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German Pages 286 Year 2015
Jens Maeße Die vielen Stimmen des Bologna-Prozesses
Jens Maeße (Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Diskursanalyse und -theorie, Wissenschaftssoziologie und Finanzsoziologie.
Jens Maesse
Die vielen Stimmen des Bologna-Prozesses Zur diskursiven Logik eines bildungspolitischen Programms
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I N H AL T
Vorwort 1
Die Krise der Universität und die Rolle der Politik: ein kurzer Einstieg
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TEIL I: EINFÜHRUNG 2
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Hintergründe des Bologna-Prozesses und der Ansatz dieser Arbeit
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Der Bologna-Prozess als theoretische und empirische Herausforderung Die Hochschulforschung im Bologna-Prozess Der Bologna-Prozess als Internationalisierungsphänomen Texte als Politikinstrumente Zur Methodologie der Diskursanalyse politischer Texte
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TEIL II: THEORIE 4
Für eine post-durkheimianische Gesellschaftstheorie Die Krise der Gesellschaft Von der Gesellschaft zum Sozialen Die Logik des Sozialen
67 67 73 87
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Zur Methodologie der äußerungstheoretischen Diskursanalyse Diskursive Formation, Aussage und Äußerung Ziele und Instrumente der Aussagenanalyse Die Frame-Analyse: die Katalogisierung des Kontextes
103 104 111 122
TEIL III: DER BOLOGNA-PROZESS 6
Das hochschulpolitische Feld: eine Frameanalyse Was im hochschulpolitischen Feld gefordert wird Die institutionellen Ressourcen des Feldes Der Konsens als Tendenz des Feldes
131 135 144 154
7
Die politische Logik des Bologna-Prozesses: eine Diskursanalyse Große Worte, leere Begriffe: die Bologna-Erklärung Varianten des Konsenses im Bologna-Diskurs Die Blumen-Technokratie Der Technokrat Der Populist Die Kritik Das hegemoniale Feld und die Rolle des Mr. X
163 165 182 182 195 210 223 233
TEIL IV: SCHLUSS 8
Spiel über Bande: wie mit Bologna Politik gemacht wird Die zwei Europas und die „Suche nach Bologna“: der euronationale Diskurs Die Form des hochschulpolitischen Feldes: die nationalen Europadiskurse Der Rückzug und die Rückkehr des Politischen: „(Un)Doing Bologna?“
Literatur
243 245 251 255 261
VORWORT
Der vorliegende Band ist eine stark überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im März 2008 an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg eingereicht habe. Die Arbeit entstand in einem offenen und aufgeschlossenen akademischen Umfeld, wo transdisziplinär interessierte ForscherInnen an der Schnittstelle von Sprache, Macht und Gesellschaft viele Entfaltungsmöglichkeiten genossen und die Möglichkeit bekamen, sowohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht neue Wege auszuprobieren. Davon legt die vorliegende Studie Zeugnis ab, und ich bedanke mich bei meinem Doktorvater Eckhard Dittrich, dies ermöglicht zu haben. Mein besonderer Dank gilt Johannes Angermüller, der nicht müde wurde, die innovativen Potentiale anderer Disziplinen wie der Sprachwissenschaft oder der politischen Philosophie für empirische Forschung und soziologische Theoriebildung aufzuzeigen, und der damit einen unschätzbaren Beitrag zu dieser Arbeit geleistet hat. Darüber hinaus will ich mich für die intensiven Gespräche und Diskussionen mit Mitgliedern des „Transdisziplinären Graduiertenkollegs Diskurs, Wissen, Kultur“ bedanken. Zu nennen sind hier insbesondere Konstantin Müller, Alexander Pistorius, Yannik Porsché, Ronny Scholz, Kirsten Sobotta und Claudia Vorheyer. Außerdem bot das Netzwerk „Methoden und Methodologien der Diskursanalyse“ (www.diskursanalyse.net) eine fruchtbare Diskussionsplattform, wo ich mich – neben vielen anderen – bei Martin Nonhoff, Daniel Wrana, Sylke van Dyk und Boris Traue für die interessanten Gespräche bedanken möchte. Nicht zuletzt will ich meine Mainzer KollegInnen David Adler, Kornelia Engert, Herbert Kalthoff, Tobias Röhl und Uwe Vormbusch erwähnen, die durch kritische Anmerkungen und Hinweise die vorliegende Arbeit bereichert haben. Da auch dieses Buch Teil des Bologna7
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Prozesses ist, richtet es sich nicht nur an SoziologInnen, PolitikwissenschaftlerInnen, SprachwissenschaftlerInnen, PädagogInnen und KulturwissenschaftlerInnen, sondern auch an die Akteure der Bildungspolitik – sowohl an die auf der Straße und in den besetzten Hörsälen, als auch an jene TextproduzentInnen des bildungspolitischen Establishments, deren politische Ideen hier diskursanalytisch formalisiert werden. Mainz, November 2009
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1 D I E K R I S E D E R U N I V E R S I T ÄT U N D D I E R O L L E DER POLITIK: EIN KURZER EINSTIEG
Der Bologna-Prozess sorgt für einen weiteren Transformationsschub der Hochschullandschaft. Nachdem gegen Mitte des vergangen Jahrhunderts die preußische Gelehrtenuniversität ihrer erfolgreichen Expansion und globalen Ausweitung als industriegesellschaftliche Massenuniversität zum Opfer fiel, sind wir heute Zeugen einer weiteren Veränderung der Hochschullandschaften Europas und darüber hinaus. Im Lichte von „Internationalisierung“, „Reform“, „Autonomie“, „Qualität“, „Exzellenz“, „Accountability“ und „Wettbewerb“ blickt unsere Universität etwas eingeschüchtert in die von ihren Mitgliedern gezeichneten Gegenwartsbilder. Als unterfinanzierte Universität bleibt sie eine „erfolgreich scheiternde Organisation“ (Schimank 2001), weil Erfolg beim Erreichen des einen Organisationsziels (Lehre) eine Vernachlässigung des anderen Ziels (Forschung) unweigerlich nach sich zieht. Als kommerzialisiertes Dienstleistungsunternehmen (Bultmann 1993, Keller 2004a) kapituliert sie vor der Heteronomie externer Verwertungsansprüche und den Kommodifizierungszwängen des politisch erzeugten Marktes für Forschung und Lehre. Als entfesselte Hochschule (Müller-Böling 2000) dagegen könnten einige von ihnen frei von „bürokratischer Gängelung durch den Staat“ ihre Autonomie in einem Wettbewerb um knappe Ressourcen zur vollen Entfaltung bringen. Egal welche dieser Selbstbeschreibungen sich schließlich durchsetzen wird, die Rolle der Hochschulen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. So konstatiert Weingart (2005) eine nachhaltige Veränderung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Demnach dringt wissenschaftliches Wissen in immer mehr gesellschaftliche Subsysteme wie Medien, Politik und Wirtschaft ein. Auf der anderen Seite zeigt Weingart, dass auch die Wissenschaft medialisiert, politisiert und ökonomisiert wird. Die Hochschulen werden zwar der zentrale Ort für die Produktion wissenschaftlichen Wissens bleiben, jedoch wer9
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
den sie ihren Anspruch auf „Einsamkeit und Freiheit“ zugunsten einer intensiven Kommunikation mit dem Rest der Gesellschaft aufgeben müssen. Dagegen beobachten Gibbons et al. (1995) eine sehr weitgehende Entgrenzung wissenschaftlichen Wissens. Wissenschaft wird ökonomisiert, interdisziplinär, projektbezogen, rechenschaftspflichtig, orientiert sich an externen Vorgaben, verlässt die Universität und verstreut sich über zahlreiche Orte in der Gesellschaft. In diesem Bild ist die Universität als zentraler Ort der Produktion wissenschaftlichen Wissens bereits heute schon Geschichte. Nach Bill Readings (1996) finden die entscheidenden Umwälzungen der Universität, bedingt durch die Krise des Nationalstaats als Referenzpunkt universitärer Wissensproduktion, in erster Linie in der Universität selbst statt. Wissenschaftliches Wissen findet zunehmend nur noch Anerkennung, wenn es sich als „exzellent“ ausweisen kann. An die Stelle der „University of Culture“ tritt die „University of Excellence“, die nun ihre Finanzmittel in einem intensiven Wettbewerb einwerben muss. Münch (2007) unterfüttert Readings These mit einer empirischen Analyse. Demnach strukturiert sich seit der neoliberalen Wende, die Münch um 1983 herum datiert, das akademische Feld nach und nach zu einem oligopolistischen System mit drittmittelstarken Zentren und einer unterfinanzierten Peripherie um. Münch erklärt dies damit, dass die bedarfsorientierte Grundfinanzierung nach und nach zugunsten der konkurrenzorientierten Drittmittelfinanzierung abgebaut wurde. Die Universitäten werden so in einen Wettbewerb um Forschungsfinanzierung getrieben, der nicht in erster Linie über relativen Forschungsoutput, sondern vor allem über die Präsenz der Universitäten in den Gremien der Wissenschaftsorganisationen entschieden wird. „Das monopolartig und oligarchisch organisierte System macht gestandene Forscher zu Forschungsfunktionären oder Forschungsmanagern und hält die breite Masse der aktiven Forscher als Sklaven“ (2007: 386). Erfolgreiche Universitäten müssen nicht nur Forschung und Lehre betreiben, sondern den gesamten Prozess von der Einwerbung der Mittel über die Durchführung und Organisation der Forschung bis hin zur Publikation und dem Berichtswesen organisieren. So beobachtet Enders (2008) aus organisationssoziologischer Sicht eine Transformation der Universität vom „organisierten Chaos“ zu einer zielgerichtet handelnden Organisation, die komplexe Aufgabe koordinieren und selbstdefinierte Ziele erreichen kann. Die Hochschulreformen, die sich seit einigen Jahrzehnten vollziehen, sind demnach „Organisationsreformen“ im Sinne einer politischen Rekonstruktion der Universität als Organisation. Aber wie kam es dazu? Welche Triebkräfte stehen hinter den Transformationen der zeitgenössischen Universität? Aus neoinstitutionalistischer Perspektive (siehe Krücken 2004, Meyer/Ramirez 2005, Meyer 10
DIE KRISE DER UNIVERSITÄT UND DIE ROLLE DER POLITIK: EIN KURZER EINSTIEG
2005, Enders 2008) unterliegen Organisationen und Institutionen unterschiedlichen externen Anpassungszwängen. So argumentiert John Meyer (Meyer/Ramirez 2005), dass globale Bildungsmodelle mit der Zeit einen immer stärkeren Einfluss auf nationale Systeme ausüben, mit der Zeit in diese diffundieren und so einen homogenen globalen Bildungsraum erzeugen. Krücken sieht in diesem Zusammenhang vor allem Nachahmungsdruck (Mimesis) und staatlichen Zwang als die wichtigsten Einflussfaktoren organisationaler Transformation (Krücken 2004, Krücken et al. 2005, siehe auch Kapitel 3). Nach Enders schließlich wird die Universität nach und nach politisch und ideologisch darauf verpflichtet, sich wie eine Organisation zu verhalten. In einer wissenssoziologischen Diskursanalyse spezifiziert Wissel (2007) diese organisationssoziologische These und rückt die Rolle der Politik dabei stärker in den Erklärungsfokus. So werden Hochschulen im zeitgenössischen Hochschulreformdiskurs als Organisationen beschrieben. Hier zeigt Wissel aus wissenssoziologischer und diskurstheoretischer Sicht, dass Beschreibungen durch die Politik externe Probleme nicht einfach nur definieren, sondern in der Beschreibung erst erzeugen und die Lösungen gleich mitliefern. Die Krise der Universität ist demnach vor allem eine durch die Beschreibung hervorgebrachte Organisationskrise. Erst wenn die Hochschule als Organisation beschrieben wird, werden die organisationstheoretischen Probleme sichtbar, so Wissel. Im Endeffekt wurde in den letzten Jahrzehnten ein apolitischer Verwaltungsdiskurs aufgebaut, der schließlich verwaltungstechnische Lösungen präsentiert, die den komplexen Aufgaben der Hochschulen nur zum Teil gerecht werden können. Auch Münch (2007) betont die Rolle der Politik für die Transformationen der Hochschullandschaft, geht doch die Umstellung der Finanzierungsformen weg von der Grundfinanzierung und hin zur Drittmittelfinanzierung auf politische Entscheidungen zurück, und nicht auf eine anonyme Isomorphie. Mit dieser Arbeit soll am Beispiel des Bologna-Prozesses ein weiterer Beitrag zur Erklärung dieses umfassenden Wandels der Hochschullandschaft geleistet werden. Im Gegensatz zu Meyers Weltkulturtheorie (Meyer 2005) sollen die politischen Strategien und Techniken, durch die der Bologna-Prozess Hochschulstrukturreformen ausgelöst hat, diskursanalytisch herausgearbeitet werden. Mit der Analyse kann gezeigt werden, dass die Erklärung des Wandels durch das Eindringen eines globalen Modells zu einfach ist und der Komplexität sozialer Praxisfelder in Hochschule, Politik und Öffentlichkeit in transnational entgrenzten Räumen nicht Rechnung trägt. Damit schließt die Arbeit an Überlegungen von Christin Musselin (2008) an, wonach gerade der BolognaProzess auf sehr unterschiedliche nationale und regionale Besonderhei11
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
ten trifft. Der Bologna-Prozess zeitigt nicht nur unterschiedliche Reformergebnisse auf Hochschulsystemebene in den jeweiligen Ländern, Regionen und Hochschulen (siehe auch Witte 2006a), sondern muss auch an die jeweiligen nationalen und regionalen institutionellen Kontexte und Interessenslagen, Erwartungen und Befürchtungen der hochschulpolitischen Akteure anschließbar sein. Die Bologna-Reformen lassen sich weder autoritativ verordnen, noch setzen sie sich an den Hochschulen von selbst um. Am Beispiel Deutschlands soll vielmehr gezeigt werden, durch welche Techniken und Strategien die Akteure im deutschen Kulturföderalismus dazu gebracht wurden, sich an einer Reform zu beteiligen, die Ende der 1990er Jahre mit einem dreiseitigen Erklärung begann und in ihrer Bedeutung für die zukünftige Struktur des Hochschulsystems wohl kaum überschätzt werden kann. In der vorliegenden Arbeit wird ausgehend von poststrukturalistischen Theorien des Sozialen mit Methoden aus der französischen Tradition der Diskursanalyse gezeigt, wie der technokratische Konsensdiskurs des Bologna-Prozesses politische Handlungsfelder aufspannt, in denen die Akteure an den Hochschulen, Ministerien, Verbänden und der hochschulpolitischen Öffentlichkeit sich auf spezifische Art und Weise verorten müssen. Politische (und bürokratische) Handlungsträgerschaft versteht sich nicht von selbst, sondern muss durch spezifische diskursive Techniken erst hergestellt werden. Akteure beginnen erst dann zu handeln, wenn sie bestimmte Vorzüge sehen, Weisungen empfangen oder Notwendigkeiten anerkennen. Wie dies im Falle des Bologna-Prozesses funktionierte, ist die Frage, zu der diese Arbeit einen Beitrag leisten will. Das Buch ist in vier Blöcke untergliedert, die auch separat gelesen werden können. Die „Einführung“ (Kapitel 2 und 3), hier insbesondere Kapitel 2, gibt einen Überblick über die Hintergründe, Forschungsperspektiven und gesellschaftstheoretischen Herausforderungen des Bologna-Prozesses und ordnet den theoretischen und methodischen Ansatz dieser Arbeit vor diesem Hintergrund ein. Im Theorie-Block (Kapitel 4 und 5) wird die Perspektive einer post-durkheimianischen Sozialtheorie umrissen und ausgehend von poststrukturalistischen Theorieentwürfen und der französischen Tradition der Diskursanalyse die Idee einer hegemonietheoretischen Diskursanalyse vorgestellt. Während das vierte Kapitel aktuelle Theorietendenzen aus einem interdisziplinären Diskussionskontext vorstellt und zusammenfasst, soll im anschließenden Kapitel der Frage nachgegangen werden, wie die poststrukturalistische Vorstellung eines dezentrierten, heterogenen und opaken Sozialraumes methodisch umgesetzt werden kann. Im dritten Block (Kapitel 6 und 7) wird eine Diskursanalyse des Bologna-Prozesses durchgeführt. Zunächst 12
DIE KRISE DER UNIVERSITÄT UND DIE ROLLE DER POLITIK: EIN KURZER EINSTIEG
werden zentrale Tendenzen und typische Merkmale des hochschulpolitischen Feldes mit der Framesemantik beschrieben. Im Hauptkapitel dieses Buches (Kapitel 7) wird dann anhand unterschiedlicher Textbeispiele die politische Logik des Bologna-Prozesses mit Methoden aus der französischen Diskursanalyse herausgearbeitet. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Analyse schließlich aufgegriffen, um der Frage nachzugehen, wie mit „Bologna“ regiert wird, und um davon ausgehend einige Überlegungen zur Theorie und Logik sozio-politischer Prozesse in transnationalen Räumen anzustellen.
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T EIL I: E INFÜHRUNG
2 H I N T E R G R Ü N D E D E S B O L O G N A -P R O Z E S S E S U N D D E R A N S AT Z D I E S E R A R B E I T
Hintergründe des Bologna-Prozesses Als am 19. Juni 1999 die Bildungsminister und -ministerinnen aus 29 europäischen Staaten in der oberitalienischen Universitätsstadt Bologna erklärten, durch die Einführung eines zweigliedrigen Studiensystems, ausgestattet mit dem europäischen System zur Anerkennung von Studienleistungen (ECTS) und dem Diploma Supplement sowie durch Mobilitätsförderung und die Einführung einer „europäischen Dimension“ in die Curricula einen Europäischen Hochschulraum errichten zu wollen, hat sicherlich niemand geahnt, welche enormen Reformimpulse von dieser Bologna-Erklärung ausgehen sollten. Die unter dem Namen Bologna-Prozess populär gewordene Reformbewegung bewirkte eine ungeahnte Dynamik an den deutschen und europäischen Hochschulen. Bereits sechs Jahre nach der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung waren schon 26% des Studienangebots an deutschen Hochschulen auf Bachelor und Master umgestellt (vgl. Hochschulrektorenkonferenz 2005). Während in den Fächern mit Staatsexamen die letzen Rückzugsgefechte begonnen hatten (vgl. Kilian 2006) und die neun großen Technischen Universitäten (die so genannten TU9) nach kurzweiligem Aufbegehren verkündeten, Bachelor und Master (B/M) unter der Bedingung einzuführen, den Master als Regelabschluss anzustreben, zweifelte schon um 2005 herum niemand öffentlich mehr daran, dass sich das deutsche Hochschulsystem um 2010 herum grundlegend im Sinne der BolognaReformen verändert haben wird.
