Johann Matthäus: Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987. 20 J.M. Meyfart: Das Jüngste Gericht, Nürnberg 1632, S. 240.
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soll beweget werden / und die Oceanischen Meere verunruhiget“21. Den vom Meer ausgehenden Gefahren wurde in der Frühen Neuzeit also ein exponierter Platz im Kanon endzeitlicher Zeichen eingeräumt. So lag es nahe, dass die Zeitgenossen große Sturmfluten wie die von 1634 oder 1717 mit dem Ende der Welt in Verbindung brachten. Die schrecklichen Sturmwinde seien, wie der Geistliche Paul Walter im Hinblick auf die Sturmflut von 1634 schreibt,22 „Ermanungen vnd Erinnerungen des nahe vorhandenen jüngsten tages / vnd der Zukunfft des HERRN zum Gerichte“23. In ähnlicher Weise deutet der Nordstrander Pastor Lobedantz diese Sturmflut, indem er seiner Gemeinde verkündet: „ohn Zweiffel sein nun mehr herbey kommen die letzten Zeiten / vnd sinds warlich högstsorgliche betrübte Zeiten / dabey den Menschen- Kindern sehr bang wird.“24 Auch die große Sturmflut des Jahres 1717 wird in vielen Schriften und Predigten als ein Zeichen der Endzeit gedeutet.25 In ein endzeitliches Szenario ordnet beispielsweise der dänische Liederdichter und Buchdrucker Poul Johannes
21 Ebd. 22 Zur Sturmflut von 1634 siehe Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Erschreckliche und unerhörte Wasserflut. Wahrnehmung und Deutung der Flutkatastrophe von 1634“, in: Ders./Lehmann, Hartmut (Hg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 179-200. 23 Walther, Paul: Sturm Predigt: Oder Christliche und Schrifftmässige Erörterung: Woher die grawsame und ungeheure erschreckliche SturmWinde kommen, welcher Gestalt sie anzusehen und wie man sich dabey zuverhalten: Aus Ursachen des newlicher Zeit den 11. Octobr; als am Tage Burchardi, des noch lauffenden 1634. Jahrs, aus dem Süd-Westen, mit einer uberaus grossen Wasserfluht, entstandenen grawsamen und ungeheuren Sturm Windes, Der Christlichen Gemeinde zu S. Marien in Flensburg, den folgenden 16. Octobr ... Publiciret und zum Druck heraus gegeben, Hamburg 1635, S. 29. 24 Lobedantz, Matthias: Ach und Sache Des im Wasser ertrunckenen Marschlandes Nord Strandt. Das ist: Von der übergrossen und grawsamen Wasserfluth / Welche […] den 11. Und 12. Octobr. Dieses Jahrs / in den reichen schönen Marschländern der beyden Fürstenthümben Schleswig und Holstein grossen Jammer angerichtet […]: Eine KlagPredigt und dann Eine / Wie sich die ubergebliebene bey solchem trawrigen Zustand Christ-gebürlich verhalten [...] / Zu Gaickebyl im Nordstrand gehalten / und [...] hervor gegeben, Hamburg 1634, S. 4f. Vgl. auch Copia Aff en Skriffuelse fra en Præst til Jevenstad vdt Holstein [...] Om den store forferdelige Storm oc Waterflod / som sig den 11. Octobr. Aar 1634. Burchardi Nat er tildragit, o. O. 1635. 25 Zur Sturmflut 1717 siehe M. Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992.
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Phoenixberg diese Sturmflut ein:26 Christus habe vorausgesagt, wie es am Ende der Welt zugehen werde. Es werden Zeichen an Sternen, Mond und Sonne erscheinen, Pest, Teuerungen und Hungersnöte geschehen, Kriege ausbrechen, Sturmwinde große Schäden anrichten und die Wellen des Meeres Schiffe umstoßen und Land wegspülen. Gottes Strafe hätten wir vernommen; der Tag des Gerichts sei nun nah.27 Diese apokalyptischen Zeichen eines bevorstehenden Weltendes gehören als Vorstellungen und Bilder zum Erbe der christlichen Kultur und sind über Jahrhunderte in Predigten und in der Ikonographie wachgehalten worden.28 Indem eine Sturmflut als Zeichen der Endzeit gedeutet wird, ist sie, obwohl in ihrer Auswirkung regional begrenzt, ein Ereignis, das letztlich alle Menschen angeht. Denn in eschatologischer Perspektive wird eine solche Katastrophe zu einem globalen Ereignis, wenn sie als ein von Gott gesandtes Prodigium für das allen Menschen bevorstehende Weltende interpretiert wird. Aus dieser Sichtweise erklärt sich nicht zuletzt auch die große Beachtung, welche Naturkatastrophen in der Vormoderne in Schriften unterschiedlicher Art zu Teil wurde − und zwar weit über die Regionen ihres Geschehens hinaus. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1825, wiederum eine große Sturmflut in den Küstenländern der Nordsee enorme Schäden an Deichen und Häusern anrichtete,29 zeigte sich, dass sich Elemente
26 Zu Povel Johannes Phoenixberg siehe Dansk Biografisk Lexikon, Band 11, 1982; Werlauff, Erich: „P.J. Phønixberg – Kiøbenhavns Bogtrykker og Leilighedspoet i Begyndelsen af det attende Aarhundrede“, in: Historisk Tidsskrift, 3. Række, II (1862), S. 1ff, 259ff. 27 P.J. Phoenixberg: En ynckelig Klage-Sang Over den forskrækkelige store Vand=Flod / Som skeede afvigte Juule Hellige Dage, o.O. 1718, o.S.: „Gott eilt gewiß zum Ende, das zeigt alle Creatur [...]“. So schreibt z.B. Gregor Culemann: Das Mit dreyen Fortsetzungen Vermehrte Denck=Mahl Von den hohen Wassers=Fluthen / wie selbige insonderheit in der Wilster=Marsch eingebrochen / Und in den Jahren von 1717. bis 1727. Inclusive in derselben unbeschreiblichen Schaden / und excessive Teich=Kosten verursachet; Nebst denen dabey angemerckten wunderbahren Wercken der Weißheit / Allmacht / Gerechtigkeit / Gnade und väterlichen Vorsorge des grossen und allmächtigen GOTTES, Wilster 1728, S. 81f. Viele weitere Beispiele für die Zeichenhaftigkeit der Sturmflut von 1717 ließen sich anführen. 28 Walter, François: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010, S. 73-93. 29 Zur Sturmflut von 1825 siehe vor allem Arends, Friedrich: Gemählde der Sturmfluten vom 3. bis 5. Februar 1825, Bremen 1826; W. Müller: Beschreibung der Sturmfluthen
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der bisherigen Deutungsmuster teils gehalten, teils verändert hatten. Im Unterschied zu den Lesarten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, welche die Sturmfluten stets auch in eschatologischer Perspektive deuteten, wird die Sturmflut von 1825 zwar nach wie vor als ein Strafgericht Gottes, aber bemerkenswerterweise nicht explizit endzeitlich gedeutet. Die eschatologische Perspektive richtet sich jetzt weniger auf die Wahrnehmung der Endlichkeit dieser Welt als vielmehr auf die Erkenntnis der Endlichkeit individuellen irdischen Lebens. Das Jüngste Gericht ist zwar als Denkfigur noch gegenwärtig, wird aber vor allem als ein auf den einzelnen Menschen bezogenes Geschehen bewertet und dient vornehmlich der eindringlichen Mahnung zur raschen Umkehr.30 „Heut‘ lebst du, Heute wolle dich bekehren. Wer weiß, ob’s morgen möglich ist.“31 − so heißt es in einer Predigt über diese Sturmflut. Es geht folglich eher um eine religiöse Disziplinierung und nicht primär um eine Deutung des Geschehens. Jedoch ist davon auszugehen, dass allein die anschauliche Beschreibung einer verheerenden Naturkatastrophe stets erneut apokalyptische Vorstellungen und Bilder wachzurufen vermochte. Somit bleibt zu konstatieren, dass es im 18. Jahrhundert zwar zu einer Vervielfältigung der Deutungsangebote und zu einer Differenzierung der Deutungen gekommen ist, jedoch noch zu keiner endgültigen Ablösung überlieferter Deutungskonzepte und Erklärungstheorien. Vor allem hat sich die straftheologische Deutung von Naturkatastrophen lange halten können und ist als Vorstellung wohl auch heute noch in unserem kollektiven Bewusstsein präsent.32
an den Ufern der Nordsee am 3. und 4. Februar 1825, Hannover 1825; JakubowskiTiessen, Manfred: „Kein Zurück zur Natur. Wie Romantik und Kommerz die Diskussion über die Halligwelt nach der Sturmflut 1825 prägten“, in: Ders./Klaus-J. Lorenzen-Schmidt (Hg.), Dünger und Dynamit. Beiträge zur Umweltgeschichte SchleswigHolsteins und Dänemarks (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, Band 31), Neumünster 1999, S. 121-136. 30 Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Zeit- und Zukunftsdeutungen in Pietismus und Erweckungsbewegung“, in: Wolfgang Breul/Jan Carsten Schnur (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Band 59), Göttingen 2013, S. 175-191, hier S. 184-190. 31 Thieß, Wilhelm: „Die Wassersnoth. Eine Predigt über 1. Mos. 7,19 bis 23“, Schleswig 1825, wieder abgedruckt in: Ders.: Christus, oder der Stab Sanft. Eine Sammlung christlicher Predigten, Altona 1834, S. 307-320. Zitiert wird nach der 3 Auflage, Schleswig 1855, S. 222-231, hier S. 229. 32 Bemerkenswert ist, dass der Titel des Berichts über den Tsunami von 2004 in der Zeitung „Die Welt“ vom 05.01.2005 lautete: „Die Strafe Gottes“. In der indonesischen
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3.
D ER A USBRUCH T RÄUME
DES
T AMBORA –
CHILIASTISCHE
Dass die religiöse Deutung einer gesellschaftlichen Krise als endzeitliches Geschehen durchaus reale Handlungspraktiken zeitigen konnte, zeigt das folgende Beispiel: Im Jahre 1815 brach der indonesische Vulkan Tambora aus. Der durch die Eruption ausgeworfene Staub und die emittierten Schwefelgase verteilten sich in den hohen Luftströmungen um die ganze Erde, so dass es zu einer Absorption der Sonnenstrahlen und zu einer Abkühlung auf der Erde kam. Die Folge waren verheerende Missernten in den Jahren 1816/17, die noch dadurch besonders katastrophal ausfielen, weil der Vulkanausbruch in einer letzten Phase der „Kleinen Eiszeit“ geschah, in der es in Europa ohnehin schon zu einer Absenkung der Durchschnittstemperaturen gekommen war.33 Eine Region, die von der infolge des Vulkanausbruchs entstandenen Klimaveränderung besonders hart getroffen wurde, war das Herzogtum Württemberg.34 Um der durch die Missernten hervorgerufenen Hungersnot zu entfliehen, packten in den Jahren 1816 und 1817 scharenweise Württemberger Familien ihre
Provinz Aceh wird der Tsunami noch heute als eine Strafe Gottes gedeutet, wie in einem Bericht der „Deutschen Welle“ zu lesen ist: http://www.dw.de/strengerhalbmond-%C3%BCber-mekkas-veranda/a-18148028 (12.1.2015). 33 Bass, Hans-Heinrich: Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band. 8), St. Katharinen 1991; Harington, Charles R: The Year Without a Summer? World Climate in 1816, Ottawa 1992; Stommel, Henry/Stommel, Elizabeth: Volcano Weather. The Story of 1816, the Year Without a Summer, Newport 1983. 34 Zur Hungerkrise in Württemberg siehe Moltmann, Günther: Aufbruch nach Amerika. Die Auswanderungswelle von 1816/17, Stuttgart 1989; Becker, Heinz H.: Die Auswanderung aus Württemberg nach Südrussland 1816-1830, Dissertation Tübingen 1962, S. 26-55; Schnerring, Christian August: „Die Teuerungs- und Hungerjahre 1816 und 1817 in Württemberg“, in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde (1916), S. 45-78. Dort ist auf S. 72-77 die sogenannte „Laichinger Hungerchronik“ angehängt, welche sich als Fälschung erwiesen hat. Dazu Medick, Hans: Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 126), Göttingen 1997, S. 561-579.
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Koffer.35 Ein sehr großer Teil dieser Auswanderer, es waren weit über 10.000 Personen, begab sich auf den Weg gen Osten in das Reich des russischen Zaren Alexander I. Ihr Ziel war die kaukasische Provinz Grusinien, das heutige Georgien. Dass ihr Weg sie gen Osten und beispielsweise nicht nach Amerika führte, wohin andere Württemberger schon vorher ausgewandert waren, war vor allem auf ihre spezifische religiöse Weltsicht zurückzuführen. Die Auswanderer waren zum großen Teil radikale Pietisten, für die die Hungerkrise ein deutliches Zeichen für den Anbruch der Endzeit darstellte. Unter den württembergischen Pietisten hatte sich schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine endzeitliche Gespanntheit aufgebaut, welche nun durch die Zeitereignisse noch verstärkt wurde. Das um 1800 in Württemberg an Virulenz gewinnende eschatologische Denken, die „Apokalyptomanie“, wie es ein Anhänger der Aufklärung spöttisch nannte, ist auf die theologische Lehre Johann Albrecht Bengels, des einflussreichsten und bekanntesten Württemberger Pietisten des 18. Jahrhunderts, zurückzuführen. Bengel hatte ein eschatologisches Konzept entwickelt, das chiliastisch geprägt war. Seine eschatologischen Zukunftserwartungen standen in einer theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Tradition, die sich zwei Generationen zuvor im Pietismus herausgebildet hatte. Mit dem Chiliasmus verbunden war die Naherwartung, die Hoffnung auf den baldigen Anbruch eines Tausendjährigen Friedensreiches.36 Seine chiliastische Vorstellungen, die im Wesentlichen auf einer intensiven Beschäftigung mit der Offenbarung des Johannes beruhten, hatten Bengel zu umständlichen Berechnungen über den Zeitpunkt des Anbruchs des Tausendjährigen Reiches motiviert. Nach seinen Berechnungen sollte dies am 18. Juni 1836 geschehen. Die Rezeption des Bengelschen Chiliasmus mit seiner konkreten Datierung hat wesentlich dazu beigetragen, die endzeitlichen Träume der württembergischen Pietisten zu stimulieren und chiliastische Hoffnungen zu verstärken − und das umso mehr, als die Zeichen der Zeit, wozu die Hungersnot ohne Frage gehörte, auf den nahen Anbruch des Tausendjährigen Reiches untrüglich hinzudeuten schienen. Die Bengelsche Eschatologie wurde durch seine Schüler popularisiert und die erwartete „güldene Zeit“ schließlich in bunten Farben ausge-
35 Zum Folgenden siehe Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Apokalypse now – Endzeitvorstellungen im Pietismus“, in: Bernd U. Schipper/Georg Plasger (Hg.), Apokalyptik und kein Ende?, Göttingen 2007, S. 93-116. 36 Als Chiliasmus bezeichnet man die Vorstellung einer tausend Jahre umfassenden Zeitspanne unmittelbar vor dem Jüngsten Gericht, in der Christus auf die Erde zurückkehren werde, um gemeinsam mit den auferweckten Heiligen in einem Friedensreich gemäß Offb 20,2f. zu regieren.
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schmückt. Es wurde geradezu ein Paradies auf Erden für die letzten Zeiten dieser Welt gezeichnet, gewissermaßen als Gegenbild zur Gegenwart mit ihrer Not und ihrem Leid. Im Spiegel dieser paradiesischen Traumbilder erschien die Gegenwart noch düsterer als sie ohnehin schon war. Die chiliastischen Entwürfe Bengels und seiner Schüler waren postmillenaristisch konzipiert, das heißt die Wiederkunft Christi auf Erden wurde erst am Ende des Tausendjährigen Reichs erwartet. Während des Tausendjährigen Reiches übte Christus seine Herrschaft noch vom Himmel aus. In der populären Rezeption dieser eschatologischen Entwürfe veränderte sich der Postmillenarismus jedoch zu einem prämillenaristischen Konzept, nach dem die leibliche Wiederkunft Christi bereits am Anfang des Tausendjährigen Reiches geschehen solle, was die religiöse Erregung der hungerleidenden Württemberger noch stärker beflügelte als Bengels postmillenaristisches Konzept. Viele Württemberger Pietisten waren der festen Überzeugung, dass die baldige Wiederkunft Christi und der Aufbau seines Reiches vom Heiligen Land aus geschehen würden. Die pietistischen Auswanderer wären deshalb am liebsten nach Jerusalem gezogen. Da ihnen der Weg dorthin aber durch das Osmanische Reich versperrt war, wollte man zumindest dem aus Palästina wiederkehrenden Christus entgegengehen und dem Heiligen Land so nahe wie möglich sein. Aus diesem Grund suchte man nun einen im Osten gelegenen „Bergungsort“, der dem Heiligen Land am nächsten lag, und das war eben das heutige Georgien.
4.
K ONZEPTE
ENDZEITLICHER
V ORSTELLUNGEN
Wie die Fallbeispiele zeigen, lassen sich endzeitliche Vorstellungen vor dem Hintergrund von Naturkatastrophen in der Vormoderne vier unterschiedlichen Konzepten zuordnen: Zum einen wird im Rahmen kosmologischer Diskurse die antike Vorstellung vom Altern der Welt neu belebt. Die Erde wird bereits als gebrechlich und altersschwach wahrgenommen und ihr Ende ist somit abzusehen. In engem Zusammenhang mit dieser Deutung steht die biblisch tradierte Vorstellung vom Jüngsten Tag mit dem endzeitlichen Gottesgericht, welches als ein die Weltgeschichte abschließendes Gericht angesehen wird. Als eine spezifische Form apokalyptischer Konzepte ist ferner die Lehre des Chiliasmus anzuführen, also die Vorstellung von einem verzögerten Ende der Welt. Dem Jüngsten Gericht sind nach dieser eschatologischen Version noch einmal paradiesähnliche Verhältnisse auf Erden vorgelagert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam schließlich eine neue Deutungsvariante hinzu. Mit der Deutung von Naturkatastrophen ist seitdem eine individual-eschatologische Perspektive verbunden. Die
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Konfrontation mit der Katastrophe soll zur Selbstbesinnung führen. Das apokalyptische Geschehen verdichtet sich nun im Offenbarwerden der eigenen Sündhaftigkeit. Nicht mehr das apokalyptische Weltende, sondern einzig das jederzeit mögliche, eigene Ende des Menschen tritt angesichts der Naturkatastrophe in den Mittelpunkt eschatologischer Betrachtungen. Apokalyptische Vorstellungen und apokalyptisches Bewusstsein beziehen stets die Dimension der Zukunft mit ein. Die Bedeutung der Gegenwart ist in dieser Perspektive nicht nur durch die Vergangenheit bestimmt, sondern zugleich auch durch die Zukunft.37 Diese wird zur Folie, vor deren Hintergrund die Deutung der Gegenwart geschieht. Die Hoffnung auf einen „neuen Himmel und eine neue Erde“ wird zum Gegenbild einer unvollkommenen gegenwärtigen Welt. Die Apokalyptik ist deshalb nicht nur als ein Krisensymptom, sondern ebenfalls als ein Lösungs- und Bewältigungsversuch einer Krise zu verstehen. Apokalyptisches Denken ist – wie Ulrich Körtner betont – eine spezifische Form der Verarbeitung von Angst: ein Versuch, die Wahrnehmung der Endlichkeit als Ausweglosigkeit zu überwinden.38
37 Seiwert, Hubert: „Einleitung: Das Ende der Welt als Deutung der Gegenwart“, in: Adam Jones (Hg.), Weltende. Beiträge zur Kultur- und Religionswissenschaft, Wiesbaden 1999, S. 1-13, hier S. 2. 38 Körtner, Ulrich H. J.: Weltangst und Weltende: eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988.
Radikale Endlichkeit in chinesischen Perspektiven A NGELIKA C. M ESSNER
Es sind im Wesentlichen drei Phänomene der Erfahrung radikaler Endlichkeit1 in der gegenwärtigen VR China, die hier zur Disposition stehen. Das erste verweist auf die abrupte Ablösung gesellschaftspolitischer Modelle und den entsprechenden medienwirksam verlautbarten politischen Paroli in den 1950er, 1960er, 1970er und 1980er Jahren. Der mit den Reformen 1978 einsetzende Ordnungsverlust geht einher mit Destabilisierung sozialer Organisationen, Korruption, Unsicherheit und Konfliktpotential, und mit einer sich drastisch öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, die sich zudem zwischen den Regionen und zwischen Stadt und Land auftut. 2 Indigene Soziologen sprechen in diesem Zu-
1
Radikale Endlichkeit verweist auf die Erfahrung einer absoluten Grenze bzw. der Erfahrung, dass es keinen menschlichen Aspekt gibt, der nicht endlich ist. Siehe hierzu beispielhaft Barwasser, Carsten: Theologie der Kultur und Hermeneutik als Glaubenserfahrung. Zur Gotteserfahrung und Glaubensverantwortung bei Edward Schillbeeckx OP (= Religion-Geschichte-Gesellschaft: Fundamentaltheologische Studien, Band 47), Berlin 2010, S. 311.
2
Vgl. Heberer, Thomas: „Soziale Herausforderungen im städtischen und ländlichen Raum“, in: Doris Fischer/Michael Lackner (Hg.), Länderbericht China. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, (= Bundeszentrale für politische Bildung, Band 63), Bonn 2007, S. 463-490; Yan, Yunxiang: „The Individualization of Chinese Society (= London School of Economics Monographs on Social Anthropology, Band 77), Oxford/New York/Berg 2009; Halkov Hansen, Mette et al. (Hg.): iChina. The Rise of the Individual in Modern Chinese Society, Kopenhagen 2010; Florini, An/Lai, Hairong/Tan, Yeling (Hg.): China Experiments. From Local Innovations to National
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sammenhang von einer zerrissenen und gebrochenen (duanlie shehui 断裂社会)3 Gesellschaft. Das zweite Phänomen radikaler Endlichkeit ist mit biologischen Veränderungen verknüpft, die gleichermaßen auch sozialer Natur sind: der rapide demographische Wandel in Form der „beschleunigten Alterung“.4 Ende 2013 zählte das Ministerium für Ziviles der VR-China 中华人民共和国民政部 über zweihundert Millionen (202.430.000) Menschen, die die sechzig Lebensjahre überschritten haben. Dies sind 14.9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Davon sind 131.610.000 Menschen über 65 Jahre alt, was 9.7 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht.5 Das abnehmende Bevölkerungswachstum während der vergangenen 20 Jahre führt zu rapiden Veränderungen in der Alterungspyramide, und das damit einhergehende radikal „beschleunigte Altern“ wird sich laut UNPrognosen in der VR China so auswirken, dass um 2025 an die 30 Prozent Bevölkerungsanteile mit über Sechzigjährigen besetzt sein werden.6 Wesentlichen Anteil an dieser Situation hat die Ein-Kind-Politik, die 1978 einsetzte und wodurch das „demographische Fenster“7 geöffnet wurde. Mit dem demographischen Fenster wird die Zeitspanne bezeichnet, während der ein zahlenmäßig großer Bestand an Arbeitskräften den Unterhalt von wenigen, jungen und älteren Abhängigen (Gesamtabhängigkeitsquotient) erwirtschaftet. Diese relativ kurze Zeitspanne der Möglichkeit, in das eigene Wirtschaftswachstum zu investieren, wird begrenzt durch die durch den Rückgang der Geburtenrate bedingte Alte-
Reform 2012; Wang, Guangwu/Yong-Nian, Zheng: China: Development and Governance, Singapur 2013. 3
Vgl. hierzu stellvertretend Sun Liping: 孙立平,Duanlie Ershi shiji jiushi niandai yilai Zhongguo shehui „断裂“ 二十世纪 九十年代以来中国社会 (Frakturen: Die chinesische Gesellschaft der 1990er Jahre), Peking 2003.
4
Beschleunigtes Altern verweist darauf, dass sich gegenwärtig die Auswirkungen der 1978 eingeführten Ein-Kind-Politik dahingehend zeigen: Durch die Abnahme der Geburtenraten wird der Anteil der Bevölkerung im Arbeitsalter drastisch reduziert und der Alterungsprozess der Gesamtgesellschaft zusätzlich zum allgemeinen biologischen Anstieg der Lebenserwartung „künstlich“ beschleunigt.
5
Das Statistische Bulletin über die Sozialleistungen und deren Entwicklung der Volksrepublik China im Jahr 2013 wurde vom Ministry of Civil Affairs of the People’s Republic of China am 17.06.2014 veröffentlicht: http://www.mca.gov.cn/article/zwgk/ mzyw/201406/20140600654488.shtml (15.11.2014).
6
Vgl. Politik und Zeitgeschichte: http://www.crp-infotec.de/03welt/vergleichglobal/
7
Vgl. Porter, Michael E.: The Competitive Advantage of Nations, S. 73-93.
weltvolk.html (15.11.2014).
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rung der Bevölkerung. Dann schließt sich das demographische Fenster wieder. Für die VR China datiert die UN das demographische Fenster auf den Zeitraum zwischen 1982 und 1990.8 Der Niedergang der Geburtenrate ermöglichte demnach das explosive Wirtschaftswachstum. Heute, nur 20 Jahre später, wird die ein-Kind-Politik dahingehend geändert, dass nun auch Familien in urbanen Kontexten zwei Kinder bekommen dürfen.9 Das dritte Phänomen radikaler Endlichkeit ist, mit Blick auf Menschen in ihrer letzten Lebensphase, in den heterogenen Konstellationen zu suchen, in denen Menschen, Dinge und Infrastrukturen interagieren. Meine anvisierte Forschung zum Thema „Emotionswissen und -praktiken chinesischer Alternder“10 sucht das aktuale Verhältnis zwischen den Praktiken im kreativen, aktiven Leben (bios) und dem staatlichen Machtapparat, der seine Rechte auf das nackte Leben (zoë)11 beansprucht, auszuloten und einzuordnen. Die Frage nach dem spezifischen Zusammenhang von Emotionen, dem Selbst, der sozialen Ordnung und medikalen Räumen im Allgemeinen und angesichts des herannahenden Todes im Besonderen ist der Beobachtung geschuldet, dass die Zusammenführung von Sozial- und Gesundheitsdaten Einsichten in die grundlegenden Wirkungspfade über die somatischen Sedimentierungen sozialer Schieflagen, Ungerechtigkeiten und Un-
8
Vgl. hierzu Yan, Hao: „Can China Continue to Reap its Demographic Dividend in Economic Growth?“, in: G. Wang/Z. Yongnian (Hg.), China: Development and Governance, S. 265-275.
9
Mit Verweis auf den Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im November 2013 wurde die Lockerung der Ein-Kind-Politik verlautbart; vgl. Schucher, Günter/Noesselt, Nele: Weichenstellung für Systemerhalt: Reformbeschluss der Kommunistischen Partei Chinas, für das German Institute of Global and Area Studies 2013.
10 http://www.collegiumphilosophicum.uni-kiel.de/de/projektkollegien/projektkollegerfahrung-und-umgang-mit-endlichkeit-1 (10.2.2015). Hierfür habe ich in Kooperation mit Kollegen der Zhejiang-Universität – in fünf verschiedenen Ambulanzen der chinesischen Medizin (Zhongyi menzhen bu 中医门诊部 ) vom September bis Oktober 2013 und im Juni 2014 – in Hangzhou (die Hauptstadt der Provinz Zhejiang, liegt ca. 190 km südwestlich von Shanghai) Feldforschungen durchgeführt. 11 Zu generellen Überlegungen in dieser Hinsicht siehe Fassin, Didier: „Von den Politiken des Lebens zur Ethik des Überlebens. Ein genealogischer und biographischer Ansatz“, in: Jörg Niewöhner/Janina Kehr/Joëlle Vailly (Hg.), Leben in Gesellschaft. Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften, Bielefeld 2011, S. 29-53.
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gleichheiten zu eröffnen vermag.12 Im Rahmen meiner Forschung wird zu zeigen sein, inwiefern im gegenwärtigen chinesischen Kontext das biologische Leben und das biographische Leben sich in den Alltagspraktiken, wozu wesentlich auch die täglich forcierte Fürsorge für die eigene Gesundheit im Alternsprozess gehört, miteinander verschränken oder auch nicht. Mit dem Fokus auf diejenigen, die auf der Verliererseite des Wirtschaftswachstums stehen, den Alternden, wird meine Forschung auszuloten suchen, auf welche Weise ihre Alltagspraktiken sich als „Freiräume“ erweisen, die es erlauben „zu flüchten, ohne zu verschwinden“13. Die drei genannten Phänomene radikaler Endlichkeit erscheinen in der gegenwärtigen VR China als Elemente differenter Realitäten, die wiederum mannigfaltige Facetten aufweisen. Die Radikalität des Wandels, die mit den Reformen 1978 einsetzt und sehr schnell mit der Rhetorik der Transition (zhuanxingqi 转型期)14 verquickt wurde, prägt in gleichem Maße den politischen Diskurs wie die Lebensverläufe der Menschen landauf und landab. So sind die Aspekte der radikalen Zeitlichkeit und Endlichkeit von kulturellen und biologischen Zeitverläufen unumgänglich mitzudenken, wenn es um Fragen nach den Auswirkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels auf die Lebensverhältnisse von Menschen geht. Während die soziologische Perspektive den Makro-Modus des rasanten gesellschaftlichen Wandels im Blick hat, fokussiert die disziplinäre Aufmerksamkeit meiner Forschung die Mikro-Welten der Ambulanzen, um die vergleichsweise kleinen abgegrenzten Räume (Ambulanzen) und deren Interieur, in den Dimensionen des Wandels15 und das Tun (der beobachteten Menschen) im Modus der Begegnung16 zu untersuchen. Dabei sollen Momente des subjekti-
12 Siehe hierzu u.a. Bauer, Susanne: „Formationen des ‚Sozialen‘ in Biomedizin und Lebenswissenschaften“, in: J. Niewöhner/J. Kehr/J. Vailly (Hg.), Leben in Gesellschaft. Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften, S. 331-359. 13 In Anlehnung an De Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life, Berkeley 1984, S. 99-110. 14 Transition verweist auf die dynamischen Übergangsprozesse von ehedem kollektiv organisierten Institutionen und Arbeitsverhältnissen hin zu privat, dezentral und kommerziell Betriebenen; vgl. Liping, Sun: „Transition Sociology Trends and New Prospects“, in: Laurence Roulleau-Berger (Hg.), European and Chinese Sociologies: A New Dialogue, Leiden 2012, S. 75-81. 15 Vgl. L. Roulleau-Berger: European and Chinese Sociologies: A New Dialogue, S. 3-17. 16 Mit Verweis auf die Ethnographie als eine besondere Form von Begegnungswissen sehen; vgl. hierzu Knecht, Michi: „Ethnographische Praxis im Feld der Wissen-
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ven Betroffen-Seins, der Vulnerabilitäten aber auch der Potentialitäten fokussiert werden, die soziale und biologische Transformationsprozesse im Kleinen (im jeweils individuell gelebten Leben) wie im Großen (im sozialen Raum) mit sich bringen. Es wird auch darum gehen, die Wechselwirkungen zu eruieren, die erwartungsgemäß zwischen den sozialen und den biologischen Transformationsprozessen, und im jeweils partikularen, gelebten Leben und dem Zusammenwirken im größeren Gesellschaftsgefüge stattfinden. Dieser Beitrag changiert zwischen den Ergebnissen demographischer Statistiken und soziologischer Untersuchungen zum Thema „Altern“ und den ersten vorläufigen Befunden zweier Feldaufenthalte, die ich jeweils 2013 und 2014 in Ambulanzen in Hangzhou absolviert habe. Ich stelle mich im Folgenden dem Nebeneinander von sich schnell auflösenden homogenen Altersbildern und dem gleichzeitigen Fortbestehen beziehungsweise Heraufbeschwören traditioneller Alters-Semantiken, womit die Einbeziehung unterschiedlicher BeobachtungsEbenen notwendig wird. Der erste Abschnitt „Altern im Gemengegelage demographischer Entwicklungen“ skizziert die groben Linien von Daten und Fakten, aber auch die Rhetorik rund um die „beschleunigte Alterung“ Chinas. Der zweite Abschnitt „Altern und die Auflösung sozialer Formen“ ist mit der Darlegung von Rissen befasst, die sich gegenwärtig durch die Morallandschaften Chinas ziehen. Hohe Depressions- und Suizidraten unter chinesischen Alternden sprechen dahingehend eine deutliche Sprache. Doch wie sehen all diejenigen Alternden die Lage, die sich täglich trotz mangelnder öffentlicher Gesundheitsfürsorge zu Millionen in den Ambulanzen einfinden? Was tun sie und wie interagieren sie? Mit diesen Fragen ist der dritte Abschnitt „Gefühlslagen und Befindlichkeiten Alternder“ befasst. Im vierten Abschnitt „Auszüge aus einem Werkstattbericht“ kommen Fragmente aus den Feldforschungsaufenthalten zur Sprache. Im Résumé „Gegenreden und die Ethik des Überlebens“ werde ich schließlich vorläufige Befunde aus den Feldforschungsaufenthalten zusammenfassen.
schafts-, Medizin- und Technikanthropologie“, in: Stefan Beck/Jörg Niewöhner/Estrid Sorensen (Hg.), Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012, S. 254-274.
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1.
A LTERN IM G EMENGEGELAGE E NTWICKLUNGEN
DEMOGRAPHISCHER
Die eingangs angeführten Zahlen und Fakten vonseiten des Ministeriums für Ziviles der VR China 中华人民共和国民政部17 dienen zusammen mit der Prognose, wonach sehr bald etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung über sechzig Jahre alt sein wird,18 als politische Entscheidungsgrundlage für die Gestaltung der Renten- und Gesundheitsversorgung. Damit ist das zweite Phänomen angesprochen, in dem sich in der VR China die radikale Endlichkeit und Temporalität von sozialen und biologischen Realitäten zeigt: die „beschleunigte Alterung“ – 个更为快速的老龄化. Damit wird die Beobachtung benannt, wonach Chinesen vergleichsweise schneller altern als Menschen in der westlichen Hemisphäre: Während in Mitteleuropa sich der Prozess des demographischen Wandels, den China derzeit erlebt, über einen Zeitraum von 100 Jahren erstreckt hat, geschieht dies in China innerhalb von 25 Jahren. Dieses Phänomen betrifft immer mehr Menschen, die, weil sie immer länger leben, Platz in der sozialen Welt beanspruchen. Weil gegenwärtig die erste Generation der „Ein-Kind-Politik“19 in Rente geht, geriert die Alterungsrate von 25 Prozent, in Verbindung mit dem so genannten 4-2-1-Problem, eine neue Situation: Ein Einzelner muss im Notfall für die beiden Elternteile und für die vier Großelternteile sorgen. Dazu später mehr. Die Rede von der „stillen demographischen Revolution“20 beunruhigt angesichts der zusätzlich steigenden Krankenversicherungs- und Rentenausgaben, und des drohenden sozialen Unruhepotentials. Nicht nur ist China das Land mit dem weltweit größten Potential des rasch wachsenden Wirtschaftszweiges Al-
17 Statistisches Bulletin über die Sozialleistungen und deren Entwicklung im Jahr 2013: http://www.mca.gov.cn/article/zwgk/mzyw/201406/20140600654488.shtml (15.11. 2014). 18 Hierbei stützt man sich auf UN-Prognosen; vgl. Politik und Zeitgeschichte: http://www.crp-infotec.de/03welt/vergleichglobal/weltvolk.html (15. 11. 2014). 19 Im Jahr 1978 erließ die chinesische Regierung das Gesetz, wonach nur noch EinKind-Familien erlaubt waren. Ausnahmen bildeten Minderheiten und ein Elternpaar, die jeweils beide bereits ein Einzelkind waren. 20 Davon spricht auch der UNO-Sekretär Kofi A. Annan anlässlich der Zweiten Weltkonferenz zu Fragen des Alterns, im Jahre 2002 in Madrid; siehe auch Schoettli, Urs: Chinas demographische Revolution. Altersvorsorge als neue nationale Aufgabe: https://www.notenstein.ch/sites/default/files/publications/fokusasien_07_2012_einzel seiten.pdf vom 10.11.2014.
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tersfürsorge, sondern China befindet sich führenden Wissenschaftlern des Think Tanks „China Development Research Foundation, Zhongguo jingji yanjiu 中国经济研究“ zufolge auch an einem historischen Wendepunkt.21 Der langanhaltenden Obsession für die statistische Erfassung jedweder Phänomene und Lebensregungen in der VR China ist es geschuldet, wenn Wissenschaftler, insbesondere Sozial- und Umweltwissenschaftler der renommierten CASS (Chinese Academy of Social Sciences, 中国社会科学院), seit 1997 regelmäßig Lageberichte zu allen Bereichen der Gesellschaft verfassen. Sie legen diese „Blaubücher“22 – wegen ihrer Umschlagfarbe „blau“ so bezeichnet –, jeweils zum Jahresende der Regierung vor, um allfällige Reformen anzustoßen. Inzwischen ist die Anzahl der Blaubücher auf 180 angewachsen. Dass nun im Februar 2013 das erste „Blaubuch zum Altern“(老龄蓝皮书)herauskam,23 und dann bereits im Herbst 2014 ein Blaubuch zur Marktsituation in der Altenbetreuung folgte, hängt nicht nur mit den UN-Prognosen zusammen, wonach bereits im Jahre 2025 die über Sechzig-Jährigen rund 30 Prozent der chinesischen Bevölkerung ausmachen werden.24 „Altern“ gehört gegenwärtig zu den Themen höchster politischer und sozialer Brisanz in der VR China, denn es ist mit ungelösten Fragen der Alters-, Renten- und Pflegeversorgung verquickt. So kommt es nicht von ungefähr, dass in der neuesten Regierungskonsultation, die am 10. Oktober 2014 zwischen dem chinesischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin unterzeichnet wurde, insbesondere der Dialog und Erfahrungsaustausch zum Aufbau eines modernen Gesundheitssystems betont wird. Neben Fragen der Sozialpolitik, der sozialen Sicherungssysteme und der Beschäftigungspolitik kommen insbesondere innovative Maßnahmen zur Bewältigung
21 Vgl. Demographic Developments in China, China Development Research Foundation. Abingdon/Oxon/New York, 2014, S. 3. 22 Schon lange thematisieren diese Blaubücher nicht nur die ökonomische Situation Chinas, sondern wesentlich auch sozialpolitische Krisen, die sich an Land- und Bodenstreit, Landenteignungen sowie mit Ungleichheiten und Ungerechtigkeit in der Entlohnung sowie an Umweltsünden entzünden. Zu letzterem siehe Erling, Johnny: „China drohen gewalttätiger Aufruhr und Chaos“‘, in: Die Welt, vom 26.12.2012: http://www.welt.de/politik/ausland/article112233257/China-drohen-gewalttaetigerAufruhr-und-Chaos.html (15. 11. 2014). 23 „中国老龄事业发展报告 (Der Entwicklungsbericht zur Alterung in China)“ wird im Auftrag der Regierung veröffentlicht: http://wenku.baidu.com/view/ebd432472e3f57 27a5e962e8.html (21.12.2014). 24 Vgl. Politik und Zeitgeschichte: http://www.crp-infotec.de/03welt/vergleichglobal/ weltvolk.html (15.11.2014).
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von landesspezifischen wie auch globalen Problemen hinsichtlich der Alterung der Gesellschaft in den Blick.25 Der rapide demographische Wandel schwebt wie ein Damoklesschwert über der chinesischen Erfolgsgeschichte. Hierbei können nicht nur die ansteigenden Selbstmordzahlen und Depressionsfälle unter Alternden,26 sondern auch die jährlich durchschnittlich 200.000 Protestaktionen auf den Straßen kleinerer und größerer Städte als unübersehbare Indizien gelten.27
2.
A LTERN
UND DIE
A UFLÖSUNG
SOZIALER
F ORMEN
Einer immer wieder angeführten These zufolge zeichnet sich die Moderne durch deutliche Individualisierungs- und Subjektivierungsschübe aus. Diese Prozesse gehen nicht ohne ihre Imprägnierungen im jeweiligen Gefühlswissen und -verhalten vonstatten, das wussten schon Norbert Elias und seine späteren Kritiker.28 Bis heute ist das Interesse für die kulturellen Varianzen von Emotionsre-
25 Aktionsrahmen für die deutsch-chinesische Zusammenarbeit, 10.10.2014: http://news.xinhuanet.com/world/2014-10/11/c_1112772707.htm (28.10.2014). 26 Siehe C. Beifeng: Zur Veränderung der Relationen zwischen den Generationen und dem Suizid unter alten Menschen, S. 1-21; Lee, Sing: „Depression: Coming of Age in China“, in: Arthur Kleinman et al. (Hg.), Deep China. The Moral Life of the Person. What Anthropology and Psychiatry Tell Us about China Today, Berkeley/Los Angeles/London 2011, S. 177-212; Wu, Fei: „Suicide, a Modern Problem in China“, in: A. Kleimann et al. (Hg.), Deep China. The Moral Life of the Person. What Anthropology and Psychiatry Tell us about China Today, S. 213-236; Hendin, Herbert et al. (Hg.), Suicide and Suicide Prevention in Asia. World Health Organization, Department of Mental Health and Substance Abuse, Geneva 2008. 27 Vgl. hierzu Egger, Georg et al.: „Arbeitskämpfe in China. Eine Einleitung“, in: Diess. (Hg.), Arbeitskämpfe in China, Wien 2013, S. 11-22; vgl. auch N.N.: „China – Das Land der Proteste und Demonstrationen“, in: Yukidaruma Daily vom 14.08.2014: https://oyukidaruma.wordpress.com/2014/08/14/china-das-land-der-proteste-unddemonstrationen/ vom 10.1.2015. 28 Vgl. hierzu Frevert, Ute: „Gefühle definieren: Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten“, in: Ute Frevert et al. (Hg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011, S. 9-40, hier S. 13.
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geln, Emotionswelten und Emotionswissen unter Ethnologen und Historikern westlicher Provenienz groß.29 Auch westliche Gesundheitsbehörden und Pharmaindustrien interessieren sich für die Ängste und Hoffnungen im gegenwärtigen China. So weist etwa die neueste Studie der britischen Gesundheitsbehörde (Bupa) nach, dass chinesische Alternde nicht mehr einen frühen Tod fürchten, sondern ein langes, ausgedehntes Leben – wegen drohender finanzieller Notlagen und chronischer Krankheiten im Alter.30 Allerdings, ob die steigenden Suizidraten sowie die Depressionserscheinungen und Angstzustände unter Alternden mit der eingangs explizierten spezifischen Erfahrung der radikalen Endlichkeit des ehedem kollektivistisch organisierten Lebens in Zusammenhang stehen, oder ob diese Zahlen vielmehr als Schattenseiten des geforderten „flexiblen Menschen“ in kapitalistischen Gesellschaften31 zu werten sind, lässt sich weder beweisen noch abschließend entscheiden. Fest steht, dass sich die Menschen den gegenwärtigen rasanten Transformationsprozessen von einer kollektivistisch organisierten Gesellschaft hin zu einer individualistisch strukturierten Sozialwelt nicht entziehen können. Dabei spielt die Auflösung „sozialer Formen“, wie sie etwa Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim als zentrale Aspekte von Individualisationsprozessen beschrieben haben,32 eine große Rolle. Verunsicherung und Hilflosigkeit werden allent-
29 Siehe den diesbezüglichen Forschungsüberblick in Hinblick auf die chinesische Geschichte bei Messner, Angelika C.: „Towards a History of the Corporeal Dimensions of Emotions: The Case of Pain“, in: Asiatische Studien/Études Asiatiques 4 (2013), S. 943-972; Messner, Angelika C.: „Aspects of Emotion in Late Imperial China. Editor Ethnographische Praxis im Feld der Wissenschafts-, Medizin- und Technikanthropologie’s Introduction to the Thematic Section“, in: Asiatische Studien/Études Asiatiques 4, S. 893-913. 30 http://www.lse.ac.uk/businessAndConsultancy/LSEConsulting/pdf/bupa.pdf 2014);
(25.11.
http://www.medicaldaily.com/90-people-dementia-and-depression-china-are-
undiagnosed-248046: http://www.spiegel.de/spiegel/a-715714-4.html (25.11. 2014). 31 Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. 32 Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: „Foreword: Varieties of Individualization“, in: Hansen, Mette Halskow/Rune Svarerud (Hg.), iChina. The Rise of the Individual in Modern Chinese Society. Foreword by Ulrich Beck and Elisabeth Beck-Gernsheim. Nordic Institute of Asian Studies, Kopenhagen 2010, S. xiii-xx.
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halben als Begleiterscheinungen der Auflösung, etwa der Familienverbände, genannt.33 Die Familie stand, in Theorie und zumeist auch in der Praxis, bislang für die Fürsorge alter und kranker Mitglieder ein. Mit der Lockerung des hukou户 口Systems (Haushaltsregistrierung) in den 1990er Jahren vermochten mehr und mehr Menschen in die Städte zu ziehen, um bessere Arbeit zu finden. Das deutlich erhöhte Mobilitätsaufkommen führte dazu, dass alte Menschen alleine zurück bleiben, was eine erhebliche Veränderung in den Familienstrukturen bewirkt hat. Die im ländlichen Raum ohnehin noch nicht flächendeckend eingeführte Gesundheits- und Rentenfürsorge vermag den dadurch verursachten Mangel nicht auszugleichen. Die Vulnerabilitäten der Bevölkerung in den rasend schnell wachsenden Metropolen, die gravierenden Unterschiede, die sich im Verlaufe von Landenteignung und Umsiedelungsprojekten auf dem Land,34 sowie im Verlaufe von Privatisierung und Kommerzialisierung insbesondere in den medizinischen und rententechnischen Absicherungsmodalitäten in Stadt und Land, zeigen,35 sind allenthalben bekannt. Dabei scheinen die wirtschaftlich bedingten Ungleichheiten und Differenzen nicht einmal so schwer ins Gewicht zu fallen, wie die wahrgenommenen Unstimmigkeiten zwischen Stadt und Land, zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen Alt und Jung, zwischen verabschiedeten sozialistischen Utopien und neuerdings wieder entdeckten konfuzianisch induzierten Moralwelten. Die romantischen Bilder des maoisti-
33 Zhou Xiaohong周晓虹: „冲突与认同:全球化背景下的代际关系“ (Konflikte und Identität: Das Verhältnis zwischen den Generationen in der Globalisierung), in: 《社会》Gesellschaft, Nr. 2 (2008), http://www.sachina.edu.cn/Htmldata/article/2008/12/1692.html (21.12.2014). 34 Siehe hierzu insbesondere Li Hanlin et al.: „李汉林 渠敬东 夏 传令 组织 和制度 变迁的社会程。 种拟议的综合分析“ (Der gesellschaftliche Prozess des Wandels von Organisationen und Systemen. Entwurf einer zusammenfassenden Analyse), in: 中国社会科学 Chinese Social Sciences 1 (2005), S. 94-10; Schirmer, Dominique: Soziologie und Lebensstilforschung in der VR China. Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels, Bielefeld 2004. 35 Vgl. hierzu grundlegend Zhang, Hong: „The New Realities of Aging in Contemporary China: Coping with the Decline in Family Care“, in: Jan Sokolovsky (Hg.): The Cultural Context of Aging. Worldwide Perspectives, Westport/Connecticut/London 2009, S. 198-202.
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schen Utopismus existieren weiter inmitten des Konsumismus, der als „soziales Palliativ“, als sozialer Kitt der Gesellschaft fungieren soll.36 Die Dinge verschieben sich auch in psychophysischer Hinsicht: Die auf durchschnittlich dreißig erwerbslose Jahre angewachsene „Alterszeit“37 droht mit chronischen Krankheiten (Demenz, Parkinson und Bettlägerigkeit) einherzugehen, womit Fragen nach der medizinischen Betreuung und Pflege ins Spiel kommen, die, auch wenn wiederholte Meldungen über die öffentlichen Bemühungen um die Alternden beschwichtigen sollen, zumindest auf dem Land bei Weitem nicht flächendeckend gegeben ist. Man zählte Ende 2013 landesweit 2.571 Einrichtungen (老龄事业单位) für alte Menschen und deren Belange; 21.000 Care-Center für die juristische Unterstützung Alternder (老年法律援助中心); 78.000 Koordinations-Organisationen, um die Rechte der alten Menschen zu systematisieren (老年维权协调组织); 54.000 Schulen für alte Menschen (老年学校), die von insgesamt 6.920.000 Menschen besucht worden seien; 360.000 Einrichtungen für Hobby- und Sportaktivitäten für Ältere (老年活动室); 42.475 Einrichtungen zur Altersversorgung mit insgesamt 4.937.000 Betten. Somit kommen auf je 1.000 Alternde 24,4 Betten in einem Altersheim. Davon dienten 641.000 Betten als Tagesbetten in Wohnheimen, in denen man Ende 2013 insgesamt 3.074.000 Alternde zählte.38 Diese Zahlen sollen beruhigen, sie belegen aber auch, dass der Bedarf an Versorgung in Pflegeheimen und Krankenhäusern bei Weitem nicht abgedeckt ist, und dass Altern ein einträgliches Geschäft für Investoren in der Alterspflege
36 Siehe Croll, Elisabeth: China’s New Consumers. Social development and domestic demand, Abingdon/Oxon 2006; Latham, Kevin: „Den Konsum überdenken: Soziale Palliative und Rhetorik der Transition im postsozialistischen China“, in: Christopher Hann (Hg.): Postsozialismus. Transformationsprozesse in Europa und Asien aus ethnologischer Perspektive, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 321; Zhang, Yanhua: „Crafting Confucian remedies for happiness in contemporary China. Unreavleing the Yu Dan phenomenon“, in: Jie Yang (Hg.), The Political Economy of Affect and Emotion in East Asia, London/New York 2014, S. 31-44. 37 Das Renteneintrittsalter in der VR China liegt bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 76 Jahren für männliche Angestellte bei 60 Jahren und für Beamtinnen sowie für Personen in technischen und handwerklichen Berufen bei 55 Jahren. 38 Zum 1. Juli 2014 veröffentlichte das Statistische Bulletin der VR China eine Reihe von Zahlen rund um das Thema „Fürsorge“ für Alternde; siehe http://www.mca.gov. cn/article/zwgk/mzyw/201406/20140600654488.shtml (15.11.2014).
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werden wird. Die Alten erscheinen hier als die „Opfer der Modernisierung“ und gleichzeitig als Belastung für die Gesellschaft.39 Diejenigen, die gegenwärtig in Rente gehen, gehören zur ersten Generation der Ein-Kind-Politik. Deren Einzelkind sollte nun im Notfall für beide Elternteile und für vier Großelternteile sorgen (Stichwort: 4-2-1 Problem). Alternde auf dem Land werden hiervon zusätzlich betroffen, wenn ihr Kind zum Teil über Tausende Kilometer entfernt lebt. Weil sich der letzte Lebensabschnitt, als nichterwerbstätige Zeit, ausdehnt, und die Versorgungslage lückenhaft ist, etablierte die Regierung nun zum 1. Juli 2013 per Gesetz den „Schutz der Rechte und Interessen älterer Menschen“40, in dem das Recht der Alternden auf regelmäßige Besuche durch ihre Kinder bzw. Kindeskinder statuiert wird. Außerdem lockerte ein Erlass von 2013 die strikte Ein-Kind-Politik dahingehend, dass nun nicht nur Ehepaare, die selbst beide Einzelkinder sind, sondern auch jene, die nur zu einem Teil aus einem Einzelkind bestehen, zwei Kinder bekommen dürfen.41 Auch wenn dieses Gesetz die Geburtenrate auf durchschnittlich 1,55 Kind/er pro Frau ansteigen lässt, ändert dies vorerst wenig an der Brisanz der demographischen Revolution. Neben den zahllosen Protesten landesweit, die sehr oft die Landenteignungsprozesse oder auch Arbeitsverhältnisse und Umweltsünden betreffen,42 dienen zunehmend TV-Serien als Plattform, in denen die Problemlagen Alternder, die etwa an Demenz oder an Parkinson leiden, mit den damit einhergehenden familialen Härtelagen diskutiert werden.43 Hier wird auch nach der Rolle, den Rechten und Pflichten des Individuums gefragt, was mit Erwägungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der Erschaffung einer besseren Gesellschaft
39 Boermel, Anna: „‚No ‚wasting‘ and ‚empty nesters‘: ‚old age‘ in Beijing“, in: Oxford Development Studies 34, Nr. 4 (2006), S. 401-418; Thogersen, Stig/Ni Anru: „He is He and I am I: Individual and Collective among China’s Elderly“, in: M. Halskov Hansen/R. Svarerud (Hg.), iChina. The Rise of the Individual in Modern Chinese Society, S. 72. 40 Siehe: http://www.npc.gov.cn/npc/xinwen/lfgz/flca/2012-07/06/content_1729109.htm (20.11.2014). 41 Dies war ein Beschluss vonseiten des Nationalen Volkskongresses. 42 Vgl. hierzu G. Egger: Arbeitskämpfe in China. Eine Einleitung, S. 11-22. 43 Vgl. hierzu Ramsay, Guy: Mental Illness, Dementia and Family in China, London/New York 2013, S. 77-117; siehe auch den Blog zu Konflikten zwischen Alten und Jungen im chinesischen Internet: http://www.laoren.com/xspd/2013/259038.shtml (18.12. 2014).
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einhergeht.44 Die schiere Unübersichtlichkeit an Aufgaben der öffentlichen Hand, die am drohenden Zuwachs von Vulnerabilitäten der vielen Alternden geknüpft sind, scheint in einem Punkt zu kumulieren: der Zuständigkeit der Familie. Auch wenn die größeren und besseren Wohnungen, mehr Konsumgüter, mehr Freizeit und größeres Einkommen bei weitem nicht für alle verfügbar sind, so wirkt die Zunahme an Komfort doch als Legitimationsquelle der Partei. Dabei hat die Forschung bereits in den 1990er Jahren auf das moralische Vakuum hingewiesen, das sich im postmaoistischen China einstellte und durch einen Konsumismus ausgeglichen wurde, was aber nicht ohne die Rückendeckung durch ein Wiederaufleben des Konfuzianismus und der Netzwerkbeziehungen (guanxi 关系) funktionierte.45 Jedoch hat das Wiederaufleben von konfuzianischen Werten nicht durchgängig und flächendeckend Resultate gezeigt, zumindest nicht da, wo die Not am größten ist. Alte und alternde Menschen, die Respekt sowie umfassende Sorge und (wo nötig auch medizinische) Pflege mehr bedürfen als andere, leiden am Verschwinden einer Tugend, die vordem durch viele Jahrhunderte hindurch als die Kardinaltugend im chinesischen Kontext galt46: Xiao 孝, die Kindespietät. Die Forschung sieht in der Kindespietät das hierarchisch induzierte Beziehungsverhältnis, das dem Alter Ehrfurcht und Ehrerbietung zuerkennt, das strukturierende Prinzip der chinesischen Gesellschaft schlechthin, das bis in das 20. Jahrhundert hinein die Gesellschaft geprägt hat.47 Der unbedingte Gehorsam und die Selbstaufgabe vonseiten aller jüngeren Familienmitglieder den Älteren gegenüber fand im traditionellen China seinen Höhepunkt in den Trauerriten (vorzugsweise für den väterlichen Ahnen), die Jahre des Rückzugs aus dem öffentlichen Berufsleben (vonseiten des ältesten Sohnes) erforderten. Die „24 Paragonen der Kindespietät/Klassiker der Kindespietät“ (Ershisi Xiaojing
44 Siehe zum Beispiel die Diskussionen über die Rechte und Pflichten von Alten und Jungen unter: http://bj.house.sina.com.cn/news/2011-09-25/0817376474.shtml (08.01. 2015). 45 Vgl. Yang, Mayfair Mei-hui: Gifts, Favours and Banquets: The Art of Social Relationships in China, Ithaca/Cornell 1994; E. Croll: China’s New Consumers. Social development and domestic demand. 46 Siehe die Diskussionen hierzu unter: http://politics.people.com.cn/n/2014/0910/ c1001-25635543.html und: http://www.chinanews.com/sh/2014/09-10/6577768.shtml (18.12.2014). 47 So zumindest berichten es westlichen Beobachter im 19. Jahrhundert wie z.B. James Legge und Arthur Henderson Smith; vgl. hierzu Ikels, Charlotte: Filial Piety. Practise and Discourse in Contemporary East India, Stanford 2004, S. 3-4.
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二十四孝经), in der Yuan-Zeit (1279-1368) als Kompendium herausgegeben,48 ranken um die unterschiedlichen Heldentaten von Töchtern und Söhnen, die den alten oder kranken Eltern ein Höchstmaß an Wohlbefinden verschafften: Notfalls habe man sich Fleisch vom eigenen Körper geschnitten, um der kranken Mutter eine nahrhafte Suppe zu bereiten. Doch scheint diese normative Haltung der Selbstaufgabe gegenwärtig nicht mehr allseitig zur Verfügung zu stehen. Die hohen moralischen Ansprüche lassen sich schlichtweg nicht mehr umsetzen, denn ein Einzelner kann nicht für insgesamt sechs Alternde gleichzeitig sorgen. Zum anderen verändern sich Einstellungen gegenüber der Kindespietät, und zwar nicht nur vonseiten der Jüngeren, sondern auch von den Älteren.49 Der lange ungeschrieben geltende Generationenvertrag zeitigt Risse, auch wenn das jüngst verabschiedete Gesetz, das Besuchspflichten der Kinder einfordert, die Menschen an diese Tugend erinnern will. Die Regierung sucht gegenwärtig auch bildungspolitisch die Kinder und Jugendlichen dazu anzuleiten, Kindespietät einzuüben. Angesichts der extrem schwierigen Konditionen, unter denen Studierende sich einen Studienplatz an den renommierten Universitäten des Landes erkämpfen müssen, mag es verwundern, wenn die Peking Universität jüngst, im Spätherbst 2014, verlauten lässt, dass diejenigen, die sich in Kindespietät ausgewiesen haben, auch ohne die schwierige Aufnahmeprüfung einen Studienplatz bekommen können.50 Dies verweist auf dreierlei. Erstens fehlt es an ausreichender staatlicher Fürsorge. Zweitens sind die Gesetze und Verordnungen im Sinne der Kindespietät als Mahnung, als Erinnerung an eine emotionale Bedarfslage vonseiten der Alternden zu lesen. Drittens verweisen diese Verordnungen auf Tendenzen zu Vereinzelung und Individualisierung, und zwar nicht nur unter den Jungen, sondern auch unter den Alternden selbst. Denn, wenn Alte auf dem Land allein zurückbleiben, weil sich die „Wohngemeinschaften mehrerer Generationen“ sukzessive auflösen, auch weil diese (die Alternden) sich dagegen aussprechen, so sind hier
48 Sie wurden zusammengetragen von Guo Jujing 郭居敬 in der Mongolenzeit. Gegenwärtig kursiert eine Vielzahl von Ausgaben, auch in Comicversion und Persiflagen, die sowohl im Buchhandel zugänglich als auch im Internet abrufbar sind. 49 Siehe hierzu S. Thogersen/A. Ni: He is He and I am I: Individual and Collective among China’s Elderly, S. 65-93. 50 Siehe http://news.xinhuanet.com/edu/2011-10/19/c_122173531.htm (7.1.2015).
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IN CHINESISCHEN
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grundlegende Veränderungen in den Lebenswelten zugange, die sich mit der konventionell eingeforderten Kindespietät nicht ohne weiteres vertragen.51
3.
G EFÜHLSLAGEN A LTERNDER
UND
B EFINDLICHKEITEN
Das auffallende Nebeneinander höchst unterschiedlicher und sich widersprechender Wahrnehmungs- und Affektsysteme im gegenwärtigen chinesischen Kontext evoziert die Frage danach, wie Menschen sich dazu verhalten. Diese Frage lässt sich methodisch nur angehen, wenn wir im Unterschied zu einer Diskursanalyse mehrere Dimensionen wie Objekte, Dinge, den Körper, Wissensordnungen, Institutionen und Praktiken in die Beobachtung miteinbeziehen. Ein solch breiter Beobachtungsradius eröffnet die Möglichkeit, inhaltliche Codierungen entlang der Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Praktiken und Wissensbeständen aufzuspüren. Wenn sich kulturelle Sichtweisen in psychophysische Realitäten übersetzen und umgekehrt, so steht zu vermuten, dass Emotionsprozesse hierbei eine zentrale Rolle spielen. Dementsprechend ist die Verknüpfung unterschiedlicher konzeptueller Perspektiven unumgänglich.52 Die verschiedenen Ebenen und Bereiche, auf und in denen sich gegenwärtig Schieflagen zeigen, sind auf eine Weise miteinander verwoben, dass weder ein rein quantitativer noch ein ausschließlich qualitativer Untersuchungsansatz alleine ausreicht. Aber bislang kann nur auf wenig empirisches Material im Sinne „dichter Beschreibungen“53 zurückgegriffen werden, also auf Material, das zeigt, wie Menschen en detail denken und fühlen. Vermittels meiner anvisierten ethnologischen, qualitativ ausgerichteten Feldforschung lassen sich die statistischen Verallgemeinerungen und abstrakten Modelle soziologisch motivierter Forschung,
51 Vgl. Wang, Danyu: „Ritualistic Coresidence and the Weakening on Filial Practice in Rural China“, in: C. Ikels (Hg.), Filial Piety. Practise and Discourse in Contemporary East India, S. 16-33; Miller, Eric T.: „Filial Daughters, Filial Sons: Comparisons from Rural North China“, in: C. Ikels (Hg.), Filial Piety. Practise and Discourse in Contemporary East India, S. 34-52. 52 Vgl. hierzu Richter, Anna et al.: „Zur Neuverhandlung der Lebensphase Alter“, in: Andrea von Hülsen-Esch/Miriam Seidler/Christian Tagsold (Hg.), Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, S. 35-51, hier S. 39-40. 53 In Anlehnung an Geertz, Cliffort: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 2003 (zuerst 1983).
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die bislang in der chinesischen Forschungslandschaft zum Thema „Wandel und Lebensstil“54 vorliegen, ergänzen, aber gleichermaßen auch in Frage stellen. Meine Erforschung von Emotionen im gegenwärtigen chinesischen Kontext richtet sich auf ihre spezifische Funktion, Menschen mit Dingen und mit anderen Menschen zu verknüpfen. Emotionen sind intrinsische Motivatoren für Konflikte und Zusammenhalt. Emotionen sind dementsprechend auch Gegenstand der gegenwärtig massiv vorangetriebenen Biopolitik in der VR China.55 Die Verantwortlichen scheinen zu wissen, dass in der diskursiven Verbindung zwischen Emotionen, dem Selbst und der sozialen Ordnung, die beiden Größen, die letzte Lebensphase/das Altern zum einen und die Emotionen zum anderen, nicht rein im Sinne von physiologisch-psychologischen Tatsachen figurieren, sondern als soziokulturelle Sinnbildungs-Konstruktionen. Dies korreliert mit den Resultaten neuerer Forschung aus dem Bereich der Kognitiven Psychologie, wonach Menschen mit zunehmendem Alter eine positiv gestimmte emotionale Haltung einnehmen.56 Diese besondere Form der Lebensspannenentwicklung der Emotionen lässt sich plausibel in Einklang mit der biologisch erreichten Reife betrachten: Menschen erlernen im Verlaufe ihres Lebens einen immer sichereren Umgang mit ihren emotionalen Prozessen und deshalb fühlen sie sich im Alter zunehmend (emotional) besser. Neuere anthropologische Untersuchungen zu Alternden in chinesischen Städten57 scheinen diese Befunde zu bestätigen. Menschen, die beständig nach Kultivierungsmöglichkeiten des Selbst suchen, wie dies im gegenwärtigen Beijing zu
54 Vgl. hierzu beispielsweise: L. Hanlin et al.: 李汉林 渠敬东 夏 传令 组织 和制度 变迁的社会程。 种拟议的综合分析 (Der gesellschaftliche Prozess des Wandels von Organisationen und Systemen. Entwurf einer zusammenfassenden Analyse); C. Beifeng: 陈柏峰: 代际关系变动与老年人自杀 (Zur Veränderung der Relationen zwischen den Generationen und dem Suizid unter alten Menschen), S. 1-21; D. Schirmer: Soziologie und Lebensstilforschung in der VR China. Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels; Li, Peilin, „Chinese Sociology in Global Perspective“, in: Laurence Roulleau-Berger/Peilin Li (Hg.), European and Chinese Sociologies, A New Dialogue, Leiden/Boston 2012, S. 19-27. 55 Siehe hierzu die Beiträge in: Yang, Jie (Hg.), The Political Economy of Affect and Emotion in East Asia, New York/Oxon 2014. 56 Vgl. hierzu Turk, Charles/Carstensen, Laura L.: „Emotion Regulation and Aging“, in: Gross, James J. (Hg.), Handbook of Emotion Regulation, London 2009, S. 307-327. 57 Siehe hierzu Farquhar, Judith/Zhang, Qicheng: Ten Thousand Things. Nurturing Life in Contemporary Beijing, New York 2012, S. 11-48.
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beobachten ist, erschließen damit neue Möglichkeitsräume, in denen widerständige Praktiken ausprobiert werden gegen die Zumutungen der radikalen Endlichkeit, der von offiziellen Stellen verlautbarten Rhetorik der Transition und der konkreten Erfahrung des Umbruchs ehedem zusammenhängender Strukturen. Die zahllosen, gemeinsam mit anderen, durchgeführten Aktivitäten zur Rekreation in den öffentlichen Parks und im Rahmen der Nachbarschaften sind einer spezifischen „Pflege des Lebens“ (yangsheng 养生) gewidmet, die täglich durchzuführende Körperübungen ebenso beinhalten wie die Sorge um die passenden Lebensmittel bei der Zubereitung des Essens. Ein wesentliches Element betrifft in der Kultivierung der Emotionen, dass Ärger möglichst vermieden und die Wohlgefühle möglichst gesteigert werden sollen. Diese selbst-auferlegten Technologien der Vorsorge und Abwehr von kommenden Krankheiten sind „eigenverantwortlich“ gewählt und ausgeführt. Dabei fällt ein Paradoxon auf: Die Menschen handeln in dieser Hinsicht frei. Niemand zwingt sie zu den Vorsorgemaßnahmen und den KultivierungsAktivitäten. Somit kann von einer „freien Entscheidung“ gesprochen werden. Doch wird diese freie Entscheidung massiv vom Staat gefördert und forciert. Seit den Nuller-Jahren praktizieren die Alten in ganz China diese spezifische Form der „aktiven eigenverantwortlichen Vorsorge“. Diese Praktiken lassen sich zudem auch mit dem Boom in Verbindung bringen, den die Chinesische Medizin seit einigen Jahren im chinesischen Kontext erfährt. Die Alternden üben sich zu Millionen in Bewegungskünsten einfacher oder komplexer Art, sie ernähren sich nach traditionell chinesischen Rezepturen und nehmen vorsorglich und therapeutisch chinesische Arzneimittel ein. Diese Eigenverantwortlichkeit lenkt die Menschen weg vom „Versorgt-Werden-Wollen“ hin „zum eigenen Tun“ bei gleichzeitiger Steuerung durch die Regierung.58 Die chinesische Regierung unterstützt und fördert die Reputation und Wirkmacht der Traditionellen Chinesischen Medizin sowohl medial (in öffentlichen Fernsehprogrammen werden vermehrt Informationssendungen zu den positiven Wirkungen der chinesischen Medizin gesendet), als auch in finanzieller Hinsicht, wozu etwa die Einrichtung mehrerer Studiengänge zur „Chinesischen Medizin“ mit
58 Zur Rolle der Gouvernementalität in heutigen modernen Gesellschaften vgl. Wolff, Eberhard: „Moderne Diätetik als präventive Selbsttechnologie. Zum Verhältnis heteronomer und autonomer Selbstdisziplinierung zwischen Lebensreformbewegung und heutigem Gesundheitsboom“, in: Martin Lengwiler/Jeanette Madarász (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 169-201.
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der entsprechenden Anerkennung diesbezüglicher Curricula auf Universitätsniveau gehört.59
4.
A USZÜGE
AUS EINEM
W ERKSTATTBERICHT
In meinen Beobachtungsradius während der beiden Feldforschungsaufenthalte im September/Oktober 2013 und im Juni 2014 kamen diejenigen unter den Alternden, die sich mit einem Problem in den ausgewählten fünf Ambulanzen in Hangzhou einfanden. Es waren Assemblagen konkreter Situationen und den damit verquickten besonderen Subjektivitäten, den heterogenen Konstellationen von Menschen, Materialitäten, Körperlichkeiten und Infrastrukturen, Ungewissheit, Angst, Zuversicht, Hoffnung und Freude, die ich beobachtete und im Nachfolgenden kursorisch darlegen werde. Die Ambulanzen, in denen ich die Erhebungen durchgeführt habe, sind mit „Hausarzt-Praxen“ mit bestimmten Spezialisierungen vergleichbar. Sie befinden sich in prominenten und weniger prominenten Stadteilen Hangzhous, und sie werden von prominenten und weniger prominenten Ärzten der Chinesischen Medizin geführt und von vielen Menschen besucht, die teils von weither anreisen. Jede Ambulanz ist ausgestattet mit einem Tisch, Computern (in denen die Arznei-Datenbanken gespeichert sind und die häufig mit den Apotheken verbunden sind, die die Mischungen sofort bereiten können), Stühlen, einer oder mehrerer Arztliegen, auf denen Patienten – je nachdem – diagnostiziert und genadelt werden, oder auf denen sich Dutzende von Patienten die Wartezeit teilen. Mein Fokus lag nicht auf dem Sprechen bzw. auf Interviews, sondern zunächst auf dem Beobachten und Wahrnehmen. Dementsprechend verzichtete ich auf herkömmliche Frageinstrumente (wie Fragebögen und Interviews). Verbal kommunizierte ich, im Rahmen von rund 100 Stunden Feldforschung, mit den Menschen immer dann, wenn sich Gespräche „von selbst“ ergaben. So haben sich 15 Stunden Tonmitschnitt und Filmmaterial sowie umfangreiche Aufzeichnungen der Aussagen angesammelt. Ich fragte nach den diskursiven Verbindungen zwischen Emotionen, dem Selbst und der sozialen Ordnung im Allgemeinen und angesichts des herannahenden Todes im Besonderen. Im Verlaufe der Untersuchungen zeigte sich sehr
59 Siehe hierzu die neuesten Zahlen, wonach davon auszugehen ist, dass die Anzahl der Ärzte, die in TCM (Traditioneller Chinesischer Medizin) ausgebildet werden, 60 Prozent der gesamten Ärzteschaft ausmachen wird; vgl. http://www.chinanews.com/ jk/2011/09-15/3327711.shtml (10.2.2015).
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schnell, dass die Frage nach der Subjektivität alternder Menschen den Blick auf somatische Prozesse und Zustände evoziert. Die Frage nach der Grammatik der sozio-emotionalen Praktiken von Alternden drängte zur Fokussierung der Perspektive des Wandels auch in den Mikro-Prozessen, denn den Menschen ging es vorzugsweise um Veränderung, um Besserung ihrer Lage. Das Beobachten von „Tun“, der Abfolgen von Handlungen im Kleinen (immer in den Räumen der Ambulanzen) richtete sich zudem auf die Dimensionen des Tuns im Modus der Begegnung.60 Worin besteht die konstatierte Angst vor dem Alter? Wie sieht sie aus? Gibt es auch Zorn oder Wut? Zeigen sich in den Ambulanzen tradierte Altersbilder – im Sinne von eingekörperten bzw. einverleibten Stereotypen von Alterung, die das Alter als eine verdienstvolle, ja privilegierte Situation der Freude und Genugtuung, auch des Stolzes feiert? Und: Ließen sich auch Gesten eruieren, die das Alter als herbeigesehntes „Einwilligen in die Abhängigkeit“ von den Jüngeren zelebrierten?61 Finden sich Spuren einer Würde des Alters, in Erwartung einer letzten Phase, in der der/die Alte zu einem Kind werden darf, das sich des Alters erfreut? Und wie verhält sich diese Freude zu dem Sich-Fügen-in Abhängigkeiten? Die Haltung bzw. der eigene Wert des „Sich in die Abhängigkeit von Jüngeren zu begeben“ scheint sich aus der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft zu verflüchtigen. Taucht sie in den beobachteten medikalen Räumen, den Ambulanzen in Hangzhou wieder auf? Beide Größen, die letzte Lebensphase/Alter(n) und Emotionen sind als körperliche Prozesse nicht eine bloße soziale Konstruktion. Weil Beobachtungen davon, welche soziale Phänomene durch psychische Phänomene und biologische Faktoren geprägt und definiert werden, nicht die spezifischen Charakteristika psychischer, biologischer und sozialer Phänomene erklären können,62 bedarf es
60 Damit lässt sich Ethnographie als eine besondere Form von Begegnungswissen sehen. Siehe hierzu M. Knecht: Ethnographische Praxis im Feld der Wissenschafts-, Medizin- und Technikanthropologie, S. 254. 61 Diese beiden Haltungen sind insbesondere aus historischen Tiefenbohrungen zu eruieren; vgl. hierzu etwa Van Ess, Hans: „Ehrfurcht vor dem Alter? Einige Anmerkungen zum Altern in China“, in: Peter Graf Kielmannsegg/Heinz Häfner (Hg.), Alter und Altern. Wirklichkeiten und Deutungen, Heidelberg 2012, S. 7-21; Hemm, Dagmar: „Die Freuden und Sorgen des Alters“, in: Andreas A. Noll/Birgit Ziegler (Hg.), Der ältere Patient in der chinesischen Medizin. Gesund alt werden, Alterskrankheiten vorbeugen und behandeln, München 2006, S. 19-25. 62 Vgl. Niewöhner, Jörg/Kehl, Christoph/Beck, Stefan: „Wie geht Kultur unter die Hautund wie kann man dies beobachtbar machen?“, in: Jörg Niewöhner/Christoph
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zuallererst der dichten Beschreibungen dieser Phänomene in ihren konkret wahrnehmbaren Somatiken. Dieser Vorgang des dichten Beschreibens wird während der künftig noch durchzuführenden Feldforschungsaufenthalte in den Ambulanzen wie auch in einzelnen Familienzusammenhängen weiter vorangetrieben werden. Die dichten Beschreibungen sollen grundlegend herangezogen werden für die Beantwortung der immer wiederkehrenden Frage nach den Verschränkungen von Universalien, hier der biologischen Endlichkeit des Menschen, die sich im chinesischen Kontext gegenwärtig aufgrund des demographischen Wandels offensichtlich rasant verändern (die Menschen werden biologisch und chronologisch älter), mit Partikularem (emotionale Praktiken hinsichtlich Lebensende, ars moriendi, Schmerz und Leiden sowie auch nach den emotionalen Praktiken während der Phase „Lebensende/Alter“). Diese Frage mündet letztlich in die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Schauplätzen von Vulnerabilität und den Potentialen im Alter.
5.
R ÉSUMÉ : G EGENREDEN
UND
Ü BERLEBEN
Wenn, wie eingangs behauptet, die Zusammenführung von Sozial- und Gesundheitsdaten Einsichten in die grundlegenden Wirkungspfade in Form somatischer Sedimentierungen sozialer Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten verspricht, so müssen die vorläufigen Befunde aus den Feldforschungsaufenthalten in Hangzhou dahingehend auswertbar sein. Mit Blick auf die Beobachtungen in den überfüllten Ambulanzen mit Menschen, die den ärztlichen Beistand suchen, lassen sich drei vorläufige Synthesen formulieren. Erstens sind die Risse in den Morallandschaften im gegenwärtigen China für diese Alten spürbar. Sie gehen „unter die Haut“ der beobachteten Alternden. Auch wenn von der in den angeführten Statistiken konstatierten Angst unter gesunden Alternden63 nicht explizit die Rede ist, so kommen diese Menschen häufig mit Klagen über Schwermut und Trauer in die Ambulanzen. Zweitens sehen wir zunächst ein Paradoxon: Diese Menschen unterwerfen sich einem klar umrissenen Regime des regelmäßigen Arznei-Abkochens, das
Kehl/Stefan Beck (Hg.), Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft, Bielefeld 2008, S. 9-29; hier: S. 10. 63 Vgl. Frecklington, Cameron: „China’s elderly exposed to suicide risk“, in: Asia Times, 26. March 2013.
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│ 133
täglich zwei bis drei Stunden beansprucht. Hinzu kommen täglich Bewegungsübungen und wöchentlich wiederholte Besuche der Ambulanzen. Die selbstauferlegten „Technologien“ der Abwehr von kommenden Krankheiten führen sie eigenverantwortlich aus. So erscheint es nur auf dem ersten Blick widersprüchlich, dass diese „Selbstinitiative“ von der Regierung gefordert und gefördert wird. Auf diese Weise verlangen die Menschen „aus freien Stücken“ weniger Fürsorge vonseiten des Staates, bei gleichzeitiger Steuerung durch die Regierung.64 Von diesen Techniken nicht unabhängig zu sein scheinen die Befindlichkeiten innerhalb der Beobachtungsräume. Diese Menschen sind weitestgehend entspannt, sie haben Zeit, so wie die Mitpatienten und die Ärzte auch: keine Eile, kein Einfordern von Vorrechten hinsichtlich Terminen und kein Vordrängen. Drittens: Während der großen Zeitspannen in den Ambulanzen tritt besagte Furcht vor dem Alter – zumindest explizit, nicht zutage. Vielleicht deshalb nicht, weil viele dieser Alten von Familienmitgliedern begleitet werden, und andere sich wiederum viele Stunden des Wartens mit Gesprächen mit Mit-Wartenden vertreiben? Vielleicht deshalb nicht, weil während der Zeitspannen des sich „Umeinander Kümmerns“ diese Räume sich als Rückzugs-Räume der Intervention gegen die diversen (physischen und sozialen) Nebenerscheinungen der Alterung zeigen? Und was, wenn sich herausstellt, dass die besagten Befindlichkeiten von Angst und Niedergedrückt-Sein/Depressionen sich hier zu einem nicht geringen Teil verändern – nämlich unter dem Eindruck, dass diese Räume vielleicht Möglichkeitsräume des Widerstands, der Widerrede gegen die rasende Schnelligkeit der Umbrüche zu sein beanspruchen? Diese vorläufigen Feldforschungsergebnisse öffnen den Blick für Kollisionen zwischen tradierten Altersbildern, die Respekt und Hochachtung kolportierten und entsprechenden „Haltungen und Praktiken“ im sozialen Feld sowie der implizit und explizit eingeforderten Ökonomisierung des ganzen Lebens, die wenig Rücksicht auf Alte und Alternde nimmt, geschweige denn Hochachtung und Respekt fördert. Sie deuten auch darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen den Praktiken im aktiven Leben (bios) und dem Staat, der seine Machtansprüche auf das nackte Leben (zoë) erhebt, auf eine Weise gestaltet, dass die Menschen, auch und gerade die Schwachen (Alten) Wege beschreiten, die es ihnen erlauben „zu fliehen, ohne zu verschwinden“. Damit scheinen diese vorläufigen Befunde die eingangs angeführten Statistiken zu den erhöhten Suizidraten unter Alternden zu konterka-
64 Zur Rolle der Gouvernementalität in heutigen modernen Gesellschaften, vgl. E. Wolff: Moderne Diätetik als präventive Selbsttechnologie, S. 169-201.
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rieren. Meine Befunde verweisen auf eine Ethik des Überlebens im Sinne von Jacques Derrida, wenn er die substantielle Natur des Überlebens inmitten der radikalen Endlichkeit betont.65
65 Siehe Derrida, Jacques: Leben ist Überleben, Wien 2005.
Endlichkeit der natürlichen Ressourcen
Entscheidungen im Schatten der Endlichkeit – Ein Plädoyer für eine neue Gesprächskultur in der Onkologie F RANK G IESELER /V ALERIE S CHÄFER /W ERNER T HEOBALD
1.
V ORWORT
Die Diagnose „Krebs“ ist heutzutage keineswegs mehr gleichbedeutend mit einem raschen qualvollen Ableben.1 Es ist vielmehr zu beobachten, dass sich die Prognose für Patienten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland stark verbessert hat. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate der 2009 und 2010 Erkrankten wird immerhin auf 61 Prozent bei Männern und auf 67 Prozent bei Frauen geschätzt.2 Durch die verbesserten Diagnose- und Therapieverfahren und die daraus resultierenden verlängerten Überlebenszeiten steigt die Zahl der Menschen, für die Krebs eine chronische Krankheit ist, mit der man viele Jahre oder gar Jahrzehnte mit guter oder allenfalls leicht eingeschränkter Lebensqualität leben kann.3 Trotz dieser positiven Entwicklungen wird eine Krebserkrankung häufig als eine unmittelbare, existenzielle Bedrohung empfunden – auch dann wenn realistische Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Der Patient wird augenblicklich mit 1
Vgl. http://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/deutsche-krebs
2
Vgl. Robert-Koch-Institut (Hg.)/Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in
3
Vgl.
gesellschaft/presse/pressearchiv2013/weltkrebstag-2013.html (02.03.2015). Deutschland e. V. (Hg.): Krebs in Deutschland 2009/2010, Berlin 2013, S. 19. http://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/
basis-informationen-krebs-allgemeine-informationen/krebs-bald-eine-chronische-erkr. html (02.03.2015).
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der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert und in der Praxis kann beobachtet werden, dass viele Patienten eine Schockreaktion erleiden. Für die Verarbeitung der Diagnose und den weiteren Therapieverlauf ist es von entscheidender Bedeutung, wie Patienten in dieser Situation Formen des Umgangs und der Bewältigung des Wissens um die eigene Endlichkeit und der situativen Begrenztheit entwickeln können. Es muss eine reale Erlebens-, Erfahrens- und Verarbeitungsdimension zur Sprache kommen, nämlich die mittel- oder unmittelbare Todesbedrohung durch schwere Krankheit und das Wissen darum. Das Arzt-/Patientengespräch nimmt eine herausragende Stellung für die Entscheidungsfindung, die Krisenbewältigung und das Krankheitserleben während der Behandlung ein. Umgekehrt sind misslingende Arzt-/Patientengespräche einer der Hauptgründe für Patientenunzufriedenheit in der Onkologie und nicht nur mit einer verringerten Behandlungsqualität, sondern auch mit einer schlechteren Lebensprognose der Patienten assoziiert − unter anderem durch häufigere Therapieabbrüche.4 Da dem Arzt-/Patientengespräch also die Rolle eines Therapiebausteins zukommt, sollen in diesem Artikel die modernen gesellschaftlichen Faktoren erläutert werden, die eine Kommunikation zwischen Arzt und Patient in der Onkologie beeinflussen können. Die Geschwindigkeit, in der sich gesellschaftlicher Wandel vollzieht, muss zu einer grundsätzlichen Überarbeitung der Arzt-/Patientenkultur und damit auch der Kommunikation in der Onkologie führen. In diesem Zusammenhang spielt neben der Endlichkeit des eigenen Lebens und der Therapieoptionen auch die Begrenztheit von finanziellen Ressourcen in der Onkologie eine Rolle. Die ethische Brisanz in der Arzt-Patientenkommunikation in der Onkologie ergibt sich dadurch, dass der Arzt teilweise die Verantwortung für den Patienten übernimmt und ihn durch sein Handeln in Entscheidungen über Leben und Tod beeinflusst.
2.
DIE ZAHL DER KREBSKRANKEN IN DEUTSCHLAND STEIGT MIT DER VERLÄNGERTEN LEBENSERWARTUNG
Gemäß der Sterbetafel 2009/2010 des statistischen Bundesamts ist die Lebenserwartung in Deutschland erneut angestiegen und liegt jetzt bei knapp 81 Jahren.5
4
Vgl. Vogel, Barbara/Helmes, Almut/Bengel, Jürgen: „Arzt-Patienten-Kommunikation in der Tumorbehandlung: Erwartungen und Erfahrungen aus Patientensicht“, in: Zeitschrift für Medizinische Psychologie 15 (2006), S. 149-161.
5
Vgl. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/10/PD 12_344_12621.html vom 02.03.2015.
P LÄDOYER
FÜR EINE NEUE
G ESRPÄCHSKULTUR
IN DER
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Mit einem verlängerten Leben ist jedoch auch eine Zunahme altersabhängiger Erkrankungen wie zum Beispiel Krebserkrankungen zu verzeichnen. Laut Robert-Koch-Institut sind im Jahr 2010 etwa 477.300 Menschen in Deutschland neu an Krebs erkrankt. Die Anzahl an Krebsneuerkrankungen ist zwischen 2000 und 2010 bei Männern um 21 Prozent und bei Frauen um 14 Prozent gestiegen und für den Zeitraum zwischen 2010 und 2030 wird ein weiterer Anstieg um 20 Prozent prognostiziert.6 Statistisch erkrankt in den nächsten zehn Jahren jeder vierte 75-jährige Mann und jede sechste 75-jährige Frau an Krebs.7 Bei den häufigsten Krebserkrankungen wie Mamma- oder Prostatakarzinomen, Bronchialkarzinomen, kolorektalen Karzinomen und Bauchspeicheldrüsenkrebs haben Alterungseffekte den größten Anteil am Gesamtanstieg der Krebserkrankungen.8 In Zukunft steigt also nicht nur die Gesamtzahl, sondern insbesondere auch der Anteil älterer Krebspatienten.9 Diese demographischen Entwicklungen haben neben gesellschaftlichen Konsequenzen auch in mehrfacher Hinsicht Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten. Zunächst erfordert die Behandlung älterer Krebspatienten eine besondere Sorgfalt, denn es muss vermehrt mit Komorbiditäten und funktionellen Einschränkungen sowie akuten Begleiterkrankungen gerechnet werden. Hierzu gehören z.B. eingeschränkte Herz-, Nieren-, Leber- oder Knochenmarksfunktion, Diabetes oder Demenz.10 Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass die Einnahme verschiedener Medikamente zu Interaktionen führen kann − eine ernst zu nehmende Gefahr für Patienten, die von mehreren Fachärzten behandelt werden.11 Ebenso können eine
6
Vgl. Robert-Koch-Institut (Hg.)/Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (Hg.): Krebs in Deutschland 2009/2010, S. 18; vgl. Robert-KochInstitut (Hg.)/Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (Hg.): Krebs in Deutschland 2009/2010, S. 6.
7
Vgl. ebd. Robert Koch-Institut (Hg.)/Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregis-
8
Vgl. Nowossadeck, Enno: „Demografische Alterung und Folgen für das Gesund-
9
Vgl. Simanek, Ralph et al.: „Komorbiditätsorientierte Onkologie − ein Überblick“, in:
ter in Deutschland e. V. (Hg.): Krebs in Deutschland 2009/2010, S. 22. heitswesen“, in: Robert-Koch-Institut Berlin (Hg.), GBE kompakt 3 (2012). Wiener Klinische Wochenschrift 122 (2010), S. 203-218. 10 Vgl. R. Simanek et al.: Komorbiditätsorientierte Onkologie, S. 205. 11 Vgl. Cascorbi, Ingolf: „Drug interactions − principles, examples and clinical consequences“, in: DtschArzteblInt 109 (2012), S. 546-556;
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soziale Isolation, Depressionen und Angststörungen den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen und den Arzt vor besondere Herausforderungen in der Betreuung der älteren Patienten mit Krebs stellen.12 Diese Einschränkungen gelten im Prinzip bei allen Behandlungen älterer Patienten, sie spielen in der Onkologie aber eine besondere Rolle. Einerseits können Stoffwechselveränderungen durch die Tumorerkrankung und die Therapien die Begleiterkrankungen wesentlich verschlimmern, andererseits kann die psychische und hirnorganische Situation durch die emotionale Belastung verschlechtert werden. Z.B. ist eine Einschränkung der Hirnleistung durch Chemotherapien bekannt und wurde als „Chemo-Fog“ beziehungsweise „Chemo-Brain“ bezeichnet.13 Diese speziellen Voraussetzungen bei älteren Patienten mit einer Krebserkrankung erfordern vom Onkologen besondere Kommunikationstechniken, die durch eine gezielte Schulung vermittelt werden können.14 Auch in dieser Situation muss neben der Endlichkeit des Lebens die Begrenztheit der therapeutischen Optionen beachtet und in das Therapiegespräch mit einbezogen werden.
3.
D ER N ATIONALE K REBSPLAN
Die erhebliche Zunahme der Krebspatienten in den nächsten Jahren und die damit verbundene Brisanz für unser Gesundheitssystem wurde von den politisch Verantwortlichen erkannt und hat dazu geführt, dass das Bundesministerium für Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Krebshilfe und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren im Jahre 2008 den „Nationalen Krebsplan“ initiiert hat. Dieser gliedert sich in die vier Handlungsfelder:
http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/rezepte/article/850767/arzneiverordnunghilft-meist-eher-weniger.html (02.03.15). 12 Vgl. R. Simanek et al.: Komorbiditätsorientierte Onkologie, S. 207-208. 13 Vgl.
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/45726/Chemo-Brain-Die-meisten-Patien
ten-erholen-sich-nur-langsam (02.03.2015); vgl. http://www.aerzteblatt.de/nachrich ten/25942/Chemo-Brain-Wo-die-Chemotherapie-Spuren-im-Gehirn-hinterlaesst
(02.
03.2015). 14 Vgl. Amalraj, Sunil/Starkweather, Chelsea/ Naeim, Arash: „Health Literacy, Communication, and Treatment Decision-Making in Older Cancer Patients“, in: Cancernetwork (2009), S. 1-9.
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Weiterentwicklung der Früherkennung Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen Sicherstellung einer effizienten onkologischen Behandlung Stärkung der Patientenorientierung.15
Einige Ziele, wie zum Beispiel die zukünftige Sicherstellung der Arzneimitteltherapie, müssen auch gesundheitsökonomisch diskutiert werden. Auf diese geänderten Bedingungen muss sich die Onkologie der Gegenwart, und noch mehr der Zukunft, einstellen – ein Vorgang, der bisher nur unzureichend in Gang gesetzt worden ist. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die bewusste Anpassung der Arzt-/Patientenkommunikation notwendig, um die mit dem Nationalen Krebsplan angestrebte Stärkung der Patientenorientierung im Hinblick auf die vielfältigen Informations- und Behandlungsmöglichkeiten umzusetzen. Ziel ist es, die Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungskompetenzen des Patienten und der Angehörigen zu verbessern, ohne ihn zu überfordern oder gar in ein Dilemma zu stürzen.16 Das Konzept des „shared decision making“, nämlich der Einbeziehung der persönlichen Kenntnisse und Bedürfnisse der Patienten in die Entscheidungsfindung, kann angesichts der sich ständig erweiternden Therapieoptionen und der persönlichen Situation mit der Bedrohung durch Endlichkeiten und Begrenztheiten nur teilweise umgesetzt werden.
4.
B EGRENZTHEIT FINANZIELLER R ESSOURCEN IM G ESUNDHEITSWESEN : S TEIGENDE K OSTEN FÜHREN ZU EINER P RIORISIERUNGSDEBATTE
Durch den steigenden Anteil an alten, kranken und nicht mehr erwerbstätigen Bürgern kommen auf das Gesundheitswesen höhere Kosten zu – die finanziellen Ressourcen sind jedoch begrenzt.17 Instrumente, um mit knappen finanziellen Mitteln zu wirtschaften, sind „Rationalisierung“ und „Priorisierung“ – Begriffe,
15 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hg.): Nationaler Krebsplan. Handlungsfelder, Ziele und Umsetzungsempfehlungen, Berlin 2012. 16 Vgl. Stiggelbout, Anne et al: „Tradeoffs between Quality and Quantity of Life: Development of the QQ Questionnaire for Cancer Patient Attitudes“, in: Medical Decision Making Nr. 16 (1996), S. 184-192. 17 Vgl. Ludwig, Wolf-Dieder/Fetscher, Sebastian/Schildmann, Jan: „Teure Innovationen in der Onkologie – für alle?“, in: Der Onkologe 15 (2009), S. 1004-1014.
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deren Diskussion im Gesundheitswesen eine ethische Brisanz aufweist.18 Rationalisierung meint in diesem Zusammenhang eine Effizienzsteigerung, sodass unnötige Kosten vermieden werden, wohingegen bei der Priorisierung in Form von Ranglisten entschieden werden soll, welche medizinischen Maßnahmen bei welchen Patienten vorranging ergriffen werden können und welche als zweitrangig angesehen werden.19 Diese Überlegungen betreffen auch die Onkologie, denn hier sind die Jahrestherapiekosten durch Kostensteigerungen und die Einführung neuer Wirkstoffe besonders hoch.20 Ein Ziel des Nationalen Krebsplans ist, den Zugang zu innovativen Krebstherapien und sinnvollen, wenn auch hochpreisigen Krebsarzneimitteln für alle Patienten zu sichern.21 Die Priorisierungsdebatte wird bereits seit den 1990er Jahren weltweit geführt. Dabei steht vor allem die Frage im Fokus, anhand welcher Grundlagen entschieden werden soll und darf, welche Personen und Behandlungen Vorrang haben. In den Niederlanden dienen zum Beispiel als Grundlage des Leistungskatalogs der Krankenkassen die vier Prinzipien „Notwendigkeit“, „Wirksamkeit“, „Kosten-Effektivität“ und „Eigenverantwortung“. Schweden hingegen hat bemerkenswerterweise als wichtigstes Kriterium die „Menschenwürde“, gefolgt von „Bedarf und Solidarität“ und „Kosteneffizienz“ festgelegt. Neben diesen Prinzipien hat Schweden konkrete Rangordnungslisten erstellt. Diese sollen einerseits Ärzten bei der Entscheidungsfindung helfen und andererseits Patienten unterstützen, die Behandlungsmaßnahmen nachzuvollziehen.22
18 Vgl. dazu stellvertretend für viele fachethische Publikationen Kick, Hermes Andreas/Taupitz, Jochen (Hg.): Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit (= Ethik interdisziplinär, Band 10), Münster 2005, sowie die Fachzeitschrift „Ethik in der Medizin“, die mit Band 23, Heft 4 (2011), ein eigenes Themenheft zu dieser Problematik unter dem Titel „Wie viel Markt verträgt das Gesundheitswesen?“ herausgebracht hat. 19 Vgl. Fuchs, Christoph: „Demografischer Wandel und Notwendigkeit der Priorisierung im Gesundheitswesen: Positionsbestimmung der Ärzteschaft“, in: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 53 (2010), S. 435-440. 20 Vgl. W.-D. Ludwig/S. Fetscher/J. Schildmann: „Teure Innovationen in der Onkologie – für alle?“, S. 1004-1014; vgl. Glaeske, Gerd: „Spektrum der Versorgungsforschung in der Onkologie“, in: Der Onkologe 18 (2012), S. 105-115. 21 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hg.): Nationaler Krebsplan. Handlungsfelder, Ziele und Umsetzungsempfehlungen, S. 55. 22 Vgl. Busse, Reinhard/Hoffmann, Christine: „Priorisierung in anderen Gesundheitssystemen. Was kann Deutschland lernen?“, in: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 53 (2010), S. 882-889.
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In Deutschland wurde von der Ärzteschaft bereits auf dem Ärztetag 2009 eine Diskussion zum Thema Priorisierung gefordert, die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt kritisierte daraufhin Priorisierung im Gesundheitswesen als menschenverachtend.23 Seit 2012 gibt es eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer „Priorisierung im Gesundheitswesen“, die die Aufgabe hat, den Begriff Priorisierung in Deutschland zu schärfen und von Rationierung abzugrenzen.24 Auch wenn die Priorisierungsdebatte in Deutschland gerade erst begonnen hat, ist der Kostendruck im Gesundheitswesen bereits jetzt insbesondere für die dort Beschäftigten spürbar und macht sich z.B. durch emotional gefärbte Medienbeiträge bemerkbar. 25 Als Folge des Kostendrucks verändert sich die Rolle des Arztes, denn er muss nicht mehr nur das Wohl des individuellen Patienten, sondern zunehmend auch ökonomische Aspekte berücksichtigen.26 In diesem Zusammenhang sei auf die weitergehenden Untersuchungen hingewiesen, die gezeigt haben, dass deutsche Ärzte als Folge des Kostendrucks vermehrt unter Rollen- bzw. Gewissenskonflikten, Überforderung und emotionalem Stress leiden.27 Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesärztekammer und der Deutsche Pflegerat haben zudem darauf hingewiesen, dass es durch den Kostendruck in den Kliniken zunehmend zu einem Personal- und Zeitmangel kommt, sodass insbesondere die so notwendige Zuwendung am Krankenbett erschwert wird.28 Verstärkt wird diese für den Arzt prekäre Situation durch die öffentliche Diskussion über eine Mittelknappheit in Krankenhäusern – sie kann das Arzt-/Patienten-Verhältnis erheblich belasten und zu einem Vertrauensverlust führen. Es besteht die ernste Gefahr, dass die Kommunikation aufgrund der beschriebenen Konflikte sowie durch Personal- und Zeitmangel noch weiter vernachlässigt wird, obwohl die neuen und
23 Vgl.
http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.20.6499.7209
(02.03.
2015); vgl. http://www.zeit.de/2009/22/aerzte-rationierung-priorisierung (02.03.2015). 24 Vgl. Raspe, Heiner/Schulze, Jan: „Medizinische Versorgung: Ärztlich unterstützte Priorisierung ist notwendig und hilfreich“, in: DtschArztebl 110 (2013), S. 21. 25 Vgl. http://www.stern.de/gesundheit/personalmangel-in-krankenhaeusern-schlecht-ge pflegt-falsch-behandelt-der-klinikhorror-1879868.html (02.03.2015); vgl. http://www. faz.net/aktuell/wirtschaft/kostendruck-im-krankenhaus-zwischen-personalmangel-und patientenflut-12427183.html (12.09.2014). 26 Vgl. W.-D. Ludwig/S. Fetscher/J. Schildmann: Teure Innovationen. 27 Vgl. Strech, Daniel et al.: „Ärztliches Handeln bei Mittelknappheit“, in: Ethik Med. 20 (2008), S. 94-109. 28 Vgl. http://www.montgomery.de/einzelansicht/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=62&cHa sh=2fc700084072192c2c4909aee0d762b6 (02.03.2015).
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alternativen Therapiemöglichkeiten der modernen Krebsbehandlung deutlich intensivere Gespräche und ein differenzierteres Vorgehen erfordern als bisher. Die Begrenztheit der Arbeitsbedingungen und die Endlichkeit der finanziellen Ressourcen stellen zunehmend auch eine ethische Belastung dar und erfordern eine Anpassung der Gesprächskultur.
5.
D IE SPEZIELLEN L EITLINIEN MÜSSEN IN DER O NKOLOGIE HÄUFIG DURCH INDIVIDUELLE F AKTOREN ERGÄNZT UND MODIFIZIERT WERDEN
In der aktuellen Medizin einschließlich der Onkologie werden TherapieEntscheidungen mit Hilfe von Leitlinien getroffen. Die Evidenzbasierte Medizin (EBM) hat dabei den Anspruch, den aktuellen Faktenstand in der klinischen Forschung zusammenzustellen, um Entscheidungshilfen für den individuellen Patienten zu liefern.29 Leider sind ältere Patienten in klinischen Studien stark unterrepräsentiert, was an den beschriebenen gehäuft auftretenden Komorbiditäten liegt.30 Da diese bei jedem Menschen anders ausgeprägt sind, wären Ergebnisse mit dieser Patientengruppe sehr inhomogen − ein gut nachvollziehbares Ausschlusskriterium für vergleichbare klinische Studien. Die Entscheidung für oder gegen eine spezifische Therapie kann daher häufig erst in der Interaktion und im Gespräch mit dem Patienten unter gemeinsamer Definition der Therapieziele erarbeitet werden. Insbesondere gilt dies in der palliativen Situation, in der die Tumorerkrankung durch die Therapie zwar in ihrem Verlauf beeinflusst, aber nicht geheilt werden kann. Einige wichtige Ziele der Behandlung sind: Verhinderung tumorbedingter Komplikationen Linderung von Leiden der bestmögliche Erhalt von Lebensqualität.31
29 Vgl. Straube, Andreas/Förderreuther, Stefanie/Diener, Hans-Christoph: „Was sollen Leitlinien, was können Leitlinien?“, in: Schmerz 28 (2014), S. 228-229. 30 Vgl. Buske, Christian/Hiddemann, Wolfgang: „Der ältere Patient mit malignen Erkrankungen“, in: Internist 48 (2007), S. 1206, 1208-1210. 31 Vgl. Husebø, Stein/Klaschik, Eberhard/Clemens, Katri Elina: Palliativmedizin. Grundlagen und Praxis : Schmerztherapie, Gesprächsführung, Ethik, Heidelberg 2009, S. 1-45.
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Die individuellen Ansprüche des Patienten und seiner Angehörigen an Lebensqualität müssen also erkannt und berücksichtigt werden − sie können von Mensch zu Mensch stark variieren.32 Diese Voraussetzungen stellen hohe Anforderungen an den behandelnden Arzt und erfordern eine spezielle Ausbildung in der Arzt-/Patientenkommunikation. Spätestens an dieser Stelle wird die medizinethische Dimension von Kommunikation in der Onkologie deutlich. Im Gespräch begleitet der Arzt den Patienten bei Entscheidungen bezüglich der verschiedenen Therapieoptionen, die über Leben und Sterben bestimmen können. Verantwortliches Handeln seitens des Arztes beinhaltet. die Autonomie und Eigenverantwortung des Patienten zu respektieren, ohne ihn damit zu überfordern.33
6.
D IE E INSTELLUNG
ZUR HAT SICH GEWANDELT
E NDLICHKEIT
DES
L EBENS
Vielschichtige Änderungen der Gesellschaftsstruktur, wie z.B. eine höhere berufsbedingte Mobilität, die ein Verminderung des intergenerationalen Zusammenlebens zur Folge hat, kleinere Familien und kleinere Wohnungen haben dazu geführt, dass nur noch etwa 25 Prozent der Deutschen zu Hause sterben. Fast die Hälfte aller Bundesbürger beschließt ihr Leben im Krankenhaus (47 Prozent) oder in stationären Pflegeeinrichtungen (30 Prozent), wodurch der Umgang mit dem Sterben nur noch selten im familiären Umkreis erlebt wird. Allerdings besteht gemäß einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands (DHPV) eine Diskrepanz zwischen dieser Entwicklung und den Wünschen der Befragten, denn 66 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, zu Hause sterben zu wollen.34 Dieser Prozess geht mit einem Mitgliederverlust der Volkskirchen in Deutschland einher. Laut Umfragen glauben allerdings 68 Prozent der konfessionslosen Amerikaner und 30 Prozent der konfessionslosen Europäer an ein höheres Wesen, woraus geschlossen wurde, dass nicht unbedingt eine Abkehr, sondern vielmehr eine „Individualisierung der Religion“35 stattfin-
32 Vgl. Müller-Busch, Hans Christof: „Definitionen und Ziele in der Palliativmedizin“, in: Internist 52 (2011), S. 7-14. 33 Vgl. Meran, J.G./Widder, J.: „Ethische Aspekte der geriatrischen Onkologie“, in: Der Onkologe 8 (2002), S. 173-182. 34 Vgl. Klinkhammer, Gisela: „Sterben in Deutschland: Leben mit dem Tod“, in: DtschArztebl 109 (2012), S. 22. 35 Vgl. http://www.bpb.de/apuz/162385/neue-rollen-der-religion?p=0 (02.03.2015).
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det. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft ergibt sich heute nicht mehr allein aus Herkunft und gesellschaftlichem Hintergrund, sondern wird verstärkt individuell gewählt und kann sich auch im Laufe des Lebens wandeln.36 Während in der Vergangenheit in Deutschland durch die Zugehörigkeit zu einer der Volkskirchen ein paternalistisch geprägtes Verständnis von Tod und Sterben vorherrschte, obliegt es jetzt mehr dem Einzelnen, sich individuell mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen.37 Auf der anderen Seite wird die Endlichkeit des Lebens durchaus in der Öffentlichkeit thematisiert. Beispielsweise widmete sich die ARD im Jahr 2012 mit verschiedenen Beiträgen in TV, Radio und Internet eine Woche lang dem Thema „Leben mit dem Tod“.38 Darüber hinaus ist die ethische Diskussion über Sterbehilfe insbesondere bei Krebspatienten in der Öffentlichkeit präsent und aktuell.39 Als eine Folge der Globalisierung und der Einwanderung ist in unserer Gesellschaft vermehrt mit multikulturell und multireligiös geprägten Patienten zu rechnen. 2010 machten z.B. Muslime 4,6-5,2 Prozent der deutschen Bevölkerung aus (ca. 3,8-4,3 Millionen Menschen).0,3 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung sind nach diesen Zahlen Buddhisten, 0,24 Prozent Juden und 0,12 Prozent Hindus.40 Die weitere Entwicklung ist schwer abzusehen, wird aber sicher dazu führen, dass sich Ärzte und Pflegepersonal insbesondere in der Situation einer potentiell todbringenden Erkrankung mit den besonderen spirituellen Bedürfnissen ihrer multikulturellen Patienten auseinandersetzen müssen. Beispielsweise ist es vielen Muslimen wichtig, von gleichgeschlechtlichem Personal betreut zu werden − manche Muslime lehnen zudem alkoholhaltige Präparate oder aus Schweinen gewonnene Herzklappen ab.41 Als Folge dieser Entwicklungen hat sich die Einstellung zur Endlichkeit des menschlichen Lebens in der modernen Gesellschaft gewandelt – diese Aspekte müssen im Sinne eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts in der Onkologie
36 Ebd. 37 Vgl. B. Oorschot/U. Wedding: Einstellungen zu Sterben, Tod und Palliativmedizin, S. 367-375. 38 Vgl. http://www.ard.de/home/ard/Leben_mit_dem_Tod/220596/index.html (02.03. 2015). 39 Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/fragen-und-antworten-zur-sterbehilfe-debatte-indeutschland-a-945147html vom 02.03.2015. 40 Vgl. http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutsch land/145148/religionszugehoerigkeit vom 02.03.2015. 41 Vgl. Ilkilic, Ilhan: „Medizinethische Aspekte im Umgang mit muslimischen Patienten“, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 132 (2007), S. 1587-1590.
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dringend thematisiert werden. Einige Universitäten beschäftigen sich bereits mit den Folgen der geänderten spirituellen und psychosozialen Bedürfnisse der Krebspatienten.42 Diese sollten aber noch stärker als bisher im Lehrangebot berücksichtig werden, weil es sonst Arzt und Patient nicht gelingt, gemeinsame Ziele wie zum Beispiel Lebensqualität zu definieren und festzulegen. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstreicht in ihrer Definition der „Palliative Care“, dass zu den belastenden Veränderungen nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch psychosoziale und spirituelle Probleme zählen.43
7.
Z USAMMENFASSUNG
UND
K ONSEQUENZEN
Die oben dargestellten Entwicklungen zeigen eindrücklich, wie grundlegend sich die Onkologie in Deutschland in den letzten Jahren gewandelt hat. Die klinische Umsetzung innovativer Therapien hat sowohl zu einer echten Verbesserung der Ansprechraten und der Überlebenszeiten als auch zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Patienten geführt. Andererseits ist die Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme durch die Fülle neuer Diagnose- und Therapieverfahren wie auch durch die ständige Verfügbarkeit mehr oder weniger qualifizierter Informationen sowohl für den Arzt als auch für die Patienten deutlich komplexer geworden. Hinzu kommt das in den letzten Jahren signifikant gestiegene Durchschnittsalter der Patienten mit allen Problemen des Alterns, einschließlich der Entwicklung relevanter Begleiterkrankungen. Gesellschaftliche Diskussionen über die Sinnhaftigkeit sehr teurer Therapiemaßnahmen am Lebensende mit einer Rationalisierungs- und Priorisierungsdebatte führen zu einer weiteren Verunsicherung. Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung des Nationalen Krebsplanes für eine Stärkung der Patientenkompetenz durch partizipatives Einbeziehen des Patienten in Therapieentscheidungen nicht einfach umzusetzen. Zusammenfassend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass in diesem Szenario die „Endlichkeit“ in ihren vielfältigen Facetten eine entscheidende Rolle spielt: Rationales oder irrationales Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Lebens Endlichkeit der Therapiemöglichkeiten im Krankheitsverlauf
42 Vgl. http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Klinik-und-Poliklinik-fuer-Palliativmedi zin/de/professur-fuer-spiritual-care/ueber-die-professur/index.html (02.03.2015). 43 World Health Organization, 2014: WHO | WHO Definition of Palliative Care. Online verfügbar unter http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/ vom 02.03.2015.
148 │ F RANK G IESELER /V ALERIE S CHÄFER /W ERNER T HEOBALD Begrenztheit der finanziellen Ressourcen in Anbetracht innovativer und teurer Therapiemöglichkeiten
Insbesondere gilt dies in einer palliativen Krankheitssituation, bei dem die Tumorerkrankung durch die Therapie zwar in ihrem Verlauf beeinflusst, aber nicht geheilt werden kann.44 Die wichtigsten Ziele sind in dieser Situation die Verhinderung tumorbedingter Komplikationen, das Lindern von Leiden und der bestmögliche Erhalt von Lebensqualität.45 Die individuellen Ansprüche des Patienten und seiner Angehörigen an die Lebensqualität müssen aber erkannt und berücksichtigt werden.46 Diese Voraussetzungen stellen hohe Anforderungen an den behandelnden Arzt und erfordern eine spezielle Ausbildung in der Arzt/Patientenkommunikation. Der Arzt muss die Autonomie und die Eigenverantwortung des Patienten respektieren, ohne ihn damit zu überfordern.47 Das Bewusstwerden der Endlichkeit in ihren vielfältigen Facetten trägt zu dieser Auseinandersetzung in erheblichem Maße bei. Im Sinne eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts in der Onkologie müssen die für beide Seiten wichtigen Probleme thematisiert werden, weil es sonst Arzt und Patient nicht gelingt, gemeinsame Ziele wie z.B. Lebensqualität zu definieren und festzulegen. Durch diese rasanten Entwicklungen der letzten Jahre rückt also das Arzt-/ Patientengespräch noch weiter in den Vordergrund als bisher. Die Ziele dieser Gespräche sind vielfältiger und komplexer geworden und müssen deshalb neu definiert werden. Die Anregung, die Gesprächskultur von einem paternalistisch geprägten Kommunikationsstil hin zu einem Stil, der die gemeinsame Entscheidungsfindung betont, zu entwickeln („shared decision-making“), wurde bereits 1997 von Charles und Anderen gegeben.48 Die Forderung nach einer neuen, den geänderten Verhältnissen angepassten Gesprächskultur in der Medizin ist von verschiedenen Seiten geäußert worden − diese Forderung gilt in besonderem
44 Vgl. Junker, Annette/Gaisser, Andrea: „Immer mehr Krebskranke in Deutschland“, in: Onkologe 14 (2008), S. 529-534. 45 Vgl. S. Husebø/ E. Klaschik/C. Katri Elina: Palliativmedizin. Grundlagen und Praxis: Schmerztherapie, Gesprächsführung, Ethik, Heidelberg 2009, S. 1-45. 46 Vgl. H. C. Müller-Busch: Definitionen und Ziele in der Palliativmedizin, S. 10-14. 47 Vgl. J.G. Meran/J. Widder: Ethische Aspekte der geriatrischen Onkologie, S. 173-182. 48 Vgl. Charles, Cathy/Gafni, Amiram/Whelan, Tim: „Shared decision-making in the medical encounter: what does it mean? Or it takes at least two to tango“, in: Social Science & Medicine 44 (1997), S. 681-692.
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Maße für den onkologischen Bereich.49 Allerdings fehlen bisher Untersuchungen, die eine differenzierte Betrachtung der aktuellen Situation und damit die Entwicklung eines umsetzbaren Modells und letztendlich einer Empfehlung für eine moderne Gesprächskultur erlauben. Es ist völlig unrealistisch anzunehmen, dass alle oben geschilderten Aspekte in der emotional angespannten Situation einer Krebsdiagnose und unter den vorhandenen Arbeitsbedingungen berücksichtigt werden können. Auf der anderen Seite ist aber auch nicht anzunehmen, dass alle möglichen Aspekte für jeden Arzt und jeden Patienten gleichermaßen wichtig sind und somit regelhaft in jedem Arzt-/Patientengespräch berücksichtigt werden müssen. Zu der Frage, welche der oben angesprochenen Aspekte in welchem Maße für den Arzt oder den Patienten in der modernen Gesellschaft und unter den aktuellen Bedingungen entscheidend sind, existieren bisher keine relevanten Untersuchungen. Diese Fragen müssen aber unbedingt für die Entwicklung tragfähiger und alltagstauglicher Konzepte beantwortet werden. Hierzu wird von der Arbeitsgruppe ein Forschungsprojekt vorgelegt, nach dem zunächst mit Hilfe der „Qualitativen Interviewtechnik“ an verschiedenen Standorten die Einstellung und Bedürfnisse von Ärzten, Pflegepersonal und Patienten erfasst werden.50 In einem weiteren Schritt soll dann ein neues, praktisch anwendbares, Gesprächsmodell basierend auf dem philosophisch-ethischen Modell einer „Existenziellen Kommunikation“ in Anlehnung an Karl Jaspers51 und dessen Rezeption in der aktuellen Kommunikationsethik52 entwickelt werden.
49 Vgl. http://www.asg-nrw.de/sites/default/files/Klemperer%20Duisburg%205%2012% 202012.pdf (02.03.2015). 50 Vgl. DiCicco-Bloom, Barbara/Crabtree, Benjamin F.: „The qualitative research interview“, in: Medical education 40 (2006), S. 314-321. 51 Vgl. Ehrlich, Leonard H./Wisser, Richard: Karl Jaspers. Philosophy on the Way to World Philosophy, Amsterdam/Atlanta 1998; vgl. Jaspers, Karl/Saner, Hans: Was ist der Mensch? Philosophisches Denken für alle, München 2000, S. 179-180. 52 Gottschlich, Maximilian: Medizin und Mitgefühl. Die heilsame Kraft empathischer Kommunikation, Wien 2007.
Sittlichkeit und Nachhaltigkeit in einer Postwachstumsgesellschaft. Eine Forschungsagenda K ONRAD O TT
1.
E INLEITUNG
UND
P ROBLEMSTELLUNG
Erfahrungen mit Begrenztheiten natürlicher Ressourcen und die Fragen nach einem angemessenen individuellen und kollektiven Umgang mit diesen Begrenztheiten sind niemals wertneutral, sondern gehen mit Besorgnissen und Veränderungsabsichten einher.1 Diesen Besorgnissen wohnt zumeist ein moralisches Moment inne, da sie sich nicht nur auf das je eigene Wohlergehen, sondern auch auf das Wohl anderer, darunter womöglich auch zukünftiger Personen beziehen. Derartige Besorgnisse wiederum sind keine bloßen Emotionen, sondern wirkliche Momente des Lebenszusammenhangs von Gesellschaften. Daher ist ihre Einbettung in eine Gesellschaftstheorie wünschenswert. Es sollen daher im Folgenden gegenwartsorientiert gesellschaftstheoretische Grundlagen einer nachhaltigen Entwicklung ausgelotet und daraus Forschungsfragen gewonnen werden. Zunächst betrachte ich im historischen Rückblick exemplarische Besorgnisse über die Begrenztheit natürlicher Ressourcen, die sich auf die Idee der Nachhaltigkeit beziehen (2). Anschließend erläutere ich das zugrunde gelegte Konzept von Nachhaltigkeit (3) und nenne Gründe, warum mir der Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft unumgänglich erscheint (4). Unter diesen Prämissen unterbreite ich den Vorschlag (5), in der Gesellschaftsphilosophie versuchsweise auf Hegels Rechtsphilosophie zurückzugreifen. Das zu entfaltende Forschungs1
Zur „Sorge“ als Existential des Daseins vergleiche Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1979, Sechstes Kapitel, §§ 39-44.
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projekt möchte die ethischen Fragen nach (präsumtiv) „guten“, „richtigen“ und „angemessenen“ Umgangsweisen mit der Erfahrung der Begrenztheiten von Natur also in den Sphären des „Richtigen“ behandeln.2 Der Abschnitt (6) entwickelt einige Forschungsfragen hierzu.
2.
D ER
GESCHICHTLICHE
K ONTEXT
2.1 Frühe Vertreter der Nachhaltigkeitsidee Geschichtlich betrachtet, entsteht die Idee der Nachhaltigkeit im frühen 18. Jahrhundert aus Besorgnissen über die Begrenztheit einer für die damalige Zeit ökonomisch essentiellen natürlichen Ressource (Holz) angesichts der Erfahrung von Entwaldungstendenzen. Die Explikation dieser Besorgnisse führt schon in Carlowitz‘ „Silvicultura oeconomica“ (1713) zur Formulierung von Grundsätzen der Zukunftsverantwortung und zu einer Deutung des biblischen Auftrags eines „Bebauens und Bewahrens“3. Diese Nachhaltigkeitsgrundsätze werden im 19. Jahrhundert zu Regelwerken spezifiziert, die den Umgang mit Wäldern und Forsten so regulieren sollen, dass ceteris paribus dauerhaft hohe („nachhaltige“) Holzernten gewährleistet sind.4 In einem ähnlichen Sinne formuliert Malthus in seiner Schrift „Essay on Population“ (1798) Befürchtungen hinsichtlich der dro-
2
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: „Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“, in: Michel Moldenhauer (Hg.), Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Grundlinien des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (= Werke, Band 7), Frankfurt a.M. 1970. Paragraphenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
3
Grober, Ulrich: „The discovery of sustainability: the genealogy of a term“, in: Judith C. Enders/Moritz Remig (Hg.), Theories of Sustainable Development, New York 2014, S. 6-15.
4
Siehe hierzu Faustmann, Martin: „Berechnung des Wertes, welchen Waldboden, sowie noch nicht baubare Holzbestände für die Waldwirtschaft besitzen“, in: Allgemeine Forst- und Jagdzeitung (1849), S. 441-455; Hagen, Otto von: Die forstlichen Verhältnisse Preußens, Berlin 1867. Hagen wehrt sich gegen Faustmanns Berechnungen, weil er die Staatsforsten „als ein der Gesammtheit der Nation gehörenden Fideikommiß“ betrachtet. Der Zukunft müsse „ein mindestens gleich hoher Fruchtgenuß von gleicher Art gesichert“ werden. Ich entnehme das Zitat aus Henning, Rolf: Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Wald (= Archiv für Forstwesen und Landschaftsökologie, Band 42), o.O. 2008, S. 3.
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henden Diskrepanz zwischen Ernteerträgen und Bevölkerungswachstum.5 Kunstdünger war später für Liebig, der Malthus‘ Befürchtungen hinsichtlich chronischer Nahrungskrisen ernst nahm, der wissenschaftlich-technische Ausweg, um dauerhaft hohe („nachhaltige“) Ernten in einer rationellen Landwirtschaft zu erzielen, die auch die Bodenfruchtbarkeit erhalten sollte.6 Möbius überträgt 1877 die forstliche Nachhaltigkeitsidee auf die von Übernutzung gekennzeichnete Bewirtschaftung der Austernbänke und entwickelt an dieser Knappheitsproblematik das ökologische Konzept der Biozönose.7 Wetekamp beklagt im Kontext der Industrialisierung die Vergänglichkeit und das „Schwinden“ der deutschen Heimatnatur mitsamt charakteristischer Tier- und Pflanzenarten.8 In England stellt der Ökonom Jevons Berechnungen über die Endlichkeit der Kohlevorräte an.9 Die möglichen Verluste (Holz, Austern, Kohle, Tier- und Pflanzenarten) wurden hinsichtlich ihrer Schwere unterschiedlich eingeschätzt. Der drohende Verlust der Austernbänke und das mögliche Aussterben der Biber und Adler wurden von den Beteiligten als weniger gravierend eingestuft als die Entwaldung oder gar die von Malthus und Liebig befürchteten Nahrungskrisen. In keinem der genannten Fälle wurden drohende Verluste als unabwendbar hingenommen. Rationelle Forstwirtschaft (Carlowitz, Faustmann), Kunstdünger (Liebig), Ansätze nachhaltiger Fischerei (Möbius) und Naturdenkmalpflege (Conwentz) waren konzeptionelle Antworten auf Begrenztheitserfahrungen. Implizit sind in diesen Konzeptionen, die Kohlebestände freilich ausgenommen, auch lebensweltliche Erfahrungen hinsichtlich der Fruchtbarkeit und Reproduktivität des Lebendigen enthalten, die sich mit (proto-)ökologischen Konzepten verbin-
5
Hierzu Sieferle, Rolf Peter: Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt, Frankfurt a.M. 1990, insb. Kap. 3.
6
Liebig, Justus von: Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, Braunschweig 71862.
7
Vgl. Möbius, Karl August: Zum Biözönose-Begriff. Die Auster und die Austernwirtschaft. Herausgegeben und aktualisierte Einleitung von Thomas Potthast, Frankfurt a.M. 2006.
8
Wetekamps Rede von 1898 findet sich wiederabgedruckt in: Wetekamp, Wilhelm: Aus der Geschichte der staatlichen Denkmalpflege (= Mitteilungen der Brandenburgischen Provinzialkommission für Naturdenkmalpflege, Band 7), Berlin 1914, S. 207-218. Aus Wetekamps Initiative ging das Konzept der Naturdenkmalpflege hervor; siehe hierzu Conwentz, Hugo: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung, Berlin 1904.
9
Vgl. Jevons, William S.: The Coal Question, London 1866.
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den ließen. Somit verbinden sich in diesen Konzepten Ökologie und Ethik. In diese Konzeptionen geht zudem das sog. Kassandra-Paradox ein: Man muss mit katastrophalen Folgen drohen, damit diese noch rechtzeitig abgewendet werden können. Werden sie aber abgewendet, bleiben die Katastrophen aus und die Drohungen erscheinen im Nachhinein als übertrieben. 2.2 Der gegenwärtige Kontext Besorgte Erfahrungen mit der Begrenztheit natürlicher Ressourcen und drohender Verluste wiederholen sich am Ende des 20. Jahrhunderts in einer globalisierten Welt, in der die Menschheit zu einem Faktor von erdgeschichtlicher Bedeutung geworden ist.10 Der Raubbau an natürlichen Ressourcen und die Übernutzung von natürlichen Senken sind zu Beginn des 21. Jahrhundert keine lokalen oder regionalen Probleme mehr, sondern sind globalisiert. Stichworte genügen: Eintrag von Umweltgiften, Klimawandel, Artensterben, Entwaldung, Bodendegradation, Eutrophierung, Trinkwasserknappheit, Überfischung und Übersäuerung der Meere, Bevölkerungswachstum, Nahrungskrisen usw. Angesichts dieser Krisenerfahrungen, für die sich die titelartige Merkformel „Naturkrise im Anthropozän“ anbietet, erklärt und rechtfertigt sich der apokalyptische Tonfall vieler Warnungen seit den 1960er Jahren, die eine vom Wachstumsglauben verblendete Bevölkerung und eine in Kurzzeitdenken verstrickte Politikerkaste meinten aufrütteln zu müssen.11 Der bedeutendste Mahner dieser Zeit, Hans Jonas, verortete sich in der Tradition der biblischen Unheilsprophetie.12 Vielfach wurde die Erfahrung mit Begrenztheit als Einsicht in absolute natürliche Grenzen gedeutet, in Grenzen also, die die Natur selbst vorgibt. In Wirklichkeit sind die Grenzen jedoch niemals „physei“, sondern „thesei“, was auch für die seit einigen Jahren vieldiskutierten sog. „planetary boundaries“ gilt.13 Die Natur selbst
10 Vgl. Daly, Hermann: Wirtschaft jenseits von Wachstum, Salzburg 1999, sowie Crutzen, Paul: „Geology of Mankind“, in: Nature 415 (2002), S. 23. Mittlerweile kursieren eine ganze Reihe konträrer Deutungen zu den vermeintlichen ethischen Implikationen des Begriffs des Anthropozäns. Diese Deutungen werden dann kritisiert, sodass sich ein seltsamer Diskurs entspinnt, der mit Crutzens eigentlicher These nur noch wenig zu tun hat; siehe etwa Manemann, Jürgen: Kritik des Anthropozäns, Bielefeld 2014. 11 Siehe die Beiträge von Göttsch-Elten und Stein in diesem Band. 12 Vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M. 1979; Ders.: Organismus und Freiheit, Göttingen 1973. 13 Rockström, J. et al.: „A Safe Operating Space for Humanity“, in: Nature 461, S. 472-475.
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kennt bspw. keine ideale Erdtemperatur, wir Menschen haben unsere Gründe, ein „tolerable window“ der globalen Mitteltemperatur nicht zu verlassen. Wenn man sich mit diesen Traditionen intensiver beschäftigt, so wird allerdings der Rückgriff auf apokalyptische Denkformen fragwürdig. Wer glaubt, durch Warnprognosen ließen sich gefährliche Lagen zum Guten wenden (Wiederaufforstung, Wiederaufbau von übernutzen Beständen, Renaturierung) oder wenigstens im Erträglichen halten, der ist ein Unheilsprophet, der noch auf rechtzeitige Umkehr hofft. Er kann sich auf einige Erfolgsgeschichten berufen: Das „Waldsterben“ hat nicht stattgefunden, das Ozonloch dürfte sich im 21. Jahrhundert wieder schließen, die Wölfe und andere verdrängte Spezies kehren nach Mitteleuropa zurück, in Meeresschutzgebieten reproduzieren sich die marinen Spezies in erstaunlicher Geschwindigkeit usw.14 Das macht simple Apokalyptik unglaubwürdig. Probleme des richtigen Umgangs mit begrenzten natürlichen Ressourcen mögen als „wicked problems“ beschrieben werden, die ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Klugheit fordern. Unlösbar in einem radikalen Sinn waren und sind sie nicht.
3.
Z UR K ONZEPTION
VON
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Seit dem berühmten Brundtland-Bericht15 wurde die Idee der Nachhaltigkeit in Politik und Wissenschaft aufgegriffen. Mittlerweile hat sich ein trans- und interdisziplinäres Forschungsfeld namens „sustainability science“ gebildet, das sich epistemologisch reflektieren lässt.16 Der Ausdruck „science“ muss dabei allerdings in dem weiten Sinn des Wissenschaftlichen verstanden werden, der Disziplinen wie Ökonomik, Recht, Ethik und Politikwissenschaft einschließt. Da Nachhaltigkeit ein normatives Konzept ist, liegen seine Grundlagen in morali-
14 Roberts, Callum: Der Mensch und das Meer, München 2013, S. 412-479. 15 Vgl. hierzu: The World Commission on Environment and Development: Our Common Future, Oxford 1987. 16 Neumayer, Eric: Weak versus Strong Sustainability. Exploring the Limits of Two Opposing Paradigms, Cheltenham 2003; Ziegler, Rafael/Ott, Konrad: The quality of sustainability science: a philosophical perspective, in: Sustainability: Science, Practice & Polity 7 (2012), S. 31-44, Baumgärtner, Stefan/Becker, Christian: Wissenschaftsphilosophie interdisziplinärer Umweltforschung, Marburg 2005; Enders, J.C./Remig, M.: Theories of Sustainable Development, Oxon/New York 2014.
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schen Ideen, die sich ethisch analysieren und rechtfertigen lassen.17 Die moralischen Grundlagen der Nachhaltigkeitsidee liegen in der Gerechtigkeitstheorie und in der Umweltethik, die beide im Horizont einer Diskurstheorie praktischer Vernunft stehen.18 Nachhaltigkeitstheorien ziehen also zwei übergeordnete Theorien heran: einmal die Gerechtigkeitstheorie mit ihrer Frage nach den Prinzipien einer gerechten politischen Ordnung und der Verteilung von Gütern, zum anderen die Umweltethik mit ihren Fragen nach dem Wert und der Bedeutung von Natur für das menschliche Leben und nach dem möglichen moralischen Selbstwert von Naturwesen (sog. Inklusionsproblem). Die Frage, wie wir die Zugänge zu begrenzten natürlichen Ressourcen einschließlich der Quellen immateriellen Naturgenusses möglichst gerecht regulieren können, ist demnach nicht unabhängig von der Frage nach Nutzen, Wert und Bedeutung bestimmter Naturgüter für unterschiedliche Kollektive. Dabei geht es nicht nur um faktische Wertvorstellungen, die sich durch Umfragen ermitteln lassen, sondern auch darum, welche Werte sich in freien Diskursen über Naturverhältnisse herausstellen könnten.19 In der Umweltethik verfügen wir hierzu mittlerweile über robuste Wertschemata,20 die es ermöglichen, autonom und authentisch Naturschutzdiskurse zu führen, konkrete Schutzziele festzulegen und entsprechende politische Agenden zu verabschieden.21
17 Unter Ethik wird hier die Reflexionstheorie des Guten (Axiologie) und Richtigen (Deontologie) verstanden. Nachhaltigkeitstheorien müssen axiologische Annahmen über Naturgüter und deontologische Annahmen über Verpflichtungen gegenüber Anspruchsberechtigten miteinander vermitteln. 18 Vgl. hierzu Ott, Konrad: „Ethik und Diskurs“, in: Steenblock, Volker (Hg.), Kolleg Praktische Philosophie, Band 2, Stuttgart 2008, S. 111-152; Gottschalk-Mazouz, Niels: Diskursethik, Berlin 2000. Die grundlegenden Arbeiten stammen natürlich von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas. 19 Der Diskursbegriff wird im „klassischen“ diskursethischen Sinn als Fortsetzung kommunikativen Handelns mit argumentativen Mitteln verstanden. Zur Verbindung von Diskurs- und Umweltethik siehe Ott, Konrad: Umweltethik zur Einführung, Hamburg 2010. 20 Vgl. Krebs, Angelika: Ethics of Nature, Berlin 1999. Muraca, Barbara: „The Map of Moral Significance“, in: Environmental Values 20,3 (2011), S. 375-396, sowie Ott, Konrad: Umweltethik zur Einführung, Hamburg 2010, darin besonders zum Argumentationsraum der Umweltethik auf S. 18. 21 Der investierte Naturbegriff ist, ontologisch betrachtet, nur eine titelartige Überschrift für unterschiedliche lebendige und unbelebte Entitäten mit unterschiedlichem Hemerobiegradienten, die im Kontext einer planetarischen Biosphäre existieren.
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Was Gerechtigkeitsprinzipien anbetrifft, so möchte ich zu ihrer Bestimmung auf die Theorie von John Rawls zurückgreifen.22 Rawls zufolge23 würden vernünftige Personen hinter einem Schleier der Unwissenheit folgende vier Prinzipien wählen: Freiheit: größtmögliches System gleicher Freiheits- und Teilnahmerechte Gleichheit: faire Chancengleichheit der Lebensaussichten Brüderlichkeit: Differenzprinzip zugunsten der am schlechtesten gestellten Gruppen in einem System der Kooperation Zukunftsverantwortung: fairer intergenerationeller Sparplan. Das vierte Prinzip diskutiert Rawls im § 44 seiner „Theory of Justice“.24 Der dort konzipierte faire Sparplan bleibt auf Geld-, Sach- und Humankapital fokussiert. Man kann Rawls allerdings so interpretieren, dass auch die Naturkapitalien einer Gesellschaft als reale Kapitalien verstanden werden können und sollen. Ralf Döring und ich haben daher vorgeschlagen, Rawls fairen Sparplan zum Konzept einer fairen intertemporalen Hinterlassenschaft an Gütern zu erweitern.25 Ich gehe außerdem von der an anderer Stelle begründeten Annahme aus, dass die Substituierbarkeit von Naturgütern aus verschiedenen Gründen begrenzt und daher eine Regel kollektiven Handelns diskursiv anerkennungswürdig ist, die fordert, die noch verbliebenen Naturgüter auf Dauer mindestens konstant zu halten („starke“
22 Vgl. hierzu ausführlich Ott, Konrad: „Institutionalizing Strong Sustainability. A Rawslian Perspective“, in: Sustainability 6 (2014), S. 894-912. 23 Vgl. Rawls, John: A Theory of Justice, Harvard 1971. 24 Allerdings macht Rawls dort die problematische Annahme, dass die Personen hinter dem Schleier wissen, dass sie Zeitgenossen sind. Dies führt zu weiteren Konfusionen, die allerdings behebbar scheinen. Hierzu siehe Ott, Konrad: „Essential Components of Future Ethics“, in: Ralf Döring/Michael Rühs (Hg.), Ökonomische Rationalität und praktische Vernunft, Würzburg 2004, S. 83-108. 25 Diese Lesart könnte auch vorteilhaft in Bezug auf die Deliberationen innerhalb der Institutionen einer im Sinne von Rawls wohlgeordneten Gesellschaft sein, da in den „branches“ auch über das Ausmaß des Schutzes der kollektiven Naturgüter einer Gesellschaft befunden werden soll. Gemäß unserem Vorschlag würden in den Deliberationen der „Austauschabteilung“ stärker umweltethische Argumente zum Zuge kommen; vgl. hierzu vor allem § 43 der „Theory of Justice“.
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Nachhaltigkeit).26 Diese Regel ergibt sich sowohl kritisch aus einer Auseinandersetzung mit ökonomischen Modellen als auch positiv aus den Werthinsichten der Umweltethik. Diese Grundregel („Constant Natural Capital Rule“) kann zu einem Regelwerk spezifiziert werden, das den Naturkapitalbegriff hinsichtlich nichterneuerbarer Ressourcen, nicht-lebendiger und lebendiger Fonds differenziert. Dieses Regelwerk kann in Gesellschaften, die auf eine lange Geschichte der Naturnutzung zurückblicken, auf diverse Bestände anthropogen überformten, d.h. kultivierten Naturkapitals angewendet werden. Es schließt für Gesellschaften, die die Regeln in der Vergangenheit nicht befolgt haben, eine Regel der Investition in Naturkapitalien ein, die sich als Praxis der Renaturierung realisiert.27 Diese Konzeption „starker“ Nachhaltigkeit wurde mit Blick auf spezifische Naturgüter näher ausgearbeitet.28 Nun stehen Naturgüter der Gesellschaft nicht unvermittelt gegenüber, sondern sind mit Produktion, Handel, Konsumption, Bauen und Wohnen, Freizeitgestaltung usw. vielfach vermittelt. Eine abstrakte Entgegensetzung von Mensch und Natur oder die Naturalisierung des Menschen als „Teil der Natur“ scheiden
26 Ott, Konrad: „On Substantiating the Concept of Strong Sustainability“, in: Olivier Parodi/Ignacio Ayestaran/Gerhard Banse (Hg.), Sustainable Development: Relationships to Culture, Knowledge and Ethics, Karlsruhe 2011, S. 159-174. 27 Zwar wäre es unhistorisch, vergangenen Generationen Vorwürfe zu machen, aber es ist sicher zulässig, die Resultate von Praktiken, die uns als Fehler und Irrtümer erscheinen, zu korrigieren. Dabei ist zu bedenken, dass vergangene Generation die oben aufgezeigten Nachhaltigkeitstraditionen hätten beachten können. Zu den Möglichkeiten der Renaturierung, vgl. Zerbe, Stefan/Wiegleb, Gerhard: Renaturierung von Ökosystemen in Mitteleuropa, Heidelberg 2009, darin auch den Beitrag des Verfassers zur Renaturierungsethik. 28 Zu Problemen des ökologischen Waldumbaus siehe Ott, Konrad/von Egan-Krieger, Tanja (Hg), Normative Grundlagen nachhaltiger Waldbewirtschaftung (= Eberswalder Forstliche Schriftenreihe, Band 50), Eberswalde 2012, S. 7-38. Zu Fragen der Klimaethik siehe Ott, Konrad: Domains of Climate Ethics (= Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 16), Berlin/New York 2012, S. 95-114. In einem nächsten Schritt wäre im Lichte dieser Untersuchungen das Problem systematisch zu behandeln, auf welche Arten und Weisen sich das Problem der Substituierbarkeit innerhalb des weiten Bereiches der teilweise bereits anthropogen überformten Naturgüter stellt. Dieses Problem stellt sich ja auch innerhalb des Ansatzes der „ecosystem services“. Hierzu siehe Jax, Kurt et al.: „Ecosystem Services and Ethics“, in: Ecological Economics 93 (2013), S. 260-268.
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daher aus. Natur wird gesellschaftlich bewirtschaftet29 und Naturverhältnisse sind immer auch gesellschaftliche Verhältnisse. Der Umwelt- und Naturschutz ist eine gesellschaftliche Praxis, kein Naturereignis. Vielleicht wurden diese trivialen Wahrheiten in der Umweltethik nicht immer genügend betont; vorausgesetzt wurden sie zumeist.30 Diese Wahrheiten ergeben freilich noch keine Theorie der Gesellschaft. Luhmann kritisierte zu Recht das gesellschaftstheoretische Defizit der sog. Ökologiebewegung.31 Dieses Defizit wurde bislang nicht behoben. Die gesellschaftliche Dimension von Nachhaltigkeit wurde im Kontext des sog. DreiSäulen-Modells auf unbefriedigende Weise als „soziale Säule“ gefaßt. Auch die ökonomischen Beiträge zur Nachhaltigkeitstheorie können aufgrund ihrer Fixierung an abstrakten Wohlfahrtsfunktionen dieses sozialphilosophische Defizit nicht beheben.32 Die Einsicht in diese Defizite beantwortet freilich nicht die Frage, welche der konkurrierenden Gesellschaftstheorien vorzugswürdig sein könnte. Es stehen imposante Traditionslinien zur Wahl, die mit „großen“ Namen verbunden sind: Hegel, Marx, Tönnies, Weber, Horkheimer, Habermas, Luhmann, Bourdieu. Bevor ich mich im Kontext dieser „Großtheorien“ verorte, sind einige Bemerkungen zur Wachstumsproblematik am Platze.
29 Aus der abstrakten Allgemeinheit der Notwendigkeit einer solchen Bewirtschaftung folgt nichts über deren Gestaltung und Regulierung in bestimmten Gesellschaften. Diese sind in geschichtlicher Perspektive äußerst vielfältig. Die Nachhaltigkeitstheorie ist jedoch keine historistische Theorie, sondern bezieht sich auf die Gesellschaft der Gegenwart. 30 Der Umweltethik wird häufig eine solche Entgegensetzung von Mensch und Natur vorgehalten, der sie sich kaum jemals schuldig gemacht hat. Die Frage nach dem moralischen Selbstwert von Naturwesen führt allerdings zu Abstraktionen von gesellschaftlichen Vermittlungen. 31 Vgl. Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. 32 Vgl. etwa Chichilnisky, Gracia: „What is Sustainable Development?“, in: Land Economics. Special Issue: Defining Sustainability 73,4 (1997), S. 467-491; Heal, Geoffrey: Valuing the Future, New York 1998; Asheim, Geir B.: Justifying, Characterizing and Indicating Sustainability, Dordrecht 2007.
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4.
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Es mehren sich die empirischen und theoretischen Hinweise darauf, dass die Anerkennung der Begrenztheit natürlicher Ressourcen und die Idee „starker“ Nachhaltigkeit mit dem Ziel konfligieren, auch in Zukunft hohe ökonomische Wachstumsraten zu generieren.33 Wenn man klar zwischen physischem und ökonomischem Wachstum, d.h. zwischen materiellem Durchsatz („throughput“) und der Zunahme des Bruttoinlandproduktes (BIP34) unterscheidet, sind Zweifel angebracht, ob hohes BIP-Wachstum in einer physisch begrenzten Welt weiterhin möglich ist. Eine westeuropäische Postwachstumsgesellschaft hat eine lange Periode von Wirtschaftswachstum durchlaufen, in der Massenwohlstand geschaffen und früherer Luxus breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht wurde (Automobil, Wohnkomfort, Fernreisen, Bildungsangebote, Gesundheitsversorgung usw.). Der durchschnittliche Lebensstandard wurde in der Nachkriegszeit enorm gesteigert, was zu vielen Hintergrunderfüllungen geführt hat. Die Lebenserwartung stieg und steigt,35 die Lebensarbeitszeit ging und geht zurück und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates schuf ein vergleichsweise hohes Niveau an sozialer Sicherheit. Hierdurch haben sich Anspruchsniveaus gefestigt, Besitzstandsdenken ist verbreitet und im mentalen Untergrund lauern Verarmungsängste, die viele beschleichen. Die Wachstumsfrage muss dahingehend differenziert werden, ob ökonomisches Wachstum bei begrenzten natürlichen Ressourcen noch möglich, axiologisch wünschenswert oder aufgrund seiner Folgen und Nebenwirkungen moralisch zulässig ist.36 Außermoralische Gründe, die gegen hohe Wachstumsraten sprechen, sind neben der schieren Größe des BIP der Industrieländer, das jeden prozentualen Zuwachs erschwert, teilweise gesättigte Konsumgütermärkte und
33 Diese Aussage gilt auch für die großen Transformations- und Schwellenländer. Für die nördlichen Industrieländer mit ihrer kapitalintensiven Wertschöpfung, ihrem hohen Dienstleistungs- und Wissenssektor und ihrem demographischen Wandel stellt sich die Frage nach Wirtschaftswachstum jedoch anders als für Gesellschaften, in denen die Anhebung des materiellen Lebensstandards die Lebensqualität noch spürbar verbessert. 34 Die Größe des deutschen BIP liegt mittlerweile bei mehr als 2.5 Billionen Euro pro Jahr. Dies erscheint intuitiv als auskömmlich. 35 Mittlerweile hat sich die Lebenserwartung in West- und Ostdeutschlang angenähert. 36 Diese Unterscheidung stammt ursprünglich von Barbara Muraca.
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eine alternde Gesellschaft.37 Freilich ist BIP-Wachstum funktional mit Steueraufkommen und Beschäftigungsstand gekoppelt. Die stärksten Gründe für BIPWachstum sind funktonaler Art. Aber ein demokratisches Gemeinwesen hat viele Freiheiten, über funktionale Äquivalente zu diskutieren (Steuerreform, Verteilung von Arbeit). Andernfalls werden aus funktionalen Gründen bloße Wachstumszwänge. Eudaimonistische Gründe lassen daran zweifeln, ob und inwiefern die BIP-Messgröße noch relevant ist für Lebensqualität und -zufriedenheit. Die Gründe hierfür sind bekannt: Das BIP ist eine Messgröße für wirtschaftliche Aktivität an Märkten. Es erfasst die Hausarbeit nicht, abstrahiert von Verteilung, verbucht bestimmte Ereignisse als Zugewinn statt als Schaden usw.38 Ein Diktat dieser Messgröße über unser gelebtes Leben ist daher aus der Perspektive eudaimonistischer Ethiken abzulehnen. Da es zudem aus Gründen der Zukunftsverantwortung in Ansehung einer begrenzten Welt moralisch geboten ist, den stofflichen und energetischen Naturverbrauch nicht relativ auf BIP-Einheiten, sondern absolut deutlich zu reduzieren, werden hohe BIP-Wachstumsraten unwahrscheinlich.39 Eine „stark“ nachhaltige Gesellschaft wird daher strukturell eine Postwachstumsgesellschaft sein. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat in seinem jüngsten Gutachten gefordert, verstärkt über die gesellschaftliche und ökonomische Stabilität in Ländern zu forschen, die keine hohen BIP-Wachstumsraten mehr generieren werden.40 Solche Forschung bedarf schon aus der Einsicht heraus, dass jede ökonomische Theorie politische Ökonomie ist,41 der Gesellschaftstheorie, der politischen Philosophie und der Ethik. Hinsichtlich der möglichen Pfade in eine Postwachstumsgesellschaft werden ja die grundlegenden politischen Ideen der Moderne (technischer Fortschritt, Neokonservatismus, Gesellschaftsvertrag, So-
37 Daher plädieren Marktliberale für großzügige Zuwanderung, um Märkte zu „entsättigen“. 38 Die Kritik hieran reicht bis in die 1960er Jahre und braucht nicht in extenso wiederholt zu werden. 39 Vertritt man darüber hinaus auf globaler Ebene einen Ressourcenegalitarismus, so sind die Gesellschaften des Nordens verpflichtet, ihren Naturverbrauch zu reduzieren, um ein zumindest temporäres physisches und ökonomisches Wachstum im Süden zu ermöglichen. 40 Vgl. hierzu den Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Verantwortung in einer endlichen Welt. Umweltgutachten 2012, Berlin, Tz 28. 41 Vgl. Egan-Krieger, Tanja von: Die Illusion wertfreier Ökonomie, Frankfurt a.M. 2014.
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zialismus) aktualisiert.42 Die Debatte um eine Postwachstumsgesellschaft weckt ein neues Interesse an politischer Ökonomie und politischer Philosophie.43 Der Übergang in eine nachhaltige Postwachstumsgesellschaft bedarf, so heißt es, einer „großen Transformation“44. Aber was macht eine solche Transformation, philosophisch gefragt, „groß“? Viele assoziieren mit „Größe“ voller Angstlust etwas Epochales und Revolutionäres. Die Moderne ist voll von Visionen „großer“ Zeitenwenden.45 Nach all dem Glanz und Elend solcher Visionen und Utopien (etwa im Kommunismus) dürfte es ratsam sein, „Größe“ von dem abzugrenzen, was sich verbalradikal aufbläht. Vielleicht könnte die „Größe“ einer Transformation gerade darin liegen, dass sie von den Beteiligten als unspektakulär und „leichter als gedacht“ erfahren werden könnte.
5.
H EGELS „G RUNDLINIEN DES R ECHTS “
DER
P HILOSOPHIE
Die Wahl einer gesellschaftstheoretischen Tradition ist voraussetzungsreich. Ein gründlicher metatheoretischer Vergleich von Theorieangeboten kann hier nicht angestellt werden. Ich möchte von einer Gesellschaftstheorie zunächst nur fordern, dass sie die bereits verwirklichte Vernünftigkeit einer modernen Gesellschaft, d.h. deren geschichtliche Errungenschaften,46 mit den normativen Gehal-
42 Vgl. hierzu Ott, Konrad: „Vier Pfade ins Postwachstumszeitalter“, in: Vorgänge Nr. 195 (2011), S. 54-69. 43 Im Kontext dieser Debatten werden von einigen Autoren (so bei Zizek, Agamben, Badiou u.a.) die lange Zeit dominanten politischen Philosophien des Liberalismus (Habermas, Rawls, Dworkin u.a.) grundlegend in Frage gestellt, indem im Geiste Carl Schmitts die Differenz zwischen der normalen Politik und dem eigentlich, zumeist ereignishaft verstanden Politischen beschworen wird. Hierzu kritisch Marchart, Oliver: Die politische Differenz, Berlin 2010. 44 Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU): Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011. Der Titel knüpft an Polanyi an, dessen gleichnamiges Buch den Übergang zur Marktwirtschaft aus marxistischer Perspektive rekonstruiert. Polanyi, Karl: The Great Transformation, Frankfurt a.M. 1978. 45 Viele instruktive Beiträge hierzu finden sich in Fischer, Karsten (Hg.): Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt a.M. 1999. 46 Zu diesen Errungenschaften rechne ich Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Demokratie, Lebensstilpluralismus, hohe Lebenserwartung, Bildungsniveaus und -chancen, Absicherung eines materiellen Minimums für alle Bürgerinnen, Mobilität usw.
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ten der Nachhaltigkeitsidee und mit den Aussichten auf eine Postwachstumsgesellschaft vermitteln kann.47 Hierzu greife ich versuchsweise auf Hegels Konzeption von Rechtlichkeit, Moralität und Sittlichkeit zurück. Der Grundtext ist Hegels „Grundlinien zu einer Philosophie des Rechts“. Es soll in diesem Rückgriff deutlich werden, dass die vorhandenen rechtlichen, moralischen und sittlichen Kräfte unserer Gesellschaft für die „große“ Transformation politisch so genutzt werden können, dass sie gestärkt und verwandelt aus ihr hervorgehen könnten. Diese hegelianische Perspektive wird hier nur auf unsere eigene Gesellschaft bezogen.48 Ich werde daher Fragen globaler Nachhaltigkeit vernachlässigen. Die Grundstruktur der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie ist in jüngerer Zeit für aktuelle Fragestellungen fruchtbar gemacht worden.49 Der maßgebliche Ansatz Axel Honneths behandelt Fragen gesellschaftlicher Naturbeziehungen nicht, da seine Rekonstruktion die Idee der freiheitlichen Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt rückt. Hierfür hat Honneth gute Gründe.50 Es geht Hegel ja um die Wirklichkeit der Idee der Freiheit in verschiedenen Sphären geschichtlich geprägten kollektiven Lebens so, dass diese Idee durch Einsichten in das jeweils Richtige („Rechte“) ihre eigene vernünftige Substanz gewinnt, durch die sie sich selbst über bloße Willkürfreiheit erhebt.51 Ein leitender Gedanke Hegels ist, dass das moderne Recht (Habermas: „die Form des Rechts“) und die subjektive Moralität nicht negiert werden dürfen, aber in übergreifende und „reichere“ sozialpolitische Institutionen eingebettet
47 Die einzige neuere Gesellschaftstheorie, die sich der Naturkrise zugewendet hat, war die Systemtheorie (siehe Fußnote 31). Mit Luhmann kann man zeigen, dass eine systemisch ausdifferenzierte Gesellschaft sich durchaus auf die Naturkrise einstellen könnte, wenn sie nicht die binären Codes der diversen funktional ausdifferenzierten sozialen Systeme auszuwechseln beabsichtigt, sondern einen reformerischen Umgang mit den flexiblen Programmen innerhalb der Systeme in die hierfür vorgesehenen Wege leiten würde. Der angemessene Naturumgang würde sich dann bspw. in Programmen des Umweltrechts und der Umweltadministration (Recht), der monetären Internalisierung externer Effekte (Ökonomie), der Lerninhalte in Curricula (Bildung), den Wahlprogrammen von politischen Parteien (Politik) usw. wiederfinden lassen. 48 Der ethische Universalismus der Diskusethik ist mit dieser sozialphilosophischen Beschränkung vereinbar; d.h. diese impliziert keinen moralischen Partikularismus. 49 Vgl. hierzu maßgeblich Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit, Berlin 2011. 50 So schon Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein, Band 3, Frankfurt a.M. 1966. 51 Dieser Ansatz ist dem liberalistischen Freiheitsverständnis nicht gemäß, das für Hegel nur das Anspruchsdenken der Willkürfreiheit theoretisch zum Ausdruck bringt und zur abstrakten Tautologie des „Ich will, was ich will“ zusammenschrumpft.
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werden müssen. Eine äußerliche Addition von Rechtssicherheit und Gewissensfreiheit ergibt für Hegel noch keine substantielle Freiheit. Der Begriff des Rechtes meint bei Hegel „nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die ebenfalls hierher gehören“ (§ 33).52 Nun gilt Hegel als politisch konservativ, ja als reaktionär. Der Marxismus nimmt die Kritik des jungen Marx an Hegel „at face value“ bis hin zu der Spruchweisheit, Marx habe Hegel vom „Kopf auf die Füße gestellt“.53 Karl Popper setzt die Fehldeutungen Hegels fort, indem er ihn als „Staatsvergotter“ und als Feind der offenen Gesellschaft interpretiert.54 Ich lese Hegel dagegen als Theoretiker der preußischen Reformen, deren Epoche um 1820 endete. Bezieht man Hegels berühmtes Bild am Ende der „Vorrede“ von der „Eule der Minerva“, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, das heißt dann, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, auf diese Periode ökonomischer, kultureller und politischer Reformen in kriegerischer Zeit,55 dann erscheinen die „Grundlinien“ als Versuch, diese Reformperiode konzeptionell einzuholen.56 Die Errungenschaften dieser Periode sind, da vernünftig, weiter in Wirklichkeit begriffen, wenngleich dem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit nicht immer ein Fortschritt an wirklicher Freiheit korrespondiert. Die reaktionäre Wende der preußischen Politik in der sog. Metternich-Ära ist Hegel nicht anzulasten, sondern höchstens, dass er sie in den 1820er Jahren nicht kritisierte.
52 Es wäre terminologisch vorteilhaft, die „Grundlinien“ als eine Theorie des „Richtigen“ zu deuten, die Recht, Moral und Sittlichkeit übergreift. Dadurch würde das Mißverständnis verunmöglicht, man habe es bei den „Grundlinien“ mit einer Rechtsphilosophie im engeren Sinne zu tun. Es geht um Ordnungen, über die man sagen kann, so sei es „recht“. 53 Eine bedeutende Ausnahme ist Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution, Darmstadt 1962, vor allem die Einleitung und Kap. VI. 54 Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, München 61980, Band 2, S. 36-77. 55 Zu den preußischen Reformen siehe Mieck, Ilja: „Zielsetzungen und Ertrag der preußischen Reformen“, in: Manfred Schlenke (Hg.), Preußen. Politik, Kultur, Gesellschaft, Reinbek 1986, Band 1, S. 187-202. Richtig ist natürlich, dass diese Reformen später teilweise rückgängig gemacht wurden. 56 Nur dann sieht man auch die Zeitbedingtheiten Hegels, ohne auf ihnen „herumreiten“ zu müssen. Die reformistische Lesart darf freilich den generellen Konventionalismus Hegels nicht unterschlagen. Hegel affirmiert die Kontingente, sofern es der Vernunft nicht zuwiderläuft, wie etwa viele Sitten und Gebräuche.
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Institutionen von Recht, Moral und Sittlichkeit sind für Hegel Gestalten des „objektiven Geistes“, die unterschiedliche geschichtliche Niveaus erreichen können. Die Gestalten des objektiven Geistes sind 200 Jahre nach Hegel freilich andere geworden. „Zurück zu Hegel“ heißt daher nicht „Zurück in Hegels Zeiten“. Auch ist Hegel in seinen Beschränktheiten Kind seiner Zeit. Hegel sieht bspw., dass das Bürgertum zur politischen Partizipation strebt (§ 308), aber er lehnt die Idee der Volkssouveränität ab. Er sieht zwar die Notwendigkeit einer „Policey“ (§§ 231-236), die die Aktivitäten der bürgerlichen Gesellschaft überwacht, aber nicht die administrativen Aufgaben heutiger Staaten. Er sieht die Armut als ein „quälendes Problem“ der bürgerlichen Gesellschaft (§ 244 Z), aber nicht die Möglichkeiten moderner Sozialstaatlichkeit. Er sieht die Dialektik der öffentlichen Meinung (§§ 316-318), nicht aber Strukturen einer mediatisierten Öffentlichkeit. Er vertritt eine konstitutionelle Monarchie, ist aber kein Demokrat im heutigen Sinne. Hegel hätte nie in Abrede gestellt, dass nur solche Aktualisierungen der „Grundlinien“ zulässig sind, die auf der Höhe ihrer jeweiligen Gegenwart sind. Im Folgenden werden daher die konzeptionellen Grundstrukturen der „Grundlinien“ mit Merkmalen der heutigen Gesellschaft versuchsweise vermittelt. Ich verfolge somit eine reformistische Deutung der „Grundlinien“ mit einem systematischen Interesse an Reformen, die man beim gegenwärtigen Übergang in eine nachhaltige Postwachstumsgesellschaft ins Auge fassen muss.
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Für Hegel ist die Einsicht in das jeweils Rechte mit der freien Anerkennung bestimmter einsichtiger Verpflichtungen implikativ verbunden (§ 148). In diesem Sinne ist Hegel Deontologe. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Idee der Nachhaltigkeit, die ja als regelgeleitet bestimmt wurde. Die Idee der Nachhaltigkeit ist von ihrem normativen Status her ein Bündel von Zielen, die zu erreichen eine Verpflichtung darstellt. Die Moralität allein erreicht diese Ziele nicht. Die Verwirklichung dieser Idee und der ihr zugeordneten Ziele ist, wie gesagt, auf die Texturen einer rechtlichen, moralischen, politischen und sittlichen Kultur verwiesen. 6.1 Formelles Recht Was das Recht im engeren Sinne anbetrifft, so hat Hegel das Privat- und Strafrecht seiner Zeit vor Augen, das allerdings auch durch Ausbildung neuer
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Rechtsgebiete wie etwa dem des öffentlichen Rechts gekennzeichnet war. Hegel verteidigt in der Sphäre des Rechts das Privateigentum (§§ 41-71). Privateigentum ist als Ergebnis des „Fleißes“ das „erste Dasein der Freiheit“ (§ 45), das zu negieren Unrecht wäre (§ 49 Z).57 Privateigentum ist für Hegel nicht nur instrumentell wichtig (etwa zur Ausübung von intrinsisch wertvollen Fähigkeiten58), sondern ist selbst materieller Ausdruck von Lebensformen.59 Es besteht auch aus bedeutsamen Gütern, nicht bloß aus beliebigem Zeug. „Fleiß“ besteht nicht nur in der Bereitschaft, regelmäßig zu arbeiten, sondern in der Kunst, über die Zeit an Privateigentum mehr oder minder vermögend zu werden. Das bürgerliche Privateigentum ist häufig „nachhaltig“ in dem eingeschränkten familiären Sinne, dass es über Generationen aufgebaut, erhalten und vererbt wird.60 Wie nun also sollen Rechtsansprüche an Privateigentum in einer nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft institutionalisiert sein? Wie wären private Erbgänge mit der Bildung kollektiver Hinterlassenschaften zu vermitteln? Worauf darf der moderne Steuerstaat zu Zwecken der Egalisierung von Lebenschancen und zur Finanzierung von Gemeingütern (nicht) zugreifen? Ein hegelianischer Ansatz nimmt in die entsprechenden Debatten eine gehörige Portion Skepsis gegen die Patentrezepte der Umverteilungsenthusiasten mit.61 Hierauf ist in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft zurückzukommen. Für die verfolgte Fragestellung sind außerdem Errungenschaften in der Sphäre des Rechts wichtig, die sich bei Hegel anbahnen. Seit dem Ende des 19. Jahr-
57 Zu Hegels Theorie des Eigentums siehe Ritter, Joachim: Metaphysik und Politik, Frankfurt a.M. 1970, S. 256-280. Mit einem Seitenblick auf den Marxismus ist zu sagen, dass Hegel und Marx/Engels gegensätzliche Eigentumstheorien zugrunde legen. 58 Der sog. Fähigkeitenansatz, wie ihn Amartya Sen und Martha Nussbaum prominent vertreten, neigt zu einer instrumentellen Auffassung von Eigentum. 59 Heutige Vorschläge und Forderungen nach einer „Entrümpelung des Daseins“, wie sie Nico Paech vertritt, treffen jedenfalls nur ein Moment von Eigentum. Man kann an Eigentum gleichsam ersticken, aber es gibt andere Umgangsweisen mit innerweltlichen Glücksgütern. 60 Diese Praxis wird in unserer Gesellschaft durch die Verfassung des Grundgesetzes geschützt (Art. 14 GG). Gruppen, die für „Umfairteilung“ plädieren, konzipieren Privateigentum häufig pauschal nach dem Muster von unlauteren Spekulationsgewinnen, die abzuschöpfen legitim ist. 61 Vgl. hierzu Ott, Konrad: „Variants of degrowth and deliberative democracy: A Habermasian proposal“, in: Futures 44 (2012), S. 571-581.
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hunderts hat sich der „Zweck im Recht“ etabliert.62 Rudolph von Jhering bestimmt den Zweck im Recht als „Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“. Der Begriff der Lebensbedingungen „bestimmt sich nach dem, was zum Leben gehört“ (1877, S. 193). Jhering beschränkt diesen Begriff nicht auf das Lebensnotwendige, sondern bezieht ihn auf das „Wohlsein“ der Bevölkerung. Zu diesen Lebensbedingungen, die zu Rechtszwecken werden, gehört schon zu Jherings Zeiten die Naturausstattung der Gesellschaft. Konservative Sozialtheoretiker haben schon vor Jhering das „Recht der Wildnis“ eingefordert.63 Bereits vor der Zäsur von 1914 wurden vor dem damaligen Hintergrund von Begrenztheitsund Zerstörungserfahrungen die Anliegen der Naturdenkmal-, Landschafts- und Heimatschutzbewegung als neue Staatsaufgaben interpretiert.64 Es führt eine noch unzulänglich erforschte Tradition von Hegels Konzept der „Policey“ (§§ 232-236) über Lorenz von Stein,65 W.H. Riehl, Jhrerings „Zweck im Recht“ und den Artikel 150 der Weimarer Verfassung bis hin zu den gegenwärtigen Staatszielbestimmungen zum Schutz natürlicher Lebensgrundlagen (Art. 20a GG). Daher schließt das geplante Forschungsprojekt in der Sphäre des Rechts an die heutige Staatszielbestimmung des Art. 20a GG an, der sich im Sinne der Idee der („starken“) Nachhaltigkeit interpretieren lässt.66 Die Verbindung dieser (seit 2003 den Tierschutz einschließenden) Staatszielbestimmung mit kontinuierlicher umweltpolitischer Gesetzgebung und mit einer effektiven
62 Jhering, Rudolph von: „Der Zweck im Recht“, in: Werner Maihofer (Hg.), Begriff und Wesen des Rechts, Darmstadt 1973, S. 176-207. 63 Hier ist vor allem Wilhelm Heinrich Riehl zu nennen. Siehe Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Erster Band: Land und Leute, Stuttgart/Tübingen 1854. 64 Vgl. Heyer, Karl: Denkmalpflege und Heimatschutz im Deutschen Reich, Berlin 1912; Goldschmidt, Otto: Die preußischen Gesetze gegen Verunstaltung, Berlin 1912; Konrad Guenther: Der Naturschutz, Freiburg 1910. 65 Böckenförde hat auf Lorenz von Steins Bedeutung für die Sozialstaatsidee hingewiesen; siehe Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt a.M. 1991, S. 375. Dort zitiert Böckenförde Lorenz von Stein folgendermaßen: „Die Freiheit ist eine erst wirkliche in dem, der die Bedingungen derselben, die materiellen und geistigen Güter als Voraussetzung der Selbstbestimmung, besitzt.“ 66 Geddert-Steinacher, Tatjana: „Staatsziel Umweltschutz: Instrumentelle oder symbolische Gesetzgebung?“, in: Julian Nida-Rümelin/Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, Baden-Baden 1995, S. 31-52; Czybulka, Detlef: „Naturschutz und Verfassungsrecht“, in: Werner Konold/Ulrich Hampicke (Hg.), Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, Landsberg 1999, III-5.1, S. 1-10.