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DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Wie bereits erste empirische Analysen zu den Auswirkungen der „Bologna-Revolution“ (Maassen 2004) auf Arbeitsmarkt und Mobilität1, die sich etablierende „Realstudienstruktur“2 sowie Erfahrungsberichte von an der Einführung des zweistufigen Systems Beteiligten zu Fragen von Transparenz und Ausgestaltung der Studiengänge3 zeigen, wird das Zieljahr 2010 womöglich nicht das Ende von Hochschulreformen – oder Reformen der Hochschulreformen – sein4. Dieser sich abzeichnende Tatbestand kann Beobachter und Beteiligte des Bologna-Prozesses jedoch nicht sonderlich überraschen, markiert der Bologna-Prozess doch einen Paradigmenwechsel in der deutschen Hochschulwelt: Akkreditierungsagenturen werden künftig gegen Bezahlung über die Zulassung von Studiengänge entscheiden; mit Bachelor und Master wird die interinstitutionelle Differenzierung zwischen Fachhochschulen und Universitäten durch eine intra-institutionelle Differenzierung überlagert; eine internationale Ausrichtung der Studiengänge wird in künftigen Spar- und Verhandlungsrunden ebenso wie quantitative Daten über Studienzeit und „Studienabbrecher“ von größerer Relevanz sein als bisher; durch die Modularisierung der Studiengänge wird das Studium wahrnehmbar verschult – was nicht ohne Auswirkungen auf Studienzeit und Effizienz, Qualität und Effektivität bleiben wird; nicht zuletzt wird die Belastung der Lehrkräfte nicht nur durch die massive Vermehrung der Prüfungen zunehmen (vgl. Dainat 2005). Darüber hinaus scheint die Tatsache, dass über 60% aller Studierenden erwerbstätig sind, nicht in die Konzeptionierung der „strafferen“, modularisierten Studiengänge Eingang gefunden zu haben. Damit muss wegen der verschulten Studienstruktur eine strukturelle Ausfallwahrscheinlichkeit von 60% einkalkuliert werden. Nicht zuletzt wird die Bologna-Reform ohne zusätzliche Finanzmittel und mit hoher Geschwindigkeit durchgeführt. Wie war diese Entwicklung möglich? Allein dieser scheinbar enorme Erfolg macht den Bologna-Prozess bereits als empirisches Phänomen und Untersuchungsobjekt interessant. Werfen wir allerdings einen Blick auf die Hintergründe des BolognaProzesses, die eine Antwort auf die Frage versprechen, warum gerade der Bologna-Prozess diese Umwälzungen im Hochschulsystem bewirkt, dann sind dort zahlreiche Indizien zu finden, die intuitiv eher als Gründe
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Vgl. die Studien des HIS dazu in Leszczensky/Wolter 2005; die Untersuchungen der renommierten Einrichtungen zusammenfassend, Grigat 2005. Siehe dazu Thierfelder 2005 sowie die Stellungsnahmen der Fakultätentage in: Forschung und Lehre 2/2004, S.62-65. Beispielhaft Kemp 2004 Siehe auch Keller 2005: 63-66
HINTERGRÜNDE DES BOLOGNA-PROZESSES UND DER ANSATZ DIESER ARBEIT
dafür angeführt werden könnten, dass dieser Reform-Prozess zum Scheitern verurteilt ist. (1) So ist die Bologna-Erklärung mit keinerlei rechtlicher Verbindlichkeit versehen (vgl. Keller 2004: 19). Der gesamte Reformprozess basiert auf einer Absichtserklärung von mittlerweile über 40 Nationalstaaten. Anders als beispielsweise in der Finanzpolitik kann im Falle der Bildungspolitik nicht auf eine vertragliche Verpflichtung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft verwiesen werden. Die Bildungspolitik wurde vielmehr bereits 1992 im „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ (EGV)5 ausdrücklich dem Kompetenzbereich der Nationalstaaten zugesprochen.6 Damit hat die Europäische Kommission lediglich Kompetenzen im Rahmen der Subsidiarität (vgl. Hrbek 1994, Bauer 1999). Im Hochschulbereich beschränkt sich die Subsidiarität auf unverbindliche Arbeitspapiere und Empfehlungen der zuständigen Kommission sowie auf die Förderung der Mobilität im Rahmen der ERASMUS/SOKRATES – Programme. (2) Bisherige Initiativen der Europäischen Kommission, die die Struktur des Hochschulbereichs betrafen, wurden von den nationalstaatlichen Akteuren argwöhnisch beäugt und stießen mitunter auf heftigen Widerstand. So wurde unmittelbar nach der Unterzeichnung des EGV in der hochschulpolitischen Öffentlichkeit heftig über ein Memorandum der Europäischen Kommission zu Fragen der Entwicklung der europäischen Hochschulbildung diskutiert. Obwohl die Kompetenzen der Europäischen Kommission im EGV klar geregelt waren, erhitzte das Memorandum die Gemüter von Kultusministerkonferenz (KMK) und Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Studierendenverbänden. Die allgemeinen Befürchtungen vor einem „Moloch Europa“ mit einer „Euro-Bürokratie“7 an der Spitze führte zu detaillierten, stark argumentativen Stellungnahmen mit dem Ergebnis einer vernichtenden Kritik des Memorandums durch die oben genannten Verbände8. Von einer „pro-europäischen“ Grundstimmung, auf die der Bologna-Prozess hätte aufbauen können, kann also auch keine Rede sein (vgl. Teichler 2005a). (3) Das hochschulpolitische Feld war in den 1990er Jahren zudem von einem partei- und länderübergreifenden Konsens geprägt, Reformen im Studienbereich durchführen zu müssen. Es bestand ein weitestgehend alle Akteure einschließender Konsens darin, das Studium zu verkürzen, 5 6 7 8
Mastrichtvertrag Siehe Art. 149/50 EGV, in: Europa-Recht 2004: 194/95 Otto Wiesenheu, Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, Vertreter der KMK Siehe dazu die Beiträge in: Das Hochschulwesen 1993/Heft 3 19
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
die Studienabbrecherzahlen zu senken und die Berufsorientierung des Studiums zu verbessern (vgl. Turner 2001). Nachdem die „Strategie der Untertunnelung“, wonach der Ausbau der Hochschulen auf das Niveau der 1970er Jahre mit der Erwartung sinkender Studierendenzahlen in den 1990er Jahren eingefroren werden sollte, aufgegeben wurde, fanden im Laufe der 1990er Jahre zahlreiche „Bildungsgipfel“ statt. Auf diesen bildungspolitischen Spitzentreffen beschlossen Bund und Länder gemeinsame Maßnahmen zur Verkürzung und Berufsorientierung des Studiums sowie zur Senkung der Abbrecherquoten. Diese Beschlüsse umfassten neben der Festlegung von Regelstudienzeiten, Maßnahmen zur Verbesserung der Lehre und zur Verkürzung der Prüfungszeiten sowie einen verstärkten Aufbau der Fachhochschulen zahlreiche weitere Einzelmaßnahmen. Dazu zählt die Einführung von „Langzeitstudiengebühren“ ebenso wie die Anpassung sozialversicherungsrechtlicher Privilegien für Studierende an die Regelstudienzeit (vgl. Bund-LänderArbeitsgruppe 1993). Allerdings wurden die von den Akteuren identifizierten Probleme damit nicht gelöst, sodass ein allgemeines „Reformstauklima“ vorherrschte. Es existierte im Feld weder eine politische Bewegung noch eine Partei, die für spezifische Reforminhalte stand. Alle Akteure waren sich einerseits darin einig, das Studium zu reformieren; andererseits sahen sich dieselben Akteure jedoch mit der eigenen Unfähigkeit konfrontiert, entsprechende Maßnahmen durchzusetzen. (4) Im Jahr 1996 gelang jedoch dem damaligen Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers ein Vorstoß in der politischen Diskussion. Gemeinsam mit seinem Kollegen Klaus Kinkel, ehemaliger Außenminister, stieß er eine Diskussion über die „internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen“ an. Die beiden Bundesminister beklagten einen „Rückgang der ausländischen Studierenden“ an deutschen Hochschulen. Insbesondere wurde darauf verwiesen, dass Deutschland im „Wettbewerb“ um die Studierenden aus der „asiatisch-pazifischen Region“, den damaligen „Tigerstaaten“, hinter den angelsächsisch geprägten Ländern USA, Kanada, Großbritannien und Australien weit zurückliege. Diese These wurde in der hochschulpolitischen Öffentlichkeit unmittelbar aufgegriffen und führte zu heftigen Diskussionen. Im Rahmen dieser Debatte wurden vom Sekretariat der Kultusministerkonferenz zwischen 1996 und 2001 insgesamt vier Strategiepapiere („Berichte“) zur „Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Studienstandortes Deutschland“ angefertigt. In diesen Strategiepapieren wurden zahlreiche Maßnahmen erarbeitet, um speziell für ausländische Studierende mit angelsächsischem Hintergrund Studienmöglichkeiten im deutschen Hochschulsystem zu schaffen. Neben der Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen sollte vor allem die soziale Betreuung 20
HINTERGRÜNDE DES BOLOGNA-PROZESSES UND DER ANSATZ DIESER ARBEIT
und der aufenthaltsrechtliche Status für Studierende aus dem asiatischen Raum verbessert werden (vgl. Kultusministerkonferenz 1996, 1997, 1999a, 2001). Schon der zweite Bericht von 1997 (Kultusministerkonferenz 1997) wird ausdrücklich als Beschluss der KMK ausgewiesen. Dort wird unter anderem die Einführung von Bachelor und Master, ECTS und Modulen vorgeschlagen. Darüber hinaus heißt es: „Allerdings kann es nicht Ziel sein, das deutsche Studiensystem durch ein System britischer oder amerikanischer Prägung zu ersetzen. Vielmehr strebt die Kultusministerkonferenz an, durch eine Öffnung in dafür geeigneten Studienbereichen und Hochschulen neben dem bestehenden System neue Ausbildungsformen zu erproben [...]“ (Kultusministerkonferenz 1997: 4). Im Jahr darauf beschließt die KMK die Einführung des Akkreditierungswesens und am 5. März 1999, also noch vor der Konferenz in Bologna, werden Strukturvorgaben für Bachelor und Master beschlossen (vgl. Kultusministerkonferenz 1998 und 1999b). All diese Beschlüsse, die zeitgleich auch von der Hochschulrektorenkonferenz verabschiedet wurden, werden durch drei Kontexte gerahmt: Sie sollen erstens die Anwerbung Studierender mit angelsächsischem Hochschulsystemhintergrund erleichtern; sie werden zweitens parallel zum bestehenden System ergänzend eingeführt; alle Maßnahmen sind drittens Erprobungen (vgl. auch Witte 2006b). Von mir vorgenommene Recherchen im Pressespiegel der HRK haben ergeben, dass all diese Maßnahmen erst ab ca. 2003, das heißt fünf Jahre nach ihrer Verabschiedung durch die KMK, im Rahmen des Bologna-Prozesses überregional öffentlich diskutiert wurden. So kann vor dem Hintergrund dieser Ereignisse geschlussfolgert werden, dass den Reformvorhaben des Bologna-Prozesses noch Ende der 1990er Jahre und in den Jahren danach keine Aussicht auf Erfolg in dem Umfang, wie wir ihn heute beobachten können, eingeräumt worden wäre. Sie galten vielmehr als Nischenprogramme für Studierende des asiatisch-pazifischen Raumes, die parallel zum deutschen Studiensystem eingeführt werden sollten. (5) Ein weiteres Merkmal des Bologna-Prozesses besteht im besonderen Charakter der Reforminhalte. Anders als noch die Studienstrukturreformmaßnahmen, die im Rahmen der bildungspolitischen Spitzengespräche in den 1990er Jahren verhandelt wurden, greifen die Maßnahmen, die im Namen des Bologna-Prozesses vorgetragen werden, tief in die Hochschulautonomie ein. So werden nicht nur die Studienabschlüsse neu geregelt, sondern auch der Studienverlauf wird sich durch ECTS und Modularisierung verändern. Der wohl gravierendste Einschnitt findet jedoch nicht in diesen populären Kernthemen des Bologna-Prozesses statt, sondern in dem Bereich, der im Namen der „Qualitätssicherung“ diskutiert wird. Denn nach Art. 5 Grundgesetz haben die Hochschulen 21
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
volle Autonomie in der Konzipierung, der Durchführung und dem Abschluss der Lehre in allen nicht mit Staatsexamen abzuschließenden Studiengängen. Während die Ministerien durch die Genehmigung von Studiengängen nie in die Konzipierung und Durchführung selbst eingegriffen haben, sondern ausschließlich den von den Hochschulen selbständig entworfenen Studiengang ablehnen oder genehmigen konnten, greifen nun mit den Akkreditierungsagenturen erstmalig externe Akteure in die Gestaltung der Studiengänge ein. Damit hat diese Reform gute Chancen, irgendwann auf dem Tisch des Bundesverfassungsgerichts zu landen. (6) Auf der anderen Seite existieren kaum klare und schon gar keine bundeseinheitlichen Vorstellung davon, wie die Reformvorhaben vor Ort umgesetzt werden sollen (vgl. Reuter et al. 2003). Dieser Mangel an Durchführungsklarheit zeigt sich bereits in der Umsetzungspraxis. So listen Pletl und Schindler eine Serie von Umsetzungsproblemen auf, die sich von widersprüchlichen strukturellen Anforderungen, äußerst heterogenen Modularisierungs- und Modulprüfungsmodellen über intransparente Kreditpunktesysteme bis hin zu „missverstandenen“ Umsetzungsvarianten qualitativer Strukturanforderungen wie „Employability“ und „Schlüsselkompetenzen“ erstrecken (vgl. Pletl/Schindler 2007). Insgesamt entwerfen die Autoren ein Bild von der Umsetzung, wonach jede Hochschule die Bologna-Reformen nach Gutdünken interpretiert. Die Autoren sehen darin eine Fehlentwicklung, die nur durch eine intensive Schulung der Hochschulangehörigen beseitigt werden könne. Auch die Akkreditierungsagenturen und die Bologna-Experten der HRK verfügen nicht über ausreichende Kenntnisse bezüglich der qualitativen Aspekte der Reform, so Pletl und Schindler. Ein solches Bild kann nicht allein mit „fehlender Schulung“ und „Kompetenz“ der beteiligten Akteure allein erklärt werden. Wenn selbst die Experten der Akkreditierungsagenturen und der HRK nicht über ausreichende Kenntnisse verfügen, dann muss dies auf den Charakter des Reformprozesses selbst zurückgeführt werden (vgl. auch Scholz 2006). (7) Nicht zuletzt fällt die Gestaltung der Studienstruktur in den Kompetenzbereich aller administrativen und legislativen Organe des deutschen Kulturföderalismus. Sowohl der Bund als auch die Länder und die Hochschulen sind an der Gestaltung der Studienstruktur beteiligt. Durch die Einführung des Akkreditierungswesens kommt nun noch ein weiteres korporatives Organ hinzu. Der Bund regelt die Studienabschlüsse im Hochschulrahmengesetz bundeseinheitlich; die Länder greifen durch die Genehmigung in die Studienstruktur ein; im Rahmen der KMK werden weitere Details im Sinne einer länderübergreifenden Harmonisierung geregelt; den Hochschulen kommt die Aufgabe der örtli22
HINTERGRÜNDE DES BOLOGNA-PROZESSES UND DER ANSATZ DIESER ARBEIT
chen Umsetzung und Ausgestaltung zu; und das Akkreditierungswesen soll Qualitätsstandards überprüfen. Dies führt einen hohen Grad an „Politikverflechtung“ (Scharpf 1978, vgl. auch Raschert 1980) in das System ein, der die Umsetzung der Reformen nicht erleichtern kann, folgt man der Theorie der Politikverflechtung.
Woher bezieht die Reform ihre Dynamik? Angesichts dieses Gesamtbildes stellt sich die Frage, ob die Eingangshypothese, wonach dem Bologna-Prozess ein historisch beachtlicher Reformerfolg attestiert werden muss, noch ohne weiteres aufrechterhalten werden kann. Die Zahlen sprechen jedoch für sich. An den meisten Universitäten und Fachhochschulen ist Umsetzung des Bologna-Prozesses abgeschlossen. Einige Bundesländer haben die Umstellung auf Bachelor und Master bereits gesetzlich verankert. Und fast alle Zielvereinbarungen zwischen Ländern und Hochschulen enthalten die Umsetzung des Bologna-Prozesses (vgl. König 2005). Wie ist es angesichts dieser Situation zu erklären, weshalb gerade im Namen des Bologna-Prozesses ein Reformdurchbruch gelang, der das über Jahrzehnte gewachsene deutsche Studiensystem in nur wenigen Jahren nachhaltig verändert hat? In der politikwissenschaftlichen Theorie wird das politische Feld in drei Bereiche eingeteilt: policy, polity und politics. Die policyForschung untersucht die Entstehung und Veränderung von Reforminhalten. Dabei geht sie der Frage nach, welche Reforminhalte wann von wem vorgetragen wurden und wie sich diese Reforminhalte bis zur Implementierung veränderten (vgl. Witte 2006a). Die policy-Forschung fragt also danach, was verändert wurde. Die polity-Perspektive nimmt dagegen das institutionelle Entscheidungssystem in den Blick. Für das Bildungssystem hat Raschert (1980) Scharpfs Theorie der Politikverflechtung (1978) aufgegriffen und gezeigt, wie zu unterschiedlichen Themen ein spezifisches System der Entscheidungs-findung entsteht. Allerdings ist die polity nur der institutionelle Rahmen für die spezifischen Durchsetzungstechniken im politischen Feld. Wie diverse Reformen sich durchgesetzt haben, dies ist schließlich eine Frage der politicsForschung. Die politics-Perspektive fragt demnach nach der spezifischen Form, die ein Konflikt annimmt. Dies setzt einen politischen Akteur voraus, der die konkreten Auseinandersetzungen führt. Als zentrale Techniken der politics können Wahlen, Parlaments- und Ausschussabstimmungen, öffentliche Auseinandersetzungen, Überzeugungsarbeit und andere Konfliktformen gelten (vgl. Meyer 1994). Die policy-Perspektive wird uns keine Auskunft über den reformimpulsiven Charakter geben können, da sie das Was und nicht das Wie politischer Prozesse untersucht. Die polity-Perspektive muss für die Be23
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
antwortung der Frage, warum den Bologna-Reformen ein derartiger Erfolg attestiert werden kann, unbedingt berücksichtigt werden. Das Entscheidungssystem ist allerdings nur die institutionelle Grundlage für die konkrete Durchsetzung von Reforminhalten. Um die Mechanismen der Durchsetzung analysieren zu können, müssen wir vielmehr eine Analyse der politics-Mechanismen vornehmen. Eine solche Analyse impliziert anders als eine policy- oder polity-Analyse immer einen politisch handelnden Akteur, der im Rahmen eines politischen Systems (polity) auftritt und dort diverse politische Forderungen (policy) erhebt. Werfen wir einen Blick zurück auf die spezifischen Hintergründe des Bologna-Prozesses, dann stellen wir fest, dass der politische Akteur mit einer Anzahl von Problemen konfrontiert ist. So sind zunächst die Handlungsgrundlagen des politischen Akteurs unklar. Er verfügt wegen der Regelungen im EGV weder über eine völkerrechtliche Basis, noch bewegt er sich aufgrund des hohen Grades an Politikverflechtung in einem transparenten institutionellen Raum. Stattdessen herrscht im hochschulpolitischen Feld ein „Kompetenzgerangel“. Der politische Akteur kann auch nicht auf bereits vorhandene symbolische Ressourcen problemlos zurückgreifen. Denn weder findet es eine pro-europäische Grundhaltung im Feld vor, noch kann er an bestehende Reformerfolge anschließen. Auch die institutionellen Ressourcen sind kaum vorhanden. Es gibt im deutschen Bildungssystem keine Erfahrungen mit angelsächsischen Studiensystemen, stattdessen aber eine übergreifende kritische Haltung zum angelsächsischen System. Der Akteur könnte aber an die Diskussion über die „internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Hochschulen“ anschließen. Allerdings sind die damit verknüpften Reforminhalte deutlich gerahmt. Sie sind als Nischenstudiengänge für Studierende aus der „asiatisch-pazifischen Region“ vorgesehen und sollen das deutsche Studiensystem ergänzen und bereichern, nicht jedoch ersetzen. Zudem kommt noch erschwerend hinzu, dass diese Forderungen von keiner politischen Kraft des Feldes erhoben wurden. Sie wurden vielmehr von Technokraten in den bildungspolitischen Hinterzimmern ausgearbeitet; solche Reformmaßnahmen müssen immer auf ihren politischen Akteur warten, um die Bühne der Politik betreten zu können. Erst wenn sie jenseits der Büros der Experten aufgegriffen werden, beginnen sie politisch relevant zu werden. Nicht zuletzt sind die Reforminhalte und die zu erwartenden Reformoutputs völlig unklar. Damit fehlt dem politischen Akteur auch die Grundlage für eine inhaltliche Überzeugungsarbeit.
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Politische Prozesse interpretieren Der politische Akteur, den wir suchen, wird also nicht einfach zu finden sein. Und wie wir in Kapitel 7 und 8 zeigen werden, hat er ein besonderes Geschick entwickelt, sich hinter anderen Figuren zu verstecken. Genau wie wir steht er in einem intransparenten Raum, der mit Fallstricken und politischen Unklarheiten regelrecht übersät zu sein scheint. Für uns Laien muss der Bologna-Prozess daher wie eine Blackbox erscheinen, in die man voller Erwartung hineinblickt und danach mit einer Handvoll Spekulationen und Unklarheiten dasteht. Nach Bourdieu neigen politische Felder allerdings dazu, sich im Laufe ihrer Geschichte zu einem Mikrokosmos zu entwickeln, der nur noch von den Experten im Feld selbst beherrscht und von den Laien argwöhnisch beäugt wird. „Das Feld ist in der Tat ein Mikrokosmos, eine Welt für sich, eine zu einem guten Teil, aber nicht völlig, geschlossene Welt, sonst gäbe es kein politisches Leben, aber dennoch ziemlich geschlossen, ziemlich unabhängig von dem, was außerhalb vor sich geht. Und in dieser kleinen Welt, in diesem Mikrokosmos, wird ein ganz besonderes Spiel gespielt, in dem besondere Interessen generiert werden. In diesem Spiel [...] werden Interessen definiert, die unabhängig sind von den Interessen der einfachen Wähler, der Klientel, und das wird von den Laien häufig gesehen, die dann eine Art Antiklerikalismus entwickeln“ (Bourdieu 2001: 30). Wie allerdings finden wir einen empirischen und methodischen Zugang zu diesem „Mikrokosmos“? Das politische Feld ist ein sozialer Raum, in dem durch politische Aussagen Position bezogen wird. Diese Aussagen liegen in der Form veröffentlichter Texte vor: Interviews, Reden, Zeitschriftenartikel, Kommissionsberichte, Wahlprogramme etc. Nach Bourdieu beziehen sich politische Handlungen, die mit solchen Texten vollzogen werden, auf das politische Feld selbst. Die Bedeutung, die die vom Feld ausgeschlossenen Laien mit politischen Äußerungen verbinden, haben in der Regel nur wenig mit den Bedeutungen zu tun, die solche Texte im Feld selbst hervorrufen, so Bourdieu. Texte haben demnach eine feldbezogene Bedeutung. „Es ist klar, dass es sich hier [bei den politischen Handlungen, J.M.] um Fälle handelt, in denen die Stellungnahmen sich aus einer bestimmten politischen Position herleiten lassen innerhalb eines Raumes von Positionen, wie ihn das politische Feld darstellt“ (Bourdieu 2001: 46/47). Nach Bourdieu führen wir die in Textform vorliegenden politischen Stellungnahmen auf eine spezifische Position im Feld zurück. Felder sind differentiell und hierarchisch gegliederte Räume, wo die Akteure mit unterschiedlichen Kapitalsorten ausgestattet sind und um die Mehrung des Kapitals konkurrieren. Dabei folgen sie strikt den Regeln, die im Feld autonom definiert und durch das Feld immer schon 25
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vorgegeben sind (vgl. Bourdieu 1985). Felder sind allerdings keine starren Gebilde. Ein Feld ist vielmehr „ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung der Kräfteverhältnisse“ (Bourdieu 2001: 49). Die Feldanalyse geht nach Bourdieu in drei Schritten vor (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 136/37). Zunächst muss die Position bestimmt werden, die das Feld innerhalb des Feldes der Macht einnimmt. Anschließend wird die Struktur des Feldes untersucht. Hierbei werden die Relationen der Positionen des Feldes herausgearbeitet, die von den Akteuren bezogen werden. Abschließend erfolgt die Analyse des Habitus. Dies ist die eigentliche Analyse der Texte und Äußerungen der Akteure. Hierbei gilt es, die Äußerungen auf die Position zurückzuführen, die der Akteur im Feld bezieht und sie in Relation zu den anderen Positionen zu untersuchen, haben doch Texte keine feldunabhängige Bedeutung. Damit unterstellt Bourdieu allerdings einen Raum von Relationen, der bereits vor der Äußerung konstituiert ist. Texte entspringen diesen Positionen und müssen demnach wieder auf diese Position zurückgeführt werden. Auf die Frage, wie Bourdieu erkennt, ob ein Akteur zum Feld gehört oder nicht, gibt er uns folgende Antwort: „Man erkennt die Präsenz oder Existenz eines Akteurs in einem Feld daran, dass dieser den Zustand des Feldes verändert (oder dass sich viel verändert, wenn er nicht mehr da ist)“ (Bourdieu 2001: 50). Eine solche Antwort scheint für die empirische Forschung nur schwer akzeptabel zu sein. Unterstellt Bourdieu damit nicht immer schon ein Wissen über die Akteure und Positionen des Feldes, das bereits vor der Genese dieses Wissens in der empirischen Forschung vorhanden ist? Und wie könnte der Forscher überhaupt ein solches Wissen erlangen? Muss er nicht die politischen Texte und Stellungnahmen untersuchen, um wissen zu können, wer wo steht? Dies muss wegen der oben erwähnten Geschlossenheit sozialer Felder zumindest problematisch erscheinen. Nicht zuletzt ist es problematisch, Text nur als Dokumente von Positionen im Feld zu analysieren, und sie damit auf passive Sinnträger zu reduzieren. In dieser Arbeit soll Bourdieus „Theorie Sozialer Felder“ gewissermaßen „vom Kopf auf die Füße gestellt“ werden. Ausgehend von Laclaus und Mouffes Theorie des „Sozialen“ (vgl. Laclau/Mouffe 2001, Laclau 1990b) können wir das politische Feld als einen Raum entwerfen, der ausgehend von einzelnen diskursiven Akten der Artikulation strukturiert wird. Einzelne Äußerungen werden demnach nicht auf eine bestehende Struktur objektiver Positionen zurückgeführt; vielmehr wird danach gefragt, wie ausgehend von einzelnen politischen Äußerungen (d.h. Texten) ein Feld politischer Positionen diskursiv entworfen wird. Das bedeutet, dass wir die Texte nicht als Ausdruck einer Position analysieren, sondern als eigenständige Akte, über die der Raum überhaupt 26
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erst strukturiert wird. Dies trägt nicht nur der Offenheit und Heterogenität des Sozialen Rechnung. Diese gesellschaftstheoretische Annahme eröffnet zudem Wege für eine präzise methodologische Vorgehensweise. Denn wenn das Feld über die Äußerungen strukturiert wird, dann erhält die Analyse natürlicher Texte wie Reden, Interviews, Zeitschriftenbeiträge etc. eine zentrale Stellung. Neben den institutionellen Arrangements wird so der symbolischen Ebene politischen Handelns besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Texte sind demnach nicht Ausdruck institutionell verfestigter Beziehungen. In der Analyse des Bologna-Prozesses soll vielmehr gezeigt werden, wie ausgehend von Texten politische Handlungsfelder strukturiert werden. Politische Texte drücken nicht nur Ideologien, Absichten, Strategien und Machtverhältnisse aus. Vielmehr sind Texte in sich umkämpfte und dynamische Gebilde. Über sie wird die Art und Weise festgelegt, wie Politiker sprechen und sich dadurch positionieren. Dies wiederum bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die weitere Textproduktion. Damit soll der prozessierende und heterogene Charakter der symbolischen Ebene von Gesellschaft unterstrichen werden. Die symbolische Ebene politischen Handelns wird vor allem in der Wissenssoziologie fokussiert. Ähnlich wie Bourdieu unterscheiden auch Soeffner und Tänzler das politische Feld in einen Raum der „Hinterbühne“, wo Experten Politikkonzepte entwerfen und Kompromisse aushandeln, und der „Vorderbühne“, die der „Darstellung“ von Politik gilt (vgl. Soeffner/Tänzler 2002: 21/22). Während Bourdieu aber die „Vorderbühne“ als genau die Grenze zwischen den „Laien“ und den „Experten“ des Feldes konzipiert, die den Zugang zum politischen Feld für die „Laien“ verschließt, betonen Soeffner/Tänzler den ordnungs- und sinnstiftenden Charakter der Politik als figurative Politik (Soeffner/Tänzler 2002: 23). Der sich zur Schau stellende Politiker ist demnach immer auch Repräsentant „der ‚idealen Welt‘ einer bestimmten Ordnung des Gemeinwesens“ (Hitzler 2002: 42). Damit betont die wissenssoziologische Perspektive den ordnungsschaffenden und sinnstiftenden Charakter der Politik. In dem Moment, wo der professionelle Politiker an die Öffentlichkeit tritt, steht er nicht nur für die Partikularperspektive seiner Partei, sondern repräsentiert immer auch die Gemeinschaft des politischen Lebens als solche. Erst indem er eine „symbolische Sinnwelt“ (Berger/Luckmann 1999: 112) erzeugt, die zwischen alter und ego vermittelt, werden seine konkreten Inhalte, die er vorträgt, sinnvoll gerahmt. Genau hierin besteht auch der Kern des wissenssoziologischen Begriffs des „Politischen“. „Politisch wird eine soziale Beziehung, wenn sie sich von einer zweistelligen zu einer dreistelligen Relation wandelt [...]. Der Machtkampf zwischen zwei Parteien, der Autoritätskonflikt 27
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zwischen Vater und Sohn, Herr und Knecht oder der Streit der Gatten ist unpolitisch, solange nicht die institutionalisierte Norm ihrer Beziehung und die sie legitimierende Weltsicht tangiert, sprich: revolutioniert werden“ (Soeffner/Tänzler 2002: 29). Die wissenssoziologische Analyse zielt demnach auf die Rekonstruktion dieses von allen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilten Wissens und der Beschreibung der Mechanismen der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1999). Eine Abweichung von der institutionalisierten Norm kann in diesem Sinne vielleicht als eine Art politische Anomie interpretiert werden. Nach Soeffner (1999: 43-48) verfährt die „Hermeneutische Wissenssoziologie“ folgendermaßen: Das empirische Material muss zunächst erhoben, verschriftlicht und beschrieben werden. Anschließend erfolgt die hermeneutische Interpretation: das Verstehen. Die erhobenen und für die Interpretation aufbereiteten Daten können allerdings nicht mit der Handlung selbst gleichgesetzt werden. Vielmehr dienen sie als „Protokolle“ einer „ursprünglichen Handlungssituation“ (Soeffner 1999: 41), die es verstehend zu rekonstruieren gilt. Das Ziel der verstehenden Analyse besteht darin, jene Normen, Werte, Rituale, Praktiken und Wissensinhalte herauszuarbeiten, die es den Subjekten ermöglichen, sich in ihrer Sinnwelt zu orientieren. Abschließend wird ein Idealtypus des Handelnden und des subjektiv gemeinten Sinns entworfen, um eine Erklärung des entsprechenden sozialen Phänomens zu erarbeiten. Gegenüber der Wissenssoziologischen Hermeneutik können drei Argumente in Anschlag gebracht werden. Wie auch im Falle Bourdieus betrachtet Soeffner Texte als Ausdruck einer sozialen Welt („Protokolle“), indem sie in den Textdokumenten einen dahinter liegenden, das Partikularphänomen einfassenden und rahmenden Sinn vermutet. Die methodologische Unterstellung, Texte könnten auf einen „subjektiv gemeinten Sinn“ (Weber) reduziert werden, wird der Heterogenität und Offenheit des empirischen Materials allerdings nicht gerecht. Gerade im Bologna-Prozess haben wir es mit Texten zu tun, die mit Blick auf ihre Bedeutung oft unklar bleiben. Die Texte lesen sich sperrig und technokratisch. Oft können viele unterschiedliche Bedeutungsvarianten nebeneinander bestehen, wobei es schier unmöglich scheint, sich auf eine der multiplen Möglichkeiten von Sinn festzulegen. Gerade für politische Diskurse ist aber diese Mehr- und Uneindeutigkeit der Texte typisch, weil es immer auch darum geht, sich eben nicht auf einen Sinn festzulegen. Erst wenn politische Texte ganz unterschiedliche Sinngebungsprozesse auslösen, werden sie effektiv, kann doch unter dieser Bedingung jeder seinen Sinn damit verbinden. Wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, liegt gerade darin eine der Stärken des Bologna-Prozesses. So wird 28
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in der empirischen Diskursanalyse (Kapitel 7) gezeigt, wie der BolognaDiskurs politische Verantwortlichkeit unsichtbar macht und die konkrete Bedeutung der Reforminhalte immer wieder verwischt. Zweitens wirkt die Praxis der Sinnauslegung im Falle des Bologna-Prozesses oft etwas willkürlich (siehe Teichler 2005a), ist sie doch trotz aller Techniken, die rekonstruktive Verfahren des Verstehens anzubieten haben, immer an die interpretative Leistung und damit an das Kontextwissen des analysierenden Akteurs gebunden. Schließlich erscheint die Annahme einer symbolischen Sinnwelt, die von allen geteilt wird, angesichts der Heterogenität der Texte und der Komplexität transnationaler Praxisfelder unplausibel (vgl. Musselin 2008). Was spricht dagegen, davon auszugehen, dass das politische Feld und die Deutungsmuster, die es zur Verfügung stellt, nicht kohärent und damit sinnvoll, sondern heterogen und von Sinn regelrecht überflutet sind? So zeigen beispielsweise die in Anschluss an Foucaults letzte Vorlesungen am Collège de France entstandenen „Gouvernementalitätsstudien“, dass das politische Feld von ganz unterschiedlichen, heterogenen, sich wechselseitig oft ausschließenden Regierungsformen beherrscht wird (vgl. Krasmann/Volkmer 2007, Bröckling et al. 2000). Der gesellschaftstheoretische Ausgangspunkt würde demnach nicht in einer kohärenten, ordnungsstiftenden Sinnwelt liegen. Vielmehr wäre dieser im konstitutiven „Unsinn“ heterogener Praktiken zu suchen. Denn, wie Laclau betont (vgl. Laclau 1990b), muss jedes Zeichensystem (und damit auch jede symbolische Sinnwelt), dessen konstitutives Merkmal darin besteht, Sinn zu produzieren, die Grenze zu seinem Außen, dem Bereich des nicht-bezeichenbaren – des konstitutiv „Asinnigen“ –, immer schon gezogen haben, um überhaupt Sinn hervorzubringen. Dies gelingt aber nur um den Preis, dass das Zeichensystem inkohärent und instabil wird, muss es doch seine eigene Unmöglichkeit, seine Grenze, in sich selbst aufnehmen (vgl. auch Stäheli 2001).