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Umweltadministration67 ist eine rechts- und staatspolitische Errungenschaft, die sich für die große Transformation nutzen lässt. Art 20a GG fordert einen gelingenden kollektiven Umgang mit naturalen Begrenztheiten. Wieviel Potentiale zur Erhaltung der gesellschaftlichen Naturkapitalien liegen, so die Frage, in dem Zusammenwirken von wissenschaftlicher Forschung, den Agenden staatlicher Behörden (Umweltbundesamt, Bundesamt für Naturschutz), den Ministerien des Bundes und der Länder mitsamt ihren Koordinationsgremien (LANA) und den Naturschutzbehörden?68 Wenn man mag, kann man dies als Frage der governance-Forschung begreifen. 6.2 Moral Hegel erkennt dem subjektiven Willen das Recht zu, dass all das, „was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde“ (§ 132). Damit erkennt er auch die Bedeutung der Ethik Kants an, die die „reine unbedingt[e] Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht“ herausgestellt habe (§ 135).69 Hegel sieht aber auch, dass sich die subjektive Moral nicht, wie Kant es intendierte, auf ein oberstes Prinzip aller Moralität verpflichten lässt, sondern aus sich selbst heraus plural und dispers wird, d.h. in viele Moralen zerfasert, die sich auf je „ihre“ Moral berufen. Jede Moral hat ihre Herzensangelegenheiten. Hegel sieht in der modernen subjektiven Moral eine Tendenz, alle eingewöhnten
67 Zu Fragen der Umweltadministration siehe Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Umweltverwaltungen unter Reformdruck. Sondergutachten, Berlin 2007; Bauer, Michael et al.: Modernisierung der Umweltverwaltung, Berlin 2007. 68 Allerdings sind solche Entwicklungen mit neuen Problemstellungen verbunden. Im Falle des Umweltrechtes ist dabei vor allem an die untergesetzliche Ebene der Erlasse, Verordnungen und Richtlinien zu denken, die letztlich durch wissensbasiertes Verwaltungshandeln, weniger durch die Legislative geprägt sind. Genau hier zeigt sich Hegels Betonung des Beamtenstandes in einem aktuellen, wenngleich demokratietheoretisch ambivalenten Licht. 69 Hegel wird allerdings m.E. in seiner berühmten Formalismuskritik dem Kategorischen Imperativ nicht gerecht, da es mehrere Lesarten der kantischen Frage gibt, ob man als moralische Person „(nicht) wollen könne“, daß eine Maxime zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werde. Hier bietet sich die Lesart von Singer, George M.: Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a.M. 1975, an, wonach man eine als verallgemeinert gedachte Handlung moralisch nicht wollen kann, wenn die dadurch auftretenden Konsequenzen nicht öffentlich befürwortet werden können.
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Lebensverhältnisse unter moralischen Dauerdruck setzen zu können, ja zu müssen. Einer derartigen Tendenz begegnet man gegenwärtig im Bereich der sog. Umweltmoral. Für zunehmend viele Menschen sind die Auswirkungen ihres persönlichen Verhaltens auf Umweltmedien, auf Tiere und auf Natur nicht mehr moralindifferent.70 Umweltmoral ist, so gesehen, eine Errungenschaft moralischer Evolution, die sogar über die Anthropozentrik hinausweist.71 Sie ist allerdings nicht über Kritik erhaben. Kritik an der Umweltmoral wird aus mindestens drei Perspektiven geübt. Umweltmoral arbeitet aus moralkritischer Sicht erstens mit den Mitteln der Moral: Sie verursacht Schuldgefühle und schlechtes Gewissen. Für Nietzscheaner ist klar, dass die Asketen ihre Moral, d.h. eine für Asketen bekömmliche Moral, unter dem Konzept der Suffizienz für alle verbindlich machen wollen. In physiozentrischen Varianten führt Umweltmoral zum Bestreben, die Schuld gegenüber Naturwesen, die bei menschlicher Lebensführung unvermeidlich anfällt, zu minimieren. Für Albert Schweitzer war das gute Gewissen daher eine Erfindung des Teufels.72 In der Klimaethik werden CO2Emissionen als moralisches Problem thematisiert, in der Tierethik der Fleischkonsum, im Naturschutz das Urlaubsverhalten. Am Ende wird es zur Frage nachhaltigen Konsums, wie lange man duscht.73 Aus libertärer Sicht führt die Umweltmoral daher zweitens zu einer Art „Tugendterror“. Aus marxistischer Perspektive ist Umweltmoral drittens eine kleinbürgerliche, d.h. individualisierende Moralisierung, die von den strukturellen Ursachen der Naturkrise in kapitalistischen Gesellschaften nur ablenkt. Sofern darin die Funktion der Umwelt-
70 Zur Entwicklung der Umweltmoral in der BRD liegen viele empirische Studien vor. Neuerdings BMUB, BfN (Hg.): Naturbewusstsein 2013. Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt, Berlin 2013. 71 Aus nachhaltigkeitstheoretischer Perspektive wird die Umweltmoral mit der Leitlinie der Suffizienz und mit der Möglichkeit einer aktiven Konsumpolitik verbunden; siehe Ott, Konrad/Voget-Kleschin, Lieske: „Suffizienz: Umweltethik und Lebensstilfragen“, in: Jens-Ole Beckers/Florian Preußger/Thomas Rusche (Hg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung, Würzburg 2013, S. 315-344. In diesem Kontext kann auch die Frage C.F. von Weizsäckers („Gehen wir einer asketischen Weltkultur entgegen?“, Merkur 1987) aufgegriffen werden, ob historische Formen von Selbstbescheidung und Askese in ein freiheitliches Ethos integriert werden können. 72 Vgl. Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik, München 1926, S. 249. 73 Vgl. Baatz, Christian/Voget-Kleschin, Lieske/Ott, Konrad: „Ethics and Sustainable Consumption“, in: Lucia Reisch/John Thøgersen (Hg.), Handbook of Research on Sustainable Consumption, Cheltenham 2015, S. 118-128.
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moral liegt, ist sie letztlich „ideologisch“. Allen drei Kritikformen ist die Befürchtung vor einer Hypertrophie der Umweltmoral gemeinsam, die, wie jede Gewissensmoral, immer „auf dem Sprunge“ sei, „ins Böse umzuschlagen“ (§ 139). Eine Dialektik von Moral und Hypermoral wäre demnach auch in der Umweltmoral wirksam. In der Sphäre der Moral müssen Umweltmoral und ihre Kritik auf ihre Berechtigung hin untersucht werden.74 Es geht also nicht nur um den rechten Umgang mit natürlichen Begrenztheiten, sondern auch um den Umgang mit Moralvorstellungen, die diese Umgangsweisen thematisieren und daher in einer großen Transformation wirksam sind. Die Umweltethik sollte sich der Dialektik von Umweltmoral systematisch widmen. 6.3 Sittlichkeit Die Sphäre der eigentlichen Sittlichkeit als das „lebendige Gute“ (§ 142) gliedert sich bekanntlich in die Sphären 1) der Familie, 2) der bürgerlichen Gesellschaft, 3) des Staates und 4) des äußeren Staatsrechts, das in die Weltgeschichte übergeht. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass in die Darstellung dieser „sittlichen Mächte“ (§ 145) nicht nur der Reformismus, sondern auch der Konventionalismus Hegels einfließt. Das Sittliche ist für Hegel „in intensivem Sinne wirklich“ (§ 156). Es kommt darauf an, diese Intensität zu begreifen, die sich lebenspraktisch etwa daran zeigt, dass Menschen in jeder einzelnen sittlichen Sphäre zur Gänze „aufgehen“ können. 6.3.1 Gemeinschaftsleben Die Familie ist bei Hegel Sittlichkeit in der Form ihrer Unmittelbarkeit. Sie wird konventionell um die monogame Ehe zentriert.75 Unter heutigen kulturellen Bedingungen pluralisierter Lebensstile kann das Familiäre am ehesten als Sphäre unterschiedlicher Gestalten des freien Intim-, Privat- und Gemeinschaftslebens verstanden werden. Diese Pluralisierung des Familiären steht zunächst quer zu Fragen der Nachhaltigkeit. Es gab und gibt allerdings Gestalten kommunitären Lebens, in denen sich das Familiäre und die Idee eines naturverträglichen Lebens vermitteln. Das familiäre Leben war zu Hegels Zeit noch häufig eine Art
74 Es wäre reiz- und sinnvoll, radikale Varianten der heutigen Umweltmoral im Bereich des Tierschutzes mit traditionellen Ethosformen der Landnutzer (Landwirte, Förster, Jäger, Fischer) zu vergleichen. Dieser Frage müsste gesondert nachgegangen werden. 75 Hegel grenzt in §§ 161-168 die Ehe bekanntlich vom Vertragsdenken (Kant) und von romantischen Illusionen „freier“ Liebe (Schlegel) ab.
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von oikos-Zusammenhang mit vielfältigen Formen der Bewirtschaftung von Naturalien; die „Hausfrau“ daher eine oikos-Verwalterin. Auch im Übergang zur Industriegesellschaft blieb die Sehnsucht nach oikos-Gemeinschaften lebendig, so etwa in den frühen Landkommunen. Die Sehnsucht nach „echter“ Gemeinschaft und „unentfremdeter“ Arbeit zählt, wie man besonders von Ferdinand Tönnies lernen kann, zu der (tragischen) Konstellation der Moderne.76 Diese Gestalten des Gemeinschaftslebens haben gegenwärtig wieder Konjunktur. Unterschiedliche Formen des Familiären im weiteren Sinne könnten zu Orten suffizienten Wirtschaftens werden.77 Ein Gemeinschaftsleben auf Grundlage einer geteilten Umweltmoral und naturverträglichen Landbauweisen schneidet unter Nachhaltigkeitskriterien deutlich besser ab als ein urbaner hedonistischer Lebensstil. Auch in wertkonservativen Konzepten zur Postwachstumsgesellschaft spielt familiäres und nachbarschaftliches Wirtschaften eine wichtige Rolle für lokale und regionale Nachhaltigkeit.78 Insofern gibt es jenseits von Markt und Staat vielfältige Übergänge zwischen dem Familiären, Formen des Gemeinschaftslebens, lokalen und regionalen Assoziationen und ökonomischen Projekten, die in einer Postwachstumsgesellschaft an Bedeutung und Kraft gewinnen könnten. Der Staat darf und sollte derartige Formen des Gemeinschaftslebens fördern.79 Die sozialphilosophisch entscheidende Frage ist, wie kulturell wünschenswerte Formen des suffizienten Gemeinschaftslebens mit den systemischen Anforderungen einer bürgerlichen Gesellschaft (Arbeitsteilung, Geld, Recht) vermittelt werden könnten. Diese Vermittlungen betreffen die Grenzbereiche zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie etwa in der Idee der Genossenschaft tradiert werden.
76 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1979. 77 Sowohl monogame Rentnerehepaare als auch „Öko-Dörfer“ mit Bewohnerinnen, die polyamoröse Formen des Familiären bevorzugen, können suffizient leben. 78 Vgl. Miegel, Meinhard: Exit: Ohne Wohlstand und Wachstum, Berlin 2010; Scruton Roger: Green Philosophy: How to think seriously about the planet, London 2012. Allerdings erreicht Scruton das Niveau einer Gesellschaftstheorie nicht, sondern bleibt bei einem naiven Lokalismus stehen. Hierzu Berg, Floris van den: „Think Local, Act Local“, in: Ethical Perspectives 21, 3 (2014), S. 441-460. 79 Die Anerkennung und Wertschätzung kommunitärer Lebensformen verpflichtet natürlich nicht zur Übernahme einer kommunitaristischen Ethik.
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6.3.2 Nachhaltigkeitspotentiale in der Wirtschaftsgesellschaft Der Bereich der bürgerlichen Gesellschaft wird für Hegel vom rationellen Eigennutz der Wirtschaftsbürger dominiert. „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts“ (§ 182 Z). Daher ist die bürgerliche Gesellschaft Sittlichkeit in der negativen Form von „Entzweiung und Erscheinung“ (§ 33). Hegel sieht die Macht des freigesetzten wirtschaftlichen Eigeninteresses, aber auch die in ihm angelegten Exzesse und Extreme, da die bürgerliche Gesellschaft das „Schauspiel der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“ (§ 185) bietet. Die Ungleichheit der Vermögen tritt in die Extreme auseinander: Luxus und die „Anhäufung der Reichtümer“ (§ 243) einerseits und Elend, Entbehrung und Not andererseits stehen sich jeweils als „Maßloses“ (§ 185) gegenüber. Dem Pauperismus seiner Zeit steht Hegel zugleich klarsichtig und ratlos gegenüber. Er sieht die Abhängigkeit und Not der an die Arbeit „gebundenen Klasse“ und das „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“ (§§ 243, 244). Die Armen behalten die Bedürfnisse der Wirtschaftsbürger, gehen aber zugleich ihrer ökonomischen, rechtlichen und familiären Bezüge verlustig (§ 241). Der „Pöbel“, den Hegel als Verbindung aus äußerlicher Armut und der Gesinnung der „inneren Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, gegen die Regierung usw.“ definiert, ist die Negation der Sittlichkeit, die innerhalb der negativen Sphäre der Sittlichkeit mit Notwendigkeit entsteht.80 Der Wohlstand der bürgerlichen Gesellschaft und die ökonomische Ungleichheit der Wirtschaftsbürger sind für Hegel zwei Seiten der gleichen Medaille. Die moralische Forderung nach „Gleichheit“ hält er für eine Forderung des „leeren Verstandes“ (§ 200), da sie der Logik der bürgerlichen Gesellschaft nicht gerecht wird, ständig Ungleichheiten aus sich heraus zu generieren. Daraus ergibt sich ein Kontrapunkt zu den heutigen Konzepten, Postwachstum und Egalitarismus miteinander zu verbinden. Auch in der „großen“ Transformation wird
80 An dieser Stelle setzt Marx mit seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts ein; hierzu Henrich, Dieter: „Karl Marx als Schüler Hegel“, in: Ders. (Hg.), Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. 1971, S. 187-208. Marx konstruiert in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie das Proletariat als Negation der bürgerlichen Gesellschaft. Die Proletarier sind als Klasse „der völlige Verlust des Menschen“, der „nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann“ (MEW 1, S. 390).
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uns die „quälende“ (§ 244) Frage umtreiben, wie sie sich auf Unterschichten auswirkt. Man kann davon ausgehen, dass periodische oder dauerhafte ökonomische Erfolglosigkeit einzelner ihrer Mitglieder zur bürgerlichen Gesellschaft hinzu zählt. Unsere Verfassung enthält daher das Sozialstaatsprinzip, das sich in einem Wohlfahrtsstaat manifestiert, dessen historische Errungenschaft darin liegt, durch Transfers das Subsistenzniveau aller Personen zu sichern, Almosenempfänger in Anspruchsberechtigte und absolutes Elend in relative Armut zu verwandeln. Der Sozialstaat ist administrativ organisierte politische Solidarität. Der Wohlfahrtsstaat steht nicht in Frage, wohl aber seine Rolle in der „großen“ Transformation. Welche sozialpolitischen Forderungen nach Umverteilung, Ausgleich, Kompensation usw. lassen sich also rechtfertigen, wenn die große Transformation das Gefüge relativer Preise verändert und Angehörige einkommensschwacher Schichten und Transferempfänger von diesen Veränderungen nachteilig betroffen sein werden? Das Forschungsvorhaben fragt daher in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft erstens nach einer Linderung der relativen Armut in wohlhabenden Gesellschaften, dabei besonders nach der Rechtfertigung von Kompensationsforderungen.81 Das Forschungsprojekt fragt zweitens mit Blick auf die begüterten Schichten, welche Bedeutung Unternehmens- und Investitionspolitik in der großen Transformation spielen könnten. Damit möchte das Forschungsvorhaben die Fixierung von Transformationsforschung auf Unterschichtenpolitik aufbrechen. In einigen Bereichen der Ökonomie wird die Idee der Nachhaltigkeit gegenwärtig wirklich in Geschäftsmodellen des „social entrepreneurship“ und im „ethical investment“. Die Frage ist, ob die kreativen Fähigkeiten unternehmerischen Handelns von der bloßen Gewinnmaximierung entkoppelt und auf Nachhaltigkeitsziele hin orientiert werden können. Die große Transformation bedarf wohl auch eines neuen Unternehmergeistes und einer moralischen Sensibilität bei Investitionen von Kapital.82 Investitionsentscheidungen und Unternehmertum sind komple-
81 Auf der Ebene kultureller Anerkennungsverhältnisse darf gefragt werden, welche Rolle Transfer-Empfänger in der „großen“ Transformation spielen könnten und sollten. Wäre es zulässig, ihnen die Rolle von politisch aktiven Suffizienz-Pionieren zuzumuten? 82 Bezüglich des „social entrepreneurship“ wird auf die Konzepte und empirischen Studien der Greifswalder BMBF-Nachwuchsgruppe GETIDOS zurückgegriffen; siehe Ziegler, Rafael: An Introduction to Social Entrepreneurship, Cheltenham 2009. Zur Anwendung des Ansatzes auf den Wassersektor siehe Ziegler, Rafael et al. (Hg.): Social Entrepreneurship in the Water Sector, Cheltenham 2013. Ziegler macht mehr-
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mentär; „grüne“ Fonds vermitteln Sparleistungen und Geschäftsideen. Daher sollten wir beim Übergang in eine Postwachstumsökonomie nicht nur über die gerechtesten Schemata zur Umverteilung, sondern ebenso über innovativen Unternehmergeist jenseits der bloßen Gewinnmaximierung nachdenken. Wenn in der „großen“ Transformation auch die „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter) am Wirken sein wird, dabei aber nicht nur Altes verschwindet, sondern Neues entsteht, dann bedarf es wohl nicht nur einer Stärkung der Gemeingüter, sondern eines neuen Typs von findigen, ideenreichen und wagemutigen Unternehmungen, die von bestimmten Personen getragen werden. Welche Verbindungen von „social entrepreneurship“ und „ethical investment“ lassen welche Beiträge zur Transformation erwarten? 6.3.3 Deliberative Demokratie und wissenschaftliche Politikberatung Der Bereich des Staates wird von Hegel als „Hieroglyphe der Vernunft“ aufgefasst, d.h. als eine in sich komplexe Architektonik.83 Hegel hat den Staat nicht „vergottet“, aber „affirmiert“ (§ 258). Freilich können wir nach den historischen Erfahrungen terroristischer Staatsapparate nicht mehr so glorifizierend vom Staate reden wie Hegel dies in etlichen Paragraphen tut. Hegels Versuche, die Demokratie in Misskredit zu bringen, münden allerdings in den Zusatz des § 273: „Die Formen aller Staatsverfassungen sind einseitige, die das Prinzip der freien Subjektivität nicht in sich zu ertragen vermögen und einer ausgebildeten Vernunft nicht zu entsprechen wissen.“ Beide Bedingungen sprechen für die Idee der Republik, die zwar auch zur Staatsform der konstitutionellen Monarchie führen kann,84 die für uns gegenwärtig jedoch nicht mehr ernsthaft in Betracht kommt.
fach auf die Bedeutung der Unternehmertheorie Schumpeters aufmerksam. Bezüglich des „ethical investment“ wird auf die Weiterentwicklungen und Umsetzungen des „Frankfurt-Hohenheimer Leitfadens“ zurückgegriffen; siehe Hoffmann, Johannes/Ott, Konrad/Scherhorn, Gerhard (Hg.): Ethische Kriterien für die Bewertung von Unternehmen, Frankfurt a.M. 1997. 83 Wenn Hegel den Staat einen „Organismus“ nennt, meint er im Grunde eine „Organisation“, wenn er von „dem Staat“ redet, meint er „Staatlichkeit“. 84 Vgl. hierzu grundlegend Böckenförde, Ernst-Wolfgang: „Demokratie als Verfassungsprinzip“, in: Ders. (Hg.), Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt a.M. 1992, S. 289-378.
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Die Sphäre des Staates als „Wirklichkeit konkreter Freiheit“ (§ 260) kann aus diskursethischer Perspektive nur im Sinne der Konzeption deliberativer Demokratie gefasst werden.85 Sie beruht auf den Grundsätzen der Inklusion und der Deliberation. In dieser Konzeption deliberativer Demokratie finden sich 1) die Sphäre der Zivilgesellschaft, 2) die Sphäre der professionalisierten Politik einschließlich der Ministerialbürokratie, deren Bedeutung für den modernen Staat Hegel klar erkannte, und 3) eine Sphäre von „halbpolitischen“ Institutionen, die etwa als staatliche Ämter und Behörden und als Gremien der wissenschaftlichen Politikberatung zwischen Zivilgesellschaft und Politik mittels wissensbasierten Analysen und konzeptionellen Angeboten vermitteln. Das Forschungsvorhaben möchte der Rolle dieser Gremien im Bereich der Umweltpolitik nachgehen, da die wissenschaftliche Politikberatung eine Art „Drehscheibenfunktion“ zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik einnimmt. Untersucht werden sollen der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE).86 6.3.4 Internationale Umweltregime Die Sphäre des äußeren Staatsrechts ist für Hegel durch den Naturzustand der Staaten und die Idee der Staatsräson gekennzeichnet.87 In diesem Sinne gilt Hegel als Begründer der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen. „Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch dies nur zufälligerweise“ (§ 333). Hegel glaubt, dass die Staaten zwar Verträge stipulieren, aber als souveräne Staaten zugleich über diesen ihren eigenen Stipulationen stehen (§ 330 Z), da sie Verträge jederzeit aufkündigen kön-
85 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1991. Es wäre zu zeigen, dass die Positionen von Böckenförde und Habermas nicht so weit auseinanderliegen, wie dies angesichts einiger Verdikte von Böckenförde gegen den herrschaftsfreien Diskurs scheinen mag. 86 Vgl. hierzu auch wissenssoziologischer Perspektive Weingart, Peter/Lentsch, Justus: Wissen – Beraten – Entscheiden. Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland, Weilerswist 2008. Aus der Binnenperspektive eines Gremiums siehe Hey, Christian: „35 Jahre Gutachten des SRU – Rückschau und Ausblick“, in: Koch, Hans-Joachim/Hey, Christian (Hg.), Zwischen Wissenschaft und Politik, Berlin 2009, S. 161-279. 87 Vgl. hierzu auch Meinecke, Friedrich: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München/Berlin 31929.
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nen. Diese Auffassung unterschätzt allerdings die Bindungen, die Staaten durch völkervertragsrechtliche Abkommen konstituieren und hinter deren normative Gehalte sie dann nicht mehr beliebig zurückgehen können, wenn einmal ein hinlänglich stabiles System des Völkerrechts entstanden ist. Dann nämlich entspinnt sich eine noch weitgehend unverstandene Dialektik von Völkergewohnheits- und Völkervertragsrecht, die allmählich zu einem Niveau internationaler Verrechtlichung führt, das Hegel nicht für möglich hielt. Die Staaten stehen also nicht einfach über den Verträgen, die sie eingehen. Die neuere Weltgeschichte nach 1945 hat Hegel durch die Herausbildung völkerrechtlicher Strukturen und Institutionen auf eine Art und Weise widerlegt, gegen die Hegel selbst keine Einwände erheben könnte.88 Für die Ziele einer „großen“ Transformation sind nun diejenigen internationalen Regime entscheidend, die die Erhaltung der kollektiven Naturgüter regeln. Das Forschungsprojekt steht in der Sphäre der internationalen Politik unter der leitenden Frage, ob bei der Entwicklung dieser Regime allmähliche Fortschritte zu verzeichnen sind, wenn man die Perspektive „starker“ Nachhaltigkeit als Maßstab zugrunde legt. Eine damit eng verknüpfte Frage lautet, ob eine Analyse von regime-interner Diskursivität eine politische Relevanz moralischer bzw. umweltethischer Argumente nachweisen kann.89 Da die Klimarahmenkonvention (FCCC) und die Konvention über biologische Vielfalt (CBD) mittlerweile als gut beforscht gelten können, legt das Forschungsprojekt einen Schwerpunkt auf die Regime, die dem Schutz der Meere, der Küsten und der Feuchtgebiete dienen sollen. Diese Frage ist an der Schnittstelle von Naturschutz- und Regimeforschung angesiedelt.
88 Der staatstheoretische Realismus ist daher keineswegs eine neutrale Beschreibung der internationalen Beziehungen, sondern eine präskriptiv-performative Doktrin zweckrationalen Handelns im Sinne der je eigenen Staatsräson. Der Institutionalismus ist dem Realismus daher auf der analytisch-explanativen Ebene mindestens ebenbürtig und aufgrund seiner Prinzipien des Pazifismus und der Völkerverständigung dem Realismus moralisch überlegen. Zu einem umfassenden und ausgewogenen Überblick über die Theorien der internationalen Beziehungen siehe Schmidl-Neuburg, Hilmar: Normative Theorien der Internationalen Beziehungen, Norderstedt 2005. 89 Vgl. hierzu die Beiträge im „Forum on Habermas“ der Zeitschrift Review of International Studies 31,1 (2005), S. 127-204, darin insbesondere den Aufsatz von Deitelhoff, Nicole/Müller, Harald: „Theoretical paradise – empirically lost. Arguing with Habermas“, S. 167-180.
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Z USAMMENFASSUNG
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A USBLICK
Damit sind die normativen Grundlagen, die gesellschaftstheoretische Perspektive und die aus beiden hervorgehende Forschungsagenda hinlänglich bestimmt. Die zu behandelnden Themen sind: • Theoretische Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie • Begründung des Zusammenhangs von Nachhaltigkeit und Postwachstumsge-
sellschaft Ausgewählte Vermittlungen im Rahmen der großen Transformation Recht: Art. 20a und das Zusammenspiel von Naturschutz-Governance Moral: Umweltmoral und ihre Kritik Familie: Familiäres und gemeinschaftliches Wirtschaften Bürgerliche Gesellschaft: Sozialstaat, „Social Entrepreneurship“ und „Ethical Investment“ • Staat und Demokratie: „Deliberative environmental democracy“ und die Rolle wissenschaftlicher Politikberatung • Internationale Umweltregime mit dem Schwerpunkt auf Meeren und Feuchtgebieten. • • • • •
Anhand dieser Themen sollen charakteristische Merkmale rechtlicher, moralischer und sittlicher Strukturen identifiziert werden, die für den Übergang in eine am Konzept starker Nachhaltigkeit ausgerichtete Postwachstumsgesellschaft essentiell sein dürften. Die Einsichten in die Begrenztheiten der natürlichen Ressourcen können mit den Errungenschaften der Moderne so vermittelt werden, dass das „unvollendete Projekt der Moderne“ (Habermas) auch angesichts dieser Begrenztheiten im Guten fortgeschrieben werden kann.
Nachhaltigkeit, Endlichkeit, Knappheit – Eine begriffliche Abgrenzung unter dem Aspekt der Verarbeitung von Wissen D ANIEL J ESCHE
„Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich. Diese schlichte Einsicht, die Kindern weniger Schwierigkeiten macht als Ökonomen, wird gegenwärtig durch eine ganze Reihe von Endlichkeiten deutlich. [...] Endlichkeitskrisen sind in einem System, dessen Funktion vom Wachstum abhängt, nicht zu bewältigen.“1 Diese Aussage stammt aus einem Interview, das das Deutschlandradio mit dem Sozialpsychologen und Wachstumskritiker Harald Welzer geführt hat. Sie kann als Leitspruch für eine ganze Reihe von Arbeiten aus der jüngeren ökologischen Wachstumskritik bezeichnet werden, die alle von der Annahme ausgehen, dass Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit per se unvereinbare Ziele darstellen und die Überwindung der zunehmenden Umweltzerstörung nur dann gelingen wird, wenn die Menschheit (zumindest in den reichen Industriestaaten) vom Streben nach Wachstum lässt. Welzers Verwendung des Begriffs der Endlichkeit in polemischer Wendung gegen die Wirtschaftswissenschaften soll hier zum Anlass genommen werden, um sich dem bisher für die Mensch-Natur-Beziehung kaum ausgearbeiteten Konzept der Endlichkeit zu nähern. 2 Hierfür wird der Versuch unternommen,
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http://www.deutschlandfunk.de/wegmarken-2010-wohlstand-ohne-wachstum-teil-1. 724.de.html?dram:article_id=99694 vom 01.01.2010 (26.03.2015).
2
Dieser Aufsatz knüpft an die Diskussion der ökologischen Wachstumskritik im Rahmen der Dissertation des Autors an. Vgl. Jesche, Daniel: Endlichkeit und Freiheit – Die Ökologische Wachstumskritik aus Wirtschaftsliberaler Perspektive. Dissertationsschrift, Kiel 2015.
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Endlichkeit als Teil eines begrifflichen Dreiecks zu bestimmen, das von Endlichkeit und den bereits besser ausgearbeiteten Konzepten der Nachhaltigkeit und der Knappheit gebildet wird. Im Anschluss soll die Frage gestellt werden, welches Wissen (im Sinne einer groben Abschätzung) erforderlich ist, wenn die ökologischen Herausforderungen vornehmlich jeweils im Verständnis eines der drei Begriffe angegangen werden. Die Frage nach dem Wissen besitzt große Bedeutung: Ob die ökologische Transformation in diesem Jahrhundert gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob die heute lebende Generation in der Lage sein wird, mit dem uns heute zur Verfügung stehenden Wissen die langfristig besten Entscheidungen zu treffen und insbesondere die der Menschheit zur Verfügung stehenden Ressourcen effizient einzusetzen. Zunächst werden im Folgenden also die drei Begriffe Nachhaltigkeit, Endlichkeit und Knappheit umrissen. Die Frage nach den Voraussetzungen in Bezug auf das nötige Wissen wird im zweiten Teil diskutiert.
1.
D AS B EGRIFFSDREIECK N ACHHALTIGKEIT , E NDLICHKEIT , K NAPPHEIT
1.1 Nachhaltigkeit Der Begriff der Nachhaltigkeit ist modernen Ursprungs. Schon in den Wald- und Forstordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts kann er ausgemacht werden. Eine erste wissenschaftliche Verwendung findet sich bei Hans Carl von Carlowitz Sylvicultura Oeconomica, in der in der Tradition der Kameralistik die dauerhafte Holzversorgung der Freiburger Silberminen durch Grundsätze nachhaltiger Holzentnahme und Aufforstung sichergestellt werden sollte.3 In dieser Verwendung des Begriffs dient Nachhaltigkeit einer möglichst hohen, stabilen Ressourcenentnahme zum Zweck der wirtschaftlichen Verwertung. Carlowitzʼ Nachhaltigkeitsbegriff muss daher als genuin ökonomisch bezeichnet werden – ihm geht es um den maximum sustainable yield.
3
Vgl. Carlowitz, Hans Carl von: Sylvicultura Oeconomica, Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung Zur Wilden Baum-Zucht: Nebst Gründlicher Darstellung, Wie zu förderst Göttliches Benedeyen dem allenthalben und insgeheim einreissenden Grossen Holtz-Mangel, Leipzig 1713. Einen Überblick über die Begriffsgeschichte bietet Grober. Vgl. Grober, Ulrich: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010.
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Die heutige Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs beruht trotz der wissenschaftlichen Leistungen Carlowitzʼ auf der Arbeit von Autoren der jüngeren Vergangenheit. In den 1970er Jahren führte der Ölpreisschock und ein neues gesellschaftliches Klima in den westlichen Industrienationen zu einem Umdenken gegenüber industrieller Großtechnik und den damit verbundenen Umweltschäden. Dieses Umdenken gegenüber dem Fortschrittsoptimismus der Nachkriegszeit findet im Bericht an den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 seinen größten Ausdruck. Die Autoren wagen die Prognose: „If the present growth trends in world population, industrialization, pollution, food production, and resource depletion continue unchanged, the limits to growth on this planet will be reached sometime within the next 100 years. The most probable result will be a sudden and uncontrollable decline in both population and industrial capacity.“4
Angesichts dessen gelte es, so das Team um Donella und Dennis L. Meadows, zu einer dauerhaft stabilen Produktions- und Konsumptionsweise zurückzukehren. Nachhaltigkeit wird in dieser Tradition seit den 1970er Jahren vor allem als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung diskutiert, während Carlowitz den Nachhaltigkeitsbegriff noch als Teil einer unternehmerischen Strategie auf der Mikroebene verstand. Der 1987 veröffentlichte Brundtland-Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung über die Möglichkeiten umweltschonender Entwicklung bringt den Begriff der Nachhaltigen Entwicklung hervor, der dem Nachhaltigkeitsbegriff auf dem internationalen Parkett nicht nur zum Durchbruch verholfen hat, sondern diesen auch mit einer bestimmten Bedeutung versieht: Der Gedanke des Bewahrens, wie er bis dahin im ökologischen Denken vorherrschte, wird mit dem Brundtland-Bericht an den der Entwicklung gekoppelt und auf diese Weise dynamisiert. Bewahren und zugleich Verändern: Hierin liegt bis heute ein Spannungsverhältnis begründet, um das die Nachhaltigkeitsforschung immer wieder kreist.5 Der Bericht von 1987 versteht unter nachhaltiger Entwicklung eine solche, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden,
4
Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jorgen/Behrens, William W.: The limits to growth: A report for the Club of Rome's project on the predicament of mankind, New York 1972, S. 1.
5
Vgl. Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 23f.
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ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“6 Nachhaltige Entwicklung ist damit als eine Aufgabe definiert, die zwischen den Ansprüchen der heute Lebenden und denen zukünftiger Generationen abzuwägen hat. Damit wird Nachhaltigkeit zu einem Teil der Forderung nach Generationengerechtigkeit. Nachhaltige Entwicklung in diesem Sinne kann als ein Ziel verstanden werden, das nur durch Integration vormals getrennter politischer Problemfelder, wie der Armut im globalen Süden und der Umweltzerstörung im Norden, bearbeitet werden kann. 1992 wurde auf der ersten UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, dem sogenannten Erdgipfel, die Idee nachhaltiger Entwicklung zur Menschheitsaufgabe erklärt. Mit der Klimarahmenkonvention, der Konvention zum Artenschutz und den Milleniumszielen konnten in der Folge Teile dieser Aufgabe international vorangebracht werden. In Rio wurde zudem vereinbart, nationale Nachhaltigkeitsstrategien zu erarbeiten, die das abstrakte Ideal in Richtung spezifischer Maßnahmen konkretisieren sollen. Die Bundesrepublik ist diesem Aufruf erstmals mit der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie von 2002 nachgekommen, die seither als Prozess regelmäßig erneuert wird. Auch die EU hat mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 in Artikel 2 EUV den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung als Leitbild der europäischen Politik vertraglich verankert. Angesichts des immensen Umfangs der wissenschaftlichen Literatur zum Nachhaltigkeitsbegriff bietet es sich an, Spielarten der Nachhaltigkeit analytisch zu gruppieren. Nachhaltigkeit kann und wird in verschiedenen Modellen unterschiedlich definiert. Der Rat für nachhaltige Entwicklung, der von der Bundesregierung einberufen wurde, fasst die Idee der Nachhaltigkeit im Sinne nachhaltiger Entwicklung heute wie folgt zusammen: „Nachhaltige Entwicklung heißt, Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Zukunftsfähig wirtschaften bedeutet also: Wir müssen unseren Kindern und Enkelkindern ein intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches Gefüge hinterlassen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.“7 Dieses vom Rat geprägte Nachhaltigkeitsverständnis wird in der Literatur als Drei-Säulen-Modell bezeichnet. Ökologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte sollen gleichrangig und gleichzeitig verfolgt werden.8 Neben dem Drei-
6
Hauff, Volker: Unsere gemeinsame Zukunft: [der Brundtland-Bericht der Weltkom-
7
http://www.nachhaltigkeitsrat.de/nachhaltigkeit/?size=%5C%27 (26.03.2015)
8
Tremmel weist nach, dass der Sprachgebrauch seit dem Brundtland-Report auf eine
mission für Umwelt und Entwicklung], Greven 1987, s.p.
eindeutige Dominanz des Drei-Säulen-Modells als Präzisierung des WCED-Berichts
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Säulen-Modell existiert eine Vielzahl konkurrierender Ansätze, darunter das EinSäulen-Modell, das Pyramiden-Modell und das gewichtete Säulenmodell.9 Zu den Ansätzen, die sich nicht in diese Typologie einordnen lassen, zählt unter anderem die Arbeit des Umweltethikers Felix Ekardt.10 Grundsätzlich lassen sich alle Ansätze in zwei Gruppen einteilen: in Konzepte starker und schwacher Nachhaltigkeit. Erstere vertreten die Auffassung, dass das zu Erhaltende, zumeist verstanden als Kapital und aufgeteilt in die Kapitalarten Natur-, Human-, Sach- und Finanzkapital, beliebig untereinander ausgetauscht („substituiert“) werden kann, solange die Summe aller Kapitalien konstant bleibe.11 Man spricht daher auch von der „constant natural capital rule“ als Operationalisierung von Nachhaltigkeit.12 Diese Annahme führt tendenziell zu einer optimistischeren Sichtweise auf die zukünftige Entwicklung der Beurteilung des Grades an Nachhaltigkeit, der bereits erreicht werden konnte. Demge-
hinweist. Vgl. Tremmel, Jörg: Nachhaltigkeit als politische und analytische Kategorie: Der deutsche Diskurs um nachhaltige Entwicklung im Spiegel der Interessen der Akteure, München 2003. Vgl. auch Tremmel, Jörg: „‚Nachhaltigkeit‘: Definiert nach einem kriteriengebundenen Verfahren“, in: GAIA: ökologische Perspektiven in Natur-, Geistes- und Wirtschaftswissenschaften 13 (2004), S. 26-34. Kritiker werfen dem Ansatz vor, zu einem Wunschzettel zu verkommen. Konrad Ott und Ralf Döring bezeichnen das Drei-Säulen-Modell etwa als „große[n] Weichspüler“ der Nachhaltigkeitsidee. Vgl. Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg 2008, S. 39. 9
Siehe A. Grunwald/J. Kopfmüller: Nachhaltigkeit; vgl. auch Grossmann, Wolf Dieter (Hg.): Nachhaltigkeit: Bilanz und Ausblick, Frankfurt a.M. 1999.
10 Zu den eigenständigen Ansätzen siehe Coenen, Reinhard/Grunwald, Armin: Nachhaltigkeitsprobleme in Deutschland: Analyse und Lösungsstrategien, Berlin 2003; siehe hierzu ebenso Ekardt, Felix: Das Prinzip Nachhaltigkeit: Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit, München 2005. 11 Mit Andrew Dobson wird diesbezüglich gefragt: „what to sustain?“. Vgl. K. Ott/R. Döring: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, S. 43. 12 Dementsprechend ist Nachhaltigkeit bereits durch Maximierung der Summe aller Kapitalsorten erreicht. Eine Maximierung jeder einzelnen Kapitalart ist nicht notwendig. Diese Sichtweise findet sich vor allem in der neoklassischen Ökonomik. Vgl. Klepper, Gernot: „Wachstum und Umwelt aus Sicht der neoklassischen Ökonomie“, in: Beckenbach, Frank et. al. (Hg.), Zwei Sichtweisen auf das Umweltproblem: neoklassische Umweltökonomik versus ökologische Ökonomik, Marburg 1999, S. 291-317; siehe auch Pearce, David William/Turner, R. Kerry: Economics of natural resources and the environment, New York 1990.
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genüber sind Konzepte starker Nachhaltigkeit zu nennen, die diese Austauschbarkeitsannahme kritisieren und die Unwiderrufbarkeit der Naturzerstörung in den Vordergrund stellen.13 Der Anspruch starker Nachhaltigkeit fordert vor allem den Schutz des bestehenden Naturkapitals als unersetzliches Erbe für zukünftige Generationen. Die Idee der Nachhaltigkeit sollte daher, unabhängig von verschiedenen Begriffsdefinitionen, als genuin normatives Programm verstanden werden. Zwar fließen zahllose deskriptive Theorien in jedes Nachhaltigkeitskonzept ein, doch verlöre die Forderung nach Nachhaltigkeit ihren Wesenskern, wenn sie etwa nur als Produkt der Naturwissenschaften verstanden würde. Wer Nachhaltigkeit einfordert, formuliert ein normatives Argument und begibt sich bei dessen Begründung folglich auf das Gebiet der Umweltethik. Zwei Ebenen fließen dabei in jedes Nachhaltigkeitskonzept als Teil ethischer Argumentation mit ein: zum einen die bereits erwähnte Forderung nach Generationengerechtigkeit und zum anderen diejenige nach einem Ausgleich zwischen den heute Lebenden Menschen. Dies betrifft insbesondere den globalen Ausgleich zwischen Arm und Reich. Nachhaltigkeit formuliert also, als Gerechtigkeitstheorie, einen Anspruch an politisches, wirtschaftliches und privates Handeln. Es macht die Prozesse, aus denen die Früchte ebenso wie die negativen Folgen des Wirtschaftens des Menschen hervorgehen, zum Gegenstand reflektierter normativer Ansprüche. 1.2 Endlichkeit Harald Welzer ist nicht der erste Wissenschaftler, der auf die Idee einer endlichen Welt als Fixpunkt eines eigenständigen ökologischen Denkens rekurriert. Vielmehr finden wir die wiederholte Bezugnahme auf eine an Ressourcen und hinsichtlich der Tragfähigkeit endlichen Welt ganz explizit in denjenigem Teilbereich ökologischen Denkens, der sich kritisch mit dem Konzept des Wirt-
13 Atkinson sieht denn auch die westlichen Länder insgesamt bereits auf einem nachhaltigen Pfad angelangt. Vgl. Atkinson, Giles D.: Measuring sustainable development: Macroeconomics and the environment, Cheltenham 1997. Ott und Döring werfen dem Ansatz schwacher Nachhaltigkeit vor, er führe dazu, „dass die Erhaltung der Naturgüter im Konzept schwacher Nachhaltigkeit konzeptionell prekär“ sei und ein „Substitutionsoptimismus herrsche“. Die Autoren favorisieren folglich ein ’starkes’ Verständnis von Nachhaltigkeit. K. Ott/R. Döring: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, S. 112f. Zur Kritik am Konzept schwacher Nachhaltigkeit siehe auch Daly, Herman: Wirtschaft jenseits von Wachstum: Die Volkswirtschaftslehre nachhaltiger Entwicklung, Salzburg 1999.
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schaftswachstums auseinandersetzt.14 So fragt der Wachstumskritiker Meinhard Miegel analog zu Harald Welzer: „Kann es in einer endlichen Welt unendliches Wachstum geben?“ Miegel führt aus: „Zu einem markigen Ja mag sich allerdings kaum einer durchringen, es sei denn, der Wachstumsbegriff wurde zuvor aus seiner irdisch-realen Verankerung gelöst und auf eine überirdisch-abstrakte Ebene gehoben.“15 Die Idee der immanenten Begrenzung wirtschaftlicher Expansion durch eine – wie auch immer zu fassende – Endlichkeit wurde auch bereits von den Autoren des Club of Rome geteilt, die als Väter der modernen ökologischen Wachstumskritik zu gelten haben. Dennis Meadows nimmt auf den Begriff der Endlichkeit im SPIEGEL Bezug: „Dass es den Kollaps bisher nicht gegeben hat, muss nicht bedeuten, dass er auch in Zukunft ausbleiben wird. Dass die Welt sich verändern wird, steht außer Frage – und damit auch, dass wir uns mit ihr ändern. Entweder erkennt man rechtzeitig die Notwendigkeit für Veränderungen und leitet sie ein, oder man wird später dazu gezwungen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Auto durch eine Fabrikhalle, und Sie können nicht wenden. Sie können entweder bremsen oder gegen die Wand fahren. Anhalten werden Sie in jedem Fall. Denn das Gebäude ist so endlich wie die Ressourcen der Erde.“16
Auch der britische Nachhaltigkeitsforscher und Ökonom Tim Jackson, der mit seiner wachstumskritischen Studie „Prosperity without Growth“ für Aufsehen sorgte, misst dem Gedanken einer endlichen Welt in seiner ökologischen Wachstumskritik große Bedeutung bei. So ist in der deutschen Übersetzung der Begriff der Endlichkeit nicht zufällig Teil des Untertitels. Jackson formuliert in seiner Monographie vor allem die normative Frage, wie ein gerechter und nachhaltiger Wohlstand für alle auszusehen habe. In seiner Antwort beschränkt Jackson in Anlehnung an die Philosophie Amartya Sens die Freiheit der Entwicklung von individuell wünschenswerten Fähigkeiten auf bestimmte sinnvolle Tätigkeiten und begründet diesen Schritt mit den Grenzen eines endlichen Planeten.17 Die
14 Auch Welzer forscht auf dem Feld der Wachstumskritik. Siehe Welzer, Harald: Der Abschied vom Wachstum als zivilisatorisches Projekt, in: Welzer, Harald/Wiegandt, Klaus (Hg.), Wege aus der Wachstumsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2013, S. 35-59. 15 Miegel, Meinhard: Exit – Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2010, S. 64. 16 http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/grenzen-des-wachstums-interview-mit-den nis-meadows-a-870238-druck.html (26.03.2015) 17 Jackson schwebt eine Stärkung sozialer Tätigkeiten und Dienstleistungen im Gegenzug für ein Zurückdrängen des Statuskonsums vor. Dazu zählt er u.a. den Pflegesektor und den Bereich der Erziehung. Auch Freizeit spielt für Jackson eine wichtige Rolle,
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Endlichkeit der natürlichen Ressourcen im Sinne von Rohstoffen und Senken sowie die Größe der Weltbevölkerung bilden für Jackson Grenzen des Wachstums und stellen aus normativer Sicht ein ausreichend starkes Argument für die Infragestellung all jener offener Wohlstandskonzepte dar, die die Erfüllung individueller Wünsche auf eine solche Weise zulassen, dass eine steigende Ressourcenbeanspruchung weiterhin möglich erscheint.18 Endlichkeit als eine zentrale Annahme der ökologischen Wachstumskritik läuft im Wesentlichen auf zwei Eigenschaften des Denkens über die MenschNatur-Beziehung hinaus: Erstens geht mit der Betonung der Endlichkeit eine holistische Perspektive einher, die die gesamte Menschheit auf der einen und den gesamten Planeten auf der anderen umfasst. In dieser Perspektive ist die Aufgabe einer nachhaltigen Entwicklung strikt als Menschheitsaufgabe zu betrachten und nur global zu lösen (ja überhaupt zu denken). Nachhaltigkeitsansätze, die ohne diesen Endlichkeitsbezug auskommen, sind demgegenüber nicht unbedingt an diese holistische Perspektive gebunden. So beziehen sich auch Entscheidungsträger einzelner Staaten bis hin zu einzelnen Akteuren auf der Mikroebene regelmäßig auf das Prinzip der Nachhaltigkeit als begrifflichen Anker, um intern und gegenüber anderen Akteuren (Selbst-)Ansprüche an das Handeln zu formulieren. Man denke hier etwa an die weite Verbreitung im Bereich der Corporate Social Responsibility (CSR). Diese erste Eigenschaft der Endlichkeitsperspektive kann noch zugespitzt werden. Wachstumskritische Positionen, die auf den Endlichkeitsbegriff zurückgreifen, tun dies unter Verwendung eines Systemansatzes. Die Wirtschaft und die endliche Natur unseres Planeten werden als zwei Systeme begriffen, wobei die Wirtschaft als ein untergeordnetes Subsystem verstanden wird. Eine wachsende Wirtschaft, so das Denkmodell, stoße irgendwann an apriorische Grenzen, da sie als Subsystem des übergeordneten Systems Erde dessen Endlichkeit überzustrapazieren drohe. Der Systemansatz und die Verwendung des Endlichkeitsbegriffes gehen hier Hand in Hand. Zweitens geht mit der Verwendung des Endlichkeitsbegriffes in der ökologischen Wachstumskritik ein physikalisch-materialistischer Betrachtungswinkel einher, der sich insbesondere von dem der Wirtschaftswissenschaften abgrenzt. Wirtschaft wird in der Endlichkeitsperspektive nicht nur als Subsystem des Systems Natur oder des Systems Planet Erde begriffen, sondern auch auf eine Stufe mit der physisch-materiellen Natur der uns umgebenden natürlichen Welt ge-
führt doch eine Reduktion des Konsums ohnehin zu einer geringeren Nachfrage nach Arbeit. Vgl. Jackson, Tim: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. München 2010, S. 142. 18 Vgl. ebd., S. 63.
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stellt. Wachstumskritiker betrachten die physische Ökonomie, für die Autobahnen und Abgasschornsteine, die Mülldeponien und Minen, die das sichtbare Zeichen der wirtschaftlichen Expansion des Menschen darstellen. Dieses Verständnis ist weder zwingend noch alternativlos, sondern sollte als bewusste Abgrenzung von der Perspektive der Ökonomik verstanden werden, in der im Gegensatz hierzu Wirtschaft als abstrakte soziale Ordnung gefasst wird – als Ordnung, die sich vor allem in Geldeinheiten bemisst. Wenden wir uns der Nachhaltigkeit in dieser Hinsicht zu, so fällt die Abgrenzung zur Endlichkeit differenzierter aus, als im Falle der ökonomischen Perspektive. Im Prinzip nachhaltiger Entwicklung im Sinne der BrundtlandDefinition suchen wir vergebens nach einer strikten Festlegung auf ein physikalisch-materialistisches Weltbild. Es ist ja bekanntlich von einer Entwicklung die Rede, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“19 Menschliche Bedürfnisse und Möglichkeiten im Rahmen eines Lebensstils sind abstrakte soziale Kategorien, die erst in die sich daraus ergebenden physischen Anforderungen (Bedarf an Rohstoffen, Senken, et cetera) übersetzt werden müssen. Bei einer solchen Übersetzung geht es aber nicht mehr um die Formulierung ethischer Prinzipien, sondern um die Frage, wie eine gegebene empirische Entwicklung unter ein normatives Nachhaltigkeitsmodell zu subsumieren ist. Nachhaltigkeit wird bei Brundtland also analog zur wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive über einen Bezug auf menschliche Bedürfnisse, nicht physische Mengenangaben, definiert. Dieser Befund dürfte für anthropozentrische Ansätze generell zutreffen. Andererseits dürfen Nachhaltigkeitsansätze nicht unerwähnt bleiben, die die konkreten materiellen und physischen Bestandsgrößen in den Mittelpunkt rücken. So nähern sich starke Nachhaltigkeitsansätze im Rahmen ihrer Forderung nach dem Erhalt von Naturkapital („constant capital rule“) der Sichtweise von Endlichkeitsvertretern durchaus an, findet hier doch eine Verschiebung in der Axiologie statt – weg von der Forderung nach Aufrechterhaltung der positiven sozialen Effekte, die der Naturverbrauch erlaubt, hin zur moralischen Bewertung der absoluten Nutzung von Naturressourcen selbst. Wie Döring, Egan-Krieger und Ott Naturkapital definieren, wird im Folgenden dargelegt.
19 V. Hauff: Unsere gemeinsame Zukunft, s.p.
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1.3 Knappheit Knappheit ist eine zentrale Annahme der Wirtschaftswissenschaften. Sie wird in der ökonomischen Literatur als konstitutiv für das menschliche Handeln verstanden und besitzt daher auch eine hohe Relevanz hinsichtlich des MenschNaturverhältnisses.20 So spielt die Knappheit aus Sicht der Ökonomik eine entscheidende Rolle beim Verständnis der Ressourcennutzung des Menschen, wie auch bei der Inanspruchnahme von natürlichen Senken. Ihnen widmet sich die Umweltökonomik – unter Zugrundelegung der Annahme knapper Mittel. Im Folgenden ist ein Grundverständnis von Knappheit kurz herauszustellen. Will der Mensch die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen verbessern, so muss er die Knappheit derselben durch den Prozess des Wirtschaftens vermindern. Knappheit bildet keine absolute Grenze für unser Tun, sondern muss als relative oder temporäre Grenze verstanden werden, die mithilfe planvollen Handelns (Tausch, Investition, Innovation) Stück für Stück überwunden, oder besser – verschoben – werden kann.21 Auch die wohlhabendsten Nationen der Erde sind weiterhin gezwungen zu wirtschaften, das heißt knappheitsbezogene Entscheidungen zu treffen. Stets müssen gegebene knappe Inputs, also Produktionsfaktoren (insbesondere Kapital und Arbeit), so zugeteilt werden, dass sie die Bedürfnisse größtmöglich befriedigen. Auf der Angebotsseite in den Unternehmen ist laufend festzulegen, welche Inputs gegebene Produktionsentscheidungen am kostengünstigsten ermöglichen und andersherum welche Outputs mit gegebenen Inputs herzustellen sind, um den größtmöglichen Ertrag zu erzielen. Haushalte und auch der Staat streben schließlich in ihren Konsumentscheidungen danach, den größtmöglichen Nutzen zu erzielen oder ein politisches Ziel, bei temporär begrenztem Budget, zu realisieren. Im Zusammenhang mit dem normativen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung bedeutet ein Denken unter der Annahme von Knappheit, dass der Entscheidungsspielraum stets eingeschränkt bleibt, da die zur Verfügung stehenden Mittel, zumindest temporär, begrenzt sind. Besteht beispielsweise ein normativer Konsens unter Entscheidungsträgern, dass die soziale Dimension innerhalb eines Drei-Säulen-Modells der Nachhaltigkeit eine größere Ressourcenzuteilung verdient und daher zum Beispiel stärkere Ausgaben für Entwicklungspolitik im öffentlichen Haushalt vorzusehen sind, kann dies ceteris paribus nur durch Abzug
20 Vgl. Samuelson, Paul Anthony/Nordhaus, William D./Berger, Regina: Volkswirtschaftslehre, Landsberg 2007. 21 Die Grenze wird in der ökonomischen Theorie als „Grenzrate der Substitution“ bezeichnet. Vgl. ebd., S. 20.
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von Mitteln aus anderen Verwendungen geschehen. Jede auf eine nachhaltige Entwicklung hin ausgerichtete Politik findet aus ökonomischer Perspektive notgedrungen unter dem Diktat der Knappheit unserer Mittel statt und muss deshalb im Rahmen bestehender wirtschaftlicher Mittel ausgestaltet werden – gerade dadurch wird diese Aufgabe sogar überhaupt erst anspruchsvoll.22 Wenn Nachhaltigkeit ein allgemein akzeptiertes Ziel für die zukünftige Weltwirtschaft darstellt, so ist Knappheit eine der wichtigsten Restriktionen, die es auf dem Weg dahin zu beachten gilt. Auf Basis des Knappheitsparadigmas sind fast alle Rohstoffe knapp, zumeist sehr große physische Mengen auf der Erde existieren. Umgekehrt sind viele Rohstoffe an manchen Orten in weitaus geringeren Mengen verfügbar als an anderen, aufgrund ihrer Lage aber kostengünstiger abzubauen als dort, wo sie in größeren Mengen, jedoch nur in schwer zugänglicher Lage verfügbar sind. Lithium zum Beispiel ist ein bedeutender Ausgangsstoff für moderne Batterien, Elektromotoren und Solarzellen. Es kommt in geringer Konzentration im Wasser der Ozeane vor, was bei derzeitigen Abbauraten ein Vorkommen für Jahrtausende ergibt. Dennoch wird das Metall an Land aus Lagerstätten gefördert, die ein viel geringeres Vorkommen bieten.23 Die absolute Menge ist aus Sicht der Akteure also nicht entscheidend. Es zählen für die Wahl von Alternativen hier vielmehr die sog. Grenzkosten der Förderung und letztlich aus Sicht der Konsumenten der Preis als Ausdruck von Knappheit.24 Für das Ausmaß der Knappheit spielt weiterhin die Nachfrage eine entscheidende Rolle. So galten die sogenannten Seltenen Erden lange Zeit als wertloser Abfall, der bei der Förderung anderer Rohstoffe anfällt. Ihr Preis lag damit bei null. Abnehmer Seltener Erden erhielten zeitweise sogar Geld, wie es von Abfallentsorgungsunternehmen bekannt ist. Mit der rasanten Verbreitung von Smartphones, Windkraftanlagen und Solarmodulen, die allesamt große Mengen dieser Metalle ent-
22 Das Konzept der Opportunitätskosten bringt diese konstitutive Einsicht am besten zum Ausdruck. Für jede Konsum-, Spar- oder Investitionsentscheidung gibt es in der Regel eine Vielzahl von Alternativen, die jeweils bestimmte Nutzengewinne/Erträge versprechen, doch können wir unser Budget nur einmal verwenden. Überall ist eine Entscheidung für Option A mit einem Verzicht auf B, C, D, usw. verbunden. Diese Verzichtskosten werden als Opportunitätskosten bezeichnet. Vgl. Mankiw, Nicholas Gregory/Wagner, Adolf: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2004, S. 6. 23 Etwa in großer Höhe in Salzseen Boliviens, Chiles, Argentiniens, der USA und Chinas. 24 Die Grenzkosten sind die marginalen Kosten der Förderung der letzten Tonne des Materials.
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halten, wuchs jedoch in jüngster Zeit die Nachfrage nach den Seltenen Erden, die Knappheit nimmt zu, ihr Preis steigt. Hier wird sehr gut deutlich, dass ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen einer an physischen Größen orientierten Sichtweise auf die ökologischen Herausforderungen und der knappheitsbezogenen Sicht der Ökonomik: Im Denkrahmen der Endlichkeit ist Wirtschaften eine Aufgabe der ganzen Menschheit, die wesentlich darin besteht, feste ökologische Grenzen in nachhaltiger Weise auszuschöpfen und den Nutzen, der daraus entsteht, gerecht auf alle zu verteilen. Demgegenüber nimmt die Wirtschaftswissenschaft einen anderen Blickwinkel ein, der auf der Annahme knapper Mittel fußt. Mengenangaben zu Öl, Kohle, Gas, Getreide und so weiter sind für die ökonomische Analyse nur in der Übersetzung als knappe Produktionsfaktoren (und damit knapper Güter) vor dem Hintergrund potentiell unendlicher, aber variabler Bedürfnisse der Konsumenten relevant.25 Erst wenn die Nachfrage nach diesen Gütern bei einem Preis von null Euro größer ist als das Angebot, kann per definitionem von Knappheit gesprochen werden. Knappheit ist schon daher immer eine Frage sich verändernder Konsumentenpräferenzen angesichts temporärer Grenzen des Produktionsapparates. Die physische Natur der Inputs geht nicht eins zu eins in die Analyse ein, sondern wird in wirtschaftliche Daten auf der Angebots- und Nachfrageseite übersetzt. Sie kann daher auch aus sich heraus keine Grenze konstituieren.26 Aus diesem Grund erscheint Ökonomen der Handlungsdruck aufgrund physischer Verknappung teils weniger dringlich, als Vertretern des Ziels nachhaltiger Entwicklung oder gar des noch spezifischeren Endlichkeitsansatzes. Für die Relevanz der ökonomischen Sichtweise spricht beispielsweise eine langfristige Betrachtung des Rohölpreises. Heute lagert physisch deutlich weniger Rohöl unter der Erde als zu Beginn des Ölzeitalters, da große Mengen bereits gefördert
25 Das hat u.a. zur Folge, dass der Anstieg der Grenzkosten etwa der Förderung von Öl nicht zu einer Preissteigerung am Markt führen muss – etwa dann, wenn die Konsumenten auf steigende Preise mit drastisch sinkender Nachfrage reagieren und Öl durch andere Energieträger ersetzen. Der Wert des Öls steigt also nicht automatisch mit seiner Verknappung. Im Extremfall geht eine Verknappung sogar mit einer Preissenkung einher, etwa dann, wenn deutlich günstigere Alternativen zur Verfügung stehen. Dann lohnt sich die Förderung gar nicht mehr – Peak Oil wäre in dieser Situation nur noch ein marktgesteuertes Ereignis ohne negativen Wohlfahrtseffekt. 26 Gegen diese Position vgl. H. Daly: Wirtschaft jenseits von Wachstum; vgl. auch Georgescu-Roegen, Nicholas: The entropy law and the economic process, Cambridge, Mass. 1971. Aus dogmenhistorischer Sicht vgl. Immler, Hans: Natur in der ökonomischen Theorie, Opladen 1985.
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und verbraucht wurden. Zu inflationsbereinigten Preisen ist Rohöl heute dennoch deutlich billiger als vor ca. 150 Jahren, zu Beginn der industriellen Förderung.27 Gleiches gilt für viele Rohstoffe, die seit langer Zeit in industriellem Maßstab gefördert werden.28 Die Divergenz zur Wahrnehmung einer physischen Barriere als wesentliche Problemwahrnehmung der Nachhaltigkeit kann auch für andere Problemfelder wie für die Diskussion um die „Überbevölkerung“ gezeigt werden.29
2.
D IE V ERARBEITUNG VON W ISSEN IN DEN B EGRIFFEN N ACHHALTIGKEIT , E NDLICHKEIT UND K NAPPHEIT
Die Verarbeitung von Wissen spielt auf dem Weg in eine umweltfreundliche Zukunft eine entscheidende Rolle. So ist in jedem Staat die Zukunft der Energieversorgung von gekonnter langfristiger politischer Planung bei teils unsicheren oder fehlenden Informationen abhängig: Welche Energiequelle weist die geringsten Umweltschäden auf, welche ist langfristig die günstigste, welche bietet die größte Versorgungssicherheit – und das über Jahrzehnte hinweg? Die Erkenntnis, dass der Verarbeitung von Wissen allergrößte Bedeutung auf wirtschaftlichem Gebiet zukommt, geht auf den österreichischen Ökonomen und liberalen Philosophen Friedrich August von Hayek zurück. Zentrale Frage der Sozialwissenschaften sei, so Hayek, wie wir das begrenzte subjektives Wissen so nutzen können, dass diejenigen wünschenswerten Zustände erreicht werden können, die unter Anwendung des Einzelverstands unerreicht bleiben müssten.30 „The dispersion and imperfection of all knowledge are
27 http://www.bp.com/en/global/corporate/about-bp/energy-economics/statistical-review -of-world-energy-2013/review-by-energy-type/oil/oil-prices.html (26.03.2015). Der aktuelle Preis für ein Barel Öl der Sorte WTI notiert bei etwa 51 US-Dollar, was inflationsbereinigt deutlich unter dem Preis von 1861 liegt. 28 Auf diesen Aspekt verweist u.a. der Umweltökonom Julian Simon. Vgl. Simon, Julian: The Ultimate Resource 2, Princeton 1996. 29 Die These einer drohenden Überbevölkerung wird insbesondere mit Paul R. Ehrlich verbunden. Vgl. Ehrlich, Paul R.: Die Bevölkerungsbombe, München 1971. 30 Hayek definiert Fortschritt dann auch in Anlehnung an Alfred Whitehead damit, „daß die Zahl der wichtigen Handlungen, die wir ohne Nachdenken ausführen können, immer größer wird“. Hayek, Friedrich August von: „Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft“, in: Hayek, Friedrich August von (Hg.), Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Salzburg 1976, S. 117; siehe auch Hayek, Friedrich August von:
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two of the basic facts from which the social sciences have to start.“31 Wissen ist nach Hayek einerseits stets unvollkommen und andererseits stets auf viele Menschen verteilt („verstreut“). Diese Annahmen wendet Hayek zuerst auf die Wirtschaft an. In der Sozialismusdebatte, in der er die Idee einer zentralistischen Wirtschaftsplanung kritisiert, greift Hayek den Gedanken auf, dass in der Erkenntnis der Begrenztheit menschlichen Wissens ein Schlüsselproblem vorliege, das weitere Beachtung verdiene.32 Er erkennt: Es bedarf eines Mechanismus, der individuelles Wirtschaften im Sinne knappheitsbezogen Handelns zur größtmöglichen gemeinsamen Wohlfahrt zusammenbringt. Die Frage laute hierfür vor allem: Wer soll planen, eine zentrale Behörde oder die einzelnen Wirtschaftssubjekte im Rahmen dezentraler Kooperation?33 Hayek votiert eindeutig für eine dezentrale Wirtschaftsordnung, die individuelle Planentscheidungen koordiniert, aber nicht vorschreibt. Dazu bedürfe es aber eines Instrumentes, das die Einzelwirtschaften (ein Begriff Walter Euckens), miteinander informationell verbindet. Dieses Instrument ist der auf Märkten gebildete Preis für Waren und Dienstleistungen. Der Preis ist mit Hayek ein Knappheitssignal, das die „relative Wichtigkeit der Dinge“ anzeigt und so das Handeln der Wirtschaftssubjekte koordiniert.34 Kommt es etwa zu einem rapiden Fördereinbruch eines industriell stark nachgefragten Rohstoffs, entsteht vermittelt über den Preis eine informationelle Schockwelle im Informationsnetz des Marktes. Mit der eintreffenden Information passen alle Unternehmen, die diesen Rohstoff weiterverarbeiten, ihre Pläne an. Sie wenden sich Substituten zu, senken die Produktion und bewirken damit die Knappheit weiterer Güter, die den Rohstoff nicht einmal beinhalten müssen. Eine Preisänderung hat so vermittels der Anpassungsreaktionen der Marktteilnehmer weitere Preisänderungen zur Folge. Mengenanpassungen und Substitutionseffekte hangeln sich nach und nach durch und überqueren hierbei ggf. den gesamten Globus. So hat der Preis die Funktion eines Bindegliedes, das Wirtschaftssubjekte miteinander verknüpft, die voneinander nicht das geringste wis-
„Wirtschaftstheorie und Wissen“, in: Hayek, Friedrich August von: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Salzburg 1976, S. 54. Vgl. ebenso Gamble, Andrew: „Hayek on Knowledge, Economics and Society“, in: Feser, Edward (Hg.), The Cambridge companion to Hayek, S. 114. 31 Hayek, Friedrich August von: The counter-revolution of science, S. 50. 32 Vgl. Pierson, N.G. et al. (Hg.): Collectivist economic planning: Critical studies on the possibilities of socialism, London 1935. 33 Vgl. Hayek, Friedrich August von: Studies in Philosophy, Politics and Economics, o.O. 1967. 34 Vgl. ebd., S. 112f.
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sen, die sich „nie gesehen haben“ und die keinerlei Kenntnis über die Ursachen und genauen Umstände etwa der beispielhaften Verknappung benötigen. Die Wirtschaftssubjekte werden erst durch den Preis zu Teilnehmern eines Marktes, „weil der begrenzte Gesichtskreis des einzelnen den des anderen genügend überschneidet, dass durch viele Zwischenglieder die relevante Information allen übermittelt wird“35. Vor dem Hintergrund dieser Idee Hayeks soll das Verständnis von Wissen als Faktor in einer ökologischen Diskussion für jeden der drei Begriffe angerissen werden. Naheliegender Weise soll zunächst der Begriff der Knappheit behandelt werden. Wie gezeigt, ist Knappheit eine zentrale Annahme in den Wirtschaftswissenschaften. Sie wird auch auf dem Gebiet der Mensch-Natur-Beziehung als zentral angesehen. Der wichtigste Einwand unter der Annahme der Knappheit der Mittel lautet: Ökonomisch gesehen kann das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung immer nur unter der Randbedingung verfolgt werden, dass alle Mittel als knapp zu betrachten sind. Investitionen in eine schadstoffarme Infrastruktur sind beispielsweise ceteris paribus nur unter Verzicht auf Konsummöglichkeiten an anderer Stelle möglich (sogenannte Opportunitätskosten). Auch nachhaltiges Wirtschaften ist Wirtschaften im Sinne eines Umgangs mit Knappheit. Der Begriff der Knappheit spielt, wie gezeigt, interessanterweise aber auch in der Erörterung der Ideen Hayeks zur Verarbeitung von Wissen eine wichtige Rolle. Knappheit ist bei Hayek die Kerninformation, die es zu verarbeiten gilt. Ein effizientes Wirtschaftssystem ist in der Lage, Knappheitsinformationen als Daten jederzeit kurzfristig an die planenden Akteure zu übergeben. Für Hayek sind dazu offene Märkte, auf denen sich Preise im Wettbewerb zwischen Anbietern und zwischen Nachfragern bilden, unerlässlich. Insofern ist die eingangs gestellte Frage nach den wissensmäßigen Annahmen im Hinblick auf den Begriff der Knappheit so zu beantworten, dass Knappheit selbst als Information zu gelten hat. Aufgabe politischer Entscheidungsträger im Sinne Hayeks wäre es daher dafür Sorge zu tragen, dass diejenigen, die wirtschaftliche Entscheidungen treffen, auch sämtliche Informationen über die Knappheit (zum Beispiel ökologischer Ressourcen) besitzen. Ist Knappheit der Leitbegriff, unter dem ökologische Herausforderungen diskutiert werden, besteht die wissensmäßige Aufgabe für Entscheidungsträger gerade darin, Defizite des Preismechanismus aufzudecken und auch abseits des Marktes an diejenigen Informationen zu gelangen, die eine Abschätzung ökologischer Knappheit erlauben. Da Knappheit stets als resultierende Größe aus Angebot und Nachfrage zu sehen ist, sind hierfür Messungen von Konsumentenpräferenzen und Verfügbarkeitsprojektionen von Umweltgütern erforderlich.
35 Vgl. ebd., S. 114-116.
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Im Folgenden ist die Frage nach den notwendigen Wissensannahmen im Bereich der Nachhaltigkeitsansätze zu stellen. Es wurde dargelegt, dass Nachhaltigkeit eine normative Forderung darstellt, die sich auf viele gesellschaftliche Bereiche erstreckt und als Gerechtigkeitstheorie einen Ausgleich zwischen den heute Lebenden sowie zwischen den heute lebenden und den zukünftigen Generationen einfordert. Nachhaltigkeit stimmt damit eine globale Agenda an, die sowohl Umweltgüter, als auch soziale Zustände normativ bewertet. Umfassendes Wissen ist nötig, um die Nachhaltigkeit einer Gesellschaft – oder besser eines bestehenden gesellschaftlichen Entwicklungspfades – beurteilen zu können. In diesem Sinne stellt sich bei der Umsetzung jeder Nachhaltigkeitsagenda ein erhebliches Messproblem. Damit wirft die Forderung nach Nachhaltigkeit viele wissensbezogene Fragen auf, etwa nach der Einheit, in der Nachhaltigkeit zu messen ist, nach den eingehenden Größen in ein Nachhaltigkeitsmaß, wie auch die Frage, ob Nachhaltigkeit überhaupt quantifiziert werden kann. Prima facie ist unter Verwendung des Drei-Säulen-Modells eine kaum zu überschauende Zahl von Sozialindikatoren, Wirtschaftsindikatoren und Messgrößen zur Umweltqualität als relevant einzustufen. Der Charakter des Wissens, um das es bei der Forderung nach einer nachhaltigen Entwicklung geht, ist interessanter Weise ein anderer, als im Falle der Verarbeitung von Wissen in der Tauschordnung des Marktes. Wird Nachhaltigkeit als Aufforderung zur Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen begriffen, ist sie (gerade was die Umsetzung angeht) notwendig politischen Charakters. Eingehendes Wissen muss folglich vor allem durch bürokratisch organisierte Datenerhebungsverfahren gewonnen werden. In ein Maß der Nachhaltigkeit gehen also zwecks Messung vor allem statistische Informationen ein. In die Entscheidungen der wirtschaftenden Akteure auf Märkten gehen hingegen Knappheitsinformationen vor allem vermittels des Preissignals ein, welches auf Märkten laufend die sich wandelnden Daten in sich aufnimmt. Eine Erhebung aller Daten, die für die Versorgung mit einem knappen Gut nötig sind, ist hierzu durch den einzelnen Akteur nicht erforderlich, gerade weil Myriaden an Daten in einen einzigen Preis vermittels des Marktmechanismus bereits eingeflossen sind.36
36 Natürlich dürfen wir den Unterschied, der sich hier herauskristallisiert, nicht überstrapazieren. Auch in Unternehmen finden komplexe Planungsprozesse mithilfe aggregierter Informationen statt, die sich dem Charakter nach nicht wesentlich von politischen unterscheiden. Und nicht zuletzt integrieren gerade Großunternehmen Verfahren der Messung von Nachhaltigkeit als Teil der Corporate Social Responsibility (CRS) verstärkt in die strategische Planung. Inwiefern hierbei allerdings von Nachhal-
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Schließlich ist auf die Wissensannahmen derjenigen Ansätze aus der ökologischen Wachstumskritik einzugehen, die den Begriff der Endlichkeit als wesentlich für eine ökologische Diskussion erachten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Endlichkeit in diesem Sinne mit einer holistischen Systemperspektive einhergeht, die Wirtschaft als ein physisches Teilsystem des natürlichen Systems der Erde begreift. Nachhaltigkeit ist auch hier das normative Ziel, wobei auf der Umsetzungsebene ein apriorischer Gegensatz von Wachstum und Nachhaltigkeit unterstellt wird: Ein Teilsystem eines endlichen Systems kann per se nicht unendlich lang wachsen. Um Nachhaltigkeit in der spezifischen Ausprägung eines wachstumskritischen Endlichkeitsverständnisses zu erreichen, sind nicht nur sämtliche Informationen zu erheben, die eine Bestimmung (Messung) von Nachhaltigkeit empirisch ermöglichen. Der physische Systemansatz, der das Wachstum der Ökonomie als Teilsystem eines endlichen Planeten begreift, muss darüber hinaus auch die Frage beantworten, wie groß die physische Ökonomie der Erde eigentlich ist und wie nahe sie der absoluten Grenze einer endlichen Erde schon gekommen ist. Auch die Größe der Erde ist hierzu zu bestimmen, wobei ausschließlich statische (zeitlich unveränderliche) Größen infrage kommen. Ansonsten wäre die Erde als System schließlich selbst zum Wachstum fähig und nicht mehr endlich. Nach den Wissensannahmen dieser Perspektive zu fragen, hilft den axiomatischen Charakter dieser Perspektive herauszustellen und klarer zu erkennen. In unkritischer Weise kann mit der Endlichkeit des Planeten argumentiert werden, ohne empirische Daten, etwa zur Umweltqualität, zur Kenntnis nehmen zu müssen, obwohl diese ja eigentlich im Zentrum jeder Nachhaltigkeitsdebatte stehen sollten. Aggregierte Informationen über den Zustand der Natur, der Gesellschaft und der Wirtschaft sind im Denkansatz, den etwa Harald Welzer verfolgt, und der auch bei Tim Jackson, Meinhard Miegel und den Autoren der Club of RomeStudie „Die Grenzen des Wachstums“ als Leitidee eine große Rolle spielt, eigentlich in viel größerem Ausmaß für politische Entscheidungsträger aufzubereiten. Mit der Verwendung des Endlichkeitsbegriffes geht erstaunlicher Weise in wachstumskritischen ökologischen Schriften aber gerade keine Hinwendung zur Empirie und zu den komplexen Messproblemen, die eine globale Systemperspektive mit sich bringt, einher. Stattdessen herrscht die Vorstellung, mit der Einführung der Terminologie Endlichkeit – System – Wachstum bereits axiomatisch gehaltvolle Aussagen getroffen zu haben, die einer nachhaltigen Politik ei-
tigkeit in derselben Weise gesprochen werden kann, wie dies im akademischen Diskurs für Gesellschaften getan wird, ist zu hinterfragen.
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ne einfache Richtschnur geben – in Form einer Reduktion der globalen physischen Ökonomie.
3.
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ABSCHLIESSENDE
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Wie die anstehende Aufgabe der ökologischen Selbsterneuerung begrifflich gefasst wird, hat weitreichende Konsequenzen in Bezug auf die Informationen, die als relevant betrachtet werden müssen, wie auch auf die Frage, wie diese zu messen sind, wer sie verarbeitet und wo in der Folge politisches Handeln anzusetzen hat. Wirtschaftswissenschaftler verstehen auch ökologische Fragen als Fragen der Knappheitsbewältigung. Die Ökonomie ist für sie keine primär physische Sphäre, sondern eine informelle Sozialordnung, die der Koordinierung menschlichen Handelns zum Zweck der individuellen Bedürfnisbefriedigung dient. Wissen ist hierfür von zentraler Bedeutung, worauf F. A. Hayek hinweist. Wenn die Überwindung von Knappheit als das zivilisatorische Ziel erster Güte definiert wird, müssen alle verfügbaren Daten in den Wirtschaftsprozess integriert werden, die für die Bedürfnisbefriedigung der Menschheit von Belang sind. Dies betrifft dann auch Umweltgüter, die bisher nicht erfasst werden konnten. Die fortdauernde Kapitalvernichtung durch Umweltzerstörung ist schon aus einer knappheitsbezogenen Perspektive unhaltbar. Die Effizienz des Wirtschaftssystems kann in dem Maße gesteigert werden, in dem weiteres Wissen in die Preise integriert wird. In diesem Lichte ist der Ansatz eines Handels von Emissionsrechten als marktbasiertes Instrument zur Internalisierung externer Effekte ein Zeichen für die zentrale Bedeutung des Wissensproblems bei der Schaffung neuer Wachstumsperspektiven, die künftig ohne schleichende Vernichtung von Naturkapital erfolgen sollen. Nachhaltigkeit als ethischer Anspruch an eine umfassendere gesellschaftliche Entwicklung zeigt sich in Hinblick auf die Verwertung von Wissen als ein anspruchsvolles Unterfangen, das immer auch als Messproblem gesehen werden sollte. Während die Ökonomie unter Ausnützung der Informationsverarbeitung durch den Markt mithilfe des Preissystems auch ohne statistisch gestützte Planungsprozesse auskommen kann, ist das gesellschaftliche Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ohne bürokratische Datenerhebung und Aggregation undenkbar. Die wachsende Zahl von Nachhaltigkeitsindikatoren ist eine Folge dieses Problems, das die Frage nach den Standards für eine reflektierte Trennung der relevanten von den irrelevanten Daten für gesellschaftliches Nachhaltigkeitsmanagement umso dringlicher erscheinen lässt (Selektionsproblem).
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Endlichkeit in der spezifischen Verwendung des Begriffs durch die ökologische Wachstumskritik entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein wissensmäßig widersprüchliches Programm. Während die auf Wachstum ausgerichtete Ökonomie nicht ohne dezentrale Wissensverarbeitung gedacht werden kann und Nachhaltigkeit als normativer Anspruch zwingend die laufende empirische Messung gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Zustände erfordert (was in beiden Fällen von wissenschaftlicher Seite und seitens der Handelnden anerkannt wird), liegt in der Problemformulierung über den Begriff der endlichen Welt die Versuchung nahe, die empirische Dimension ökologischer Herausforderungen zu missachten und die Praxis der Nachhaltigkeit in ein rein logisches Problem zu verwandeln. In einem solchen Verständnis werden zur Lösung ökologischer Menschheitsaufgaben keinerlei empirische Informationen benötigt, da die Sprechweise vom Wachstum einer physischen Ökonomie als Teilsystem des endlichen Erdsystems die axiomatische Lösung schon bereitzuhalten scheint: Nur durch eine Begrenzung, beziehungsweise Rückführung, der physischen Ökonomie auf ein die Grenzen achtendes Maß könne die Umsetzung von Nachhaltigkeit gelingen. Bei näherer Betrachtung verkehrt sich diese Einfachheit vom Zeitpunkt der Umsetzung an aber sofort ins Gegenteil, wären doch erhebliche Mengen an aggregierten Informationen als Teil eines staatlichen Steady-State Programms vonnöten, die es erlaubten, Umfang und Zusammensetzung der physischen Ökonomie zu bestimmen und die einzelnen Bestandteile so zu gewichten, dass eine Begrenzung als System insgesamt überhaupt möglich würde. Die hierbei zu erwartenden Probleme der Erhebung und Verarbeitung zu entscheidungsrelevanten Größen (auch in zeitlicher Hinsicht) dürften wesentlich größer sein, als in einer Geldökonomie, die dank des Preissystems zumindest über eine gemeinsame Einheit für unterschiedlichste Kapitalien verfügt.