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Die Methode: Diskursanalyse und gesellschaftstheoretische Interpretation Angesichts der methodischen Probleme, die die sperrigen, technokratischen und semantisch weitläufigen Texte des Bologna-Prozesses bereiten, greifen wir in dieser Arbeit auf die „äußerungstheoretische Diskursanalyse“ (Angermüller 2007c) zurück. Die äußerungstheoretische Diskursanalyse geht auf Foucaults „Theorie diskursiver Formationen“ (Foucault 1981) zurück. Nach Foucault sind diskursive Formationen heterogene Gebilde, die sich aus unterschiedlichen „Aussagen“ zusammensetzen. Aussagen wiederum sind das Produkt des Äußerungsaktes, die sich durch unterschiedliche Modalitäten in ein weiteres Äußerungsfeld einschreiben. Die Diskursanalyse geht demnach in zwei Schritten vor. Zunächst werden die Elemente des Äußerungsfeldes bzw. Kontextes katalogisiert. Hierfür eignet sich Minskys Framesemantik (vgl. Minsky 1980). Frames sind nach Minsky vergleichbar mit „Formularen“, die zahlreiche „Leerstellen“ enthalten (vgl. Ziem 2008). Die Leerstellen können, müssen aber nicht mit unterschiedlichen Elementen ausgefüllt werden. Frames sind keine kompakten, abgeschlossenen und gefüllten Gebilde, sondern offene Optionen, die Teil über- und untergeordneter Frames sind. Anschließend erfolgt die Analyse der Texte. Hierfür greifen wir auf die „französische“ (Williams 1999) bzw. „äußerungstheoretische“ (Angermüller 2007c) Diskursanalyse zurück. Die Diskursanalyse geht der Frage nach, wie Texte auf Kontexte zugreifen, ohne die Texte keine Bedeutung generieren könnten. Text und Kontext sind allerdings nicht ursprünglich miteinander verbunden. Vielmehr mobilisieren Texte über spezifische „Formen“ eine prinzipiell nicht begrenzbare Anzahl an Kontexte. Nach Angermüller ist der „Leser“ die diskursive Instanz, welche Text und Kontext miteinander verkoppelt, wobei der Leser kein humanistisch-anthropologisches Wesen bezeichnet, sondern eine formale Instanz, die den Akt der Verbindung von Text und Kontext, der schließlich der „Diskurs“ ausmacht, vollzieht (vgl. Angermüller 2007c). Dieser Akt der Verbindung von Text und Kontext wird schließlich über unterschiedliche textuelle Formen angeleitet, die dem Leser Hinweise auf Kontexte geben. In der Diskursanalyse wird nicht nach dem Sinn, der dahinterliegenden Position im Feld oder der Ideologie, die vom Text ausgedrückt wird, gefragt. Die Textdokumente werden demnach nicht als Protokolle einer ursprünglichen Handlungssituation behandelt. Vielmehr wird der Text in Aussagen zerlegt. Aussagen sind die kleinsten Einheiten des Diskurses, die weder mit ganzen Texten noch mit einzelnen Sätzen deckungsgleich sind (vgl. Foucault 1981). Die äußerungstheoretische Diskursanalyse ist aus diesem Grund eine „Aussagenanalyse“ (Angermüller 2007c). In der 30
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Aussagenanalyse werden die Formen beschrieben, über die der Text auf Kontexte zugreift. Zu diesen Formen zählen die Elemente der „Origo“ (Bühler 1999) „ich“, „hier“ und „jetzt“ ebenso wie die Operatoren der „Polyphonie“ (Flottum 2005) „nicht“, „un-“ etc. Zudem können bestimmte Nomen, die auf Verben zurückgehen, wie „Lesen“ oder „Internationalisierung“, als „Vorkonstrukte“ (Angermüller 2007c) analysiert werden (vgl. ausführlich Kapitel 5). Gegenüber der Wissenssoziologischen Hermeneutik hat die Aussagenanalyse den Vorteil, Texte formalobjektiv analysieren zu können, indem sie nach den Bedingungen der Interpretation fragt und keine eigene Sinnauslegung vornimmt. Die Forschungsfrage in der Diskursanalyse lautet demnach: Nach welchen Regeln greift der Text auf Kontexte zu? Die Aussagenanalyse bietet somit neue Möglichkeiten zur Analyse politischer Texte. Die Analyse zielt erstens nicht auf eine hinter dem Text liegende Wirklichkeitsebene, sondern behandelt Texte als eigenständige politische Praktiken. Die Frage lautet demnach nicht mehr: Aus welchem Feld von Positionen geht der Text hervor?, sondern: Was für ein Feld von Positionen spannt der Text auf? Zweitens wird mit der Aussagenanalyse der Mikro-Makro-Dualismus unterlaufen. Denn Texte werden nicht als Mikrophänomene analysiert. Vielmehr wird unter Rückgriff auf qualitative Analysemethoden danach gefragt, wie Texte mit makro- und mikrosozialen institutionellen, historischen, ideologischen, affektiven u.a. Kontexten verkoppelt werden können. Und genau hier liegt auch die Grenze der Aussagenanalyse, ist es doch der Leser, der die Verkopplung von Text und Kontext vornimmt. Der Bologna-Prozess ist ein Expertendiskurs, wo nicht jeder gleichermaßen mitreden kann. Das Kontextwissen derjenigen, die den Bologna-Prozess auf den legislativen und administrativen Ebene des bundesrepublikanischen Kulturföderalismus durchführen, ist nicht identisch mit den Kontexten der Zeitungsleser und bildungspolitisch Interessierten, die außerhalb der Mikrowelt des Kulturföderalismus stehen. Deshalb werden diese Leser auch andere Kontexte finden, wenn sie die Texte des Bologna-Prozesses lesen, als die Experten des Feldes. Wie in der Diskursanalyse gezeigt wird, zwingt der Bologna-Diskurs die Leser dazu, Experten des Bologna-Prozesses zu werden. Aus diesem Grunde sollen die Ergebnisse der Aussagenanalyse mit der Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe (2001) gesellschaftstheoretisch interpretiert werden. Mit der hegemonietheoretischen Interpretation soll die Ebene der einzelnen Texte verlassen und umfassendere soziale Beziehungsgefüge in den Blick genommen werden. Ausgehend von den Ergebnissen der Aussagen- und Frame-Analyse wird mit der Hegemonietheorie danach gefragt, wie der Bologna-Diskurs eine spezifische Form diskursiver Subjektivität her31
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vorbringt, indem textuelle Formen mit spezifischen Elementen des Kontextes verkoppelt werden. Die spezifische Verkopplung von textueller Form und Kontextelement wird als „hegemoniale Instanz“ bezeichnet und der Mechanismus, der unterschiedliche hegemoniale Instanzen in Beziehung setzt, als „hegemoniales Feld“. Damit kann gezeigt werden, wie der Bologna-Diskurs auf Seiten der Wortführer des Bologna-Prozesses eine technokratisch-apolitische, evaluierende Form von Subjektivität hervorbringt. Mit der hegemonietheoretischen Interpretation soll somit der Übergang von der Diskursanalyse zur Gesellschaftstheorie vollzogen werden. Es soll darüber hinaus gezeigt werden, welche gesellschaftstheoretischen Anschlussmöglichkeiten die äußerungstheoretische Diskursanalyse eröffnen könnte. Neben dieser synchronen Interpretation soll abschließend eine diachrone Interpretation des hegemonialen Feldes vorgenommen werden. Die Frage der diachronen Interpretation lautet: Welche Machteffekte gehen von dem hegemonialen Feld, das den Bologna-Prozess hervorbringt, aus? Hierbei geht es nicht um die Mechanismen, die den Bologna-Prozess im Expertenfeld des Kulturföderalismus konstituieren, sondern um die möglichen Auswirkungen dieser hegemonialen Konfiguration auf die weitere Diskursproduktion an den Hochschulen, in der politischen Öffentlichkeit oder in der Wirtschaft. Dafür soll Foucaults Machttheorie fruchtbar gemacht werden (Foucault 1987, 2004, 2006). Mit dieser machttheoretischen Interpretation kann unter Rückgriff auf die Gouvernementalitätsanalyse danach gefragt werden, welche „Herrschaftstechniken“ (Lemke et al. 2000: 28) das hegemoniale Feld des Bologna-Prozesses hervorbringt. Ausgehend von der gouvernementalitätstheoretischen Perspektive soll gezeigt werden, wie der technokratische Konsensdiskurs des Bologna-Prozesses spezifische „Selbstführungstechniken“ etabliert. Der Konsens ist ein typisches Merkmal neoliberaler Diskurse (vgl. van Dyk 2006a und b, Mouffe 2005, Wissel 2007, Nonhoff 2006, Maeße 2008a). In dieser Arbeit soll allerdings nicht gezeigt werden, durch welche diskursiven (Dyk 2006a) und institutionellen (Scharpf 1978) Techniken der Konsens hergestellt wird. Vielmehr soll am Beispiel des Bologna-Prozesses eine politische Logik herausgearbeitet werden, die den Konsens immer schon zur Voraussetzung hat und als eine „Führung der Führungen“, eine „Weise des Sich-Verhaltens“ (Foucault 1987: 255) interpretiert werden kann. „Führung“ im Sinne der Gouvernementalität impliziert einen normativen Mechanismus, der jedoch auf die Kooperation der „Geführten“ angewiesen ist. Das Subjekt bezeichnet hiernach nicht das Produkt sozialisatorischer Sedimentierungsprozesse. Vielmehr werden die Techniken der kooperativen Unterwerfung des Subjekts in einem begrenzten Raum von Möglichkeiten untersucht. Der Begriff der 32
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Gouvernementalität umreißt eine machttheoretische Perspektive, die auf „freie Subjekte“ (Foucault 1987: 255) angewiesen ist. Demnach wird hier nach den generativen Regeln gefragt, die ein Feld von Möglichkeiten hervorbringen und abstecken, in dem sich Konflikt und Politik in der politischen Form des Konsenses entfalten können.
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3 D E R B O L O G N A -P R O Z E S S AL S T H E O R E T I S C H E U N D E M P I R I S C H E H E R AU S F O R D E R U N G
Einleitung Der Bologna-Prozess ist nicht nur für das politische System in einer zunehmend von internationalen Fragen beherrschten Szene sowie für die Hochschulen in der Umsetzung der Strukturreformen eine neue Herausforderung. Vielmehr ist auch die Forschung zum Bologna-Prozess mit neuen Fragen und Problemen konfrontiert, die nicht nur dem empirischen Gegenstand, sondern ebenso einer historischen Umwelt geschuldet sind, die für die Sozialwissenschaften zunehmend zu einem methodologischen und gesellschaftstheoretischen Problem wird. Neben Fragen nach Internationalisierung, Globalisierung und Regionalisierung treten zunehmend europäische Integrations- und Deregulierungsprozesse, die den nationalstaatlich verfassten Gesellschaftsbegriff in Frage zu stellen scheinen. In den letzten Jahren betreten darüber hinaus Phänomene den Plan, die sich den üblichen institutionellen Arrangements entziehen, weil sie weder völkerrechtlich fixiert sind, noch auf spezifische nationale Interessen problemlos zurückgeführt werden können. Dazu zählt der Bologna-Prozess. In den folgenden Ausführungen soll der Frage nachgegangen werden, welche gesellschaftstheoretischen und methodologischen Fragen und Problem der Bologna-Prozess für die Sozialwissenschaft aufwirft. Nach einem kurzen Überblick über zentrale Fragen der Hochschulforschung zum Bologna-Prozess sollen ausgehend von den Problemfeldern Gesellschaft, Text und Diskurs drei Thesen entwickelt werden, die zugleich den theoretischen und methodischen Zugriff dieser Arbeit auf den Bologna-Prozess umreißen. Erstens, angesichts von Globalisierung, 35
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Internationalisierung und Europäisierung erfordert die Analyse des Bologna-Prozesses eine Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Individuen können nicht mehr problemlos als Akteure entworfen werden, die sich in einer transparenten oder intransparenten institutionellen Umwelt bewegen. Stattdessen bieten gesellschafts- und subjekttheoretische Überlegungen aus der „Poststrukturalistischen Soziologie“ (Stäheli 2000) neue Möglichkeiten. Zweitens sind Texte nicht auf ihre Repräsentations- bzw. Ausdrucksfunktion reduzierbar. Texte repräsentieren nicht nur Wissen, Ideologien, politischen Feldpositionen oder Strategien und Absichten der Akteure. Vielmehr kann gezeigt werden, wie ausgehend von Texten selbst politische Felder strukturiert werden. Gerade im Falle des Bologna-Prozesses, so die These dieser Arbeit, ist diese politische Funktion von Texten von entscheidender Bedeutung. Drittens, um diesen dynamischen und produktiven Charakter politischer Texte herauszuarbeiten, greifen wir auf die „äußerungstheoretische Diskursanalyse“ oder „Aussagenanalyse“ (Angermüller 2007c) zurück. Anders als texthermeneutische Methoden der qualitativen Sozialforschung geht die Aussagenanalyse nicht den in Texten enthaltenen semantischen Inhalten, ideologischen Positionen oder dem dort abgespeicherten gesellschaftlichen Wissen nach. Vielmehr betont die Aussagenanalyse die Heterogenität und Vielschichtigkeit von Diskursen. Mit der Aussagenanalyse gehen wir der Frage nach, über welche Formen die Texte des Bologna-Prozesses multiple institutionelle, ideologische und historische Kontexte mobilisieren. Damit kann nicht nur ein neuartiger Beitrag zur Erforschung des Bologna-Prozesses geleistet werden. Es kann zudem gezeigt werden, wie mit semantisch weitläufigen Texten in einer intransparenten institutionellen Umwelt effektiv Politik gemacht werden kann.
Die Hochschulforschung im Bologna-Prozess Was ist „Hochschulforschung“? Im deutschsprachigen Bereich lassen sich zwei Forschungsfelder identifizieren, wo der Bologna-Prozess Gegenstand empirischer und theoretischer Untersuchungen ist. Einerseits das als „Hochschulforschung“ bezeichnete Forschungsfeld und andererseits das Feld der Politikwissenschaft und politischen Soziologie. Wie Pasternack (2006a) ausführt, ist das Feld der Hochschulforschung nicht disziplinär über seine Methoden und Theorien, sondern stärker über seinen Gegenstand integriert (vgl. dazu auch Teichler 2003). Hochschulforschung bezeichnet im weitesten Sinne ein multi- und interdisziplinäres Forschungsfeld, das Forschung 36
BOLOGNA-PROZESS ALS THEORETISCHE UND EMPIRISCHE HERAUSFORDERUNG
über den Gegenstand „Hochschule“ und die angrenzenden Bereiche wie Arbeitsmarkt, Politik und Erziehung anstellt. Zentrale Fragen der Hochschulforschung betreffen demnach Hochschulverwaltung, Hochschulforschung, Hochschulsteuerung, Hochschulsozialisation, Hochschullehre, Lehrende und Studierende, Hochschulgeschichte, Hochschulorganisation, Hochschulreform, Hochschulzulassung, Hochschulökonomie, Hochschulrecht, die Hochschule als Erziehungs- und Wissenschaftssystem im gesamtgesellschaftlichen Kontext, Hochschule und Beruf, staatliche Hochschulpolitik und Hochschulplanung (vgl. Goldschmidt et al. 1984, Oehler/Webler 1988, Teichler 2003, Schwarz/Teichler 2003). Aus dieser Enummeration wird ersichtlich, dass das Feld der Hochschulforschung nicht nur multi- und interdisziplinär ist, sondern dass darüber hinaus der Forschungsgegenstand Hochschule selbst einen multidimensionalen Charakter hat. Die Bezeichnung „Hochschulforschung“ hat demnach ein enorm integratives Potential. Vor diesem Hintergrund kann es dann auch nicht verwundern, dass der andere Bereich, der sich mit dem Bologna-Prozess befasst, die Politikwissenschaft und die politische Soziologie, durch lediglich zwei Arbeiten artikuliert wird (Nagel 2006 und Walter 2006)1. Ein weiteres eigentümliches Merkmal des Feldes der Hochschulforschung betrifft seine institutionelle Anatomie. In dem von Gunkel et al. (2003) herausgegebenen Band mit dem Titel „Directory der Hochschulforschung. Personen und Institutionen in Deutschland“ werden neben 7 Forschungsinstituten, wozu universitäre wie das „Wissenschaftliche Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung“ (WZ I, neuerdings INCHER) ebenso gezählt werden wie privatrechtliche („Centrum für Hochschulentwicklung gGmbH“, Gütersloh) und staatliche Einrichtungen („Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bandesanstalt für Arbeit“, IAB), rund 170 Personen mit Name, Telefonnummer, Anschrift, Kurzbiographie und Forschungsbereich aufgelistet. In dieser Liste findet man neben Soziologen2 wie Barbara Dippelhofer-Stiem und ehemaligen Politikern wie Hans-Uwe Erichsen auch Hochschulberater und eher klassische Hochschulforscher wie Ulrich Teichler. Pasternacks Kartographie der institutionalisierten Hochschulforschung kommt auf ca. 16 Einrichtungen, die jeweils den Kategorien „Forschungsinstitut“, „Beratungsinstitut“, „Forschungsstelle“, „privatwirtschaftliches Institut“, „hochschuldidaktisches Institut“, „institutional research“ und „affine 1
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Ich möchte an dieser Stelle allerdings nicht ausschließen, dass es noch weitere Arbeiten gibt, die mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bekannt sind. Hier wie im Folgenden wird die maskuline grammatische Form geschlechtsneutral verwendet. 37
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Einrichtungen“ zugeordnet werden (2006a: 106). Insgesamt ist das Feld der Hochschulforschung also durch eine institutionelle Heterogenität und eine nur graduelle Bindung der einzelnen Forscher an diese heterogene institutionelle Struktur charakterisiert. Darüber hinaus existieren zahlreiche thematische und personelle Überschneidungen zwischen den sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen (z.B. Renate Mayntz), der Hochschulforschung (z.B. Peer Pasternack), der Hochschulplanung (z.B. René Krempkow) und der Hochschulpolitik (z.B. Jan-Hendrik Olbertz). Aufgrund dieser heterogenen Anatomie des Forschungsfeldes Hochschulforschung ist eine umfassende Beschreibung der Forschung, die in diesem Feld zum Bologna-Prozess stattfindet, eine erhebliche Herausforderung, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. In der folgenden Darstellung der Forschungsergebnisse werde ich mich daher auf die Institute, Arbeiten und thematischen Schwerpunkte beschränken, die m.E. einen Überblick über die wichtigsten Forschungstrends und –fragen erlauben. Die Frage lautet also: was ist der Kern der Hochschulforschung zum Bologna-Prozess? Zudem sollen vor allem solche Arbeiten einbezogen werden, die im Bereich der institutionalisierten Hochschulforschung stattfinden. Die m.E. wichtigsten Einrichtungen sind das WZ I/INCHER in Kassel, das CHE in Gütersloh, das Institut für Hochschulforschung Wittenberg (HoF) und die HochschulInformations-System GmbH Hannover (HIS). Als Repräsentant für die hochschuldidaktische Fraktion in diesem Forschungsfeld werden im Folgenden einige Arbeiten des „Hochschuldidaktischen Zentrums Dortmund“ (HDZ) erwähnt.
Evaluation reformrelevanter Aspekte Zu den wohl wichtigsten Arbeiten in der Hochschulforschung zählen die thematisch umfangreichen und von der öffentlichen Hand (Bundesministerium für Bildung und Forschung, BMBF und Deutscher Akademischer Austauschdienst, DAAD) geförderten empirischen Auftragsarbeiten, die eine allgemeine Situationsanalyse vornehmen. Bereits im Jahr 2002 führte das „Centre for Higher Education Policy Studies“ (CHEPS) gemeinsam mit dem CHE eine Studie durch, welche die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen evaluierte (Klemperer et al. 2002). Gegenstand der Untersuchung ist der rechtliche Rahmen für die Einführung von B/M, die Positionen wichtiger hochschulpolitischer Akteure3, die Erhebung quantitativer4 und qualitativer Daten5 der Ein-
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Kultusministerkonferenz (KMK), Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Wissenschaftsrat (WR) und Akkreditierungsrat (AR)
BOLOGNA-PROZESS ALS THEORETISCHE UND EMPIRISCHE HERAUSFORDERUNG
führung von Bachelor- und Masterstudiengängen, die Motive der Entscheidungsträger an den Hochschulen, die Art der Entscheidungsfindung an den Hochschulen, die allgemeine Bereitschaft zur Einführung von B/M („Reformklima“) sowie die sich auf Grundlage dieser Daten abzeichnenden Strukturentwicklung des Hochschulsystems auf der Grundlage von B/M. Die Studie zeichnet ein recht umfassendes und heterogenes Bild der Einführung von B/M an deutschen Hochschulen vier Jahre, nachdem dies durch die 5. Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) ermöglicht wurde. Interessant ist mit Blick auf den BolognaProzess, dass dieser hier nur am Rande zur Sprache kommt. Wie die Kernmotive der Hochschulakteure, die B/M einführen, zeigen, spielt hier vor allem die Mitte der 1990er Jahre begonnene Debatte zur „internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen“ die wesentliche Rolle. So kommt die Studie unter anderem zu dem Ergebnis, dass um 2001 herum „wachsende Mobilität der Studierenden“, „Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ und die „Attraktivität für ausländische Studierende“ die wichtigsten Motive für die Einführung von B/M an deutschen Hochschulen waren. Wie die Untersuchung von Krücken et al. (2005) nur drei Jahre später zeigt, wird sich dieses Bild bald ändern. Obwohl die Bologna-Erklärung bereits im Jahre 1999 unterzeichnet wurde, wird hier nach dem Bologna-Prozess als Motiv interessanterweise gar nicht erst gefragt. Neben den „Trends-Studien“, die im Auftrag der „European University Association“ (EUA)6 regelmäßig erstellt werden, sind die nationalen „Zwischenbilanzen“ zum Bologna-Prozess wichtige Bezugspunkte in der Forschung zum Bologna-Prozess. Anders als die Studie von Klemperer et al. (2002) verorten die Studien zum Stand der Einführung von B/M, die im Auftrag des BMBF 2004 (Schwarz-Hahn/Rehburg 2004) und 2005 (Alesi et al. 2005) vom Kasseler WZ I durchgeführt wurden, die Studienreform nun explizit im Rahmen des Bologna-Prozesses. In der Studien von Alesi et al. (2005), auf die wir uns hier exemplarisch beschränken wollen, wird der Bologna-Prozess zunächst rückblickend in die Reformdiskussionen der letzten 30 Jahre in Deutschland und insbesondere in die Debatten und Initiativen zur Internationalisierung, Deregulierung, Qualitätssicherung und Hochschulexpansion in den 1990er Jahren eingebettet. Anschließend wird die Rolle Deutschlands als Initia4
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Anzahl von B/M im Vergleich zu den herkömmlichen Studiengängen, Verteilung von B/M auf Fachrichtungen und Hochschulart, Dauer von B/M usw. Profil von B/M, konsekutiver vs. eigenständiger Studienaufbau, didaktische Veränderungen, Sprache, Studieninhalte, mit oder ohne ECTS usw. Zuletzt der Trends IV-Bericht (Reichert/Tauch 2005) 39
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tor des Bologna-Prozesses durch die Unterzeichnung der SorbonneErklärung 1998 gemeinsam mit Frankreich, Großbritannien und Italien hervorgehoben und die verschiedenen Gesetzesinitiativen und Beschlüsse von Bund und Ländern (KMK) beschrieben und analysiert. Nach einer quantitativen Übersicht über die Einführung von B/M und einer qualitativen Beschreibung des strukturellen Aufbaus der bis dato eingerichteten B/M-Studiengänge, werden die Soll- und Ist-Bestimmungen des Akkreditierungssystems und weiterer Steuerungsaspekte erläutert. Die daran anschließende detailreiche Analyse des Umsetzungsprozesses an den Hochschulen schließt Aussagen über das „Reformklima“ ebenso ein wie Ansprüche, Erwartungshaltungen und Erfahrungen der Hochschulakteure und der Arbeitgeber in Bezug auf Detailfragen zur Ausgestaltung der B/M-Studiengänge als auch zu Fragen der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung des Hochschulsystems. Schließlich werden unterschiedliche Daten über die Akzeptanz der neuen Studienabschlüsse auf dem Arbeitsmarkt zusammengetragen. Die in dieser Studie erzielten Ergebnisse, die lediglich beanspruchen, einen allgemeinen Entwicklungstrend wiederzugeben und oftmals keine handfesten Aussagen zulassen, werden dann in Beziehung zu allgemeinen Tendenzen in sechs Vergleichsländern gesetzt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diese Evaluationsberichte, die einen wichtigen Orientierungs- und Bezugspunkt der wissenschaftlichen und politischen Diskurse zum Bologna-Prozess darstellen, eine umfassende Fülle von Fragen bezüglich des BolognaProzesses stellen und beantworten, die auf sehr unterschiedlichen Niveaus liegen. Daran lässt sich ablesen, dass der Bologna-Prozess in der Hochschulforschung als ein thematisch sehr umfassendes Reformprogramm konzipiert wird, das mit anderen Reformentwicklungen wie beispielsweise die Frage nach Studiengebühren, allgemeinen Internationalisierungstrends an den Hochschulen, Veränderungen in der Hochschulsteuerung und anderen Themen oft in eine enge Verbindung gebracht werden. Methodisch und theoretisch verfolgt dieser Bereich der Hochschulforschung einen eher pragmatischen ad hoc-Ansatz. Schließlich fällt auf, dass das allgemeine Analyseraster sich trotz der Tatsache, dass der Bologna-Prozess als eine europäische und nicht nationale Reformbewegung konzipiert wird, an der klassischen nationalstaatlichen Institutionenordnung von Bund, Ländern, Hochschulen und Verbänden, europäischen Partnerländern und der europäischen Ebene orientiert.
Auftragsforschung und Hochschulberatung Eine ähnliche umfassende Perspektive nimmt die Hochschulforschung der HIS GmbH ein. Neben empirischen Untersuchungen zu relevanten 40
BOLOGNA-PROZESS ALS THEORETISCHE UND EMPIRISCHE HERAUSFORDERUNG
Einzelfragen des Bologna-Prozesses arbeitet die HIS GmbH auch in der Hochschulberatung. Einen zentralen Stellenwert im Bereich der Hochschulforschung haben die Arbeiten der HIS GmbH in der Begleitforschung zum Reformprozess. Dazu zählen Untersuchungen zur Akzeptanz der und Erwartungen an die B/M-Studiengänge unter Studierenden (Heine 2005 und 1999), Fragen nach Mobilität und Finanzierbarkeit (Lang 2005), Analysen zur „Sozialen Dimension“ in Europa (Schnitzer 2003), internationale Vergleiche zur Studiendauer (Schwarzenberger 2005) sowie Analysen zu Qualifikationsniveau (Minks/Briedis 2005a) und Beschäftigungschancen (Minks/Briedis 2005b) von Bachelorabsolventen. Im Bereich der Hochschulberatung werden detailreiche Analysen zu Organisation, Ressourcenplanung, Studierenden- und Prüfungsverwaltung und Raumplanung erstellt. Insbesondere wird fächerspezifisch analysiert, welche konkreten umstellungsverlaufspraktischen, studierenden- und prüfungsverwaltungstechnischen Probleme und Kapazitäts- und Flächenanforderungen mit der Umstellung verbunden sind (vgl. Moog/Vogel 2006). Im Bereich der Hochschulberatung ist neben dem CHE7 auch das HoF Wittenberg tätig. So begleitet Martin Winter mit ständig aktualisierten Handreichungen und Analysen den Umstellungsprozess auf B/M an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durch wissenschaftliche Beratung (vgl. Winter 2005a und 2005b). Ebenfalls typisch für die wissenschaftlich fundierte Begleitforschung ist die Evaluation von Modellprojekten (vgl. Jahn 2001b) und Analysen zu Akteurskonstellationen, Interessenlagen und sich abzeichnenden strukturellen Entwicklungen im Zuge der B/M-Diskussion am Vorabend der Bologna-Prozesses (Jahn 2001a). Mit der Evaluationsforschung teilt die Hochschulberatung den methodischen ad-hoc-Ansatz, wohingegen sie sich von dieser durch ihre Konzentration auf Einzelaspekte und die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen für diagnostizierte Umsetzungsprobleme unterscheidet.
Bildungstheorie und Hochschuldidaktik Eher am Rand der Begleitforschung sind bildungstheoretische Arbeiten zu B/M einzuordnen (vgl. Pasternack 2001a, 2001b, 2006b). Ausgehend von den Anforderungen eines modernisierungstheoretisch informierten Begriffs der Wissensgesellschaft entwirft Pasternack ein generalisiertes Qualifikationsprofil von Hochschulbildung, das den Referenzrahmen für
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Im Bereich der Hochschulberatung konzentriert sich das CHE vor allem auf steuerungspolitische Aspekte. In diesem Rahmen werden dann die Bologna-Reformen verortet. 41
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die heterogenen Motive der Reformakteure für die Einführung von B/M abgibt. Die mit den Motiven verbundenen Erwartungshaltungen an B/M werden dann hinsichtlich ihrer komplexitären Angemessenheit untersucht. Pasternack greift hierfür steuerungstheoretische Überlegungen aus Luhmanns Systemtheorie auf und entwickelt schließlich einen eigenen Vorschlag, wie unter Berücksichtigung der systemspezifischen Eigenheiten der Hochschule mit der Einführung von B/M spezifischen (wissens)gesellschaftlichen Anforderungen durch eine Reform der Studiengänge begegnet werden kann. Pasternacks Arbeit sticht nicht nur durch ihre innovative Verbindung sozialwissenschaftlicher Theorien mit hochschulpolitischen Fragestellungen und Problemen hervor, sondern ist aufgrund des argumentativen Anspruchs hinsichtlich der Konzeptionierung von B/M ein typisches Beispiel für das eher Untypische in der Bolognaforschung. Als nicht weniger theoretisch informiert, aber eher an technischen Vorgaben orientiert, kann die Arbeit des HDZ beschrieben werden. Ausgehend von den neuen Anforderungen an B/M-Studiengänge werden am HDZ aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Hochschuldidaktik, Soziologie, Erziehungswissenschaft und Psychologie gestufte und modularisierte Studiengänge in der Lehrerausbildung entworfen (vgl. Ahrens-Vosege et al. 2006, Auferkorte-Michaelis/Ruschin 2006). Dies ist insofern ein wichtiger Teil der Hochschulforschung zum Bologna-Prozess, weil die mit der Bolognareform verbundenen Maßnahmen eine enorme Interpretationsarbeit für die Hochschulforschung nach sich ziehen, wo gerade die Hochschuldidaktik interessante Angebote macht.
Hermeneutik der „Forderungen“ Die wohl systematischste und thematisch umfangreichste Forschung über den Hochschulbereich insgesamt betreibt das WZ I/INCHER Kassel. Neben Fragen nach Hochschule und Beruf, Studiengebühren und Studienabbruch, Evaluation und Qualität sowie Internationalisierung und Hochschulreform nimmt der Bologna-Prozess in der Hochschulforschung am WZ I/INCHER sowohl eine eigenständige als auch eine übergreifende Rolle ein (vgl. Schwarz/Teichler 2003). So werden beispielsweise Fragen nach Evaluation und Qualität, die in der Hochschulforschung ein eigenständiges, in der Regel im Rahmen der Hochschulsteuerung angesiedeltes Forschungsfeld bezeichnen, nunmehr zunehmend an Fragen zur Forschung über den Bologna-Prozess angeknüpft (vgl. Mittag et al. 2003). Im Folgenden soll sich auch hier auf die Arbeiten beschränkt werden, die explizit den Bologna-Prozess zum Gegenstand haben. 42
BOLOGNA-PROZESS ALS THEORETISCHE UND EMPIRISCHE HERAUSFORDERUNG
Typisch für die Forschung zum Bologna-Prozess am WZ I/INCHER ist neben der Evaluation und Analyse des Umsetzungsstandes (Schwarz/Rehburg 2003, 2004, Alesi et al. 2005, Kehm/Teichler 2006) ein Forschungsansatz, der als eine Hermeneutik der „Forderungen“ bezeichnen werden kann. Bei der Hermeneutik der „Forderungen“ geht es darum, die als relevant erachteten Gesetzestexte, Beschlüsse der KMK und europäischen Deklarationen8 nach mehr oder weniger klaren Forderungen abzusuchen, diese Forderungen zu interpretieren und daraus ein Gesamtbild der durchzuführenden Reformen zu entwerfen, dies auf seine innere Kohärenz hin auszuwerten und gegebenenfalls mit dem Umsetzungstand abzugleichen (vgl. v.a. Teichler 2005a, 2005b, 2005c, Kehm/Teichler 2006, Schwarz/Rehburg 2003). So zitiert Teichler beispielsweise folgenden Auszug aus der Bologna-Erklärung: „The degree awarded after the first cycle shall also be relevant to the European labour market as an appropriate level of qualification“ und schließt daraus: „Dies ist zweifellos eine Aufforderung an die Universitäten: Sie sollen Bachelor-Studiengänge nicht als ein Grundstudium gestalten, dass alle Studierenden zu einem Master-Studium drängt [...]“ (2005b: 315). An anderer Stelle (Teichler 2005b: 320), wo es um die Frage der „europäischen Konvergenz“ geht, wird eine ganze Reihe von Dokumenten herangezogen, um eine mehr oder weiniger klare Forderung für die Umsetzung der Bologna-Reformen daraus abzuleiten. Abgesehen davon, ob die unterschiedlichen nationalen und internationalen Dokumente des Bologna-Prozesses tatsächlich solche klaren Forderungen erheben, bleibt auch fraglich, ob aus diesen „Forderungen“ klare Handlungsanweisungen abgeleitet werden können, wie die Evaluationen der Ergebnisse der Umsetzung durchgängig zeigen (vgl. kurz und bündig Schwarz/Rehburg 2003: 151). Interessant an diesem Forschungsfeld ist jedoch die Tatsache, dass die Frage, was der Bologna-Prozess für das Hochschulsystem, den Arbeitsmarkt, die Studienstruktur und andere Bereiche genau bedeutet, eine zentrales Problem in der Hochschulforschung ist. Hier geht es nicht wie im Falle der Bildungstheorie um die Suche nach adäquaten Problemlösungsstrategien, sondern vielmehr um die Frage, wie die Problemlösungsstrategien des Bologna-Prozesses zu interpretieren sind und welche Effekte für Hochschule und Gesellschaft zu erwarten sind. Im Forschungsfeld der Hermeneutik der „Forderungen“ wird ein die gesamte Forschung zum Bologna-Prozess umfassendes Problem in zugespitzter Deutlichkeit artikuliert. Der Bologna-Prozess verlangt offensichtlich nach intensiver Interpretation. Dies betrifft nicht nur den Stand 8
Wie z.B. die Bologna-Erklärung oder die Kommunikees der Nachfolgekonferenzen in Prag, Berlin und Bergen. 43
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
der Umsetzung, die Motive der Reformakteure, die Erwartungshaltungen der Studierenden und Arbeitgeber oder die sich abzeichnenden Konturen eines „post-humboldtianischen“ Hochschulsystems im Zuge der Bologna-Reformen. Dies betrifft offensichtlich auch die Frage, was Bologna überhaupt von den Akteuren in Hochschule und Politik verlangt.
Schlussfolgerungen Nicht nur die Hochschulforschung im Allgemeinen, sondern auch die Hochschulforschung zum Bologna-Prozess artikuliert also ein multidimensionales und interdisziplinäres Forschungsfeld. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass in der Perspektive der Hochschulforschung der Bologna-Prozess selbst einen multidimensionalen Charakter hat. So lässt sich erstens kein eindeutiges zeitliches Anfangsdatum ausmachen, begannen die ersten Reformen in Deutschland doch schon vor der Unterzeichnung der Bologna- und Sorbonne-Erklärung. Problematisch ist in der Hochschulforschung auch, wer zuerst da war: der „Inhalt“ (B/M, ECTS etc.) oder die „Form“ (Bologna) der Reform (vgl. Witte 2006b)? Erschwert wird eine genaue Datierung schließlich dadurch, dass der Bologna-Prozess mit anderen Reformprojekten wie solchen zur Qualitätssicherung oder Reformen im Bereich der Hochschulsteuerung in enge Verbindung gebracht wird. Nicht zuletzt hatten einige Bologna-Länder bereits vor dem Bologna-Prozess Bologna-konforme Strukturen eingeführt. Zweitens ist der Reformprozess gegenwärtig nicht abgeschlossen, sodass auch kein eindeutiges Ende und demzufolge auch kein eindeutiger „Stand der Umsetzung“ definiert werden kann. Wie die Forschung zum Bologna-Prozess zeigt, sind die Wirkungen, die der BolognaProzess auf die Form des Hochschulsystems als Ganzes haben wird, noch nicht im Detail absehbar. Handelt es lediglich um eine Studienstrukturreform oder gar um eine Hochschulstrukturreform? Viertens findet der Bologna-Prozess auf heterogenen Ebenen statt9, was eine deutliche Markierung „des“ Bologna-Prozesses erschwert. Auch ist fünftens nicht klar geregelt, wer welche Kompetenzen hat, sodass unklar bleibt, wer eigentlich das zentrale Trägersubjekt des Bologna-Prozesses (wenn von einem solchen Subjekt überhaupt die Rede sein kann) ist: die Hochschulen, die Bildungspolitiker, die europäische Kommission, die „Stakeholder“, die einzelnen Mitgliedstaaten oder gar die Wirtschaft als Abnehmer der Bachelorabsolventen?
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Internationale Ebene, Nationale Ebene, Regionale Ebene, Hochschulebene, Arbeitsmarkt, Hochschulzugang usw.
BOLOGNA-PROZESS ALS THEORETISCHE UND EMPIRISCHE HERAUSFORDERUNG
Der Bologna-Prozess als Internationalisierungsphänomen Wie die Hochschulforschung zum Bologna-Prozess zeigt, ist mit dem Bologna-Prozess eine Problematik umrissen, die aus unterschiedlichen Gründen Aufmerksamkeit verdient. Aus politikwissenschaftlicher Sicht bezeichnet der Bologna-Prozess eine bisher unkonventionelle Form der internationalen Politikvernetzung (vgl. Walter 2006, Nagel 2006). Zudem scheint es in der Debatte unklar zu sein, welche Rolle die europäische Kommission in diesem Prozess spielt: ist der Bologna-Prozess eine Reforminitiative „mit“ oder „gegen“ das „offizielle Europa“? Nicht zuletzt gehen vom Bologna-Prozess enorme Reformimpulse für die unterschiedlichen nationalen Hochschulsysteme aus (vgl. dazu Witte 2006a). Dies wirft die Frage auf, wie das Verhältnis von Staat und Hochschule im Bologna-Prozess konzipiert werden muss. So konstatiert Nagel (2006), dass der völkerrechtlich nicht fixierte internationale Rahmen des Bologna-Prozesses die Rolle und Einflussmöglichkeiten der korporativen Akteure umdefiniert. Das politisch-administrative System der Hochschulpolitik wird in der Hochschulforschung üblicherweise eingeteilt in Hochschulebene, Landesebene, Bundesebene und Europaebene (vgl. Heymann/Karcher 1976, Webler 1993, Braband 2005). Angesichts des rechtlich unverbindlichen Charakters der Bologna-Erklärung und der Folgeerklärungen, des dezentralen Charakters der Umsetzung der Bologna-Zielsetzungen sowie der zentralen Rolle der KMK (und nicht der Länderparlamente und Parteien) bei der Interpretation der Reformvorhaben stellt sich die Frage, welche Ergebnisse wir erhalten, wenn wir das kulturföderalistische, an den nationalstaatlichen Rahmen gebundene Interpretationsschema der Untersuchung zu Grunde legen. Wie kann das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft angesichts von Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung neu konzipiert werden? Wie wird die Rolle der Akteure neu definiert?
Der Bologna-Prozess im Kontext von Internationalisierung, Globalisierung und Europäisierung Dieser Frage geht die organisationssoziologisch informierte Globalisierungstheorie nach (Hahn 2004b, Huisman/van der Wende 2004a). Hiernach wird der Bologna-Prozess im Rahmen umfassender Globalisierungs-, Internationalisierungs- und Europäisierungstrends verortet, die das Handeln von Regierungen und Hochschulen beeinflussen. Mit dem Begriffstrio „Internationalisierung“, „Globalisierung“, „Europäisierung“ werden verschiedene bildungspolitische Kontextfaktoren (internationaler Wettbewerb, veränderte Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeits45
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
markt, Konkurrenz um international mobile Studierende und Wissenschaftler), nationale, internationale und organisationsbezogene „policyStrategien“ (neue staatliche Steuerungsmodelle, internationale Abkommen, Europäische Initiativen, universitäre Marketingstrategien) und sozio-historische Trends (Europäischer Hochschulraum, internationale Mobilität von wissenschaftlichem Personal, Studierenden und Wissensbeständen) umrissen (van der Wende 2004a, vgl. überblickend Teichler 2004). In dem multidimensionalen Feld dieses Modells überschneiden sich unterschiedliche Aspekte. So bezeichnet der Begriff Internationalisierung insbesondere den grenzüberschreitenden Aspekt, Globalisierung dagegen den Grenzen nivellierenden und ökonomischen Aspekt und Europäisierung schließlich den regionalisierenden und Konvergenz schaffenden Aspekt von Hochschulpolitik, Hochschulstruktur und Hochschulstrategie in einer transnationalen Konstellation. Wie van der Wende (2004a) kritisch bemerkt, lassen sich einzelne empirische Phänomene oftmals mehreren, sich mitunter widersprechenden Aspekten gleichzeitig zuordnen, was die Brauchbarkeit dieses Begriffstrios fraglich erscheinen lässt; andererseits ist gerade mit dem Bologna-Prozesses ein Phänomen zu beobachten, wo bestimmte politische, hochschulsystemische und ökonomische Aspekte ineinander übergehen, die nicht länger mit einer auf den Nationalstaat bezogenen Begrifflichkeit erfasst werden können und demzufolge eine transnationale Perspektive erfordern. In diesem Sinne bezeichnet dieses Begriffstrio eher ein Arbeits- und Forschungsprogramm als ein kohärentes Analyseinstrument in der europäischen Hochschulforschung.10 So betont van der Wende, dass „[i]n the interaction between the institution and its environment, the concepts of Europeanisation, internationalisation and globalisation are not only used to indicate the changes in this environment (in terms of general trends and resulting challenges), but also the institutional responses to them. In terms of contextual factors, they may be used to identify general trends (e.g. the Europeanisation of society, or the globalisation of the economy) as well as for specific policies (European policies for higher education, or national policies for internationalisation of higher education)” (2004a: 10/11). Der reformimpulsive Charakter des Bologna-Prozesses ist aus dieser Perspektive das Resultat der kontingenten Interaktion heterogener, nur graduell institutionalisierter Ebenen und demnach Teil eines sozio-historischen Trends, der die Hochschulen zwingt, eigenständige Internationalisierungsstrategien zu entwerfen (vgl. Hahn 2004b). So findet der Bologna-Prozess in dieser Perspektive auf mindestens zwei Ebenen statt: einerseits auf der Ebene 10 Siehe exemplarisch Huisman/van der Wende 2004b und 2005 46
BOLOGNA-PROZESS ALS THEORETISCHE UND EMPIRISCHE HERAUSFORDERUNG
der Konzeptentwicklung im Rahmen der Bologna-Erklärung und den Nachfolgeerklärungen und andererseits auf der Ebene der Umsetzung der Konzepte in den einzelnen Staaten und deren Hochschulen. Beide Ebene sind dabei aufeinander angewiesen. Würde der Internationalisierungs-, Globalisierungs- und Europäisierungsdruck die Nationalstaaten und ihre Hochschulen nicht erreichen, dann würde auch der Prozess der Entwicklungen rechtlich unverbindlicher Reformkonzepte ins Stocken geraten. Umgekehrt würde ohne die Bologna-Erklärung und die Nachfolgeerklärungen jener Druck des Kontextes fehlen, der die europäischen Nationalstaaten und Hochschulen zu diversen Internationalisierungsstrategien zwingt.
Die historische Genese des Internationalisierungs-, Globalisierungs- und Europäisierungsprozesses Dieser allgemeine Internationalisierungs-, Globalisierungs- und Europäisierungsprozess, der den Kontext regionaler und nationaler Hochschulpolitik zunehmend bestimmt, geht einher mit einem bildungspolitischen Agendawechsel auf EU-Ebene. Bis in die 1980er Jahre hinein bestimmte das Konzept vom „Europa der Bürger“ die bildungspolitische Agenda der EU. Im Zuge dieser sozial- und kulturpolitischen Agenda wurde das ERASMUS-Programm mit dem Ziel initiiert, neben der ökonomischen auch die kulturelle Integration Europas voranzubringen (Eckhardt 2005: 16-28). Obwohl das Finanzvolumen für die EU-Bildungs- und Forschungspolitik im Vergleich zu den nationalstaatlichen Budgets relativ niedrig angesetzt war, eröffnete es der EU-Kommission doch Zugangswege in die nationalstaatlichen Hochschulbereiche und ermöglichte so eine eigenständige EU-policy-Strategie (vgl. van der Wende/Huisman 2004b, Eckhardt 2005). In den 1990er Jahren intensivierte die EU trotz des in Art. 150 EGV festgeschriebenen Harmonisierungsverbots im Bildungsbereich ihre bildungspolitischen Aktivitäten. Da EU-Direktiven als Steuerungsinstrument nicht in Frage kamen, konnte die Kommission vor allem durch Projekt- und Programmfinanzierung sowie durch die so genannte „open method of co-ordination“ (van der Wende 2003: 16), wo Empfehlungen, Kongresse und Arbeitspapiere, Agendasetting (Lissabon-Prozess), Standardformulierungen, Evaluationen, best-practiceVerfahren und ähnliche Instrumente zur Anwendung kommen, Einfluss gewinnen. Da das Verfahren der „Offenen Koordination“ ohne eine mit Weisungsbefugnis ausgestattete Instanz operiert, lässt es den Nationalstaaten schon vor der Umsetzung genügend Raum für ihre nationalen Interessen. Nicht zuletzt etabliert sich in solchen Verfahren schnell ein Prestigekampf auf internationaler Ebene um die „schnellsten“ und „besten“ Mitglieder bei der Umsetzung der verabredeten Strategien. 47
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Parallel zu dieser Entwicklung zeichnet sich in den 1990er Jahren auf europäischer Ebene ein Agendawechsel in der Bildungspolitik ab (vgl. Eckhardt 2005: 32-35). Als Orientierungspunkt wird das „Europa der Bürger“ zunehmend vom Konzept des „Employability“ ersetzt (vgl. Huisman/van der Wende 2004a). Dieser Agendawechsel mündet schließlich im Lissabon-Prozess, der im Jahr 2000 initiiert wurde (vgl. van der Wende 2003). Demnach soll die bisherige ökonomische Entwicklungsstrategie Europas um eine bildungspolitische Dimension ergänzt werden. Wie Paul Kellermann (2006) in einer vergleichenden Ideologieanalyse der Sorbonne-Erklärung und der Bologna-Erklärung zeigt, wird dieser Agendawechsel bereits in den ersten Stufen des BolognaProzesses artikuliert, indem eine idealistischer Bildungsbegriff als eigenständiges Integrationsziel vom Employability-Konzept, das sich eher auf den Ausbildungscharakter von Bildung bezieht, abgelöst wird. Die organisationssoziologische Globalisierungstheorie geht davon aus, dass die Entstehung eines globalen Bildungsmarktes ab Mitte der 1990er Jahre und die Verschärfung des Wettbewerbs in einer globalisierten Ökonomie (van der Wende 2003: 15) die einzelnen Nationalstaaten und Hochschulen beeinflusste und für internationale Entwicklungsprozesse und Debatten sensibilisierte. Dies führte dazu, dass sowohl die einzelnen Nationalstaaten als auch die Hochschulen zu Reaktionen animiert wurden, um dem Internationalisierungs-, Globalisierungs- und Europäisierungsdruck zu begegnen. In diesem Zusammenhang beobachtet Hahn (2004a) in Deutschland ein „globalisation mainstreaming“, „europeanisation mainstreaming“ und „internationalisation mainstreaming“. Damit bezeichnet Hahn die zunehmende Dominanz ökonomischen Wettbewerbs, europäischer Debatten und internationaler Entwicklungen als Orientierungspunkte für die Formulierung nationalstaatlicher policyStrategien auf Regierungs- und Hochschulebene in den 1990er Jahren. So konnte der Bologna-Prozess unter dem Eindruck des bildungspolitischen Agendawechsels, der zunehmenden nationalstaatlichen Sensibilität für internationale Entwicklungen, für Diskussionen auf transnationaler Ebene (OECD, EU, Weltbank etc.) und für einen globalisierten Wettbewerb, den Einflüssen der EU durch Programm- und Projektförderung sowie der offenen Koordinierungsmethode als Steuerungsverfahren in der Bildungspolitik erfolgreich Einfluss auf die Reformpolitiken der einzelnen Staaten nehmen, so die These (siehe vor allem Huisman/van der Wende 2004a).