Endliche Welt und offene Zukunft. Die Verarbeitung von Endlichkeit im ökologischen politischen Denken der siebziger und achtziger Jahre T INE S TEIN
1.
E INLEITUNG
In den achtziger Jahren erfuhr die Thematik der Endlichkeit in den politischen und gesellschaftlichen Debatten Westdeutschlands eine thematisch spezifische Konjunktur. Um nichts Geringeres als den befürchteten Untergang der Menschheit ging es, der auf leisen Sohlen, schleichend, langsam dosiert, nicht direkt bemerkbar, aber umso unaufhaltbarer als ökologische Krise, die keine Chance der Umkehr erkennen ließe, kommen würde. Es mehrten sich in dieser Zeit die Anzeichen einer tiefgreifenden Erschöpfung der Tragekapazität der Natur als Folge des Raubbaus einer keine Risiken scheuenden industriellen Produktionsund Konsumtionsweise: Ein breitflächiges Waldsterben durch übersäuerte Böden aufgrund schwefelhaltigen Regens galt es zu beklagen, Bodenerosion, Regenwaldabholzung, Artensterben, Ozonloch, erste Wetterkapriolen als Vorboten eines Klimawandels wurden bemerkt, Chemie in Lebensmitteln getestet – die ökologische Krisendiagnostik wurde mit jedem Jahr länger. Zudem bestimmten zwei große Bedrohungsszenarien damals das, was aus der Perspektive des Auslands mit einem gewissen Erstaunen als „German Angst“ bezeichnet wurde: nämlich die Angst vor einer atomaren Katastrophe, die das Ende der Menschheit unwiederbringlich besiegeln würde. Hintergrund dieses Phänomens war einmal die Umsetzung des NATO-Doppel-Beschlusses und das damit verbundene Aufstellen atomar bestückter Kurzstreckenraketen, die im Einsatzfall auf deutschem
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Gebiet explodiert wären und die eine höhere Vernichtungskraft als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki besaßen. Die andere Quelle der Angst lag in der Befürchtung eines nicht beherrschbaren Unfalls in einem der zahlreich gebauten oder in Planung beziehungsweise Bau befindlichen Atomreaktoren. Die dadurch ausgelösten existentiellen Beunruhigungen durch die Nutzung der Atomspaltung äußerten sich gesellschaftlich in zahlreichen Protestkundgebungen: den großen Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten mit Millionen Teilnehmern und auch den zahlreichen Anti-AKW-Demonstrationen von Gorleben bis Wyhl, wo atomare Endlager beziehungsweise Kraftwerke geplant waren. Als sich dann im April 1986 der Atomreaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl ereignete und die Geigerzähler überall in Europa den radioaktiven Verseuchungsgrad von Milch, Pilzen und Obst anzeigten, da war der „gefühlte“ Untergang der Welt in Deutschland vielen ganz nahe. Diese Endzeitstimmung findet eine Entsprechung in der politischen Literatur dieser Zeit, um die es im Folgenden gehen soll. In den Essays, Büchern, und Traktaten lässt sich ablesen, wie die Verbindung zwischen der befürchteten Endlichkeit der natürlichen Lebensgrundlagen und der befürchteten Endlichkeit der Menschheit als Kollektiv hergestellt wird. Wenn die Erde als natürliche Lebensgrundlage des Menschen bedroht ist, dann ist auch das Leben der Menschen bedroht. Die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die Überlastung der natürlichen Tragekapazität zeigt so auch die Endlichkeit der Menschheit an. Ein in dieser Hinsicht besonders eindringliches Beispiel dieser Gattung ist das1985 erschienene Sachbuch des Wissenschaftsjournalisten Hoimar von Ditfurth mit dem Titel „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen…“.1 Schon der Titel ist eine Anspielung auf ein Endzeitdenken, denn er rekurriert auf einen Satz, der Martin Luther zugeschrieben wird: „Und wenn ich wüßte, das morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“.2 Ditfurth lässt sein Buch mit einer Frage beginnen, die er gleich beantwortet: „Endzeit? Es steht nicht gut um uns. Die Hoffnung, daß wir noch einmal, und sei es um Haaresbrei-
1
von Ditfurth, Hoimar: So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, Hamburg 1985.
2
Dass der Satz so von Luther ausgesprochen worden ist, lässt sich nicht belegen, wohl aber eine Fundstelle aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, in einer Situation größter Not und Verzweiflung, nämlich in einem Gemeinderundbrief der hessischen Kirche im Herbst 1944, vgl. Schloemann, Martin: Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1994, S. 28-32 sowie Demandt, Alexander: Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln u.a. 2002, S. 211f.
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te, davon kommen könnten, muß als kühn bezeichnet werden.“3 Ein anderes bereits vom Titel her sprechendes Beispiel ist das Buch von Herbert Gruhl „Himmelfahrt ins Nichts. Der geplünderte Planet vor dem Ende“.4 Gruhl hatte bereits Mitte der siebziger Jahre einen Bestseller mit dem Titel „Ein Planet wird geplündert“ vorgelegt, in dem er neben der ökologischen Krisendiagnostik auch die Mechanismen in der Politik schildert, die seines Erachtens für die Krise verantwortlich sind. Diese und weitere Texte, die es in einem ersten Schritt im Überblick, in einem weiteren Schritt dann in einer Auswahl im Detail zu analysieren gilt, werden hier als ideenpolitischer Ausdruck einer sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem seit den siebziger Jahren etablierenden neuen Strömung politischen Denkens verstanden: als ökologisches politisches Denken. Das ökologische politische Denken stellt damit neben Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus beziehungsweise sozialdemokratischem politischen Denken eine vierte Strömung dar, die die politischen Auseinandersetzungen in der Wettbewerbsdemokratie in Deutschland im Wesentlichen bestimmt, zumal sie in Gestalt der GRÜNEN auch einen politisch institutionalisierten Ausdruck gefunden hat, mit dem die ideellen Gehalte in politische Programme reformuliert wurden. In Bezug auf diese Texte soll hier gefragt werden, ob in der Erfahrung der verschiedenen Dimensionen von Endlichkeit von den Autoren ein Zusammenhang hergestellt wird: nämlich wie sich die Erfahrung von Endlichkeit als Erfahrung der begrenzten Ressourcen der Natur mit der antizipierten Erfahrung einer möglichen Endlichkeit des Menschen verbindet und zwar des Menschen schlechthin, als Kollektivsubjekt der Menschheit also. Damit droht die Gegenwart entweder zu einer Endzeit zu werden, die in Erwartung einer Apokalypse ist oder aber einer Zeit, die sich in einer lebensbedrohlichen Krise befindet und die die Chance einer Umkehr erkennen lässt. Tatsächlich weisen auch die hinsichtlich der Krisendiagnostik sehr pessimistischen Texte Vorschläge aus, was zu tun ist, um diese Bedrohung abzuwenden. Im Einzelnen ist hier von Interesse, welche Zeithorizonte für die gesellschaftliche Entwicklung in den Texten des ökologischen politischen Denkens angenommen werden – wird die Erfahrung der Endlichkeit der Natur, mithin der Endlichkeit der Welt mit einem Ende der Welt oder mit einer offenen Zukunft für die Menschheit und so zugleich einer ökologisch wünschenswerten Entwicklung verbunden? Welche „Rettungs-“maßnahmen als Strategien des Umgangs
3
H. v. Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, S. 7.
4
Gruhl, Herbert: Himmelfahrt ins Nichts. Der geplünderte Planet vor dem Aus, München 1992.
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mit dieser Erfahrung werden vorgeschlagen? Es geht also nicht nur um die Krisendiagnostik, sondern auch die Vorschläge zur Abwendung der Krise und auf welchen normativen Leitprinzipien, gesellschaftstheoretischen (expliziten oder impliziten) Annahmen und politischen Ordnungsvorstellungen diese beruhen. Zudem sind die Überlegungen zu analysieren, die die Autoren anstellen, wie der Zustand, der die Krise abwehren kann, erreicht werden soll. Die beiden in dieser Hinsicht genauer zu analysierenden Autoren sind Hans Jonas (1903-1993) und Rudolf Bahro (1935-1997). Sie sind hier nicht nur deswegen ausgesucht worden, da ihr Werk sie als philosophische wie auch als politische Denker ausweist, die sich in umfassender Weise mit der ökologischen Krise auseinandergesetzt haben und für die Diskussion wichtige Bezugspunkte abgegeben haben. Einschlägig sind hier insbesondere Jonas‘ „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ und Bahros „Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten?“.5 Diese beiden Autoren sind auch deswegen lohnend zu untersuchen, da sich in ihrem Werk Vorstellungen über die geschichtliche und zukünftige Entwicklung der Menschheit freilegen lassen, die den Hintergrund der westlichen Zeitvorstellung illustrieren, für die die religiöse Imprägnierung als Heilsgeschichte wie auch deren Säkularisierung wesentlich ist. Die Säkularisierung als eines der prägenden Merkmale der Moderne ist für die Erfahrung von und den Umgang mit Endlichkeit von besonderer Bedeutung. Denn mit der Säkularisierung ist die christlich-heilsgeschichtliche Vorstellung einer Aussicht auf ein ewiges Leben nicht mehr allgemeingültig. Eine wesentliche Konsequenz hieraus ist die in der Neuzeit wirkmächtige Vorstellung von Fortschritt. Im Unterschied zur religiösen Idee eines Fortgangs der Geschichte auf Gottes Wirken hin wird unter den Bedingungen der Säkularisierung, mit Reinhart Koselleck ausgedrückt, „das stets zu erwartende Ende der Weltzeit in eine offene Zukunft verwandelt“.6 Dabei kann die Entwicklung auf diese offene Zukunft hin die Gestalt einer säkularisierten Eschatologie annehmen – wie Karl Löwith etwa mit Blick auf die marxistische Geschichtsphilosophie
5
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984 (erstm. 1979); Bahro, Rudolf: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten. Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Stuttgart/Wien 1987.
6
Koselleck, Reinhart (Hg.): Fortschritt (= Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2), Stuttgart 1975, S. 337-423, hier S. 371. Vgl. auch Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, S. 9 ff.
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ausgeführt hat7 – oder es wird Fortschritt schlechthin als der Weg zu einem besseren Zustand gesehen.8 Tatsächlich weist aber ein wirkmächtiger Zweig der ökologischen politischen Literatur, wie zu zeigen sein wird, eine Kritik am Fortschritt als gesellschaftlicher Entwicklungsrichtung auf und betrachtet die Zukunft nicht als offen, sondern als bedroht – bis hin zur Vorstellung eines apokalyptischen Endes der Menschheit als Kollektivsubjekt, wenn nicht sogar allen Lebens auf der Erde. Bevor diese Zusammenhänge anhand der Schriften von Jonas und Bahro illustriert werden, gilt es zunächst, die wesentlichen Charakteristika des ökologischen politischen Denkens im Überblick vorzustellen.
2.
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ÖKOLOGISCHE POLITISCHE DER SIEBZIGER UND ACHTZIGER
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Es lassen sich mehrere zentrale Topoi des ökologischen politischen Denkens herausarbeiten. Dabei ist vorwegzuschicken, dass es hier nur um solche Literatur geht, die im weitesten Sinne einen politischen Bezug aufweist: dieser kann ethisch-philosophischer Natur sein, gesellschaftstheoretischer Art oder auch institutionell-analytisch ausfallen. Politisches Denken wird hier verstanden als ein Denken, das eine eigenständige Kategorie gegenüber politischer Theorie als wissenschaftlicher Bemühung einerseits und programmatisch-politischem Sprechen als politischer Handlung andererseits darstellt. Es stellt sich als Nach-Denken über Politik dar, geht dabei von einem bestimmten Problem aus, will in entsprechend problemlösender Absicht die politische Praxis beraten und an die Öffentlichkeit in reflektierter Form appellieren. Es können mit den Veränderungsvorschlägen aber auch die traditionell verfassten institutionellen Bahnen verlassen werden und sich das politische Denken so als ein utopisches oder dystopisches Denken erweisen.9 In jedem Fall geht es um einen Bezug zur Politik. Damit
7
Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004 (erstm. engl.: Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago UP 1949, dt. 1953).
8
Vgl. Rapp, Friedrich: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992.
9
Diese Kriterien sind im Rahmen des Kieler DFG-Forschungsprojekts „Zeitgenössisches Politisches Denken in Deutschland seit 1989“ entwickelt worden, siehe dazu: https://www.politik.uni-kiel.de/de/professuren/PolTheo/politischesdenken vom 02.09. 2015.
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scheiden viele Bücher, auch wenn sie zu Klassikern des ökologischen Denkens avanciert sind, aus der Betrachtung aus, nämlich solche, in denen vornehmlich das sachliche Problem erfasst wird, aber keine weiteren politischen, ethischen oder institutionellen Überlegungen angestellt werden. In die Kategorie solcher ökologischen Sachbücher und wissenschaftlichen Studien fällt etwa das Buch von Rachel Carson „Silent Spring“,10 das eine Art Initialzündung für die Umweltbewegung gewesen ist. Carson stellt darin den Einsatz von Dichlordiphenyltrichlorethan, kurz DDT in der Landwirtschaft als problematischen Eingriff in die Wirkungsketten ökologischer Kreislaufsystemen dar und stellt heraus, wie sehr der unbedachte Eingriff des Menschen in die Natur sich nicht nur schädlich für Pflanzen und Tiere auswirken kann, sondern über die Nahrungsketten auch schädlich auf den Menschen selbst zurückwirkt. Ein weiterer Meilenstein der Umwelt-Diskussion ist der Bericht von Dennis Maedows und anderen an den Club of Rome, mit den sprichwörtlich gewordenen Titel „Grenzen des Wachstums“, der die ökologische Problematik exponentiellen wirtschaftlichen Wachstums aufgezeigt hat.11 Einige weitere der stark rezipierten und für die Aufarbeitung der ökologischen Krise wichtigen Texte unterfallen dieser Gattung der Berichte, die von einem Kreis von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtung im Auftrag von Regierungen oder Parlamenten erarbeitet worden sind. Gerade im deutschen Regierungssystem sind hier einige interessante Berichte in Auftrag gegeben worden, die über die naturwissenschaftlich-ökologischen Bestandsaufnahmen auch sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische Betrachtungen enthalten, wie etwa der jüngst erschienene Bericht des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen „Welt im Wandel. Die große Transformation“ oder die periodischen Berichte des Sachverständigenrats für Umweltfragen.12
10 Carson, Rachel: Silent Spring, 1962; erstmalig in einer Artikelserie im Juni 1962 im Magazin New Yorker erschienen, seitdem vielfach nachgedruckt. In deutscher Übersetzung seit 1963 in mehreren Verlagen in zahlreichen Auflagen erschienen. 11 Maedows, Dennis et al: Limits to Growth, 1972/2004; Siehe auch vergleichbar: Global 2000. Bericht an den Präsidenten. Herausgegeben vom Council on Environmental Quality und dem US-Außenministerium. Gerald O. Barney, Study Director. Washington, U. S. Government Printing Office, 1980, die deutsche Übersetzung ist im Verlag 2001 erschienen, Frankfurt a. M. 1980. 12 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (Hauptgutachten), Berlin 2011; Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Verantwortung in einer endlichen Welt. Umweltgutachten 2012, Berlin.
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Hier interessieren demgegenüber in erster Linie solche Texte, die – vornehmlich als Monographien publiziert, entweder als Abhandlung oder Essay verfasst – ausgehend von dem ökologischen Problem die bestehenden Gesellschaftsstrukturen kritisieren, die zudem eine andere Zielvorstellung für die Gesellschaft entwickeln und diese ausführlich begründen und die einen Vorschlag unterbreiten, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Nicht alle Texte widmen sich allen diesen Aspekten zugleich, manche konzentrieren sich auf die analytische Kritik, andere auf die philosophische Begründung eines normativen Prinzips, wieder andere auf die institutionellen Reformvorschläge. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden auf einige Texte im Überblick eingegangen werden, die sich als besonders relevant gezeigt haben, weil sie jeweils einen ganz bestimmten wichtigen und originellen Gedanken vorgetragen haben, auf den sich andere wiederum – kritisch oder zustimmend – bezogen haben. Dabei gilt es zu unterstreichen, dass es bereits vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ökologisches Denken gegeben hat, von dem aus Anforderungen an Politik und Gesellschaft formuliert worden sind. Die Geschichte der Naturschutzbewegung in Deutschland beginnt nicht erst mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschlands (BUND), dem NABU oder der Einrichtung des Politikfelds Umweltpolitik unter der Regierung Brandt/Scheel zu Beginn der siebziger Jahre.13 Vielmehr reichen die ideen- und realgeschichtlichen Ursprünge bis in die Romantik zurück, umfassen auch Beiträge aus wissenschaftlichen Disziplinen wie der Forstwissenschaft, aus deren Begriffshaushalt bekanntlich der Begriff der Nachhaltigkeit entstammt.14 Die Naturschutzbewegung der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bietet eine Fülle denkerischer Leistungen, die bereits eine Verarbeitung der Probleme der Industrialisierung erkennen lassen.15 Was aber erst mit den sechziger Jahren einsetzt, ist die Erkenntnis, dass die Umweltschäden nicht mehr nur raum-zeitlich begrenzte Schäden sind, sondern nun eine neue, globale und weit in die Zukunft ragende Qualität erreichen.16
13 Brüggemeier, Franz-Josef/Rommelspacher, Thomas (Hg.): Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987; Müller, Edda: Innenwelt der Umweltpolitik, Opladen² 1995. 14 Vgl. zur Geschichte des Begriffs Nachhaltigkeit Grober, Ulrich: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010. 15 Vgl. zu der mit dem Naturschutz eng verbundenen Heimatschutzbewegung im frühen 20. Jahrhundert in diesem Band den Beitrag von Silke Göttsch-Elten. 16 Vgl. zu diesen Veränderungen insbesondere Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011. Vgl. zu den Zeitvorstellungen auch L. Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 219 ff.
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Die Wahrnehmung der Bedrohung der Erde als fragilem Planeten hat vermutlich auch mit einer in den sechziger Jahren erstmalig möglichen Abbildung der Erde zu tun, als die bemannte Raumfahrt der NASA die Erde aus der Außenperspektive als Ganzes fotografierte: das Bild des blauen Planeten hat in der Folge einen regelrecht ikonographischen Charakter für die Umweltbewegung erhalten.17 Bereits in den fünfziger Jahren und damit sozusagen „avant la lettre“ des eigentlichen Aufschwungs ökologisch-politischer Literatur in den siebziger Jahren findet sich bereits eine interessante Stimme, die zwar nicht auf eine heraufziehende ökologische Krise aufmerksam macht, die aber von der Sorge über die Gefahren, die von der Nutzung der Atomenergie für die Menschheit als Ganzer ausgehen, geprägt ist. Günther Anders (1902-1992) hat sich in seinem Buch „Über die Antiquiertheit des Menschen“ mit der Herausforderung der Atomenergie intensiv auseinandergesetzt.18 Für ihn ist die militärische wie die zivile Nutzung der Atomspaltung eine Überforderung der menschlichen Konstitution. Nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust ist die zweite ihn moralisch zutiefst erschütternde Erfahrung die des Abwurfes der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die technologisch bedingte Wucht dieser Art Massenvernichtungswaffen lässt die menschlichen Maßstäbe der individuellen Verantwortung wie auch die Frage nach der Bosheit von Tätern als antiquiert erscheinen. Da mit den atomaren Massenvernichtungswaffen die Möglichkeit gegeben ist, die Menschheit gleich um ein vielfaches zu vernichten, befinden wir uns für Anders gewissermaßen objektiv in der Apokalypse, der Endzeit, bei der es nur noch darum gehen könne, diese in eine endlose Zeit zu verwandeln, das heißt das Ende dauerhaft herauszuschieben. Anders versteht das atomare Zeitalter als Frist, „als ‚Zeit des Endes‘, die jederzeit in ein ‚Ende der Zeiten‘ umschlagen kann“, wie Konrad Liessmann die Anders’sche Sichtweise zusammengefasst hat.19 Dieser Gedanke der Endzeit, der hier noch auf die Vernichtungskraft atomarer Waffen bezogen ist, die die Menschheit in der Lage versetzen, durch ihre Technologien sich selbst zu vernichten, wird dann zu einem Topos in der ökologischen politischen Literatur der siebziger Jahre und fand wohl auch angesichts
17 Vgl. dazu Hartmann, Frank: Der Blaue Planet. Wie ein Bild im Zusammenspiel von Technik und Kultur das globale Bewußtsein prägte. Zur Genese einer Visiotype, online http://www.recherche-online.net/frank-hartmann-der-blaue-planet.html 18 Anders, Günther: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (= Die Antiquiertheit des Menschen, Band I):, München 1956 sowie G. Anders: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (= Die Antiquiertheit des Menschen, Band II), München 1980. 19 Liessmann, Konrad: Günther Anders zur Einführung, Hamburg 1988, S. 79.
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der Bedrohungslage durch das atomare Wettrüsten im Kalten Krieg einen besonderen Resonanzboden, wie sich an den Auflagezahlen der Bücher von Ditfurth oder Gruhl ablesen lässt.20 Den Texten ist die Ausgangslage einer ökologischen Krisendiagnostik gemeinsam – Artensterben, Vergiftung von Boden, Luft und Wasser, Treibhauseffekt, Ozonloch werden als die entscheidenden Faktoren der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ausgemacht, deren Bedrohungscharakter auch darin liegt, dass einzelne Faktoren – zeitversetzt zu den eigentlich verursachenden Handlungen – irreversible Schäden verursachen und kumulativ so katastrophisch wirken können, dass gedeihliches menschliches Leben auf der Erde nicht nur behindert, sondern ganz unmöglich zu drohen wird. Die Frist für den Anbruch des Endes lässt sich aber verlängern, wenn nicht gar die Umkehr in die Richtung einer besseren Zukunft erreichen, wenn eine grundlegende Änderung des Verhaltens in der Überflussgesellschaft mit ihrem überbordenden Konsum eintritt. Die Kritik an der Konsumgesellschaft auf der Basis einer Wachstums-Ökonomie ist ein weiterer Topos dieser Literatur in den siebziger Jahren. Ein bekanntes und in Deutschland breit rezipiertes Werk ist das des englischen Nationalökonomen Ernst Friedrich Schumacher, der die Wendung „Small is beautiful“ geprägt hat. In diesem unter dem deutschen Titel „Die Rückkehr zum menschlichen Maß“21 (1977) veröffentlichten Buch sind bereits all jene Kritikpunkte zu finden, die auch für die zeitgenössische Diskussion, die unter der Zeitdiagnose der Postwachstumsgesellschaft geführt wird, eine wichtige Rolle spielen, insbesondere, dass der Überfluss an materiellen Gütern die
20 Für das Buch von Gruhl, Herbert: Ein Planet wird geplündert, erstm. 1975, läßt sich die genaue Auflagenzahl nicht letztgültig ermitteln. Während in der letzten Auflage von 1992 eine Auflagenzahl von 163.000-164.000 verzeichnet ist, hat Jürgen Wüst (Konservatismus und Ökologiebewegung. Eine Untersuchung im Spannungsfeld von Partei, Bewegung und Ideologie am Beispiel der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), Frankfurt a. M. 1993, S. 152) eine Auflagenzahl von 400.000 angegeben. Für Ditfurths Buch „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“ (erstm. 1985) ist dies noch schwerer zu ermitteln, das Buch ist zwischen 1985-1994 in sechs verschiedenen Ausgaben herausgekommen (vgl. _http://www.hoimar-von-ditfurth.de/apfel.html vom 02.09.2015). Als Indikator für die Wirkung des Buches mag gelten, dass das Buch heute immer noch auf Platz 2 der Bestsellerliste der Rubrik „Naturwissenschaften & Technik – Umwelt & Ökologie – Umwelt allgemein“ beim Onlineversandhändler amazon
rangiert
(_vgl.
http://www.amazon.de/gp/bestsellers/books/189490/ref=
pd_zg_hrsr_b_1_4_last_ vom 02.09.2015). 21 Schumacher, Ernst Friedrich: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik ‚Small is Beautiful‘, Reinbek 1977.
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Menschen nicht glücklicher mache, sondern vielmehr die damit einhergehende auf Erwerbsarbeit basierte Konsumgesellschaft von den wirklich wichtigen Dingen im Leben nur ablenke, etwa der Pflege menschlicher Beziehungen und Muße für Tätigkeiten, die nicht mit dem Erwerb von Konsumgegenständen einhergehen.22 Eine andere Art der Produktion und Konsumtion ist also nicht nur im Sinne der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen geboten, sie macht die Menschen auch zufriedener – so die Botschaft dieser Literatur. Dies ist ein besonders eindringliches Motiv des ökologischen politischen Denkens und es ist schon deshalb sehr interessant, da hier konservative wie linke ideengeschichtliche Stränge der Kulturkritik ein Amalgam eingehen. Es lohnt sich daher, diesem Motiv näher nachzugehen, was unten im Rahmen der Analyse Rudolf Bahros geschehen soll, für den es nicht nur um die Rettung der Erde, sondern auch der menschlichen Seele geht. Wie soll aber in politischer Hinsicht eine solche andere Entwicklung von Ökonomie und Gesellschaft initiiert und gesteuert werden, mit welchen politischen Ordnungsvorstellungen verbindet sich das ökologische politische Denken? Hier zeigt sich, wenig überraschend, dass das ökologische politische Denken weder durch eine verbindende politische Ordnungsidee geeint ist, noch, dass in diesen Texten das politische Rad gewissermaßen neu erfunden worden ist. Vielmehr finden sich auf den klassischen Konfliktlinien, wie sie die politischen Ideengeschichte hervorgebracht hat, nämlich zwischen mehr Gesellschaft oder mehr Staat, zwischen mehr Gleichheit oder mehr Freiheit, zwischen mehr Demokratie oder mehr entscheidungsunabhängiger politischer Führung das ganze Spektrum an traditionellen Auffangkonzepten. Das auch in Deutschland gelesene Buch von Murry Bookchin „Post-Scarcity Anarchism“ (1971) plädiert für eine kleinräumig organisierte und weitgehend anarchistische, also herrschaftslose Gesellschaftsstruktur, wohingegen der marxistische DDR-Intellektuelle Wolfgang Harich für eine Öko-Diktatur eintrat.23 Die beiden Sozialdemokraten Johano Strasser und
22 Dazu heute etwa Jackson, Timothy: Wachstum ohne Wohlstand. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt, Berlin/München² 2013; Miegel, Meinhard: Exit. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2010; Loske, Reinhard: Abschied vom Wachstumszwang. Konturen einer Politik der Mäßigung, Rangsdorf² 2011; Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München 2012; Sidelsky, Robert/Sidelsky, Edward: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, München 2013. 23 Bookchin, Murray: Umwelt und Gesellschaft, Hamburg 1974; Harich, Wolfgang: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der 'Club of Rome'. Sechs Interviews mit Freimut Duve und Briefe an ihn, Reinbek bei Hamburg 1975.
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Klaus Traube entwickelten in ihrem Buch „Die Zukunft des Fortschritts“ eine sozialistische Wirtschaftsordnung auf der Basis einer demokratischen Ordnung.24 Bei diesen Autoren aus dem Lager der politischen Linken überwiegt trotz der Kritik am Industrialismus die Wahrnehmung der offenen Zukunft und die positive Fortschrittsgebundenheit dieser Zukunft, hier herrscht keine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt, die ansonsten im Lager der Linken wie auch bei Wertkonservativen verbreitet gewesen ist. Im Gegenteil kommt in der Betonung der demokratischen Gestaltungsfähigkeit der Bürgerschaft in ihrem öko-sozialistischen Konzept ein optimistischer Grundton auf.25 Bei vielen Autoren finden sich auch analytische Überlegungen, wie es zu dieser die Menschheit in ihrer Existenz bedrohenden Krise kommen konnte. Ein häufig rezipiertes Buch hinsichtlich dieser Frage ist “Das Ende der Vorsehung – Die gnadenlosen Folgen des Christentums“ des Publizisten Carl Amery gewesen.26 Amery sieht den christlichen Weltbeherrschungsauftrag, der mit dem „dominium terrae“ in der Genesis Kapitel 1, Vers 28 ausgesprochen wird, für die ökologische Krise als wesentlich verantwortlich. Dieser habe zu dem problematischen modernen Materialismus geführt, der letztlich für die ökologische Krise verantwortlich sei. Es komme demgegenüber nun darauf an, „Natur als Politik“ zu begreifen, wie ein programmatischer Buchtitel von Amery lautet, das heißt Natur überhaupt zu einem Thema für die Politik dergestalt zu machen, dass die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ein unhintergehbarer normativer Rahmen ist, der nur bei Strafe des eigenen Untergangs missachtet werden kann – Amery spricht auch vom drohenden kollektiven Selbstmord der Menschheit.27 Als orientierende Leitwissenschaft hierfür bringt Amery die Ökologie an, die die Aufgabe habe, den Menschen und die menschliche Gesellschaft in ‚das tatsächliche Netz planetarischer Beziehungen‘ einzubauen.28 Die planetarischen Bezie-
24 Strasser, Johano/Traube, Klaus: Die Zukunft des Fortschritts. Der Sozialismus und die Krise des Industrialismus, Bonn 1981. 25 Vgl., ebd. S. 247. 26 Amery, Carl: Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek 1972. Amery gehört zu den Gründern der GRÜNEN. 27 Amery, Carl: Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek 1978. 28 Ebd., S. 36. In ähnlicher Weise hat der Chemiker James Lovelock mit seiner GaiaHypothese dafür argumentiert, die Erde als ein System zu begreifen, in dem die einzelnen Elemente, Menschen, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme, miteinander in sich wechselseitig beeinflussender Beziehung stehen (siehe Lovelock, James: Gaia – a new look at life on Earth, 1979, dt.; Lovelock, Jim E.: Unsere Erde wird überleben: GAIA, eine optimistische Ökologie, München 1982); während Lovelock diese Hypothese als na-
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hungen weisen im Übrigen auf einen weiteren Topos des ökologischen politischen Denkens hin: dass es zum einen neben den zwischenmenschlichen Beziehungen auch Beziehungen des Menschen zur Tier- und Pflanzenwelt zu beachten gelte, zum anderen dass die Fixierung auf die Gegenwart angesichts der planetarischen Dimension unseres Mensch-Natur-Verhältnisses ein gravierendes Problem ist, da für zukünftige Generationen die Auswirkungen gegenwärtigen Handelns besonders spürbar sein werden. Es geht mithin um die Frage der Ausdehnung der Reichweite unserer moralischen Pflichten: dass wir nicht nur unseren zu gleicher Zeit lebenden Mit-Bürgern die Berücksichtigung ihrer Interessen schulden, sondern auch in einem Verantwortungsverhältnis gegenüber Zukünftigen stehen. Diese Gedanken hat Hans Jonas ausgefaltet, worauf im Folgenden genauer eingegangen wird.
3.
H ANS J ONAS UND DAS P RINZIP DER Z UKUNFTSVERANTWORTUNG
So wie die Diagnostik einer ökologischen Krise als Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zum Fundament allen ökologischen politischen Denkens gehört, so gehört auch die normative Leitidee eines ausgedehnten Verantwortungsradius dazu. Die Erkenntnis, dass heutige Generationen die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen irreversibel schädigen, hat zu der Problematisierung des Radius unserer Verantwortung als moralische Pflichten gegenüber anderen geführt. Der Klassiker hierzu ist das Buch „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ von Hans Jonas.29 Hans Jonas stellt darin einen neuen ethischen Imperativ auf: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“30 Herkömmliche Ethiken – die Jonas mit sei-
turwissenschaftliche Perspektive verstanden hat, die Darwins Evolutionstheorie weiter entwickelt, hat sie auch die New-Age-Bewegung inspiriert, die Gaia als Mutter Erde personifiziert hat. 29 Vgl. zu Leben und Werk aus der umfangreichen Sekundärliteratur Böhler, Dietrich (Hg. in Verbindung m. Hoppe, Ingrid): Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994 und Wiese, Christian: „Zusammen Philosoph und Jude“. Hans Jonas, Frankfurt a. M. 2003. 30 H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 36. Das Zitat findet sich übrigens im Jahr 2003 aus Anlass des 100. Geburtstages von Hans Jonas auf einer Sonderbriefmarke
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ner Ethik nicht ersetzen, sondern ergänzen will – haben demgegenüber den Anderen einer gemeinsamen Gegenwart in einem Nahkreis im Sinn.31 Begrifflich ist das Prinzip der Zukunftsverantwortung heute als Nachhaltigkeit bekannt. Im Bericht der Brundtlandt-Kommission „Our Common Future“ ist es 1987 so gefasst worden: „Development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.”32 Heute wird neben der inter- auch die intragenerationelle Dimension der Nachhaltigkeit betont, da ja nicht erst zukünftige Generationen, sondern bereits jetzt lebende Menschen vom Klimawandel negativ betroffen sind, tragischerweise vor allem jene, die in Weltregionen leben, die zum Problem am wenigsten beigetragen haben. Jedenfalls handelt es sich um eine auch im historischen Maßstab höchst relevante politische Aufladung der Idee der einen Menschheit. Nichts weniger als die Menschheit (in Gegenwart und Zukunft) ist es, die im ökologischen Denken zur entscheidenden Bezugsgröße für Solidarität wird. Hans Jonas hat in seinem Buch hierfür in einem großen Wurf eine moralphilosophische Begründung entfaltet, warum wir zukünftigen Generationen gegenüber die Pflicht haben, ihre – zwar nur angenommenen aber doch plausibel begründbaren – Interessen in unseren Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen. Die gegenwärtige Generation ist zu einer nachhaltigen Verhaltensweise verpflichtet, die die Lebensinteressen zukünftiger Generationen maßgeblich berücksichtigt. Diese Verantwortung für zukünftige Generationen schränkt zwar die Freiheit ein, aber diese Einschränkung ist die gegenwärtige Generation nicht nur den zukünftigen Generationen schuldig, sondern auch sich selbst, wollen sich ihre Angehörigen als moralfähige und daher moralpflichtige Wesen verstehen, die dem ersten Imperativ folgen, dass nämlich (überhaupt) eine Menschheit sei.33 Diese Fernstenethik entwickelt Jonas ausgehend von einer Heuristik der
der Post – ein Anzeichen für die Aufnahme einer Idee in den politischen common sense einer Gesellschaft. 31 H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 33. 32 Report of the World Commission on Environment and Development: Our common future, 1987; Volltext dokumentiert unter www.un-documents.net/wced-ocf.htm vom 02.09.2015; Hauff, Volker (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der BrundtlandBericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987. Zu den vielfältigen umweltethischen Ausdifferenzierungen, die dieses Prinzip erfahren hat, vgl. etwa Ott, Konrad: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg 2004 (und den Beitrag von Ott in diesem Band) oder Ekardt, Felix: Das Prinzip Nachhaltigkeit. Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit, München ²2010. 33 H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 90.
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Furcht und dem tutoristischen Prinzip, wonach aus Vorsichtsgründen der schlechten Prognose der Vorrang vor der guten einzuräumen ist. Auch wenn sich aus philosophischer Perspektive hier einige gut begründete Fragezeichen setzen lassen,34 so hat Jonas hier etwas artikuliert, was vielen angesichts einer politischen Praxis, die noch den Atomreaktorunfall als hinzunehmendes Restrisiko einer modernen Gesellschaft klassifizierte, unmittelbar einleuchtete.35 Jonas versteht seine Ethik nicht bloß als Individualethik im Sinne eines Normensystems für Handlungen von Individuen, sondern richtet das Gebot der Zukunftsverantwortung auch auf Kollektive und die politische Organisation von Gesellschaften. Die repräsentative Demokratie bewertet er hinsichtlich ihrer Gegenwartsfixierung und Zustimmungsabhängigkeit von Mehrheiten skeptisch: für die Härte einer Politik verantwortlicher Entsagung sei die Demokratie zumindest zeitweise untauglich.36 Jonas geht hier von der Annahme aus, dass eine zukunftsverantwortliche Politik mit einer erheblichen Änderung des Lebensstils der gegenwärtigen Generation einhergehen muss. Er redet zunächst einer Rettungsregierung das Wort, die für eine Übergangszeit auch zustimmungsunabhängig regieren können soll.37 Freilich weiß aber auch Jonas um die Schwierigkeit, ob sich der wohl meinende (Öko-)Diktator an sein Versprechen, im Sinne des ökologischen Gemeinwohls zu regieren, gebunden fühlt.38 Zudem ventiliert er, ob nicht der Kommunismus als eine Regierungsform, die die zentrale Steuerung menschlicher Bedürfnisbefriedigung im Prinzip ermöglichen wollte, eine Alternative wäre, sieht aber auf der anderen Seite die dem Marxismus inhärente säkulare Eschatologie, wonach die gesellschaftliche Entwicklung durch Überwindung der Entfremdung und Entfesselung der Macht der Technik einem zukünftigen (irdischen) Heil entgegenstrebt, als grundlegendes Problem an.39 Ohnehin ist er der Auffassung, dass auch die Heuristik der Furcht (wie schon die
34 Siehe zu den philosophischen Einwänden die Literatur zusammenfassend Werner, Micha H.: „Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung“, in: Marcus v. Düwell, Marcus/Klaus Steigleder (Hg), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2003, S. 41-56. 35 Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Kalkar-Entscheidung 1978 das mit der Atomenergie verbundene Restrisiko als gesellschaftlich hinzunehmende sozialadäquate Last bezeichnet (BVerfGE 49, 89). 36 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 269. 37 Vgl. ebd. 38 Hans Jonas in einem Interview mit der Zeitschrift DER SPIEGEL, wieder abgedruckt in Jonas, Hans: Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur, Frankfurt a. M. 1993, S. 15. 39 Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 271-279.
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Hoffnung auf eine bessere Zukunft) nicht dazu führen darf, den eigentlichen Zweck – „das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit“ – auf eine spätere Zeit zu verschieben und zum Schutze zukünftiger Generationen Mittel einzusetzen, die diesen Zweck für die gegenwärtige Generation missachteten.40 Anders als mit einer radikalen Verhaltensänderung, die aus freien Stücken erfolgt, kann für ihn schließlich keine plausible Antwort auf die Krise gefunden werden. Er setzt darauf, dass „sich ein schlechtes Gewissen in den ungeheuerlichen Hedonismus der modernen Genußkultur hineinfrißt“41 und weil der Mensch letztlich auch ein vorausschauendes Wesen ist, hofft er darauf, dass durch das fortwährende Mahnen der Appell an das schlechte Gewissen erfolgreich sein wird, mindestens bei jenen Einsichtsfähigen, die frei von der Verfolgung persönlich-partikularer Interessen und von einer gewissen Selbstlosigkeit gekennzeichnet sind. In jedem Fall geht er als Moralphilosoph von der ethischen Pflicht aus, zu „handeln, als ob eine Chance da wäre, sogar, wenn man selber sehr daran zweifelt.“42
4.
R UDOLF B AHRO UND DIE L OGIK DER R ETTUNG , DIE DIE A POKALYPSE AUFHALTEN SOLL
In Bezug auf die Frage, wie die notwendige Änderung, die die Überschreitung des point of no return verhindert, erreicht werden soll, findet sich bei Rudolf Bahro in seinem Buch mit dem entsprechenden Titel „Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen der ökologischen Politik“ detailliertere Angaben als bei dem Moralphilosophen Jonas. Bahro als gewissermaßen in der DDR gelernter Denker und damit im Historischen Materialismus geschult,43 greift zunächst tief in die Menschheitsgeschichte zurück und macht mehrere Ursachenebenen für die gegenwärtige ökologische Krise aus: von den Strukturen des Industriesystems über die Herausbildung der modernen Kapitaldynamik, der patriarchalen Gesellschaftsformation bis hin zur
40 Vgl., ebd., S. 393, mit diesem Gedanken beschließt Jonas sein Buch. 41 H. Jonas: Dem bösen Ende näher, S. 18. 42 Ebd., 23. 43 Vgl. zur interessanten Frage, inwiefern Bahro als Kommunist die DDR zu einem freiheitlichen Sozialismus verändern wollte jetzt Weber, Ines: Sozialismus in der DDR. Alternative Gesellschaftskonzepte von Robert Havemann und Rudolf Bahro, Berlin 2015, S. 229-301. Vgl. zur Biographie Herzberg, Guntolf/ Seifert, Kurt: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002.
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conditio humana, die er einmal als homo occidentalis scientificus und des Weiteren als homo conquistador kennzeichnet.44 Bahro kritisiert die kulturelle Imprägnierung der Moderne: danach handeln moderne Menschen unter den Bedingungen der industriellen Dynamik und einer individualistisch ausgerichteten demokratischen politischen Ordnung expansiv, gegenwartsfixiert und eigennutzorientiert, was in ebenjener Logik der Selbstausrottung, dem Exterminismus münde. Bahro zieht auch eine Verbindung zwischen dem auf Grenzenlosigkeit angelegten Materialismus und der Wahrnehmung der Begrenztheit der eigenen Existenz. Die Ursache für die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wird also auch in einer Art Todesverdrängung beziehungsweise Todeskompensation gesehen: Weil wir endlich sind und dies gewissermaßen nicht aushalten können, eignen wir uns in grenzenloser Form materielle Güter an und ignorieren damit nicht nur die Endlichkeit der materiellen Ressourcen, aus denen diese Güter gemacht sind, sondern auch unsere eigene Endlichkeit, die tatsächlich keine materielle, sondern eine spirituelle Antwort verlangt. „Wir müssen die Logik der Selbstausrottung zurückverfolgen bis ins menschliche Herz, weil auch nur von dort die Logik der Rettung ihren Ausgang nehmen kann.“45 In der Tat ist Bahro kein Reform-Autor, sondern wie er sich auch selbst einmal bezeichnet hat: ein Reformator, der nicht reformerisch, sondern gerade auf eine fundamentale Änderung aus ist. Was bei Jonas auch anklingt, steht bei Bahro ganz im Zentrum seines Entwurfs: Die nur bei Strafe der Selbstausrottung auszuschlagende Umkehr ist zugleich die Chance der Rettung der menschlichen Seele. Hier überwindet der Kommunist Bahro den marxistischen Materialismus und es kommt ein idealistischer, ja religiöser Zug zum Vorschein. Der Mensch soll sich auf eine Reise nach innen begeben, die „Ichverkrampftheit“ abbauen und eine „neue Sittlichkeit“ herausbilden, die es ermöglicht, die „fundamentalen Interessen des Mensch-und-Erde-Systems“ zu erkennen und danach zu leben.46 Es ist eine spisrituelle Umkehrbewegung, die von einer grundsätzlichen Fähigkeit geprägt ist, zu erkennen, das jeder mit allem und allen verbunden ist. Bahro spricht hier auch von der Gottheit in uns, was er nicht christlich versteht, als Anteilhaben an Gott durch die Ebenbildlichkeit und durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, sondern als eine allgemeine trans-
44 Vgl. hierzu und zum Folgenden R. Bahro, Logik der Rettung, S. 101ff, 313ff. Vgl. für eine ausführliche Rekonstruktion und kritische Analyse des Bahroschen Ansatzes Stein, Tine: Demokratie und Verfassung. An den Grenzen des Wachstums, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 209-233. 45 Ebd., S. 19. 46 Ebd, S. 320, 321, 315.
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zendentale Instanz im Sinne eines Bewusstseinszustands.47 Und diese spirituelle Geistigkeit ist es, die den Materialismus – gleichviel ob kapitalistisch oder sozialistisch organisiert – überwinden soll. Bahro zieht hier eine Verbindungslinie von Augustinus‘ civitas dei über Joachim de Fiores Drei-Reiche-Lehre und Thomas Müntzers Predigten schließlich zu Marx, dem es um die Wiederherstellung der alten Idee des Gottesstaats gegangen sei. Und es bleibe die Frage, „ob das Volk, ob die Menschheit ein Organ wie die ‚Kommunistische Partei‘ oder vielmehr die ‚Unsichtbare Kirche‘ braucht, um in Vernunft und Freiheit das Gottesreich auf Erden erreichen zu können“,48 was er als die Grundfrage der westlichen Zivilisation ansieht. Wer noch sein Buch „Die Alternative“ kennt, mit der er den real existierenden Sozialismus in der DDR kritisiert hat, wird sich hier an den Kommunistischen Bund erinnert fühlen, der als die wahre Avantgarde die Veränderung vorantreibt.49 Während in den Überlegungen zur Reform der DDR diese spiritualistische Dimension nur verhalten zum Tragen kommt, ist seine Logik der Rettung vor der ökologischen Katastrophe, die tatsächlich eine Logik der Rettung der menschlichen Seele ist, nicht anders als spiritualistisch zu verstehen. Die Unsichtbare Kirche wird dann von all jenen gebildet, die die Absolutsetzung ihres westlichen Ichs bereits überwunden haben und die nun als Rettungsbewegung das überschüssige Bewusstsein zu einer neuen sanften sozialen Macht organisieren sollen.50 Der Prozess der inneren Umkehr, die das ganze Volk erfasst, braucht aber Zeit, daher gilt es, die nötige Frist zu erarbeiten, die den point of no return abwendet oder zumindest herausschiebt. Hierfür setzt Bahro auf den Staat – auch wenn dieser vorher als Megamaschine gekennzeichnet worden ist, sei doch kein anderes Instrument denkbar, um die Todesspirale aufzuhalten – und eine Rettungsregierung, die er von einer Notstandsregierung, welche nur autoritär agiere, scharf unterscheidet und die vielmehr wie eine starke liebvollelterliche Regierung auftritt. Diese werde auch die Zustimmung für die notwendigen ökologischen Maßnahmen vom Volk erhalten, wenn sie sie nur mit der nötigen legitimen Autorität vortrage.51 Bahros ökologisches politisches Denken hat keine vergleichbar breite Rezeption wie der neue kategorische Imperativ einer Zukunftsverantwortung von Hans Jonas erfahren. Dafür war sein Entwurf für eine ökologische civitas terrena zu
47 Ebd., S. 341, 452. 48 R. Bahro: Logik der Rettung, S. 451. 49 Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977. 50 R. Bahro: Logik der Rettung, S. 327. 51 Ebd., S. 476.
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radikal und zu weit von einem westlich-demokratischen Freiheitsverständnis entfernt, das auf der analytischen Trennung von Glauben, philosophischer und religiöser Sinnsuche sowie Selbstverwirklichung einerseits und Politik andererseits beruht und sich in das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Verfassungsstaats übersetzt. Es gibt allerdings einen institutionellen Vorschlag, den Bahro vor dem Hintergrund seiner scharfen Kritik der liberalen Demokratie in die Debatte eingebracht hat, der auch in der realpolitischen Diskussion aufgegriffen worden ist, nämlich die Idee eines ökologischen Oberhauses, das in der politischen Ordnung „die rahmengebende höhere Instanz sein [wird], die dem sozialen Interessenkampf Maß und Grenzen setzt.“52 Bei Bahro soll der Bestellungsmodus der Mitglieder des ökologischen Oberhauses wohl auf eine Wahl zurückgehen, aber letztlich ist das Bahrosche Oberhaus keine demokratische Institution, sondern ein House of the Lord, wie er es auch bezeichnet, dessen Mitglieder sich auf eine spirituelle Kraft beziehen sollen, die die ökologische Wende vorantreiben und die eben gemeinsam jene besagte Unsichtbare Kirche ausmachen. Diese Idee Bahros hat in freilich entscheidend veränderter Form Eingang in die verfassungspolitische Diskussion im Jahr der deutschen Einheit gefunden, als sich das Grundgesetz auf dem Prüfstand befand und es auch in den neuen Bundesländern zu einem verfassunggebenden Prozess gekommen ist.53 Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde im Rahmen dieser Verfassungsdiskussion der Vorschlag zur Einrichtung eines Ökologischen Rates eingebracht, der institutionell so gefasst war, dass er keinen Fremdkörper im bestehenden demokratischen Gefüge bilden sollte, aber doch zur Begrenzung der jetzigen Mehrheit zugunsten der von den jetzigen Entscheidungen zukünftig Betroffenen dienen können sollte. Der wesentliche Aspekt in Bezug auf den Bestellungsmechanismus ist nicht die Frage, wie die Mitglieder des Ökologischen Rates ins Amt kommen, was etwa durch Wahl durch die gesetzgebenden Körperschaften geregelt sein kann, sondern wie lange sie dort bleiben: ausgestattet mit einem zeitlichen Mandat, das länger und quer zu den Legislaturperioden liegt und vor allem ohne die Möglichkeit der Wiederwahl. Wie für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts bestünde dann auch für die Ökologischen Räte die Chance, sich nicht nach den Mehrheiten des Tages ausrichten zu müssen und unabhängig von den Zwängen der Wettbewerbsdemokratie ganz ihrem Auftrag entsprechend, für mehr Zukunftsverantwortung zu sorgen, wirken zu können. Der Ökologische Rat soll vermittels eines suspensiven Veto-Rechtes im Gesetzgebungsverfahren mit pro-
52 Ebd., S. 492. 53 Vgl. hierzu T. Stein: Demokratie und Verfassung, S. 252-261.
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zeduraler Macht ausgestattet werden, um so Entscheidungsprozesse aufhalten zu können. In der Reflexionsschleife, die der Ökologische Rat durch Einlegen seines suspensiven Vetos gewönne, sollten seine Mitglieder in der Öffentlichkeit für Verbesserungen des kritisierten Gesetzes werben. Je größer die fachliche und menschliche Autorität ist, die den Mitgliedern des Ökologischen Rates zuerkannt wird, desto gewichtiger wäre ihr Wort in der Öffentlichkeit, so dass die Parlamentarier den Einspruch des Ökologischen Rates nicht einfach ignorieren könnten – sie werden durch den Ökologischen Rat unter Legitimationsdruck gesetzt. So konzipiert, wäre der Ökologische Rat als ein Konsultativorgan mit verbindlicher Einmischungsfähigkeit zu charakterisieren und damit etwas grundlegend anderes als Bahros House of the Lord. Ein ökologischer Rat dürfte auch nicht der Versuchung erliegen, den Bürgern mit erhobenem Zeigefinger ökologische mores lehren zu wollen. Diese Institution könnte ihre Wirksamkeit vermutlich nur in dem Maße entfalten, wie die Mitglieder des Rates die mit ihrem Vetorecht gewonnene Zeit nutzten, um mit sachlichen Argumenten eindringlich für die je ökologischere Lösung zu werben, sodass sich in der Öffentlichkeit eine Sogwirkung entfaltete, der sich die gewählten Repräsentanten in den gesetzgebenden Körperschaften nicht würden entziehen können. Aber auch ein solcher mit dem demokratischen Verfassungsstaat kompatibler Vorschlag konnte sich in der Verfassungsdiskussion nicht durchsetzen.
6.
F AZIT
UND
A USBLICK
Auf die Kassandra-Rufe der ökologischen Mahner folgte keine umfassende Umkehr-Bewegung, die einem säkularen Millenarismus der ökologischen Endzeit gleich die Massen erfasste, es blieb bei einigen Aussteigern. Anstelle einer radikalen und abrupten Umkehr der gesamten Gesellschaft wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten vielmehr, wie es für liberale und freiheitliche Demokratien typisch ist, in zahllosen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Schritt für Schritt, also inkremental, politische Entscheidungen getroffen, die auf die Bewältigung der erkannten Probleme angemessen zu reagieren suchen. Ob diese Schritte wirklich sachlich angemessen und ausreichend sind, ist naturgemäß, da es sich um eine politische Frage handelt, umstritten. Tatsächlich kann in den vergangenen Jahren ein Aufschwung an ökologischer politischer Literatur wie auch an alternativen gesellschaftlichen Praktiken beobachtet werden, die die inkrementale Strategie in Frage stellen, wieder eine grundlegende Veränderung fordern und ökologische Veränderung mit Lebensstilfragen zusammenbringen. Im Unterschied zu der hier untersuchten ersten Welle der ökologischen politi-
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schen Literatur ist aber die Rhetorik der Apokalypse und des kollektiven Selbstmords, den die Menschheit begehe, seltener geworden.54 Angesichts des Ausbleibens der prophezeiten Katastrophen ist dies auch erklärbar. Das heißt aber auf der anderen Seite nicht, dass die Wahrnehmung der von Hans Jonas nur erst theoretisch angenommenen Wirkungsketten, die den Klimawandel verursachen und die heute bereits zur tatsächlichen Erwärmung der Erdatmosphäre geführt haben – mit der Häufung von Extremwetterlagen, dem Abschmelzen der Gletscher und Polkappen und anderem mehr –, dass also die Wahrnehmung dieser Veränderungen sich nicht auch wieder in der ökologischen politischen Literatur niederschlägt. Heute geht es um die Frage, ob der weitere Entwicklungspfad der Gesellschaft auf Wachstum angewiesen ist, um einen naturverträglichen Wohlstand zu sichern. 55 Dabei wird von niemandem der Debattanten bestritten, dass insbesondere in den frühindustrialisierten Gesellschaften des Westens das Wachstum des Verbrauchs endlicher Ressourcen mit all seinen ökologisch negativen Externalitäten zugunsten eines „ökologisch guten“ Wachstums weichen muss; dass es eines „De-Growth“ bei ressourcen- und schadstoffintensiven Verfahren und Produkten bedarf und stattdessen eines „Green Growth“, worunter nicht nur das Wachstum der Öko-Industrie gemeint ist, sondern das Wachstums einer radikal anderen Wirtschaft insgesamt.56 Umstritten ist aber, ob dies bedeutet, man könne so weiter wirtschaften und leben wie bisher, das heißt mit einer Fülle an Gütern und Dienstleistungen, wenn man nur die ökonomischen Parameter auf Nachhaltigkeit umstellt. Die Skeptiker stellen ein „Weiter-So“ in Frage, da alle Wachstumsprozesse immer auch zu sogenannten Rebound-Effekten führten, bei denen die durch ökologische Wirtschaftsweise erzielte Reduktion an negativen Effekten vom schieren Mengenwachstum aufgezehrt wird. Umstritten ist ferner, wel-
54 Womöglich ist diese aus der Textgattung des politischen Denkens in die Belletristik ausgewandert, Eva Horn hat für die zeitgenössische Literatur eine Häufung an Endzeitmotiven ausgemacht, siehe Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M. 2014. 55 Die Positionen in dieser Debatte hat Konrad Ott sortiert, siehe Konrad Ott: Neue ‚grüne‘ Wachstumsgläubigkeit?, in: www.boell.de/wirtschaftsoziales/wirtschaft/wirtschaft -ott-neue-gruene-wachstumglaeubigkeit-vision-green-growth-12072.html vom 02.09. 2015; siehe auch ders.: „Vier Pfade in das Postwachstumszeitalter“, in: Vorgänge 195, Heft 195, 50. Jg. (2011), 2011, S. 54-69 56 Vgl. Jänicke, Martin: „Green Growth. Vom Wachstum der Öko-Industrie zum nachhaltigen Wirtschaften“, in: ffu-report (2011), S. 1; siehe auch Fücks, Ralf: Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, München 2013.
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cher Akteur der entscheidende Promoter dieser „Großen Transformation“ zur Postwachstumsgesellschaft sein soll: der Staat, der Markt, die Bürgergesellschaft und die darin aktiven Individuen?57 Je nachdem wie diese Fragen beantwortet werden, wird die Strategie des „ökologisch guten“ Wachstums als unzureichend wahrgenommen und ergänzt durch die Strategie der Suffizienz, das heißt der Genügsamkeit und des Schrumpfens. Damit wird ein zentrales Motiv des ökologischen politischen Denkens der siebziger Jahre heute vor dem Hintergrund von weiteren drei Jahrzehnten ungebremster Wachstumsprozesse und fortschreitender ökologischer Problemdichte reformuliert: die Konsum- und Wachstumskritik, die mit der ökologischen motivierten Kritik eine Lebensstilkritik verbindet, aber auch mit praxeologischen Angeboten eines anderes Lebensstils verbunden wird, in dem small immer noch als beautiful gilt. Aus historisch komparativer Perspektive ist interessant, dass in der ökologisch motivierten Kritik ein Topos der Moderne-Kritik, nämlich eine Kritik an dem stahlharten Gehäuse der industriegesellschaftlichen Moderne zum Ausdruck kommt oder zeitgenössisch gesagt: eine Kritik an dem fossilen Treibhaus der Konsumgesellschaft, deren Zwanghaftigkeit des unendlichen Haben-wollens von Gütern und Dienstleistungen gerade als eigentliche Gefahr für die Freiheit angesehen wird, nämlich für die innere Freiheit des Menschen, die sich doch gerade darin beweisen soll, sich auch in Grenzen einrichten zu können. Die Kulturkritiker der Überflussgesellschaft mahnen an, dass sich ohne eine motivierende Vorstellung des Guten Lebens kein ökologischer sozialer Wandel einstellen wird, und dass es zu einer Freiheit der Selbstbeschränkung kommen sollte, in der die Suffizienz nicht als ein Weniger, sondern als ein Mehr verstanden wird.58 Demgegenüber sind die Befürworter eines ökologischen Modernisierungskurses fortschrittsoptimistisch und erkennen in der ökologischen Kulturkritik eine tendentiell totalitäre, mindestens aber romantisch verquere Heilsbotschaft, die die Trennung von Politik und Moral zu Lasten der Freiheit unterläuft. Für sie ist die Zukunft offen und auch verheißungsvoll, nämlich dann, wenn wir die unendliche Ressource unserer technischen, ökonomischen und politischen Intelligenz darauf richten, nachhaltige Güter und Dienstleistungen zum Wohlstand aller einzusetzen. Die Frage, wie die Zukunft im ökologischen politischen Denken angesichts der Erfahrung der Endlichkeit der natürlichen Lebensgrundlagen gesehen wird, bleibt also so offen wie die Zukunft selbst.
57 Vgl. hierzu die den Beitrag von Markus Tauschek über Energiepioniere und den Beitrag von Maria Grewe über Repair-Cafés in diesem Band. 58 Vgl. Interview mit Claus Leggewie in: http://www.reflektion.org/ueber-politik-undgesellschaft/, vom 03.09.2015
Exzessiver Konsum: Was behindert die Erfahrung von Endlichkeit? Antworten der soziologischen Theorie J ÖRN L AMLA
1.
E INLEITUNG
Der Beitrag will verschiedene Erklärungsansätze zusammentragen, die über Schwierigkeiten informieren, Endlichkeit in der Konsumsphäre überhaupt zu erfahren beziehungsweise diese Erfahrung so zu verankern, dass daraus Handlungskonsequenzen resultieren, die zu einem veränderten Umgang mit Dingen und Ressourcen führen. Über die Untersuchung des derzeit vorherrschenden Musters eines exzessiven Konsums soll eruiert werden, welche Erfahrungsformen oder Erfahrungsmodi möglich und geeignet sind, um dieses Konsumprogramm nachhaltig zu modifizieren. „Nachhaltig“ ist dabei im doppelten Sinne gemeint, das heißt sachlich als ressourcenschonende und zeitlich als anhaltend sich bewährende, nicht nur flüchtige Modifikation eines äußerst persistenten sozialen Konsummusters. Die Orte, an denen Endlichkeit erfahren werden kann, stehen im Bereich des Konsums (und wohl nicht nur dort) keineswegs fest, sondern können von der existentiellen oder privaten Erfahrung einzelner Individuen über kulturelle und informationsgebundene, öffentliche Erfahrungen eines Kollektivs bis hin zu technisch vermittelten, gefilterten oder verborgenen Erfahrungen stark variieren: Ein Tumor-Patient fragt sich vielleicht, was er in den ihm verbleibenden sechs Monaten noch erleben, wohin er zum Beispiel unbedingt noch reisen möchte; das Sättigungsgefühl beim Mittagessen vermittelt mir die Erfahrung der Endlichkeit meines Magenvolumens; wissenschaftliche Daten zur Klimaerwärmung werden öffentlich diskutiert und führen zu Gesetzen, die für den Neubau von
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Häusern dreifachverglaste Fenster verbindlich vorschreiben; das Aufblinken des Zapfsäulensymbols im Auto kann der Fahrerin anzeigen, dass sie bei sparsamer Fahrweise mit der gleichen Menge Benzin deutlich weiter kommen kann, sofern es durch entsprechende Verbrauchsinformationen des Bordcomputers ergänzt wird – oder es signalisiert ihr, wo jederzeit und „unbegrenzt“ Nachschub zu bekommen ist. Die individuellen oder kollektiven Handlungskonsequenzen, die diese verschiedenen Erfahrungsformen nach sich ziehen, variieren entsprechend stark und unterscheiden sich insbesondere in ihren Möglichkeiten und Kapazitäten, das exzessive Konsumprogramm „nachhaltig“ zu irritieren und zu modifizieren. Um für das Handeln und speziell für die problematischen Folgen des exzessiven Konsums Verantwortung zuweisen zu können, werden gleichwohl im Sinne des Prinzips der Haftbarkeit häufig eindeutig adressierbare juristische Personen oder Individuen dingfest zu machen versucht, obgleich es eindeutig identifizierbare Verursacher oder Urheber solcher Handlungsprogramme in komplexen Zusammenhängen der Wertschöpfung und des Konsums eigentlich nicht oder sehr selten gibt. Aus diesem Grund hat Iris Marion Young am Beispiel der asiatischen Sweat-shops, in denen ein Großteil der Kleidung westlicher Verbraucher genäht wird, ein alternatives Modell von Gerechtigkeit entwickelt, das von den Interdependenzen und Machtungleichgewichten in einem globalen Produktions- und Konsumtionsnetzwerk ausgeht.1 Ganz konkret stellt sich daher in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Aufforderung an die Verbraucherinnen und Verbraucher, im Alltag nachhaltiger, zum Beispiel genügsamer zu konsumieren, angesichts der begrenzten Möglichkeiten und Blockaden der Erfahrung von Endlichkeit sowie eines anderen Umgangs mit Endlichkeit unter global verteilten Konsumbedingungen sinnvoll adressiert ist. Codiert als ökonomische Knappheit sind Erfahrungen der Endlichkeit durchaus Bestandteil von Konsumpraktiken, ohne deren exzessive Dynamik damit aber abzubremsen, sondern mit dem Ergebnis, diese selbst noch zu steigern. Endlichkeitserfahrungen und exzessives Handeln bilden mithin im Bereich des Konsums keinen einfachen Gegensatz, sondern, wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll, einen vertrackten Zusammenhang, der alles andere als trivial ist. Meine These lautet, dass der exzessive Konsum Ausdruck des kollektiven Handlungsprogramms eines komplexen Netzwerks von Akteuren ist und dass Erfahrungen von Endlichkeit diese Dimensionen einschließen und zudem kollektiv verankert werden müssten, sollen sie zu einer effektiven Modifikation des
1
Young, Iris Marion: „Responsibility and Global Justice. A Social Connection Model“, in: Social Philosophy and Policy 23 (2006), S. 102-130.
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Programms, insbesondere zu einem nachhaltigen Umgang mit endlichen Ressourcen führen können. Das Handeln individueller Konsumenten scheint mir in dieser Hinsicht strukturell überfordert zu sein. Es wird mit der paradoxen Zumutung konfrontiert, Endlichkeitserfahrungen in einem Handlungsrahmen folgenreich verankern zu sollen, der in vielfältiger Hinsicht und systematisch darauf ausgerichtet ist, diese Endlichkeit zu verleugnen und entsprechende Erfahrungen zu verhindern. Dies möchte ich im nachfolgenden zweiten Abschnitt anhand jener Faktoren zu plausibilisieren versuchen, die aus Sicht verschiedener soziologischer Theorien das vorherrschende Muster des exzessiven Konsums kulturell disponieren und kollektiv stabilisieren.2 Unter Theoriebildungsgesichtspunkten geht es mir um die Frage, wie der vom amerikanischen Pragmatismus herausgestellte grundlegende Zusammenhang von Erfahrung und Handlungsfolgen angesichts der komplexen kollektiven Vermittlungen, die am exzessiven Konsum sichtbar werden, konzeptionell eingefangen werden kann. Im dritten Abschnitt greife ich dazu theoretische Überlegungen auf, die mit Gabriel Tarde und Georges Bataille in der Ökonomie Orte oder „Arenen“ der Aushandlung und „Neuversammlung“ einer Pluralität von Werten erblicken und den Zusammenhang von Endlichkeitserfahrungen und Handlungskonsequenzen mit John Dewey und Bruno Latour als experimentellen demokratischen Lernprozess ausbuchstabieren.3
2.
D ISPOSITIONSFAKTOREN EXZESSIVEN K ONSUMS – B LOCKADEN VON E NDLICHKEITSERFAHRUNGEN
Im Folgenden kommt es mir darauf an, das Spektrum soziologischer Erklärungsansätze für den exzessiven Konsum (und die damit einhergehende Behinderung von Endlichkeitserfahrungen) einzufangen. Erst durch ihre Breite und Vielfalt machen diese Erklärungsansätze die enormen Probleme und Schwierigkeiten
2
Individuelle Endlichkeitserfahrungen erzeugen in diesem Rahmen ein Bewusstsein der Diskrepanz zum beziehungsweise der Widersprüche im kollektiven Handlungsprogramm des exzessiven Konsums. Das Engagement, das aus solchen Einsichten folgt, kann dann aber immer noch schwankend, enttäuschungsanfällig und letztlich ziellos bleiben. Vgl. dazu Hirschman, Albert O.: Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt a.M. 1984.
3
Vgl. Lamla, Jörn: Verbraucherdemokratie. Politische Soziologie der Konsumgesellschaft, Berlin 2013.
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deutlich, zu einem anderen Umgang mit Endlichkeit im Rahmen eines anderen kollektiven Konsumprogramms zu gelangen. 2.1 Raum-zeitliche Abscheidung (Sequestration) von Erfahrungen Ein erster theoretischer Erklärungsansatz, der nicht unmittelbar in der Konsumsoziologie beheimatet ist, sich aber gut darauf beziehen lässt, kann auf das Theorem der „sequestration of experience“ zurückgreifen, mit dem Anthony Giddens die modernen Phänomene der Absonderung von Erfahrungsräumen und -zeiten bezeichnet: „Although there are numerous exceptions and countertrends, day-today social life tends to become seperated from ‚original‘ nature and from a variety of experiences bearing on existential questions and dilemmas.“4 Hindernisse, die Endlichkeit der individuellen Lebensspanne oder die Vergänglichkeit der natürlichen Ressourcen zu erfahren und ernsthafte Auseinandersetzungen damit zu ermöglichen, erläutert Giddens an der Verlegung von Alter, Sterben, Krankheit, Devianz und Sexualität hinter die Mauern von Altenheimen, Hospizen, Krankenhäusern, Gefängnissen, Schlafzimmern und so weiter, das heißt mit Blick auf die raum-zeitlichen Grenzen, abstrakten Systeme und Wissensordnungen, in denen sich die Alltagserfahrungen typischerweise bewegen und durch die diese in der Moderne ontologische Gewissheit vermitteln.5 Die Ermöglichung von Alltagsroutinen durch Abscheidung existentieller Erfahrungen und Dilemmata ist demnach konstitutiv für die moderne Lebensweise und Gesellschaft. Ein zentrales Element dieser Rahmung erkennt Giddens dabei in der „Kommodifizierung“ und „Mediatisierung“ von Erfahrung durch Konsumgüter und -standards, die in der Moderne einen enormen Stellenwert für die Entwicklung von Selbstkonzepten erlangen.6 Dabei weist er auf einen Zusammenhang hin zwischen einer Individuierung mittels Warenangebot und einem pathologischen Narzissmus, der in Formen einer „excessive individuation“ münde, das heißt dem Möglichkeiten fehlen, Grenzen dieser Individuierung zu erfahren und zu setzen.7 Jede Politik der Lebensführung, die sich existentiellen Problemen zuwenden will, muss solche spezifisch modernen Selbstreferentialitäten, wie sie
4
Giddens, Antony: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern
5
Vgl. ebd., S. 156.
Age, Cambridge 1991, S. 8. 6
Vgl. ebd., S. 196-201.
7
Ebd., S. 200.
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sich in den Institutionen der Warenproduktion und des Warenkonsums zeigen, in Rechnung stellen: „Life-political issues place a question mark against the internally referential systems of modernity. Produced by the emancipatory impact of modern institutions, the life-political agenda exposes the limits of decision-making governed purely by internal criteria. For life politics brings back to prominence precisely those moral and existential questions repressed by the core institutions of modernity.“8
Beispiele für das Abscheiden existentieller (Endlickeits-)Erfahrungen im Konsumalltag und deren Ersatz oder Kompensation durch ein selbstreferentielles System lassen sich zahlreich benennen. „Der Strom kommt aus der Steckdose“ und die Mode, Kosmetik, Fitnessstudios, Werbung und vieles mehr versprechen uns tagtäglich „ewige Jugend“. Das sind keineswegs nur Witze, die von jeder und jedem leicht als falscher Schein zu entlarven sind. Vielmehr spiegeln diese Aussagen recht gut wider, wie unser Erfahrungsraum im Konsumalltag gesellschaftlich vorstrukturiert ist. Das „Offshoring“ und das damit verbundene „Außer-Sicht-und-Reichweite-bringen“ von ökonomischen und ökologischen Interdependenzen und daraus resultierenden Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten, scheint auch im globalisierten, scheinbar grenzenlosen Kapitalismus noch zu funktionieren und wird darin zu einer bevorzugten Strategie des Machterhalts derjenigen, die, wie zum Beispiel transnational operierende Konzerne, davon profitieren.9 Es bedarf schon katastrophaler Ereignisse wie dem Brand einer Textilfabrik in Bangladesh mit über 100 Toten, dem Einsturz einer solchen Fabrik mit über 1000 Toten oder den Explosionen von Kernkraftwerken wie in Fukushima, wenn – zumindest kurzzeitig – die Handlungsroutinen unseres Mode- oder Energiekonsums irritiert und der Erfahrungsraum auf die Produktionsbedingungen der Hosen und T-Shirts, die wir uns überstreifen, oder die Unberechenbarkeit der Naturgewalten hin erweitert werden sollen. Aber auch in solchen Momenten ist keineswegs klar, welche Handlungskonsequenzen daraus abgeleitet werden können. Zu einem Stromanbieter zu wechseln, der zu 100 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien liefert und den Ausbau entsprechender Technologien forciert, bedeutet nicht zwingend, aus dem Handlungsprogramm des exzessiven Konsums ausgestiegen zu sein und einen anderen Umgang mit Endlichkeit zu pflegen. Genauso kann hier ein Festhalten an diesem Programm unter veränderten ökologischen (Peak Oil) und weltklima-
8
Ebd., S. 223.
9
Urry, John: Offshoring, Cambridge 2014.
226 │ J ÖRN L AMLA
tischen Bedingungen vorliegen.10 Denn auch die alternativen Anbieter verdienen mit dem Verkauf von Strom Geld und mit dem Verkauf von mehr Strom mehr Geld. Die Handlungsroutinen jedenfalls ändern sich dadurch noch lange nicht – oder genauer gesagt: Sie ändern sich nur ein einziges Mal, nämlich im Akt der bewussten Wahl eines Energieversorgers, wo früher Anbietermonopole alles vorentschieden haben. Und dieser Schritt wird einem so einfach – das heißt für den Alltag folgenlos – wie irgend möglich gemacht. Mit Giddens kann folglich die These plausibilisiert werden, dass im Konsumalltag existentielle Endlichkeitserfahrungen in einer für die Moderne insgesamt typischen Weise abgeschnitten sind, wodurch ein exzessives Handlungsprogramm stabilisiert wird. Unklar bleibt in seinem Ansatz jedoch, wo die hierfür verantwortlichen Mechanismen genau zu verorten sind. Giddens wirft diesbezüglich vieles in einen Topf, das der genaueren Analyse bedürfte: abstrakte Systeme, Expertenwissen, kulturelle Mythen der Identitätsbildung, ein emotionales Bedürfnis nach ontologischer Gewissheit und so weiter. Hier mehr Klarheit zu schaffen, erscheint nicht zuletzt mit Blick auf die Herausforderungen einer Politik, deren erklärtes Ziel ist, das exzessive Handlungsprogramm zu ändern und existentiellen (Endlichkeits-)Erfahrungen in der Lebensführung größere Bedeutung zukommen zu lassen, als besonders wichtig. Ist es dafür notwendig, dass sich die Mythen individueller Bewährung, die Werte einer gelungenen Lebensführung, verändern? Oder bedarf es anderer Stellschrauben, etwa therapeutischer Eingriffe in das Gerüst unserer Emotionen, verhaltensökonomisch begrün-
10 Vgl. Sommer, Bernd/Welzer, Harald: „Ökologie: Klimawandel, Knappheiten und Transformationen im Anthropozän“, in: Jörn Lamla et al. (Hg.), Handbuch der Soziologie, Konstanz 2014, S. 419-432, hier S. 427. Auch Recyclingtechnologien sind ein gutes Beispiel. Sie vermitteln unsere Erfahrungen mit der Endlichkeit von Rohstoffen auf spezifische Weise und stabilisieren gegebenenfalls unser exzessives Konsumverhalten mehr als es zu modifizieren, da der Müll zu einer wichtigen Wertquelle wird und deshalb nicht nur anfallen darf, sondern aus Sicht der Verwertungsindustrie auch anfallen soll. Wenn alle Komponenten von Elektronik-Geräten durch Schreddern dem Stoffkreislauf wieder zugeführt werden können, gibt es wenige Gründe, die kurzen Produktlebenszeiten von Handys, Smartphones und so weiter zu verlängern. ReboundEffekte sind folglich einprogrammiert; vgl. hierzu Laser, Stefan/Lamla, Jörn: „Demokratischer Experimentalismus in transnationalen Wertschöpfungskollektiven. Über einige Herausforderungen des ethischen Konsums und den Fall Elektroschrott“, in: Online-Publikation zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2014: Routinen der Krise, Krise der Routinen (im Erscheinen).
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deter „Schubser“11 durch politische Autoritäten oder rechtlicher Eingriffe in das System ökonomischer Interdependenzen? Diese Frage wird bei Giddens durch den Gleichklang verschiedener Kerninstitutionen der Moderne verdeckt und erfordert deshalb einen Blick auf weitere theoretische Ansätze, mit widerstreitenden Aussagen, welcher Mechanismus in diesem Konzert den Takt angibt. 2.2 Ökonomische Abhängigkeitseffekte Eine Theorierichtung sieht den Taktgeber in ökonomischen Interdependenzen, die durch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmt sind. Mit Marx ließe sich die beschriebene Engführung des Erfahrungsraumes im Konsumalltag als Ausdruck kapitalistischer Entfremdungs-, Fetischisierungs- und Verdinglichungstendenzen interpretieren, die letztlich in der Reduktion menschlicher Beziehungen und Naturaneignungen durch die Warenform wurzeln.12 Die ausgeklügelten, alltägliche Erfahrungsräume vorstrukturierenden „Verpackungen“, in denen diese Waren zu den Konsumentinnen und Konsumenten gelangen und durch die diese Tauschwerte den potentiellen Abnehmern Gebrauchswerte suggerieren, sind in dieser Theorieperspektive letztlich ökonomische Systemnotwendigkeiten, die den endlosen Akkumulations- und Verwertungsprozess des Kapitals stützen.13 Eine solche, funktionalistische Sichtweise ist allerdings nicht unproblematisch und wird innerhalb der soziologischen Theoriediskussion stark kritisiert. Sie stehe für eine Verwechslung von Explanans und Explanandum, die das zu Erklärende, also die Stabilisierung exzessiver Handlungsprogramme und Verhaltensweisen in der Erklärung bereits voraussetzt, nämlich als Zwang zur endlosen Akkumulation im Kapitalismus. Dass hier Erklärungslücken bestehen, wird auch an der These deutlich, mit der John Kenneth Galbraith erklären will, warum die „Überflussgesellschaft“ einen Übergang zu anderen Formen der Güterverteilung so enorm erschwert. Galbraith verweist hierzu auf einen „Abhängigkeitseffekt“, der auf die vom Produktionssystem notwendig erzeugte künstliche Nachfrage hinweist: „In dem gleichen Maß, wie eine Gesellschaft immer wohlhabender wird, werden unaufhörlich neue Bedürfnisse durch den Prozeß geschaffen, der sie befriedigen soll. Das mag
11 Thaler, Richard H./Sunstein, Cass R.: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2011. 12 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, Berlin 1962. 13 Vgl. Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2009.
228 │ J ÖRN L AMLA sich passiv vollziehen: Eine Zunahme des Verbrauchs, als Pendant einer Produktionssteigerung, kann durch Beeinflussung oder durch Anstacheln des Wetteifers um soziale Reputation neue Bedürfnisse schaffen. Oder aber die Erzeuger selbst gehen daran, durch Werbung und Verkaufspropaganda neuen Bedarf zu wecken. Also ist der neue Bedarf abhängig vom Ausstoß der Industrie. [...] Das höhere Produktionsniveau bedeutet lediglich ein höheres Niveau der Bedarfsschöpfung, das seinerseits ein höheres Niveau der Bedarfsbefriedigung erzwingt. [...] Es wird zweckdienlich sein, hier von einem Abhängigkeitseffekt zu sprechen.“14
Für Galbraith ist ein solches produktivistisches Regime irrational, da Bedürfnisse, die ohne den ökonomischen Prozess ihrer Befriedigung nicht vorhanden wären, durch ihre Befriedigung keine Wert- oder Wohlfahrtssteigerung mehr ermöglichen. In dem Maße, wie diese Irrationalität – etwa durch Erfahrungen der Endlichkeit natürlicher Ressourcen – offensichtlich werde, müsse die Überflussgesellschaft daher andere Formen der Bewertung von Bedürfnissen finden. Jedoch beißt sich eine solche Aufklärungshoffnung mit einer funktionalistischen Erklärung, der zufolge das ökonomische System die Bedürfnisse systematisch und notwendig von sich abhängig machen muss. Die Vorstellung, wirtschaftliches Wachstum erreiche irgendwann einen kritischen Wendepunkt, an dem der Überfluss den Übergang zu anderen Verteilungsund Umgangsformen mit dem vorhandenen Güterreichtum ermögliche, hat Jean Baudrillard dementsprechend deutlich zurückgewiesen.15 Aus seiner Perspektive ist es die soziale Struktur der Ungleichheit selbst, die hinter dem exzessiven Produktions- und Konsumtionsprogramm stecke: „[We] have to admit that growth neither takes us further from, nor brings us closer to, affluence. It is logically seperated from it by the whole social structure which is, here, the determining instance. A certain type of social relations and social contradictions, a certain type of ‘inequality’, which used to perpetuate itself in the absence of economic progress, is today reproduced in and through growth.“16
Das funktionalistische Argument zur Erklärung des exzessiven Wachstums wird hier strukturalistisch unterfüttert: Das Spiel der Differenzen entfaltet ein Eigenleben und setzt sich auf allen Stufen des gesellschaftlichen Reichtums fort.
14 Galbraith, John Kenneth: Gesellschaft im Überfluß, München/Zürich 1959, S. 164. 15 Vgl. J.K. Galbraith: Gesellschaft im Überfluß, S. 174-177; kritisch dazu: Baudrillard, Jean: The Consumer Society. Myths and Structures, London 1998, S. 54f. 16 Ebd., S. 53.