Das Problem transnationaler Identitäten Da die völkerrechtlich fixierten europäischen Kompetenzen in der Hochschulpolitik die nationalstaatlichen formalen Kompetenzgefüge 48
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und institutionalisierten Entscheidungssysteme vollständig intakt lassen, transnationale Entwicklungen, Organisationen und Gremien nichtsdestotrotz an Einfluss gewinnen, bleibt zu fragen, wie sich die nationalstaatlichen hochschulpolitischen Diskurse unter diesem internationalen Einfluss bzw. Druck verändern. Ist das Verhältnis zwischen der transnationalen und der nationalen bzw. lokalen Ebene als ein „Realgegensatz“ zweier präkonstituierter Ebenen zu verstehen oder als ein „Antagonismus“, wie er von Laclau/Mouffe definiert wird (vgl. Laclau/Mouffe 2001)? Während der Realgegensatz von zwei Ebenen ausgeht, die wie Organisation „Hochschule“ bzw. „Staat“ und die Kontexte „Globalisierung“, „Internationalisierung“ und „Europäisierung“ bereits vor ihrer interaktiven Wechselbeziehung voll konstituiert sind, werden diese beiden Ebenen im Falle des Antagonismus erst durch den Kontakt hervorgebracht. In beiden Fällen stellt sich jedoch die Frage, wie sich die Anatomie der einen Ebene durch den Einfluss der anderen verändert. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, wenn im Namen von Internationalisierung usw. B/M-Studiengänge eingeführt werden? Wie zeigt sich dieser transnationale Einfluss im nationalstaatlichen Kompetenzgefüge? Was bedeutet dies also für das Selbstverständnis der Akteure von Bund, Ländern und Hochschulen sowie für die Rolle der sozialpartnerschaftlichen Verbände bei der Formulierung von policy-Strategien, wenn spezifische Andere wie „australische Bildungskonkurrenten“, „europäische Studenten“, „amerikanische Eliteuniversitäten“ oder „Bologna“ auf den Plan treten, deren Interessen und Ziele sich nicht länger im Rahmen nationalstaatlicher Konfliktkonstellationen verorten lassen? Wie wird „Europa“ im nationalstaatlichen Rahmen diskursiv positioniert, wenn infolge der offenen Koordinierungsmethode kein fixier- und benennbarer Anderer wie im Falle des „Memorandums“ von 1993 die EU-Kommission auftaucht? Kurz: Wie verändert sich die Identität der politischen Akteure, wenn ein transnationales Element auftaucht, das, von „außen“ oder „oben“ die politischen Standpunkte und Strategien der Akteure beeinflusst? Da die organisationssoziologische Globalisierungstheorie eine Interaktion präkonstituierter Elemente („Hochschule/Staat“ vs. „Kontext“) annimmt, kann der Einfluss des Kontextes auf die Organisation nur um den Preis der Aufhebung der gesellschaftstheoretischen Axiomatik gezeigt werden. Denn angenommen, die Organisation verändert sich durch die Einflüsse des Kontextes, muss dann nicht die Dualität von Organisation vs. Kontext und damit auch die Organisation und der Kontext selbst für einen kurzen Moment suspendiert werden, damit die Transformation vollzogen werden kann? 49
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Der akteurszentrierte Institutionalismus und die Gesellschaft in der Globalisierung Ähnlich wie die organisationssoziologische Globalisierungstheorie geht auch der akteurszentrierte Institutionalismus von einer Dualität zwischen Akteur und Institution aus. Anders als jene betont dieser aber die Rolle des Akteurs. Ausgehend von Norths Theorie institutionellen Wandels und Mayntz’/Scharpfs akteurszentriertem Institutionalismus entwirft Witte einen Theorierahmen für die Analyse nationalen Wandels von policy-Strategien (policy change) im Kontext internationaler Entwicklungen (vgl. Witte 2004, 2006a). Die zentralen Theoriebausteine bestehen aus formellen und informellen „institutionellen Regularien“ einerseits und „Akteuren“ mit spezifischen Handlungsfähigkeiten, Wahrnehmungsmustern und Präferenzen, die sich in spezifischen Akteurskonstellationen befinden und unterschiedliche Interaktionsformen ausbilden, andererseits. In der Analyse wird der soziale Raum zunächst in einen europäischen und einen nationalen Bereich eingeteilt, wobei letzterer noch einmal in eine institutionelle und eine Akteursebene, die wiederum in Präferenzen, Wahrnehmungsmuster und Handlungsmöglichkeiten gesplittet werden muss, untergliedert wird. Diesen unterschiedlichen Ebenen werden die verschiedenen Dokumente zugeordnet und inhaltsanalytisch ausgewertet. Um eine mögliche Veränderung in der politischen Programmatik (policy) feststellen zu können, wird dieses Verfahren für den Zeitraum 1998 und 2004 durchgeführt und die Untersuchungsergebnisse miteinander verglichen. Für den deutschen Hochschulbereich konstatiert Witte zunächst „highly persistent informal and formal constraints“ (Witte 2006a: 524) im deutschen institutionellen Gefüge und eine geringe Handlungsfähigkeit der Akteure im Kulturföderalismus. Trotzdem konnte, so Witte, im Falle Deutschlands im Untersuchungszeitraum 1998 bis 2004 ein Politikwechsel im Hochschulbereich stattfinden, weil erstens auf der Akteursseite eine starke Präferenz für institutionellen Wandel vorhanden war, und weil zweitens der internationale Kontext die Wahrnehmungsmuster der Akteure stark beeinflusst hat. Damit trägt Wittes Analyse der transnationalen Dimension des Bologna-Prozesses Rechnung. Ein Bereich der internationalen Entwicklungsprozesse und Debatten steht einem davon durch eine klare Linie abgegrenzten nationalstaatlichen Raum bestehend aus Institutionen, Akteuren und Akteurskonstellationen gegenüber, der sich dem europäischen Raum über die Wahrnehmungsseite der Akteure eröffnet. Damit operiert Wittes Modell aber mit einem Gesellschaftsbegriff, der soziale Prozesse und Konfigurationen auf einen nationalstaatlichen Raum fokussiert, der nach dem Bild eines „Containers“ (Beck 1998) entworfen ist, wobei die Kopplung der nationalen mit der internationalen Ebene 50
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ausgerechnet über einen starken Akteur bewerkstelligt wird. Internationale Entwicklungen konnten im Falle Deutschlands nationale institutionelle Gefüge und Akteurskonstellationen nur beeinflussen, wenn sie über den Wahrnehmungskanal der Akteure in das wechselseitigkonstitutive Gefüge von (nationalstaatlicher) Institution und (nationalstaatlichem) Akteur eingedrungen sind, so Witte. Aber gibt nicht gerade dieser starke Akteursbegriff Anlass dazu, die Reichweite dieses Institutionen-Akteur-Modells kritisch zu hinterfragen? Was spricht dafür, dass ausgerechnet in einem durch starke transnationale Tendenzen charakterisierten Prozess Akteure und nicht Strukturen eine derart impulsive Rolle übernehmen können? Setzt Wittes Modell nicht eine institutionelle Realität voraus, die durch die Untersuchung nur retrospektiv bestätigt wird? Nicht zuletzt wirft Wittes Modell die Frage nach der Art der Grenze zwischen der europäischen und der nationalen Ebene auf. Wie Saarinens (2005) „Critical Discourse Analysis“ über den Wandel der Bedeutung des Wortes „Qualität“ im Bologna-Prozess und in unterschiedlichen nationalen und regionalen Kontexten zeigt, wird die Grenze zwischen dem Innen (z.B. nationalstaatliches Hochschulsystem, die hochschulpolitischen Diskurse etc.) und dem Außen (z.B. die Bologna-Erklärung, der Lissabon-Prozess etc.) in transnationalen Diskursformationen zunehmend unklar. Auf welcher Ebene analysieren wir den Gültigkeitsanspruch der Bologna-Erklärung? In welchem Zusammenhang steht der Bologna-Prozess auf internationaler Ebene mit den Bologna-Prozessen auf den nationalen Ebenen und in den Hochschulen? Zwar kann Witte die Beziehung zwischen den traditionellen nationalstaatlichen Akteuren einerseits und der internationalen Dimension andererseits herstellen. Dies gelingt aber nur um den Preis eines rigiden Grenz- und eines starken Akteurbegriffs. Betrachten wir den Bologna-Prozess jedoch als eine transnationale Erscheinung, dann scheint sowohl der starke nationalstaatliche Akteur als auch die rigide Grenze zwischen der nationalen und internationalen Ebene in einer transnationalen Konfiguration problematisch.
Individuum und Gesellschaft im Bologna-Prozess Scharpfs Theorie der Politikverflechtung, aber auch die daran anschließende Theorie des Akteurszentrierten Institutionalismus, die den Kern von Wittes Modell bildet, beziehen sich auf Diskurse mit hohem Institutionalisierungsgrad (vgl. Scharpf 1978, 2000). Ein hoher rechtlichen Institutionalisierungsgrad ist aber gerade typisch für nationalstaatliche Diskursformationen. Auch Scharpfs Analysen zu europäischen Verhandlungssystemen konzentrieren sich vor allem auf die rechtlich fixierten Institutionen (vgl. Scharpf 1994). Der Bologna-Diskurs ist jedoch gera51
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de durch einen schwachen rechtlichen Institutionalisierungsgrad charakterisiert. Damit erscheint ein auf den nationalstaatlichen Rahmen begrenzter Gesellschaftsbegriff problematisch. Wie oben gezeigt wurde, ist auch die Identität der Akteure des Bologna-Diskurses nicht länger auf einen nationalstaatlichen Rahmen reduzierbar, sondern erhält eine transnationale Dimension. Das Feld des Bologna-Prozesses entfaltet sich nicht länger entlang des nationalstaatlichen institutionalisierten Entscheidungssystems, sondern in einer intransparenten Umwelt, wo sich nationale, europäische und regionale Dynamiken überschneiden. Dies lässt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht unberührt. Gerade für die Interpretation des Bologna-Prozesses können subjekt- und gesellschaftstheoretische Entwürfe aus der poststrukturalistischen Soziologie (Stäheli 2000) neue Möglichkeiten eröffnen. In der poststrukturalistischen Soziologie wird sowohl das Subjekt als auch die Gesellschaft dezentriert. Das Individuum ist nicht länger mit den Zwängen einer integrierten Gesellschaftsstruktur konfrontiert. Vielmehr interessiert sich der Poststrukturalismus dafür, durch welche hegemonialen Mechanismen spezifische Effekte von Subjektivität hervorgebracht werden. Das diskursive, „gespaltene“ Subjekt (Zizek 1989, 2001a) und die Gesellschaft als unabgeschlossene, dezentrierte Totalität (Laclau 1990b) müssen durch kontingente Akte „hegemonialer Artikulation“ (Laclau/Mouffe 2001) immer wieder von Neuem hervorgebracht werden, wobei auf beiden Seiten ein Rest übrig bleibt, der nicht integriert werden kann. Demnach sind weder der institutionelle Rahmen noch die Akteure vor den diskursiven und hegemonialen Prozessen konstituiert. Vielmehr sind beide das stets unvollständige Produkt diskursiv-hegemonialer Formationsprozesse. Somit richtet sich das Forschungsinteresse dieser Arbeit weder auf die Interessen und Absichten der Akteure noch auf die Form der institutionellen Struktur, sondern auf die Regeln und Mechanismen der Formation diskursiver Subjektivität durch eine spezifische hegemoniale Konstellation.
Texte als Politikinstrumente Konvergenz, Synergie und „ungelöste Probleme“ Eine Möglichkeit, sich dem dynamischen Charakter des BolognaProzesses zu nähern, besteht darin, zu fragen, welche Rolle er im Kontext unterschiedlicher nationaler Fragen und Probleme einnimmt. So analysiert Heß die Bologna-Reformen als eine Art „Schmelztiegel“ für ungelöste nationale Probleme und als Antwort auf neue bildungspolitische Herausforderungen. Heß identifiziert insgesamt fünf „Wirkungskräfte“, „die gleichsam ein Magnetfeld aufgebaut haben, in dessen 52
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Linien der Prozess [der Bologna-Prozess, JM] sich formieren konnte“ (2003: 275). Zunächst habe Wissenschaft per se einen internationalen Charakter; es gebe keine rein nationale Wissenschaft. Die immanente Internationalität von Wissenschaft konnte sich, so Heß, durch die EUForschungs- und Mobilitätsprogramme im Laufe der 1990er Jahre weiter entfalten. Die Diskussion der 1990er Jahre in Deutschland über zu lange Studienzeiten, hohe Abbrecherquoten und Orientierungsprobleme im und nach dem Studium sowie die Debatte über die „mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Studienstandortes“ bezeichnet Heß als den zweiten Wirkungsmechanismus. Zwar gab es in den 1990er Jahren Reformansätze, jedoch ohne „durchgehende Reformsystematik und gleich gar kein durchgehender Reformerfolg“ (2003: 279). Drittens identifiziert Heß eine konvergente Entwicklung in Wettbewerbsfragen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene. Die Debatte über „brain drain“/„brain gain“ und die Attraktivität der deutschen Hochschulen für Studierende aus der pazifisch-asiatischen Region konvergieren mit nationalen Reforminitiativen im Bereich der (wettbewerbsorientierten) Hochschulsteuerung und dem sich abzeichnenden „Europäischen Hochschul- und Forschungsraum“, wo die einzelnen Hochschulen untereinander und der ganze Raum global in Konkurrenz zu anderen Räumen tritt. Viertens konvergiert die Qualitätssicherungsdebatte in Deutschland mit den sich abzeichnenden Qualitätssicherungsverfahren im Rahmen des Bologna-Prozesses.11 Schließlich steht die Hochschulbildung zunehmend unter einem internationalen Ökonomisierungsdruck im Rahmen des GATS12. Alle fünf Wirkungsmechanismen, so Heß, konvergieren im Bologna-Prozess, wodurch sich gewisse Synergieeffekte einstellen, da heterogene Entwicklungen, Problem- und Herausforderungskonstruktionen unter dem Dach einer europäischen Hochschulreform behandelt werden können. Das Synergie-Modell fixiert den Bologna-Prozess auf Entwicklungen, die insbesondere den nationalstaatlichen Rahmen betreffen und fokussiert damit den institutionellen Rahmen des bundesrepublikanischen Kulturföderalismus. Ob nun noch weitere Entwicklungen identifiziert werden, die als Wirkmechanismen im Um- und Vorfeld des BolognaProzesses angesiedelt sind, wie Rehburg es in ihrer Studie „Hochschulreform und Arbeitsmarkt“ (2005) tut, indem sie sämtliche Hochschulre11 Die hochschulpolitischen Reformdebatten werden in Kapitel 6 ausführlicher beschrieben. 12 GATS bezeichnet das Allgemeine Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen, das im Rahmen der 8. GATT-Verhandlungsrunde, der sogenannten „Uruguay-Runde“, Ende der 1980er Jahre vereinbart wurde. Unter anderem sieht das GATS auch den Handel mit Bildungsdienstleistungen vor. 53
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formen (von der Dienstrechtsreform bis zu Bachelor und Master) in die weitere Dynamik des Bologna-Prozesses verortet, oder wie Schewe (2004), der im Bologna-Prozess eine Art „Feigenblatt“ für die Durchsetzung einer alten, „konservativen“ Forderung sieht (Hochschulen wieder in Eliteeinrichtungen umzustrukturieren), nur ein Kernelement am Werk sieht. Der Synergie-Ansatz fokussiert die Dynamik, die ein Element in einem geschlossenen nationalstaatlichen Rahmen ausgelöst hat. Ausgeblendet wird dabei die Frage, inwiefern die Intervention eines transnationalen Elements – und sei es nur als „Feigenblatt“ (Schewe) oder adäquater Kumulationspunkt heterogener „Wirkungskräfte“ (Heß) – diesen symbolischen Bezugsrahmen des Nationalstaats selbst intakt lässt. In wessen Namen sprechen die Akteure des Reformprozesses, wenn es darum geht, eine europäische Initiative umzusetzen? Wie werden (hochschul)politische Koalitionen gebildet, um eine Entscheidung durchzusetzen, die rechtlich völlig unverbindlich ist? Wie ist zu erklären, dass dies offensichtlich auch noch in „Rekordzeit“ gelang? Eine ähnliche Erklärung geben Martens und Wolf mit dem Konzept der „Neuen Staatsraison“ (vgl. Martens/Wolf 2006). Demnach wenden sich nationale Regierungen an internationale Organisationen, um innenpolitische Widerstände in komplexen institutionellen Feldern zu brechen. Die internationalen Organisationen übernehmen die Rolle von Stichwortgebern und legislativen Instanzen. Damit eröffnet sich für die jeweilige nationale Exekutive neue Handlungsspielräume gegenüber innenpolitischen Gegenspielern (vgl. Moravcsik 1997). Zwar konstatieren Martens und Weber auf der inhaltlichen Ebene einen Erfolg für die Befürworter der Studienstrukturreformen; allerdings heben die Autoren sogleich hervor, dass die Ergebnisse dieser Strategie der Neuen Staatsraison durch die Entstaatlichungstendenzen der gegenwärtigen Hochschulreformen den Intentionen der Strategen in der staatlichen Verwaltung scheinbar zuwiderlaufen. Allerdings lassen die Autoren offen, nach welchen Regeln und Mechanismen die Politik der Neuen Staatsraison im Falle des Bologna-Prozesses funktionierte. Wie wurde die internationale Organisation als „externer Hebel“ (Martens/Weber 2006: 148) in den innerstaatlichen Konflikten eingesetzt? Welche Dynamik entfaltete diese transnationale institutionelle Konstellation? Muss eine Analyse des institutionellen Systems hier nicht um eine Analyse der spezifischen Konfliktmechanismen ergänzt werden? Anhand welchen empirischen Materials lassen sich diese Konfliktmechanismen analysieren?
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Vom politischen System zur politischen Kultur Um die Mechanismen und Dynamiken der politischen Durchsetzung der Bologna-Reformen herausarbeiten zu können, bietet es sich an, jene Politikbereiche näher in den Blick zu nehmen, die offen für externe Einflüsse sind. So konstatiert Teichler (2005a), dass die Bologna-Reform recht überschaubar aufgebaut und somit politisch „griffig“ erschien. Denn „Reformen mit einem relativ einfachen Kern haben gute Durchsetzungschancen“ (Teichler 2005a: 22). Darüber hinaus, so Teichler, gelang es den politischen Entscheidungsträgern und Hochschulleitungen in „enger Kooperation gut, eine Mehrheit der Zustimmung zu postulieren und andere Stimmen als verstreute Minderheitenkritik darzustellen“ (Teichler 2005a: 22). Eckhardt formuliert diesen Aspekt folgendermaßen: „Umfassende Reformen waren bisher jedoch durch innenpolitische Akteure blockiert worden und erst durch einen Anstoß von außen, ein Ereignis auf internationaler Ebene, sollte ein ‚hochschulpolitischer Paradigmenwechsel‘ eingeleitet werden“ (Eckhardt 2005: 41/42). Wenn aber bisher Reformen durch innenpolitische Akteure blockiert wurden, jetzt allerdings Reformen nicht mehr blockiert werden, dann haben wir es ganz sicher nicht mehr mit den gleichen innenpolitischen Akteuren zu tun. Gehen wir davon aus, dass die europäische Ebene im BolognaProzess die nationalstaatlichen institutionalisierten Entscheidungssysteme im Bildungsbereich intakt lässt und auch das (jeweilige) weitere nationale politische System inklusive der Interessensverbände nicht grundlegend transformiert wird, nichtsdestotrotz unter dem „Dach“ des Bologna-Prozesses ein „Reformdurchbruch“ gelang, dann bleibt zu fragen, was für eine Dimension gesellschaftlicher Praxis durch den BolognaDiskurs konstituiert wird? Die Kernfrage ausgehend von den Ansätzen der Synergiepolitik und Neuen Staatsraison lautet also: Welches soziale Feld untersuchen wir als Bologna-Diskurs? Ist dies ein „nationales“ Feld, dem ein „transnationales“ Feld gegenübersteht, oder sollte dieses Feld konzeptionell als ein Raum entworfen werden, der jenseits dieser Dichotomie liegt? Wenn dies der Fall ist: wie lässt sich die Identität dieses Feldes theoretisch begründen? Da wir weder ein abruptes Verschwinden der Reformdiskussionen der 1990er Jahre noch die Auflösung der Institutionen des politischen Systems beobachten können, würde ich zunächst vorschlagen, diese Dimension gesellschaftlicher Praxis mit dem Begriff der „politischen Kultur des deutschen Bologna-Diskurses“ zu umreißen. Der Begriff der politischen Kultur verweist im Gegensatz zum Begriff des politischen Systems auf die instabilen und kontingenten Aspekte politischer Diskurse und betont die Offenheit diskursiver Felder. Mit diesem Begriff kann der Analysefokus darauf gerichtet werden, dass unter spezifischen sozio55
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historischen Umständen Akteure den politischen Diskurs betreten, die dort durch neuartige Äußerungsformen sichtbar werden, im Rahmen spezifischer Probleme und Themen auftreten, eigene Fragen stellen und Antworten anbieten und so neue Konfliktfeldkonfigurationen aufbauen (siehe dazu auch Wissel 2007). So steht im Bologna-Diskurs nicht länger die Frage nach den institutionalisierten Kompetenzen im Zentrum, entlang derer sich das politische System entfaltet. Der Begriff der politischen Kultur verweist vielmehr auf die „kulturell-argumentative“ (Meyer 1994: 56) Dimension politischer Diskurse. Auch wenn bestimmte Instanzen wie die europäische Ebene keinen gesetzlich abgesicherten institutionellen Ort in Anspruch nehmen können, bedeutet dies nicht, dass sie keinen Einfluss haben. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die erfolgreiche Etablierung von etwas Neuartigem etablierte Feldkonfigurationen – also das, was mit dem Begriff des politischen Systems oder der „politischen Struktur“ (Scharpf 1978) bezeichnet werden kann – nicht unberührt lässt, ohne sie jedoch gleich institutionell zu transformieren. Während also die hier vorgestellten Ansätze politische Diskurse vor allem als institutionelle Felder konzipieren, wollen wir der symbolischen Ebene des Diskurses stärkere Beachtung schenken. Anders als im Falle institutioneller Prozesse und Strukturen hat es die Analyse der kulturellargumentativen Ebene überwiegend mit Texten zu tun. Während institutionelle Analysen die Frage stellen, wie Macht- und Entscheidungsprozesse funktionieren (Scharpf 1978, 2000), geht die Analyse der politischen Kultur der sprachlich-textuellen Dimension von Politik nach. Politische Texte können hinsichtlich der darin enthaltenen policies (Witte 2006a), ideologischen Positionen (Kellermann 2006), Sprechhandlungen (Holly 1990), des gesellschaftlichen Wissens (Soeffner/Tänzler 2002) oder habitueller Dispositionen (Bourdieu 2000) abgesucht werden. In all diesen Fällen werden Texte als Ausdrucks- oder Repräsentationsmittel analysiert, indem ihnen ein sekundärer Status in Bezug auf das zu rekonstruierende Problem eingeräumt wird. Anstatt mit diesen für die Sozialwissenschaften typischen Methoden der Textanalyse zu arbeiten, soll in dieser Arbeit auf sprachwissenschaftlich informierte Methoden der Diskursanalyse (Angermüller 2007c) zurückgegriffen werden. Mit den Methoden der Diskursanalyse werden Texte als primäre Phänomene behandelt. Es soll nicht gezeigt werden, wie Texte politische Positionen und Dynamiken ausdrücken, sondern wie ausgehend von Texten politische Felder strukturiert werden. Damit soll gezeigt werden, wie im Bologna-Prozess Texte eingesetzt werden, um spezifische politische Dynamiken anzustoßen und zu entfalten. Im Sinne Latours (1987) können Texte demnach selbst als „Akteure“ aufgefasst werden. Politi56
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schen Texten kann so als eigenständigen Phänomenen in der politischen Praxis die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden. Texte sind damit nicht Ausdruck von Politik, sondern in sich politisch. So kann mit der Diskursanalyse unter anderem gezeigt werden, dass in Texten mehr nur eine politische Position, sondern ein ganzes Konzert an Sprechern zur Sprache kommen (vgl. Angermüller 2007a). In der empirischen Analyse soll nicht nur aufgezeigt werden, wie Texte politische Felder strukturieren. Zudem soll unter Rückgriff auf Foucaults Gouvernementalitätstheorie (Foucault 1987, 2004, 2006) der diskursanalytische Zugang zu Texten machtanalytisch erweitert werden. Die Frage der machtanalytischen Erweiterung lautet demnach: Wie werden durch Texte Interpretationsspielräume vorstrukturiert? Auf welche Weise können Texte politisches Handeln beeinflussen? Wie und unter welchen Bedingungen üben Texte Macht aus?
Z u r M e t h o d o l o g i e d e r D i s k u r s a n a l ys e politischer Texte Der Bologna-Prozess spielt sich auf mindestens vier unterschiedlichen Ebenen ab. Er ist ein europäischer Integrationsprozess, der auf eine Erklärung zahlreicher europäischer Bildungsminister zurückgeht. Er muss zweitens in nationales Recht übersetzt und in zahlreichen nationalen politischen Kontexten verhandelt werden. Im Falle Deutschlands muss der Bologna-Prozess drittens durch das kulturföderalistische Nadelöhr. Schließlich muss er von jeder einzelnen Hochschule und jeder einzelnen Fakultät/Fachbereichs eigenständig umgesetzt und inhaltlich ausgestaltet werden. Für Erforschung des Bologna-Prozesses bringt diese komplexe Struktur das Problem mit sich, auf welcher Ebene und mit welchen Methoden die Analyse anzusetzen hat. Damit stellt der Bologna-Prozess nicht nur die alte Mikro/Makro-Frage, sondern wirft drüber hinaus methodologische Probleme auf.
Von der Makro- auf die Mikroebene und wieder zurück In der sozialwissenschaftlichen Hochschulforschung wird oft implizit oder explizit zwischen einer Mikro-, einer Meso- und einer Makroebene unterschieden, wobei letztere gesamtgesellschaftliche Entwicklungen im bundesweiten Maßstab, die Mesoebene das Verhältnis zwischen Bundesland und Hochschule und die Mikroebne die sozialen Prozesse auf der Ebene einzelner Hochschulen in den Blick nimmt. Aufgrund der Kompetenzverteilung im Hochschulbereich sind an der Regelung der Studiengänge alle drei Ebenen beteiligt. Da die Bologna-Reformen nicht nur auf eine Umbenennung vorhandener Studienstrukturen zielen, son57
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dern den Anspruch auf eine grundlegende Neugestaltung des Studiensystems erheben, kann davon ausgegangen werden, dass der BolognaDiskurs sich quer zu dieser Dreiteilung erstreckt. Krücken hat 2004 im Vorfeld einer von ihm selbst geleiteten und 2005 abgeschlossenen empirischen Untersuchung die These aufgestellt, dass „mimetische Anpassungsprozesse“ der einzelnen Hochschulen die wichtigste Dynamik für die flächendeckende Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen sind. Ausgehend vom organisationssoziologischen Neoinstitutionalismus Powels und DiMaggios geht Krücken davon aus, dass in „organisationellen Feldern“ durch „staatlichen Zwang“, „normativen Druck“ und „Mimesis“ Strukturangleichungsprozesse ausgelöst werden (vgl. Krücken 2004: 287-290). Weder staatlicher Zwang noch normativer Druck, so die Hypothese, seien entscheidend. Vielmehr, so Krücken, haben wir es strukturell „mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun, die erst im Glauben an ihr Gelingen die Voraussetzungen dafür schafft“ (Krücken 2004: 294). Jene Akteure, die sich dieser Dynamik der Umstellung auf B/M widersetzen, werden im Reformdiskurs als „konservativ und innovationsfeindlich“ (Krücken 2004: 294) delegitimiert. Im Unterschied zu Hahn (2004a) und van der Wende/Huisman (2004a) geht Krücken weniger auf die Entwicklungen in der organisationalen Umwelt der Hochschulen ein, sondern fokussiert die Effekte, die durch die Interaktion zwischen Organisation und Umwelt in der Organisation Hochschule ausgelöst werden. Die anschließend von Krücken et al. (2005) durchgeführte Befragung an Nordrheinwestfälischen Hochschulen hat ergeben, dass nicht Mimesis, sondern staatlicher Zwang die dominante Anpassungsdynamik im Bologna-Prozess ist (vgl. 2005: 151). Dieses Ergebnis wird von Karsten Königs Analyse (2005) der „top down/bottom up“ Beziehungen13 in Hochschulreformprozessen betätigt. König konstatiert: „Insgesamt ist die Steuerungsstrategie zur Einführung gestufter Studiengänge eine so genannte Top-down-Strategie: Das Ziel, die Struktur der Studiengänge an deutschen Hochschulen zu reformieren, ist überwiegend nicht an den Hochschulen selbst entstanden, sondern das Ergebnis übergeordneter Verhandlungsprozesse auf bundespolitischer und europäischer Ebene. Innerhalb Deutschlands wurde die Umstellung der Studiengänge insbesondere durch die KMK, die HRK und den Wissenschaftsrat (WR) [...] vorangetrieben. Die Bundesländer folgten, indem sie entsprechende Vorgaben in die vertragsförmigen Vereinbarungen
13 Der Begriff top-down meint das Verhältnis Staat-Hochschule, bottom-up bezieht sich dagegen auf (erfolgreiche) Initiativen, die von den Hochschulen ausgehen. 58
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und Hochschulgesetze übernahmen und den Prozess so zu einer für die Hochschulen verbindlichen Richtlinie machten“ (König 2005: 142). Folgen wir Andreas Keller (2004), so müssen wir neben KMK, HRK und WR auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als entscheidenden Akteur hinzufügen. Damit wäre nicht die Mikroebene der Hochschulen, sondern die auf einer darüber liegenden Meso- oder Makroebene agierenden Akteure der primäre Ausgangspunkt der Transformation.
Von der institutionellen Struktur zum Diskurs Wie oben gezeigt wurde, kann nicht länger davon ausgegangen werden, dass die Identität der dort agierenden Akteure sich entlang der institutionellen nationalstaatlichen Konfliktlinien entfaltet, sondern mit spezifischen transnationalen Herausforderungen konfrontiert ist. Diese Problematik kann die „Innen-Außen“-Schematik des organisationssoziologischen Neoinstitutionalismus kaum erfassen. Die Frage, ob die Reformimpulse von „Innen“ (Hochschule) oder „Außen“ (Staat) ausgehen, unterstellt eine binäre Axiomatik des Sozialen, welche den Blick auf ein prinzipiell offenes Feld mit instabilen Grenzen verstellt. Dieses gesellschaftliche Feld wurde mit dem Begriff der politischen Kultur des Bologna-Diskurses umrissen. Damit wurde ein Ort markiert, der jenseits von Staat und Organisation angesiedelt ist. So kann es denn auch nicht verwundern, dass keiner der von König und Keller genannten Akteure (KMK, WR, HRK) einen rechtlich formalisierten Ort im hochschulpolitischen Entscheidungssystem Deutschlands Inne hat. Auch das BMBF hat durch seine Rahmengesetzgebungskompetenzen nur begrenzte formale Gestaltungsspielräume im Studienbereich; und selbst diese Kompetenzen wurden mit der 6. HRG-Novelle nur vorsichtig genutzt, da Bachelor- und Masterstudiengänge zwar als Regelstudiengänge festgeschrieben wurden – jedoch parallel zu den herkömmlichen Studiengängen! Auch die Bundesländer, deren Parlamente letztlich über die Landeshochschulgesetze entscheiden, folgten in Königs Darstellung den Empfehlungen von KMK, HRK und WR. Fügen wir diesem Bild schließlich noch hinzu, dass die Hochschulen, die die Studienreform letztlich durchführen, überwiegend durch „Oktroy“ zu Umstellung bewegt wurden, so König, dann fällt mit den Hochschulen die letzte rechtlich-formal institutionalisierte Entscheidungsinstitution als transformatorischer Impulsgeber weg. Die Frage, die sich ausgehend von dieser Problematik stellt, lautet: woraus bezieht das transnationale Feld, das mit dem Begriff der politischen Kultur vorläufig umrissen werden soll, seine transformierende Dynamik, wenn nicht aus den institutionell formalisierten Kompeten59
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zen? Mit Blick auf Krückens und Königs Analysen können wir von der Hypothese ausgehen, dass entscheidende, wenn nicht gar die entscheidenden Impulse in einer spezifischen hochschulpolitischen Öffentlichkeit entwickelt und durchgesetzt wurden. Zwar befindet sich diese Öffentlichkeit im (hochschul-)politischen System Deutschlands. Die Mechanismen, Regeln und spezifischen Konfliktfeldkonfigurationen dieses sozialen Feldes können aber nicht denen des parlamentarisch-demokratischen Systems entsprechen, scheinen deren Akteure wie Parteien, Regierungen, Parlamente und Fakultäten/Fachbereiche nur eine untergeordnete Rolle als Impulsgeber des Bologna-Prozesses zu spielen. Auch Königs These, die Bologna-Reformen wurden „von oben“ durchgesetzt, ist irreführend, weil die Datenlage dafür äußerst dünn ist und die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 GG eine Oktroierung unmöglich erscheinen lässt. Auch der Umkehrschluss, wenn die Reformen nicht „von unten“ initiiert wurden, dann müssen sie „von oben“ verordnet worden sein, ist unzulässig, wenn damit auf einen durchsetzungsfähigen, starken Akteur angespielt werden soll. Wie in der Diskursanalyse gezeigt wird, basiert die Durchsetzungskraft Bolognas eher auf Sensibilität und weniger auf Zwang. Der Reformdiskurs, von dem Krücken spricht, wo diejenigen als „konservativ und innovationsfeindlich“ delegitimiert werden, die sich kritisch zu den Bologna-Reformen äußern, findet genau in dem gesellschaftlichen Bereich statt, der in oben mit dem Begriff der „politischen Kultur“ des Bologna-Diskurses umrissen worden ist. Dieser Begriff verweist auf eine „diskursive Formation“ (Foucault 1981), die nicht nur aus „Gesetzen“, „Zielvereinbarungen“ und „Fakultätsbeschlüssen“ besteht, sondern in dem durch „öffentliche Reden“, „Interviews“, „Empfehlungen“ und „Kommentare“ die Regeln festgelegt werden. Auch „Parteiprogramme“, „Wahlkämpfe“ und „Flugblätter“ spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ziehen „Beschlüsse“ der KMK, „Empfehlungen“ des Wissenschaftsrates und „Presseerklärungen“ des BMBF unterschiedliche Grenzen und organisieren durch diskursive Operationen spezifische soziale Raumkonfigurationen. Die diskursive Formation der hochschulpolitischen Öffentlichkeit, so die Hypothese, ist genau der Raum, wo der Bologna-Prozess seinen diskursiven Platz finden konnte, weil die Regeln dieses Feldes spezifische Modalitäten für die Relevanzentfaltung transnationaler Phänomene bereithalten. In der folgenden empirischen Untersuchung soll gezeigt werden, dass dies der Raum ist, wo sich eine transnationale diskursive Formation entfaltet. Wollen wir eine Erklärung, wie der Bologna-Prozess in Deutschland etabliert wurde, so die Überlegung, dann müssen die Regeln und Mechanismen, die Konfliktkonfigurationen und Subjektivitätsformationen, 60
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die diese diskursive Formation charakterisieren und strukturieren, herausgearbeitet werden. Während also institutionalistische Ansätze die Interaktion von Organisationen/Akteuren mit der institutionellen Umwelt, die nach weitestgehend fixen Regeln organisiert ist, analysieren, sollen hier die diskursiven Regeln und Mechanismen in den Blick genommen werden, die eine diskursive Formation hervorbringen. Während institutionelle Regeln als gesetzlich fixierte oder anderweitig verfestigte handlungsstrukturierende Komplexe, die als Ressourcen und Zwänge den einzelnen Akteuren gegenüberstehen, konzipiert sind, sind diskursive Regeln unmittelbar an die Praxis gebunden und müssen durch ebendiese diskursive Praxis immer wieder von Neuem hervorgebracht werden. Anders als in organisationssoziologischen Ansätzen bezeichnet die diskursive Praxis die kontingente und in gewisser Hinsicht auch unvollständige Verknüpfung von Text und Kontext. Die diskursive Formation ist grundsätzlich offen, weil nicht die Kontexte ihre Texte determinieren, sondern die Texte multiple Kontexte mobilisieren. Die Diskursanalyse dreht das Verhältnis von Text und Kontext um. Damit wird ein entscheidender methodologischer Perspektivenwechsel vorgenommen.
Diskursanalyse als Aussagenanalyse Im organisationssoziologischen Neoinstitutionalismus erscheint die organisationelle Umwelt aus der Sicht der Organisation wie eine „Blackbox“, die codierte Informationen in Richtung Organisation entsendet, welche von dieser wiederum decodiert und interpretiert werden müssen. Die Aufgabe des Forschers besteht nun darin, den von der Organisation decodierten Sinn zu rekonstruieren, um die Handlungsmotive zu entschlüsseln. Dafür greifen Krücken et al. auf Experteninterviews mit Mitgliedern der Organisation zurück, die inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Texte werden hier als „Behälter“ von Sinn konzipiert, die im Forschungsprozess rekonstruiert werden. Aber wenn die Umwelt aus der Sicht der Organisation „Hochschule“ ein „Blackbox“ ist, kann sich der Forscher dann auf seine Daten verlassen, ist doch der empirische Gegenstand aus der Sicht des Forschers ebenfalls eine „Blackbox“? Wenn Hochschulangehörige auf die Frage, „wie sie zur Umsetzung des Bologna-Prozesses bewegt wurden“ mit „Staat“ antworten, dann heißt das zunächst noch gar nichts. Jede Inhaltsanalyse findet ihre Grenze immer in der notwendigen, unüberbrückbaren Differenz zwischen dem Forscher und dem empirischen Gegenstand. Nicht zuletzt erscheint es fraglich, ob Experteninterviews mit Hochschulangehörigen angesichts der Komplexität und Intransparenz der Studienreform hinreichend Auf-
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schluss über die spezifische Dynamik des Bologna-Prozesses geben können. Aus diesem Grunde werden wir in dieser Arbeit auf die neuartige (siehe Wrana 2006 und Mattissek 2008) Aussagenanalyse (Angermüller 2007c) zurückgreifen. Während Inhaltsanalysen Texte nach Handlungsmotiven (Krücken et al. 2005), intersubjektiv geteiltem Wissen (vgl. Schwab-Trapp 2004) oder ideologischen Inhalten (Kellermann 2006) absuchen, geht die Aussagenanalyse der Frage nach, wie Texte diverse Kontexte mobilisieren. Texte greifen nicht über ihre semantischen Inhalte, sondern über Formen der Deixis („ich“, „wir“ etc.), der Polyphonie („nicht“, „un-“ etc.) und des Vorkonstrukts (z.B. „-mus“ in „Rassismus“, „Marxismus“) auf Kontexte zu (vgl. Angermüller 2007c, 2008). Am Beispiel einer Aussage von Oswald Metzger illustriert Angermüller die Möglichkeiten der Aussagenanalyse. Demnach sind politische Forderungen keinesfalls konsistente und transparente Einheiten, die mit einer Stimme klar vorgetragen werden (Angermüller 2007a). Am Beispiel der Aussage „Oswald Metzger fordert [...]“ unterscheidet Angermüller zunächst einen „Äußerungs-Metzger“ von einem „Aussage-Metzger“, die als Subjekte des Diskurses in dieser Aussage präsent sind und sich nicht notwendigerweise harmonisch ergänzen müssen. Die Spannung zwischen Aussage-Ich und Äußerungs-Ich kann vor allem in Aussagen wie „ich lüge“ illustriert werden, wo das Ich, das gesagt wird, dem Ich, das über die Form „ich“ „gezeigt“ wird, widerspricht. Die inhärente Vielschichtigkeit und Heterogenität des Diskurses (Bublitz 2003) wird aber nicht nur an der Schnittstelle von Aussage-Ich und Äußerungs-Ich sichtbar, sondern auch dort, wo das Subjekt des Diskurses (in diesem Fall Oswald Metzger) seine politische Forderung nach „mehr Freiheit“ vorträgt. So zeigt Angermüller wie der Diskurs mit „den Menschen, die mehr Freiheit wollen“ und dem „Sozialdemokraten“, der für „Bürokratie“, „alte Dogmen“ und „Besitzstände“ steht, unterschiedliche Äußerungsquellen und Sprecher evoziert, wobei der Autor des Textes (der Lokutor) sich letztlich mit „den Menschen“ solidarisiert, indem die Position der „Sozialdemokraten“ zurückgewiesen wird. Diese polyphone Struktur wird nicht über propositionale Stellungnahmen wie „die Sozialdemokraten fordern Bürokratie..., ich dagegen Freiheit“, sondern durch diskursive Operationsmodi wie Negation („nicht“) oder Wertungen („alt“) evoziert. Angermüller bezeichnet diesen Analyseansatz als „dekonstruktiv“ (Angermüller 2005b), weil es hier eben nicht um die Rekonstruktion von Wortbedeutungen, Handlungssinn oder Kontextbedingung geht, sondern darum, „die Formen, Spuren, marqueurs des symbolischen Materials zu identifizieren, die die Leser/innen über die Äußerung und ihre Kontexte instruieren und damit auf die Suche nach 62
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einem Sinn schicken, den jede/r Leser/in selber entdecken muss“ (Angermüller 2007a: 9, Herv. i.O.). Gegenüber institutionenanalytischen Policyansätzen (Witte 2006a, 2004, Scharpf 2000) kann mit der Aussagenanalyse einerseits der Eigenständigkeit politischer Texte gegenüber der institutionellen Struktur und andererseits der semantischen Weitläufigkeit politischer Programme, die in Textform vorliegen, Rechnung getragen werden. Gegenüber der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (Schwab-Trapp 2004, Keller 2005) kann damit die Heterogenität und Vielschichtigkeit politischer Texte herausgearbeitet werden. Auch das Wissen, das ausgehend von Texten mobilisiert wird, ist nicht für alle gleich. Indem die sprachwissenschaftlich informierte Aussagenanalyse den Texten ihre Eigenständigkeit zurückgibt, kann damit – anders als mit sozialwissenschaftlichen Methoden – der produktive Charakter politischer Texte herausgearbeitet werden. Nicht nur institutionelle Strukturen, ideologische Inhalte, Handlungsmotive, das gesellschaftliche Wissen oder Akteure, sondern auch Texte sind dynamisch, produktiv und vielgestaltig. Dies soll in den folgenden Kapiteln gesellschaftstheoretisch begründet (Kapitel 4) und methodologisch expliziert werden (Kapitel 5). Denn das Ziel dieser Arbeit soll nicht nur darin bestehen, die analytischen Potentiale der französischen Diskursanalyse zu nutzen, um damit einen sperrigen empirischen Gegenstand zu bearbeiten. Darüber hinaus soll für eine gesellschaftstheoretische Reflexion und Einbettung der Diskursanalyse plädiert werden, wie es Luhmann für die Soziologie insgesamt eigeklagt hat und wie es neuerdings auch in der qualitativen Forschung wieder ausdrücklich gefordert wird (Kalthoff, Hirschauer, Lindemann 2008).
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T EIL II: T HEORIE
4 F Ü R E I N E P O S T - D U R K H E I M I AN I S C H E G E S E L L S C H AF T S T H E O R I E
Die Krise der Gesellschaft Die Gesellschaft als „die umfassende Ganzheit eines dauerhaft geordneten, strukturierten Zusammenlebens von Menschen innerhalb eines bestimmten räumlichen Territoriums“ (Hillmann 2000: 215) ist nicht erst seit den Debatten zu Globalisierung, Entgrenzung und Postmoderne ein von den Sozialwissenschaften problematisierter Begriff (Bonacker 2008, Giddens 1987, Robertson 1992, Beck 1998). Schon in den 1970er Jahren wurde der Kernbegriff der klassischen Soziologie im deutschsprachigen Raum von der Systemtheorie in Frage gestellt (Luhmann 1986, 1991). Ebenso wie Luhmann wendeten sich aus einem anderen Blickwinkel auch der symbolische Interaktionismus (Mead 1973) und die Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) gegen einen parsonianischen, auf Integration und Homogenität basierenden Begriff von Gesellschaft. Aber nicht nur die Soziologie, sondern auch angrenzende sozialwissenschaftliche Disziplinen wie die politische Theorie (Lefort/Gauchet 1990), die strukturalistische Philosophie Derridas (Derrida 1974) oder die von der politischen Ökonomie inspirierte Regulationstheorie (Arrighi 2002) haben „Gesellschaft“ als kompakte, integrierte, in differentielle Regionen untergliederte Totalität zurückgewiesen. Aus der Perspektive einer so verstandenen Gesellschaftskritik erscheinen auch Klassiker wie Wittgenstein oder Adorno in einem neuen Licht. Während Wittgenstein die Bedeutung multipler, wechselseitig intransparenter „Sprachspiele“ betonte (Wittgenstein 2003), wurde Adorno nicht müde, die Risse und
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Brüche der Gesellschaft in den Artefakten des Spätkapitalismus herauszuarbeiten (Adorno 1969). Gegen den auf Integration und Konsens, Humanismus und Territorialität basierenden durkheimianischen Gesellschaftsbegriff (Luhmann 1998: 16-189, Latour 2001a) werden unterschiedliche Argumente in Anschlag gebracht. So weist Latour mit der Dualität von Mikro vs. Makro die zentrale Konfliktlinie der Soziologie zurück. Der vermittelte, gerahmte und in weitere soziale Aktivitäten eingebettete Charakter lokaler Interaktionen lasse keinesfalls den Schluss zu, hinter sporadischen Interaktionen verberge sich eine umfassende, integrierende Sozialstruktur. Eine solche deduktive Erklärung setzt nach Latour den Gegenstand der Untersuchung, die sozialen Beziehungen bzw. die Gesellschaft, immer schon voraus (Latour 2001b). Das der Erklärung zugrunde liegende Sozialsystem ist vielmehr selbst erklärungsbedürftig, so Latour. Auf der anderen Seite wirft Latour dem impliziten und expliziten ontologischen Humanismus der Sozialwissenschaft vor, dass er die Rolle natürlicher und artifizieller Objekte auf passive Sinnträger reduziere (siehe dazu auch Kalthoff 2007). Dem Mikro-Makro-Gegensatz und dem soziologischen Humanismus stellt Latour die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ entgegen. Der Begriff „Akteur“ verweist dabei gerade nicht auf soziale Individuen oder Gruppen. In Anlehnung an Greimas’ Aktanten-Theorie bezeichnet der Akteur einen Punkt in einem Netzwerk, von wo Aktivität ausgeht und der durch andere Aktivitäten aktiviert wird (Latour 1996). Es geht hierbei nicht um den „gemeinten Sinn“ (Weber) sozialer Handlungen, sondern um die kontingente Verknüpfung heterogener Elemente zu immer wieder neuen Netzwerkensembles (Callon 2007). Akteure können demnach auch natürliche und artifizielle Gegenstände wie Bäume oder Gartenzäune sein. Andererseits können Akteure nicht als Ursprung von Aktivität gedacht werden, da jeder Akteur (oder Aktant) in ein dynamisches Netzwerk anderer Akteure verwoben ist. Die Beziehung von Akteur und Netzwerk ist irreduzibel. Wenn wir Netzwerke untersuchen, so Latour, dann beschreiben wir die Akteure, wenn wir Akteure untersuchen, beschreiben wir das Netzwerk, in das sie eingebunden sind (Latour 1996, Latour 2001a). Damit formuliert Latour ein methodologisches Alternativprogramm, das darauf verzichtet, einen Blick auf die Gesellschaft von „oben“ oder „außen“ zu werfen. Latours Akteur-Netzwerk-Theorie steht somit Deleuzes und Guattaris Begriff des „Rhizoms“, der ein dynamisches, heterogenes und irreduzibles Konglomerat natürlicher, sozialer, kultureller, ökonomischer und anderer Beziehungsformen ohne Zentrum, Ursprung und Ende bezeichnet (Deleuze/Guattari 1977), näher als soziologischen Akteur- und Handlungstheorien. 68
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Aus der Sicht der Systemtheorie hat Luhmann die Frage formuliert, wie angesichts der Unmöglichkeit eines epistemologischen Realismus „Gesellschaft“ konzipierbar ist (Luhmann 1998). Luhmanns Ausgangspunkt bildet die Frage, wie Gesellschaft als Totalität erkennbar ist, wenn der Beobachter der Totalität dieser Totalität selbst angehört und demnach die Totalität von außen überhaupt nicht beobachten kann. Denn „die Definition selbst ist schon eine der Operationen des Gegenstandes“ (Luhmann 1998: 16). Dem Begriff einer von der Dualität von Subjekt und Struktur gekennzeichneten, auf eine transzendentale Entität wie Konsens oder Kultur begründeten, territorial begrenzten und deshalb von außen beobachtbaren Gesellschaft stellt Luhmann die „Theorie sozialer Systeme“ entgegen (vgl. Luhmann 1987). Moderne Gesellschaften sind demnach funktional differenzierte Gebilde, die ihre Funktionen nicht aus einer quasitranszendentalen, existentiellen Notwendigkeit wie noch bei Parsons ableiten. Vielmehr operiert jedes Subsystem der funktional-differenzierten Gesellschaft nach seiner Eigenlogik. Die Anzahl identifizierbarer Systeme ist deshalb prinzipiell unbegrenzbar und die Grenze der „Gesellschaft“ unmöglich zu bestimmen. Soziale Systeme sind operativ geschlossene, autopoetische Systeme (vgl. Luhmann 1987, 1998), die nicht nur in ihrem jeweiligen System operieren, sondern durch den Vollzug der Operation auch die Operation des Systems selbst durch die Unterscheidung zwischen System und Umwelt (re)produzieren. Aus der Sicht eines jeden operativ geschlossenen Systems sind alle anderen sozialen Systeme Teil der Systemumwelt und können demzufolge nicht in anderen Systemen eins-zu-eins abgebildet werden. Nach Luhmann ist der soziologische Beobachter angewiesen, das empirische Material mittels binärer Unterscheidungen zu ordnen und die Regeln, nach denen diese Unterscheidungen vom Forscher durchgeführt werden, anzugeben. Dabei ist er allerdings immer mit einer unlösbaren Irritation konfrontiert. Denn jede Unterscheidung „kommt zweimal vor: als durch das System (die Soziologie, J.M.) produzierter Unterschied und als im System beobachteter Unterschied (die Gesellschaftstheorie, J.M.)“ (Luhmann 1998: 45, Herv. i.O.). Weil eine Sinn produzierende Operation an der „Außenseite der Form“ die zahllosen Möglichkeiten, die sie ausschließt, immer auch mitführt, und an der Innenseite der Form der Akt der Operation reflexiv aufgenommen wird und dort als Kerbe oder Spur sich niederschlägt, ist Gesellschaft nach Luhmann ehr ein spektraler und kein geschlossener Gegenstand. Das zentrale Interesse Luhmanns gilt den erkenntnistheoretischen und methodologischen Konsequenzen eines sozialtheoretischen Begriffs, wonach Gesellschaft sich nur als Gesellschaft durch die Unterscheidung von System vs. Umwelt (selbst) beschreiben kann und dadurch mit der ausgeschlossen Umwelt 69
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und dem Beobachter, der sich im Vollzug der Beobachtungsoperation nicht selbst beobachten kann, gleich zwei blinde Flecken produziert. Die Soziologie als Subsystem kann „die“ Gesellschaft als Totalität nicht beobachten, sondern nur noch unbegrenzbar viele Selbstbeschreibungen abgeben (vgl. Luhmann 1998: 866-893). Dabei ist sie stets mit dem Problem der Grenze konfrontiert (vgl. Bonacker 2003), wodurch jede vollständige Beobachtung an der konstitutiven Selbstbezüglichkeit scheitert. Eine weitere Kritik am durkheimianisch-parsonianischen Gesellschaftsbegriff formuliert Derrida. Nach Derrida sind die gesamten westlichen Philosophien und Wissenschaften seit der Antike lediglich unterschiedliche Varianten einer „Metaphysik der Präsens“, die alle Phänomene als sekundär um ein primäres Zentrum herum organisiert konstruierte (vgl. Culler 1992). Jede Variante dieser Metaphysik der Präsenz ist durch einen konstitutiven „Logozentrismus“ charakterisiert, der gleichzeitig ein „Phonozentrismus“ ist, so Derrida. Worte sind demnach immer als Ausdruck und Vermittler eines „ursprünglichen“ oder „gemeinten“ Sinnes aufgefasst wurden, der diesen zugrunde liege und damit konzeptuell überschreite bzw. transzendiere (Logozentrismus). So wird dem gesprochenen Wort gegenüber dem geschriebenen ein primärer Status eingeräumt (Phonozentrismus), weil das gesprochen Wort zur „Intention“ oder „Seele“ des sprechenden Subjekts einen unmittelbareren Bezug habe, wohingegen die Schrift räumlich und zeitlich vom „Sinn-“ und „Ursprungszentrum“ als völlig abgelöst gilt (Derrida 1974). Die Hierarchie von Primärelement (Stimme, Intention) und Sekundärelement (Schrift, Ausdruck) dreht Derrida um, indem er zeigt, dass nicht nur das Sekundäre auf das Primäre, sondern auch das Primäre auf das Sekundäre angewiesen ist, konstituiert sich doch jedes Element des Systems ausschließlich in Differenz zu allen anderen Elementen. Den metaphysischen Denksystemen stellt Derrida mit dem Konzept der „différance“ einen radikalisierten strukturalistischen Strukturbegriff entgegen. Die différance bezeichnet ein irreduzibles „Spiel der Differenzen“ (Derrida 1986), wo sich die Elemente des Systems sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht nur noch als „Spuren“ konstituieren (Derrida 1999a). Im Gegensatz zum Strukturalismus Saussures (1967) verweist dieser Strukturbegriff auf einen dezentralen Raum, da jede Fixierung und damit jede Bedeutung nur noch als ephemer Effekt der différance denkbar ist (Roggenbuck 1998). Dies bedeutet allerdings nicht, dass Derridas irreduzible différance letztlich auf einen nihilistischen Reduktionismus hinausläuft, wo jeder Fixierungsversuch sich in ein chaotisches Gewimmel von Spuren auflöst. In einer Kritik an Austins Sprechakttheorie zeigt Derrida unter Rückgriff auf die „Iterabilität“ (Wiedereinschreibbarkeit, Wiedererkennbarkeit, Zitierbarkeit) des Zeichens (im 70