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Baudrillard hat hierzu verschiedene Mechanismen identifiziert, die die Komplizenschaft der Verbraucher mit dem ökonomischen Wachstumsmodell sichern. Ein Beispiel ist die Differenz von Modell und Serie, mittels derer die Gebrauchsgegenstände in ein Verweisungssystem eingebunden sind, das bei jedem Kauf auf andere, bessere Güter in der Konsumsphäre hinweist und damit letztlich ein unerreichbares Modell dieser Güter idealisiert. Wer eine Kamera mit acht Megapixeln kauft, weiß, dass er auch eine mit 12, 15 oder noch mehr Megapixeln haben könnte – und diese Differenz wirkt ganz unabhängig davon, ob sich auf den Fotos ein qualitativer Unterschied erkennen lässt: „Die kleinen, immer positiv gewerteten Unterschiede genügen, um die Serienbildung voranzutreiben, den Wunsch nach dem Modell zu erwecken, das bloß ein virtuelles zu sein braucht. Die marginalen Differenzen sind der Motor der Serie und halten den Integrationsmechanismus in Gang.“17 Auch der Modekatalog perfektioniert ein solches Spiel der Differenzen.18 Somit verhindert aus dieser Theorieperspektive ein struktureller Mechanismus die Erfahrungen von Endlichkeit und sichert so das immer gleiche Spiel ununterbrochener ökonomischer Bedürfnisproduktion und -befriedigung: „Weil das Modell im Grunde nur eine Idee ist, daß heißt eine dem System innewohnende Transzendenz, kann sich dieses System ständig weiterentwickeln, als Ganzes nach vorne flüchten und bleibt als System uneinholbar. [...] Alles bewegt sich, alles wechselt und verwandelt sich zusehends, und trotzdem ändert sich nichts. Eine solche Gesellschaft im Getriebe des technologischen Fortschritts vollzieht alle möglichen Revolutionen, aber diese sind nur Bewegungen um ihre eigene Achse. Ihre sich überschlagende Produktivität führt zu keiner Änderung der Struktur.“19
Nicht nur die viel diskutierte geplante Obsoleszenz ist Teil dieses Kreislaufs.20 Einen ähnlichen Stellenwert besitzt der Kredit, der die Verbraucher durch Vorwegnahme der Zukunft in zeitlicher Hinsicht an das Wechselspiel der Zeichen von Haben und Nichthaben bindet und durch Schuldverhältnisse immer tiefer in das exzessive Produktions- und Konsumprogramm hineinzieht. In diesem Kontext führt Baudrillard drastisch vor Augen, wie die Endlichkeitserfahrungen den exzessiven ökonomischen Systemnotwendigkeiten untergeordnet werden:
17 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 178. 18 Vgl. Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985. 19 J. Baudrillard: Das System der Dinge, S. 192f. 20 Vgl. ebd., S. 181f.
230 │ J ÖRN L AMLA „Am absurden Endergebnis des Kredits, wenn infolge der Abzahlungsverpflichtung keine Mittel mehr für Benzin zur Verfügung stehen und der Wagen immobilisiert wird, wenn die menschlichen Zielsetzungen durch den wirtschaftlichen Zwang filtriert und zerbröckelt werden, kommt eine Grundwahrheit unserer gegenwärtigen Ordnung klar zum Vorschein: nämlich, daß die Güter nicht die Bestimmung haben, in Besitz genommen und gebraucht, sondern nur um erzeugt und gekauft zu werden.“21
2.3 Imaginativer Hedonismus Gegen funktionalistische und strukturalistische Erklärungen für das exzessive, Endlichkeitserfahrungen behindernde Konsumprogramm argumentieren Theorien, die in der Tradition Max Webers dem orientierenden Handlungssinn der Verbraucher größere Unabhängigkeit vom ökonomischen System zusprechen. Sie schließen nicht aus, dass sich historisch kulturelle Dispositionen und Habitusformen herausgebildet haben, die den ökonomischen Anforderungen des modernen Kapitalismus wahlverwandt sind, drehen die Erklärungsrichtung aber um und fordern, deren Genese aus Quellen zu rekonstruieren, die das exzessive Programm des Produktivismus und Konsumismus nicht schon voraussetzen. So wie Max Weber solche Quellen für den Produktivismus in der Prädestinationslehre und im Berufsethos protestantischer Strömungen identifiziert hat, will Colin Campbell zeigen, dass erst der Sentimentalismus und die romantische Ethik jene Habitusdispositionen hervorgebracht haben, die das moderne Konsumsubjekt für das Handlungsprogramm des exzessiven Konsums empfänglich machen.22 Interessant daran ist wiederum, wie die Möglichkeiten zur Endlichkeitserfahrung durch diese Dispositionen modifiziert worden sind. Denn kennzeichnend für diesen neuen Habitus sei die Fähigkeit, Vorstellungswelten autonom zu manipulie-
21 Ebd. S. 202; vgl. zu diesem Paradox auch Rosa, Hartmut: „Über die Verwechslung von Kauf und Konsum: Paradoxien der spätmodernen Konsumkultur“, in: Ludger Heidbrink/Imke Schmidt/Björn Ahaus (Hg.), Die Verantwortung des Konsumenten. Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a.M./New York 2011, S. 115-132. 22 Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Weinheim 21996; Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, Oxford 1987; als weiteren historisch-soziologischen Theorieansatz, der den exzessiven Konsum in der höfischen Gesellschaft Frankreichs als Quelle des Kapitalismus betrachtet (und nicht umgekehrt): Sombart, Werner: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin 1992.
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ren und zu erweitern. Die modernen Verbraucher sind keine Hedonisten im traditionellen Sinne mehr, sondern werden charakterisiert durch das Muster eines imaginativen Hedonismus.23 Dieser autonome imaginative Hedonismus unterscheidet sich grundlegend vom traditionellen, auf unmittelbare Befriedigung und gleichförmige Steigerung von Genusserfahrungen ausgerichteten Hedonismus („mehr vom Wein!“). Und während letzterer durch das enge Spektrum sensorischer Sinnesreizungen, durch die Orientierung am Bekannten und damit an der Vergangenheit sowie durch die unzureichende Kommunizierbarkeit der Bedürfnisse gleich dreifach begrenzt ist, sprengt der imaginative Hedonismus all diese Bindungen des Konsums an „Endlichkeitserfahrungen“ auf. Als Produkt einer melancholischen, durch die Romantik zur Verfeinerung ihrer Phantasietätigkeit angeregten, aber letztlich im modernen Konsumismus resultierenden Subjektform zeichnet sich dieser moderne Hedonismus durch ein unendlich großes, weil nur vom emotionalen Vermögen und dem Aufbau einer geistigen Vorstellungswelt abhängiges, zugleich zukunftsorientiertes, von der Mode bis zur Neomanie steigerbares sowie schließlich durch die Werbung auch kommunikativ stimulierbares Bedürfnisspektrum aus. In das stählerne Gehäuse des exzessiven Konsums sind wir demnach deshalb integriert, weil wir historisch und kulturell gelernt haben, uns Tagträumen hinzugeben, die wir auf kommerzielle Angebote ausrichten, obgleich deren Versprechungen an den idealisierten Bildern häufig scheitern. Dieses Scheitern hat sogar System, solange die Enttäuschungen unsere Sehnsucht nur verstärken, ohne uns aus der Konsumspirale zu entlassen. Allerdings weist Campbell darauf hin, dass romantische Ideale wie Authentizität und Selbstverwirklichung zur hedonistischen Selbstbezüglichkeit des Konsumangebots in Konflikt geraten können. Authentizität und konsumistischer Hedonismus stehen ihm zufolge in einem konstitutiven Spannungsverhältnis: „Indeed, the two forms are not merely connected but must be seen as inextricably interlocked, bound together by processes through which a desire for pleasure develops into a genuine concern for ideals, and ethical impulses ‚degenerate‘ into mere narcissism. If, then, such individual processes are aggregated and viewed in macro-social terms as sociocultural movements, it becomes possible to perceive how a modern consumerist outlook
23 Campbell richtet sich gegen eine Erklärung, die hedonistische Tendenzen durch einen einfachen Widerspruch innerhalb der protestantischen Ethik erklärt, insofern die produzierten Reichtümer zur kulturellen Aushöhlung der asketischen Grundlagen des Kapitalismus führen würden. So etwa Bell, Daniel: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M./New York 1991.
232 │ J ÖRN L AMLA and a romantic ethic may be linked in both generative and degenerative directions; that is to say, by tendencies for periods of commercial dynamism to develop into idealistic ‘reformations’, and idealistic upheavals to degenerate into sentimentalistic self-seeking. As there is no good reason for assuming that a one-way trend governs such changes, it would seem reasonable to postulate a recurso pattern of generation–degeneration– regeneration to have typified the past two hundred years. Thus, if Romanticism did originally make modern hedonism possible, then the spirit of hedonism has subsequently also functioned to give rise to further outbursts of romantic fervor.“24
Aus dieser Theorieperspektive kann folglich nicht einfach davon ausgegangen werden, dass die Wahlverwandtschaft von kulturellen Sinnorientierungen und Habitusformen einerseits und ökonomischen Institutionen und Abhängigkeiten andererseits dauerhaft stabil gesichert ist. Vielmehr muss genauer analysiert und erklärt werden, unter welchen Bedingungen es zu einer Konstellation historischer Schließung und Absicherung des exzessiven Konsumprogramms kommt. Denn durch die Befeuerung romantischer Authentizitätsideale ermöglicht der exzessive Konsumismus stets die Wiederkehr des Verdrängten, also nicht zuletzt auch die reflexive Vergegenwärtigung existentieller Endlichkeitserfahrungen. 2.4 Geld als „absolutes Mittel“ Abschließend möchte ich noch auf eine Theorie eingehen, die auf die Analyse von Konstellationen historischer Schließung beziehungsweise Öffnung kollektiver Handlungsprogramme abzielt und neben den fundierenden ökonomischen und kulturellen Mechanismen des exzessiven Konsums auch solche Bedingungsmomente in den Blick nimmt, die dieses Programm durch Krisenerfahrungen erschüttern und zu Veränderungen zwingen, nämlich auf die Theorie der Mythenspirale. Aber auch diese an Simmels Philosophie des Geldes, Schumpeters Theorem der schöpferischen Zerstörung sowie den Neo-Institutionalismus anschließende Theorie von Christoph Deutschmann geht nicht davon aus, dass hierbei Endlichkeitserfahrungen eine tragende Rolle spielen.25 Vielmehr dreht
24 C. Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, S. 215f. 25 Vgl. Deutschmann, Christoph: „Marx, Schumpeter und Mythen ökonomischer Rationalität“, in: Leviathan 24 (1996), S. 323-338; Deutschmann, Christoph: „Geld als ‚absolutes Mittel‘. Zur Aktualität von Simmels Geldtheorie“, in: Berliner Journal für Soziologie 10 (2000), S. 301-313; Deutschmann, Christoph: Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus., Frankfurt a.M./New York 22001.
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sich auch diese Spirale der kapitalistischen Produktion und Konsumtion durch die verschiedenen Phasen der Innovation, Stabilisierung, Erschütterung und Erneuerung hindurch endlos weiter. Angetrieben wird sie dabei durch Eigenschaften, die dem Geld aus soziologischer Perspektive innewohnen. Entscheidend sind für Deutschmann dabei weniger die Eigenschaften des Geldes als Tauschmittel, das zwischen Handelnden Beziehungen und Abhängigkeiten stiftet. Vielmehr sind es die Vermögenseigenschaften des Geldes, die Simmel in seiner Analyse über „Das Geld in den Zweckreihen“ auf den Begriff bringt, wenn er Geld als „absolutes Mittel“ bezeichnet, das zwar stets Mittel bleibe und somit externe Zwecke voraussetze, durch seine universelle Einsetzbarkeit aber dennoch zu einer Art Dreh- und Angelpunkt des gesamten modernen Lebens werde.26 Es wird mit dieser Eigenschaft selbst zu einer religiösen Quelle des Kapitalismus, die absoluten Reichtum verheiße und auf einen unerschöpflichen Vorrat an Möglichkeiten verweise. Dass diese Eigenschaften zum exzessiven Konsum oder zu vergleichbar zügellosen Umgangsweisen disponieren, macht Simmel insbesondere an den pathologischen Auswüchsen wie Geiz und Geldgier, aber auch anhand von Kaufsucht, Verschwendungs- oder Verschuldungsneigung deutlich, die allesamt diese kulturelle Zentrierung der Moderne auf das absolute Mittel des Geldes widerspiegeln. Aber die Krisenanfälligkeit dieses Systems ist im Modell der Mythenspirale bereits mitgedacht, insofern das Geld für die Realisierung seines Potentials – abgesehen von den genannten pathologischen Extremfällen – auf weitere Sinn- und Wertquellen angewiesen ist, über die es aus dieser Theorieperspektive – anders als bei den Abhängigkeitstheoretikern und ähnlich wie bei den Weberianern – nicht selbst verfügen kann.27 Aus diesem Grunde entwickeln sich auch Konsumprogramme durchaus krisenhaft und in größeren Wandlungszyklen, die Phasen der Öffnung, der Innovation, der Etablierung und Schließung und der erneuten Öffnung aufweisen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass sich an ein energieintensives massenkulturelles Konsumprogramm des 20. Jahrhunderts ein neues, grüneres, weniger ressourcenintensives Konsumprogramm anschließt. Aber das bedeutet noch nicht notwendig, dass Endlichkeitserfahrungen in diesem Konsumprogramm wichtiger und wirksamer verankert sein werden. Vielmehr kann auch ein solches Programm unter den Bedingungen moderner Geldwirtschaft noch exzessiv ausgerichtet bleiben. Hier gilt es quasi mit Luhmann die Unter-
26 Vgl. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (= Gesamtausgabe, Band 6), Frankfurt a.M. 1900, S. 292-337. 27 Vgl. dazu auch Zelizer, Viviana A.: „Die Farben des Geldes. Vielfalt der Märkte, Vielfalt der Kulturen“, in: Berliner Journal für Soziologie 10 (2000), S. 315-332.
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scheidung von Code und Programm zu berücksichtigen: Letzteres kann und muss dann durchaus von Zeit zu Zeit wechseln, damit die Autopoiesis von Zahlen und Nichtzahlen anhaltend reproduziert wird.28 Doch bleibt zu klären, ob diese Sicht aus der soziologischen Systemtheorie uneingeschränkt zutrifft und die Differenzierungsformen der modernen Gesellschaft wirklich derart stabil bleiben.
3.
K ONSUM , P OLITIK , V ERSCHWENDUNG – A NSÄTZE ZU EINER THEORETISCHEN N EUPERSPEKTIVIERUNG
Zusammengenommen zeigen die theoretischen Erklärungsansätze, dass in die Institutionen der Moderne sowie insbesondere in den Alltag des Konsums ein starkes Gegenprogramm zur Erfahrung von Endlichkeit eingeschrieben ist. Und die Liste von Theorien ist dabei noch längst nicht vollständig. Es gibt aber auch Hinweise auf Widersprüche und Gegentendenzen, die existentielle Fragen zurück auf die Agenda bringen und damit Endlichkeitserfahrungen und dem Umgang mit Endlichkeit verglichen mit dem Programm des exzessiven Konsums einen größeren Stellenwert einräumen. Doch erscheint der Ort der Bearbeitung dieser Erfahrungen in der Gegenwartsgesellschaft diffus, flüchtig und ungesichert. Eine wichtige Schlussfolgerung für die zukünftige Forschung ist daraus, diesen gesellschaftlichen Ort zunächst in seiner ganzen Vielfalt und disparaten Gestalt zu identifizieren und zu beschreiben – und dabei möglichst unvoreingenommen vorzugehen. Ich möchte im Folgenden vier Ansätze aufgreifen, die Wege aufzeigen könnten, wie Probleme der Endlichkeit über die – eher zweifelhaften, weil stark vom exzessiven Konsumprogramm selbst in Regie genommenen – romantischen Authentizitätsvorstellungen hinaus zu einem grundlegenden Bestandteil ökonomischen Handelns werden könnten. Dies sind Theorien, die in der Ökonomie nicht nur den Ort des nutzenkalkulierenden Ausgleichs von Interessen sehen, sondern eine Arena, in der unterschiedliche Wertgrößen in kollektive Aushandlungen eintreten und unterschiedliche Formen des Zusammenlebens ausprobiert werden können.
28 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988.
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3.1 Den Konflikt der leidenschaftlichen Interessen „umkrempeln“ In Gabriel Tarde finden wir einen durch Deleuze und Latour spät wiederentdeckten Klassiker der soziologischen Theorie, der eine neue Sicht auf die „politische Ökonomie“ ermöglicht. Darin erscheinen die Werte in einem anderen Licht, nämlich als stets aufs Neue auszuhandelnde Qualitäten, die zwar mess- oder zählbar sind, aber nicht durch Reduktion auf die eine, monetäre Form der Reichtumsberechnung in Geldeinheiten. Die Quantitäten dieser Werte sind vielmehr immer schon politisch in dem Sinne, dass sie den Platz in der Hierarchie der Werte abhängig von der Zahl an Anhängern bestimmen, die sich hinter dem Wert versammeln lassen. Es handelt sich um eine Pluralität an Nachahmungswerten.29 Diese können zum Beispiel ebenso durch öffentlichen Ruhm, soziale Einflüsse, religiöse Sendung, nationale Interessen oder wissenschaftliche Überzeugung begründet sein. In diesem Sinne von politischer Ökonomie schlägt Tarde daher vor, „die Ökonomie auf alle Bewertungen auszuweiten“30. Seine 1902 geschriebene „Psychologie économique“ ähnelt damit bereits der neueren Strömung einer „Soziologie der Konventionen“, die es ebenfalls möglich macht, die Ökonomie als Feld von Wertkonflikten zu konzipieren, anstatt in ihr ein einziges Wertmaß am Werk zu sehen.31 Die Relativierung der ökonomischen Wissenschaften oder Ökonomik, deren Neigung, alle Leidenschaften auf rationale Nutzenkalküle zu reduzieren, als eine von vielen möglichen konventionellen Rahmungen des ökonomischen Geschehens erkennbar wird, öffnet Spielräume für eine Neuperspektivierung von Konsumprogrammen. Diese wiederum könnte auch Anhaltspunkte für eine Umprogrammierung unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit bereitstellen. Gerade der Konsum ist für Tarde ein vorzügliches Beispiel dafür, wie neben dem Geld, an dem er wie Simmel und Deutschmann die Vermögenseigenschaf-
29 Ganz im Sinne von Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2008. 30 Latour, Bruno/Lépinay, Vincent: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, Frankfurt a.M. 2010, S. 22. 31 Vgl. grundlegend dazu Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Konstanz 2007 sowie den Überblick von Diaz-Bone, Rainer: Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie, Frankfurt a.M./New York 2011.
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ten des absoluten Mittels32 hervorhebt, viele weitere Anziehungskräfte das ökonomische Geschehen bestimmen. Nicht nur gibt es für Tarde keinen Konsum ohne Moral, worunter er „die überlegene und tiefe Regelung des Verhaltens zugunsten der wichtigsten Überzeugungen und Leidenschaften versteht, die das Leben lenken“33. Von zentraler Bedeutung sind darüber hinaus auch Zeit und Muße zur Konversation, Vertrauensbildung, die Freizeit, die Mode und der Tourismus, denn sie bringen als wesentliche Produktionsfaktoren die Begehren erst unter das Volk der Konsumentinnen und Konsumenten. Tarde erscheint geradezu, wie Latour und Lépinay in ihrer Einleitung zu seinem Werk über die politische Ökonomie treffend bemerken, als Klassiker für digitales oder virales Marketing, wenn er etwa auf die zentrale Bedeutung der Mund-zu-MundPropaganda abhebt: „Würde das Publikum niemals plaudern, so wäre die Auslage der Waren fast stets verlorene Mühe und die hundert Millionen Trompeten der Reklame würden vergeblich erschallen. Wenn in Paris nur für acht Tage die Konversationen verstummten, so würde man bald die eigenartige Verringerung der Anzahl der Käufe in den Läden bemerken. Es gibt demnach keinen mächtigeren Chef der Konsumtion und in der Folge, keinen mächtigeren, wenn auch indirekten Produktionsfaktor als das Geplauder der Individuen in ihren Mußestunden.“34
Man sieht schon: Auch Tarde ist ein Theoretiker des scheinbar unendlichen Wachstums. Selbst die Zeit der Muße wird noch zum entscheidenden Produktionsfaktor, sofern sie dazu genutzt wird, die Nachahmungsketten eines Konsumprogramms in Gang zu bringen oder am Laufen zu halten. Aspekte der Nachhaltigkeit oder gar der Endlichkeit werden nicht in der Weise zum Zug kommen, dass die Dominanz der einen Ökonomie durch die einer anderen, schon bereit stehenden Ökonomie der Muße oder Bescheidenheit ausgewechselt wird. Das wäre zu einfach gedacht. Wohl verbergen sich unterschiedlichste Werte in den Nachahmungsketten und darunter auch solche, die moralische Gesichtspunkte der Nachhaltigkeit oder der existenziellen Endlichkeit als grundlegend für das Leben und den Konsum ansehen werden. Aber auch diese haben ihre exzessiven
32 „Das Geld hat mit der Kraft, einem wesentlichen Begriff der Physik, das Merkmal gemeinsam, daß es eine Möglichkeit, eine unendliche Virtualität ist“, zit. n. B. Latour/V. Lépinay: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, S. 59. 33 Ebd., S. 61. 34 Zit. n. ebd., S. 71.
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Seiten, etwa in Form eines missionarischen Eifers, der keine Grenzen kennt. Spannend wird es daher erst an jenen Kreuzungen oder Intersektionen verschiedener ökonomischer Programme, die zu einem Konflikt, einer Blockade oder zum „logischen Zweikampf“35 zwischen ihnen führen. An diesen Punkten nämlich entsteht erst die Autonomie zur Um- oder Neuprogrammierung der Flugbahnen (Trajektorien) des Handelns und des Konsums mittels weiterer Erfindungen. Hier liegt das Theoriepotential zur Neuperspektivierung der politischen Ökonomie: „Wenn die Akkumulation nicht der relevante Ausgangspunkt ist, um die Dynamik der Ökonomie zu verstehen, dann muß sich der Blick anderswohin richten. Die Interferenz und die Intersektion der Linien der Begehren, welche die Individuen durchziehen, sind sehr viel geeigneter, um über die Wahrscheinlichkeit von Wendepunkten zu unterrichten.“36
Deutlich vor Schumpeter hat Tarde die Rolle von Erfindungen, schöpferischen Zerstörungen für Entwicklungsschübe der Ökonomie hervorgehoben. Diesmal ist es aber nicht die von der Kraft des Geldes bestimmte Mythenspirale, die sich endlos in die Zukunft schraubt, sondern die autonome Vermittlung pluraler Wertgesichtspunkte oder Nachahmungsstrahlen, die zu „konvergierenden und zusammenstimmenden Zwecken des Lebens“37 werden. Dafür gibt es keine Vorsehung, keine unsichtbare Hand oder natürliche Harmonie, sondern allein die Politik, die sich auf ein allgemeines Begehren nach Konsistenz der Überzeugungen stützen könne, danach, das „Chaos zur Welt zu krempeln“, aber dafür ganz auf die kreative Arbeit der Erfindung und ihre Labore und Bedingungen angewiesen ist: „Dieses gesellschaftliche Ganze ist zu machen durch Erfindungen, durch Kunstgriffe. Es liegt vor uns, nicht hinter uns.“38 Und damit kann es auch scheitern. Fragt sich also, wie das exzessive Konsumprogramm durch solche Akte der Erfindung zu einem anderen Umgang mit endlichen Ressourcen und existentiellen Problemen gelangen kann. Hierzu scheint mir zweierlei nötig: Zum einen muss das Problem des exzessiven Konsums reformuliert werden, damit es in diesen politischen Wertkonflikt der Ökonomie übersetzt werden und darin kreative
35 G. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 173. 36 B. Latour/V. Lépinay: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, S. 54. 37 Zit. n. ebd., S. 68. 38 Ebd., S. 117f.
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Prozesse und Erfindungen wahrscheinlich machen kann; zum anderen stellt sich die Frage, ob und wie der Konflikt so zivilisiert werden kann, dass die resultierenden Erfindungen auch tatsächlich zu einer neuen kollektiven Ordnung des Zusammenlebens führen können, welche die Bildung neuer Gewohnheiten unter den Bedingungen der Endlichkeit ermöglicht.39 3.2 Welcher Exzess? Kreative Politik der Verschwendung Die erste der beiden Fragen führt mich zu Georges Bataille, dem zweiten französischen Theoretiker der allgemeinen Ökonomie, der ebenfalls nicht einverstanden war mit der Reduktion des Ökonomischen auf die an der Nutzenmaximierung orientierten produktiven Tätigkeiten.40 Der Zweck der ökonomischen Tätigkeit, den das verengte wissenschaftliche Verständnis aus dem Blick verloren habe, sei stets eine Verschwendung und nicht die Sorge um Knappheiten. Damit liefert er eine Perspektive, die das Problem des exzessiven Konsums nicht in der Endlichkeits-Vergessenheit sieht, sondern umgekehrt in einer VerschwendungsVergessenheit, die daraus resultiere, dass sich das ökonomische Leben scheinbar nur noch um Knappheiten drehe und sich damit geradezu in eine Endlichkeitsmanie hineinsteigere. Die Verdrängung existenzieller Fragen, die Giddens als Merkmal der Moderne diagnostiziert, geht somit nicht auf zu wenig Endlichkeitserfahrung zurück, sondern auf zu viel davon. Sie resultiert aus einer Fixierung auf Probleme der Endlichkeit und Knappheit, die sich in einer verkürzten Ökonomie manifestiert, in der sämtliche produktiven Kräfte darauf ausgerichtet sind, die Mittelverwendung effizienter zu machen – ohne zu wissen, wofür. Das Vermögen der Endlichkeitserfahrung hat sich durch Ökonomisierung – hin zu einem geschlossenen System – also selbst verdrängt. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele Versuche, den Konsum nachhaltiger zu machen, ihrerseits diesem Programm endloser Effizienzsteigerung folgen werden, also gerade keinen Wechsel im Handlungsprogramm implizieren. Jedoch:
39 Zur zweiten Frage gibt Tarde zumindest einige indirekte Hinweise: So kritisiert er am Sozialismus zwar nicht das Vorhaben, ein neues ökonomisches Programm zu finden, denn dies sei durchaus notwendig, aber sehr wohl den Typ von Erfindung, nämlich die Produktion durch Planung, Technik und Organisation lenken zu wollen. Vgl. dazu ebd., S. 104-111. 40 Vgl. zum Folgenden Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie., München 32001.
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„Das menschliche Leben [...] kann in keinem Fall auf die geschlossenen Systeme reduziert werden, auf die es nach rationalen Auffassungen gebracht wird. Die ungeheuren Anstrengungen der Selbstaufgabe, des Sichverströmens und Rasens, die es ausmachen, legen vielmehr nahe, daß es erst mit dem Bankrott dieser Systeme beginnt.“41
Die Theorie Batailles hilft in diesem Zusammenhang, die Perspektive wieder zu weiten und den Denk-Raum für neue Erfindungen zu erzeugen, indem sie uns daran erinnert, dass es in der allgemeinen Ökonomie stets auch um unproduktive Verausgabung, um Luxus und Verschwendung geht, selbst dann noch oder gerade dann, wenn alle das Gegenteil behaupten. Diesen Ausgangspunkt eines Denkens vom Überfluss her, versinnbildlicht etwa in der weit überschüssigen Energie der Sonne, gilt es zuerst zu begreifen, um dann im zweiten Schritt die Frage stellen zu können, welchen Exzess wir politisch wollen. Denn das Leugnen unproduktiver Verausgabung könne nicht verhindern, dass es zu Exzessen kommt. Es führt lediglich dazu, dass wir die politische Kontrolle über diese Dynamik verlieren, weil wir den überschüssigen Teil des ökonomischen Lebens „verfemen“42. Der Blick auf den Potlatsch bei den nordamerikanischen Indianerstämmen, auf die unproduktive Verausgabung in zahllosen Kriegen oder den Klassenkampf soll helfen, die Perspektive auf die Ökonomie wieder zu erweitern, der im Prinzip verschiedene Optionen offen stehen, wie mit den stets vorhandenen überschüssigen Energien, die sich nicht in weiteres Wachstum überführen lassen, umgegangen werden kann. Sie können ihre soziale Funktion historisch wandeln und der Statuskonkurrenz und Machtsicherung oder aber der Grundversorgung breiter Bevölkerungskreise zugeführt werden; sie können individuell und damit für private Exzesse, die vom öffentlichen Bewusstsein abgetrennt werden, oder kollektiv angeeignet werden; sie können in Katastrophen münden, müssen dies aber nicht zwangsläufig. Die Alternative zum Pfad des ökonomischen Wachstums, den wir gegenwärtig verfolgen und in dem die Verschwendung ihrerseits katastrophische Konsequenzen zu zeitigen beginnt, liegt daher nicht in der weiteren Verdrängung des exzessiven Konsums durch ein neues Endlichkeitsbewusstsein, sondern in dessen Re-Politisierung und Re-Sozialisierung. Die „Ausdehnung des irdischen Lebensraums, die das Gesamtwachstum begrenzt“, führt Bataille zufolge schließ-
41 Ebd., S. 30. 42 Vgl. ebd., S. 64f. Verfemt wird dieser Teil des Reichtums nach Bataille, um die mit ihm verbundenen Fragen der Gerechtigkeit und der Freiheit nicht mehr offen stellen und aushandeln zu müssen.
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lich dazu, dass „die Verschwendung den Vorrang [gewinnt]“43. Diesen Übergang gilt es zu gestalten. Das ist das Problem. Und dafür muss eine Perspektive auf die allgemeine Ökonomie wiedergewonnen werden, in der Verschwendung nicht länger geächtet ist, sondern im Gegenteil Gegenstand einer angstfreien Aushandlung zwischen den unterschiedlichen Wertmaßen der allgemeinen Ökonomie. Dann kann auch eine Politik der Schuldenschnitte, des Grundeinkommens oder der Transfers ohne Gegenleistung, das heißt des Schenkens und Vergeudens als andere Form des Luxuskonsums wieder gleichberechtigt in den Blick rücken.44 3.3 Ökonomische Neuversammlung als demokratisches Experiment Die zwei verbleibenden Ansätze, die vor allem auf die zweite der an Tarde anschließenden Fragen (siehe Abschnitt 3.1) antworten, können zusammen nur noch kurz eingeführt werden.45 Mein Vorschlag lautet, an Modelle des Demokratischen Experimentalismus anzuknüpfen, der die Erfindungen, die in den Wertkonflikt der Ökonomie um angemessene soziale Formen der Verschwendung vermittelnd eingreifen, durch Verfahrensordnungen kollektiv zu binden und zu zivilisieren versucht. Die theoretischen Ansätze von John Dewey beziehungsweise Bruno Latour ermöglichen es, die politische Neuversammlung der Ökonomie mit experimentellen Prozeduren zu verknüpfen, die den resultierenden Erfindungen deshalb eine demokratische Qualität verleihen, weil sie den Konflikt der ökonomischen Wertordnungen oder leidenschaftlichen Interessen in einer gemeinsamen Welt aufgehen und die Nachahmungsstrahlen somit tatsächlich konvergieren lassen. Dafür muss allerdings auch das Alltagsverständnis von Demokratie umgekrempelt werden. So liegt der Ankerpunkt für die demokratische Kontrolle oder Zivilisierung der Erfindungen bei Dewey nicht in einer bestimmten Form staatlicher Institutionen, sondern im Prinzip einer Öffentlichkeit, die auf Folgeprobleme der bishe-
43 Ebd., S. 54f. 44 In der Erhöhung des Weltlebensstandards sah Bataille seinerzeit den einzig möglichen Notbehelf, um den westlichen Reichtum gefahrlos zu absorbieren: „Die allgemeine Ökonomie legt heute eine Überführung amerikanischen Reichtums nach Indien ohne Gegenleistung nahe.“ Vgl. ebd., S. 67. 45 Hierzu habe ich mich an anderen Stellen ausführlicher geäußert: J. Lamla: Verbraucherdemokratie, S. 84-118; Lamla, Jörn: „Arenen des demokratischen Experimentalismus. Zur Konvergenz von nordamerikanischem und französischem Pragmatismus“, in: Berliner Journal für Soziologie 23 (2013), S. 345-365.
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rigen gesellschaftlichen Ökonomie reagiert und diese kritisch beleuchtet. Als Ort der Reflexion, der die Laboratorien für für Neuausrichtungen in der Ökonomie überwölbt, ist diese Öffentlichkeit weder statisch noch dauerhaft gesichert. Sie ist vielmehr „in jedem Zeitalter und an jedem Ort [...] eine andere“46 und befindet sich heute in einem besorgniserregenden Zustand: „Das Maschinenzeitalter hat […] das Ausmaß der indirekten Folgen so gewaltig erweitert, vervielfacht, gesteigert und verkompliziert, es hat – mehr auf einer unpersönlichen denn einer gemeinschaftlichen Basis – solche ungeheuren und kompakten Handlungseinheiten geformt, daß die resultierende Öffentlichkeit sich nicht identifizieren und erkennen kann. Und diese Entdeckung ist ihrerseits offenbar eine Vorbedingung jeglicher wirksamen Organisation.“47
Gleichwohl steckt Dewey nicht auf, sondern hält an der Idee fest, experimentelle Lösungen und Erfindungen für Probleme, die etwa der exzessive Konsum mit seinen weitreichenden globalen Nebenfolgen erzeugt, an einen gemeinschaftsbildenden intellektuellen Explorationsprozess zu binden, der nicht durch Ängste der Betroffenen blockiert wird, sondern Verunsicherungen produktiv macht, um schrittweise, wie in einem Prozess der Forschung, zu konvergierenden Problemsichten und Regulierungen zu gelangen. Diesen kollektiven Such-, Lern- und Neuanpassungsprozess fokussiert auch die zweite Theorie des Demokratischen Experimentalismus, nämlich Bruno Latours Schrift über die politische Neuversammlung von Kollektiven.48 Er knüpft also nicht nur in konstruktiver Weise an die Ökonomie der leidenschaftlichen Interessen von Tarde an, wenn er daran einen Modus der kollektiven Versammlung und Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens freilegt, der mit moralischen Fragen nach den zentralen Werten und Werthierarchien der modernen Existenzweise einerseits eng verknüpft ist, andererseits die Erfahrung dieser Zusammenhänge durch eindimensionale Ökonomisierung gleichwohl zu verstellen droht.49 Vielmehr hat er mit seinem Buch zum Parlament der Dinge auch einen Weg aufgezeigt, wie sich solche Blockaden durch Verfahren der schrittweisen Neuversammlung auflösen ließen, wobei die Methoden, die dabei zum Tra-
46 Dewey, John: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim 1996, S. 41. 47 Ebd., S. 112. 48 Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M. 2010. 49 Vgl. Latour, Bruno: An Inquiry into Modes of Existence. An Anthropology of the Moderns, Cambridge/London 2013, S. 413-474.
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gen kommen sollen, sehr an das experimentalistische Demokratieverständnis von Dewey erinnern. Zusammengenommen lösen diese Ansätze die Fesseln der Moderne, sodass die Endlichkeit darin anders erfahren und neu in Handlungsprogrammen verankert werden könnte. Wenn Latour also schreibt, dass wir im Grunde „nie modern gewesen“ sind, meint er damit auch, dass Auseinandersetzungen mit existentiellen Problemen der Endlichkeit oder der unproduktiven Verausgabung, mit denen sich scheinbar nur die gemeinhin als „vormodern“ bezeichneten Gesellschaften beschäftigt haben, niemals verschwunden, sondern eher immer wichtiger geworden sind.50 Wir sind nur unfähig geworden, den Umgang damit zu sehen, öffentlich zu reflektieren und demokratisch zu regulieren. Dies gilt es erst wieder zu lernen.
50 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008.
Endlichkeit sozialer Konfiguration
Das Ende der Bilder im Horizont antiker Interessenlagen, Wahrnehmungsbedingungen und Handlungszusammenhänge. Eine Skizze für den griechischen Kontext∗ A NNETTE H AUG
Bilder oszillieren zwischen dem Anspruch auf dauerhafte Wirkung (Unendlichkeit) und einer zeitlich begrenzten Existenz (Endlichkeit).1 In diesem Spannungsfeld bewegen sich das Interesse an Bildern, die Wahrnehmung von Bildern und das Handeln mit Bildern. Die Bedeutungen eines Bildes sind aber nicht stabil, sondern konstituieren sich im Horizont verschiedener Handlungszusammenhänge jeweils neu. Im Verlauf seiner Biographie, von seiner Entstehung bis zu seiner Zerstörung, sind somit sehr vielfältige Sinnzuschreibungen möglich,2 verändert sich doch im Laufe ∗
Eine kritische Durchsicht des Manuskripts und die Diskussion einzelner Aspekte verdanke ich Konrad Hitzl, Andreas Hoffmann, Philipp Kobusch, Inga Quandel und Markus Tauschek.
1
Der Stifter einer spätklassischen Statue bezeichnet sein Votiv für den Bruder als „unsterbliche Erinnerung an einen sterblichen Körper“. IG II/III² 3838, Übersetzung bei Krumeich, Ralf: „Denkmäler für die Ewigkeit? Zum Fortbestehen kollektiver und individueller Erinnerung bei wiederverwendeten Statuen auf der Athener Akropolis“, in: Leypold, Christina/ Mohr, Martin/ Russenberger, Christian (Hg.), Weiter- und Wiederverwendungen von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern. Tagung am Archäologischen Institut der Universität Zürich 21./22. Januar 2011, Rahden 2014, S. 71-86, bes. S. 72.
2
Vgl. Kopytoff, Igor: „The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process“, in: Appardurai, Arjun (Hg.), The Social Life of Things, Cambridge 1986, S. 64-
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dieses „Lebens“ der soziale Ort eines Bildes, seine räumliche Umgebung, die diskursiven Kontexte, in die es eingebunden ist, sein Publikum und die Modi, mit dem Bild umzugehen.3 Bilder inkorporieren damit immer auch ihre eigene Geschichte: Bisherige Sinnzuschreibungen sind im kulturellen Gedächtnis verankert, bisweilen sind sie sogar als Spuren in die Objekte selbst eingeschrieben.4 Zugleich besitzen Bilder aber ihrerseits eine Wirkmacht, zwingen sie doch, wie Objekte überhaupt, dem menschlichen Akteur spezifische Wahrnehmungsformen und Handlungsmöglichkeiten auf. Durch ihre Ikonizität besitzen Bilder im Vergleich mit Objekten überhaupt nun aber eine gesteigerte Form von Präsenz und einen dichteren „Eigensinn“, der in das situativ erzeugte Bedeutungsgeflecht hineinwirkt.5
91; Gosden, Chris/Marshall, Yvonne: „The Cultural Biography of Object“, in: World Archaeology 31.2 (1999), S. 169-178; Joy, Jody: „Reinvigorating Object Biography: Reproducing the Drama of Object Lives“, in: World Archaeology 41.4 (2009), S. 540556; vgl. auch Prinz, Sophia/Moebius, Stephan: „Zur Kultursoziologie des Designs“, in: Dies. (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld 2012, S. 9-25. 3
Diese Kategorien als Objektgeschichte entwickelt bei Pomian, Krzysztof: Der Ur-
4
Vgl. Haug, Annette: „Constituting the Past, Forming the Present. The Role of Material
sprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 2013, bes. S. 79-83. Culture in the Augustan Period“, in: Journal of the History of Collections 13.2 (2001), S. 111-123; Grethlein, Jonas: „Memory and Material Objects in the Iliad and the Odyssee“, in: Journal of Hellenic Studies 128 (2008), S. 27-51; Hartmann, Andreas: Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften, Berlin 2010. 5
Mit diesem Terminus beschreibt Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2014, bes. S. 46 f., unter Rückgriff auf Bruno Latour, dass Dinge immer mehr sind als das Wissen, das die Menschen über sie haben, Nichtgewusstes inkorpieren. Zur Frage der Agency und Wirkmacht von Dingen: Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003; mit Literatur: Bielfeldt, Ruth: „Gegenwart und Vergegenwärtigung: dynamische Dinge im Ausgang von Homer“, in: Dies. (Hg.), Ding und Mensch in der Antike. Gegenwart und Vergegenwärtigung, Heidelberg 2014, S. 15-47. Für Bilder werden entsprechende Fragestellungen unter dem Paradigma eines iconic oder pictorial turn verhandelt; vgl. Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the Theory and History of Response, Chicago 1990; Gell, Alfred: Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998; Mitchell, William J.T.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008; Bredekamp, Horst: Theorie des Bildaktes, Berlin 2010; Osborne,
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Die beiden Seiten der Bildlichkeit wurden und werden vielfach gegeneinander ausgespielt. Produktiver ist es, wie mir scheint, die Wirklichkeit des Bildes gerade in dieser Spannung zwischen der ihm eigenen Macht (agency) und den Handhabungen und Zuschreibungen, die es erfährt, anzusiedeln.6 Wenn im Folgenden die Perspektive auf spezifische Formen des Umgangs mit Bildern verengt wird, nämlich auf Strategien des Verbergens, des Entführens, der Verstümmelung und der Auslöschung von Bildern, so deshalb, weil gerade im destruktiven Umgang mit Bildern ihre Macht ganz unmittelbar greifbar wird. In der Interaktion von Menschen und Bildern wird nun aber nicht nur die Bedeutung der Bilder hervorgebracht, vielmehr ist die Dinglichkeit eine zentrale Dimension menschlicher Beziehungen schlechthin.7 Dies gilt insbesondere für Bilder, die ihren Ort im öffentlichen Raum haben. Im Umgang mit solchen „kollektiven“ Bildern manifestiert sich ein Aushandlungsprozess sozialer Ordnungen.8 Ihr „Ende“ bespiegelt somit immer auch die Fragilität und Wandelbarkeit sozialer Figurationen.
1.
V ERBERGEN UND Z EIGEN VON B ILDERN : DIE K ONTROLLE DER S ICHTBARKEIT
Die Sichtbarkeit des Bildes ist die Voraussetzung für jede Form der sozial einflussreichen Bildwirkung. Ob Bilder aber permanent zugänglich, den Blicken aller gesellschaftlicher Akteure ausgesetzt sind, ob sie nur gelegentlich gezeigt,
Robin/Tanner, Jeremy: „Introduction: Art and Agency and Art History“, in: Dies. (Hg.), Art’s Agency and Art History, Oxford 2007, S. 1-27. 6
Zur Frage der Bedeutungskonstitution von Symbolen zwischen objekteigener Signifikanz und durch Handlungen hergestellten Bedeutungszuschreibungen Graves-Brown, Paul M.: „Fearful Symmetry“, in: World Archaeology 27.1 (1995), S. 88-99; siehe S. 92: „meaning is not implanted in the objects alone: no artefact has meaning in and on itself […]. But at the same time meaning is not simply something we ‘read into’ the world out of a representation in our head. Rather, it is something that exists in the relationship between actors and their material context.“
7
Zur Reziprozität der Objekt-Akteur-Beziehungen Latour, Bruno: „On Actor-Network Theory. A Few Clarifications“, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369-381; in Bezug auf Objektbiographien, siehe H.P. Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung, bes. S. 45.
8
Dinge und Objekte stehen unterschiedlichen, auch ihrer ursprünglichen Bestimmung zuwider laufenden Behandlungen offen und besitzen darin ein subversives Potential; vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988, bes. S. 79-84.
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dann aber wieder verborgen werden, ob sie in Räumen verfügbar sind, die nur spezifischen sozialen Gruppen offenstehen, oder den Blicken ganz entzogen sind, hängt von ihrer kulturellen Einbettung ab. Die Wirkmacht des Bildlichen lässt sich allerdings dann ganz dezidiert greifen, wenn Bilder verborgen werden, um sie zu bestimmten Anlässen umso effektvoller inszenieren zu können. Verborgene Bilder sind in ihrem sozialen Status prekär: Sie sind nicht sichtbar, der Erfahrung entzogen, und doch weiß man um sie. Sie sind anwesend-abwesend. Zeigen und Verbergen von Bildern bedeutet folglich eine Kontrolle ihrer Wirkmacht. Besonders gut ist die Überlieferungslage für einen solchen Umgang mit Bildern im Bereich des Kults. Bilder, die für den Kult eine wichtige Rolle spielten, waren häufig nicht immer und auch nicht für alle sichtbar.9 Der Zugang zum Kultbild ist allerdings von besonderer religiöser, mithin auch sozialer Relevanz: Vor das Kultbild treten zu können, erlaubt eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit der Gottheit.10 In der Ilias (Hom. Il. 6, 297) öffnet Theano den Troerinnen den Tempel der Athena, sodass diese der Gottheit ihr Anliegen vortragen können. Die Präsenz vor dem Kultbild erhöht die Chancen auf Gehör „an höchster Stelle“. Die Zugänglichkeit zum Tempel und die Sichtbarkeit des Götterbildes werden so zu sozialen Machtfaktoren. Wer nun aber temporär oder dauerhaft Zugang zum Tempel hatte, dürfte sich von Kult zu Kult unterschieden haben.
9
Eine Analyse der Kultbildschranken bei Mattern, Thorsten: „Griechische Kultbildschranken“, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 122 (2007), S. 139-159; erneut Mylonopoulos, Joannis: „Divine Images behind Bars. The Semantics of Barriers in Greek Temples“, in: Matthew Haysom/Jenny Wallensten (Hg.), Current Approaches to Religion in Ancient Greece. Papers Presented at a Symposium at the Swedish Institute at Athens, 17-19 April 2008, Stockholm 2011, S. 269-291; zur Tempelinnenraumgestaltung allgemein Mattern, Thorsten: „Architektur und Ritual. Architektur als funktionaler Rahmen antiker Kultpraxis“, in: Joannis Mylonopoulos/Hubert Roeder (Hg.), Archäologie und Ritual. Auf der Suche nach der rituellen Handlung in den Kulturen Ägyptens und Griechenlands, Wien 2006, S. 167-183, bes. 175f.; zum Kultbild jüngst Eich, Peter: Gottesbild und Wahrnehmung. Studien zu Ambivalenzen früher griechischer Götterdarstellungen (ca. 800 v. Chr. bis ca. 400 v. Chr.), Stuttgart 2011.
10 Quellen zusammengestellt bei Scheer, Tanja S.: Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik, München 2000, S. 66-77; der Kontaktaufnahme mit dem Bild liegt die Vorstellung zugrunde, die Gottheit sei zumindest temporär in ihrem Bild anwesend; siehe Ebd. S. 21-23, 120129.
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Herodot berichtet von einer Amme, die das ihr anvertraute, hässliche Kind täglich vor das Götterbild der Helena in Sparta legte, damit es ihm Schönheit verliehe (Hdt. 6,61) – offenkundig war das Kultbild durchgängig zugänglich. In anderen Fällen wird man von einem sehr viel stärker reglementierten Zugang zum Tempel, und damit auch zum Kultbild, ausgehen. Dafür sprechen Quellen, die eigens darauf hinweisen, Tempel seien an Festtagen geöffnet gewesen.11 Nur im Ausnahmefall wird allerdings der Zugang zum Tempelinneren der Priesterschaft vorbehalten gewesen sein.12 Besonders prägnant sind solche Formen der Steuerung von Zugänglichkeit und Sichtbarkeit für das Mysterien-Heiligtum der Despoina in Lykosura bei Megalopolis zu greifen.13 Der hexastyle dorische Tempel (Abb. 1) befindet sich auf einer langgestreckten Terrasse und ist nach Osten auf den Altarplatz hin orientiert. Die erste Bauphase des Tempels ist jüngst mit guten Gründen in das erste Drittel des 3. Jhs. v. Chr. datiert worden.14 Das Innere war vom Pronaos aus über eine Schwelle zu betreten, die Einlassungen für zwei Türen – eine auf Seiten des Pronaos, eine auf Seiten des Naos – besaß. Ob diese gleichzeitig in Funktion waren und die Π-förmigen Einlassungen auf Seiten des Pronaos etwa für ein Gitter dienten oder ob diese unterschiedlichen Phasen angehörten, ist unklar. Für die Frage der Inszenierung des Kultbildes wird dies noch eine Rolle spielen. Eine zweite (nachträglich nochmals veränderte) Tür befand sich auf der Südseite des Tempels – sie führte direkt in den Naos. Das Tempelinnere selbst wird von einer Steinlage untergliedert in einen vorderen, mit einem Mosaik des 3. Jhs.15 pavimentierten Bereich und einen hinteren, gepflasterten Bereich mit der Kultbildbasis. Die im Befund erhaltene Trennmauer ist jüngeren, erst hadrianischen Da-
11 Vgl. Hom. Il. 6, 297; ähnlich Aristoph. Nub. 306; vgl. T.S. Scheer: Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik, S. 62. 12 So nach dem Zeugnis des Pausanias (II 10, 4) im Falle des Heiligtums der Aphrodite von Sikyon. Da diese Form des Zugangs eigens erwähnt wird, hält Tanja Scheer sie für einen Sonderfall – T.S. Scheer: Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik, bes. S. 68. 13 Siehe jüngst Billot, Marie-Françoise: „Le temple de Despoina“, in: Ktema 33 (2008), S. 135-180; weiterhin: Damaskos, Dimitris: Untersuchungen zu hellenistischen Kultbildern, Stuttgart 1999, S. 58-70; Faulstich, Elisabeth I.: Hellenistische Kultstatuen und ihre Vorbilder, Frankfurt 1997, bes. S. 163-168. 14 M.-F. Billot: Le temple de Despoina, S. 135-180. 15 Vgl. Guimier-Sorbets, Anne-Marie/Panagiotopoulou, Anastasia: „La Mosaique du temple de Despoina à Lykosura“, in: Ktema 33 (2008), S. 191-200.
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tums und Ergebnis einer jüngeren Umgestaltung, sie dürfte aber auf eine ältere Cella-Gliederung rekurrieren. Zumindest für diese späte, kaiserzeitliche Trennmauer lässt sich sagen, dass sie als Abschrankung fungiert hat: Dübellöcher auf den Oberseiten der verlegten Quader lassen erkennen, dass die Quaderlage ein Gitter getragen hat.
Abb. 1: Grundriss, Tempel der Despoina, Lykosura, aus: Schraudolph, Ellen: „Beispiele hellenistischer Plastik der Zeit zwischen 190 und 160 v. Chr.“, in: Bol, Peter C. (Hg.), Hellenistische Plastik (= Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst, Band 3), Mainz 2007, S. 192, Abb. 71.
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Hinter der Abschrankung war auf einer breiten Basis die Kultbildgruppe aufgestellt, die Pausanias (VIII 37, 2-5) ausführlich beschreibt: „Von den Statuen ist jede etwa so groß wie die Statue der Göttermutter in Athen; auch diese sind Werke des Damophon. Demeter hält eine Fackel in der Rechten, die andere Hand hat sie auf Despoina gelegt. Despoina hält ein Szepter und die sogenannte Kiste auf den Knien, die sie mit der Rechten hält. Auf der einen Seite des Throns steht Artemis neben Demeter mit einem Hirschfell bekleidet und einem Köcher auf der Schulter und hält in der einen Hand eine Fackel, in der anderen zwei Schlangen. Neben Artemis liegt ein Hund, wie sie zum Jagen geeignet sind. Bei dem Bild der Despoina steht Anytos in der Gestalt eines Vollbewaffneten; die Leute beim Heiligtum erzählen, Despoina sei von Anytos aufgezogen worden und auch Anytos sei einer der sogenannten Titanen […].“16
Mit dieser Beschreibung wird es möglich, die aufgefundenen Statuenfragmente zu benennen. Ein unverschleierter weiblicher Kopf mit Melonenfrisur ist als Artemis anzusprechen, ein verschleierter weiblicher Kopf als Demeter, ein bärtiger männlicher Kopf als Anytos. Darüber hinaus fanden sich Reste verschiedener Körperteile, insbesondere Gewandfragmente, sowie Reste eines Throns (zur Rekonstruktion vgl. Abb. 2).17 Ein neuer epigraphischer Befund sowie eine neuerliche stilistische Diskussion des Statuenmaterials haben jüngst zur Datierung der Kultbilder in die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts geführt.18 Diese Neudatierung ist für die Beurteilung des Gesamtensembles bedeutsam, darf man nun doch mit guten Argumenten davon ausgehen, dass Architektur und Kultbilder gleichzeitig entstanden und somit auch in Bezug aufeinander konzipiert worden sind.
16 Pausanias: Beschreibung Griechenlands, übersetzt von Ernst Meyer, Zürich 1954; zum Wirken des Bildhauers Damophon: Themelis, Petros: „Damophon von Messene – sein Werk im Lichte der neuen Ausgrabungen“, in: Antike Kunst 36 (1993), S. 24-40. 17 Die Skulpturen waren (entgegen der Überlieferung bei Pausanias) aus verdübelten Teilen zusammengesetzt, die Köpfe nur auf der Schauseite voll ausgearbeitet; siehe mit älterer Literatur: Schraudolph, Ellen: „Beispiele hellenistischer Plastik der Zeit zwischen 190 und 160 v. Chr.“, in: Bol, Peter C. (Hg.), Hellenistische Plastik (= Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst, Band 3), Mainz 2007, S. 189-239, bes. S. 190197; Marcadé, Jean: „À propos du groupe cultuel de Lykosoura“, in: Ktema 33 (2008), S. 111-116; zur Kultbildbasis: Schmidt, Inga: Hellenistische Statuenbasen, Frankfurt a.M. 1995, S. 92f. 18 Schraudolph, Ellen: Beispiele hellenistischer Plastik der Zeit zwischen 190 und 160 v. Chr., S. 190-197; Marcadé, J.: À propos du groupe cultuel de Lykosoura, S. 111-116.
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Abb. 2: Rekonstruktion der Kultbildgruppe von Lykosura, aus: Schraudolph, E.: „Beispiele hellenistischer Plastik der Zeit zwischen 190 und 160 v. Chr.“, S. 192, Abb. 72.
Für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam ist der Umstand, dass Pausanias (VII 37, 7) auch einen Hinweis auf die Inszenierung der Bilder gibt: „Rechts, wenn man zum Tempel hinausgeht, ist ein Spiegel an der Wand angebracht; sieht man in den Spiegel hinein, sieht man sich selber entweder ganz undeutlich oder überhaupt nicht, die Statuen der Göttinnen aber sowie den Thron kann man deutlich sehen.“19 Auf der Grundlage der zusammengestellten Befunde, Funde und Quellen lässt sich der Modus der Kultbildinszenierung näher charakterisieren. Die Kultbilder befanden sich im dunklen Inneren des Tempels, der Tempel fungierte als Kultbildschrein. Licht konnte durch die zentrale Tür einfallen, die aber möglicherweise sogar mehrfach verschließbar war, also unterschiedliche Präsentationsmodi erlaubte. Eine weitere Tür auf der Südseite mag nicht nur einen zusätzlichen Zugang erlaubt, sondern auch eine zusätzliche Möglichkeit zur Steuerung des Lichteinfalls geboten haben. Bei dem betrachteten Tempel handelt es sich also um einen Kultbildschrein, in dem die Kultbilder durch Beleuchtung und Modi des Verschließens gezielt inszeniert wurden.
19 Meyer, E.: Beschreibung Griechenlands.
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In der Cella selbst waren die Kultbilder nun aber vermutlich schon ursprünglich durch ein zusätzliches Gitter abgeschrankt. Thorsten Mattern deutet solche Gitter sicher zu Recht als Schutz, aber auch als Form der „Bedeutungssteigerung“ des Kultbildes. Durch ihr Vorhandensein würden sie das Berühren und Schmücken des Kultbildes, wie es im Rahmen privater Kulthandlungen angestrebt worden sein könnte, unterbunden haben.20 Diese Überlegungen könnten darauf schließen lassen, dass in Lykosura die besonders prunkvollen Kultbilder zumindest temporär zugänglich waren. Da es sich vermutlich um ein Mysterienheiligtum gehandelt hat, erklärt sich die Reglementierung des Zugangs vielleicht ganz direkt als kultische Notwendigkeit.21 Mit der Inszenierung von Kultbildern steht aber letztlich die Frage nach dem Umgang mit Bildern überhaupt zur Diskussion. Einen geradezu skurrilen Sonderfall schildert Vitruv (II 8, 14-15): Die Karierin Artemisia II. (Regentin von 353-350 v. Chr.) hatte nach einem Sieg über die Rhodier in urbe Rhodo als Siegeszeichen eine Statue der Stadt Rhodos sowie eine Statue von sich selbst aufstellen lassen. Um diese Schmach nicht länger ertragen zu müssen, verbargen die Rhodier die Statuengruppe in einem eigens dafür errichteten, unzugänglichen Gebäude (aedificium). Die Beschränkung der Sichtbarkeit wird hier genutzt, um das Bild aus den Augen und dem Sinn zu verbannen und ihm seine politische Brisanz zu nehmen. Die Beispiele vermögen bei aller Unterschiedlichkeit deutlich zu machen, dass die Kontrolle der Sichtbarkeit von Bildern, d. h. eine Steuerung der Wahrnehmungsbedingungen, sozial signifikant ist. Die Begrenzung der Sichtbarkeit kann dabei genutzt werden, um die Bedeutung des Bildes im Moment seiner Epiphanie noch einmal zu steigern, sie kann, wie im Falle der rhodischen Statuengruppe, die soziale Wirksamkeit des Bildes aber auch beschneiden.
20 Vgl. Mattern, Thorsten.: Architektur und Ritual. Architektur als funktionaler Rahmen antiker Kultpraxis, bes. S. 175f.; Mattern, Thorsten: Griechische Kultbildschranken, bes. S. 154f. 21 Zur Deutung als Mysterienkult siehe Frateantonio, Christa: Religion und Städtekonkurrenz, Berlin 2009, bes. S. 92f.
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Eine Kehrseite der kulturellen Bedeutung von Bildern ist ihre gewaltsame Aneignung. Einflussreiche Bilder sind gefährdete Bilder. Die Versetzung bzw. der Raub von Bildern und Statuen ist daher ein zentrales Phänomen der antiken Bildkultur. Wird eine Stadt zerstört, so sind vielfach auch ihre Bilder betroffen – sei es, dass die fliehende Bevölkerung sie mitführt oder die neuen Machthaber sie rauben. Die Frage der Verfügbarkeit von Bildern wird zu einer Frage der Macht. Ausgesprochen gut beforscht ist in diesem Zusammenhang die Gruppe der Tyrannentöter.22 Im Jahr 514 v. Chr. gelang den beiden Adligen Harmodios und Aristogeiton die Ermordung des Tyrannen Hipparchos. Wenige Jahre später, 510 v. Chr., konnte dessen Bruder Hippias aus Athen vertrieben werden. Der Tyrannenmord wurde zum Auftakt der neuen, demokratischen Ära stilisiert, wohl schon bald nach 510 v. Chr. wurde zu Ehren der beiden Tyrannentöter eine heute verlorene, bronzene Statuengruppe aufgestellt. Pausanias (I 8,5) überliefert, dass mit diesem Werk Antenor, einer der führenden Bildhauer der Stadt, beauftragt worden ist. Dabei hat es sich wohl um eine Ehrung gehandelt, die von der Volksversammlung oder dem Rat beschlossen worden war:23 Die Tyrannentöter sollten den Bürgern der Stadt als exemplarische Handlungsträger für die Bewahrung der Demokratie vor Augen gestellt werden. Folgerichtig fand diese erste statuarische Ehrung Athens nicht in einem Heiligtum, sondern im politischen Zentrum der Stadt, auf der Athener Agora, ihre Aufstellung.
22 Eine erneute Diskussion von Schriftquellen und Befund bei Bumke, Helga: Statuarische Gruppen in der frühen griechischen Kunst, Berlin 2004, S. 131-145; Hölscher, Fernande: „Die Tyrannenmörder. Ein Denkmal der Demokratie“, in: SteinHölkeskamp, Elke/ Hölkeskamp, Karl-Joachim (Hg.), Erinnerungsorte der Antike. Die griechische Welt, München 2010, S. 244-258, mit älterer Literatur. 23 Aristid. rhet. A 9 p. 1368 a und Plin. nat. 34,17 bezeugen, dass es sich bei den Tyrannentötern um die früheste „öffentliche“, statuarische Ehrung „auf Staatskosten“ gehandelt hat. Demosthenes geht in seiner Rede gegen Leptines (XX, 70) auf den Umstand ein, dass Konon im Jahre 394 v. Chr. nach seinem Seesieg als erstem nach den Tyrannentötern eine öffentliche Bildnisstatue aufgestellt worden sei. Dies bezeichnet einerseits den öffentlichen Charakter der Tyrannentöterehrung, andererseits die Exklusivität dieser Ehrung; siehe dazu Gauer, Werner: „Die griechischen Bildnisse der klassischen Zeit“, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 83 (1968), S. 118-179, bes. S. 118-120.
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Als die Perser die Stadt 480/479 v. Chr. plünderten, raubten sie dieses für das städtische Selbstverständnis ausgesprochen bedeutende Monument.24 Die Athener reagierten auf den schmerzlichen Verlust, indem sie bei den Bildhauern Kritios und Nesiotes eine Ersatzgruppe in Auftrag gaben (Abb. 3). Auch diese Gruppe ist uns nicht im Original, immerhin aber in späteren Kopien erhalten. Dass sie ebenfalls auf der Agora aufgestellt war, bezeugen neben Schriftquellen zwei Fragmente eines Basisblocks mit Weihinschrift.25 Dieses neue Monument erlangte schnell große Popularität und wurde in verschiedenen Gattungen kopiert. Doch noch immer ist die Geschichte der Tyrannentöter nicht zu Ende. Verschiedene Schriftquellen überliefern, dass die erste, von den Persern geraubte Gruppe zurückgebracht wurde. Wem diese Großtat zuzuschreiben ist – ob Alexander, Seleukos oder Antiochos – überliefern die Quellen widersprüchlich.26 Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, dass das alte Monument für die städtische Identität Athens derart bedeutsam war, dass späte Quellen über eine Rückführung der ersten Gruppe berichten. Am Beispiel der Tyrannentötergruppe lässt sich somit prägnant fassen, wie über den Besitz prominenter Bilder machtpolitische Aussagen getroffen wurden. Im Rahmen der Perserkriege sind von den Persern aber auch einige griechische Götterbilder verschleppt worden. Dadurch wurden die Griechen nicht nur des göttlichen Schutzes, sondern auch besonders prominenter Bildwerke beraubt.27 Bei Pausanias (VIII 46, 3) wird der Raub von Bildobjekten als Strafe für den Unterlegenen erklärt, mithin also als Recht des Siegers deklariert. Die Perser scheinen die Verschleppung von Bildern, soweit uns die Quellen und die archäologi-
24 Zu den Quellen vgl. Brunnsåker, Sture: The Tyrant Slayers of Kritios and Nesiotes. A Critical Study of the Sources and Restorations, Lund 1971. 25 Vgl. Athen, Agora I 3872; rekonstruiert auf der Basis eines von Hephaistion überlieferten Distichon des Simonides: „Ja, ein großes Licht erstrahlte für die Athener, als Aristogeiton/und Harmodios den Hipparchos töteten/[…] die beiden haben dem Vaterland die Freiheit gebracht“. Text, Übersetzung und Kommentar bei Petrovic, Andrej: Kommentar zu den simonideischen Versinschriften, Leiden 2007, S. 113-131. 26 Vgl. Alexander der Große: Plin. nat. 34, 70; Arr. an. III 16, 7-8; VII 19, 2; Seleukos: Val. Max. II 10, Ext. 1; Antiochos: Paus. I 8, 5; S. Brunnsåker, Tyrant Slayers, S. 44 f. 27 In der Forschung wird bisweilen diskutiert, welcher der Aspekte im Vordergrund gestanden hat. Volker Michael Strocka vermutet, dass es beim Raub dieser Kultbilder nicht um ihre ästhetische Qualität oder ihr kostbares Material, sondern um ihre „numinose Macht“ gegangen sei. Strocka, Volker Michael: „Kunstraub in der Antike“, in: Ders. (Hg.), Kunstraub – ein Siegerrecht? Historische Fälle und juristische Einwände, Berlin 1999, S. 9-25.
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schen Relikte Auskunft geben, auf wenige, besonders spektakuläre Werke beschränkt zu haben.28
Abb. 3: Tyrannentöter-Gruppe, kurz nach 480 v. Chr.: der bärtige Aristogeiton und der bartlose Harmodios, beide in virilem Kampfhabitus, aus: Photothek, Kiel.
28 Siehe zur Beutekunst allgemein: Ebd. S. 10; Pape, Magrit: Griechische Kunstwerke aus Kriegsbeute und ihre öffentliche Aufstellung in Rom, Hamburg 1975; Waurick, Götz: „Kunstraub der Römer. Untersuchungen zu seinen Anfängen anhand der Inschriften“, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 22 (1975), S. 1-46; Strocka, Volker Michael: „Der Apollon des Kanachos in Didyma und der Beginn des Strengen Stils“, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 117 (2002), S. 81-125.
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Im Hellenismus scheint die Praxis des Bilderraubs aber immer weiterreichende Züge anzunehmen. Polybios und Diodor berichten von einer Verwüstung der Heiligtümer Pergamons durch den bithynischen König Prusias II. im Jahr 155 v. Chr.29 Prusias habe zunächst im Asklepieion geopfert, am nächsten Tag jedoch das Nikephorion verwüstet, alle Tempel geplündert und die Statuen entführt – und zwar sowohl die Statuen von Menschen (ἀνδριάντες) als auch die marmornen Götterbilder (λίθινα τῶν ἀγαλμάτων). Schließlich habe er auch das Agalma des Asklepios, vor dem er noch tags zuvor geopfert habe, in seine Heimatstadt entführt. Mag man den Raub der Asklepiosstatue auf kultische Gründe zurückführen, so wird dies auf die anderen Bildwerke kaum zugetroffen haben: Hier ging es offenbar um den Besitz der Bildwerke. Schon wenig später allerdings wurde eine Kultstatue Attalos III. im Naos neben jener des Asklepios aufgestellt.30 Entweder hatte man die ursprüngliche Kultstatue zurückerhalten oder bereits für Ersatz gesorgt. Eine ganz neue Dimension des Bilderraubs ist für die erstarkende Großmacht Rom zu greifen. Römische Feldherrn, später auch Kunsthändler, verschleppten eine derart große Zahl an Bildwerken aus Griechenland, dass die materielle Kultur Italiens dadurch eine tiefgreifende ästhetische Veränderung erfahren hat.31 Neuere Studien vermochten plausibel zu machen, dass die in Griechenland erbeuteten Werke in Rom nicht beliebig präsentiert, sondern dort aufgestellt wur-
29 Pol. XXXII 27, 1-5; vgl. auch Diod. XXXI 35; zum historischen Kontext: Zimmermann, Martin: Pergamon. Geschichte, Kultur, Archäologie, München 2011, S. 50; die Quellen kommentiert und interpretiert bei Damaskos, D.: Untersuchungen zu hellenistischen Kultbildern, S. 133f. 30 Vgl. Fränkel, Max: Die Inschriften von Pergamon, Berlin 1890, Nr. 246; vgl. Hopp, Joachim: Untersuchungen zur Geschichte der letzten Attaliden, München 1977, S. 111f.; Kotsidu, Haritini: Time kai doxa. Ehrungen für hellenistische Herrscher im griechischen Mutterland und in Kleinasien unter besonderer Berücksichtigung der archäologischen Denkmäler, Berlin 2000, Nr. 222, S. 319-322. 31 Die Realität einer solchen Praxis belegen einige Schiffswracks aus dem Mittelmeer. Die gesunkenen Schiffe hatten bisweilen eine prominente Ladung an Bord. Dies gilt für das Schiff, das bei Antikythera um 70/60 v. Chr. gesunken sein dürfte und zahlreiche Skulpturen an Bord hatte – Bol, Peter C.: Die Skulpturen des Schiffsfundes von Antikythera, Berlin 1972; siehe insbesondere aber die Ladung des Schiffes von Mahdia, das um 100 v. Chr. vor der tunesischen Küste gesunken ist – HellenkemperSalies, Gisela (Hg.): Das Wrack. Der antike Schiffsfund von Mahdia. Ausstellungskatalog Bonn, Köln 1994.
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den, wo sie für den neuen Aufstellungskontext als passend gelten konnten.32 Zugleich vermochten sie den Ruhm ihrer Stifter effektvoll in Szene zu setzen. Griechische Bildwerke wurden so zur materiellen Grundlage einer tiefgreifenden Hellenisierung der Kapitale Rom. So unterschiedlich die historischen Zusammenhänge des Bildraubes sind, sie zeichnen sich durch konkurrierende Interessen an Bildern aus. Mit der gewaltsamen Aneignung geht fast durchgängig einher, dass den Bildern im neuen Aufstellungskontext neue Bedeutungen zugeschrieben werden, ohne dass allerdings alte Bedeutungszusammenhänge völlig getilgt wurden. Die Bilder gewinnen gerade durch ihre palimpsestartige Bedeutungsstruktur besondere soziale Relevanz.
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Die Überlegungen zum Raub von Bildern weisen auf eine weitere Kategorie im Umgang mit Bildern hin: ihre Umarbeitung.33 Das Bild bleibt weiterhin in Gebrauch, ihm wird aber durch die Umarbeitung ein neuer Bildsinn zugewiesen. Eine solche Praxis der Umdeutung von Bildern hat in Griechenland eine lange Tradition. Schon für die frühhellenistische Zeit lassen sich erste Belege beibringen, dass Votivinschriften aktualisiert und die zugehörigen Bildwerke dadurch mit neuem Sinn aufgeladen werden. Bezeichnend ist etwa eine Statuenbasis aus Thermos in Aitolien, die die Künstlersignatur des Lysippos, eines bekannten Bildhauers der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts trägt.34 Über diese Inschrift wurde nachträglich, aus historischen Gründen wohl nach 280 v. Chr., in anderer Buchstabenform eine Ehreninschrift des Aitolerbundes für Paidias Stratippos aus Herakleia gesetzt. Die Statue eines berühmten Bildhauers ist hier
32 Vgl. (mit älterer Literatur) Bravi, Alessandra: Griechische Kunstwerke im politischen Leben Roms und Konstantinopels, Berlin 2014, zu den (sich immer wieder ändernden) Wahrnehmungsformen von griechischen Werken im römischen Kontext. 33 Kurz vor Abschluss des Manuskripts ist der Kolloquiumsband Leypold, C./Mohr, M./Russenberger, C. (Hg.): Weiter- und Wiederverwendungen von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern (2014), erschienen, in dem die Mehrzahl der im Folgenden besprochenen Quellen ebenfalls z.T. ausführlich Betrachtung finden. 34 Vgl. IG IX 1,1 Nr. 52; siehe zu der Inschrift Pomptow, Hans: „Eine neue Signatur Lysipps“, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 32 (1917), S. 133-136; Blanck, Horst: Wiederverwendung alter Statuen als Ehrendenkmäler bei Griechen und Römern, Köln 1963, S. 65f. B 1.
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offenkundig nachträglich für eine ganz andere Personenehrung in Anspruch genommen worden. Diese Praxis der Umdeutung von Bildwerken scheint im späten Hellenismus, insbesondere dann in römischer Zeit, noch einmal an Bedeutung gewonnen zu haben. Ganz explizit greifbar wird diese Praxis in einem Dekret des Jahres 22 n. Chr. aus Lindos auf Rhodos, das dazu auffordert, das Recht zu versteigern, unter namenlose Statuen einen eigenen Text zu setzen.35 Dass inzwischen die Umwidmung von Statuen gängige Praxis geworden war, bezeugt im späteren 1. Jahrhundert n. Chr. Dion von Prusa, der die Unwürdigkeit einer solchen Umwidmungspraxis wortreich anprangerte.36 Sozial besonders relevant ist eine solche Umdeutung von Bildern dann, wenn einem Bildnis, das sich auf ein konkretes Individuum bezieht, die Referenz auf ein anderes Individuum eingeschrieben wird.37 Schon für die klassische Zeit ist eine solche Praxis für die griechischen Grabreliefs belegt. Nach Bernhard Schmaltz war ein Viertel der klassischen Naiskosgrabstelen des späten 5. und 4. Jahrhunderts Umarbeitungen unterworfen.38 Im Falle eines Grabreliefs in New York, MMA 06.287, ist aus der ursprünglich bärtigen Figur rechts durch Zufügung einer Chiton- und Peplostracht eine Frau geworden (Abb. 4). Mit diesem Eingriff in die formale Struktur ließ sich, so Schmaltz, ein älteres Bild an die neue familiäre Situation anpassen – etwa wenn ein weiteres Familienmitglied gestorben war. Wenn eine Familie ausgestorben war, war eine Okkupation der Bilder durch Nicht-Familienmitglieder möglich.39 Bemerkenswert ist aber auch
35 Blinkenberg, Christian: Lindos. Fouilles de l’Acropole. II Inscriptions, Berlin 1941, Nr. 419, S. 30-44. 36 Dio Chrys. 31,8-9; siehe Blanck, Horst, Wiederverwendung alter Statuen, S. 3-6; Ebd. S. 20-22, zur Entwicklung der Praxis auf der Basis von Schriftquellen. 37 In den letzten Jahren intensiv beforscht ist dieses Phänomen für Kaiserporträts, die der damnatio memoriae verfallen sind. Vgl. Varner, Eric R.: Mutilation and Transformation. Damnatio Memoriae and Roman Imperial Portraiture, Leiden 2004; Flower, Harriet I.: The art of Forgetting. Disgrace and Oblivion in Roman Political Culture, Chapel Hill 2006; Benoist, Stéphane (Hg.): Mémoire et histoire. Les procédures de condamnation dans l’antiquité romaine, Metz 2007; Benoist, Stéphane/Daguet-Gagey, Anne (Hg.): Un discours en images de la condamnation de mémoire, Metz 2008. 38 Vgl. Schmaltz, Bernhard/Salta, Maria: „Zur Weiter- und Wiederverwendung attischer Grabreliefs klassischer Zeit“, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 118 (2003), S. 49-203, zum New Yorker Beispiel S. 53. 39 Ebd. S. 137 mit Verweis auf Berlin, Inv. K 38/Sk 149, sowie Leiden, Rijksmuseum van Oudheden RO 1878: AU.
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der Umstand, dass man eine solche Praxis bei archaischen und hellenistischen Grabreliefs nur in geringem Umfang antrifft.40 Der Umgang mit Bildern am Grab hat folglich ganz unmittelbare Konsequenzen für die Memoria-Kultur innerhalb einer sozialen Konstellation.
Abb. 4: Umgearbeitetes Grabrelief in New York, MMA 06.287. Anders als etwa bei der schon als Frau konzipierten Sitzenden haben die Falten der Figur rechts, ursprünglich ein bärtiger Mann, keine plastische Qualität, aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Stele_Lysistrate_Met_06.287.jpg
40 Zu archaischen umgearbeiteten Grabreliefs siehe Schmaltz, Bernhard: „ΕΡΓΟΝ ΑΡΙΣΤΟΚΛΕΟΣ ΑΡΙΣΤΙΟΝΟΣ“ in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 120 (2005), S. 163-171, für die Aristion-Stele.
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Hat man hellenistische Grabreliefs offenbar recht selten umgearbeitet, so gewinnt die Praxis der „Umschreibung“ von Statuen im späten Hellenismus und der frühen Kaiserzeit erheblich an Bedeutung. Die ursprüngliche Inschrift auf dem Statuensockel konnte vollständig radiert werden, nicht selten blieben aber Reste der ursprünglichen Inschrift (oder auch die gesamte Inschrift) sichtbar, sodass sich regelrechte Palimpseste ergaben.41 In einigen Fällen ist sogar nachweisbar, dass im Moment der Umnutzung in graffitoartiger Schrift an den ursprünglich Dargestellten oder ursprünglich Weihenden erinnert wurde.42 Diese semantischen Verschränkungen wurden durch das statuarische Monument selbst verstärkt. Da die hellenistischen Gewandstatuen einer begrenzten Zahl an Haltungsschemata folgen, konnte auf eine visuelle „Aktualisierung“ der Statuenkörper verzichtet werden.43 Dies hatte freilich gerade in römischer Zeit zur Folge, dass in griechischen Städten wie Athen Römer mit ganz unterschiedlichen griechischen Statuenkörpern geehrt wurden. In Verbindung von (alter) Statue und (neuer) Inschrift müssen flagrant eklektische Monumente entstanden sein.44 Aus Gründen der Erhaltung nur selten nachweisbar ist der Austausch von Statuenköpfen. Da die Statuenköpfe aber gerade im Hellenismus häufig als Einsatzkopf
41 Zu beiden Modi für Athen Shear, Julia: „Reusing Statues, Rewriting Inscriptions and Bestowing Honours in Roman Athens“, in: Zahra Newby/Ruth Leader-Newby (Hg.), Art and Inscriptions in the Ancient World, Cambridge 2007, S. 221-246; R. Krumeich, Denkmäler für die Ewigkeit, S. 71-86.; für Epidauros Griesbach, Jochen: „Jede(r) ist ersetzbar? Zur Wiederverwendung von Statuenbasen im AsklepiosHeiligtum von Epidauros“, in: Leypold, C./Mohr, M./Russenberger, C. (Hg.), Weiterund Wiederverwendung von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern (2014), S. 55-69, bes. 56. 42 Ma, John: „Observations on Honorific Statues at Oropos“, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 160 (2007), S. 89-96, bes. 93-95, bespricht eine für Cn. Cornelius Lentulus zweitverwendete Basis einer Reiterstatue. Die ursprüngliche Inschrift war zwar radiert, eine graffitoartige Inschrift unterhalb der Profilleiste gibt jedoch den Namen des ursprünglichen Stifters, den Namen des Dargestellten und den Namen der empfangenden Gottheit wieder. 43 Zumindest sind an den steinernen Statuenkörpern keine Umarbeitungen beobachtet worden, vgl. Lewerentz, Annette: Stehende männliche Gewandstatuen im Hellenismus, Hamburg 1993; Eule, Cordelia: Hellenistische Bürgerinnen aus Kleinasien. Weibliche Gewandstatuen in ihrem antiken Kontext, Istanbul 2001. 44 Vgl. Krumeich, Ralf: Denkmäler für die Ewigkeit?, S. 71-86, bes. S. 76.
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gearbeitet waren, muss mit einer solchen Praxis zumindest bisweilen gerechnet werden und auch Plinius (nat. 35, 4) scheint dies zu bestätigen.45 Offenbar waren es vor allem öffentliche Institutionen, die solche Umwidmungen vornahmen und alte, meist privat aufgestellte Statuen für die Ehrung nicht selten polisfremder Personen (meist Römer) nutzten.46 Dazu mochten aus ökonomischen Gründen Statuen von ohnehin vergessenen Geehrten gewählt worden sein. Besondere Popularität dürfte die Praxis der Umwidmung aber dadurch gewonnen haben, dass Römer dadurch mittels eines griechischen „Originals“ geehrt werden konnten. In einigen Fällen lassen sich allerdings auch spezifische inhaltliche Gründe für die Umwidmung ausmachen. So wurde der Römer Iulius Nikanor, der den Athenern die Insel Salamis zurückkaufte (so Dio Chrys. 31, 116), inschriftlich als „neuer Themistokles“ gefeiert.47 Vielleicht ist dafür sogar ein Bildnis des Themistokles umgenutzt worden, überliefert doch Pausanias (I 18, 3), die im Prytaneion aufgestellten Porträts des Miltiades und des Themistokles seien durch die Veränderung der Inschrift auf einen Römer (al-
45 Allerdings ist ein positiver Beleg eines solchen Kopf-Tausches gerade bei Einsatzköpfen methodisch schwierig, da die Mehrzahl der Statuen ohnehin „kopflos“ aufgefunden wurde; als zusammengehörig werden meist nur chronologisch gleichzeitige Köpfe erkannt; siehe exemplarisch zur sog. Nikokleia aus Knidos (London, BM 1301) Ridgway, Brunilde Sismondo: Hellenistic Sculpture I: The Styles of ca. 331-200 B.C., Bristol 1990, S. 212; zu Einsatzköpfen siehe die Kataloge zu Gewandstatuen: A. Lewerentz: Stehende männliche Gewandstatuen im Hellenismus; C. Eule: Hellenistische Bürgerinnen aus Kleinasien. Weibliche Gewandstatuen in ihrem antiken Kontext. Zum Austauschen von Statuenköpfen Krumeich, Ralf: „Vor klassischem Hintergrund. Zum Phänomen der Wiederverwendung älterer Statuen auf der Athener Akropolis als Ehrenstatuen für Römer“, in: Krumeich, Ralf/ Witschel, Christian (Hg.), Die Akropolis von Athen im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, Wiesbaden 2010, S. 329-398, bes. S. 346-350. 46 Vgl. Blanck, Horst: Wiederverwendung alter Statuen; für die Akropolis mit Katalog, siehe Krumeich, Ralf: Denkmäler für die Ewigkeit? Zum Fortbestehen kollektiver und individueller Erinnerung bei wiederverwendeten Statuen auf der Athener Akropolis, S. 329-398; Ebd., S. 71-86; zu Oropos siehe J. Ma: Observations on Honorific Statues at Oropos, S. 89-96. 47 IG II/III² 3788 (aus dem Piräus); ebenso ergänzt IG II/III² 3786 (Akropolis?); 3787 (Akropolis?); 3789 (aus Eleusis); vgl. Clinton, Kevin: Eleusis. The Inscriptions on Stone. Documents of the Sanctuary of the Two Goddesses and Public Documents of the Deme I/II, Athen 2005/2008, Nr. 362.
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so Nikanor?) und einen Thraker bezogen worden.48 Sollte es sich um Nikanor gehandelt haben, so wäre seine Leistung in Wort und Bild zu jener des großen athenischen Strategen in Beziehung gesetzt worden.49 Ein solch neuer Doppelsinn ergibt sich freilich nur dann, wenn der „ursprüngliche“ Bildsinn in den neuen Bedeutungszusammenhang hineinragt. Nicht alle waren mit einer solchen Praxis aber einverstanden. Cicero wollte etwa in Athen eine Statue (monumentum) erhalten, doch er hasste gefälschte Inschriften unter fremden Statuen (ad Atticum VI 1, 26). Zu seiner Zeit war das Austauschen von Köpfen auf Statuen und das Radieren von älteren Inschriften offenkundig schon eine etablierte Praxis.50
4.
V ERLETZUNG , V ERSTÜMMELUNG , Z ERSTÖRUNG VON B ILDERN
Ein konkret greifbares Ende finden Bilder dann, wenn sie verletzt, verstümmelt oder zerstört werden. In diese Kategorie fallen allerdings sehr unterschiedliche Phänomene. Nicht selten war es die soziale Wirkmacht eines Bildes, die Anlass zu seiner Zerstörung gab. An den Objekten lässt sich dies meist nicht ablesen, es sind vor allem Schriftquellen, die über solch intentionale zerstörerische Bildpraxen Auskunft geben.51 So ist die auf der Akropolis aufgestellte Bronzestatue des Hipparchos Charmou, eines Verwandten des Tyrannen Peisistratos, nach Auskunft von Lykurg (Leocrat.) nach seiner Ostrakisierung52 im Jahr 487 v. Chr. eingeschmolzen worden. Aus dem Material wurde eine Schandstele hergestellt, auf der die Namen von Staatsfeinden, auch jenem des Hipparchos selbst, eingetragen wurden. Der für das Polis-Kollektiv gefährliche Bild-Körper des Hippar-
48 Vgl. Whittaker, Helène: „Pausanias and His Use of Inscriptions“, in: Symbolae Osloenses 66 (1991), S. 171-186, bes. S. 178; kritisch R. Krumeich: Denkmäler für die Ewigkeit?, S. 329-398, bes. S. 360f. 49 Auch Dio Chrys. 31, 116 überlieferte die Umnutzung einer älteren Statue für Nikanor, kritisierte die Praxis aber. 50 Siehe so auch Blanck, Horst.: Wiederverwendung alter Statuen, S. 6f. 51 Eine Zusammenstellung der Schriftquellen bei Donderer, Michael: „Irreversible Deponierung von Großplastik bei Griechen, Etruskern und Römern“, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts, Beiblatt 61 (1991/92), Kol. 192-275, bes. Kol. 271f. 52 Brenne, Stefan: Ostrakismos und Prominenz in Athen. Attische Bürger des 5. Jahrhunderts v. Chr. auf den Ostraka, Wien 2001, S. 161 Kat. 98.
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chos wird in ein anikonisches Anti-Denkmal überführt. In das eingeschmolzene Material wird folglich eine gänzlich neue, normativ-demokratische Bedeutung eingeschrieben. Ein weiteres aussagekräftiges Beispiel aus einem ganz anderen Kontext bezeugt gleichermaßen die problematische Macht, die von Bildern ausgehen und zu ihrer Vernichtung führen konnte. Der Tod des Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus im Jahr 129 v. Chr., eines der bedeutendsten Feldherren der späten Republik, der den langjährigen Gegner Karthago vernichtete, erschütterte die Republik. Der Feldherr war unter unklaren Umständen tot im Bett aufgefunden worden. Möglicherweise war er, wie Cassius Dio und Cicero mutmaßten,53 von einem politischen Gegner ermordet worden. In dieser problematischen Situation reagieren auch die Götter. Vom Himmel regnete es auf Tempel und Menschen Steine, die Statue (βρέτας) des Apollon weinte drei Tage lang (Cass. Dio XXIV 84, 2).54 Auf Rat der Götter zerschlugen die Römer die Götterstatue und warfen die Teile ins Meer. Die schwierige Situation, für die das Götterbild sichtbarer Ausdruck war, war somit gebannt. Der Zerstörung von Bildern musste es aber nicht gezielt um die Auslöschung spezifischer Bildinhalte gehen, Bildzerstörungen vermochten auch Überlegenheit an sich zu demonstrieren. Im Rahmen von Kriegshandlungen konnten sich Zerstörungen unterschiedslos auf alle Bilder einer Stadt oder Region richten. Dies gilt etwa für das von den Persern zerstörte Athen. Für die Athener Akropolis berichtet Herodot (VII 140) von einem Großbrand, der wohl die Gebäude des Burgbergs zerstörte.55 Vom Schicksal der Weihgeschenke ist in diesem Zusammenhang nicht explizit die Rede, doch es sind die Objekte selbst, die Zerstörungsspuren aufweisen. Dies gilt an erster Stelle für Brandspuren,56 auch mechanische Gewalteinwirkung ist an vielen Stücken nachweisbar. Astrid Lindenlauf unterscheidet dabei zwei Typen von Verletzungsspuren: destruktiv-vandalische und destruktiv-instrumentelle. Als Beispiel für eine vandalische Zerstörung nennt sie die Kore Athen, Akr. 595 (Abb. 5), deren Statuenkörper mit elf Axtschlägen gezielt zerstört wurde. Möglicherweise gehört auch die gezielte Ab-
53 Vgl. Cass. Dio XXIV 84,2; Cic. de orat. II 40 ; vgl. zum politischen Zusammenhang Simons, Benedikt: Cassius Dio und die römische Republik, Berlin 2009, bes. S. 276f. 54 Zur Quelle ThesCRA II, Kultbilder, Nr. 452 [N. Icard-Gianolio], S. 466. 55 Vgl. Lindenlauf, Astrid: „Der Perserschutt der Athener Akropolis“, in: Hoepfner, Wolfram (Hg.), Kult und Kultbauten auf der Akropolis. Internationales Symposion vom 7. bis 9. Juli 1995 in Berlin, Berlin 1997, S. 46-115, bes. S. 83-93. 56 Dokumentiert bei Schrader, Hans (Hg.): Die archaischen Marmorbildwerke der Akropolis, Frankfurt a.M. 1939.
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trennung von Köpfen in diesen Zusammenhang.57 Im Falle einer instrumentellen Zerstörung werden einzelne Partien einer Statue flach abgeschlagen. Da solche Eingriffe auch an semantisch insignifikanten Stellen wie der Rückenpartie von Statuen vorgenommen wurden, lassen sie sich nach Lindenlauf als Form der Zurichtung für den Transport oder die Weiterverwendung erklären.
Abb. 5: Zerstörte Kore von der Athener Akropolis (Akr. 595), aus: Photothek, Kiel.
57 Vgl. Donderer, Michael: Irreversible Deponierung, Kol. 192-275, bes. 202, der in der gezielten Enthauptung der Statuen die Athener selbst am Werk sieht, die „eine spätere Profanisierung gänzlich zu verhindern“ gesucht hätten.
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Eine nochmals ganz andere Form der Zerstörung ist dann anzutreffen, wenn der Akt der Auslöschung im Moment der Bildherstellung bereits vorgesehen war, zur Bildlichkeit unmittelbar zugehört. Es handelt sich gewissermaßen um „Einwegbilder“58. Dies gilt für all jene Objekte, deren Vernichtung im Rahmen des Rituals – etwa am Grab oder im Heiligtum – vorgesehen ist. Besonders gut erforscht ist in diesem Zusammenhang das sog. Opferrinnenzeremoniell (Abb. 6).59 Im Athen des ausgehenden 8. und beginnenden 7. Jahrhunderts wird im Rahmen des Totenrituals Keramik auf einem niedrigen Holzgerüst, das über einer Grube steht, zunächst präsentiert, bevor das Gerüst in Brand gesetzt wird. Die Keramik wird dadurch als eine Form der Totengabe gezielt zerstört. In Heiligtümern finden sich in den verschiedensten Kontexten und Zeiten Votivobjekte, die Brandspuren aufweisen. Auch hier sind folglich Bildpraxen weit verbreitet, die die Zerstörung von Bildobjekten voraussetzen.
Abb. 6: Rekonstruktion einer Opferrinne nach Erich Kistler, aus: Kistler, Erich: Die Opferrinne-Zeremonie: Bankettideologie am Grab, Orientalisierung und Formierung einer Adelsgesellschaft in Athen, Stuttgart 1998, S. 219.
58 Diesen Begriff wählte die Jahrestagung eikones im Jahr 2013 [noch unpubliziert]. 59 Siehe Kistler, Erich: Die Opferrinne-Zeremonie: Bankettideologie am Grab, Orientalisierung und Formierung einer Adelsgesellschaft in Athen, Stuttgart 1998.
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Eine letzte Form der Zerstörung von Bildwerken resultiert aus Witterungs- oder Natureinflüssen. Solche „Spuren der Zeit“ sind an vielen Objekten zu beobachten, sie wurden diesen aber nicht intentional zugefügt und lassen sich daher nur indirekt zu einem sozialen Wirkzusammenhang in Beziehung setzen: nämlich in Bezug auf den sozialen Umgang mit solchen Zerstörungen.
5.
D IE SOZIOKULTURELLE „V ERARBEITUNG “ VON ZERSTÖRTEN B ILDERN
Die Zerstörung von Bildwerken fordert schließlich die Analyse eines letzten Aspektes der Endlichkeit von Bildern heraus: die soziokulturelle „Verarbeitung“ solcher Zerstörungen. In zumindest einigen Fällen ist das gezielte Bemühen um die Restaurierung von Objekten zu greifen. Bisweilen finden wir dafür Hinweise in der literarischen Überlieferung. So ist die berühmte, heute aber verlorene Gold-ElfenbeinStatue des Zeus in Olympia nach Auskunft des Pausanias von einem berühmten hellenistischen Bildhauer, Damophon von Messene, restauriert worden. Wörtlich berichtet Pausanias, Damophon habe die Statue „zusammengefügt“, nachdem das Elfenbein rissig geworden sei (Paus. IV 31, 6). Im Falle des Zeus von Olympia handelt es sich selbstredend um eine der kultisch und kulturell wichtigsten Statuen des griechischen Festlandes.60 Aber auch die ins Heiligtum gestifteten Statuen sind bisweilen gepflegt worden, wie jüngste Forschungen an den Statuenvotiven selbst aufzeigen konnten. In Olympia lässt sich etwa die Erneuerung von Inschriften auf Statuensockeln greifen und somit auch sozial kontextualisieren: Es ist das Kultpersonal, dem die Aufgabe der Statuenpflege zukommt.61
60 Mit weiteren Beispielen Dawid, Maria: „Denkmalpflege, Konservierung und Restaurierung in der Antike“, in: Barbara Brandt/Verena Gassner/Sabine Ladstätter (Hg.), Synergia. Festschrift für Friedrich Krinzinger, Bd. 1, Wien 2005, S. 67-76; zu restaurativen Baumaßnahmen: Buchert, Ulf: Denkmalpflege im antiken Griechenland. Maßnahmen zur Bewahrung historischer Bausubstanz, Frankfurt a.M. 2000; dort auch konkret zum Giebelschmuck und Simaschmuck am Zeustempel von Olympia (S. 132149). 61 Konkret Olympia V, Nr. 144; 147-148; 156; 158; vgl. Leypold, Christina: „Dem Zeus geweiht – für alle Zeit? Phänomene des Umgangs mit Weihestatuen im Heiligtum von Olympia“, in: Leypold, C./Mohr, M./Russenberger, C. (Hg.), Weiter- und Wiederverwendungen von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern (2014), S. 31-42, bes. S. 37f.; Jacquemin, Anne: „La consécration dans un sanctuaire panhellénique: une garan-
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Die Restaurierung und Wiederaufstellung von Bildwerken stellte jedoch einen Sonderfall dar. Sehr viel häufiger folgte auf die Zerstörung ihre Entsorgung, die allerdings ebenfalls sehr unterschiedlich ausfallen konnte.62 Im Falle einer intentionalen Deponierung, die von ihrer zufälligen Entsorgung zu unterscheiden ist, können der Modus (reversibel/irreversibel), der Aufwand (achtsam/unachtsam), der Zustand der Objekte und auch der Anlass der Deponierung sehr unterschiedlich ausfallen. Die Kore Phrasikleia sowie ein unbenannter Kouros, beide in der Zeit um 540 v. Chr. entstanden, sind achtsam gebettet nebeneinander aufgefunden worden (Abb. 7). War aber eine Wiederaufstellung möglich und intendiert?63 Die Statue der Phrasikleia ist zwar weitgehend intakt, wurde aber ihrer Basis entkleidet, die sehr viel später als Spolie in einer benachbarten Kirche verbaut wurde, während der Kouros gebrochen war; es fanden sich außerdem Reste einer dritten Statue sowie Keramikfragmente. Die Schäden sprechen wohl eher gegen eine intendierte Wiederaufstellung, vielmehr scheinen die Statuen infolge einer Beschädigung, möglicherweise durch die Perser verursacht, deponiert worden zu sein.64
tie contre le remploi?“, in: C. Leypold/M. Mohr/C. Russenberger (Hg.), Weiter- und Wiederverwendungen von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern (2014), S. 2130, bes. S. 24. 62 Eine Zusammenstellung der „deponierten“ Großplastik bei Donderer, Michael, Irreversible Deponierung, Kol. 192-275; für den stadtrömischen Horizont siehe Ambrogi, Annarena: „Sugli occultamenti antichi di statue. Le testimonianze archeologiche a Roma“, Jahrbuch des deutschen Archäologische Instituts. Römische Abteilung 117 (2011), S. 511-566. 63 Kaltsas, Nikolaos: „Die Kore und der Kouros aus Myrrhinous“, in: Antike Plastik 28 (2002), S. 7-40, bes. S. 7. 64 Eine reversible Deponierung (etwa im Zusammenhang der Vertreibung der Alkmenoiden, mit denen die Dargestellten verwandt sein sollen), daher weniger plausibel; so aber Svenbro, Jesper: Phrasikleia. Eine Anthropologie des Lesens im alten Griechenland, München 2005, bes. S. 18f.; auch ein Verstecken der Skulpturen vor den Persern ist daher nicht plausibel – so Keesling, Catherine M.: Endoios’s Painting from the Themistoklean Wall. A Reconstruction, in: Hesperia 68, 1999, S. 509-548, bes. 513f.; als von den Persern zerstörte Objekte: Hurwit, Jeffrey: The Art and Culture of Early Greece, 1100-480 B.C., London 1985, S. 334; Donderer, Michael: Irreversible Deponierung, Kol. 192-275, bes. Kol. 215; explizit gegen die (familiäre) Zusammengehörigkeit der Statuen D’Onofrio, Anna Maria: „Korai e kouroi funerari attici“, in: Annali del Seminario di Studi del Mondo Classico. Archeologia e Storia Antica 4 (1982), S. 135-170, bes. S. 150-152.
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Abb. 7: Phrasikleia und Kouros, aus: Kaltsas, Nikolaos: „Die Kore und der Kouros aus Myrrhinous“, in: Antike Plastik 28, München 2002, S. 8, Abb. 1.
Die Deponierung von Statuen (und anderen Objekten) konnte aber auch schlicht darauf zurückzuführen sein, dass öffentliche Räume mit Bildern überfüllt waren. In griechischen Heiligtümern war es gängige Praxis, kleinere Votivgaben nach einiger Zeit abzuräumen und in Opfergruben, Brunnen, aber auch in Planierschichten zu deponieren.65 Ähnliches gilt auch für Statuen auf öffentlichen Plätzen. Plinius berichtet unter Bezugnahme auf ältere Quellen, dass im Jahr 158 v. Chr. auf Veranlassung der Censoren alle Statuen circa forum entfernt wurden, die ohne Volks- oder Senatsbeschluss durch Privatleute aufgestellt worden waren.66 Markus Sehlmeyer benennt vier Motivationen, die man hinter dieser Maß-
65 Vgl. Leypold, Christina, Dem Zeus geweiht, in: Leypold, C./Mohr, M./Russenberger, C. (Hg.), Weiter- und Wiederverwendungen von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern (2014), S. 31-42; die archäologisch nachweisbaren Deponierungen von Objekten überhaupt sind allerdings sehr vielgestaltig, siehe Schäfer, Alfred/Witteyer, Marion (Hg.): Rituelle Deponierungen in Heiligtümern der hellenistischen Welt. Internationale Tagung Mainz 28. - 30. April 2008, Mainz 2013; mit Literatur Ebd. S. 5f. 66 Vgl. Calpurnius Piso FRH 7 F40 (= frag. 37 PETER), Plin. nat. 34, 30f.; vgl. Sehlmeyer, Markus: Stadtrömische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit. Historizität
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nahme sehen mag: (1) eine Maßnahme gegen ambitio, die im Text ausdrücklich genannt ist; (2) die Überfüllung des Forums; (3) die Verlegung der Comitia auf das Forum; (4) die Betonung und Beschränkung auf anerkannte und bleibende Verdienste des Geehrten. In jedem Fall aber werden Statuen durch diese Maßnahme aus dem öffentlichen Raum verbannt, der Sichtbarkeit entzogen. Nur eine der Statuen, jene des Spurius Cassius, wird in diesem Zusammenhang offenbar eingeschmolzen, üblicherweise scheinen die Statuen aber an anderem Ort deponiert worden zu sein (statuam tollere).67
Abb. 8: Basis eines Statuenvotivs des Hegelochos (nach 480 v. Chr.), das für die Ehrenstatue des L. Cassius wiederverwendet wurde – Faksimile, aus: Krumeich, Ralf: „Formen der statuarischen Repräsentation römischer Honoranden auf der Akropolis von Athen im späten Hellenismus und in der frühen Kaiserzeit“, in: Vlizos, Stavros (Hg.), Athens During the Roman Period, Athens 2008, S. 360, Abb. 15.
Ein Großteil der Skulpturen wurde aber nicht respektvoll bestattet. Die im Rahmen der Perserkriege beschädigte archaische Skulptur Athens hat man in großem Umfang als Spolien verbaut. Zahlreiche Statuen- und Basisfragmente haben als Baumaterial für die Errichtung der themistokleischen Stadtmauer im Jahr 479 v. Chr. gedient (Abb. 8-9). Man mag im Falle der themistokleischen Mauer noch einen gewissen deiktischen Wert der Spolien in Betracht ziehen – sie mögen die
und Kontext von Symbolen nobilitären Standesbewusstseins, Stuttgart 1999, S. 152159. 67 Zur Interpretation dieser Wendung vgl. Ebd., S. 153.
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überwundene Perserbedrohung angezeigt haben.68 Für manche Kontexte ist aber selbst dies gänzlich auszuschließen: Der sog. Kouros vom Heiligen Tor sowie einige weitere prominente archaische Skulpturen sind als Wegbefestigung in der Bettung einer Straße aufgefunden worden, die im Zusammenhang der Neugestaltung eines der nördlichen Stadtmauertore (dem Heiligen Tor) 479 v. Chr. angelegt worden sein dürfte.69
Abb. 9: Basis eines Statuenvotivs des Hegelochos (nach 480 v. Chr.), das für die Ehrenstatue des L. Cassius wiederverwendet wurde – Aufsicht der Vorderseite, aus: Krumeich, Ralf: „Formen der statuarischen Repräsentation römischer Honoranden auf der Akropolis von Athen im späten Hellenismus und in der frühen Kaiserzeit“, in: Vlizos, Stavros (Hg.), Athens During the Roman Period, Athens 2008, S. 360, Abb. 16.
68 In die Mauer verbaute Statuenbasen zusammengestellt bei Kosmopoulou, Angeliki: The Iconography of Sculptured Statue Bases in the Archaic and Classical Periods, Madison 2002, Kat. 7-11. 69 Siehe Niemeier, Wolf-Dietrich: Der Kuros vom Heiligen Tor. Überraschende Neufunde archaischer Skulptur im Kerameikos in Athen, Mainz 2002, bes. S. 47. Weitere Beispiele zum Verbau von Statuen und Statuensockeln bei R. Krumeich: Denkmäler für die Ewigkeit?.
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Das Zeigen und Verbergen, das Rauben, Umarbeiten, Zerstören und Instandsetzen von Bildern sind Strategien, die durch die gesamte Antike hindurch einen zentralen Aspekt der antiken Bildkultur ausmachen. Die Modi des Handelns mit Bildern liegen also quer zu gängigen kunsthistorischen Untersuchungskriterien. Sie lassen sich nicht in eine Entwicklungsgeschichte der Bildbehandlung überführen, sondern tauchen in vielfacher Gestalt in der gesamten Antike immer wieder auf. Und doch sind die Formen des Umgangs mit Bildern ein eminent soziales, mithin auch historisches Phänomen. Ohne eine systematische Analyse von Bildpraxen sind freilich nur schlaglichtartige Einblicke möglich. Die archaischen Bilder Athens – und zwar jene der Nekropolen ebenso wie jene der Heiligtümer – sind in großem Umfang zerstört worden. Der Anlass für diese Vernichtung von Bildobjekten wird zumindest in einigen Fällen in der Zerstörung der Stadt durch die Perser im Jahr 480 v. Chr. zu suchen sein. Der Krieg der Waffen wird zu einem Krieg der Bilder. Die Fragilität und Vergänglichkeit der Bilder bespiegelt das soziale Drama, das sich in diesen Jahren in Athen abspielte. Umso signifikanter ist der Umstand, dass man für das Gros der Statuen auf eine Restaurierung und Wiederaufstellung verzichtete: Ist es doch auf diese Weise möglich geworden, sich der mit der Tyrannis konnotierten Bilder zu entledigen und der Stadt ein völlig neues Gesicht zu geben.70 Positiv belegt ist diese Tilgung tyrannischer Bilder in besonders eklatanten Fällen wie der Ehrenstatue des Hipparchos, die im Sinne eines politischen Aktes eingeschmolzen wurde. In der Mehrzahl der Fälle geschah diese Tilgung aber geradezu lautlos. Die von den Persern beschädigten Mnemata, die an einzelne Individuen der vergangenen Zeit erinnerten, wurden großenteils in der neuen Stadtmauer verbaut. Sie wurden Bestandteil des neuen städtischen Schutzes und erfuhren in diesem neuen Zusammenhang eine Resemantisierung, zeigten sie doch die Überwindung der Persergefahr an. Bezeichnenderweise rauben die Perser nicht ein solch für
70 Kontrovers diskutiert ist in diesem Zusammenhang der deiktische Wert der in der themistokleischen Mauer verbauten Spolien; mit politischer Interpretation Schneider, Lambert/Höcker, Christoph: Griechisches Festland. Antike und Byzanz, Islam und Klassizismus zwischen Korinthischem Golf und nordgriechischem Bergland, Köln 1996; vgl. auch Kreuz, Natascha: „Der Eid von Plataeae und der frühklassische Tempelbau“, in: Thetis 8 (2001), S. 56-67; den deiktischen Wert eher gering veranschlagend: Lindenlauf, A.: Der Perserschutt der Athener Akropolis, S. 74; siehe auch die Diskussion bei Niemeier, W.D.: Der Kuros vom Heiligen Tor. Überraschende Neufunde archaischer Skulptur im Kerameikos in Athen, S. 47-53.
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die neue Zeit verzichtbares Bild, sondern jenes, in dem sich die neue, demokratische Identität der Stadt besonders offenkundig manifestierte: die Statuengruppe der Tyrannentöter von der Athener Agora. In den Händen der Perser wurde dieses einzigartige Objekt – im materiellen Sinn eine begrenzte Ressource – zur begehrten Trophäe. Es ist nur folgerichtig, dass sich die Athener ganz unmittelbar nach dem Statuenraub um einen adäquaten Ersatz bemühten – ein Ersatz, der binnen kürzester Zeit zum festen visuellen Inventar der nachpersischen Polis Athen avancierte. Ganz anders sind die Handlungszusammenhänge, die man für den Umgang mit Bildern voraussetzen darf, im Hellenismus. Auf der einen Seite entstanden in dieser Zeit ausgesprochen spektakuläre Statuen und insbesondere auch Statuengruppen, die aufwendig präsentiert wurden. Gerade die immer prunkvolleren Kultbilder wurden in vergleichsweise kleinen Tempeln mit „Schrein“-Charakter regelrecht museal ausgestellt,71 andere Statuengruppen spektakulär im Landschaftsraum inszeniert. Mit diesen herausgehobenen Werken kontrastieren die wenig spektakulären, standardisierten Ehrungen verdienter Bürger – Männer wie Frauen –, die nun geradezu zum Allgemeingut wurden.72 Für einzelne öffentliche Plätze scheint dies bedeutet zu haben, dass sie derart überfüllt waren, dass man Statuen gezielt abräumen musste. Die Allgegenwart von Ehrenstatuen mag aber auch zur Folge gehabt haben, dass die Erinnerung an wenig bedeutende Geehrte verblassen konnte und somit der Weg für eine Umnutzung frei war. In diese Situation hinein fällt die Expansion des Römischen Reiches in den griechischen Osten. Die Römer legten eine regelrechte Gier nach griechischen Statuen an den Tag, die sie in großer Zahl nach Italien verschleppten. Ganz offenkundig bedienten sie sich solcher altehrwürdiger, griechischer Statuen aber auch für ihre eigenen statuarischen Ehrungen, um sich ihren Philhellenismus, konkreter aber auch die mit den alten Statuen verbundenen Wertvorstellungen „auf den Leib“ zu schreiben. So wurde in der frühen Kaiserzeit für die Repräsentation von L. Cassius eine von Kritios und Nesiotes gefertigte Statue im Ausfall-
71 Cain, Hans-Ulrich: „Hellenistische Kultbilder. Religiöse Präsenz und museale Präsentation der Götter im Heiligtum und beim Fest“, in: Wörrle, Michael /Zanker, Paul (Hg.), Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus, Kolloquium München 24.-26.6.1993, München 1995, S. 115-130. 72 Für Delos – mit Blick auf spezifische Repräsentationsformen vgl. Griesbach, Jochen: Le statue onorarie nel santuario di Apollo a Delo. Mutamenti del concetto di autorappresentazione in età ellenistica, online unter: http://www.bollettinodiarche ologiaonline.beniculturali.it/documenti/generale/2_GRIESBACH.pdf (17.12.2015).
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schritt gewählt, die in ihrer Dynamik die virtus des Dargestellten ins Bild zu setzen vermochte (Abb. 8). Der Boom dieser Wiederverwendungspraxis reichte bis in die frühe Kaiserzeit, im Laufe des 1. Jahrhunderts n. Chr. hat offenkundig eine ideologische Wende die Praxis unpopulär werden lassen. Geraubte Statuen wurden dem öffentlichen Raum zurückgegeben, der Hunger nach griechischen Werken wurde nun vielleicht verstärkt durch römische Kopien griechischer Werke, aber auch durch eklektisch-klassizistische Neuschöpfungen gestillt.
Endlichkeit und dynastische Kontinuität. Memoria und generationsübergreifende Verträge am Beispiel der Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296-1689) F RANZISKA H ORMUTH
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E INLEITUNG
Aus der unausweichlichen Sterblichkeit eines jeden Fürsten resultierten diverse Strategien zur Überwindung der eigenen Endlichkeit. Unter dem Gesichtspunkt des Umgangs mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit werden in dieser Untersuchung die daraus resultierenden Strategien am Beispiel der Herzöge von Sachsen-Lauenburg analysiert werden. Welche Vorbereitungen konnten Fürsten für ihren eigenen Tod treffen und mit welchen Medien beziehungsweise Mitteln konnten sie versuchen, die Politik und Geschicke der Dynastie über ihren eigenen Tod hinaus zu lenken und beeinflussen? Folgende zwei Aspekte werden unter dem Gesichtspunkt der Endlichkeit dabei im Fokus stehen: Zum einen wird die Memoria-Kultur unter dem Blickwinkel der Generierung von Dauer und deren legitimierende Funktion aufgegriffen und zum anderen werden generationsübergreifende Verträge als Mechanismen der Einflussnahme auf die Politik nach dem eigenen Tod untersucht. Die Zusammenführung von zwei bisher meist getrennt voneinander untersuchten Phänomenen aus sehr unterschiedlichen Bereichen fürstlicher Politik als Strategien zur Überwindung von Endlichkeit zeigt die Vielfalt der Umgangsformen mit der eigenen Endlichkeit auf.1
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Zur Memorialkultur siehe vor allem Oexle, Otto Gerhard: „Memoria als Kultur“, in: Ders. (Hg.), Memoria als Kultur (= Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für
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Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg regierten von 1296 bis 1689 ein relativ kleines Gebiet nördlich der Elbe. Ihre Abstammung geht auf die Askanier zurück, die im Norden des mittelalterlichen Reiches nach dem Sturz Heinrichs des Löwen einen wesentlichen Machtfaktor darstellten.2 Die Linie der Herzöge von Sachsen-Lauenburg entstand bei einer Landesteilung des Herzogtums Sachsen zwischen 1295 und 1296.3 Die herzogliche Politik bezog sich hauptsächlich auf das regionale Umfeld zwischen den Hansestädten Lübeck und Hamburg sowie den Herzogtümern Holstein, Mecklenburg und Braunschweig-Lüneburg und wurde durch die knappen finanziellen Ressourcen der Lauenburger Herzöge bestimmt. Reichspolitisch traten sie im Kampf um die sächsische Kurwürde immer
Geschichte, Band 121), Göttingen 1995, S. 9-78; zu generationsübergreifenden Verträgen sind besonders hervorzuheben: Hirsch, Erhard: Generationsübergreifende Verträge reichsfürstlicher Dynastien vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (= Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, Band 10), Berlin 2013; Müller, Mario/Spieß, Karl-Heinz/Tresp, Uwe (Hg.): Erbeinungen und Erbverbrüderungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Generationsübergreifende Verträge und Strategien im europäischen Vergleich (= Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, Band 17), Berlin 2014. 2
Vgl. Meyn, Jörg: „Zur Dynastie der Askanier: Die askanischen Herzöge von SachsenLauenburg, vornehmlich im 14. Jahrhundert“, in: Opitz, Eckardt (Hg.), Herrscherwechsel im Herzogtum Lauenburg (= Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Kolloquium X), Mölln 1998, S. 289-320; Hecht, Michael: Die Erfindung der Askanier. Dynastische Erinnerungsstiftung der Fürsten von Anhalt an der Wende von Mittelalter zur Neuzeit, in: ZHF 22 (2006), S. 1-31.
3
Vgl. zu den Herzögen von Sachsen-Lauenburg Bornefeld, Cordula: „Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg“, in: Carsten Porskrog Rasmussen (Hg.), Die Fürsten des Landes: Die Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, Neumünster 2008, S. 372-390; Hillmann, Jörg: „Das Herzogtum Sachsen-Lauenburg von 1500-1689“, in: Opitz, Eckardt (Hg.), Herzogtum Lauenburg. Das Land und seine Geschichte, Neumünster 2003, S. 148-230; Hillmann, Jörg: Territorialrechtliche Auseinandersetzungen der Herzöge von Sachsen-Lauenburg vor dem Reichskammergericht im 16. Jahrhundert (= Rechtshistorische Reihe, Band 202), Frankfurt a.M. 1999; Kobbe, Peter von: Geschichte und Landesbeschreibung des Herzogthums Lauenburg, Band 1-3, Altona 1836/1837; Meyn, Jörg: „Der Frieden von Perleberg 1420“, in: Lauenburgische Heimat 176 (2007), S. 3-15; J. Meyn: Zur Dynastie der Askanier, S. 289-320; Schulze, Ehrhard: Das Herzogtum Sachsen-Lauenburg und die lübische Territorialpolitik (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Band 33), Neumünster 1957.
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wieder in Erscheinung – allerdings erfolglos. Im Jahr 1689 starb unerwartet der letzte männliche Lauenburger, womit das Ende dieser Dynastie besiegelt wurde. Im ersten Teil der Studie wird der Umgang mit dem eigenen Tod im Kontext der Memorialkultur untersucht. Der Totenkult ist als ein zentrales Motiv der menschlichen Kultur anzusehen, dabei stellen „politische Totenrituale zur Befestigung von Herrschaftsverhältnissen“ 4 einen Teilaspekt dar, der hier im Vordergrund stehen soll. Rituale können in diesem Zusammenhang als symbolische Konstruktionen der Vergangenheit für die dynastische Repräsentation instrumentalisiert werden.5 Der vormodernen Grabkultur kommt in diesem Zusammenhang mit ihrer legitimierenden Ordnungsfunktion als Gedächtnisort in Verbindung mit Macht, Autorität und Legitimität eine beachtliche Rolle zu.6 Politische Macht in Verbindung mit Erinnerungs- und Verehrungskultur von bereits verstorbenen Vorgängern diente zur Stabilisierung der eigenen Ansprüche und Legitimierung der eigenen Herrschaft.7 Diesem retrospektiven Ansatz wurde zunächst eine legitimierende Funktion für Dynastie und Herrschaft zugesprochen, wobei dieser Ansatz durch gezielte Projekte zur Selbstverwirklichung der regierenden Fürsten als Teil der Dynastie zunehmend zu einer zukunftsorientierten Strategie modifiziert wurde. Dies geschah beispielweise, indem schon zu Lebzeiten der Fürsten Grabmäler in Auftrag gegeben wurden, die deren individuelle Vorstellungen abbildeten sowie die auf Dauer ausgerichtete Institution der Dynastie von den Fürsten für die eigene Glorifizierung instrumentalisierten.8 Durch die öffentliche Inszenierung der Person des Herzogs im Kontext der Beerdigungszeremonie konnte die Wirkungskraft der individuellen Autorität des Ver-
4
Rader, Olaf: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen
5
Vgl. O. Rader: Grab und Herrschaft, S. 10-12.
6
Vgl. Ebd. S. 50.
7
Vgl. Auge, Oliver: „Selbstverständnis und Erinnerungskultur der Herzöge von Pom-
bis Lenin, München 2003, S. 10.
mern um 1500“, in: Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte 139 (2007), S. 7-28. 8
Vgl. Babendererde, Cornell: Sterben, Tod, Begräbnis und liturgisches Gedächtnis bei weltlichen Reichsfürsten des Spätmittelalters (= Residenzenforschung, Band 19), Ostfildern 2006, S. 11; Baresel-Brand, Andrea: Grabdenkmäler nordeuropäischer Fürstenhäuser im Zeitalter der Renaissance 1550-1650 (= Bau+Kunst, SchleswigHolsteinische Schriften zur Kunstgeschichte, Band 9), Kiel 2007, S. 16.
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storbenen zur Stabilisierung der sozialen und gesellschaftlichen Ordnung und derjenigen Strukturen, die durch den Tod gefährdet wurden, genutzt werden.9 Im zweiten Teil des Beitrags wird es um die Konstruktion von Dauer anhand von generationsübergreifenden Verträgen gehen. Mit Hilfe von Verträgen, die ausdrücklich auch die Erben der Vertragspartner auf deren Umsetzung verpflichteten, versuchten Fürsten politische Kontinuität über ihren Tod hinaus zu generieren und Einfluss auf die politische Ausrichtung des Nachfolgers auszuüben. Diese Art von generationsübergreifenden Verträgen findet sich besonders im Bereich dynastischer Verträge, die oft durch dynastische Verbindungen, also Eheschließungen, zusätzlich untermauert wurden.10 In diesen beiden Themenbereichen werden exemplarisch Mechanismen zur Überwindung der eigenen Sterblichkeit eines Fürsten durch Einflussnahme über den Tod hinaus und gezielte Inszenierung sowie strategische Repräsentationen der eigenen Person als Teil der als überzeitlich verstandenen Dynastie beleuchtet. Aufgrund des gewählten Fallbeispiels der Herzöge von Sachsen-Lauenburg können weitere Themenbereiche wie etwa Genealogien in Form von Chroniken oder Bildprogrammen sowie Denkmalarchitektur nur am Rand erwähnt werden.11
9
Vgl. O. Rader: Grab und Herrschaft, S. 244; Spieß, Karl-Heinz: „Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsentation im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalter“, in: Rösener, Werner (Hg.), Adlige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Formen der Erinnerung, Band 89), Göttingen 2000, S. 97-123.
10 Ein Beispiel sind die Verflechtungen von Sachsen-Lauenburg mit Dänemark Anfang des 16. Jahrhunderts, die sowohl bündnispolitischer als auch dynastischer Natur waren: J. Hillmann: Territorialrechtliche Auseinandersetzungen, S. 146. 11 Für die Herzöge von Sachsen-Lauenburg sind keine zeitgenössischen Chroniken und auch keine erhaltenen Wappengenealogien überliefert. Zudem sind kaum Hinterlassenschaften im Land erhalten; siehe dazu u.a. Lopau, Christian: „Auf den Spuren der Askanier im heutigen Kreis Herzogtum Lauenburg“, in: Opitz, Eckardt (Hg.), Askanier-Studien der Lauenburgischen Akademie (= Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Kolloquium XVI), Bochum 2010, S. 333-341.
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2.
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M EMORIA
„Memoria konstituiert Gruppen und gibt ihnen Dauer in der Zeit.“12 Dieses Zitat Otto Gerhard Oexles aus seinem viel beachtetem Sammelband zur Memoria als Kultur stellt die grundsätzliche Bedeutung der Inszenierung des Übergangs einer Person von der Welt der Lebenden in die Welt der Toten heraus. Weiterführend beschreibt Cornell Babendererde Totenfeiern als Zeremonien zur Ehrung des Toten und besonders auch zur Möglichkeit der Machtrepräsentation einer Dynastie durch Präsentation des Nachfolgers in der Reihe seiner Ahnen.13 Der Aspekt der Herrschaftsweitergabe und deren repräsentativer Umsetzung mit direktem Bezug auf den verstorbenen Fürsten steht hier im Vordergrund. Trotz der Fokussierung des vorliegenden Aufsatzes auf diesen legitimatorischen und repräsentativen Charakter der Memoria darf nicht vergessen werden, dass Memoria ein „Kernaspekt des mittelalterlichen Frömmigkeits- und Soziallebens“14 war und sich keineswegs auf die hier besprochenen dynastischen Bereiche und herrschaftlichen Motive beschränkte. Als Resultat der Sorge mittelalterlicher Menschen um ihr Seelenheil und um das Totengedenken war die Jenseitsangst und aktive Seelenheilvorsorge nicht nur in der adligen Lebenswelt allgegenwärtig. „Totenkulte legitimieren die politische und gesellschaftliche Ordnung.“15 Durch die Anwesenheit und die Inthronisierung eines legitimen Nachfolgers vor fürstlichen Nachbarn und Vertretern der innerterritorialen Machteliten wurde die Fortdauer der Dynastie, die Kontinuität und die Stabilität der Herrschaft öffentlich zur Schau gestellt.16 Die Demonstration des Ranges des Verstorbenen nahm dabei eine zentrale Rolle ein und spiegelte sich nicht nur in dem Aufwand der
12 Oexle, Otto Gerhard: „Welfische Memoria. Zugleich ein Beitrag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erforschung“, in: Schneidmüller, Bernd (Hg.), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter (= Wolfenbüttler Mittelalter Studien, Band 7), Wiesbaden 1995, S. 61-94, Zitat auf S. 62. 13 Vgl. Babendererde, Cornell: „Die fürstliche Leichenfeier als Höfisches Fest im späten Mittelalter“, in: Fouquet, Gerhard/Seggern, Harm von/Zeilinger, Gabriel (Hg.), Höfische Feste im Spätmittelalter (= Mitteilungen der Residenzenkommission, Sonderheft 6), Kiel 2003, S. 113-123; C. Babendererde: Sterben, Tod, Begräbnis. 14 Winkel, Harald: Herrschaft und Memoria. Die Wettiner und ihre Hausklöster im Mittelalter (= Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde, Band 32), Leipzig 2010, S. 13. 15 O. Rader: Grab und Herrschaft, S. 244. 16 C. Babendererbe: Leichenfeier, S. 115-117.
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Feierlichkeiten17 und der repräsentativen Machtentfaltung wider, sondern auch in der Zusammenstellung der anwesenden Trauernden und deren Rang in der reichsfürstlichen Hierarchie. Die Leichenfeier kann also als ein erster Schritt des Totengedächtnisses gesehen werden. Die Ausschmückung des Grabes sowie ewig währende Memorialdienste sind weitere Schritte in die Ewigkeit einer familiären Memoria.18 Dies ist für die Gesamtdynastie von besonderer Bedeutung, da sie als „Familienverband verstorbener, gegenwärtiger und künftiger Mitglieder“19 zu definieren ist. Die Toten sind jener grundlegende Bestandteil einer jeden Dynastie, über den diese sich selbst, ihren Rang, ihr Prestige sowie ihre Herrschaftsansprüche und deren Tradition definiert. Durch die öffentliche Inszenierung der Ahnen waren die Verstorbenen allgegenwärtig. Zudem wurde sich nicht nur um die Sicherung ihres Seelenheils im Jenseits, sondern auch um das durchaus prominente Andenken im Diesseits gesorgt.20 Die enorme Bedeutung des Gedenkens an die Ahnen für den regierenden Fürsten führte zu einer Institutionalisierung der Memoria, meist in bedeutenden Klöstern der Herrschaft, die oft von einem herausragenden Führungsahn gestiftet worden waren und die durch die Traditionspflege der adligen Familiengemeinschaft und rege Stiftungsaktivitäten zum Hauskloster der Dynastie wurden.21 Ein Hauskloster ist als Zeichen der privilegierten Stellung des Adels anzusehen und konnte als „zentraler identitätsstiftender und gemeinschaftsbildender Erinnerungsort des Geschlechts“22, an dem die genealogische Tradition besonders gut zu greifen war, zudem in der aktuellen Familienpolitik als Versorgungsmöglichkeit nachgebore-
17 Oft war das Gegenteil der Fall, da gerade von mächtigen Fürsten eine besonders einfache Beerdigungszeremonie erwünscht wurde; vgl. C. Babendererde: Leichenfeier, S. 121. 18 Vgl. Ebd. S. 114. 19 Knöfel, Anne-Simone: Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner (= Dresdener Historische Studien, Band 9), Köln u.a. 2009, S. 33. 20 Vgl. C. Babendererde: Sterben, Tod, Begräbnis, S. 9. 21 Vgl. H. Winkel: Herrschaft und Memoria, S. 13; C. Babendererde: Sterben, Tod, Begräbnis, S. 9. 22 H. Winkel: Herrschaft und Memoria, S. 15; Minneker, Ilka: Vom Kloster zur Residenz. Dynastische Memoria und Repräsentation im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mecklenburg (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496, Band 18), Münster 2007, S. 19.
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ner Kinder dienen.23 So entstanden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Klöstern und der regierenden Dynastie, die durch personelle Verschränkungen zwischen Konvent und Familie eine Gemeinschaft durch Bewusstsein der Herkunft, Historizität und Aciennität erzeugen konnten.24 Die Hochzeit der Gründungen von Klöstern war vornehmlich im 12. und 13. Jahrhundert.25 Das Hauskloster der askanischen Herzöge von Sachsen war das Franziskanerkloster in Wittenberg, sodass die Lauenburger nach der Landesteilung 1296 weder Zugriff auf dieses Kloster noch auf eines der anderen Klöster der sächsischen Herzöge hatten.26 Der letzte askanische Herzog von Ober- und Niedersachsen, der Vater der späteren Lauenburger Herzöge, wurde 1285 noch in Wittenberg begraben.27 Die Institution eines Hausklosters fehlte den Herzögen von Sachsen-Lauenburg, was für die Repräsentation von Anciennität und damit auch für die herrschaftliche Legitimation nachteilig war. Die schlechte Quellenlage gerade bezüglich der ersten Jahre nach der Landesteilung und eine möglicherweise noch bestehende Vormundschaftsregierung28 lassen keine Schlüsse auf Maßnahmen zur Unterstreichung der Legitimation oder repräsentative Akte zu. Da kein landesherrliches Kloster im Herzogtum Lauenburg zur Verfügung stand, musste eine andere Lösung gefunden werden. Die herzogliche Familiengrablege wurde im Dom von Ratzeburg angelegt, der allerdings zum Bistum
23 Vgl. Spieß, Karl-Heinz: Familie und Verwandtschaft im Deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts (= Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 111), Stuttgart 1993, S. 301f. 24 Vgl. H. Winkel: Herrschaft und Memoria, S. 16. 25 Vgl. Ebd. S. 17. 26 Die Klöster der askanischen Herzöge von Sachsen lagen in Obersachsen. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg bekamen bei der Landesteilung Niedersachsen zugesprochen. Die in diesem Gebiet angesiedelten Klöster gehörten als Exklaven zu Lübeck; vgl. Assing, Helmut: „Askanier“, in: Paravicini, Werner (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Band 1: Dynastien und Höfe (= Residenzenforschung, Band 15.1), Ostfildern 2003, S. 31-37, hier S. 34. 27 Johann I. starb 1485 oder 1486, nachdem er die Regierung niedergelegt hatte und in das Franziskanerkloster eingetreten war; vgl. P.v. Kobbe: Geschichte, Band 2, S. 11f. 28 1296 war entweder keiner oder nur der älteste der drei regierenden Brüder volljährig. Die Mutter scheint einen gewissen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte gehabt zu haben, da sie in Urkunden mitsiegelte; vgl. P.v. Kobbe: Geschichte, Band 2, S. 33-35.
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Ratzeburg gehörte und somit exterritorial war.29 Die zum Herzogtum gehörende Stadt Ratzeburg war zudem nur Nebenresidenz, sodass zu fragen ist, wieso die Grablege nicht in Lauenburg, der Hauptresidenz, eingerichtet wurde.30 Die Vermutung liegt nahe, dass Ratzeburg wegen der besonderen Bedeutung des Doms gewählt wurde, also die prestigeträchtigste Kirche der nahen Umgebung des Herrschaftsbereichs war. Der Einfluss auf die Stadt Ratzeburg war durch ihre Funktion als Nebenresidenz der Herzöge und als Sitz des Bischofs zwischen diesen Parteien umkämpft. Die deutliche und weithin sichtbare Integration der Herrschaftszeichen der Lauenburger in den bischöflichen Dom kann daher als Machtdemonstration gesehen werden.31 Zudem war der Dom eine Gründung Heinrichs des Löwen, auf den sich die Lauenburger als einen ihrer Ahnen bezogen, auch wenn dieser der Dynastie der Welfen angehörte. 32 Erst Ende des 16. Jahrhunderts verlegte Franz II.33 die Grablege nach Lauenburg und dekorierte in diesem Zuge die dortige St. Magdalenen Kirche zu einer dynastischen Grablege um.34 Die Kirche war in den Farben der Askanier, Gold und Schwarz, gehalten und die Grablege wurde unter dem Chor eingerichtet. Zudem ließ Franz II. ein monumentales Grabmal für sich und seine zweite Gemahlin Maria von Braunschweig-Wolfenbüttel errichten.35 Davon sind heute nur noch Fragmente erhalten, die im Rückgriff auf andere zeitgenössische Grabmä-
29 Vgl. Müller, Hans-Jürgen: Der Dom zu Ratzeburg (= DKV-Kunstführer, Nr. 283/2), München 2002. 30 Vgl. Nissen, Nis: „Lauenburg als Hauptresidenz der Lauenburger Herzöge“, in: Jürgensen, Kurt (Hg.), Herrensitz und Herzogliche Residenz in Lauenburg und in Mecklenburg (= Lauenburgische Akademie der Wissenschaft und Kultur, Kolloquium VI), Mölln 1995, S. 71-92. 31 Neben den Grabmälern gab es einen Lauenburgischen Chor mit Chorgestühl in den Farben der Herzöge (Gold und Schwarz mit deren Wappen) sowie Epitaphien aus der Barockzeit; siehe zur Ausschmückung: Steffen, Uwe: Barock im Ratzeburger Dom, Ratzeburg 1997. 32 Vgl. Eimer, Gerhard: „Lauenburgische Gruftkirche und ihre Bedeutung in der Frühbarockplastik“, in: Konsthistorisk Tidskrift 19 (1950), S. 56-76, hier S. 63. 33 Zu Franz II. grundlegend: Scharnweber, Otto: Franz II. Herzog von SachsenLauenburg 1584-1619 (= Sonderheft der Lauenburgischen Heimat), Ratzeburg 1960. 34 Vgl. Götze, Theodor: Die Fürstengruft in der Maria-Magdalenen-Kirche zu Lauenburg, Lauenburg 1926. Hier wird besonders auf die Grabinschriften eingegangen. 35 Vgl. G. Eimer: Gruftkirche, S. 56-78; A. Baresel-Brand: Grabdenkmäler, S. 241-245.
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ler, wie etwa in Güstrow oder in Celle, rekonstruiert werden können.36 Eine am Eingang der Gruft befindliche Steinplatte mit einer Wappengenealogie, die die Idee der Kontinuität der Dynastie sehr plastisch umsetzte, ist heute nicht mehr erhalten.37 Dass diese Maßnahmen gerade in die Zeit Herzog Franz II. fielen, ist kein Zufall. Dieser trat nach einem lang andauernden Bruderstreit um das Erbe des Vaters die Regierung im Herzogtum Lauenburg als Statthalter an, nicht als Herzog. Noch zu Lebzeiten seines Vaters, der wegen einer eklatanten Überschuldung die Regierung abtreten sollte, kam es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen dem Zweitgeborenen Franz II. und dessen älterem Bruder Magnus. Franz II. konnte sich durchsetzen, wobei die weitere Erbfolge ungeklärt blieb und seine Herrschaftsgrundlage als Statthalter nicht sonderlich stark war.38 Der Aufbau einer dynastischen Grablege in der Residenzstadt Lauenburg durch Franz II. hatte vor diesem Hintergrund einen stark legitimatorischen Charakter. Die Darstellung der eigenen Person in der Reihe der zuvor herrschenden Herzöge des Territoriums in Kombination mit einem monumentalen Grabmal unterstrichen die Herrschaftsansprüche Franz II., der sich nicht nur in die Linie seiner direkten Ahnen einreihte, sondern auch andere namhafte Vorgänger in der Regierung in Lauenburg wie Heinrich den Löwen als Vorbilder aufnahm.39 Die neue Ausgestaltung der Kirche richtete sich nicht nur an seine zerstrittenen Familienmitglieder und die Mitglieder des Hofes, sie war als Pfarrkirche der Stadt auch für die Einwohner der Stadt wahrnehmbar. Es folgten weitere herzogliche Initiativen vor dem Hintergrund dynastischer Legitimation. So wurde etwa eine genealogisch strukturierte Chronik in Auftrag gegeben, die allerdings nicht fertiggestellt wurde.40 Zudem wurde mit August, dem erstgeborenen Sohn Franz II., ein Nachfolger früh in Position gebracht und die Abfindung der nachgeborenen Söhne festgelegt, um weitere Erbfolgekriege zu vermeiden. Herzog August stand
36 Vgl. A. Baresel-Brand: Grabdenkmäler, beispielsweise S. 147f., 197f.; Rekonstruktion bei G. Eimer: Gruftkirche, S. 59, 68. 37 Vgl. A. Baresel-Brand, Grabdenkmäler, S. 241. 38 Zu den Auseinandersetzungen, siehe: J. Hillmann: Reichskammergericht, S. 150-163. 39 Vgl. A. Baresel-Brand: Grabdenkmäler, S. 243; Althoff, Gerd: „Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie“, in: Fälschungen im Mittelalter, Teil 1 (= Monumenta Germaniae Historica, Schriften, Band 33/1), Hannover 1988, S. 417-441. 40 Landesarchiv Schleswig, Abt. 210, Nr. 184.
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nicht unter dem gleichen Legitimationsdruck wie sein Vater41 und betrachtete die Baumaßnahmen eher unter praktischen und finanziellen Gesichtspunkten. Im Jahr 1616 brannten große Teile der Residenz in Lauenburg ab, sodass die herzogliche Familie vorübergehend in Ratzeburg residierte.42 Das Geld für den Wiederaufbau der Residenz war knapp und die bewaffnete Neutralität im 30jährigen Krieg war teuer. Unter Herzog August wurde die Ausgestaltung der Kirche in Lauenburg abgebrochen und die Grablege wieder nach Ratzeburg verlegt.43 Totenfeiern können also Strategien im Umgang mit Endlichkeit und der an die Endlichkeit des Menschen gebundenen herrschaftlichen Manifestationen durch die Repräsentation der Fortdauer der Dynastie verstanden werden. Repräsentationsprojekte, welche die Dynastie als prestigeträchtige, privilegierte Gruppe erscheinen ließen, wie etwa Familiengrablegen, Chroniken oder Wappengenealogien, lassen sich besonders in Phasen instabiler Herrschaft, etwa zu Regierungswechseln oder bei nicht geklärter Erbfolge, ausmachen.
3.
G ENERATIONSÜBERGREIFENDE V ERTRÄGE
„Ewigkeit wird zu einem bestimmenden Merkmal nicht nur des richtigen Friedensvertrages, sondern des guten Vertrages überhaupt, teilweise sogar der guten Vertragsbestimmung. Sie ist nicht nur als Dauerangabe zu verstehen; sie verleiht dem Vertrag auch höhere Würde und Qualität.“44
Dauer und Kontinuität konnten durch die bereits angesprochene grundlegende Bedeutung der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft innerhalb einer Dynastie als legitimierender Stabilisierungsfaktor generiert werden. Eine Gesamtidentität konnte dann konstruiert werden, wenn „die transpersonale Kontinuität von Herrschaft über die Zäsur des Generationenwechsels
41 Der ältere Bruder seines Vaters sowie dessen Sohn, die potentiellen Erben, waren bereits verstorben, sodass es außer Augusts Brüdern keine weiteren Anwärter auf die Regierung gab. Die Brüder wurden vertraglich abgefunden. 42 Vgl. N. Nissen: Lauenburg als Hauptresidenz, S. 81. 43 Vgl. G. Eimer: Gruftkirche, S. 59. 44 Fisch, Jörg: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelelemente des Friedensschlusses (= Sprache und Geschichte, Band 3), Stuttgart 1979, S. 353.
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hinweg [...] in der Kontinuität des Sippenkörpers gewahrt“45 wurde. Besonders in einer Zeit der sich ständig wandelnden Bündnissysteme, auch im regionalen Bereich, war eine politische Beständigkeit über Generationen hinweg ein Ziel.46 Anhand generationsübergreifender Verträge versuchten regierende Fürsten, politischen Einfluss über den eigenen Tod hinaus auszuüben. Vertraglich wurden die Nachfolger in der Regierung, seien es Söhne oder andere männliche Familienmitglieder, an deren Bestimmungen gebunden.47 Erbverbrüderungsverträge regelten für den Fall des Aussterbens der Dynastie die Einsetzung einer anderen Dynastie als Erben. In den Bestimmungen konnte es zum Beispiel um die religiöse Ausrichtung des Fürstentums, die Zulassung zu landesherrlichen Universitäten oder die Versorgung von Witwen des Fürstenhauses gehen.48 Diese Bereiche verdeutlichen die Vorstellungen des regierenden Fürsten bezüglich der zukünftigen Herrschaft sehr detailliert, sodass auch nach einem Tod, auf den kein leiblicher Erbe folgte, die Ansichten des Verstorbenen umgesetzt werden konnten. Zudem waren Erbverbrüderungen ein Versuch die Erbfolge bei Reichslehen ohne die Einmischung des Kaisers, der heimgefallene Reichslehen neu besetzten konnte, selbst zu gestalten. Zunächst mussten Erbverbrüderungsverträge vom Kaiser bestätigt werden, ab dem 15. Jahrhundert wurde aber zunehmend über die Notwendigkeit einer kaiserlichen Konfirmation diskutiert.49 Besonders vor dem Hintergrund der geringen Verbreitung und der oft fehlenden Konfirmation der Verträge durch den Kaiser ist zu fragen, welchen Einfluss diese interdynastischen Erbverträge auf das fürstliche Bündnissystem hatten. Führten sie zu einer
45 B. Kellner: Konstruktion von Kontinuität, S. 43. 46 Vgl. Auge, Oliver; Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (= Mittelalter-Forschungen, Band 28), Ostfildern 2009, S. 41f.; E. Hirsch: Generationsübergreifende Verträge, S. 12. 47 Vgl. Auge, Oliver: „Beobachtungen zu generationsübergreifenden Verträgen und Regelungen im skandinavischen Bereich bis 1500“, in: Spieß, Karl-Heinz/Müller, Mario/Tresp, Uwe (Hg.), Erbeinungen und Erbverbrüderungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Generationsübergreifende Verträge und Strategien im europäischen Vergleich (= Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, Band 17), Berlin 2014, S. 211-226. 48 Ein Beispiel für die Diskussion um Inhalte einer Erbverbrüderung sind die Verhandlungen um eine Erbverbrüderung zwischen Sachsen-Lauenburg und BraunschweigLüneburg Mitte des 17. Jahrhunderts, die allerdings nicht zum Abschluss kam; vgl. Hauptstaatsarchiv Hannover, Celle Br. 103, Nr. 165. 49 Vgl. E. Hirsch: Generationsübergreifende Verträge, S. 46-51.
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verstärkten Annäherung der Vertragspartner oder hatten sie eine eher geringe Wirkkraft für die tagespolitischen Ereignisse? Zudem ist zu fragen, wie damit umgegangen wurde, wenn solch ein Vertrag tatsächlich Anwendung fand, also eine Dynastie ausstarb und ein vertraglich zugesichertes Erbe eingelöst werden sollte.50 Der Herzöge von Sachsen-Lauenburg nutzen des Medium der Erbverbrüderungsverträge schon früh und relativ häufig.51 Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts schlossen sie mit einer eigenständigen Seitenlinie, den Herzögen von Sachsen-Wittenberg, einen gemeinsamen Erbvertrag.52 Intensivere Aktivitäten lassen sich dann nach 1356 ausmachen, dem Jahr, in dem sie die Kurwürde mit der Goldenen Bulle an die Wittenberger Sachsen verloren.53 So wurde etwa ein Erbbündnis von 1369 mit den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg, die sich aufgrund des Lüneburger Erbfolgekrieges in Opposition zu den Herzögen von
50 Beispiele außerhalb des Herzogtums Sachsen-Lauenburg bei E. Hirsch: Generationsübergreifende Verträge, S. 139-147. Hier wird auf die Bedeutung militärischer Interventionen bei der Durchsetzung von Erbansprüchen hingewiesen. 51 Im 14. Jahrhundert schlossen sie u.a. Erbverbrüderungsverträge mit Sachsen-Wittenberg und Braunschweig-Lüneburg ab und verhandelten noch im 17. Jahrhundert Erbverbrüderungen mit Braunschweig-Lüneburg und Anhalt; siehe dazu u.a. Landesarchiv Schleswig, Abt. 210, Nr. 185, 1145 und 1201 sowie Hauptstaatsarchiv Hannover, Celle Br. 104a, Nr. 73. 52 Mecklenburgisches Urkundenbuch, Band 5, Nr. 3216; Meyn, Jörg: „SachsenLauenburg im hohen und späten Mittelalter“, in: Opitz, Eckardt (Hg.), Herzogtum Lauenburg. Das Land und seine Geschichte, Neumünster 2003, S. 55-147, hier S. 85. 53 Nach der Landesteilung 1296 wurde der Verbleib der Kurwürde zwischen SachsenLauenburg und Sachsen-Wittenberg nicht geregelt. Beide Linien beanspruchten das Recht der Kaiserwahl für sich. In den folgenden Jahren kam es zu mehreren Doppelwahlen, bei denen die Sachsenherzöge in gegnerischen Lagern zu finden sind. Letztlich wurde dieser Streit von Kaiser Karl IV. mit der Goldenen Bulle, welche den Kreis der Kurfürsten festgelegte, zugunsten der Wittenberger entschieden; siehe hierzu besonders: Mohrmann, Wolf-Dieter: Lauenburg oder Wittenberg? Zum Problem des sächsischen Kurstreits bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Hildesheim 1975; allgemein zum Streit um die Kurwürde: Blaschke, Karlheinz: „Die sächsische Kur: Askanier und Wettiner“, in: Wolf, Armin (Hg.), Königliche Tochterstämme, Königswähler und Kurfürsten (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Band 152), Frankfurt a.M. 2002, S. 187-201; Hinze, Ernst: Der Übergang der sächsischen Kurwürde auf die Wettiner, Halle 1906.
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Sachsen-Wittenberg befanden, durch die Eheschließung Erichs IV. von SachsenLauenburg mit Sophia von Braunschweig-Lüneburg gestärkt.54 Als dann 1422 die Wittenberger Linie ausstarb, beanspruchten die Herzöge von Sachsen-Lauenburg deren Erbe inklusive der Kurwürde und beriefen sich dabei unter anderem auf eine bestehende und kaiserlich konfirmierte Erbverbrüderung. Zudem seien sie als verwandtschaftlich nächste Linie erbberechtigt und könnten auf eine gemeinsame Belehnungsurkunde verweisen, welche allerdings gefälscht war.55 All diese Vorbereitungen für den Erbfall halfen jedoch nichts. Das Erbe fiel mit der Kurwürde an die kaisernahen Wettiner, in Person des Markgrafen Friedrich IV. von Meißen, der mit den ausgestorbenen Wittenbergern weder erbverbrüdert noch enger verwandt war.56 Auch die darauf folgenden Prozesse vor dem Reichskammergericht blieben ohne Erfolg. Die folgenden Generationen konnten die Ansprüche aus den Verträgen ihrer Vorgänger nicht durchsetzen, hielten aber dennoch an der Vertragsart fest. 57 Auch nach der Niederlage im Kampf um das Wittenberger Erbe schlossen die Herzöge von Sachsen-Lauenburg weitere Erbverbrüderungen, bis sie schließlich 1689 ausstarben.58
54 Vgl. Sudendorf, Hans: Urkundenbuch der Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande, Band 3, Hannover 1862, Nr. 401. 55 Es stellte sich heraus, dass diese Urkunde gefälscht war. Durch den Einfluss Konrad von Weinsbergs, dem Schwiegervater Herzog Erich V., wurde eine zurückdatierte Belehnungsurkunde zugunsten der Lauenburger ausgestellt. Die Urkunde wurde vor den Todesfall datiert, sodass es so erscheinen sollte, dass die Lauenburger und die Wittenberger zur gesamten Hand belehnt wurden; vgl. E. Hinze: Der Übergang der sächsischen Kurwürde, S. 56f. 56 Friedrichs Tante war eine Herzogin von Sachsen-Wittenberg, woraus sich allerdings keine Erbansprüche ableiten ließen. Die Verleihung stand eher im Zusammenhang mit dem Engagement des Markgrafen Friedrich IV. von Meißen im Kampf gegen die Hussiten. 57 Es sind ca. zwei bis drei Verträge pro Jahrhundert zu verzeichnen, wobei das Problem des Status des Vertrages besteht. Es ist oft nicht festzustellen, ob der Vertrag kaiserlich konfirmiert wurde, ob er Gültigkeit ohne Konfirmation hatte und durch gegenseitige Anerkennung Gültigkeit erreichte oder ob nur ein fertiger, nicht ausgeführter Entwurf vorlag. Die weitere Diskussion wird im Rahmen meiner Dissertation erfolgen: Hormuth, Franziska: Endlichkeit fürstlicher Politik: Die Handlungsspielräume der Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296-1689) (Arbeitstitel). 58 Auch der Antritt des Lauenburger Erbes war aufgrund bestehender Erbverbrüderungsverträge und Verwandtschaftsverhältnisse sehr umstritten und wurde letztlich militärisch gelöst.
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Diese knappen Ausführungen haben gezeigt, dass generationsübergreifende Verträge nicht immer umgesetzt werden konnten oder ein enormes Konfliktpotential in sich bargen. Wenn die eigentliche Intention der Verträge gar nicht oder nur bedingt zum Tragen kam und schon die Folgegeneration sich nicht mehr den Verträgen verpflichtet fühlte, liegt die Frage nahe, ob generationsübergreifende Verträge eine gescheiterte Strategie der Einflussnahme auf die Politik nach dem eigenen Tod waren. Was auf den ersten Blick durchaus so erscheint, haben die Zeitgenossen offenbar anders wahrgenommen, da die Vertragswerke sich in den untersuchten Jahrhunderten etablieren konnten.
4.
F AZIT
Die Mechanismen der Strategien des Umgangs mit menschlicher Endlichkeit wurden am Beispiel von memorialer Legitimation und generationsübergreifenden Verträgen analysiert. Durch Konstruktion von Dauer und Repräsentation der Kontinuität einer vormodernen Dynastie wurde die Überwindung der eigenen Vergänglichkeit sowie die Überwindung der Endlichkeit personengebundener Herrschaft zu erreichen versucht. Die Stabilisierung der Herrschaft über die menschliche Endlichkeit hinaus durch Generierung von Kontinuität war neben der Sorge um das Seelenheil eines der zentralen Motive der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Memorialkultur. Die gezielte Inszenierung der Dynastie als ein Zusammenwirken aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Kombination mit der Demonstration der aktuellen Macht war eine der Strategien zur Einflussnahme und Sicherung der Politik über den Tod des einzelnen Fürsten hinaus. Als zweiter Aspekt wurde die langfristige normative Bindung von Dynastien anhand generationsübergreifender Verträge untersucht. Auch wenn der Anwendungsfall dieser Verträge ein hohes Konfliktpotential offenbarte und die Durchsetzungsfähigkeit der Vertragsbestimmungen in Frage zu stellen ist, wurde an der Vertragsart festgehalten beziehungsweise versucht, durch eine weitgehende Ausgestaltung der Verträge Konfliktsituationen vorzubeugen. Die Zusammenführung dieser beiden sehr unterschiedlichen Aspekte zur Analyse von Mechanismen und Strategien zur Überwindung von Endlichkeit ermöglicht eine erweiterte Perspektive auf die fürstliche Politik. Die angesprochenen Mechanismen bezogen sich eben nicht nur auf die religiöse memoriale Vorsorge, sondern auch auf die Sorge um politische Kontinuität und die Sicherung der Herrschaft für die Dynastie über Generationen hinweg. Mechanismen für den Umgang mit Endlichkeit umfassen neben zukunftsorientierten Strategien auch Rückgriffe auf die dynastische Vergangenheit, um in der Gegenwart Legi-
E NDLICHKEIT
UND DYNASTISCHE
K ONTINUITÄT
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timation durch die Repräsentation von Kontinuität und Dauer zu erreichen. Die Dynastie wurde als Garant für Kontinuität und Stabilität konstruiert und tradiert. Die Vorsorge für den eigenen Todesfall und die Zeit danach blieb jedoch für jeden Fürsten ein zentrales Anliegen, besonders in Hinblick auf das eigene Seelenheil, das personengebundene Gedächtnis und die erfolgreiche Weitergabe der Herrschaft – möglichst innerhalb der eigenen Dynastie. Strategien, die auf die Überwindung der eigenen Endlichkeit angelegt waren, konnten auch scheitern. Für die folgenden Generation können oft Modifikationen dieser Strategien beobachtet werden. So führte Herzog August die Bemühungen seines Vaters, eine dynastische Grablege in Lauenburg aufzubauen, genauso wenig fort wie dessen Projekt, eine Chronik der Herzöge von Sachsen-Lauenburg zu schaffen. Die Rückverlegung der Grablege in den Dom von Ratzeburg kann auch als Rückbesinnung auf eine ältere Tradition zu verstehen sein. Bemerkenswert ist, dass gescheiterte Strategien insgesamt nicht verworfen wurden. Die Lauenburger konnten das durch eine Erbverbrüderung zugesicherte Erbe nicht antreten, trotzdem schlossen sie weiterhin Erbverbrüderungsverträge. Die endgültige Ausführung einer Familiengrablege im eigenen Territorium scheiterte an finanziellen Engpässen, also wurde auf ältere Traditionen, in diesem Fall eine zwar exterritoriale, aber bereits bestehende Grablege, zurückgegriffen. Die Strategien einzelner Fürsten zur Überwindung der eigenen Endlichkeit konnten dabei variieren und wurden von der aktuellen politischen Lage sowie vom individuellen Legitimationsbedürfnis beeinflusst.
Vom Ende der geordneten Welt − Kulturkritik und Krisenerfahrung um 1900 S ILKE G ÖTTSCH -E LTEN
„Eine verkoppelte Feldmark und ein Mietskasernenviertel sind zwei hübsche Abbilder für den Zukunftsstaat der Sozialdemokratie, von dem man sagen dürfte, daß allein die ihm eingeborene Langeweile genügen würde, um das Geschöpf, das man bis dahin unter dem Namen Mensch zu verstehen pflegte, zu töten.“1
Ernst Rudorff, der als Gründervater der Heimatbewegung gilt, hat damit 1892 seine Vorstellung von der Endlichkeit der Gesellschaft formuliert, wie sie symptomatisch für die Zeit um 1900 war. Die Endlichkeit der Ressource Natur zeigt sich in ihrer Zerstörung durch eine profitorientierte und industrialisierte Landwirtschaft. Die Endlichkeit der Gesellschaft ist symbolisiert im Sieg der Sozialdemokratie, für den die Mietskasernenviertel stehen. Und schließlich liegt darin die Endlichkeit des Menschen begründet, der in einer regulierten, urbanisierten, also ent-natürlichten Welt den Tod der Langeweile stirbt. Solche Bilder verdichten die Wahrnehmung einer als krisenhaft diagnostizierten Zeit, sind mithin Kulturkritik, die Krise explizit als dem modernen Leben inhärent deutet. Implizit wird damit als Gegenentwurf eine Gesellschaft imaginiert, die vergangen ist, aber dem Menschen die Möglichkeit zur Gestaltung seines Lebens gab. Eine Welt ohne Verkoppelung steht als Metapher für eine bäuerliche Gesellschaft, die in Allmende wirtschaftete und wenig in die Natur ein1
Rudorff, Ernst: Der Schutz der landschaftlichen Natur und der geschichtlichen Denkmale Deutschlands. Vortrag gehalten zu Berlin 30. März 1892, Berlin 1892, S. 16.
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griff und vor allem ohne die bedrohliche Urbanisierung, die in der Vision der Mietskasernenviertel verdichtet ist. Als Schuldigen macht Rudorff, und damit steht er in seiner Zeit ja nicht alleine da, die Sozialdemokratie aus. Die starken Sprachbilder sind typisch für diese Zeit; Tod und Sterben sind als Metaphern in der einschlägigen Literatur stets gegenwärtig, wenn es darum geht, zeitgenössische Entwicklungen zu kommentieren.
1.
E RNST R UDORFF
UND DIE
A NFÄNGE
Ernst Rudorff war mehr als nur der geistige Vater der Heimatbewegung, er beeinflusste mit seinen Schriften und den darin aufgemachten Szenarien ganz wesentlich das Denken bildungsbürgerlicher Kreise in jener Zeit. Er wurde 1840 als Sohn eines Juraprofessors in Berlin geboren, entstammte mithin einer bildungsbürgerlichen Familie, die vielfältige verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zu bedeutenden Vertretern der Romantik besaß.2 Er lehrte als Musikprofessor an der Königlichen Musikhochschule in Berlin und komponierte auch, bekannt wurde er aber durch sein Engagement für den Heimatschutz, ein Begriff, den er mutmaßlich 1897 prägte. Bereits 1878 und dann 1880 erschien zunächst in der „Berliner Post“ und dann zwei Jahre später noch einmal in den „Preußische(n) Jahrbücher(n)“ seine erste bedeutende Schrift zu diesem Thema: „Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur“. Der Titel ist Programm und dieses Thema sollte Rudorff nicht mehr loslassen. 1904 war er unter denjenigen, die den „Bund: Heimatschutz“ gründeten, der noch heute unter dem Namen „Bund Heimat und Umwelt in Deutschland“ aktiv ist. Der „Bund: Heimatschutz“ formulierte ein umfassendes Programm, zu dem neben dem Schutz des Landschaftsbildes einschließlich der Ruinen auch die Denkmalpflege, die Pflege und der Erhalt der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bausubstanz, die Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt sowie der geologischen Besonderheiten, die Volkskunst sowie Sitten, Bräuche, Feste und Trachten gehörten. Damit war nicht nur eine Idee von Heimat und Heimatschutz institutionalisiert worden, sondern auch eine Wissensordnung geschaffen, die jene Gegen-
2
Vgl. dazu Knaut, Andreas: „Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung“, in: Edeltraud Klueting (Hg.), Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 20-49; Knaut, Andreas: „Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung“, in: Supplement 1 zum Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege, Greven 1993, S. 27-39.
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stände markierte, die heute unter dem weiten Begriff des kulturellen Erbes subsumiert werden.3 Bezeichnend für diese Bewegung ist, dass Rudorff und seine Nachfolger es nicht bei publizistischen Aktivitäten und Vereinsarbeit beließen, sondern ihre Ideen auch in die Praxis umsetzten. Rudorff selbst hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass die drohende Verkoppelung des väterlichen Gutes Lauenstein den Anstoß für sein Engagement im Heimatschutz gab. Mit zum Teil hohem finanziellem Einsatz kaufte er Landstücke auf, um diese vor der Verkoppelung zu bewahren und gefährdete Wiesen, Wälder und Wege zu erhalten.4 Rudorff hat mit seinen Schriften und seiner prägnanten Sprache eine Sehanleitung für die landschaftlichen Veränderungen in seiner Zeit formuliert, also normativ und wertend den Blick auf die Umwelt gelenkt. So heißt es an einer Stelle seiner Schrift „Heimatschutz“: „[…] so sehe man sich daraufhin doch einmal eine Gruppe alter Häuser in Hildesheim, Braunschweig, Nürnberg oder sonst wo an und vergleiche damit einen Block von modernen Wohnkasernen, der etwa einige hundert Schritt davon entfernt im letzten Jahrzehnt in die Welt gesetzt worden ist. Wovon redet die eine, wovon der andere? Dort Familiensinn, bürgerliche Tüchtigkeit, Gemütlichkeit, Schlichtheit, Friede und Freude, Genügsamkeit und Genügen, Humor und Gottesfurcht; hier Strebertum, Scheinwesen und Aufgeblasenheit, elegante Renommisterei, vollkommenste Nüchternheit, Kälte und Blasiertheit. Dort Poesie, hier kahler Verstand.“5 Rudorff ging es nicht allein um den Erhalt von Landschaft und Kulturdenkmälern, sondern sehr viel grundsätzlicher um ein Ausspielen von Gegenwart gegen Vergangenheit. An Vergangenheit wird nicht nur Maß für die Gegenwart genommen, sondern es werden sehr konkrete Vorschläge gemacht, wie die Gegenwart aufzuhalten sei, wie also in Bezug auf die Zukunft zu handeln sei, um die Vergangenheit als die bessere Welt zu bewahren bzw. wiederherzustellen. An Rudorff lassen sich einige Positionen aufzeigen, die für die weitere Diskussion von Interesse sind. Er setzte die eigene Gegenwart in ein explizites Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft. Die von ihm formulierte Kulturkritik war normativ. Er beschränkte sich aber nicht auf das Schreiben, sondern setzte seine Ideen auch praktisch um, als Form der Intervention, wenn er gefährdete Landschaft aufkaufte.
3
Vgl. dazu Tauschek, Markus: Kulturerbe. Eine Einführung, Berlin 2013.
4
Vgl. A. Knaut: Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung, S. 24.
5
Rudorff, Ernst: Heimatschutz, dritte veränderte Auflage, München/Leipzig 1904, S. 16f.
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2.
Z EITHORIZONT
Rudorff ist nur zu verstehen, wenn man den zeitlichen Horizont beleuchtet, in dem er seine Ideen formulierte. Das Wilhelminische Kaiserreich erlebte nach einer ersten Phase der Rezession seit den 1880er Jahren einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung. Die rasante Industrialisierung veränderte die Gesellschaft in kurzer Zeit. Produktion, Distribution und Konsumtion industriell gefertigter Waren unterlagen ganz neuen Bedingungen. Eine hoch arbeitsteilige Arbeitsorganisation erforderte viele Arbeitskräfte mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen, nicht nur die Industriearbeiter, das sogenannte Proletariat, sondern auch eine neue Mittelschicht, zum Beispiel die Angestellten, kleinen Beamten und Sekretärinnen in den Büros, die Verkäuferinnen in den Warenhäusern, alle diese Berufsgruppen mit ihren sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen prägten nun das Gesicht der Städte. Um die Wohnungsnot zu lindern, wurden Mietskasernen gebaut, eine passabel verdienende und über Freizeit verfügende Mittelschicht verlangte nach Unterhaltungsangeboten, es entstanden unter anderem Varietés, das Panoptikum und schließlich auch Kinematographen: Orte einer neuen Massenkultur. Das mag als kurze Hinweise genügen, um anzudeuten, wie schnell und grundlegend sich in jener Zeit Gesellschaft und Lebenswelt wandelten. Übrigens auch das Land blieb von diesen Entwicklungen nicht unberührt. Die Landwirtschaft prosperierte nicht nur durch den von Liebig erfundenen Kunstdünger, der die Erträge erheblich steigerte, sondern vor allem durch die neuen Absatzmärkte für Nahrungsmittel (Kohl, Kartoffeln) in den Großstädten.6 Das Wilhelminische Kaiserreich war wie kaum eine Zeit zuvor geprägt von der Erfahrung eines beschleunigten Wandels.7 Die angedeuteten Prozesse veränderten nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die soziale und natürliche Umwelt. Darauf reagierte der 1904 gegründete „Bund: Heimatschutz“ mit seinem Programm.8 „Volkskultur“ verstanden als materielle und immaterielle Überlieferung einer bäuerlichen Bevölkerung wurde zum Allheilmittel gegen die rasanten Veränderungen stilisiert: Volkskunst, Trachten, traditioneller Hausbau, Bräuche
6
Vgl. dazu Uekötter, Frank: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft (= Umwelt und Gesellschaft, Band 1), Göttingen 2012.
7
Vgl. dazu Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz. Raum und Zeit in der europäischen Moderne, Frankfurt a.M. 2004; sowie Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2012.
8
Vgl. dazu A. Knaut: Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung, S. 156-159.
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und mündliche Überlieferung. Seit der Romantik war Volkskunst ein wichtiger Identitätsmarker für die nationale Selbstvergewisserung, wurde als Ressource für Nation Building genutzt. Was bislang eher beiläufig geschah, wurde nun systematisiert, Volkskultur wurde zu einem wichtigen Baustein in einem rückwärtsgewandten Geschichtsbild. In diesem Verständnis von Volkskultur materialisierte sich für viele Zeitgenossen die vorindustrielle, vormoderne Welt, die als die stabilere und verlässlichere Gesellschaft gegen eine sich immer mehr beschleunigende Welt ausgespielt wurde.9 Um dieses Verhältnis von Gegenwartserfahrung und Vergangenheitsverklärung zu fassen, schlagen die Kulturwissenschaftler Thomas Düllo10 und Hartmut Böhme11 den Begriff Transformation vor, um ihn dem eher eindimensional argumentierenden Verständnis von sozialem Wandel gegenüberzustellen. Transformationsprozesse, so ihr Ansatz, erzeugen Ungleichzeitigkeiten. Das heißt: Nicht alle gesellschaftlichen Bereiche wandeln sich in gleicher Geschwindigkeit. Der Erfahrung von Ungleichzeitigkeit wird mit erhöhter Reflexivität begegnet. Also bleibt der „mentale Haushalt“12 einer Gesellschaft hinter dem wahrgenommenen Wandel zurück; wenn also Beschleunigung nicht als Fortschritt, sondern als Bedrohung des Bewährten erlebt wird, dann entstehe ein Gefühl der De-Stabilisierung, der Entwertung von Werten, der De-Traditionalisierung des Traditionellen. Die als nicht mehr synchronisierbar erlebte Ungleichzeitigkeit wird als das nahende Ende gesellschaftlicher Ordnungen, also als Symptom von Endlichkeit gedeutet. Solche Erfahrungen führen zu einer verstärkten Reflexion über das Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit. Die beschleunigte Gegenwart wird der als entschleunigt gedachten Vergangenheit entgegengesetzt. Vergangenheit allerdings meint dann keine historisch definierte Epoche, sondern wird universell als das Frühere gesetzt. Damit wird sie ihrer historischen Bezüge entkleidet und zur bloßen Projektionsfläche, die mit Eigenschaften wie Überschaubarkeit, Vertrautheit, engen sozialen Beziehungen, der Sicherheit lokaler und regionaler Traditionen sowie stabiler sozialer Ordnungen ausgestattet wird. Vergangenheit fungiert als Referenzordnung, an der eine als defizitär wahrgenommene Gegenwart abgeglichen wird. Wandel im Sinne von Transformation bezeichnet somit einen Prozess, der auf verschiedenen
9
Vgl. dazu Göttsch-Elten, Silke: „Volkskultur“, in: Hügel, Otto (Hg.): Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart/Weimar 2003, S. 83-89.