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Sinne einer „Markierung“), dass jede radikal neue Bedeutungsvariante eines Zeichens nur um den Preis zu erhalten ist, dass dieses Neue die Spur dessen, was es nicht ist, des Alten, in sich aufnehmen muss, um als Neues erkannt und anerkannt werden zu können (Derrida 1999b). Das Neue und das Alte, das Innen und das Außen verschränken sich damit in eine unlösbare Paradoxie. So zeigt Derrida in einer Dekonstruktion von Levi-Strauss’ Strukturbegriff, dass das Zentrum der Struktur einerseits nicht im Zentrum liegen kann; andererseits kann es auch nicht einen fixen Platz außerhalb der Struktur einnehmen, da in diesem Fall jede Beziehung zur Struktur aufgekündigt wäre (Derrida 1972: 422-442). Vielmehr oszilliert das Zentrum zwischen dem Innen und dem Außen der Struktur (resp. der Gesellschaft) und kann die Struktur nur dann integrieren, wenn es diese gleichzeitig desintegriert. Jedes Element der Struktur muss demnach eine Spur seiner eigenen Unabschließbarkeit in sich tragen und verweist so immer schon auf die Unmöglichkeit eines fixierten, abgeschlossenen Gesellschaftssystems. Damit weist Derrida jedoch nicht die Idee eines Systems zurück. Vielmehr wird die Frage nach der Struktur des Systems von der Frage danach abgelöst, wie die Struktur (resp. die Gesellschaft) die Beziehung zu ihrem Außen regelt. Aus der Perspektive der politischen Theorie formulierten Lefort und Gauchet in Auseinandersetzung mit dem Liberalismus und (vor allem) dem Marxismus eine Demokratie- und Totalitarismustheorie, die mit dem reduktionistischen Gestus von Liberalismus und Marxismus gleichermaßen bricht. Beiden Denkgebäuden werfen die Autoren vor, moderne Gesellschaften auf eine integrierende Zentralinstanz zu reduzieren (Lefort/Gauchet 1990). Der Liberalismus übersieht nach Lefort/Gauchet einerseits die hierarchische Asymmetrie kapitalistischer Gesellschaftsformationen und andererseits die Tatsache, dass aufgrund der Trennung von Staat und Zivilgesellschaft die Konflikte rivalisierender Interessensgruppen keinesfalls durch die politische Repräsentation aufgehoben werden. Die konstitutive Spaltung der Zivilgesellschaft und die damit verbundene Asymmetrie zwischen Staat und Zivilgesellschaft bleiben erhalten. Der Marxismus ist in den Augen der Autoren allerdings nur die Kehrseite der liberalen Ideologie, weil er die Geschlossenheit moderner Gesellschaften durch den determinierenden Charakter der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte behauptet. Macht dient aus der Sicht des Marxismus nur als Absicherung der Ausbeutungsverhältnisse. Dadurch wird der agonale, zerrissene Charakter kapitalistisch-demokratischer Gesellschaften, der auf der Ebene der Produktionsverhältnisse behauptet wird, auf der Ebene des Überbaues wieder kassiert. Dem halten Lefort und Gauchet ein gesellschaftstheoretisches Argument entgegen, wonach Gesellschaft, die aus unterschiedlichen Partikularitäten 71
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besteht, sich immer auch als Ganze repräsentieren muss. Die universelle Symbolfunktion der Repräsentation verweist notwendigerweise auf einen Ort im Außen der Gesellschaft, der gleichzeitig Teil der Gesellschaft sein muss (Lefort 1990, Gauchet 1990). In feudalistischen Gesellschaften übernahm der Fürst bzw. der König diese Funktion, indem der Körper des Königs gespalten war in einen irdischen und einen göttlichen Teil. So gelang es, die Identität der Gesellschaft herzustellen, indem der von Gottes Gnaden berufene König auf die transzendentale Instanz Gottes verwies (Lefort 1990). Moderne Gesellschaften sind dagegen „körperlose Gesellschaften“ (Lefort 1990: 195). Der Ort der Macht kann hier nicht mehr durch den Körper des Königs besetzt werden und wird deshalb zu einer „Leerstelle“ (Lefort 1990: 293): der Ort der Macht ist „leer“. Den leeren Ort der Macht, der in demokratischen Gesellschaften immer nur auf Zeit (und gegen Geld!) besetzt werden kann, bezeichnen die Autoren als den Punkt, von wo aus die Gesellschaft sich – stets inadäquat, paradox und nur vorübergehend – selbst repräsentiert. Kein Herrscher kann in demokratischen Gesellschaften vollständig mit diesem Ort der Macht verschmelzen, weil sein Körper stets zwischen einer partikularen (der Herrscher ist Teil der Gesellschaft, von ihr gewählt, Teil eines Lagers der Zivilgesellschaft usw.) und einer universellen Bedeutung (der Herrscher ist das gewählte Oberhaupt aller Gesellschaftsmitglieder) hin und her oszilliert. Sucht man ein diese Gesellschaftsordnung begründendes Element wie Recht (Liberalismus) oder Ökonomie (Marxismus), dann verfängt man sich entweder in Aporien oder stößt letztlich auf eine Leerstelle, die durch Teilung und Konflikt erzeugt, reproduziert und vorausgesetzt werden muss. Moderne Gesellschaften sind nach Lefort/Gauchet genuin politisch, weil ihre Gründung und permanente Neugründung auf einem politischen Akt basiert. Die Kritik am durkheimianischen Gesellschaftsbegriff kann trotz ihrer Vielseitigkeit und Heterogenität zu einer Reihe von Schwerpunktfragen zusammengefasst werden. Luhmann und Latour betonen die methodologischen Probleme und Paradoxien. Wie ist eine adäquate Beschreibung der Gesellschaft möglich, wenn der Gegenstand an die Beschreibung selbst gebunden ist? Welchen Status erhält das Beschriebene, wenn es den Akt der Beschreibung reflexiv aufnimmt? Mit Derrida und Lefort/Gauchet können wir dagegen nach den Konturen und Funktionsweisen eines Gegenstandes fragen, der sich als geschlossener Gegenstand nie endgültig konstituieren kann. Welche gesellschaftstheoretischen Implikationen ergeben sich aus dem „leeren Ort der Macht“ (Lefort/Gauchet)? Durch welche Regeln und Mechanismen definiert die Struktur ihr Verhältnis zum „Außen“ (Derrida)? Die Kritik am geschlossenen Gesellschaftsbegriff lässt sich demnach grob zwei unterschiedli72
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chen Lagern zuteilen. So wurde der traditionelle Gesellschaftsbegriff einerseits aus einer methodologischen Sicht und andererseits aus einer ontologischen, genuin gesellschaftstheoretischen Perspektive in Frage gestellt. Für die Zwecke dieser Arbeit ist die methodologische und die gesellschaftstheoretische Problematik jeweils nur eine Seite derselben Medaille. Denn die hier vorgeschlagene Idee einer hegemonietheoretisch informierten Diskursanalyse geht der Frage nach, wie Texte auf Kontexte zugreifen und so umfassendere Bereiche sozialer Beziehungen hegemonialisieren. Der Begriff der Hegemonialisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich quer zur Vielfältigkeit sozialer Beziehungsmodalitäten auch dominante Formen etablieren und durchsetzen. Während für die Analyse der Texte eine methodologisch informierte Kritik am Gesellschaftsbegriff hinreichen würde, erfordert die Analyse des umfassenderen sozialen Zusammenhangs, der Ko- und Kontexte, eine gesellschaftstheoretische Reflexion. Der „Diskurs“ ist eben nicht identisch mit dem „Text“, sondern bezeichnet den Zugriff des Textes auf Kontexte. Eine methodologische Kritik am Gesellschaftsbegriff reicht demnach nicht hin, weil sich jenseits des Textes institutionelle, historische, soziale, ideologische, kognitive und andere Arrangements erstrecken, auf die Texte in der diskursiven Praxis zugreifen. Ebenso sind die kontextuellen Arrangements nicht auf Texte reduzierbar. Sie werden erst durch einen hegemonialen Effekt konstituiert, der durch eine Mobilisierung umfassender interdiskursiver Arrangements durch individuelle Akte hervorgerufen wird. Erst die Verbindung von Gesellschaftstheorie (im Folgenden „Ontologie“) und Methodologie ermöglicht eine systematische Interpretation der Ergebnisse der empirischen Analyse. Es ist allerdings unzureichend, die methodologische Problematik mit der ontologischen Frage einfach nur zu addieren. Vielmehr müssen beide Aspekte miteinander verknüpft werden. Von den hier vorgestellten Ansätzen verspricht die Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe und die Gouvernementalitätstheorie von Foucault eine kohärente Synthese von postdurkheimianischer Gesellschaftstheorie und reflexiver Methodologie.
Von der Gesellschaft zum Sozialen Die Hegemonietheorie ist eines der ambitioniertesten sozialtheoretischen Projekte im zeitgenössischen akademischen Feld der Sozialwissenschaften. Laclau und Mouffe beschreiben ihr theoretisches Projekt als Reaktion auf die Inkonsistenzen und Aporien des Marxismus der zweiten und dritten Internationale, der in den 1970er/80er Jahren zunehmend an Überzeugungs- und Erklärungskraft verlor (vgl. Laclau/Mouffe 2001:
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viii). Neben weithin ungelösten theoretischen Problemen, die mit der unversöhnlichen Opposition zwischen Basis und Überbau zusammenhängen, betraten in den 1970er Jahren mit den „Neuen Sozialen Bewegungen“ politische Akteure das Feld, die sich einer klaren Verortung innerhalb die Dichotomie von Bourgeoisie und Proletariat, Klasse „an sich“ und Klasse „für sich“ entzogen. Nicht zuletzt ließen die Erfahrungen mit und die kritischen Debatten über den Sowjetkommunismus eine distanzlose, unreflektierte Identifikation mit dem Marxismus als solchen nicht mehr zu. Vor dem Hintergrund der Krise des Marxismus nehmen die Autoren eine dekonstruktive Lektüre der Werke der Klassiker des Marxismus vor (Laclau/Mouffe 2001: 7-91) und befragen sie insbesondere hinsichtlich ihrer gesellschaftstheoretischen Implikationen. So wird unter anderem am Beispiel von Luxemburgs Theorie der Spontaneität gezeigt, dass durch die parallele Operation zweier Logiken – der Logik der Notwendigkeit und der Logik der Kontingenz – ein „double void“ erzeugt wird, der spezifische Inkonsistenzen in das gesellschaftstheoretische Gebäude des luxemburg’schen Marxismus einführt (Laclau/Mouffe 2001: 8-14). Luxemburgs Ausgangspunkt ist die Frage, wie vereinzelte politische Streiks mit den damit verbundenen Einzelforderungen (höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen etc.) zu einer Bewegung verschmelzen, die neben den jeweiligen Einzelforderungen der verstreuten Streiks eine gemeinsame Forderung erhebt. Die Antwort auf dieses theoretische Problem gibt Luxemburg mit dem Begriff der „Spontaneität“. Demnach wird das Feld der vereinzelten und isolierten Streiks von einer weiteren Bedeutung überflutet, wodurch die Bewegung über ein Symbol vereint wird. Dieses Moment der Entstehung einer Bewegung ist für sich genommen kontingent. Nichts legt fest, welches spezifische Symbol auftaucht. Demnach bleibt theoretisch offen, welchen Charakter die Bewegung annimmt. Für Luxemburg steht jedoch die Frage im Mittelpunkt, wie aus den vereinzelten Streiks eine revolutionäre Bewegung entsteht. Nach Laclau/Mouffe interveniert an dieser Stelle der teleologische Basis-Überbau-Determinismus des orthodoxen Marxismus. Denn was spricht – gesellschaftstheoretisch gefragt – dafür, dass diese Bewegung den Charakter eines revolutionären Proletariats annehmen soll? Laclau/Mouffe lesen diesen Sprung als ein theoretisches Problem des luxemburg’schen Marxismus, der für die theoretischen Probleme des orthodoxen Marxismus insgesamt steht. Denn an der Stelle, wo es darum geht, die gesellschaftstheoretischen Implikationen der Spontaneitätstheorie auszuarbeiten, bricht die theoretische Bewegung ab und wird vom Narrativ des orthodoxen Marxismus besetzt. Der irreduzible Raum der Spontaneität wird damit an die ökonomische Basis mit ihren Gesetzmä74
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ßigkeiten zurückgebunden und die Gesellschaft wieder mit einem integrierenden Zentrum ausgestattet. Dies kann an sich jedoch noch keinen Einwand nach sich ziehen, würde dieser Reduktionismus nicht auf zwei sich ausschließende Logiken verweisen. Denn an dem Punkt, wo die Logik der Kontingenz (Spontaneität) abstoppt, interveniert die Logik der Notwendigkeit (revolutionäre Bewegung), so Laclau/Mouffe. Diese beiden Logiken verweisen aber nicht komplementär aufeinander. Vielmehr schließt die eine die andere aus. Unter Verweis auf Derridas dekonstruktive Lektüremethode sprechen die Autoren hier von der „supplementären Funktion“ der einen operativen Logik in Relation zur anderen. Nach Derrida markiert das Supplement eine für die Operationsweise metaphysischer Modelle notwendige Inkonsistenz. Einerseits relativiert dieser dekonstruktive Gestus den Gültigkeitsanspruch dieser Modelle; andererseits bezeichnet das Supplement eine für die Operationsfähigkeit metaphysischer Modelle konstitutive Dimension. Im Falle Luxemburgs Theorie der Spontaneität supplemetiert nach Laclau/Mouffe das Paradigma des mechanistischen Determinismus die Logik der Kontingenz, wodurch der Erklärungsanspruch von Luxemburgs Theorie nur um den Preis dieser Aporie aufrechterhalten werden kann.
Die „logische“ Unmöglichkeit von Gesellschaft und das strukturalistische Erbe der Hegemonietheorie Auch wenn im Hintergrund der Hegemonietheorie pragmatische Autoren wie Wittgenstein oder Foucault, die politische Theorie von Lefort und Gauchet, Lacans sprachtheoretisch informierte Freudlektüre aber auch Marxisten wie Gramsci stehen, ist es doch vor allem das strukturalistische Erbe, das nicht nur die Originalität, sondern auch den poststrukturalistischen Charakter der Hegemonietheorie ausmacht. Dies zeigt sich nicht nur in der Verwendung von Derridas strukturalistischer Dekonstruktion, um damit den geschlossenen, deterministischen und teleologischen Gesellschaftsbegriff des Marxismus als essentialistisch zurückzuweisen. Zudem bemühen Laclau/Mouffe das differenztheoretische Paradigma des Strukturalismus, um so die Unmöglichkeit eines geschlossenen Gesellschaftsbegriffs herzuleiten. Das strukturalistische Kernargument von Laclau/Mouffe kann folgendermaßen umrissen werden: Begreifen wir Gesellschaft als ein System von Differenzen, wo jedes Element seine Bedeutung ausschließlich in Differenz zu allen anderen Elementen des Systems erhält, dann stellt sich die Frage, durch welche Operation das System als solches seine Bedeutung erhält, wenn nicht durch Differenz. Da Differenzsysteme semiotische Signifizierungssysteme sind, kann das Differenzsystem die Gren75
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ze zu dem, was es nicht ist, zu seinem Außen, nur durch einen weiteren Akt der Signifizierung ziehen. „But if what we are talking about are the limits of a signifying system, it is clear that those limits cannot be themselves signified, but have to be shown themselves as the interruption or breakdown of the process of signification” (Laclau 1996b: 37, Herv. i.O.). An dieser Stelle könnte der Strukturalismus als Ganzes mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass die Möglichkeitsbedingungen eines Systems von Differenzen gleichzeitig die Unmöglichkeit eines solchen Systems begründen. Laclau/Mouffe befinden sich jetzt an genau dem Punkt, wo in Luxemburgs Theorie der Spontaneität das Narrativ des orthodoxen Marxismus intervenierte. Doch anstatt den Strukturalismus zurückzuweisen, kehren die Autoren das Argument gegen den Strukturalismus bzw. den geschlossenen Gesellschaftsbegriff in ein konstitutives Merkmal von Struktur bzw. Gesellschaft. Und genau dieser Zug macht den post-strukturalistischen Charakter der Hegemonietheorie aus. Gesellschaft als geschlossene Totalität ist eine (logische) „Unmöglichkeit“ (vgl. Laclau/Mouffe 2001: 111). Da jedoch völlige Bedeutungslosigkeit als radikale Konsequenz dieses Arguments ebenfalls nicht in Frage kommt, sprechen die Autoren vom „Sozialen“ anstatt von „Gesellschaft“. „The social is not only the infinite play of differences. It is also the attempt to limit that play, to domesticate infinitude, to embrace it with the finitude of an order“ (Laclau 1996b: 91). Gesellschaft als Soziales gedacht „besteht immer nur aus fehlgeschlagenen Versuchen, sich selbst als universaler und hegemonialer Horizont zu etablieren“ (Stäheli 2000: 34). Da die Grenze dieser Ordnung nicht mehr als die Begrenzung einer fixierten Entität wie „Gesellschaft“ gedacht werden kann, muss die Grenze, die das Soziale von seinem Außen trennt, selbst zum Gegenstand sozialer Praxis werden. Damit allerdings befindet sich das Außen der Gesellschaft immer schon im Innen der Gesellschaft und verunmöglicht so eine endgültige Schließung (vgl. Stäheli 2001). Gesellschaft ist somit nur noch als ein permanenter Grenzkonflikt mit sich selbst denkbar.
Das Soziale als diskursives Feld Der Poststrukturalismus der Hegemonietheorie verweist also keinesfalls nur auf ein Projekt, das „nach“ dem Strukturalismus kommt, das „gegen“ den Strukturalismus formuliert ist und damit selbst mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben würde, wie es den Theoretikern der Postmoderne oft vorgeworfen wird. Vielmehr besteht das Originelle der Hegemonietheorie darin, dass sie das Argument gegen den geschlossenen Gesellschaftsbegriff in ein Merkmal einer Theorie des Sozialen 76
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umwandelt, die keinesfalls in Opposition zu jeglicher Form von Ordnung und Hierarchie wie beispielsweise Deleuzes und Guattaris Rhizom oder Latours Akteur-Netzwerk-Theorie aufgestellt ist. Laclau und Mouffe sind damit strukturalistische Grenzgänger des Strukturalismus. Um die basale Axiomatik der poststrukturalistischen Theorie des Sozialen zu formulieren, greifen Laclau/Mouffe nun aber auf Grundbegriffe der Diskurstheorien von Foucault, Lacan und Althusser/Pêcheux zurück. Das Soziale als diskursive Praxis bezeichnet demnach ein unabschließbares Terrain, wo durch kontingente Akte der Artikulation „Elemente“ in „Momente“ transformiert werden (vgl. Laclau/Mouffe 2001: 105ff.). Die auf Hegel zurückgehende Unterscheidung zwischen „Element“ und „Moment“ ist sicherlich mit Pêcheuxs Begriff des „Interdiskurses“ (Pêcheux 1983) besser beschrieben. Demnach verweist der Begriff „Element“ auf interdiskursives Material, das multiplen Artikulationsmöglichkeiten zur Verfügung steht, und der Begriff „Moment“ auf die diskursive Artikulation eines „Elements“. In diesem Sinne bezeichnet diskursive Praxis die immer nur graduelle Erzeugung von Bedeutung in einem überdeterminierten Terrain, das durch einen permanenten Bedeutungsüberschuss charakterisiert ist. Damit überhaupt vom Sozialen die Rede sein kann, zielt diskursive Praxis darauf, dieses unbeherrschbare Feld durch die Konstruktion von Semizentren, sogenannten „nodal points“ (Knotenpunkten), zu beherrschen – ein Versuch der aufgrund der konstitutiven Offenheit des Sozialen zum Scheitern verurteilt ist. „The practice of articulation, therefore, consists in the construction of nodal points which partially fix meaning; and the partial character of this fixation proceeds from the openness of the social, a result, in its turn of the constant overflowing of every discourse by the infinitude of the field of discoursivity“ (Laclau/Mouffe 2001: 113). In Laclaus und Mouffes Sozialtheorie nimmt der Begriff des Diskurses somit eine zentrale Stellung ein. Diskurs kann in der Hegemonietheorie allerdings nicht auf Kommunikation reduziert werden, sondern schließt jede symbolische Praxis ein. Auf der anderen Seite ist nach Laclau/Mouffe jede soziale Praxis immer auch symbolische Praxis. Ein weiteres Missverständnis, das mit den epistemologisch-realistischen Konnotationen von „Kommunikation“ und „Symbol“ und sicherlich auch mit der prominenten Rolle von Bourdieus Feldtheorie, wo die symbolischen Praxis an eine Feldstruktur gebunden bleibt, in den Sozialwissenschaften zusammenhängt, ist die Annahme, jenseits des Symbolischen liege mit der Sozialstruktur noch eine weitere Ebene. In der Hegemonietheorie spielt der Begriff Diskurs vielmehr auf Foucaults Begriff der „diskursiven Formation“ bzw. auf Wittgensteins „Sprachspiel“ an (vgl. Laclau/Mouffe 1990). Ein Sprachspiel ist nach Wittgenstein ein irreduzibler 77
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Komplex bestehend aus sprachlicher und ikonischer Kommunikation, Handlungen, Gegenständen und Regeln, die allesamt immer wieder neu hervorgebracht werden müssen (vgl. Wittgenstein 2000). Denn die Regeln für die spezifischen sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen können nicht schon vor ihrer Anwendung feststehen, verwiese eine solche Annahme doch auf eine transzendentale Ebene, die in letzter Konsequenz wieder einen geschlossenen Gesellschaftsbegriff begründen würde. Laclaus und Mouffes Sozialtheorie zielt jedoch gerade darauf ab, Gesellschaft nicht „auf ein letztes, determinierendes Fundament, eine Essenz, zu stellen“ (Brodocz 2000: 36). Um nun genau diese Situation der ungeregelten Regelhaftigkeit diskursiver Praxis theoretisch in den Griff zu bekommen, führen Laclau/Mouffe den Begriff des „Politischen“ und den der „Macht“ ein (Laclau 1990, Mouffe 2005). Das Politische verweist im Gegensatz zum Begriff „Politik“ (politics) auf die Dimension der konstitutiven Unentscheidbarkeit. Die Unentscheidbarkeit bezeichnet einen Moment vor oder besser im Akt der diskursiven Artikulation, wo eine prinzipiell unbegrenzbare Menge interdiskursiven Materials (Elemente, die Regeln ihrer Anordnung mit eingeschlossen) zur Verfügung steht, ohne dass gleichzeitig ein verbindliches Gesetz existierte, das vorgibt, wie die Elemente in Momente transformiert werden müssen. Das Dramatische dieser Situation der Unentscheidbarkeit liegt darin, dass immer eine Entscheidung herbeigeführt werden muss. Sich nicht zu entscheiden, wäre nur die schlechteste aller möglichen Entscheidungen (vgl. Zizek 2002: 170). Da der Entscheidungszwang in einer unentscheidbaren Situation auf keine Regel gegründet werden kann, ist jede getroffene Entscheidung, und damit jede diskursive Artikulation, eine politische Machtpraxis. Denn die Entscheidung für eine spezifische Option setzt den Ausschluss anderer Optionen voraus. Nur durch kontingente Ausgrenzung und Verdrängung anderer Möglichkeiten ist demnach Sozialität überhaupt möglich. Macht ist nach Laclau/Mouffe demnach keineswegs auf „Unterdrückung“ und „Ausschließung“ reduzierbar, sondern ist stets auch konstitutiv für die Herstellung sozialer Beziehungen. Mit dem Politischen und der Macht, die an die Stelle der abwesenden Essenz (des Gesetzes, der langue) treten, erhält die ontologische Dimension des Sozialen nun einen post-ontologischen Charakter, bezeichnen beide Kategorien doch gerade die Abwesenheit einer positiven Seinsordnung. Insofern ist das Soziale konstitutiv politisch und machtdurchsetzt (vgl. Stäheli 2001). Das Zentrum der „Gesellschaft“ ist nicht mehr der Garant für Politik. Es wird selbst politisch. Dass das Soziale nach Laclau/Mouffe konstitutiv politisch ist, impliziert allerdings nicht, dass jeder Akt diskursiver Artikulation in einem 78
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Freiraum unbegrenzter Möglichkeiten stattfindet. Vielmehr bilden die Knotenpunkte (nodal points) als „bewegliche Struktur“ (Nonhoff 2006: 33) eine Art Hintergrund für die aktualen Artikulationen. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Autoren damit wieder eine Art Essentialismus der Sozialstruktur einführen. Vielmehr verweist diese Kategorie, die Laclau missverständlicherweise ebenfalls als „das Soziale“ bezeichnet (vgl. Laclau 1990: 35), auf die sedimentierten Praktiken und repetitiven Handlungsverläufe, die das Soziale als dezentralen und nicht azentralen Raum auszeichnen (vgl. Marchart 2005). Damit gewinnen wir neben den kontingenten Akten diskursiver Artikulation und der konstitutiven Unabschließbarkeit ein drittes Merkmal des Sozialen. Denn neben den Momenten, die als Elemente immer schon im interdiskursiven Raum vorkonstruiert sind, verarbeiten die diskursiven Verknüpfungen auch Institutionen, Rituale, Textgenres und andere sedimentierte Praktiken, die jedoch jenseits des diskursiven Zugriffs, des Aktes der Artikulation, keinen ontologischen Status für sich beanspruchen können. Der partikulare Akt der diskursiven Artikulation, die kontingente Verknüpfung interdiskursiv verstreuter Elemente, ist die ontologische Substanz der „Gesellschaft“.