10 Düllo, Thomas: Kultur als Transformation, Bielefeld 2001. 11 Böhme, Hartmut (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011. 12 Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, S. 202.
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gesellschaftlichen Ebenen von unterschiedlicher Stärke und Intensität sein kann, der aber stets von den Mitgliedern einer Gesellschaft eine Neujustierung bisher geltender Ordnungen und Orientierungen verlangt. Wandel wird initiiert durch Veränderungen, die das Beziehungsgeflecht von Individuen und Gruppen, materieller Welt und Institutionen aus der Balance bringen. Das macht eine Neuordnung des Zusammenspiels des Früheren mit dem Späteren erforderlich. Dabei wird der Referenzbereich (Vergangenheit) retrospektiv konstruiert und darin Endlichkeitsvorstellungen auch im Sinne einer ontologischen Wahrnehmung eingeschrieben. Prozesse des Wandels werden mit Endlichkeitsszenarien gleichgesetzt. In der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Analyse solcher Prozesse wird der Fokus v.a. auf die daran beteiligten Akteure, ihre Praktiken und Diskurse ausgerichtet.13 In die Neuordnung des Verhältnisses von Gegenwart zu Vergangenheit und die daraus resultierende Perspektive auf die Zukunft investierten die reformerischen Bewegungen um 1900 viel intellektuelle Arbeit und gestalteten damit ein Interpretament von Vergangenheit, das als Ressource für die Gestaltung von Zukunft dient. Es geht also nicht um ein tatsächliches Ende im Sinne des Endes der Gesellschaft oder der Welt, sondern es geht um die Erfahrung von Verlust und um Strategien der Kompensation. Beschleunigung als Erfahrung von ökonomischen und sozialem Wandel (Fortschritt, Modernisierung) forciert Vorstellungen von Endlichkeit und das heißt in Bezug auf die Argumentation der Vertreter der Heimatbewegung, dass, ihrem Verständnis von Kultur folgend, Vergangenheit als Inbegriff von Stabilität und Sicherheit stilisiert wird. Wenn aber Kultur nur noch im Rückbezug auf vergangene Gesellschaften imaginiert werden kann, dann wird sie zu einer prekären Ressource. Ihr Verlust bedeutet dann auch den Untergang einer Welt, die dem Menschen angemessen ist. Es geht um nichts weniger als um eine Idee von Überleben und dafür muss die Vergangenheit befragt werden, da nur diese eine Zukunft ermöglichen kann. Endlichkeitserfahrungen werden somit produktiv gemacht, um das drohende Ende zu transzendieren. In Rudorffs Schriften ist nachzulesen, wie diese Transformationserfahrung literarisiert wird und damit Beobachtungen gesellschaftlicher Prozesse mit Deutungen ausgestattet werden. Die Heimatbewegung etabliert für die Zeitgenossen höchst eindringlich und plausibel Denkfiguren, Bilder, Deutungen und Wissensordnungen, die bis heute Wirkmacht entfalten.
13 Vgl. dazu Bergemann, Lutz et al.: „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“, in: H. Böhme (Hg.), Transformation, S. 39.
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3.
A KTEURE
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M ILIEUS
Die Eingängigkeit und Popularisierung kulturkritischer Denkhorizonte um 1900 führte dazu, dass weite Teile der Bevölkerung solche Einschätzungen teilten und ihre Ängste in den Szenarien der heimatbewegten Protagonisten bestätigt fanden. Die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen forcierten zugleich eine Pluralisierung der Weltdeutung, sodass sich die traditionellen Bildungsmilieus mehr und mehr in der Defensive sahen. Humanistische Bildung verlor ihr akademisches Monopol und damit an symbolischem Kapital durch die Aufwertung anderer Bildungsabschlüsse vor allem in technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen.14 Prozesse der Elitebildung wurden damit neu justiert. Der Aufstieg der sogenannten Massenkultur, der Popularkultur, der den klassischen Kulturbegriff prekär werden ließ, forcierte Diskussionen um den Untergang klassischer Bildungsideale.15 Die gesellschaftliche Dynamik destabilisierte das traditionelle soziale Gefüge und schürte vielfach Ängste vor sozialem Abstieg, in jener Zeit gesellschaftlich genauso präsent wie der Glaube an sozialen Aufstieg. Die große Wirkmacht, die eine solche weltanschauliche Melange, wie wir sie um 1900 vorfinden, entfalten konnte, wird nur verständlich, wenn die gesellschaftlichen Prozesse jener Zeit und ihre Auswirkungen auf Bewusstsein, Identitätsbildung, Wahrnehmungs- und Deutungsschemata, aber auch Verhaltens- und Handlungsoptionen in die Überlegungen einbezogen werden. Die Bildungseliten jener Zeit verfügten mit den klassischen Bildungsinstitutionen wie Museen, Vereinen oder Zeitschriften über Medien, die sich als äußerst effektiv erweisen sollten, um Deutungsschemata über ihr eigenes Milieu hinaus zu vermitteln. Beispiele dafür sind u.a. Ferdinand Avenarius mit dem „Dürerbund“ und der Zeitschrift Kunstwart.16 Institutionalisiert wurden solche Ideen unter dem Dach der Heimatschutzbewegung. Damit sind eine ganze Reihe von Bewegungen gemeint, die zum Teil
14 Vgl. dazu Frühwald, Wolfgang: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a.M. 1991, S. 73-110. 15 Vgl. dazu Maase, Kaspar: Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a.M. 2012; Maase, Kaspar/Kaschuba, Wolfgang (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u.a. 2001; Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997. 16 Vgl. dazu Kratzsch, Gerhard: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969.
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eng beieinander lagen, zum Teil aber auch sehr different waren. Heimatschutz als Idee war Ausdruck moderner Lebensführung und deshalb engagierten sich in ihr sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben jener Zeit prominente Rollen spielten, durchweg waren es Akademiker, Intellektuelle, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler usw. Wenn man sich den Aufruf zur Gründung des „Bund: Heimatschutz“ von 1904 anschaut, dann finden sich unter den Unterzeichnern viele bis heute bekannte Namen, zum Beispiel der Worpsweder Maler Hans am Ende und der einflussreiche Hamburger Museumsdirektor Otto Lehmann. Bereits bei Gründung konnte der Bund auf über 500 persönliche Mitglieder verweisen. Heimatschutz verstanden als Pflege und Schutz von Natur, Kultur und Denkmälern war ein im Bürgertum breit verankertes Anliegen, das sich nicht in Vereinsgeselligkeit erschöpfte, sondern bei dem es um aktives Eingreifen, um Intervention ging. Die erste Aktion des „Bund: Heimatschutz“ war der Kampf gegen die technische Nutzung der Laufenburger Stromschnellen zur Energiegewinnung, der allerdings verloren ging.17 Viele der Protagonisten dieser Bewegungen wie z.B. Paul SchultzeNaumburg sollten sich später in die nationalsozialistische Bewegung einreihen, andere hingegen gehörten der Sozialdemokratie an und wurden verfolgt. Die Heimatbewegung in all ihren Facetten ist keinem politischen Lager eindeutig zuzuordnen. Vielmehr war es am Anfang eine Idee, eine Perspektive auf die Welt, die von der Erfahrung eines rasanten und allumfassenden Wandels geprägt war. Und gerade weil sie nicht plakativ zu vereindeutigen ist, weil sie die Befindlichkeit unterschiedlichster Milieus ansprach, konnte sie auch so wirkmächtig werden.
4.
K ULTURKRITIK ALS „R EFLEXIONSMODUS DER M ODERNE “: N IETZSCHE UND DIE F OLGEN
Dass Kulturkritik mehr ist als bloße Rhetorik, darauf hat Georg Bollenbeck in seiner grundlegenden Untersuchung zur Geschichte der Kulturkritik hingewiesen und sie treffend als „Reflexionsmodus der Moderne“18 charakterisiert. Er verfolgt die These, dass Kulturkritik im modernen Sinne ein Produkt „der ‚evolutiven Moderne‘ ist und dessen Wertungs- und Ordnungsschemata gegenüber den
17 Vgl. A. Knaut: Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung, S. 421-426. 18 G. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 7.
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Zumutungen der Moderne sensibilisieren“19. So verstanden entstehe Kulturkritik in der Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsglauben, wie er in der Aufklärung etabliert wurde. Die Erfahrung, dass deren emanzipatorischen Visionen keine Wirklichkeit wurden, bringe, so Bollenbeck, Verlustgeschichten hervor, die zum Kern der Kulturkritik als „Reflexionsmodus der Moderne“ werden. Prozesse, Entwicklungen, Verhältnisse und Abläufe werden als Verfallsgeschichten thematisiert, das heißt, dass die eigene Zeit verworfen und zugleich die Vergangenheit verklärt wird. Allerdings bedeutet das nicht etwa, dass Kulturkritik in bloßer Rückwärtsgewandtheit erstarrt, im Gegenteil, dieser Diagnose wird mit der Suche nach Auswegen, also nach Strategien der Überwindung begegnet. Kulturkritik, auch das eine Feststellung Bollenbecks, folge einem sehr deutschen Verständnis und entsprechend einem engen und normativen Kulturbegriff, der als kontrastiver Bezugspunkt Krisenbewusstsein produziert,20 wie die bereits skizzierten Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gezeigt haben. Kulturkritik ist keiner wissenschaftlichen Disziplin als genuines Teilgebiet zuzuordnen, sie entstammt einer Gemengelage unterschiedlicher Denktraditionen und umfasst ein breites Spektrum heterogener Positionen. Neben Schriften, die sich diagnostisch mit ihrer Zeit auseinandersetzen, gibt es viele Publikationen, die stets gleichbleibende Geschichten von Verfall und Degeneration erzählen. Aber es ist gerade dieses Genre, das beim bürgerlichen Lesepublikum jener Zeit auf große Resonanz traf. Dazu gehören Bücher wie das von Julius Langbehn „Rembrandt als Erzieher“21 und eben jenes von Oswald Spengler „Untergang des Abendlandes“.22 Der Titel des letztgenannten Buches ist zum Slogan kulturkritischen Denkens geworden ist. Kulturkritik also ist weder eine eigene Disziplin noch eine Teildisziplin etwa der Philosophie, sondern viele ihrer Vertreter bewegen sich eher am Rande universitärer Fächer und inszenieren sich selbst häufig als außerhalb akademischer Disziplinen und Zirkel stehend. Kern kulturkritischen Denkens ist das als Verfall gekennzeichnete Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit, das, so Bollenbeck, Kulturkritik von Zeitkri-
19 Ebd., S. 10f. 20 G. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 14. 21 Langbehn, Julius: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 1890. Dieses Buch erlebte in rascher Folge viele Auflagen und gehörte zu den Bestsellern des Wilhelminischen Kaiserreichs. 22 Spengler, Oswald: Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie des Abendlandes, Wien 1918, Band 2, München 1922. Dieses Buch war eines der erfolgreichsten und einflussreichsten der Zwischenkriegszeit. Spengler hatte bereits kurz vor dem 1. Weltkrieg erste Gedanken publiziert.
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tik scheidet: „Im Unterschied zur Zeitkritik hat Kulturkritik ein Geschichtsbewusstsein von langer Dauer.“23 Kulturkritik, so fährt er fort, „erwächst aus der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände; sie hinterfragt den Fortschritt des eigenen Zeitalters, lehnt die eigene Gegenwart mit Blick auf die Opfer der Individuen ab und sucht nach Auswegen in der Zukunft. Dieses triadische Denken unterscheidet sich von einem Fundamentalpessimismus, der nicht nur die gegenwärtige Epoche, sondern auch das Dasein schlechthin verwirft. Deshalb ist Nietzsche, im Unterschied zu Schopenhauer, ein Kulturkritiker. Denn zwischen beiden steht, wie schon Simmel erkannte, Darwin.“24
Die gesellschaftliche Wirkung solcher disziplinär nur wenig konturierten Kulturkritik ist für die Zeit um 1900 nicht zu unterschätzen. Sie hatte großen Einfluss auf das Denken vieler geisteswissenschaftlicher Fächer und war darüber hinaus impulsgebend für künstlerisch-ästhetische Bewegungen wie zum Beispiel die Kunstgewerbe-Bewegung, aber auch öffentliche und mediale Debatten über den Zustand der Gesellschaft wurden durch sie befeuert und zudem wirkte sie handlungsmotivierend bei der Suche nach einer anderen Moderne, so in den unterschiedlichen Bereichen der Reformbewegung, Ökologiebewegung und Jugendbewegung, aber eben auch in der Heimat-, Denkmalschutz- und Naturschutzbewegung.25 Entscheidende Referenz aller kulturkritischen Positionen war Friedrich Nietzsche. Seine Kulturkritik, so Bollenbeck, habe in Deutschland entscheidend dazu beigetragen, dass der Glaube an die positiven Werte einer industrialisierten und damit modernen, auf die Zukunft ausgerichteten Gesellschaft nie aufkam.26 Seine apodiktischen Szenarien etablierten eine Rhetorik des Untergangs, des Verlustes und des Sterbens, die sich tief in den mentalen Haushalt der Wilhelminischen Gesellschaft einschrieb. Begriffe wie Entartung, der durch das erfolgreiche, gleichnamige Buch von Max Nordau27 popularisiert wurde, oder Dekadenz gingen in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Nordau hatte sich in Begriff und Konzept vom Arzt und Kriminalanthropologen Cesare Lombroso inspirieren lassen, der auch den Begriff der Degeneration benutzte, um eine Anthropologie des
23 G. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 20. 24 Ebd., S. 20. 25 Buchholz, Kai (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. 26 G. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 155-198. 27 Nordau, Max: Entartung, 2 Bde., Berlin 1892/1893.
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Verbrechers zu begründen.28 Nordau übertrug ihn auf die künstlerischästhetische Produktion und meinte damit vor allem Werke von Lew N. Tolstoi, Émile Zola und Henrik Ibsen. Er kündigte in seinem Buch eine Katastrophe bisher nicht bekannten Ausmaßes an und schürte damit Angst- und Untergangsszenarien. Das Wort Entartung geht zwar nicht auf Nordau zurück, der – eine Ironie des Schicksals – Sohn eines jüdischen Rabbiners war, aber Nordau steht für die semantische Aufladung des Begriffs und für seine ungeheure Popularisierung. Dekadenz, ein Begriff, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem als künstlerisch-ästhetisches Konzept durchsetzte und den Dichter wie Charles Baudelaire selbstreflexiv benutzten, wurde in den kulturkritischen Debatten biologistisch aufgeladen und als Niedergang und Verfall von Kulturen und Gesellschaft gedeutet, so besonders wirkungsvoll im Buch Oswald Spenglers zur Beschreibung seines Untergangszenarios der abendländischen Welt. Auch die negative Aufladung des Zivilisationsbegriffs spitzte sich in dieser Zeit zu und verschärfte die Frontstellung Kultur versus Zivilisation. Dichotomes Denken prägte mehr und mehr die Welterfahrung: Entartung, Dekadenz und Zivilisation auf der Negativseite, positiv gewendet stand auf der anderen Seite Kultur, Leben und Seele.29 Kulturkritische Bücher waren Weltanschauungsangebote, die aufgrund ihrer Eingängigkeit und ihrer disziplinären Vagabondage (Kriminalanthropologie, Biologie, Geschichte, Kunst, Literatur, Philosophie) äußerst populär waren und hohe Plausibilität besaßen. Sie formulierten ethisch-normative Orientierungen und boten eine Gesamtdeutung der Welt an, die sich weitgehend aus den Ideen Nietzsches speiste. 1922schrieb der Religionssoziologe Ernst Troeltsch im Rückblick auf die Vorkriegszeit, „schon seinerzeit war es üblich, dass alles von der Theologie bis zum Freidenkertum, vom Kapitalismus bis zum Sozialismus, vom Konservatismus bis zum Bolschewismus, von Internationalismus bis zum Nationalismus, vom Atheismus bis zur Anthroposophie mit Strömen aus Nietzsche floss und Zitaten aus ihm geistreich gemacht zu werden pflegt.“30
Aber bei aller pessimistischen Grundstimmung ging es nicht um bloße Weltuntergangsszenarien, sondern immer um das Spannungsverhältnis von Untergang und Verfall auf der einen Seite und der Frage nach der Ermöglichung einer Zu-
28 Vgl. dazu Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. 29 G. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 202-206. 30 Zit. n. ebd., S. 201.
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kunft auf der anderen Seite. Kulturkritik wollte Handlungsoptionen aufzeigen. Deshalb ist es nicht nur wichtig, die einschlägigen Schriften heranzuziehen, sondern auch den Blick auf praxeologische Felder zu richten, nach den Techniken und Strategien zu fragen, mit denen kulturkritisches Denken in Handlung übersetzt wurde.
5.
V ERLUSTERFAHRUNG UND D OKUMENTATIONSSTRATEGIEN – ZUR M ATERIALITÄT VON E NDLICHKEIT
Auch wenn die Proteste für den Erhalt der Laufenburger Stromschnellen 1904 letztlich erfolglos blieben, zeigt dieses Beispiel, dass es im kulturkritischen Denken jener Zeit nicht allein um intellektuelle Positionen ging. Das Bedürfnis, die bedrohte oder sogar verschwindende Umwelt zu erhalten oder zumindest die Erinnerung an sie zu bewahren, durchzog viele Felder gesellschaftlichen Handelns. Die ausdrückliche Betonung des Heimatlichen, wie sie in den Begriffen, aber auch den Praktiken von Heimatfesten, Heimatforschung und Heimatvereinen jener Zeit zum Ausdruck kamen, verweisen auf den hohen Stellenwert, den diese Ideen in der Gesellschaft besaßen. Professionalisiert wurden solche Aktivitäten insbesondere an den Schnittstellen von Heimatbewegung und Wissenschaft, hier ist insbesondere die Volkskunde und die frühe Museumswissenschaft zu nennen. In diesen Disziplinen wurden Praktiken des Bewahrens, Dokumentierens und Zeigens auf unterschiedlichen Feldern (Museen, Denkmal- und Naturschutz, Heimatpflege, ethnologische Feldforschung) entwickelt, die nachhaltig an der Produktion von Bildern einer untergehenden Welt beteiligt waren und diese mit ihren Sammlungen und Dokumentationen narrativ aufbereiteten. Die Aufmerksamkeit der entsprechenden Akteure war zwar auf die Vergangenheit als dem Aufzubewahrenden gerichtet, aber die Techniken des Bewahrens bedienten sich modernster Apparate: Der Fotoapparat eröffnete bis dahin unbekannte Möglichkeiten des Dokumentierens.31 Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp hatte die Be-
31 Vgl. dazu Göttsch, Silke: „Feldforschung und Märchendokumentation um 1900. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählforschung“, in: Zeitschrift für Volkskunde 87 (1991), S. 1-18; Göttsch, Silke: „Die schwere Kunst des Sehens. Zur Diskussion über Amateurfotografie in Volkskunde und Heimatbewegung um 1900“, in: Lipp, Carola (Hg.), Medien popularer Kultur. Erzählung, Bild und Objekt in der volkskundlichen Forschung. Rolf Wilhelm Brednich zum 60. Geburtstag 1995, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 395-405.
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deutung solcher Apparate in Bezug auf die Fotografie in einem zutreffenden Bild zusammengefasst: „Einem historisierenden, sammelnden, zerstörenden und renovierenden Zeitalter war mit einem Male die Furcht genommen, irgendwas zu verlieren.“32 Das Spannungsverhältnis von Verlust und Bewahren und von Simulation zu Originalität und Authentizität ist damit aufgemacht. An diesen Praktiken waren sehr unterschiedliche Akteure beteiligt: Museumswissenschaftler, Architekten, Kunsthistoriker, Volkskundler, Historiker und auch Laien, zumeist Angehörige der bildungsbürgerlichen Eliten, von denen sich sehr viele in der Heimatbewegung engagierten. Die Erfahrung des Verlustes wurde in Objekten materialisiert, Gegenstände, die aus dem Alltag verschwanden wurden zu Stellvertretern des Verlustes stilisiert. Im Sinne Krzysztof Pomians erhielten sie damit eine zweite Natur, wurden zu Semiophoren.33 Die Praktiken des Dokumentierens und des Aufbewahrens sollten die Erinnerung an eine vergehende materielle Welt festhalten und zugleich Anleitung sein, sie als Ressource für die ästhetische Gestaltung von Zukunft zu nutzen. In den Publikationen zentraler Akteure, Vertreter der Heimatbewegung wie Ernst Rudorff, Paul Schultze-Naumburg, Heinrich Sohnrey, Ferdinand Avenarius, aber Museumswissenschaftler wie Otto Lehmann und Künstler wie Hans am Ende, die sich alle aktiv in diese Diskussionen einbrachten, ist der Diskurs über das Spannungsverhältnis von Stabilität (Bewahren, Konservieren, Pflegen, [Wieder-]Beleben) und De-Stabilität (Auflösung, Verlust, Zerstören, Verschwinden) prominent. Die daran beteiligten Protagonisten sind bei allen unterschiedlichen politischen Positionierungen Teil eines Wissensmilieus, innerhalb dessen sich dieser Diskurs formiert, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Exponiertheit Relevanz gewinnt und damit Wirkmacht entfaltet. Dieses komplexe Geflecht sozialer Praktiken umfasst die entworfenen gesellschaftlichen Szenarien (Untergang, Auflösung), die Begründungen (gegen Überfremdung, gegen Sozialdemokratie, für zukünftige Generationen), die Strategien (Denkmal- und Naturschutz, Trachten- und Brauchpflege, Fotografieren, Aufzeichnen) und die Formate (Ausstellungen, Fotobände, aktive Heimatpflege). Dabei geht es immer um das In-Beziehung-Setzen einer enthistorisierten Vergangenheit mit einer als bedrohlich erlebten Gegenwart, um daraus Perspektiven für eine Zukunft zu ge-
32 Kemp, Wolfgang: „Theorie der Fotografie I 1839-1912“, in: Kemp, Wolfgang/Amelunxen, Hubertus von (Hg.), Theorie der Fotografie 1839-1995. I-IV, München 2006, S. 40. 33 Vgl. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Neuausgabe, Berlin 1998.
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winnen. Die Allgegenwärtigkeit dieser Debatten einerseits, aber auch die Erfahrung von Beschleunigung und Kontingenz gedeutet als Vertrautheitsschwund und Verlust andererseits führt zu einer Perspektive auf die Lebenswelt, die stets deren Endlichkeit mitdenkt. Damit gewinnt ein das 20. Jahrhundert prägendes Interpretament Kontur. Der Rhetorik des Verlustes, des Sterbens, des Verschwindens und des Zerstörens ist nicht auf ein definitives Ende hin ausgerichtet, sondern lässt stets einen Spalt offen, impliziert den Rettungsgedanken und verweist auf Ressourcen, aus denen man für eine Zukunft schöpfen kann. Dieses Paradoxon zwischen metaphorisch herbeigeredetem Ende und dem Entwerfen einer Vision von Zukunft lässt sich gewinnbringend nutzen, um nach der Materialität der Verlusterfahrung zu fragen. Denn die materialorientierten Wissenschaften bringen in der Zeit um 1900 ein Methodenrepertoire hervor, das vor allem Authentizität, Echtheit, Bewahrung und Präsentation des historischen Materials problematisiert. Es geht um die Frage, wie Gegenstände ausgewählt, dokumentiert, platziert und inszeniert und damit zu Verweisobjekten gemacht werden, mit denen Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben werden soll. Sie erfahren somit eine Bedeutungsverschiebung, indem sie es ermöglichten, dass an ihnen eine als defizitär erlebte Gegenwart immer wieder abgeglichen werden konnte. So wurde der Verlust immer wieder aufs Neue sichtbar gemacht, die Erfahrung von Beschleunigung dadurch verstärkt und die Differenz letztendlich als nicht mehr überbrückbar interpretiert. Vergangenheit in ihrer so materialisierten Form hat die Funktion Ressource zu sein für eine als defizitär erlebte Gegenwart. Die Modi im Umgang mit Materialität, die Praktiken des Bewahrens, lassen sich in drei Kategorien unterteilen. 5.1 Praktiken des Konservierens Hierzu gehören alle jene Praktiken, die dazu dienen, Objekte als Originale zu authentifizieren. Es entstehen museale Sammlungen, die durch systematische Sammelreisen zusammengetragen werden. Besonderer Wert wird dabei auf die sogenannte Volkskunst gelegt, die als Ausweis vorindustrieller Kreativität gilt. Es entstehen in vielen Großstädten Kunst- und Gewerbemuseen, in denen Spitzenerzeugnisse des traditionellen Handwerks bewahrt werden. Zu den Strategien der Professionalisierung des Bewahrens gehören auch die Anfänge einer methodisch fundierten Feldforschung. Die Sammlung mündlicher Überlieferung führt zu ausführlichen Überlegungen, wie man am besten im Prozess des Medienwechsels von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit Authentizität erzeugen kann. Legendär sind die Ärmelschoner des mecklenburgischen Gymnasiallehrers Wossid-
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lo, auf die er, während seine Gewährspersonen erzählten, das Gehörte wortgetreu mitzuschreiben versuchte.34 Keine der Sammlungen mündlicher Überlieferungen jener Zeit kommt ohne Geschichten aus, in denen nicht der Prozess des Authentisch-Machens des Materials beschrieben wird. Die Bedeutung und die Effektivität moderner Techniken wie die Fotografie oder der Phonograph (magnetische Tonaufzeichnungen) wird erkannt und das Vertrauen in sie war groß: „Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Dann reiße man das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.“35 Es ist insbesondere die Heimatbewegung und die sich institutionalisierende Volkskunde, die die Fotografie als geeignetes Medium ansehen, ein Bild der traditionellen Welt festzuhalten, so dass das Original letztlich verzichtbar wird. Das dahinterstehende Verständnis von Authentizität bzw. der Herstellung von Authentizität ist bisher nur ansatzweise untersucht und sollte in Beziehung gesetzt werden zu Roland Barthes’ Simulacrum. Zu den Praktiken des Konservierens in jener Zeit gehört auch die Entstehung des modernen Denkmalschutz- und Naturschutzgedankens, weil damit Überlegungen verbunden waren, wie Ursprünglichkeit und Originalität von Landschaft und Gebäuden auszusehen haben. Man könnte also sagen, dass damals intensive „Reinheitsdiskurse“ etabliert wurden, über die die Vorstellung, was ein Original ausmache, verhandelt wurde. 5.2 Praktiken des Zeigens: Ausstellen und Vorführen Durch die Praktik des Zeigens wurde das Bewahrte und als Original Authentifizierte öffentlich gemacht und in einen auf gesellschaftlichen Konsens ausgerichteten Deutungshorizont eingebunden. Dafür bedurfte es der Formate, in die solche Deutungsnarrative eingeschrieben werden konnten. Insbesondere das Medium Ausstellung, das seit der Weltausstellung in London 1851 zu einem modernen Wissensformat entwickelt worden war, eignete sich für diese Zwecke.36 Museumswissenschaftler aus ganz Europa lernten in Schweden bei Arthur Hazelius, dem Gründer des Nordischen Museums und des ersten Freilichtmuseums Skansen in Stockholm, wie Ausstellungen zum Thema „vorindustrielle Kultur“ auszusehen hatten: inszenierte Bilder, die Szenen aus einem vermeintlichen historischen Alltag zeigten, der durch Rituale und Ordnungen geregelt war. Für das
34 Vgl. S. Göttsch: Feldforschung, S. 10. 35 W. Kemp: Theorie der Fotografie, S. 40. 36 Vgl. dazu Wörner, Martin: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851-1900, Münster 1999.
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Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes, das 1889 in Berlin eröffnet wurde, inszenierte Ulrich Jahn eine sorbische Stube, in der mit Figurinen in Tracht eine Brautwerbungsszene nachgestellt war. Solche „Verlebendigungen“ hatte Hazelius äußerst erfolgreich vorgemacht, als er ein sogenanntes Volkslebensbild, das das Totenbett eines Mädchens darstellte, zum Vorbild für ein Diorama nahm. Die Wiederholungen bzw. Verdoppelungen der Bilder dienten dazu, Authentizität in museale Präsentationen einzuschreiben und Imagines einer vorindustriellen Welt, die für stabile Werte und Normen stand, zu entwerfen.37 Solche Bilder ermöglichten das Abgleichen zwischen unterschiedlichen zeitlichen Horizonten. Der Ernst der Themen wie zum Beispiel Hochzeit, Tod und Kirchgang überhöhte den historischen Alltag einmal mehr. Die Praktiken des Zeigens hatten ohne Frage didaktische Intentionen. Sie sollten dazu dienen, die Erfahrung von Endlichkeit und Vergänglichkeit präsent zu halten und das Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit immer wieder gesellschaftlich zu thematisieren. Neben Ausstellungen wurden weitere Formate entwickelt, die stärker auf Performativität und Theatralität angelegt waren und, wenn man so will, das heutige Spiel mit Living History vorwegnahmen. Der mecklenburgische Gymnasiallehrer Richard Wossidlo legte um 1900 eine der umfangreichsten Sammlungen mündlicher Überlieferung an und nutzte sein Material als Grundlage für erfolgreiche plattdeutsche Theaterstücke wie zum Beispiel „Winterabend in einem mecklenburgischen Bauernhaus“ von 1900. Die Texthefte wurden gedruckt und im gesamten niederdeutschen Sprachraum vertrieben. Wossidlo hatte eigens eine Kiste zusammengestellt, in der originale Objekte wie Trachten, Geschirr, Einrichtungsstücke usw. enthalten waren, die von den plattdeutschen Vereinen, die diese Stücke mit großer Begeisterung und Resonanz aufführten, ausgeliehen werden konnten. Auch hier ging es um Ansprüche an Authentizität und Wossidlo sah sich mit seiner Arbeit am Beginn einer erfolgreichen Revitalisierungsbewegung.38
37 Vgl. dazu Göttsch, Silke: „Imaginierte Welten – Bildersucht im 19. Jahrhundert“, in: Becker, Siegfried et al. (Hg.), Volkskundliche Tableaus. Festschrift für Martin Scharfe, Münster 2001, S. 227-235. 38 Vgl. dazu Göttsch, Silke: „Lebensbild oder Panoptikum? Zur zeitgenössischen Rezeption des Theaterstücks ‚Winterabend in einem niederdeutschen Bauernhaus‘ von Richard Wossidlo“, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 30 (1998), S. 49-60.
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Aber auch die wilhelminische Festbegeisterung wurde für die Sache genutzt,39 Trachtenfeste wie das 1904 in Scheeßel, auf denen Tanz, Theater, Trachten und Bräuche für ein von weither angereistes Publikum vorgeführt wurden, dienten pädagogischen Zielen. Museumsdirektoren wie Otto Lehmann oder Maler wie Fritz Mackensen und Hans am Ende traten als Juroren bei Wettbewerben um die echtesten Trachten auf. Die Praktiken des Zeigens blieben nicht auf das Museum beschränkt, sondern das Verwischen der Grenzen zwischen musealer Präsentation und der Praxis des Vorführens, des Performativen, verweist auf die Strategien des (Wieder-)Belebens. 5.3 Praktiken des Ästhetisierens Performanz als Nachspielen historischer Wirklichkeit ist eine Technik der Ästhetisierung des Alltags. Aber nicht nur auf der Bühne wurde der Rückbezug auf die Vergangenheit zelebriert, sondern man umgab sich auch im Alltagsleben mit Dingen, die als Signet für Traditionalismus fungierten. Denn materielle Überlieferung wurde nicht nur in den Museen auf die Bühne gebracht, sondern auch für eine Ästhetisierung des Alltags genutzt, also in den modernen Lebensstil integriert. Mit dem Rückgriff auf historische Formen und Materialien zeigte man im Wohnstil „Geschmack“, über den man verfügen musste, um sich als Mitglied einer bildungsbürgerlichen Elite zu behaupten. Wohnen war eine auf Distinktion angelegte Praxis, mit der man die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft unter Beweis stellte, über das Wissen um die ästhetische Qualität von Objekten setzte man sich von jenen Schichten ab, die der Zivilisation, also der seelenlosen Moderne, erlegen waren. Kunsthandwerk, das inspiriert von der englischen Arts and Crafts-Bewegung, die maßgeblich von John Ruskin und William Morris getragen wurde,40 auf traditionelles Handwerk zurückgriff, war äußerst beliebt und wurde der Verflachung des Designs durch die Industrieproduktion entgegengesetzt. Kunsthandwerkerschulen wurden gegründet und nicht selten entwickelten sich daraus wie zum Beispiel in Flensburg auch Kunst- und Gewerbemuseen,41 in denen die Vorbildstücke des traditionellen Handwerks, in der Regel Objekte,
39 Vgl. dazu exemplarisch Böning, Jutta: Das Artländer Trachtenfest. Zur Trachtenbegeisterung auf dem Lande vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Band 99) Münster u.a. 1999. 40 Vgl. dazu u.a. Todd, Pamela: William Morris and the Arts and Crafts homes, London 2005; Kemp, Wolfgang: John Ruskin 1819-1900. Leben und Werk, München 1983. 41 Werkkunstschule Flensburg. 100 Jahre Werkkunstschule Flensburg 1890-1990, hrsg. vom Städtischen Museum Flensburg, Flensburg 1990.
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die als Volkskunst aufgewertet wurden, für die Öffentlichkeit ausgestellt wurden. Sie sollten für eine breite Bevölkerungsschicht geschmacksbildend wirken. Besonders eindrucksvoll lässt sich das an dem schwedischen Maler Carl Larsson und dessen Frau Karin zeigen, die ihr Haus perfekt als kunstgewerbliche Inszenierung eines nationalschwedischen Stils vermarkteten.42 Karin Larsson designte in einer Mischung aus schwedischer Volkskunst und Gustaviansker Klassik Möbel und Stoffe und richtete damit ihr Haus ein und Larsson malte dazu die Bilder einer glücklichen Familie, die in einer perfekten ländlichen Idylle, weit weg von einer urbanen oder industrialisierten Welt, lebten. Dennoch sind diese Bilder ungeheuer modern, demonstrieren alternativen Lebensstil und waren übrigens auch damals schon in Deutschland sehr erfolgreich. 1909 erschien in der populären Blauen Reihe des Langewiesche Verlags das Buch „Das Haus in der Sonne“, das zu einem Besteller wurde. In jener Zeit erschienen viele Zeitschriften und Bücher, die in ganz ähnlicher Weise wie die Larssons in Schweden auch für Deutschland geschmacksbilden wirken wollten. Der Kunstwart ist da nur das bekannteste Beispiel.43 Die Praktiken des Ästhetisierens, also die Strategien, mit denen die Erfahrung des Verlustes kompensiert wurde, waren um 1900 Teil eines sehr modernen Lebensstils. Das kulturkritisch verhandelte Verhältnis zur Vergangenheit bedeutete keine Abkehr von der Gegenwart, sondern wurde im Gegenteil für die Herausbildung eines distinktiven Lebensstils, zur Ästhetisierung des Alltags genutzt. Darüber wurden „Geschmacksdebatten“ und damit auch Diskurse um Habitus und soziale Positionierung geführt. Die darin enthaltene Rhetorik aber, die das Ende traditioneller Handwerksarbeit und die Herrschaft der Industrieprodukte beklagte, schrieb Verlusterfahrungen und damit auch Endlichkeitsdiskurse in das Alltagswissen ein.
6.
K RISENERFAHRUNG
UND
K ULTURKRITIK :
EIN
F AZIT
Die Antwort auf die Krisenerfahrung am Ende des 19. Jahrhunderts war eine fundamentale Kulturkritik, die von weiten Teilen der wilhelminischen Gesellschaft geteilt wurde. Dem technischen Fortschritt und der sozialen Modernisierung wurde das Szenario einer untergehenden Kultur entgegengesetzt, Kultur wurde als prekäre Ressource verstanden. Das Zusammenspiel von Krisenerfah-
42 Vgl. Snodin, Michael/Stavenow-Hidemark, Elisabet: Carl and Karin Larsson. Creators of the Swedish Style, London 1997. 43 Vgl. Kratzsch, Gerhard: Kunstwart und Dürerbund.
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rung und Kulturkritik implizierte ein neu auszuhandelndes Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Be- und Aufbewahren der Vergangenheit vor allem auch in seiner Materialität wird zu einem prominenten gesellschaftlichen Thema, das insbesondere durch die Aktivitäten der verschiedenen Ausprägungen der Heimatbewegung profiliert wird. Die Rhetorik des Verlustes bringt Strategien des Bewahrens hervor, schafft also Handlungsoptionen. Dazu gehört das museale Sammeln ebenso wie das Dokumentieren durch moderne mediale Techniken: Fotografieren, phonographische Aufzeichnen oder ethnografische Aufschreibsysteme. Über die Praktiken des Zeigens wird diesen Sammlungen Sinn eingeschrieben und sie plausibilisieren jene Verlustängste, aus denen sich wilhelminische Kulturkritik speist. Die bürgerliche Reformbewegung greift auf diese Ressourcen zurück und schafft mit dem Rückgriff auf traditionelles Handwerk einen modernen Lebensstil, in dem die Werte einer bildungsbürgerlichen Elite neu formuliert werden. Diese Praktik des Ästhetisierens zeigt, dass und wie Vergangenheit als Ressource genutzt werden kann, um Lebensmodelle für die Zukunft zu entwerfen − wie tragfähig auch immer sie sein mögen. Die in dieser Zeit um 1900 entworfenen Horizonte haben lange nachgewirkt und spätere Generationen in ihrem Denken geprägt. In den 1980er Jahren haben insbesondere die Philosophen Odo Marquard44 und Hermann Lübbe45 sich mit aktuellen gesellschaftlichen Erfahrungen von Verlust (technologischer Fortschritt, ökologische Krise) auseinandergesetzt und Strategien beschrieben, mit denen der Dynamisierung der Lebenswelten begegnet wird. Während Marquard den Geisteswissenschaften als den neuen Geschichtenerzählern, die die Beschleunigung aushaltbar machen, eine entscheidende Rolle in diesem Umbau zuwies, beschäftigte sich Lübbe mit dem Musealisierungsboom als Reaktion auf „Vertrautheitsschwund“. Ohne vorschnelle Schlüsse ziehen zu wollen: Es wäre lohnend, diese beiden Zeithorizonte zusammen zu lesen und nach den Gemeinsamkeiten und den Differenzen in der gesellschaftlichen Thematisierung aber auch in den daraus folgenden sozialen Praktiken zu fragen.
44 Marquard, Odo: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1987. 45 Lübbe, Hermann: Zeitverhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz 1983.
„Energie-Pioniere“. Eine kulturanthropologische Forschungsskizze zu Endlichkeit und Agency im Kontext erneuerbarer Energien M ARKUS T AUSCHEK
Im Mai 2012 zeichnete der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen insgesamt 19 deutsche Kommunen aus. Im Rahmen des Förderpreises mit dem Titel „Masterplan 100% Klimaschutz“ setzten diese Kommunen – so die Begründung – in vorbildlicher Weise die Energiewende auf einer lokalen Ebene um. Zentrales Augenmerk lag dabei auf einer „intensiven Beteiligung“ von Bürgerinnen und Bürgern sowie auf umfassenden Anstrengungen in EnergieEinsparung, Energie-Effizienz und Energie-Gewinnung. Zudem wurde bei der Auswahl auf konkrete Maßnahmen wie Gebäudesanierung, Elektromobilität und Klimaschutz geachtet. In einer Erklärung wies der Umweltminister auf die zukunftsweisende Funktion des Projekts im Rahmen der Energiewende hin: „Für den Erfolg bei der Energiewende kommt es entscheidend auf die Kommunen an. Die ausgezeichneten Kommunen eint eine Vision: Sie wollen die emissionsfreie Stadt. Und Sie wollen die Energiewende zu 100 Prozent umsetzen. Ich gratuliere den 19 Kommunen für die hervorragenden Strategien und Maßnahmen, mit denen sie vorangehen. Sie sind Pioniere der Energiewende.“1
1
Pressemitteilung des Bundesumweltministeriums, Nr. 064/12 vom 07.05.2012: http://www.bmu.de/bmu/presse-reden/pressemitteilungen/pm/artikel/19-kommunengewinnen-bmu-foerderpreis-masterplan-100-klimaschutz/ (14.07.2014); vgl. aus einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive auch die Beiträge in: Tauschek,
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Die ausgezeichneten Städte und Gemeinden sollten modellhaften Charakter haben, das heißt unterschiedlich groß sein und unterschiedliche Infrastrukturen aufweisen. Von den praktischen Erfahrungen aus diesen „Pionierkommunen“ – so der Bundesumweltminister – sollten andere Städte und Gemeinden in Deutschland dann in der Bewältigung der Energiewende profitieren. Die sprachlichen Bilder, die im Rahmen der Preisverleihung formuliert wurden, sind aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive und im Hinblick auf die Frage der Konzeptualisierung begrenzter oder knapper Ressourcen höchst aufschlussreich.2 Zwar ist an keiner Stelle das Problem der Endlichkeit von Ressourcen explizit ausgeführt, doch verweisen die zentral gesetzten Begrifflichkeiten auf spezifische – gesellschaftliche und politische – Umgangsweisen mit dem Problem endlicher Ressourcen: Die Formulierung „Vision“ verweist beispielsweise ebenso wie der Pionierbegriff auf die Überwindung eines als globales Problem begriffenen Phänomens. Endlichkeit manifestiert sich hier sozusagen ex negativo: Sie wird diskursiv – so könnte man thesenhaft argumentieren – in der Forderung nach einer aktiven Gestaltung von Zukunft geradezu negiert. Während das Projekt „Masterplan 100% Klimaschutz“ in die Zukunft gerichtet ist, zeichnete der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im April 2012 mit Ursula und Michael Sladek zwei „EnergiewendePioniere“ aus, die sich bereits seit den 1990er Jahren für eine Energiegewinnung aus erneuerbaren Ressourcen einsetzen. Mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg sollte nicht nur die Gründung der Elektrizitätswerke Schönau GmbH im Jahr 1997 gewürdigt werden, sondern sehr konkret auch die Vortragstätigkeit der beiden Ausgezeichneten, die deutschlandweit überaus bürgernah für ihre Idee einer umweltverträglichen Energiegewinnung werben. Aus-
Markus/Grewe, Maria (Hg.), Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwussenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen, Frankfurt a.M. (im Druck). 2
Interdisziplinäre Perspektiven auf die Begrenztheit von Ressourcen diskutieren die Beiträge im Themenheft „Knappheit“ der Zeitschrift für Kulturwissenschaften; vgl. Möhring, Maren/Schüttpelz, Erhard/Zillinger, Martin (Hg.): „Knappheit“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2011). Insbesondere in sozialanthropologischer Forschung ist diskutiert worden, ob Knappheit eine ökonomische oder anthropologische Grundkonstellation sei. Die Wirtschaftsethnologie konzeptualisiert Knappheit dabei als eine zentrale Grundbedingung menschlichen Handelns überhaupt; von kultur- und sozialwissenschaftlichem Interesse sind der jeweilige Umgang mit knappen Ressourcen sowie die jeweiligen Kontexte, die diesen Umgang bedingen, vgl. Rössler, Martin: Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, Berlin 22005, hier S. 19ff.
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gezeichnet wurde also nicht nur unternehmerische Tätigkeit, sondern auch gesellschaftspolitische Intervention. „Pioniere der Energiewende“ seien Ursula und Michael Sladek deshalb – so der Ministerpräsident –, weil sie eine 1994 gegründete Elterninitiative gegen Atomkraft erfolgreich in ein Wirtschaftsunternehmen transformieren konnten: „Vom ursprünglichen Protest entwickelte sich eine Gründerinitiative, mancher würde sagen: vom Rebell zum Unternehmer. Kurzum: vom Protest zum profita- blen zukunftsweisenden Unternehmen.“3
Auch hier ist – jedoch in der Rückschau aus der Gegenwart – der in die Zukunft gerichtete Vorbildcharakter einer interventionistischen Strategie betont. Das damit verknüpfte Erfolgsnarrativ inszeniert das Handeln zweier individueller Bürger als Modell für eine gelungene basisdemokratische und ökologisch sinnvolle – weil regional umgesetzte – Energiewende vor Ort. Der Dreiklang „Pionier“, „Rebell“, „Unternehmer“ ruft dabei wirkungsvolle kulturell vermittelte Bilder und Rollenstereotype auf. Auch in einem letzten Beispiel wird die skizzierte Vorbildfunktion greifbar: „Amerikaner spicken in Jühnde“, titelte im September 2007 die taz.4 Die Zeitung berichtete damals von einer zwölfköpfigen Delegation der nordamerikanischen Gemeinde Reynolds, die im niedersächsischen Jühnde, der ersten energieautarken Gemeinde Deutschlands5 – so die Selbstcharakterisierung –, von den dortigen Erfahrungen in einer ökologischen Energieversorgung lernen wollte. Während in Jühnde, so kommentierte die Zeitung, vor allem „ökologisch orientierter Pioniergeist“ stecke, habe das amerikanische Dorf in erster Linie wirtschaftliche Sorgen, die die Suche nach billigerem Strom motivierten. Auf der einen Seite also engagiertes Umweltbewusstsein, auf der anderen ökonomische Sorgen – die Ökologie dort dann nur ein nicht einmal intendierter Nebeneffekt. Schon im April 2006 zeigte sich der Landwirtschaftsminister des US-Bundesstaats Ohio nach einem Besuch in Jühnde höchst beeindruckt, glaubt man der medialen Berichterstattung. „Die Bewohner sind echte Pioniere“, soll der Politiker in das Besucherbuch eingetragen haben; die Jühnder seien „visiona-
3
N.N.: „Stromrebellen von Ministerpräsident Kretschmann mit Verdienstorden ausgezeichnet“, in: Badische Zeitung vom 30.04.2012.
4
Basel, Nicole: „Amerikaner spicken in Jühnde“, in: taz vom 21.09.2007, online unter:
5
Siehe die Internetseite des Energiedorfs Jühnde: http://www.bioenergiedorf.de/con/
http://www.taz.de/!4979/ (26.11.2014). Die folgenden Zitate aus diesem Artikel. cms/front_content.php?idcat=13 (07.08.2014).
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ry“. Die niedersächsische Gemeinde Jühnde ist das Bioenergie-Dorf schlechthin: Vorbild für zahllose andere Kommunen in ganz Deutschland. Inzwischen hat sich vor Ort eine Form des Energiewende-Tourismus etabliert, in der Besucherinnen und Besucher Touren buchen, die Biogasanlage besichtigen und von den Anfangsproblemen lernen können. Und so erstaunt wenig, dass gerade in Bezug auf Jühnde der Pionier-Begriff immer wieder strapaziert wird. Als Charakterisierung von außen – so könnte man als These annehmen – ist dieser Begriff inzwischen jedoch auch in die Selbstdeutungen lokaler Akteure diffundiert, die sich selbst als Pioniere begreifen und daraus verschiedene Kapitalien generieren können. Als Plausibilisierung für energiepolitische Interventionen scheint der Pionier-Begriff im Diskurs um die Energiewende insbesondere deshalb wirksam zu werden, weil er im alltagssprachlichen Gebrauch – nicht zuletzt auch durch die in der Begriffsgeschichte sich herausbildenden Konnotationen, die vor allem auch in der Technikgeschichte immer wieder auftauchen – äußerst positiv belegt ist. Die einführenden Beispiele ließen sich in unterschiedlichen weiteren Feldern fortführen: Gerade im Kontext der Energiewende aber wird in verschiedenen Diskursen, in den Medien, im politischen Feld oder auch in lokalen Bezügen immer wieder der Pionierbegriff mitunter höchst reflexiv und strategisch genutzt. „Energie-Pioniere“, das sind dabei all jene Akteure oder auch Akteursgruppen – so eine alltagssprachliche Begriffsprägung –, denen es gelingt, durch ihr Handeln als virulent verstandene gesellschaftliche oder politische Probleme zu lösen oder zumindest Lösungswege aufzuzeigen und zu erproben. „EnergiePioniere“ zeichnen sich in einer solchen alltagsweltlichen Perspektive durch ihr eigenverantwortliches Handeln aus, das nicht auf Motivation von außen wartet, sondern das kreativ und mutig Zukunft gestalten will. „Energie-Pioniere“ weichen durch ihr Handeln gesetzte Grenzen auf, sie überwinden diese gleichermaßen, weshalb die stereotypen Rollenzuschreibungen in einer alltagssprachlichen Lesart meist sehr positiv konnotiert sind: Pioniere gelten dabei als Vorbilder, doch sie zeichnen sich mitunter durch widerständiges, eigenwilliges Handeln aus, das bisweilen retrospektiv umgedeutet wird. Diese Umdeutungsprozesse sind eine wertvolle Quelle kulturanthropologischer Forschung, weil sich damit auch die Transformation von Normen, kulturellen Ordnungen und Rahmen rekonstruieren lässt. Hinter der Bezeichnung „Energie-Pionier“ steckt aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ein machtvolles, kulturell kodiertes Konzept – mit Erving Goffmann ließe sich auch argumentieren, dass sich dahinter eine kulturell
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definierte Rollenvorstellung verbirgt:6 Das Konzept des Pioniers weist spezifischen Akteuren, mit denen sich der folgende Beitrag mit dem Fokus auf die alltagsweltliche Konzeptualisierung von Endlichkeit näher auseinandersetzt, spezifische Rollen zu; es argumentiert dabei mit einem mehr oder minder konzisen semantischen Feld und es plausibilisiert Handlung. Die konnotativen Diskursstränge, die dem Begriff Pionier zugeordnet sind, erfordern in einer kulturwissenschaftlichen Perspektivierung eine historische Einordnung, denn eine historische Semantik des Begriffs ist aktuellen Begriffsverwendungen stets eingelagert. Der Pionier-Begriff hat in einer dekonstruierenden Perspektive einen nivellierenden Charakter, der einzelnen Akteuren oder Akteursgruppen spezifische Eigenschaften attestiert und damit mögliche Differenzen und Eigenlogiken einzuebnen versucht.7 Der folgende Beitrag diskutiert im Sinne einer Forschungsskizze, warum eine kulturanthropologische Auseinandersetzung mit „Energie-Pionieren“ lohnt und welchen Beitrag eine solche Auseinandersetzung zu einem Verständnis unseres Umgangs mit begrenzten Ressourcen liefern kann. In einem ersten Schritt gilt es, die Energiewende und die damit verknüpften sozioökonomischen und politischen Transformationen als kulturelles Problem zu diskutieren. Aus diesen Überlegungen heraus wird das Fallbeispiel der Energiepioniere auf zwei unterschiedlichen Ebenen mit der Frage nach dem Umgang mit Endlichkeit verknüpft: Zum einen geht es sehr konkret darum zu fragen, wie Energie-Pioniere das Problem der Endlichkeit von Ressourcen erfahren, dadurch erst konstruieren, wie sie dieses Problem kulturell bearbeiten, mit welchen Konzepten sie dabei auch kreativ, strategisch oder eigenwillig argumentieren – etwa mit jenem der Nachhaltigkeit. Schließlich ist zu analysieren, wie die zu untersuchenden Akteure aus ihren Erfahrungen und Vorstellungen knapper, endlicher oder begrenzter Ressourcen Interventionen generieren – wie sie also diskursiv vermittelte Bilder und Ideen in Handlungen übersetzen. In einem zweiten Schritt dann – und dies wäre gleichermaßen eine MetaEbene – fokussiert der Beitrag die Endlichkeit möglicher Handlungsoptionen konkreter Energie-Pioniere. Relevant ist dabei insbesondere die Frage, von welchen Faktoren, Strukturen oder Kontexten Handlungshorizonte selbst begrenzt
6
Vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag,
7
Zu fragen ist in diesem Kontext auch, ob sich „Energie-Pioniere“ als „change agents“,
München 72009. wie sie in der Diffusions- und Innovationsforschung diskutiert wurden, konzeptualisieren ließen; vgl. Rogers, Everett M.: Diffusion of innovations, New York 2003.
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werden und in welchen Rahmen und Deutungsmustern sich Endlichkeitserfahrungen bewegen.
1.
D IE E NERGIEWENDE
ALS KULTURELLES
P ROBLEM
Die sich in Deutschland spätestens seit den politischen Reaktionen auf die Katastrophe von Fukushima 2011 beschleunigende Energiewende ist keineswegs nur ein politisches Thema, sie hat in ihren Auswirkungen auf alltägliches Handeln, in unserem Umgang mit Ressourcen, unseren Konzeptionen von Landschaft etc. eine komplexe kulturelle Dimension. Diese kulturelle Dimension schlägt sich zudem unter anderem auch in einem tiefgreifenden Umbau des ländlichen Raumes und seiner agrikulturellen und touristischen Nutzung,8 in den Beziehungen der Menschen zu ihrer Nahwelt – etwa wenn diese nun als Energielandschaft wahrgenommen wird – oder auch in Verschiebungen der Arbeitskultur (u.a. in der Landwirtschaft) vor dem Hintergrund komplexer politischer Entscheidungsprozesse auf ganz verschiedenen Ebenen nieder. Aus diesem Grund haben neuere umweltanthropologische Studien darauf hingewiesen, dass Umweltpolitik auch als Form neoliberaler Gouvernementalität zu verstehen sei, die auch soziale Beziehungen beeinflusst. Lokale Akteure sehen sich dabei zunehmend mit neuen Akteursgruppen und neuen ökonomischen, politischen oder ethischen Fragen konfrontiert. „Local populations are re-defined by environmental policies as stakeholders that have to enter into processes of deliberative decision making with state administrations, corporate business, scientific experts, non-governmental organizations, and supranational supervisory bodies“
– argumentiert etwa die Frankfurter Kulturanthropologin Gisela Welz.9 Durch neue umwelt- und energiepolitische Prozesse und konkrete politische Instrumen-
8
Hier wären die Stichwörter „Verspargelung“ oder „Vermaisung“ der Landschaft zu nennen; vgl. dazu u.a. Herlyn, Gerrit: „Ambivalente Technik. Windkraftanlagen im dörflichen Alltag“, in: Ferus, Katharina/Rübel, Dietmar (Hg.), Die Tücke des Objekts – Vom Umgang mit Dingen, Berlin 2009, S. 208-229, hier S. 223ff.
9
Vgl. Welz, Gisela: „Introduction. Negotiating Environmental Conflicts: Local communities, global policies“, in: Dies./Sperling, Franzsika/Blum, Eva-Maria (Hg.), Negotiating
Environmental
Conflicts:
Local
communities,
global
policies
(= Kulturanthropologie Notizen, Band 81), Frankfurt a.M. 2012, S. 13-22, hier S. 15.
„E NERGIE -P IONIERE “
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te entstehen mitunter neue Beziehungen lokaler Akteure zu einem Nationalstaat oder zu supranationalen Organisationen.10 Beispiele dafür wären die Auseinandersetzungen um den Bau neuer Stromtrassen, die die im Norden produzierte Energie etwa aus Windrädern in den Süden Deutschlands transportieren, oder die Proteste um das sog. Fracking. In beiden Fällen treffen konfliktreich unterschiedliche Akteursgruppen aufeinander, die ihre Interessen in sozialer Interaktion durchzusetzen versuchen. Nur ein Verständnis dieser kulturellen Dimension, die sich als Zusammenspiel verschiedener Akteure, die spezifische Deutungsmuster produzieren, begreifen lässt und die zudem die Rolle der in der Energiewende zur Anwendung gebrachten Techniken und Technologien berücksichtigen muss, kann dazu beitragen zu verstehen, warum die Energiewende in welcher Weise vonstattengeht. Kulturwissenschaftliche Forschung kann dann die Differenzen, Grundlagen und sozialen sowie kulturellen Effekte des gesellschaftspolitischen Projekts Energiewende kontextualisieren und in ihren Eigenlogiken verstehbar machen, wenn sie im Sinne der Akteur-Netzwerk Theorie die Herausbildung soziotechnischer Netzwerke aus menschlichen Akteuren, Politiken und Technologien untersucht.11 Dass eine solche kulturwissenschaftliche Perspektive höchst gewinnbringend sein kann, hat der Politikwissenschaftler Claus Leggewie am Beispiel des Klimawandels diskutiert: „Der Klimawandel ist hinsichtlich seiner Ursachen und physikalischen Auswirkungen ein Gegenstand der Naturwissenschaften, im Blick auf die Folgen ist er Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich damit bisher erschreckend wenig befasst haben.“12
10 Vgl. dazu systematisierend Boyer, Dominic: „Energopolitics and the Anthropology of Energy“, in: Anthropology News 52,5 (2011), S. 5-7; aus einer ethnografischen Perspektive am Beispiel der Windenergienutzung in Portugal mit der Frage, welche Akteure über Land und Landschaft verfügen, siehe Afonso, Ana Isabel/Mendes, Carlos: „Wind Power in the Portuguese Landscape: Global Concerns and Local Costs“, in: G. Welz/F. Sperling/E.-M. Blum (Hg.), Negotiating Environmental Conflicts, S. 127-142. 11 Zur Akteur-Netzwerk Theorie siehe zusammenfassend Mathar, Tom: „AkteurNetzwerk Theorie“, in: Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/Sörensen, Estrid (Hg.), Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012, S. 173-190; Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. 12 Leggewie, Claus: „In Schönheit untergehen? Der Klimawandel als kulturelle Frage“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2009), S. 13-28, hier S. 18f. Ähnlich argu-
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Diese Feststellung gilt auch für die Energiewende in Deutschland. Auch sie ist bislang nur in wenigen Arbeiten aus einer dezidiert kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht worden: Die Frankfurter Kulturanthropologin Franziska Sperling fragt beispielsweise in einem ethnografisch angelegten Projekt nach den kulturellen und sozialen Effekten der Nutzung von Biomasse im Donauries.13 Der Hamburger Volkskundler Gerit Herlyn hat sich exemplarisch am Beispiel der Windenergienutzung mit Fragen des Protests und der Akzeptanz sowie mit den sozialen Effekten auf einer lokalen Ebene befasst.14 Herlyn weist dabei nach, wie reflektiert die interviewten Akteure über den vor Ort erlebten Wandel sprechen und welche Wissensbestände und Argumente sich die befragten Akteure angeeignet haben; auf einer übergeordneten Ebene diskutiert Herlyn die Frage, wie Technik veralltäglicht wird. Die Energiewende ist ein kulturelles Phänomen, das – wie Leggewie für den Klimawandel konstatiert – überkommene Sicherheiten destabilisiert und das man deshalb auch als Krise verstehen könnte. Auch die Energiewende stellt kulturelle Ordnungen in Frage und macht letztlich neue soziale Verhaltensweisen vor dem Hintergrund neuer kultureller Referenzrahmen erforderlich. Wie der Klimawandel, so ist auch die Suche nach neuen, erneuerbaren Energiequellen letztlich zwar ein globales, transnationales Projekt. Die konkreten Aneignungs- und Wahrnehmungsweisen, die mit diesem Phänomen verbunden sind, sind aber immer kulturell different, lokalisierbar und von unterschiedlichen Faktoren abhängig,15 die es zu historisieren gilt. An dieser Stelle kann kulturanthropologische Forschung ansetzen: Denn eine kulturwissenschaftliche Perspektive denkt konsequent die unterschiedlichen Diskursstränge, die sich etwa in Argumenten pro oder contra Windenergie oder Biomasse manifestieren (Nachhaltigkeits- und Umweltkonzepte, zivilgesellschaftliche Partizipation et cetera), mit den damit verbundenen Praktiken (etwa
mentiert aus einer philosophischen und schließlich normativ ausgerichteten Perspektive, die kulturellen Wandel als Voraussetzung für nachhaltiges Handeln im Kontext des Klimawandels begreift, Ludger Heidbrink; vgl. Heidbrink, Ludger: „Kultureller Wandel: Zur kulturellen Bewältigung des Klimawandels“, in: Welzer, Harald/Soeffner, Hans-Georg/Giesecke, Dana (Hg.), KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 49-64. 13 Vgl. Sperling, Franziska: „The Angry Countyside – The installation of biogas plants as a contested issue in a German region“, in G. Welz/F. Sperling/E.-M. Blum (Hg.), Negotiating Environmental Conflicts, S. 145-161. 14 Vgl. G. Herlyn, Ambivalente Technik, S. 208-229. 15 Vgl. C. Leggewie: In Schönheit untergehen?, S. 21.
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in der Veralltäglichung der entsprechenden Technologien) zusammen.16 Dabei fragt eine Disziplin, die sich mit alltäglichen Lebenswelten und Bedeutungsgeweben befasst, etwa danach, welche Auswirkungen eine energiepolitische Wende auf alltägliche Lebenswelten hat. Wie überlagern etwa neue Bedeutungsgewebe (u.a. von Landwirtschaft und Natur) alte Nutzungsweisen und Sinngehalte konfliktreich, welche Deutungen werden abgelöst oder erweitert und welche weitreichenden Folgerungen ergeben sich daraus? Welche Akteure etwa setzen mithilfe welcher Strategien ihre Vorstellungen einer verantwortungsvollen Nutzung natürlicher Ressourcen wie Windenergie oder Biomasse durch? Wie entstehen neue Formen von Umweltmentalitäten oder Umwelthandeln?17 Welche Rolle spielen dabei europäische, nationale oder föderale Formationen des Regierens? Wie beeinflussen Technologien zur Produktion regenerativer Energien und die damit verbundenen Materialisierungen touristische, alltagsweltliche oder
16 Vgl. exemplarisch aus Perspektive der Technikforschung Schönberger, Klaus: „Technik als Querschnittsdimension. Kulturwissenschaftliche Technikforschung am Beispiel von Weblog-Nutzungen in Frankreich und Deutschland“, in: Zeitschrift für Volkskunde 103,2 (2007), S. 197-222. Zur kultur- und sozialwissenschaftlichen Technikforschung siehe u.a. auch Beck, Stefan (Hg.): Umgang mit Technik: kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte (= Zeithorizonte, Band 4), Berlin 1997; Pfaffenberger, Bryan: „The Social Anthropology of Technology“, in: Annual Review of Anthropology 21 (1992), S. 491-516; Kehrt, Christian/Schüßler, Peter/Weitze, Marc-Denis: „Einleitung: Neue Technologien in der Gesellschaft“, in: Dies. (Hg.), Neue Technologien in der Gesellschaft: Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen, Bielefeld 2011, S. 11-26; Hengartner, Thomas: „Zur ‚Kultürlichkeit‘ von Technik. Ansätze kulturwissenschaftlicher Technikforschung“, in: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Hg.), Technikforschung:
zwischen
Reflexion
und
Dokumentation,
Bern
2004,
S.
39-57;
Ders./Rolshoven, Johanna: „Technik – Kultur – Alltag“, in: Dies. (Hg.), Technik – Kultur. Formen der Veralltäglichung von Technik – Technisches als Alltag, Zürich 1998, S. 17-50; S. Beck/J. Niewöhner/E. Sörensen (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012. 17 Brand, Karl-Werner: „Umweltbewusstsein und Alltagshandeln“, in: Serbser, Wolfgang (Hg.), Humanökologie. Ursprünge – Trends – Zukünfte (= Edition Humanökologie, Band 1), München 2004, S. 197-212; Warsewa, Günter: „Von den ‚Betroffenen‘ zum ‚aufgeklärten Egoisten‘ – Umwelthandeln zwischen gesellschaftlicher Normalisierung und sozialer Differenzierung“, in: Lange, Hellmuth (Hg.), Ökologisches Handeln als sozialer Konflikt. Umwelt im Alltag (= Soziologie und Ökologie, Band 4), Opladen 2000, S. 57-78.
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landwirtschaftliche Nutzungsweisen des Raums? Wie verändert sich etwa das Berufsbild des Landwirts, der – so könnte man als These formulieren – zunehmend zum Energie-Manager wird und der dabei auf ganz neue Wissensbestände und ökonomische Rationalitäten zurückgreifen muss? Kulturwissenschaftliche Forschung, die diese Fragen zu beantworten versucht, argumentiert dabei aus einer Mikroperspektive: Es geht stets um konkrete Akteure, deren Handlungen und Deutungshorizonte. In den letzten Jahren ist aus kulturanthropologischer und ethnologischer Perspektive der Versuch unternommen worden, die Energiewende mit Foucaults Konzept der Biopolitik zu verknüpfen,18 um damit gleichermaßen aus dieser analytischen Verbindung, von mikroperspektivisch angelegter Forschung Rückschlüsse auf größere Prozesse oder Strukturen zu ziehen. Eine Analyse der Geschichte der Energieproduktion hat etwa gezeigt, wie eng verquickt diese mit der Herausbildung entsprechender Institutionen, mit den entsprechenden Technologien und schließlich auch mit politischen Systemen und Strukturen ist. All diese Faktoren wiederum beeinflussen schließlich unsere Alltagswelten. Wenn wir heute im Haushalt Energie einsparen sollen, energieeffiziente Geräte kaufen oder wärmegedämmte Häuser bauen, dann ließen sich diese konkreten Praktiken, die mit den entsprechenden ideologischen Konzepten verknüpft sind und plausibilisiert werden, im Sinne des Anthropologen Dominic Boyer als Form der „Energopolitik“ interpretieren.19 Das Konzept einer Energopolitik verweist auf die Einschreibungsprozesse machtvoller Ideologeme und Interpretamente in Deutungen und Handlungen von Menschen. Die Energiewende ist vor diesem Hintergrund dann auch ein normatives Projekt, das individuelles Verhalten domestiziert und reguliert. Entsprechend wissenschaftlich legitimierte Normen schreiben sich in diesem Prozess in Verhaltensformen und Deutungshorizonte konkreter Akteure ein, die selbstständig und eigenverantwortlich zum Gelingen der Energiewende – so diese normative Perspektive – beizutragen haben. Aus diesem Grund haben einige Autorinnen und Autoren Energiepolitik auch mit Fragen der Gouvernementalität verknüpft. Der Ethnologe Werner Krauss etwa hat exemplarisch die Nutzung von Windenergie in Nordfriesland und Dithmarschen untersucht:20 Krauss kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Nut-
18 Vgl. z.B. Dracklé, Dorle/Krauss, Werner: „Ethnographies of Wind and Power“, in: Anthropology News 52,5 (2011), S. 9. 19 Vgl. D. Boyer, Energopolitics. 20 Zur Windenergie vgl. auch Heymann, Matthias: „Ist die Windenergienutzung eine neue Technik?“, in: Christian Kehrt et al. (Hg.), Neue Technologien in der Gesell-
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zung der Ressource Wind zwar von top-down-Prozessen abhängig ist, dass sie insgesamt jedoch eine soziale Praxis ist, an der viele Akteure im Sinne eines Kollektivs oder Netzwerks in Verbindung mit technischen Artefakten mitwirken.21 Klar ist, dass im Rahmen dieser Praxis Wissen eine zentrale Rolle spielt – sowohl in historischer als auch in gegenwartsorientierter Perspektive: heute etwa das Wissen über rechtliche Rahmenbedingungen, über wirtschaftliche Zusammenhänge, über entsprechende technische Innovationen. All diese Perspektiven kann kulturwissenschaftliche Forschung, die sich mit der Energiewende befasst, verfolgen. Dabei geht es nicht nur darum, wie Leggewie dies für den Klimawandel gefordert hat, die kulturellen und sozialen Effekte und Transformationen zu untersuchen, sondern auch die kulturellen und sozialen Grundlagen, die es im Sinne Werner Krauss erst ermöglichen, soziale Praktiken des Umgangs mit einer energiepolitischen Frage entstehen zu lassen. Für ein Forschungsprojekt zu den eingangs skizzierten „Energie-Pionieren“ ist vor allem diese zuletzt genannte Dimension in Verbindung mit der Idee einer „Energopolitik“ von Interesse: Zu fragen ist dann, wie es der zu untersuchenden Akteursgruppe gelingt, ihre Vorstellungen der Energiewende umzusetzen, welche Wissensbestände dabei aufgerufen und plausibilisiert werden, welche sozialen und damit immer auch kulturellen Dynamiken sich entfalten, wenn einzelne Akteure ihrer Rollenzuschreibung als Pionier entsprechend andere Akteure überzeugen, in ihre interventionistischen Strategien integrieren und dabei mitunter machtvolle Allianzen bilden. Übergeordnet ist zu fragen, warum gerade der Pionierbegriff innerhalb eines Dispositivs „Energiewende“ zu einem bestimmten Zeitpunkt plausibel erscheint und welche Bedeutungsgehalte zentral gesetzt und welche bewusst ausgeklammert werden. Kritischer ist dabei thesenhaft davon auszugehen, dass der positiv konnotierte Pionierbegriff die von Boyer skizzierten Machtprozesse verschleiert. Im Folgenden sollen diese Fragen mit dem Fokus auf die Bearbeitung von Endlichkeitserfahrungen exemplarisch diskutiert werden.
schaft: Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen, Bielefeld 2011, S. 141-154. 21 Vgl. Krauss, Werner: „The ‚Dingpolitik‘ of Wind Energy in Northern German Landscapes: An Ethnographic Case Study“, in: Landscape Research 35,2 (2010), S. 195-208.
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2.
„E NERGIE -P IONIERE “ UND DIE B EARBEITUNG VON E NDLICHKEITSERFAHRUNGEN
Ein kulturwissenschaftlicher Blick auf „Energie-Pioniere“ kann einen wichtigen Beitrag erstens zu einem spätmodernen Umgang mit begrenzten Ressourcen und gleichsam auf einer Metaebene zweitens zur Bearbeitung von Endlichkeitserfahrungen liefern. Denn die Interventionen von „Energie-Pionieren“ – dies wäre in empirischer Forschung zu überprüfen – sind unter anderem motiviert durch die Erfahrung, dass Ressourcen begrenzt, knapp oder endlich sind. „EnergiePioniere“ wie die eingangs skizzierten sind, so ließe sich deshalb argumentieren, in spezifischer Weise mit der Begrenztheit von Ressourcen konfrontiert. Sie erfahren dabei – so könnte man ebenfalls thesenhaft formulieren – Endlichkeit. Diese Erfahrung ist, wie unter anderem volkskundliche Arbeiten zur Biographieforschung herausgearbeitet haben, das Produkt mindestens zweier Dimensionen: So hat etwa Albrecht Lehmann mit Rekurs auf Hans Blumenberg darauf hingewiesen, dass ethnographische Forschung zwischen Erfahrungen erster Hand – „Welterfahrung“ – und Erfahrungen zweiter Hand – „Bucherfahrung“ – differenzieren muss.22 Beide Ebenen vermischen sich im Bewusstsein unentwirrbar. Wenn es also darum geht zu fragen, mit welchen Erfahrungen von Endlichkeit „Energie-Pioniere“ konfrontiert sind und wie sie diese etwa narrativ bearbeiten, dann muss gleichzeitig danach gefragt werden, aus welchen Kontexten sich die artikulierten Erfahrungen und Wissensbestände speisen. Wie werden etwa naturoder wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse im Umgang mit begrenzten Ressourcen in persönliche Erfahrung übersetzt? Welche Aspekte sind in diesem Prozess plausibel, welche nicht? Welche Endlichkeitserfahrungen deuten auch auf individuelles Erleben hin, welche mehr auf kollektive Deutungsmuster? An welchen konkreten Ereignissen – Tschernobyl, Fukushima etc. – entspinnen sich Narrationen über Endlichkeitserfahrungen und welche Wechselwirkungen gibt es? Ein empirisch angelegtes Forschungsprojekt zu „Energie-Pionieren“ kann diese Fragen mithilfe ethnografischer Forschung zu beantworten suchen. In narrativen Interviews können die zu beforschenden „Energie-Pioniere“ etwa nach wirkungsvollen Endlichkeitskonzeptionen ebenso befragt werden wie nach Bearbeitungsstrategien – beispielsweise nach Nachhaltigkeitskonzepten, die eng mit dem Konzept der Endlichkeit verwoben sind, weil sie diese gleichsam zu-
22 Vgl. Lehmann, Albrecht: „Bewusstseinsanalyse“, in: Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.), Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 22007, S. 271-288, hier S. 277.
„E NERGIE -P IONIERE “
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kunftsorientiert zu transformieren suchen. Wenn es in einem Forschungsprojekt zu den „Energie-Pionieren“ zunächst um die Ebene der individuell verarbeiteten und kollektiv vermittelten Erfahrungen von Endlichkeit geht, dann bietet es sich in einem darauf folgenden Schritt an zu fragen, in welcher Korrelation die in ethnographischer Forschung zu erhebenden Erfahrungen mit unterschiedlichen Umgangsformen stehen. „Energie-Pioniere“ – dies wäre gleichermaßen auch eine analytische Begründung für die Wahl dieses spezifischen Forschungsfeldes sowie eine forschungsleitende These – gestalten den Übersetzungsprozess von Erfahrung in Intervention radikaler und deshalb auch sichtbarer als dies andere Akteursgruppen tun. Forschungspraktisch sind deshalb jene Erfolgsnarrative relevant, in denen die zu beforschenden Akteure den Übergang von Erfahrung in Umgang und damit in Intervention schildern. Zu fragen ist dabei etwa, an welchem konkreten Punkt ihrer Biographie sich „Energie-Pioniere“ aus welchen Gründen entschieden haben, sich für die Energiewende einzusetzen. In diesem Einsatz, den man kulturwissenschaftlich als Intervention bezeichnen kann, transformieren „Energie-Pioniere“ das System unserer Energieversorgung; sie transformieren damit aber gleichzeitig – und dies wird in einem öffentlichen, medialen Diskurs meist übersehen – Dorfleben, agrikulturelle Arbeitskulturen, die Beziehungen eines lokalen Netzwerks von Akteuren zum Nationalstaat etc. Wie diese Transformation konkret vor sich geht, welche kulturellen Praktiken und Strategien dabei wirken, soll im Folgenden knapp skizziert werden.
3.
Z UR A MBIVALENZ VON ZWEI F ALLBEISPIELE
„E NERGIE -P IONIEREN “ –
„Ursprünglich war Wendelin Einsiedler einfach nur Landwirt“, doch Mitte der 1990er Jahre, so erläutert der am 10. Juli 2012 im Nachrichtenjournal des ZDF gesendete Beitrag, habe Einsiedler den „Mut“ gehabt, eine Idee umzusetzen: die Gewinnung von Energie aus Biomasse. Diese Intervention, so interpretiert Einsiedler selbst, beruht auf der Erweiterung von Wissensbeständen: „Als Landwirt weiß man, was die Natur für Schätze birgt, wieviel Energie in der Natur vorhanden ist. Und dass es so viel Energie gibt, hätt‘ ich vor 20 Jahren auch nicht gedacht.“ Der Ort Wildpoldsried, der hier Gegenstand eines nationalen Nachrichtenbeitrags wurde, ist neben Jühnde eine weitere exemplarische EnergiewendeGemeinde, der regelmäßig große mediale Aufmerksamkeit beschert ist. Wildpoldsried zählt etwa 2.500 Einwohnerinnen und Einwohner, liegt im Landkreis Oberallgäu und erzeugt fünfmal mehr Energie, als der Ort selbst verbraucht.
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Nicht zuletzt dieser Tatsache ist es geschuldet, dass der Filmbeitrag die lokale energiepolitische Rahmung als pionierhaft charakterisiert und auf die Transformationen hinweist, die sich aus dieser ergeben haben. Verändert habe sich etwa – darauf verweist schon der eingangs skizzierte Kommentar – das Bild des Landwirts: Einsiedler ist – so diese Lesart – zum Zeitpunkt des Beitrags eben nicht mehr „einfach nur Landwirt“. Implizit wird hier die Imagination eines idealtypischen Berufsbilds aufgerufen. Dann folgt die Charakterisierung eines antreibenden Pioniergeists: Zunächst war da nur eine Idee. Schließlich betont der Film einen Verweis auf die Rolle notwendiger Wissensbestände, um aus dieser Idee Handlungen entstehen zu lassen; vor 20 Jahren habe der Landwirt noch gar nicht gewusst, wie viel Energie eigentlich in der Natur stecke. Und abschließend charakterisiert der Film die lokale Variante der Energiewende in Wildpoldsried als soziales Projekt. Der Kommentar erläutert: „Der Energie-Pionier konnte viele Bürger ins Boot holen“. Dass das Projekt ein Erfolg wurde, lag – so jedenfalls die Narration des Bürgermeisters – nicht zuletzt auch an einem offenen Prozess der Aushandlung, in den alle Bürgerinnen und Bürger des Dorfes integriert werden sollten. In einem anderen Filmbeitrag der Deutschen Welle erklärt der Bürgermeister dann etwas deutlicher, warum die Energiewende in Wildpoldsried so gut funktioniert: „Also ich mein‘ alles, was irgendwo passiert, hängt von Personen ab; ob Personen miteinander können, oder ob sie nicht können. Ob’s irgendwelche Widerstände gibt. Und wir haben halt den Glücksfall hier bei uns, dass es viele maßgebende Personen gibt, die sich dieses Themas angenommen haben und die das voranbringen. Ein Einzelner hat keine Chance.“23 Die Lesart des Bürgermeisters verweist hier auf das Bilden eines Netzwerks von Akteuren, die allesamt für den Erfolg eines Projekts notwendig sind. Dieser starke soziale Aspekt wird auch auf der Internetseite der Gemeinde als Solidarität unterstrichen. Zudem sind dort zahllose Verweise auf den Pioniercharakter des sich selbst als „Energiedorf“ bezeichnenden Ortes, der hier eine dezidiert altruistische Färbung erhält, so etwa das Akronym: „WIR – Wildpoldsried, Innovativ, Richtungsweisend“, das Novalis-Zitat „Idealist sein, heißt Kraft haben für andere“ oder die Aussage „Wir in Wildpoldsried haben einige ‚Idealisten‘, denen wir es zu verdanken haben, dass in Wildpoldsried regenerative Energien in einer solchen Bandbreite erzeugt werden“.24
23 „Kluge Energievisionen“, Deutsche Welle: http://www.youtube.com/watch?v=xUQs b1pbD68&feature=g-vrec (03.07.2014). 24 Homepage der Gemeinde Wildpoldsried: http://www.wildpoldsried.de/index.shtml? Energie (03.07.2014)
„E NERGIE -P IONIERE “
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Mit Anthony Giddens ließe sich argumentieren, dass sich in diesem hier greifbaren Zusammenspiel verschiedenster individueller Akteure, die reflexiv und strategisch handeln, eine Form von „transformative capacity“25 manifestiert. Denn einzelnen Akteuren gelingt es, durch die Etablierung sozialer Netze in Form von „communities of interest“ oder „communities of practice“26, Ideen und Visionen umzusetzen. Dies trifft auch auf einen Akteur zu, den der Norddeutsche Rundfunk schon in den 1980er Jahren und dann in einem Format mit dem Titel „Zeitreise“ 2013 noch einmal in einer Rückschau porträtiert hat: Karl Heinz Hansen, den ersten Windbauer, der aus Windkraft gewonnene Energie an einen Energieversorger verkaufte. Der Beitrag unterstreicht – wie Hansen in seiner biographischen Erinnerung selbst – in erster Linie die ökonomische Dimension beim Bau von Windkraftanlagen. Eher zufällig habe Hansen bei einem Ausflug nach Dänemark eine Windmühle gesehen; in der filmischen Inszenierung erinnert sich Hansen, das Ding habe ja schön ausgesehen. Erst im Gespräch mit dem dortigen Landwirt habe er erfahren, dass sich damit Geld verdienen ließe. Der weitere Verlauf setzt wie in Wildpoldsried die Übersetzung einer Idee in Intervention voraus, bei der wiederum verschiedene Akteure mitwirken müssen: im Falle Hansens die zunächst zögerliche Landwirtschaftskammer sowie die föderale Politik, die aus Hansens Idee, eine Windmühle zu bauen, ein Pilotprojekt machte. Den bürokratischen Hürden begegnet Hansen in der Rückschau mit Pragmatismus: „Ich fand das alles zu blöd, ne, zu doof. Lass uns doch einfach bauen und dann kann man doch mal gucken, wie das da läuft“27, erläutert er im Film. Neben bürokratischen Widerständen, die sich kulturwissenschaftlich interpretiert aus spezifischen Ordnungsmustern ergaben, schildert Hansen auch soziale Konflikte – etwa, als sein Vater an der Vernunft des Sohns zweifelte und an Enterbung dachte.28 Finanzielle Unterstützung erhielt Hansen hingegen von der Schwiegermutter, die eine
25 Giddens, Anthony: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Oxford 1984, hier S. 15. 26 Lave, Jean/Wenger, Etienne: Situated Learning: Legitimate Peripheral Participation, Cambridge 1991. 27 Dieses und die folgenden Zitate aus: „Zeitreise: Der erste Windbauer Deutschlands“. Schleswig-Holstein Magazin vom 09.06.13: http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/ s-h_magazin/zeitreise/zeitreise617.html (19.08.2014); siehe zur zeitgenössischen Bewertung auch: Halter, Hans: „Den Wind zum Freund sich machen“, in: Der Spiegel vom 16.04.1984. 28 Vgl. N.N.: „Das sprudelt“, in: taz vom 24.06.2013, online unter: http://www.taz. de/!115297/ (25.11.2014).
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überzeugte Vertreterin der Anti-Atomkraft-Bewegung gewesen sei. Heute sei Hansen an fünf Windparks beteiligt. Nicht ohne Selbstironie bewertet Hansen am Ende des Films sein Tun: „Aber es sieht nachher gar nicht mehr so toll aus, wenn alles voll ist mit Windmühlen, aber das bringt aber Geld, und Geld ist ja wichtig, ne.“ Den letzten Halbsatz ergänzt Hansen mit einem verschmitzten Lächeln, was auf eine selbstreflexive Haltung hindeutet. Der Film endet mit der Feststellung, Hansen sei Bauer geblieben, freue er sich doch am meisten, wenn das Korn reif auf den Feldern stehe. Die Lesarten, die die beiden, hier knapp skizzierten Filme anbieten, verweisen auf ganz grundsätzliche Ambivalenzen in den medial vermittelten Deutungsmustern von „Energie-Pionieren“. In beiden Fällen sind diese positiv gezeichnet, die Handlungshorizonte sind jedoch ebenso wie die sehr persönlichen Motivationen höchst unterschiedlich. Ein letzter Schritt soll deshalb danach fragen, welche kulturell codierten Faktoren diese Horizonte konturieren und begrenzen.
4.
B EGRENZTE I NTERVENTION ? „E NERGIE -P IONIERE “ UND A GENCY
Die interventionistischen Strategien von „Energie-Pionieren“ sind als Umgangsweisen mit Endlichkeitserfahrungen zu verstehen. Oder anders: In die Praktiken, durch welche sich „communities of practice“ herausbilden, sind neben anderen Bedeutungen und Funktionen auch Endlichkeits- und Nachhaltigkeitskonzepte eingeschrieben. Eine Analyse dieses Inskriptionsprozesses verspricht auch deshalb Erkenntnisgewinn, weil „Energie-Pioniere“ als hybride Akteure, die sich zwischen und in verschiedenen Feldern bewegen, in kreativer Weise wissenschaftliche, politische, gesellschaftliche etc. Deutungsangebote aufgreifen, diskursiv – z.B. als Utopie einer nachhaltigen Energieversorgung – und praxeologisch verarbeiten und schließlich auf einer untergeordneten Ebene vermitteln, popularisieren und plausibilisieren.29 Die Interventionen, die es „Energie-Pionieren“ ermöglichen, ihre Vorstellungen einer ökologisch sinnvollen Energiewende zu realisieren, sind jedoch ihrerseits begrenzt oder – dies gälte es zu untersuchen – endlich. Deshalb möchte ich nun in einem nächsten Schritt nach der Endlichkeit der Handlungsoptionen von „Energie-Pionieren“ fragen. Ein wichtiger Rahmen klang mit der Frage nach der Übersetzung von Ideen in konkrete Interventionen bereits an. Diese Perspektive
29 Vgl. G. Welz: Negotiating Environmental Conflicts.
„E NERGIE -P IONIERE “
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knüpft an den in der Akteur-Netzwerk Theorie – etwa von Michel Callon – diskutierten Übersetzungsbegriff an: „Übersetzung [Translation] ist der Mechanismus, durch den die soziale und natürliche Welt fortschreitend Form annehmen. Das Resultat ist eine Situation, in der bestimmte Entitäten andere kontrollieren. Will man verstehen, was die Soziologen Machtbeziehungen nennen, muss man den Weg beschreiben, durch den die Akteure definiert, assoziiert und gleichzeitig verpflichtet werden, ihren Allianzen treu zu bleiben.“30 Die von Callon differenzierten Phasen eines Übersetzungsprozesses31 lassen sich auf die zu beforschenden „Energie-Pioniere“ übertragen. Sehr verkürzt gehe ich davon aus, dass die artikulierten Endlichkeitserfahrungen und die daraus entstehenden Versuche, diese einzuhegen, als eine Form der „Problematisierung“ zu verstehen sind; dies wäre die erste Übersetzungsphase. Die zweite Etappe – Callon nennt diese „interessement“ – versucht, die Interessen der beteiligten Akteure ernst zu nehmen, damit diese eine stabile Position im Netzwerk einnehmen können: Im Film wurde diese Etappe besonders greifbar – erste Skepsis wich durch Überzeugungsarbeit Akzeptanz. Damit ist der nächste Schritt, das „enrolment“, angesprochen, in dem die Akteure erfolgreich in ein Netzwerk eingebunden werden. Insbesondere der letzte Schritt der „Mobilisierung“ ist nach Callon durch Machtverhältnisse geprägt. Hier ist die Frage, wer in einem Netzwerk repräsentieren und wer die Sprecherrolle übernehmen darf. Sprechen also die Pioniere selbst oder treten neue Akteure auf? Der Kulturanthropologe Tom Mathar hat wie Bruno Latour selbst darauf hingewiesen, dass im Zentrum der Akteur-Netzwerk Theorie Beziehungen als Praxis die Grundlage der Analyse bilden.32 Das heuristisch Reizvolle an der Akteur-Netzwerk Theorie ist eine Sensibilisierung dafür, dass für die erfolgreiche Etablierung eines Netzwerks nicht nur menschliche Akteure notwendig sind. Übertragen auf die Handlungen von „Energie-Pionieren“ heißt dies, dass hier etwa Gesetzestexte, wissenschaftliche Innovationen, konkrete Technologien wie Biogasanlagen, Bakterien, die pflanzliche Stoffe zersetzen, Stromleitungen etc. das Netzwerk genauso konfigurieren wie die darin involvierten menschlichen Akteure.
30 Callon, Michel: „Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc Bucht“, in: A. Belliger/D.J. Krieger (Hg.), ANThology, S. 135-174, hier S. 170. 31 Siehe dazu auch die knappe Zusammenfassung in T. Mathar: Akteur NetzwerkTheorie, S. 179ff. 32 T. Mathar: Akteur Netzwerk-Theorie, S. 173.
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Wenn der Wildpoldsrieder Landwirt im Film davon berichtet, vor 20 Jahren habe er noch gar nicht gewusst, wie viel Energie in der Natur stecke, dann deutet dies darauf hin, dass die Handlungsoptionen von „Energie-Pionieren“ durch sich etablierende neue naturwissenschaftliche Wissensbestände und Technologien bedingt sind und sich beständig verschieben können. Daneben sind die Handlungsoptionen, die hier den Umgang mit Endlichkeitserfahrungen bedingen, aus einer anderen Perspektive im Sinne Norbert Elias’ durch soziale Figurationen gerahmt – also durch „Interdependenzgeflechte“ von Akteuren.33 Wenn der örtliche Bürgermeister in Wildpoldsried dies explizit auch so artikuliert, dann deutet dies darauf, dass die in diesem Netzwerk Agierenden im Sinne Anthony Giddens zumindest teilweise „knowing subjects“34 sind, die sich selbst und ihre Lebenskontexte reflektieren und zu beeinflussen versuchen. Mit Elias ließe sich dabei jedoch argumentieren, dass in Figurationen miteinander verflochtene Menschen nur begrenzt frei in ihrem Handeln sind. Ein empirisch angelegtes Forschungsprojekt zu den hier skizzierten „EnergiePionieren“, das die Frage nach der Begrenztheit der Handlungsmöglichkeiten dieser spezifischen Akteure diskutiert, kann vor diesem Hintergrund auch an eine ältere sozialwissenschaftliche Debatte anknüpfen, die vor allem die Anthropologin Sherry B. Ortner für die kulturwissenschaftlichen Disziplinen fruchtbar gemacht hat. Ortner greift das Spannungsfeld zwischen strukturalistischen und praxisorientierten Ansätzen auf und fordert, die Korrelationen zwischen „structure“ und „agency“ empirisch zu untersuchen. Sie definiert: „‚Agency‘ is never a thing in itself but is always part of a process of what Giddens calls structuration, the making and remaking of larger social and cultural formations.“35 Zu fragen sei deshalb erstens, ob Agency immer auch bewusste Intention voraussetze, zweitens, in welchem Zusammenhang die Universalität von Agency mit ihrer jeweiligen kulturellen Konstruiertheit stehe, und drittens, welche Beziehungen zwischen Macht und Agency bestünden. Vor allem die erste Frage nach der Intentionalität verspricht Erkenntnisgewinn, da Kritiker einer zu starken Betonung von Agency laut Ortner darauf hingewiesen haben, dass menschliches Handeln vielfach unintendiert sei und ebenso unintendierte Effekte zeitige und dass Akteure durchaus verschiedene (mitunter sogar widersprüchliche) Ziele mit ihrem Handeln verbinden können. Beide Einwände müssen in einer Ethnographie der Handlungshorizonte von „Energie-
33 Vgl. Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, München 1970. 34 A. Giddens: The Constitution of Society, Oxford 1984, S. 5. 35 Ortner, Sherry B.: Anthropology and Social Theory: Culture, Power, and the Acting Subject, Durham u.a. 2006, S. 134.
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Pionieren“ berücksichtigt werden. Auch die zweite Frage nach der kulturellen und historischen Konstruiertheit von Agency ist für ein solchermaßen konturiertes Forschungsvorhaben relevant: Wenn nach der Begrenztheit oder Endlichkeit von Handlungsmöglichkeiten gefragt wird, dann impliziert diese Frage immer auch die Perspektive auf die jeweiligen Kontexte in Zeit und Raum – zugespitzter: Die Handlungsmöglichkeiten in Jühnde sind anders als die in Wildpoldsried oder im Cecilienkoog in Nordfriesland, wo Hansen seine erste Windmühle errichtet hat; die Handlungshorizonte individueller „Energie-Pioniere“ sind anders als die ganzer Akteursgruppen oder -kollektive, die bereits über spezifische Netzwerkstrukturen verfügen. Die dritte von Ortner formulierte Frage nach Macht und Agency schließlich ist anschlussfähig an die eingangs kurz referierte These Dominic Boyers, die „Energopolitik“ sei mit Foucaults Konzeption einer Biopolitik zu parallelisieren. Hier sind Machtfragen ganz zentral. Übertragen auf „Energie-Pioniere“ sensibilisiert diese Perspektive für die Frage, wo und wie „Energie-Pioniere“ widerständig agieren (können) und in welchen Kontexten Struktur stärker ist als Agency. Auf diese Perspektive hat der Kulturwissenschaftler Stefan Beck in seiner grundlegenden Arbeit zur Bedeutung von Technik bereits mit Nachdruck hingewiesen: „Gefragt wird hierbei sowohl danach, in welcher Weise und in welchen Grenzen Strukturen, Systeme oder kulturelle Determinanten einen formierenden Effekt auf die Praxis entfalten, als auch danach, in welcher Weise Praxen Strukturen zu reproduzieren und vor allem zu modifizieren vermögen. Das lange vorherrschende Frageinteresse, kulturelle Ordnungen oder Muster zu rekonstruieren, wird damit ergänzt oder ersetzt durch das Interesse, Variabilitäten herauszuarbeiten und Transformationsprozesse zu rekonstruieren.“36
Vor diesem Hintergrund müsste dann gleichermaßen ex negativo danach gefragt werden, welche Pioniere aus welchen Gründen gescheitert sind.
36 Beck, Stefan: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte (= Zeithorizonte, Band 4. Studien zu Theorien und Perspektiven Europäischer Ethnologie), Berlin 1997, S. 322.
330 │ M ARKUS T AUSCHEK
5.
„E NERGIE -P IONIERE “ ALS F ORSCHUNGSGEGEN STAND . EIN KULTURANTHROPOLOGISCHES F AZIT
Ein kulturwissenschaftlicher Blick auf jene Akteure, die in einem öffentlichen Diskurs als „Energie-Pioniere“ konzeptualisiert werden, kann nicht nur dazu beitragen, im Sinne einer Technografie den Prozess der Veralltäglichung von Technologien nachzuverfolgen.37 Sie hat in einer historischen, sozialen und räumlichen Dimensionierung das Potenzial, die alltagsweltlichen Grundlagen und Effekte der Energiewende sicht- und analysierbar zu machen. Mit dem Hinweis auf das aus der Akteur-Netzwerk Theorie entlehnte Konzept der Übersetzung steht ein theoretischer Rahmen bereit, der insbesondere die Vernetzung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure in das Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rückt. In diesem Prozess sind dann die artikulierten Argumente und Deutungsmuster für eine kulturwissenschaftliche Analyse ebenso relevant wie die damit verknüpften und verarbeiteten Erfahrungen, aus denen sich schließlich Interventionen und neue soziale Netzwerke ergeben können. Endlichkeit ist in dieser Fokussierung auf zwei Ebenen zu untersuchen: Erstens Endlichkeit in konkreten Vorstellungen, Konzepten, Imaginationen, die die zu untersuchenden Akteure vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen artikulieren und die zu Handlungen motivieren. Und zweitens auf einer Metaebene mit Rekurs auf die Agency-Structure-Debatte und Ansätze der Akteur-Netzwerk Theorie die Endlichkeit von Handlungsmöglichkeiten, die sich auch aus den skizzierten Endlichkeitserfahrungen ergeben. Dabei macht das hier skizzierte Projekt kulturanthropologische Perspektivierungen stark, die insbesondere für Differenzen und Eigenlogiken, widerständiges oder kreatives Handeln und das Zusammenspiel von Bedeutung und Performanz sensibilisiert sind. Deshalb ist zu erwarten, dass die empirischen Ergebnisse es erlauben, einen nivellierenden Pionier-Begriff zu dekonstruieren, und nahelegen, dass der Umgang mit Endlichkeit im Kontext der Energiewende von vielen komplexen und mitunter gegenläufigen kulturellen wie sozialen Faktoren abhängt.
37 Rammert, Werner/Schubert, Cornelius: „Technografie und Mikrosoziologie der Technik“, in: Dies. (Hg.), Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 11-24; Braun-Thürmann, Holger: „Ethnografische Perspektiven: Technische Artefakte in ihrer symbolisch-kommunikativen und praktischmateriellen Dimension“, in: W. Rammert/C. Schubert (Hg.), Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 199-222.
Reparieren in Gemeinschaft: Ein Fallbeispiel zum kulturellen Umgang mit materieller Endlichkeit M ARIA G REWE
1.
E IN N ACHMITTAG
BEIM
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„Es ist Samstagnachmittag. Kurz bevor die Besucher eingelassen werden, kommt die Gruppe noch einmal im Kreis zusammen: gut zwanzig Männer und Frauen, die meisten im Alter zwischen vierzig und sechzig. Eine der Hauptorganisatorinnen begrüßt alle Helfer, erläutert den Ablauf und macht deutlich: ‚Ihr müsst euch selbst Pausen nehmen, wenn es zu viel wird.‘ Beim letzten Mal war der Andrang so groß, dass die Reparaturexperten im Dauereinsatz waren und bis zum Schluss zusammen mit Besuchern nach Lösungen für defekte Geräte suchten. Nach der Veranstaltung soll es noch Suppe für die Helfer geben. Dann gehen alle an ihre Arbeitstische. Ich bin wieder im Küchenteam und werde mich zusammen mit zwei Frauen um Kaffee und Kuchen kümmern. Unten an der Treppe, wo schon bei meiner Ankunft vor einer halben Stunde Menschen mit Geräten warteten, werden die Trennwände weggeschoben und das Repair Café offiziell geöffnet. Vorne am Begrüßungstisch stehen die Besucher wieder an. Dort werden die ersten Diagnosen gestellt und Zettel mit Nummern in verschiedenen Farben verteilt: Die Nummer für die Reihenfolge, die Farbe für das Reparaturproblem und die Geräteart.“1
Das Konzept, das hier Menschen an einem Samstagnachmittag zusammenbringt, um Dinge und Geräte wieder instand zu setzen, hat mit dem Label „Repair Café“ seit dessen Entwicklung durch die niederländische Journalistin Martine Postma an Popularität gewonnen. 2009 veranstaltete sie das erste Repair Café in Ams1
Feldnotiz vom 27.01.2014.
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terdam und gründete 2010 die Stiftung „Stichting Repair Café Niederlande“. Diese Organisation bietet mit der Entwicklung eines Handbuchs anderen Initiativen seit 2011 Unterstützung bei der Umsetzung eines Reparaturtreffens. In Deutschland fand das erste 2012 in der Dingfabrik in Köln statt. Seitdem haben sich über 170 Reparaturinitiativen unter dem Label „Repair Café“ in Deutschland gegründet.2 Warum setzen sich Menschen „gemeinsam gegen das kurze Leben der Waren“3 ein? Welche Diskurse, welche kulturellen und sozialen Praktiken verdichten sich in Repair Cafés? Welche Erfahrungen von Endlichkeit übersetzen die Akteure dabei in konkrete soziale und kulturelle Praktiken? Der folgende Beitrag will am Fallbeispiel „Repair Café“ diesen Fragen aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive nachgehen, um spezifische Ordnungs- und Deutungsmuster sowie deren Materialisierungen in ihren kulturellen Kontexten zu analysieren. Die empirische Grundlage bildet ethnographisches Material, das ich durch Interviews mit Initiator/innen, durch teilnehmende Beobachtung sowie anhand weiterer Quellen wie Zeitungsartikel, Blogs und Internetseiten erhoben und diskursund inhaltsanalytisch ausgewertet habe.4 Zunächst werde ich theoretischen Überlegungen zum Begriff der Endlichkeit in Hinblick auf das Fallbeispiel nachgehen, indem ich die Erfahrung von Endlichkeit als die Endlichkeit materieller Kultur und die Begrenztheit von Ressourcen unterscheide. Es folgt ein Einblick in die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Forschung zum Reparieren und Instandsetzen, um das heute in spezifischen Feldern neu mit Bedeutung versehene Reparieren als historisch vorgeformte, kulturelle Praktik und als eine wesentliche Kulturtechnik des Umgangs mit Mangel und Knappheit breiter zu kontextualisieren. Danach möchte ich mit Hilfe des empirischen Materials spezifische Diskurse verfolgen sowie alltagspraktische Begrenzungen im Feld und Strategien, mit denen die Akteure diese verhandeln und zu überwinden versuchen, aufzeigen.
2
Vgl. http://repaircafe.org/de/deutschland/ (28.11.2014).
3
Starke, Katrin: „Gemeinsam gegen das kurze Leben der Waren“, in: Die Welt vom 21.06.2013, online unter http://www.welt.de/dieweltbewegen/sonderveroeffentlich ungen/article116995066/Gemeinsam-gegen-das-kurze-Leben-der-Waren.html (28.01.2015).
4
Das Collegium Philosophicum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel förderte das Forschungsprojekt innerhalb des Projektkollegs „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“ von 2012 bis 2015 mit einem Promotionsstipendium. Den Herausgebern des vorliegenden Bandes und auch Markus Tauschek sei an dieser Stelle für die kritischen Anmerkungen zu diesem Beitrag gedankt.
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2.
IN
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│ 333
E NDLICHKEIT
MATERIELLER K ULTUR ALS ALLTÄGLICHE E RFAHRUNG UND DIE KULTURELLE K ONSTRUKTION VON BEGRENZTEN R ESSOURCEN
Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass Dinge als materielle Kultur endlich sind. Zum einen sind Alltagsobjekte zeitlich begrenzt, also endlich, ein Teil der Lebenswelt von Individuen. Wenn Dinge aus der Mode kommen, sie nicht mehr dem Geschmack entsprechen oder keine Verwendung mehr finden, werden sie aussortiert und entsorgt. Zum anderen sind Objekte endlich im Sinne ihrer materiellen Beschaffenheit. Sie haben einen stoffbedingten Verschleiß, wie er etwa durch Rost sichtbar wird. Dinge nutzen sich aber auch während des Gebrauchs ab oder gehen schlicht kaputt. Aus diesen lebensweltlichen Erfahrungen der Endlichkeit von alltäglichen Objekten haben sich soziale Praktiken des produktiven Umgangs entwickelt, die sich strukturell unterscheiden: das Entsorgen, das Konservieren und das Reparieren. Ist ein Objekt funktionslos, beschädigt oder entspricht es nicht mehr der Mode oder der Lebensphase des Besitzers, wird es in Mülleimern und -tonnen entsorgt. Die „Objektbiographie“5, deren Analyse Igor Kopytoff eingefordert hat, endet damit nicht unweigerlich. Der Anthropologe argumentiert, dass Objekte Prozesse der „commoditization“, der „decommoditization“ und der „recommoditization“ durchlaufen, in denen sich die Wertzuschreibung von Objekten je nach sozialem Kontext verändert.6 Folgt man den Lebensgeschichten von entsorgten Dingen, kann entlang dieser Objektbiographie gezeigt werden, wie unterschiedlichste Akteure die Endlichkeit von Materialien produktiv machen. Sie nutzen die Abfallprodukte der Wegwerfgesellschaft weiter und transformieren den „Müll“ wieder in wertvolle Waren. Sie entsorgen Dinge beispielsweise thermisch und nutzen sie zur Wärmegewinnung, sie recyceln Objekte oder verkaufen sie als Gebrauchtwaren weiter. Das kulturell codierte Ordnungssystem bestimmt dabei je nach sozialem und historischem Kontext die Grenze zwischen wertvollem Objekt und Müll.7
5
Kopytoff, Igor: „The cultural biography of things: commoditization as process“, in: Arjun Appadurai (Hg.), The social life of things. Commodities in cultural perspective, Cambridge 2010, S. 64-91.
6
Ebd. S. 65.
7
Vgl. Windmüller, Sonja: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem, Münster 2004, sowie Thompson, Michael: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981.
334 │ M ARIA G REWE
Dem Historiker Krzysztof Pomian folgend verursachen gesellschaftliche Umbrüche wie technische Erneuerungen oder die Propagierung neuer Lebensstile, dass Dinge ihre Funktion verlieren und zu „Abfallprodukten“8 werden. Sie können dabei einen Prozess durchlaufen, den Kopytoff als „singularization“9 bezeichnet: Dinge bekommen Seltenheitswert, aus dem Banalen wird etwas Außergewöhnliches, ein Zeichen mit Symbolcharakter, das es zu erhalten und zu schonen gilt. Um das endliche Objekt dann vor Verfall oder Zerstörung zu schützen, wird es konserviert und musealisiert.10 Als weiteren Umgang mit der Endlichkeit materieller Kultur lässt sich neben dem Entsorgen und dem Konservieren das Reparieren unterscheiden. Um die Funktionen und den Gebrauchswert wieder herzustellen und die tendenziell kurze Lebensgeschichte eines Dinges zu verlängern, werden diese geflickt und repariert. Im Kontext der Reparaturtreffen ist das Reparieren – so kann man als These formulieren – ein performativer Umgang mit der Erfahrung der Endlichkeit materieller Kultur, der körperlich-sinnlich, die Materialität betonend, wissensbasiert und Wissen produzierend als Ereignis nach kulturellen Regeln abläuft. Die Erfahrung von Endlichkeit materieller Kultur wird auch übersetzt in den diskursiven Umgang mit begrenzten Ressourcen. Dabei meint materielle Kultur hier weniger die Alltagsobjekte an sich, sondern die für deren Produktion notwendigen Ressourcen. In den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten wird der Begriff „Ressource“ vor allem für die Stoffe und Materialien genutzt, aus denen Konsumgüter produziert werden. Ressourcen sind in diesem Sinne die „natürlich“ vorkommenden Teile und Bausteine materieller Kultur – Metalle, Erdöl, Wasser, chemische Elemente usw. −, gleichwohl die Kulturwissenschaft den Begriff von Natur schon lange kritisch reflektiert.11 Natur- und wirtschaftswissenschaftliche Studien objektivierten und kritisierten die durch Konsumgesellschaften verursachte Verknappung von endlichen Ressourcen im
8
Pomian, Krzysztof: „Museum und kulturelles Erbe“, in: Gottfried Korff/Martin Roth (Hg.), Das historische Museum. Labor, Schaubbühne und Identitätsfabrik, Frankfurt a.M. 1990, S. 41-64, hier S. 43.
9
I. Kopytoff: „The cultural biography of things: commoditization as process“, in: Appadurai, The social life of things (2010), S. 65.
10 Vgl. K. Pomian: Museum und kulturelles Erbe, S. 41-64; siehe zur Musealisierung und der „Spirale der Künstlichkeit“ auch Baudrillard, Jean: Agonie des Realen, Berlin 1978. 11 Brednich, Rolf Wilhelm/Schneider, Annette/Werner, Ute (Hg.), Natur − Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Münster 2001.
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Zuge von Umweltdiskursen bereits seit den 1960er Jahren.12 Inzwischen beteiligen sich auch zunehmend kultur- und sozialwissenschaftliche Forscher/innen an den Debatten über den Umgang mit begrenzten Ressourcen.13 Aus einer kulturanthropologischen Perspektive werden aufgrund von wissenschaftlich produzierten Wissensordnungen, spezifischen gesellschaftlichen Konventionen sowie Macht- und Deutungshoheiten Materialien oder Stoffe als begrenzte bzw. knappe und wertvolle Ressourcen kulturell und sozial konstruiert. Dabei konstruieren, so meine These, Akteure ausgehend von kapitalistischen und neoliberalen Ordnungs- und Deutungsmustern Stoffe als knappe Ressourcen, die über Preise, bestimmt von Angebot und Nachfrage, auf Märkten gehandelt werden. Wie die Historikerin Monika Dommann in einem Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der Universalisierung und Anthropologisierung von Knappheit darstellen kann, ist Knappheit zum Schlüsselbegriff der Wirtschaftwissenschaften geworden, seit Lionel Robbins das Handeln mit knappen Mitteln zur Kernfrage des ökonomischen Wirtschaftens erklärt hat.14 Ökonomisches Handeln ist aber in soziale und kulturelle Kontexte eingebunden. Arjun Appadurai bestimmt deshalb die Markt- oder Tauschsituation als „commodity situation“15, als sozialen Prozess, in dem austauschbare Stoffe oder Güter zu Waren und damit gehandelt
12 Vgl. Carson, Rachel: Silent Spring, Boston 1962, sowie Meadows, Donella H. et al.: The Limits to Growth. A report for the Club of Rome’s project on the predicament of mankind, New York 1972; Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future, London 1987. 13 Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a.M. 2009; Trattnigg, Rita/Haderlapp, Thomas (Hg.): Zukunftsfähigkeit ist eine Frage der Kultur. Hemmnisse, Widersprüche, Gelingensfaktoren des kulturellen Wandels (= Hochschulschriften zur Nachhaltigkeit), München 2013; Welzer, Harald/Soeffner, Hans-Georg/Giesecke, Dana (Hg.): KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt a.M. 2010. Auch die in Kooperation mit dem Projektkolleg durchgeführte Tagung „Zum Umgang mit begrenzten Ressourcen. Kulturwissenschaftliche Positionen“ vom 13.15.11.2014 in Kiel belegte vielfältige Forschungstätigkeiten, siehe dazu Tauschek, Markus/Grewe, Maria: Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen, Frankfurt 2015. 14 Vgl. Dommann, Monika: „Reden wir über Geld! Aber wie? Und wozu?“, in: Möhring, Maren/Schüttpelz, Erhard/Zillinger, Martin (Hg.), Knappheit, Bielefeld 2011, S. 113-121. 15 Appadurai, Arjun: „Introduction: commodities and the politics of value“, in: Appadurai, The social life of things (2010), S. 3-63, hier S. 13f.
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werden: „From a cultural perspective, the production of commodities is also a cultural and cognitive process: commodities must be not only produced materially as things, but also culturally marked as being a certain kind of thing.“16 Stoffe werden dem Prozess der „commoditization“17 folgend zu Waren, damit unter dem Begriff Ressource ökonomisch inwertgesetzt und zu knappen Gütern konstruiert.
3.
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ALS KULTURELLE
P RAKTIK
Die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Forschung hat das Reparieren als kulturelle Praktik besonders als ein Phänomen von Notzeiten analysiert, in denen Güter begrenzt, also endlich, zugänglich sind beziehungsweise waren.18 Werden Dinge und die für deren Produktion benötigten Materialien knapp, müssen sie unweigerlich gepflegt, umgenutzt, repariert oder geflickt werden. Während Studien zu vorindustriellen Wirtschaftsformen Reparaturkenntnisse als notwendig betrachten, sinke in industriellen Gesellschaften die Bereitschaft und Fähigkeit zur Reparatur, wie der Soziologe Jürgen Ahrens in einem Ausstellungsbegleitband zum „Flick-Werk“ diagnostiziert.19 Betrachtet man den historischen Prozess der Güterexpansion, vervielfältigten sich die Alltagsobjekte in Haushalten durch die industrielle Massenproduktion, sodass die meisten Alltagsgüter für die
16 I. Kopytoff: „The cultural biography of things: commoditization as process“, in: Appadurai, The social life of things (2010), S. 64. 17 Ebd. 18 Vgl. Segschneider, Ernst Helmut/Westphal, Martin: Zeichen der Not. Als der Stahlhelm zum Kochtopf wurde (= Schriften des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold, Landesmuseum für Volkskunde, Band 6), Detmold 1989; Ludwig-UhlandInstitut für Empirische Kulturwissenschaft/Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.): Flick-Werk: Reparieren und Umnutzen in der Alltagskultur, Begleitheft zur Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart vom 15. Oktober bis 15. Dezember 1983, Stuttgart 1983; Stirnemann, M. Vänçi/Vogel, Fritz Franz: Flick gut! Panne, Blätz, Prothese. Kulturgeschichtliches zur Instandstellung, Marburg 2004; Fél, Edith/Hofer, Tamás: Bäuerliche Denkweise in Wirtschaft und Haushalt. Eine ethnographische Untersuchung über das ungarische Dorf Atány, Göttingen 1972. 19 Ahrens, Jürgen: „Reparieren oder Wegwerfen. Über den Umgang mit Dingen in der vorindustriellen und in der industriellen Zeit“, in: Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft/Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.), FlickWerk (1983), S. 17-22.
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breite Gesellschaft erschwinglich wurden. Defekte Güter waren damit immer einfacher zu ersetzen. Die Gesellschaft wandelte sich zur oft diagnostizierten Überfluss- und Wegwerfgesellschaft, die neu kauft, statt umzunutzen oder zu reparieren.20 Der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff beobachtete bereits in den frühen 1980er Jahren eine Aufwertung von Reparaturen mit dem Hinweis auf die damalige wirtschaftliche Situation, die durch Skepsis, Ängstlichkeit und Bescheidenheit als neue ökonomische Tugenden bestimmt gewesen sei.21 Eine ökologische Dimension oder Motivation spielt in den von Korff geführten „Erkundungsgesprächen“22 zum Flicken und Reparieren scheinbar noch keine Rolle. Korff sieht Reparieren als Freizeitbeschäftigung mit „entlastend-kompensatorischen“23 Effekten. Flicken und Reparieren sind in seiner Zeitdiagnose ein Umgang mit Sachen, der mit Scham und Stolz verbunden ist. Zum einen gelte Reparieren als „Signum der Armut“, zum anderen als „eines der wenigen Felder [...], wo Kreativität gezeigt werden“24 könne. Die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Reparieren, verstanden als kulturelle Praktik, reduzierte sich bisher auf die Analyse von ökonomischen Notwirtschaften und wird in Konsumgesellschaften als kreative Freizeitbeschäftigung erfasst. Bisher fehlen kulturwissenschaftliche Ansätze, die die ökologische Dimension mit einbeziehen und das Reparieren als Umgang mit Endlichkeit und als Strategie gegen die zunehmende Verknappung von Ressourcen systematisch untersuchen. Die neuen Bedeutungen von Reparieren im Kontext von Überfluss- und Wegwerfgesellschaften sind bislang in ihrer alltagsweltlichen Ausprägung, ihren politischen und ethischen Implikationen kaum kulturwissenschaftlich untersucht worden. Ausgehend von der Erfahrungen der Endlichkeit materieller Kultur − im Sinne des materiellen Verschleißes von Alltagsdingen und im Sinne der kulturellen Konstruktion von begrenzten Ressourcen − erleben verschiedene Akteure das Reparieren vorhandener Dinge heute als sinnhaft, weil damit die Nutzungsdauer verlängert und ein schonender Umgang mit
20 Vgl. König, Wolfgang: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008. 21 Korff, Gottfried: „Reparieren: Kreativität des Notbehelfs?“, in: Ludwig-UhlandInstitut für Empirische Kulturwissenschaft/Württembergisches Landesmuseum Stuttgart, Flick-Werk (1983), S. 13-16, hier S. 16. 22 Ebd. S. 16. 23 Ebd. S. 15. 24 Ebd. S. 16.
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Ressourcen praktiziert wird. Im Folgenden sollen deshalb die handlungstheoretischen Überlegungen mit empirischem Material komplementiert werden.
4.
D ISKURSE ZUM V ERSCHLEISS O BSOLESZENZ
UND DER GEPLANTEN
Der Kulturwissenschaftler Utz Jeggle diskutierte 1981 auf dem 23. Deutschen Volkskunde-Kongress in Regensburg die Veränderung der Konsummuster vom „Pfleger und Schoner“25 hin zum Verbraucher. Er kritisierte in dem zur Tagung erschienenen Sammelband, dass sich die Lebensdauer von Dingen dramatisch verkürzt habe, deren Nutzen möglichst schnell erlöschen solle und systematisch verschleißende Teile in komplexe Dinge eingesetzte werden, wobei es zunehmend schwieriger werde, Dinge zu reparieren.26 Die von Jeggle dargestellte Wahrnehmung, dass Dinge immer schneller kaputt gehen, ist auch über dreißig Jahre später noch anschlussfähig an die aktuellen Debatten zu mangelhafter Produktqualität und fehlender Reparaturfreundlichkeit von Gütern, die auch von den Akteuren, die ein Reparaturcafé etablieren, geführt werden. Die von mir befragten Akteure schildern im Interview immer wieder die Erfahrung, dass Produkte kurz nach der Garantiezeit kaputt gingen und nur begrenzt reparaturfreundlich hergestellt seien. Während sich die Gewährleistung aus dem Kaufvertrag heraus ergibt, ist die im Sprachgebrauch verbreitete Garantie eine freiwillige Selbstverpflichtung des Garantiegebers. Akteure innerhalb der Reparatur-Community werfen den Produzenten vor, dass sie vorsätzlich mangelhafte Produkte herstellten: „Es ist definitiv Verbraucherverarschung, wenn die Dinge so angelegt sind, dass sie möglichst schnell kaputt gehen“ (Interview 19.03.2013). Eine andere Akteurin benutzt den Begriff der geplanten Obsoleszenz, um die Erfahrung des schnellen Verschleißes zu beschreiben: „Weil alle Leute haben zuhause Geräte, die kaputt sind und man will es nicht wegschmeißen, weil der Akku alle ist oder man es gerade gekauft hat. Die geplante Obsoleszenz, wenn die Sachen kaputt gehen, wenn die Garantie abgelaufen ist, darüber ist man verärgert.“ (Interview 11.03.2013) Die Akteure greifen hier auf Wissensordnungen zum geplanten Ver-
25 Jeggle, Utz: „Vom Umgang mit Sachen“, in: Konrad Köstlin/Hermann Bausinger (Hg.), Umgang mit Sachen. Zur Kulturgeschichte des Dinggebrauchs. 23. Deutscher Volkskunde-Kongreß in Regensburg vom 6.-11. Oktober 1981 (= Regensburger Schriften zur Volkskunde, Band 1), Regensburg 1983, S. 11-25, hier S. 13. 26 Ebd. S. 13.
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schleiß zurück, die im medialen Diskurs eng mit der Arbeit des Verbraucherschützers und Betriebswirts Stefan Schridde verbunden sind. Wie viele Akteure im Umfeld der Reparaturcafés hat Schridde 2011 die Reportage „Kaufen für die Müllhalde“ der Filmemacherin Cosima Dannoritzer gesehen. Stefan Schridde bezeichnet dies als Startschuss für die von ihm gegründete Bürgerinitiative „Murks? Nein Danke!“. Im Februar 2012 begann er den gleichnamigen Internetblog, auf dem er Beispiele für schlechte Produktqualität sammelt. Am 20.03.2013 stellte Schridde die Studie „Geplante Obsoleszenz. Entstehungsursachen – Konkrete Beispiele – Schadensfolgen – Handlungsprogramm“ anlässlich eines Fachgesprächs im Bundestag bei der Bundesfraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.27 Im Gutachten arbeiten Schridde, Kreiß und Winzer heraus, dass es marktspezifische Anreizsysteme gebe, die zur Produktion von Waren führten, die schneller verschleißen, als sie könnten:28 „Aktuell nachgewiesene Beispiele für geplanten Verschleiß sind unterdimensionierte Kondensatoren in Receivern oder Computern, die Verwendung von Kunststoff statt Metall bei schwingenden Kleinbauteilen, fest verbaute Akkus in elektronischen Zahnbürsten oder Epiliergeräten, geklebte statt geschraubte Produkte sowie eine mangelhafte Ersatzteilversorgung.“29 Kreiß zählt im Gutachten vier Faktoren auf, die die Verkürzung von Produktlebenszyklen begünstigen.30 Erstens führten gesättigte Märkte dazu, dass Produzenten unter großem Wettbewerbsdruck stünden und es zu Überproduktion komme. Die Marksättigung habe zur Folge, dass Produzenten weniger haltbare Produkte herstellten. Sie reduzierten etwa die Produktionskosten, indem sie
27 Schridde, Stefan/Kreiß, Christian/Winzer; Janis: Geplante Obsoleszenz. Entstehungsursachen − Konkrete Beispiele − Schadensfolgen − Handlungsprogramm. Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, erstellt durch die ARGE REGIO Stadt- und Regionalentwicklung GmbH, Berlin 2013. 28 Das populärste Beispiel für Lobbyarbeit und geplanten Verschleiß ist die Glühbirne. Das unter dem Namen PHOEBUS‐Glühbirnen‐Kartell, an dem alle damaligen großen internationalen Hersteller wie General Electric, Philips, Osram, Compagnie des Lampes usw. beteiligt waren, verringerte vorsätzlich und bewusst die Lebensdauer von Glühbirnen von etwa 2.500 Stunden Brenndauer auf 1.000 Stunden; siehe dazu Kreiß, Christian: „Modul A: Zur Entstehung von geplanter Obsoleszenz“, in: S. Schridde/ C. Kreiß/J. Winzer (Hg.), Geplante Obsoleszenz (2013), S. 5-22, hier S. 13. 29 Schridde, Stefan: „Geplante Obsoleszenz. Gebaut um kaputtzugehen“, in: Oekom e.V. − Verein für ökologische Kommunikation (Hg.): Rohstoffquelle Abfall. Wie aus Müll Produkte von morgen werden, München 2012, S. 56-61, hier S. 57. 30 C. Kreiß: Modul A: Zur Entstehung von geplanter Obsoleszenz, S. 8f.
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günstigere Materialien verwendeten. In der Wirtschaft werde diese Konzeption von Kurzlebigkeit als Death Dating, Build-to-Break oder Design-to-Cost bezeichnet.31 Die Märkte für Elektronikgeräte seien zweitens unübersichtlich und intransparent, wodurch Sanktionen für schlechte Produktqualität durch Kundenabwanderung kaum möglich seien: „Je größer die Intransparenz der Märkte ist, desto leichter ist es also für die Hersteller, die Produktlebenszeit zu verkürzen, ohne dass es der Kunde merkt.“32 Es werden immer neue Produktlinien entwickelt, die zu Intransparenz und Orientierungslosigkeit für den Kunden führten. Die allgemein verbreitete Schuldzuweisung, dass Kunden stets nach dem Neuesten verlangten, basiere auf der Vorstellung, Verbraucher reflektierten die ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Kaufverhaltens nicht und legten Wert auf das neueste Produkt, so Schridde. Er meint, dass Wirtschaftsinteressen dafür sorgten, dass eben dieses Narrativ von Konsumenten in den Medien gefördert werde, weil sie eine lukrative Zielgruppe darstellten. Dabei zitiert er soziologische Studien, die darlegen, dass diese Konsumorientierung nur von 20 Prozent der Menschen geteilt werde.33 Die schnelle Abfolge von neuen Produktlinien führe dazu, dass Testphasen kürzer werden. Stellten sich Mängel heraus, würden diese durch neue Modelle ausgebessert und ein neuer Absatzmarkt entstehe. Funktionelle Obsoleszens bedeute hier, dass neue Produkte Probleme lösen, die erst durch die vorherige Gerätegeneration erzeugt werden.34 Der dritte Faktor, der die verkürzte Lebensdauer von Produkten begünstige, sei die Kapitalmarkt‐ bzw. starke Gewinnorientierung der Hersteller, die dazu führe, dass nicht auf Langlebigkeit produziert werde, sondern auf kurzfristige Gewinnmaximierung: „Vor allem börsendotierte Aktiengesellschaften unterliegen enorm hohen Renditeerwartungen seitens der Kapitalmärkte und sehen sich ständig gezwungen, über mehr oder weniger lautere Maßnahmen nachzudenken, die den Gewinn erhöhen.“35 Der von Kreiß als die „Frage der Moral“36 bezeichnete vierte Faktor meint, dass die ethische Einstellung des Managements im Kontext der Gewinnorientierung stehe. Je stärker Unternehmen an Gewinn und Kapitalmarkt orientiert seien, desto weniger werden ethische Bedenken einbezogen und desto größer sei die Anfälligkeit des Managements für geplanten Ver-
31 S. Schridde: Geplante Obsoleszenz. Gebaut um kaputtzugehen, S. 57. 32 C. Kreiß: Modul A: Zur Entstehung von geplanter Obsoleszenz, S. 9-10. 33 S. Schridde: Geplante Obsoleszenz. Gebaut um kaputtzugehen, S. 58-59. 34 Ebd. S. 58. 35 C. Kreiß: Modul A: Zur Entstehung von geplanter Obsoleszenz, S. 10. 36 Ebd. S. 11.
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schleiß, so Kreiß.37 Geplante Obsoleszenz sei zu einem „Massenphänomen“38 geworden, durch das die Hersteller „die Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz“39 unterwanderten. Deutlich werden hier also die Kritik an unternehmerischen Wirtschaftweisen und die moralisch aufgeladene Debatte zum Umgang mit Ressourcen. Schridde und der sich um ihn formierende Verein „Murks? Nein Danke! e.V.“ stellen eine wichtige Akteursgruppe dar, deren Arbeit in der ReparaturCommunity stark rezipiert wird und die sich durch die inhaltliche und politische Arbeit maßgeblich am Diskurs zum geplanten Verschleiß beteiligt. Sie übersetzt damit die Erfahrung der Endlichkeit materieller Kultur in spezifische Diskurse, die von normativen Vorstellungen des „richtigen“ Umgangs mit Ressourcen geprägt sind.
5.
V ERSCHWENDUNG ALS MORALISCHES UND G EGENSTRATEGIEN
P ROBLEM
Die von Schridde et al. diagnostizierten Anreizsysteme führen zu wachsenden Müllbergen, weil Geräte durch neue ersetzt und aus verschiedenen Gründen nicht repariert werden. Die wachsenden Müllberge und die Verschwendung von Ressourcen werden von den Akteuren als ein moralisches Problemfeld gedeutet. Eine Initiatorin schildert im Interview mit empörtem Ton: „Und dass eben so viel Müll dadurch entsteht, der nicht verwest oder sonst wie. Die Müllberge werden ja wirklich größer. Es sind so viele Ressourcen und wertvolle Ressourcen darin, in Computern und sonstigen Geschichten. Wo es sehr sinnvoll ist, die wirklich rauszuziehen und neues daraus zu machen und es gibt ja auch Firmen, die das mittlerweile machen, aber eben nicht in dem starken Maße. Und dann eben wirklich […] so viel unüberschaubarer Müll, den wir ja auch nicht loswerden. Verschwendung stört mich auch. Diese Verschwendung einfach.“ (Interview 19.03.2013)
Verschwendung ist hier ein normatives Konzept, mit dem meine Interviewpartnerin einen schlechten Umgang mit Ressourcen markieren. Die Verlängerung der Produktnutzung durch Reparieren wird dann von den Akteuren als eine all-
37 Ebd. S. 12. 38 Ebd. S. 12. 39 S. Schridde: Geplante Obsoleszenz, S. 57.
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tagspraktische Strategie gegen Verschwendung gedeutet und kann dadurch normativ aufgeladen werden. Die wachsenden Müllberge bleiben für die meisten Menschen unsichtbar und werden vor allem über medial vermittelte Bilder wahrgenommen. Auf dieser diskursiven Ebene verhandeln die Akteure kritisch den Widerspruch zwischen der globalen Verknappung von Ressourcen und der Wegwerfmentalität im Umgang mit Konsumgütern. Das Wegwerfen und die damit einhergehende Verschwendung von Material werden zu einem moralischen Problem, weil es als falscher und schlechter Umgang gedeutet wird, unter dem andere Menschen leiden. Dabei greifen die Akteure auf Wissensordnungen über den Export von Elektrogeräten zurück. Besonders kritisch wird wissenschaftlich und gesellschaftlich diskutiert, dass durch den Export von Elektroschrott und Altgeräten das Müllproblem externalisiert wird. Dabei werden die Geräte in den Exportländern kaum recycelt und stellen eine große Umwelt- und Gesundheitsgefahr dar.40 Der Export von Elektroaltgeräten ist seit 2005 verboten, der Export von Gebrauchtgeräten oder Spenden aber nicht.41 Die „informellen Abfallwirtschaftssektoren“42 finden sich besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern, wo in Handarbeit Stoffe und Metalle aus den aussortierten Röhrenbildschirmen oder Computern gewonnen werden: „Häufig sind es Frauen und Kinder, die unter schwersten Arbeitsbedingungen auf Müllbergen nach Verwertbarem suchen.“43 Mit der Müllproblematik, der Verschwendung und den daraus resultierenden sozialen und moralischen Problemen gehen die Akteure reflexiv um, gleichwohl in den Interviews deutlich wurde, dass sie sich ihnen gegenüber als ohnmächtig erleben. Aus einer handlungstheoretischen Perspektive lässt sich hier sagen, dass die Akteure spezifische Diskurse in die Strategie des Reparierens auf einer lokalen, lebensweltlichen Ebene übersetzen. Sie verhandeln Konzepte des guten und richtigen Umgangs mit begrenzten Ressourcen. In Hinblick auf die gesellschafts-
40 Vgl. dazu Sander, Knut: „Export von Elektronikmüll. Der deutsche Schrottplatz liegt in Übersee“, in: Oekom e.V., Rohstoffquelle Abfall (2012), S. 62-66; Sander, Knut/Schilling, Stephanie: Optimierung der Steuerung und Kontrolle grenzüberschreitender Stoffströme bei Elektroaltgeräten/Elektroschrott. Hrsg v. Umweltbundesamt, 2010, unter http://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/461/publikatio nen/3769.pdf (06.07.2015). 41 Gesetz über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten, BGBl. I 2005/3, S. 762. 42 Linzer, Roland/Obersteiner, Gudrun: „Die unsichtbare Hand. Informelle Arbeit in der Abfallwirtschaft“, in: Oekom e.V., Rohstoffquelle Abfall (2012), S. 71-76. 43 Ebd. S. 72.
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theoretischen Überlegungen zur Weltrisikogesellschaft kann man mit Ulrich Beck von der „Individualisierung von globalen Risiken“44 sprechen: „In Verbindung mit dem Neoliberalismus wird der Einzelne zum ‚moralischen Unternehmer seiner Selbst‘ und damit verantwortlich für das zivilisatorische Schicksal.“45 Das Reparieren wird hier als ein Handlungsspielraum entdeckt, in dem die Akteure in ihrer eigenen Lebenswelt etwas Gutes tun können. Statt defekte Geräte zu entsorgen, werden sie in Gemeinschaftsarbeit repariert. Das verringert nicht nur die Müllberge und die damit einhergehende Ressourcenverschwendung, so die Argumentation der Akteure. Es gibt den Akteuren auch ein Gefühl von Autonomie: Sie sind nicht mehr so „ausgeliefert“ und müssen „das Spiel nicht mitspielen“, wie eine Initiatorin erzählt. Ein anderer Initiator sieht darin eine Kampfansage gegen die Verschwendung von Ressourcen und gegen die Wirtschaftsinteressen von Produzenten: „Die Leute sind empört. Die Repair Cafés sind eine Antwort dagegen, dass man gegen diese geplante Obsoleszenz kämpft.“ (Interview 11.03.2013) Die erlebte und narrativ geteilte Machtlosigkeit gegenüber globalen Wirtschaftsmächten oder politischen Entscheidungen wird übersetzt in ein kollektives Tätigsein. Dies ist durch einen Erlebnischarakter gekennzeichnet. Es soll allen Beteiligten Spaß machen, in einer Gemeinschaft zu sein und zu reparieren. Deshalb sind die Reparaturtreffen als Event gestaltet. Sie finden zu bestimmten Tagen, oft am Wochenende, und in größeren Abständen statt. Sie haben eine begrenzte Öffnungszeit, in der Regel zwischen zwei und vier Stunden. Während, aber auch vor und nach der Reparatur steht der gemeinsame Austausch im Mittelpunkt. Es werden Kaffee und Kuchen angeboten, um die Besucher zum Verweilen einzuladen und eine gemütliche Atmosphäre zu inszenieren. Durch die Inszenierung als Event wird die alltägliche Praktik des Reparierens kollektiv überhöht und mit Bedeutung aufgeladen. Die Bedeutung des Reparierens sehen die Akteure nicht nur im Instandsetzen von kaputten Gegenständen oder in der Vermeidung von verschwenderischem Umgang mit Ressourcen. In der intensiven Auseinandersetzung während des Reparierens lernen die Akteure Objekte und Materialien kennen: „Sobald du dich mit Dingen beschäftigst, wird dir ja auch vieles über die Qualität klar. Wo es mangelt oder wo man oft veräppelt wird von Herstellern. Das kann ein spannender Aspekt werden, kann auch gefährlich werden, weil es dann politisch wird.“ (Interview 20.01.2014) Die Akteure eignen sich durch das Reparieren spezifisches Wissen über die Objekte und deren Objektbiographie an. Dabei re-
44 Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M. 2007, S. 302. 45 Ebd. S. 302.
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flektieren sie auch die Machtstrukturen, die zu mangelhaften Produkten führen. Diese Wissensaneignung nehmen die Akteure als emanzipatorische Praktik wahr, die zu mehr Autonomie beiträgt. Dabei deuten die Akteure das durch das Reparieren produzierte Wissen als gesellschaftspolitisch relevant. Die Kritik an fehlender Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit von Produkten verhandeln die Akteure in der Auseinandersetzung mit den Dingen performativ. Zusammenfassend zeigt sich, dass das inszenierte Event für die Akteure zur Möglichkeit wird, auf gesellschaftliche Defizite hinzuweisen und spezifisches Stoff- und Materialwissen zugänglich und erfahrbar zu machen. Die inszenierte Überhöhung der alltäglichen Praktik des Reparierens wird zu einer Strategie Autonomie zu gewinnen, politische Forderungen performativ zu verhandeln und Objekte aufzuwerten. Durch die Argumentation der Akteure, dass Reparieren eine Strategie gegen Verschwendung und für Ressourcenschutz sei, wird das Reparieren normativ aufgeladen.
6.
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Bisher etablierten sich die Reparaturtreffen in ganz unterschiedlichen Kontexten – sei es in Schulen, in kirchlichen Gemeindehäusern, Künstlerateliers, Umweltzentren oder Stadtteilzentren. Kostenfreier Raum für partizipative Nutzungsformen zeigt sich in urbanen Räumen als begrenzt und muss von den Akteuren erschlossen werden. Dabei haben sich bereits in den 1970er und 1980er Jahren offene Werkstätten in soziokulturellen Zentren und Jugendtreffs gegründet, um Menschen Raum, Werkzeug und fachkundige Anleitung zur Verfügung zu stellen, um Dinge instand zu setzen oder um künstlerisch tätig werden zu können. Dieses Anliegen ist inzwischen institutionalisiert, Werkstätten wurden in städtische Zentren integriert und werden durch öffentliche Gelder finanziert. Heute gibt es ein breites Angebot in Werkstätten − von der Bearbeitung von Holz, Metall, Keramik, Film- und Fotoarbeiten bis zum Siebdruck. Der Geschäftsführer eines Stadtteilzentrums bemerkt und kritisiert das veränderte Freizeitverhalten: Es gebe insgesamt ein vielfältiges Freizeitangebot, mit dem solche Angebote konkurrieren, gleichzeitig sieht er ein sinkendes Potential in der Bevölkerung, sich in offenen Werkstätten ehrenamtlich zu engagieren (Interview 03.12.2012). Oft sind solche Angebote aber nur durch Ehrenamtliche umsetzbar, weil die Zentren keine Mittel haben, um Vollzeitstellen zu finanzieren. Kultur- und Sozialarbeit werden zunehmend nach marktwirtschaftlichen Maßstäben bewertet, haben aber mit einem abnehmenden Budget seitens der
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Stadt zu kämpfen.46 Der Leiter einer offenen Werkstatt in einem Stadtteilzentrum verurteilt die Ökonomisierung sozialer Bereiche. Er kritisiert, dass sich die „Qualität von Kontakt“ nicht in Zahlen umrechnen ließe (Interview 11.02.2014). Die zunehmende Bürokratisierung, Einsparungen im sozialen Sektor und Finanzdruck bestimmen die Arbeit des Werkstattleiters. Bisher fehlten institutionalisierte Selbsthilfeangebote für das gemeinsame Reparieren von Elektrogeräten, sodass die schnelle Ausbreitung von Repair Cafés in der Bundesrepublik dadurch zu erklären sein kann. Außerdem unterscheiden sich die selbstorganisierten Reparaturtreffen durch die Inszenierung als Event von bisherigen offenen Werkstätten, wodurch das Konzept als neu und attraktiv wahrgenommen wird. Hier deutet sich aber auch eine gesellschaftliche Entwicklung an, in der zunehmend soziale Bottom-up-Bewegungen mit flacher Hierarchie und Flexibilität auf gesellschaftliche Defizite reagieren, dem die institutionalisierten und bürokratisierten Strukturen nur langsam begegnen können. Ein Beispiel aus dem ethnographischen Material kann zeigen, wie Geld und Raum als begrenzende Kategorien auch die ehrenamtliche Arbeit in Reparaturtreffen bestimmen. Als zwei Initiatorinnen die Idee eines Reparaturcafés entwickelten, fragten sie bei dem lokalen Kulturzentrum in ihrer Nachbarschaft nach zur Verfügung stehenden Räumen. In dem Zentrum, das als gemeinnütziger Verein ein altes Schulgebäude unterhält, werden Bildungs- und Kulturangebote sowie Jugendarbeit gefördert. Es werden unterschiedliche Veranstaltungen angeboten und regelmäßige Nutzergruppen integriert. Frau Kersting,47 nach dem Kontakt zu dem Kulturzentrum befragt, schildert ihren Eindruck nach dem ersten Treffen mit den Zentrumsmitarbeitern: „Da war mir schon klar, dass wir das alleine machen werden, die werden uns nicht weiter unterstützen, oder wir werden da nicht in den Verein integriert, sondern wir müssen jetzt selber mutig sagen: ‚Wir machen das‘. Und so hat das begonnen. Die haben gesagt: ‚Ok, ihr könnt Räume mieten bei uns‘, auch zu guten Kondition, wie sie meinten, ‚Aber ihr müsstet das komplett selber organisieren‘. So begann das.“ (Interview 20.01.2014)
Neben den Kosten, die ein Reparaturtreffen u.a. durch das gastronomische Angebot oder durch das Drucken von Flyern und Postern verursacht, musste die Initiative auch Gelder für die Miete aufbringen. Bei dem zuständigen Bezirksamt ließen sie sich in Bezug auf Anträge für eine Anschubfinanzierung beraten.
46 Zur Frage, wie Dienstleistungen zur Ware werden, siehe Appadurai, Arjun: „Introduction“, in: A. Appadurai (Hg.), The social life of things (2010), S. 55f. 47 Name der Interviewpartnerin wurde anonymisiert.
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Durch die erfolgreiche Einwerbung von Fördergeldern konnten einige Kosten gedeckt werden. Dennoch stellte die Deckung der Mietkosten eine zusätzliche und unliebsame Aufgabe dar, die Frau Kersting als „Klinken putzen“ wahrnahm. Sie habe keine Lust, wegen der Mietkosten überall nach Spenden zu fragen, sondern wolle lieber das Projekt mit ihrer Energie füttern, wie sie erzählt. Geld und Raum als zu Beginn nicht vorhandene Ressourcen müssen von den Initiativen durch spezifische Strategien wie Wissensaneignung und Vernetzung erschlossen werden. Diese Strategien nutzten auch die beiden Initiatorinnen, um die Mietkosten zu decken.
7.
V OM „E XPERTENWISSEN “
ZUM POLITISCHEN
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Das für Reparaturen notwendige technische Know-How muss über spezifische Strategien produktiv gemacht und vermittelt werden. Im Gegensatz zu etablierten Strukturen wie den bisherigen offenen Werkstätten, in denen bereits Werkzeug und Know-How vorhanden ist, müssen sich viele Initiativen um ehrenamtliche Reparateure bemühen, so auch zwei Initiatorinnen, die dazu Anzeigen in lokalen Zeitungen schalteten. Viele Ehrenamtliche, die sich bei ihnen meldeten, übten einen technischen Beruf aus oder arbeiteten noch in diesem Bereich. Wie eine Initiatorin schildert, ist Reparaturwissen mindestens in der Form einer Ausbildung notwendig, um Reparaturen an elektrischen Geräten sicher durchzuführen. Schon in der Vorbereitung eines Events gibt es technisches Wissen, das von den ehrenamtlichen Reparateuren abgerufen wird, wie die Notwendigkeit von Schutzschaltern und Fragen zu Sicherungskästen. Ebenso bringen die Ehrenamtlichen Messgeräte und spezifische Werkzeuge mit. Die ehrenamtlichen Organisatoren können bei der Organisation der Veranstaltungen auf das von der Stiftung „Stichting Repair Café Niederlande“ entwickelte Handbuch zurückgreifen. Das vorher kostenlose Handbuch wird inzwischen für eine Schutzgebühr von 45 Euro verkauft. Es beschreibt detailliert die Schritte eines Eventmanagements, von der Öffentlichkeitsarbeit bis zur Vorbereitung des notwendigen Materials, wie Kleber, Werkzeug und Ersatzteile. Es beinhaltet Vordrucke für Flyer und Poster. Durch das Handbuch können die Initiativen die Veranstaltung mit der Corporate Identity „Repair Café“ ankündigen, das Event im Veranstaltungskalender auf der Homepage „www.repaircafé.de“ eintragen und damit Zugang zu dem globalen Netzwerk bekommen. Das Handbuch wirkt also exkludierend und inkludierend zugleich. Ausgeschlossen werden die Initiativen, die die Corporate Identity als Kommunikationskonzept nicht nut-
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zen wollen.48 Gleichzeitig ermöglicht das Netzwerk den Zugang zu und die Speicherung von spezifischem Wissen. Es stellt Organisationswissen zur Verfügung und ermöglicht damit die schnelle Umsetzung und Verbreitung des RepairKonzeptes. Neben dem Netzwerk von Reparaturinitiativen findet auch eine Vernetzung von lokalen Wirtschafts- und Politikakteuren statt, wie ein Beispiel aus dem empirischen Material verdeutlichen soll. Um Sponsoren zu gewinnen, sprach Frau Kersting verschiedene lokale Unternehmen an, wie die lokale Bäckerei, die für das erste Café Kuchen sponserte oder den lokalen Eisenhandel, der Ersatzteile spendete: „Das Thema spricht viele rein gefühlsmäßig an. Da lohnt es sich einfach zu fragen, im direkten Umfeld.“ (Interview 20.01.2014) Frau Kersting sieht hier nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Unterstützung. Das Projekt bzw. das Thema „spricht an“ (Interview 20.01.2014) und wird unterstützt, weil sich die jeweiligen Akteure mit den Bedeutungszuschreibungen des Projektes – Förderung von nachhaltigen, ressourcenschonenden Praktiken, globale Gerechtigkeit, soziales Engagement − identifizieren und inszenieren können. Zwei Initiatorinnen eines Repair Cafés in Hamburg wurden aufgrund ihrer Vorreiterrolle als erste Reparaturinitiative in Hamburg zum 9. Runden Tisch der Initiative „Hamburg lernt Nachhaltigkeit“ am 18.10.2013 eingeladen. Thematischer Schwerpunkt des Runden Tisches war die „Große Transformation“. Dabei sollten unterschiedliche Initiativen, wie Urban Gardening und das Repair Café, bereits existierende Praxisbeispiele vorstellen. Der Runde Tisch ist ein Zusammenschluss von Behörden, Institutionen, Netzwerken, Personen und Verbänden. Sie arbeiten an dem regelmäßig aktualisierten Hamburger Aktionsplan (HHAP). Ziel ist, das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in alle Bildungsbereiche zu integrieren. In der Präsentation der Initiatorinnen heißt es: „Reparieren statt Wegwerfen wird als echte Alternative erlebt und als nachhaltiges Handeln in der Gesellschaft verankert.“49 In der Präsentation kommen sie zu dem Ergebnis, dass jeder Stadtteil ein Reparaturtreffen benötigt. Die Initiatorinnen können hier also das Reparieren als gesellschaftlich relevantes Thema durch die Einladung zum Runden Tisch in den politischen Diskurs einbringen und sich lokal vernetzen.
48 Wie dynamisch sich das Forschungsfeld entwickelt, wird etwa darin sichtbar, dass seit Januar 2014 die Stiftung „Anstiftung & Ertomis“ die Koordination der deutschen Repair Cafés übernommen hat. Im November 2014 haben beide Stiftungen die Zusammenarbeit aufgelöst. Die deutsche Stiftung will ein eigenes Netzwerk aufbauen, in das auch Reparaturtreffen ohne Corporate Identity aufgenommen werden. 49 Repair Café Präsentation 2013 unter http://www.hamburg.de/contentblob/4149428/ data/runder-tisch-2013-repair-caf%C3%A9.pdf (30.01.2015).
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Deutlich wird, dass eine Vernetzung von unterschiedlichen Akteuren im Stadtteil und in der Stadt stattfindet. Durch die Einwerbung von Geldern und die Suche nach materieller und immaterieller Unterstützung vernetzen sich die Gruppen aktiv im Stadtteil. Durch die Suche und die Etablierung eines ehrenamtlichen Netzwerks entdecken sie soziales Kapital, das sie für die Gemeinschaft aktivieren. Reparaturtreffen bieten Handlungsräume für ehrenamtliches Tätigsein, schaffen ein soziales Netzwerk und produzieren damit lokale Identifikationsräume. Deutlich wird aber auch, dass es nicht nur um die Praktik des gemeinschaftlichen Reparierens geht, sondern auch um die Verbreitung von Werten und gesellschaftlichen Utopien, wie die Aufwertung von Nachbarschaft und Nachhaltigkeit.
8.
Z USAMMENFASSUNG : R EPARIEREN S INNSYSTEM
ALS KOMPLEXES
Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags standen die Fragen, inwiefern sich die Erfahrung von Endlichkeit im Fallbeispiel Repair Cafés niederschlägt und welche Diskurse und Praktiken sich dabei verdichten. Dazu habe ich das Reparieren als einen Umgang mit der Erfahrung von Endlichkeit materieller Kultur im Kontext der kulturellen Konstruktion von begrenzten Ressourcen nachgezeichnet. Anhand des Fallbeispiels zeigt sich, dass die Endlichkeitserfahrungen auf einer lebensweltlichen Ebene in spezifische Diskurse übersetzt werden. Die Akteure machen alltagspraktische Begrenzungen produktiv, etwa indem sie Möglichkeitsräume entdecken, ehrenamtliche Tätigkeitsfelder erschließen und spezifisches Wissen zugänglich machen. Die Akteursgruppen verstehen sich dabei als nachhaltige, ökologisch orientierte Bewegung, die auf einer lokalen Ebene tätig ist und globale Verantwortung übernimmt. Damit wird das Reparieren zu einer moralischen Alltagspraktik, die durch die inszenierte Überhöhung Alltagsobjekte inwertsetzt und die kollektive Aufwertung des Reparierens ermöglicht. Das Reparieren ist in ein komplexes Sinnsystem mit vielfältigen Akteuren eingebunden. Im Feld des Reparierens spielen nicht nur die gelabelten „Repair Cafés“50 eine Rolle, sondern auch Akteursgruppen, wie etwa die Maker-Szenen
50 Seit die deutsche Stiftung „Anstiftung & Ertomis“ in der Betreuung von Reparaturinitiativen tätig ist, nimmt die Zahl an Reparaturtreffen ohne Corporate Identity zu.
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und FabLab-Initiativen,51 die Reparieren als wichtigen Bestandteil von emanzipatorischen Praktiken kontextualisieren. Diesen Sinnzuschreibungen, aber auch den Überlegungen, inwiefern durch kulturpessimistische Deutungsmuster Reparieren im Zuge von Kultur- und Globalisierungskritik funktionalisiert wird, um etwa die Rückbesinnung auf regionale, kleinteilige Strukturen zu fordern, gehe ich in meinem Dissertationsprojekt nach.52
51 FabLabs bieten Privatpersonen industrielle Produktionsmethoden, siehe FabLabCharta unter http://fab.cba.mit.edu/about/charter/ (29.09.2014); Walter-Herrmann, Julia/Büching, Corinne: FabLab of machines, makers and inventors, Bielefeld 2013. 52 Siehe dazu das Promotionsprojekt unter http://www.europaeische-ethnologie-volks kunde.uni-kiel.de/de/forschung/resolveuid/ef313a95-4752-4848-a376-b454a08015a4 (29.01.2015).
Autorinnen und Autoren
BIHRER, ANDREAS ist Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften am Historischen Seminar der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Er wurde mit einer Arbeit über den Konstanzer Bischofshof im Spätmittelalter promoviert und habilitierte sich über die Beziehungen zwischen England und dem ostfränkisch-deutschen Reich im Frühmittelalter. Danach war er als Vertretungsprofessor für Mittelalterliche Geschichte in Greifswald und Heidelberg tätig. Er ist u.a. Präsident der deutschen Sektion der „International Courtly Literature Society“ und Leiter eines DFG-Projekts zur früh- und hochmittelalterlichen Hagiographik. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Kulturtransferforschung, der Kommunikationsgeschichte der Vormoderne und der Erforschung der religiösen und höfischen Kultur des Mittelalters. Kontakt: [email protected] FRANKE-SCHWENK, ANJA promovierte mit einer Arbeit zu rentenbasierten Herrschaftsstrategien in zentralasiatischen Autokratien an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. In zahlreichen Publikationen beschäftigt sie sich mit Fragen der Regimestabilität und Wohlfahrtsstaatlichkeit in postsowjetischen Rentierstaaten. Darüber hinaus arbeitet sie an einem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Konzept politischer Narrative in autoritären Herrschaftskontexten. Bis 2014 war sie wissenschaftliche Koordinatorin des interdisziplinären Projektkollegs „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“ an der CAU. GIESELER, FRANK ist Facharzt für Hämatologie und Internistische Onkologie und Professor für Innere Medizin. Er leitet den Bereich „Experimentelle Onkologie, Palliativmedizin und Ethik in der Onkologie“ in der Medizinischen Klinik I am UKSH, Campus Lübeck. In ehrenamtlicher Funktion ist er Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft und stellvertretender Vorsitzender der Forschungsethik-Kommission der Universität zu Lübeck. Seine klinischen
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Schwerpunkte liegen in der Betreuung von Patienten mit unheilbaren Krebserkrankungen, wobei er besonderen Wert auf die interdisziplinäre Betreuung der Patienten durch verschiedene Fachdisziplinen und Berufsgruppen legt. In universitären Forschung und Lehre ist die ärztliche Gesprächsführung und empathische Zuwendung zum unheilbar erkrankten Patienten ein Schwerpunkt. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Leitung des Labors für experimentelle Onkologie, in dem unter anderem die molekulare Interaktion von Gerinnungsfaktoren mit Tumorzellen erforscht wird. Er ist Mitglied der „American Association of Cancer Research“ (AACR), der „European Organization for Research and Treatment of Cancer“ (EORTC) und der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO). Kontakt: [email protected] GÖTTSCH-ELTEN, SILKE ist Professorin für Europäische Ethnologie/Volkskunde am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Sie wurde mit einer Arbeit zur Herausbildung regionaler Identität promoviert und habilitierte sich über soziale Protestformen Leibeigener im 18. Jahrhundert. Nach einem Volontariat am Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart war sie Hochschulassistentin an der Universität Kiel und wurde nach der Habilitation auf eine Professur an die Universität Freiburg berufen. Sie war von 1999 – 2003 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde und sie ist Mitglied der Hamburger Akademie der Wissenschaften. Auf Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist sie Mitglied in „academiaNet“, einem Exzellenznetzwerk für Akademikerinnen. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Wissensanthropologie, zu dem sie mehrere DFG-Projekte leitete, der bürgerlichen Kultur um 1900 und der Genese der Minderheitenforschung in der Weimarer Republik. Kontakt: [email protected] GREWE, MARIA ist Doktorandin am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Das Studium der Europäischen Ethnologie/Volkskunde mit den Nebenfächern Volkswirtschaftslehre und Pädagogik in Kiel und Göteborg beendete sie mit einer Magisterarbeit zur Schwellenphase Scheidung. Von 2012 bis 2015 war sie Stipendiatin des Projektkollegs „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“ des Collegium Philosophicums der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Forschungsinteressen umfassen Genderforschung, Müllethnologie, die Analyse materieller Kultur sowie Konsumkultur. Kontakt: [email protected]
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HAUG, ANNETTE ist seit 2012 Professorin für Klassische Archäologie am Institut für Klassische Altertumskunde der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie wurde mit einer Arbeit zu spätantiken Städten in Norditalien promoviert und habilitierte sich über Körper- und Rollenkonzepte auf attischen Vasen des 8. und 7. Jh. v.Chr. 2010 erfolgte die Umhabilitation nach München, wo sie von 2010 bis 2012 ein Heisenberg-Stipendium der DFG innehatte. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Erforschung antiker Stadtkulturen einerseits, der Analyse antiker Bilderwelten andererseits. Ihr jüngstes Projekt verbindet diese beiden Aspekte und nimmt dekorative Prinzipien in den Blick, wie sie in urbanen Lebenswelten Italiens zum Tragen kommen. Kontakt: [email protected] HORMUTH, FRANZISKA ist Doktorandin der Mittleren und Neueren Geschichte des Collegium Philosophicum und am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie promoviert zu den Strategien dynastischer Politik am Beispiel der Herzöge zu Sachsen-Lauenburg (1296-1689). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören neben der Dynastiegeschichte vormoderne Biographik sowie Hansegeschichte. Kontakt: [email protected] JAKUBOWSKI-TIESSEN, MANFRED, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Georg-August-Universität in Göttingen, wurde mit einer Arbeit über den frühen Pietismus in Schleswig-Holstein promoviert und an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel mit einer kultur- und umweltgeschichtlichen Studie über die größte Sturmflut der Frühen Neuzeit habilitiert. („Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit“, München 1992). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozial-, Kultur-, Religions- und Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. Zu diesen Themenfeldern hat er eine Reihe an Büchern und zahlreiche Aufsätze veröffentlicht. Kontakt: [email protected] JESCHE, DANIEL ist ein Kieler Politikwissenschaftler. Er wurde mit einer Arbeit über die ökologische Wachstumskritik aus wirtschaftsliberaler Perspektive promoviert. Anschließend an sein Studium der Politikwissenschaft (B.A.) in Bremen erwarb er einen Master in Philosophy & Economcs an der Universität Bayreuth. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Wirtschaftspoltik, der Nachhaltigkeitswissenschaft und Analyse globaler Trends. Kontakt: [email protected]
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LAMLA, JÖRN ist Professor für Soziologische Theorie an der Universität Kassel. Er promovierte in Jena mit einer Arbeit über die Reformpolitik der Grünen unter Gesichtspunkten der sozialen Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Zivilität. Nach wissenschaftlicher Assistententätigkeit in Gießen habilitierte er sich an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena mit einer Arbeit zur Verbraucherdemokratie. Er hat vor seiner Berufung Soziologieprofessuren in Gießen, Jena und Kassel vertreten, nahm im Sommersemester 2015 eine Gastprofessur am Centre for Ethics der University of Toronto wahr und ist ehrenamtlich in verschiedenen verbraucherpolitischen Gremien tätig. Aktuelle Forschungsschwerpunkte liegen neben der Politischen Soziologie der Konsumgesellschaft im Bereich Privatheit, Vertrauen und Überwachung angesichts der digitalen Revolution, etwa im Rahmen des BMBF-Projekts „Forum Privatheit“ oder als Principal Investigator im DFG-Graduiertenkolleg 2050 „Privatheit und Vertrauen für mobile Nutzer“. Kontakt: [email protected] MESSNER, ANGELIKA C. leitet das Chinazentrum an der Christian AlbrechtsUniversität zu Kiel. Studium der Sinologie, Außereuropäischen Ethnologie und Medizingeschichte in Wien, Beijing und Freiburg i. Br. Sie wurde mit einer Dissertation über die medizinischen Diskurse zu Irresein in der chinesischen Geschichte promoviert, und habilitierte sich mit einer Monographie zum Emotionswissen im 17. Jahrhundert. Sie organisierte die Forschungskonferenzen “Emotionswissen im China der Späten Kaiserzeit”, Villa Vigoni (2009-2011), war Fellow am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte und führte assoziierte Forschung mit dem Max Planck Institute for Human Development zu "Civility, Virtue and Emotions in Europe and Asia“, durch. Sie lehrt regelmäßig am China Center der Technischen Universität Berlin und an der Zhejiang University, VR China, ist Editorial Board Member beim JESHO (Journal of the Economic and Social History of the Orient) und Council Member des IASTAM (International Association for the Study of Traditional Asian Medicine). Kontakt: [email protected] OTT, KONRAD ist seit 2012 Professor für Philosophie und Ethik der Umwelt am Philosophischen Seminar der der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er wurde mit einer Arbeit über die Entstehung und Logik der Historie promoviert und habilitierte sich mit einer Arbeit über Wissenschaftsethik. Er war als Dozent in Frankfurt, als Lehrstuhlvertreter in Tübingen und als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Zürich tätig, bevor er 1997 als Professor für Umweltethik an die Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald berufen wurde. Von 2000 bis 2008
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gehörte er dem Rat von Sachverständigen für Umweltfragen der Bundesregierung an. Kontakt: [email protected] RENTSCH, THOMAS ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie/Ethik am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden. Studium in Konstanz, Münster, Zürich und Tübingen, Promotion in Konstanz über Heidegger und Wittgenstein (Stuttgart 22003), Habilitation dort über Die Konstitution der Moralität (Frankfurt/M. 21999). Er war Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Nach seiner Heisenberg-Professur (an der FU Berlin und an der Universität Halle) wurde er Gründungsprofessor für Philosophie in Dresden. Er organisierte die Studiengänge für das Lehramt Philosophie/Ethik, leitete das Forschungsprojekt über Gutes Leben im Alter (VW-Stiftung) und arbeitete mit am DFG-Projekt „Transzendenz und Gemeinsinn“. Weitere Schwerpunkte seiner Forschung sind Hermeneutik, Phänomenologie und Sprachphilosophie, Religionsphilosophie, Negativität und Sinnkonstitution. Kontakt: [email protected] REUVEKAMP-FELBER, TIMO ist Professor für Deutsche Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit am Germanistischen Seminar der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Er wurde mit einer Arbeit über den Hofgeistlichen in Literatur und Gesellschaft des Hochmittelalters promoviert und habilitierte sich über die Poetik volkssprachiger Geschichtsschreibung des 12. und 13. Jahrhunderts. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der material philology als Teil der Mediengeschichte, der historischen Fiktionalitätstheorie und der literarischen Anthropologie des Menschen. Er ist u.a. Präsident der deutschen Sektion der „International Courtly Literature Society“ sowie Mitherausgeber des „Euphorion“. Derzeit erscheint von ihm eine von der DFG geförderte Neuausgabe des „Ereck“ Hartmanns von Aue. Kontakt: [email protected] SAUR, MARKUS ist Professor für Theologie- und Literaturgeschichte des Alten Testaments am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er wurde mit einer Arbeit zu den Königspsalmen des Alten Testaments promoviert und habilitierte sich mit einer Studie über die Beziehungen zwischen dem antiken Israel/Juda und Phönizien im 1. Jahrtausend vor Christus. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Psalmenexegese, der Rekonstruktion der Entstehung einzelner Pro-
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phetenbücher und der alttestamentlichen Weisheitsliteratur sowie der Geschichte der antiken phönizischen Städte Tyros und Sidon. Kontakt: [email protected] SCHÄFER, VALERIE ist Studentin der Humanmedizin an der Universität zu Lübeck. In ihrer Promotionsarbeit beschäftigt sie sich mit verschiedenen Aspekten der Arzt- Patienten- Kommunikation in der Onkologie. Kontakt: [email protected] STEIN, TINE ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Studium und Promotion an der Universität Köln mit einer Arbeit über die ökologische Kritik und Reform der konstitutionellen Demokratie, habilitiert an der FU Berlin zum Thema „Himmlische Quellen und irdisches Recht. Die religiösen Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates“. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die soziokulturellen Voraussetzungen und die Legitimitätsgrundlagen der konstitutionellen Demokratie vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen, ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Verhältnis von Politik und Natur sowie Politik, Recht und Religion. Von 20062012 war sie Mitglied im Vorstand der DVPW (Fachverband der Politikwissenschaft). Auf Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist sie Mitglied in „academiaNet“, einem Exzellenznetzwerk für Akademikerinnen. Kontakt: [email protected] TAUSCHEK, MARKUS ist Juniorprofessor am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Universität Kiel. Studium in Eichstätt und Freiburg; von 2004 bis 2009 wiss. Mitarbeiter am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Göttingen; Promotion mit einer Arbeit zur Konstituierung immateriellen Kulturerbes. Forschungsschwerpunkte im Bereich der Erinnerungs- und Geschichtskultur (Umgang mit Tradition, Kulturerbe, Denkmal), der ökonomischen Anthropologie (Wettbewerb und Konkurrenz, Knappheit und Ressourcen) sowie in der Ethnographie populärer Kultur (Performanz, Szene, Festival). Seit 2014 ist Markus Tauschek Sprecher des von der DFG geförderten Netzwerks „Wettbewerb und Konkurrenz: Zur kulturellen Logik kompetitiver Figurationen“. Kontakt: [email protected] THEOBALD, WERNER, Prof. Dr. phil., geb. 1958. Studium der Philosophie, Psychologie, Sozialwissenschaften und Theologie in Kiel und Münster. Promo-
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tion (1994) und Habilitation (2002) in Philosophie. Bis 2012 konzeptionelle Leitung des Zentrums für Ethik der Universität Kiel; bis 2014 für die medizinethische Lehre am UKSH, Campus Kiel zuständig. Arbeitsschwerpunkte: Grundlagen der Ethik, Angewandte Ethik, Moralpsychologie und empirische Moralforschung. Kontakt: [email protected]
Edition Kulturwissenschaft Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3185-2
Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Juli 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
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Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte November 2015, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
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Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2017, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens (unter Mitarbeit von Jakob Peter) Mai 2016, 334 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen April 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus April 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik April 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4
Richard Weihe (Hg.) Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs Januar 2016, 338 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.) Machthaber der Moderne Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit Dezember 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3037-4
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert Dezember 2015, 424 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.|eds.) Expanded Senses Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. New Conceptions of the Sensual, Sensorial and the Work of the Senses in Late Modernity Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3362-7
Anke J. Hübel Vom Salon ins Leben Jazz, Populärkultur und die Neuerfindung des Künstlers in der frühen Avantgarde September 2015, 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3168-5
März 2016, ca. 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2
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