Differenz, Äquivalenz und Antagonismus: eine Methodologie der Hegemonieanalyse? Wie oben gezeigt wurde, bemühen Laclau/Mouffe ein strukturalistisches Argument um eine poststrukturalistische Sozialtheorie zu formulieren, in der das Soziale nicht länger als „Container“ (Beck 1998) gedacht werden kann, sondern als ein unabschließbares, überdeterminiertes Terrain diskursiver Artikulation. Laclaus und Mouffes Theoriekonstrukt erhält seine logische Stringenz, indem es zwischen zwei heterogenen Polen oszilliert. Diese heterogene Binärstruktur setzt sich auch in der eigentlichen Hegemonietheorie fort. Wird das Soziale als ein Terrain umschrieben, das sich durch kontingente diskursive Artikulationen konstituiert, dann ist damit jedoch noch nicht beantwortet, welchen Charakter diese Artikulationspraxis annimmt. Artikulation, verstanden als kontingente Herstellung einer Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen, kann eine Vielzahl von Beziehungsmodalitäten implizieren. Die Autoren entscheiden sich an diesem Punkt für die differenztheoretische Variante. Insbesondere hierin zeigt sich die Insistenz des Strukturalismus in Laclaus und Mouffes Denken. Nach Laclau/Mouffe sind diskursive Felder Systeme von Differenzen, wo jede Identität eines Elements ausschließlich durch Abgrenzung bestimmt wird (vgl. Nonhoff 2006, Stäheli 2000, 2001). Anders als in Saussures Linguistik oder Luhmanns Systemtheorie ist es jedoch nicht der Linguist oder Beobachter, der diese Operationen 79
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vollzieht, sondern das diskursive Feld selbst. Denn anders als der Strukturalismus Saussures ist die Hegemonietheorie kein methodologisches, sondern ein ontologisches Theorieprojekt. Der relationale Operationsmodus des Diskurses kann in einem poststrukturalistischen Sinne jedoch nicht der einzige diskursive Operationsmodus sein, würde dadurch doch gerade das Problem des Strukturalismus, die Kontingenz des Sozialen konzeptionell in den Griff zu bekommen, wiederholt. Die konstitutive Offenheit des Sozialen, welche die Grundvoraussetzung für die Möglichkeit von Kontingenz ist, konzipieren die Autoren als Zusammenbruch des Systems von Differenzen. Denn eine Differenzierung im System vollzieht immer auch die Differenzierung des Systems von dem, was es nicht ist, seinem Außen. Oder, um es in die Sprache Luhmanns zu übersetzen, jede Kommunikation als (sub)systemspezifische Operation vollzieht gleichzeitig die Differenz zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation. Das Außen des Systems von Differenzen ist jedoch keinesfalls ein anderes System, sondern die Grenze von „Systemazität“ oder „Sinn“. In diesem Sinne ist das Außen die Grenze von Objektivität als solcher. Diese Grenze bildet einen für alle Elemente des Systems gemeinsamen Bezugspunkt. Das heißt alle Elemente des Systems definieren ihre Zugehörigkeit zum System in Abgrenzung zum Nicht-System. Dies wiederum erschüttert den differentiellen Charakter der Elemente im System, weil sie vis-à-vis dieses Bezugspunktes äquivalent oder gleichbedeutend sind. An die Seite der Differenz tritt also die Äquivalenz als Negation der Differenz. Und obwohl Laclau/Mouffe sich vehement gegen dialektisches Denken wenden und dies als essentialistisch abqualifizieren (vgl. Scherrer 1995), werden diese beiden Operationsmodi nun durch einen dritten, den Antagonismus, ergänzt, der als genuin poststrukturalistische Kategorie sich der Logik von Differenz und Äquivalenz einerseits entzieht und andererseits darauf angewiesen bleibt (vgl. Laclau/Mouffe 2001: 122-134). Eröffnet nicht gerade diese Aufhebung den Raum für eine Vorstellung von Gesellschaft, die sich auf einen permanenten Zickzackkurs mit sich selbst bewegt? Und zeugt nicht die Dialektik als „Spur“ (Derrida) in der Hegemonietheorie von der Insistenz der marxistischen Tradition in Laclaus und Mouffes Denken? Die Autoren definieren den Antagonismus im Gegensatz zum Widerspruch und zum Realgegensatz, welche beide auf präkonstituierte Entitäten angewiesen bleiben, als die Grenze von Objektivität als solcher. Der Antagonismus bezeichnet demnach die Beziehung eines Elements zu seinem konstitutiven Außen. In diesem Sinne ist der Antagonismus der Name für die Unabschließbarkeit der Struktur. Durch das Oszillieren der Elemente zwischen Äquivalenz und Differenz unterhält die Gesell80
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schaft eine notwendige Beziehung zu ihrer radikalen Unmöglichkeit. Die Negativität des Sozialen durchdringt im Antagonismus das Soziale und markiert so einen Ort in der Gesellschaft, der symbolisch nicht besetzt werden kann, sodass im Antagonismus „certain discoursive forms, through equivalence, annul all positivity of the object and give a real existence to negativity as such“ (Laclau/Mouffe 2001: 128/29, Herv. i. O.). Die diskursive Struktur ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass alle Elemente dieser Struktur gleichzeitig einen differentiellen, äquivalenten und in der Folge dieser Überlappung einen antagonistischen Charakter annehmen. Aus diesem Grunde bewirkt die Nichtfixierbarkeit eines Elements, das heißt die Unmöglichkeit, ein Element auf eine einzige Bedeutung festzulegen, eine unbeherrschbaren Bedeutungsüberschuss der Struktur. Welche methodologischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Anders als die basale Axiomatik des Sozialen, die im Kern eine Ontologie des Sozialen umreißt, können die Operationsmodi des Sozialen trotz ihres ontologischen Charakters als methodologische Ableitungen der Ontologie interpretiert werden. Diesen Schritt geht zumindest Nonhoff (2006), um die oft beklagten methodologischen Defizite der Hegemonietheorie aufzulösen (vgl. Torfing 1999). Während für Laclau/Mouffe die differenztheoretische Logik der saussure’schen Linguistik auf der ontologischen Ebene problematisch wird, scheint ihr sozialtheoretisches Projekt methodologisch am Strukturalismus festzuhalten. Dies wird nicht nur in den späteren Arbeiten Laclaus noch einmal unterstrichen (vgl. Laclau 2005: 68), sondern zeigt sich auch in neueren Arbeiten, die Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie empirisch anwenden. So konzipiert Nonhoff (2006) Laclau/Mouffe folgend politische Diskurse als differentielle Systeme, die um einen konstitutiven Mangel herum organisiert sind und demnach durch die Ereignishaftigkeit diskursiver Artikulationen stets variierbar sind. Ausgehend diesem Hegemoniebegriff entwickelt Nonhoff insgesamt neun diskursive Strategien und Strategeme, die unterschiedliche Differenzierungsformen (Superdifferenz, Kontrarität, Differenz, Äquivalenz) umfassen und um einen unerreichbaren Mangel herum multiple diskursive Elemente anordnen. In einer umfassenden differenztheoretischen Analyse des hegemonialen Projekts „Soziale Marktwirtschaft“ rekonstruiert Nonhoff die strukturale Operationsweise des hegemonialen Projekts „Soziale Marktwirtschaft“ und zeichnet ein Bild von einer hegemonialen Formation, die im Kern durch Differenzen gekennzeichnet ist. Die Stärke von Nonhoffs hegemonieanalytischer Reformulierung liegt darin, die Formierung umfassender „hegemonialer Projekte“ jenseits der klassischen politikwissenschaftlichen Kategorien
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wie Territorium oder Kultur beschreiben zu können (vgl. auch Herschinger 2006). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch der Weg, den Marchart einschlägt (Marchart 2004). Nach einer hegemonietheoretischen Reformulierung der Medientheorie, insbesondere der Theorie der neuen Massenmedien Internet und Fernsehen, unternimmt Marchart eine empirische Analyse des „techno-okzidentalen Cyberdiskurses“. Methodisch greift der Autor hier vor allem auf Pêcheuxs Interdiskursbegriff zurück, indem er zeigt, wie der Cyberdiskurs unterschiedliches interdiskursives Material aus dem amerikanischen Gründermythos, dem Wirtschaftsliberalismus, Formen des Populismus und zeitgenössischen Politikdiskursen aufnimmt und dieses Material neu artikuliert. Anders als Nonhoff fokussiert Marchart die Bildung von Äquivalenzketten aus Elementen, die heterogenen sozio-historischen Feldern entstammen. Die Unterscheidung zwischen der ontologischen und der methodologischen Dimension der Theorie des Sozialen ist einerseits problematisch aber andererseits für eine empirische Arbeit notwendig. Problematisch ist dieser Schritt, weil die Autoren eine solche Unterscheidung selbst nicht ausdrücklich vornehmen. Die Hegemonietheorie ist in erster Linie eine Ontologie des Sozialen. Laclau/Mouffe argumentieren streng differenztheoretisch und suchen damit einen Weg, der über das differenztheoretische Paradigma hinausreicht. So bezeichnet der Mangel im Sozialen genau den Ort, der sich dem differentiellen Signifizierungsprozess entzieht. Da dieser Ort die Bedingung und das Produkt jeder diskursiven Artikulation ist, kann jede Artikulation immer nur graduell relational sein. Dies wirft nun die Frage auf, ob das differenztheoretische Paradigma eine angemessene methodologische Übersetzung der ontologischen Kategorie des Sozialen sein kann, markiert doch der Mangel – das Herzstück der Hegemonietheorie – gerade den Mangel an Differenz! Dieses Fehlen von Differenz lässt sich nun methodisch unmöglich differenztheoretisch denken – geschweige denn „äquivalenztheoretisch“. Während Differenz und Äquivalenz in erster Linie die Rolle von Beweisführungs- und Herleitungsadjutanten übernehmen, kumuliert im Begriff des Antagonismus die gesellschaftstheoretische Pointe der Theorie des Sozialen. Den Begriffen Differenz (Nonhoff) und Äquivalenz (Marchart) kann sowohl ein ontologischer als auch ein methodologischer Wert zugeschrieben werden. Im Falle des Antagonismus ist dies problematisch, bezeichnet doch der Antagonismus genau den Punkt, wo das ganze strukturalistische Projekt dialektisch aufgehoben wird. Der Antagonismus führt nicht nur die Kontingenz in das Soziale ein, sondern untergräbt darüber hinaus die kohärente Struktur des differenztheoretischen Systems. Damit stellt der Begriff des Antagonismus die Reichwei82
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te des differenztheoretischen Projekts, das hinter Laclaus und Mouffes Poststrukturalismus steht, in Frage. Nicht in der rigorosen differenztheoretischen Objektivierung der symbolischen Ordnung, um die es noch Saussure ging, liegt die Pointe der Hegemonietheorie, sondern in der gesellschaftstheoretischen Begründung der Diskontinuität des Sozialen mit den Mitteln des Strukturalismus. Der diskontinuierliche Charakter des Sozialen verlangt aber nach einer methodologischen Umorientierung, die uns die Autoren der Hegemonietheorie nicht geben. So sollen im Folgenden die zentralen gesellschaftstheoretischen Implikationen der Hegemonietheorie herausgearbeitet werden, um darauf aufbauend die ontologischen Brückenköpfe für die anschließende methodologische Übersetzung hochzuziehen.
Die gesellschaftstheoretische Rolle des Antagonismus Der soziale Raum der Hegemonietheorie ist keinesfalls „glatt“ und nicht-hierarchisch. Vielmehr betont Laclau, dass „the unevenness of power“ (Laclau 2000: 54) konstitutiv für hegemoniale Beziehungen und Subjektivierungsprozesse ist. Wie bereits gezeigt wurde, ist das diskursive Feld keinesfalls ein chaotisches, unbegrenztes Terrain ist, sondern vielmehr ein spannungsvoller Raum, der um Semizentren oder Knotenpunkte herum strukturiert ist (vgl. Laclau 1990b). Dieser dezentrale (und eben nicht azentrale) Charakter des hegemonialen Raumes muss als unmittelbare Konsequenz der Unabschließbarkeit des Sozialen betrachtet werden, denn die Lücken und Brüche in der diskursiven Struktur sind nicht auf eine ursprüngliche, vorgängige Leere zurückführbar, sondern unmittelbares Resultat diskursiver Artikulationsakte.1 Genau genommen zeigen die Risse und Brüche des Diskurses sich an dem Punkt, wo der Strukturalismus in den Poststrukturalismus übergeht, das heißt an der Stelle, wo durch das Oszillieren von Differenz und Äquivalenz das System im Antagonismus mit seiner internen Grenze konfrontiert wird. In dem Moment, wo die differentiellen Elemente eine Äquivalenzbeziehung eingehen, kristallisieren sich zwei neue Ebenen heraus, die jeweils auf einer qualitativ anderen Stufe angesiedelt sind. Denn die äquivalenten Elemente können nur mit Blick auf ein davon geschiedenes Element gleichbedeutend sein und eine Wir-Koalition formieren, die sich nun ihrerseits nur zu einem Wir formieren kann, wenn sie sich von einem Anderen abgrenzt.
1
Vgl. die Reaktion von Zizek und Laclau auf Butlers Vorwurf, beim Lacan’schen „Realen“ handle es sich um vorgängiges Sein (Butler 2000, Laclau 2000, Zizek 2000b) 83
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Laclau/Mouffe sprechen in diesem Fall von der Bildung „leerer Signifikanten“ (empty signifier). Leere Signifikanten beschreiben Laclau/Mouffe als partikulare Elemente, die aus dem System von Differenzen heraustreten und dadurch in der Lage sind, das System als solches zu bezeichnen. In dieser Stellung fungiert der leere Signifikant als Bezugspunkt für die Äquivalenzbildung und ist Grundvoraussetzung für die Aufteilung des gesellschaftlichen Raumes in einen Bereich des Eignen, der durch den leeren Signifikant markiert wird, und einen Bereich des Anderen, wo all das diskursive Material verortet wird, das das Subjekt braucht um ein Ich-Gefühl zu entwickeln. Der leere Signifikant ist demnach der Name der Wir-Gemeinschaft, die durch den Anderen an ihrer vollen Entfaltung gehindert wird. Genau diesen Akt der Universalisierung von Partikularitäten, der Trennung des Raumes in einen Bereich des Eigenen und einen Bereich des Anderen und die damit einhergehende Produktion eines Ortes, wo ein sprechendes Subjekt sichtbar wird, bezeichnen die Autoren als Hegemonie. Hegemonie basiert demnach auf Universalisierung, Subjektivierung und Ausschluss (vgl. Laclau 1996c).
Universalisierung und leerer Signifikant Der leere Signifikant ist eine Partikularität, die durch die Bildung einer Äquivalenzkette aus dem System von Differenzen heraustritt und damit ihren Status als Partikularität verliert, ohne jedoch kein Signifikant, das heißt der Form nach keine Partikularität mehr zu sein. Als eine solche prädestinierte Partikularität verliert der leere Signifikant seine Spezifizität und kann dadurch mit einer Vielzahl von Bedeutungen aufgeladen werden. Nonhoff schlägt deshalb vor, den leeren Signifikanten als „entleerten Signifikanten“ zu bezeichnen (vgl. Nonhoff 2001). Damit umschreibt Nonhoff einen der beiden zentralen Aspekte des leeren Signifikanten: nämlich den, dass er immer wieder mit differenten Bedeutungen aufge- und entladen werden muss. Brodocz (2003) veranschaulicht diesen Aspekt am Beispiel der Verfassung, indem er von der Verfassung als „deutungsoffenem Signifikanten“ spricht. Demnach ist die Verfassung einerseits mit ganz unterschiedlichen Deutungen besetzbar; andererseits muss sie aber stets auf eine Bedeutung reduzierbar sein, weil die Verfassung ansonsten ihre Verbindlichkeit verlieren würde. Die jeweilige Bedeutung ist jedoch weder für alle Gesellschaftsmitglieder identisch, noch ist sie endgültig fixierbar. Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht auf eine getroffene Entscheidung beruft, dann wird dadurch die „ursprüngliche“ Deutung nicht einfach nur wiederholt, sondern muss mit neuem Sinn aufgeladen, auf einen anderen spezifischen Konflikt bezogen und daher variiert werden (vgl. auch Brodocz 2002 und für den Fall der Menschenrechte Bonacker/Brodocz 2001). Die Verfassung „an sich“ 84
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ist demnach „leer“ und steht auch in keiner differentiellen Beziehung zu anderen Verfassungen, die ihr wieder eine spezifische Bedeutung geben könnten. Als deutungsoffener Signifikant markiert sie vielmehr den „leeren Ort“ (Lefort), in Bezug auf den Bedeutung produziert werden kann. Der andere Aspekt des leeren oder „entleerten“ Signifikanten besteht darin, dass er wegen seiner (spezifischen) Bedeutungslosigkeit multiple Bedeutungen hervorbringen kann. Gerade weil der leere Signifikant als der Name der Universalität der sozialen Ordnung „an sich“ nichts bedeutet, kann von ihm aus alles in diesem Rahmen Denkbare bedeutet werden. Insofern ist „the universal [...] the symbol of a missing fullness“ (Laclau 1996a: 28). Der leere Signifikant ist demnach eine paradoxe Gestalt, weil seine partikulare Leere die Voraussetzung für Bedeutungspluralität ist, die ihrerseits einen universalen Rahmen aufspannt. Die Leere des leeren Signifikanten verweist auf die permanent zum Scheitern verurteilten Versuche, diese Leere mit neuer Bedeutung aufzufüllen. Sie ist der Ort des lacanianischen „Begehrens“, der nach „Sättigung“ verlangt, die freilich immer nur „verschoben“, nie jedoch „erlangt“ werden kann. Die Ordnung des Sozialen ist nicht auf eine positive ontologische Entität reduzierbar, sondern wird gerade durch die Abwesenheit eines solchen Zentrums hergestellt.
„Das Subjekt“ und Subjektivität Der hegemoniale Ort der Leere, das heißt der Riss in der diskursiven Struktur, der vom leeren Signifikanten gezeigt oder besetzt wird, ist nun der Ausgangspunkt für den auf Lacan zurückgehenden Subjektbegriff der Hegemonietheorie (vgl. Laclau/Zac 1994). „Das Subjekt“ im Sinne des cartesianischen Cogito ist genau dort positioniert, wo die diskursive Struktur reist, und dies bedeutet gerade nicht, dass „das Subjekt“ als Entität nicht existiert. Es „existiert“ – aber eben als Leerstelle im Diskurs, und in dieser Funktion evoziert „das Subjekt“ immer wieder neue Akte der (unerreichbaren) Schließung (vgl. dazu ausführlich Zizek 2000a: 125-244). „Das Subjekt“ „ist“ der leere Ort. Laclau spricht in diesem Zusammenhang von „Identifizierung“, weil das Erreichen einer vollen Identität unmöglich ist (Laclau 1990a). Das Subjekt des Diskurses (nicht „das Subjekt“) ist nur als sprechendes Subjekt denkbar, dem die innere Fülle im Akt der Identifizierung nur als spontane Illusion zur Verfügung steht und das permanent mit dieser Unmöglichkeit, das heißt mit der „ursprünglichen“ Leere „des Subjekts“ konfrontiert wird. Insofern kann behauptet werden, dass „das Subjekt“ Subjektivität als Subjekt des Dis-
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kurses begründet. Die Bedeutungslosigkeit des ausgesagten „Ich“2 im Moment des Sprechens, das heißt im Moment der diskursiven Artikulation, verweist genau auf diese Dimension. Das Subjekt des Diskurses wird allerdings nicht nur durch diesen permanenten strukturellen Zwang zu weiteren Identifizierungen produziert. Um „ich“ sagen zu können, muss es sich von etwas anderem abgrenzen. Slavoj Zizek spricht in diesem Fall vom „Phantasma“ (Zizek 1989). Das Phantasma beschreibt Zizek als die symbolisierte bzw. „externalisierte“ Unmöglichkeit „des Subjekts“ (Cogito). Das Subjekt muss in gewisser Hinsicht zwischen sich selbst und den Anderen, die das „Ich“ daran hindern, sich voll mit sich selbst zu identifizieren, diskriminieren. Als Phantasma ist der Andere der symbolisierte Ausschluss, den das Subjekt des Diskurses aber braucht, um im Akt der Identifizierung „sich“ zu erkennen. Laclau/Mouffe greifen zumeist auf Revolutionsdiskurse zurück um die These zu illustrieren, dass der Andere als der, der die Identität des „Ich“ an der vollen Entfaltung hindert, aus genau diesem Grunde die Möglichkeitsbedingung von Identität ist (vgl. Laclau/Mouffe 2001: 134-145, Laclau 2005). So zeigt Laclau (2005: 130), wie im Anti-Zaristischen Befreiungsdiskurs der Russischen Revolution der Zarismus als genau der Signifikant fungiert, der das „Volk“ daran hindert, „seine“ Rechte in Anspruch zu nehmen und genau dadurch die Identität des „Volkes“ erst begründet.
Der doppelte Ausschluss Hegemonie basiert also auf zwei Ausschlussmechanismen. Einerseits auf den Ausschluss von Bedeutung über den leeren Signifikanten und andererseits auf dem Ausschluss des Anderen durch die räumliche Diskriminierung. Gesellschaftstheoretisch gedacht, haben wir es im ersten Fall mit der konstitutiven Leerstelle zu tun, die das Soziale überhaupt erst begründet. Laclau/Mouffe haben diese konstitutive Dimension des Sozialen mit einem strukturalistischen Argument begründet. Die Schlussfolgerung dieser Argumentation weist aber über den Strukturalismus hinaus. Die Differenz zwischen dem Sozialen und der Leerestelle ist keinesfalls mehr als Differenz, sondern nur noch als Zusammenbruch von Differenzialität denkbar: als Antagonismus. Der Antagonismus bezeichnet die Grenze des Symbolisierbaren. Im Falle der Diskriminierung zwischen dem Bereich des Eignen und des Anderen im Zuge der Identifizierung, die als ein unmittelbares Resultat des ersten Ausschlusses aufgefasst werden muss, handelt es sich 2
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„Bedeutungslos“ ist „ich“, weil im Grunde jeder „ich“ sagen kann. Damit verliert der Signifikant „ich“ seine Spezifizität.
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dagegen durchaus um eine Symbolisierung und damit um eine Differenzierung. Der erste Ausschluss und der zweite Ausschluss liegen somit nicht auf dem gleichen Niveau, handelt es sich doch beim ersten Ausschluss um die Unterdrückung anderer Artikulationsmöglichkeiten durch die Besetzung des leeren Ortes mit dem leeren Signifikanten (vgl. Laclau 1990a) und im zweiten Fall um einen Ausschluss der Anderen aus dem Feld des Eigenen. Die Anderen können aber nur aus dem Bereich des Eigenen ausgeschlossen werden, indem sie als Andere anerkannt werden. Das heißt, dass der soziale Ausschluss den symbolischen Einschluss impliziert! Damit gehören die multiplen Anderen immer auch zu der sozialen Ordnung, die durch den ersten Ausschluss evoziert und durch den leeren Signifikanten begründet wurde. Der imaginäre Einschluss des symbolisch Ausgeschlossenen ist also die Voraussetzung von Subjektivität und Sozialität ebenso wie der radikale Ausschluss anderer Artikulationsmöglichkeiten und die Produktion einer Leerstelle im Diskurs. Im Akt der diskursiven Artikulation werden also zwei differente Prozesse vollzogen, die wechselseitig heterogen und konstitutiv sind. Einerseits bedeutet diskursive Artikulation in ein differentielles Feld zu intervenieren und die „bewegliche Struktur“ (Nonhoff) differentieller Positionen dieses Feldes antagonistisch zu reartikulieren, zu desartikulieren oder neuzuartikulieren. Andererseits ist diskursive Artikulation auf einen konstitutiven Mangel des Systems angewiesen, der den differentiellen Charakter des Systems unterspült, weil das System eine antagonistische Beziehung zu seinem Außen aufrechterhält.
Die Logik des Sozialen Die Konturen des hegemonialen Feldes In einem ersten Kommentar zur Hegemonietheorie bemerkt Slavoj Zizek (1990), dass Laclau/Mouffe offensichtlich mit zwei unterschiedlichen Antagonismusbegriffen arbeiten. Einerseits verwenden die Autoren den Antagonismusbegriff, um ihre gesellschaftstheoretische These zu begründen, wonach Gesellschaft als geschlossene Totalität eine Unmöglichkeit ist. In diesem Fall ist der Antagonismus konstitutiv für die Unabgeschlossenheit des Sozialen und bezeichnet den Ort purer Negativität. Diese Dimension des Antagonismus bezeichnet das Lacan’sche Reale und bezieht sich auf die Inkonsistenz der symbolischen Ordnung. Die symbolische Ordnung bezeichnet nach Lacan neben dem „Imaginären“ und dem „Realen“ eines der drei konstitutiven Register des Diskurses. Das Register des Symbolischen beschreibt Lacan als das metaphorische und metonymische Operieren von „Signifikantenketten“, die ihr Signifikat immer nur um den Preis der Produktion eines weiteren Signifikanten 87
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finden ad infinitum. Die Signifikantenkette erreicht demnach niemals ihr letztes Signifikat, weil es um die Unmöglichkeit dieses letzten Signifikats herum strukturiert ist – eine Unmöglichkeit, die unmittelbar durch das Operieren der Signifikantenkette erst hervorgebracht wird (vgl. Lacan 1991). Im Akt der Symbolisierung wird demnach immer ein Moment hervorgerufen, das sich seiner Symbolisierung entzieht. Auf der anderen Seite bezieht sich der Antagonismusbegriff bei Laclau/Mouffe auf die identitätskonstitutiven antagonistischen Auseinandersetzungen. Hier wird der Andere jedoch sehr wohl symbolisiert, auch wenn der „reale“ Andere nie vollständig erfasst wird. Wie oben gezeigt wurde, ist dies der Punkt, wo das Subjekt mit seiner „ursprünglichen“ Leere konfrontiert wird und diese Unmöglichkeit subjektiver Fülle durch die phantasmatische Konstruktion des antagonistischen Anderen externalisiert (vgl. Zizek 1989). Diese Dimension des Antagonismus befindet sich, um es wiederum in die Lacan’sche Sprache zu übersetzen, auf der Ebene des Imaginären, das heißt auf der Ebene der Subjektkonstitution. Im Gegensatz zur symbolischen Ordnung der Signifikanten, die ihr letztes Signifikat suchen aber nie erreichen, wird die Ordnung des Imaginären durch räumliche („hier und dort“), zeitliche („damals“, „jetzt“, „demnächst“) und personale („ich“, „du“, „er/sie/es“) Koordinaten organisiert (vgl. Lacan 1990). Auch Stäheli rekonstruiert an der Schnittstelle dieser beiden Antagonismen zwei heterogene Argumentationsmuster (vgl. Stäheli 1995: 383-385). Im Fall der Begründung der Unmöglichkeit von Gesellschaft argumentieren Laclau/Mouffe nach Stäheli mit der Lacan’schen Figur des Realen, wohingegen Stäheli im Fall der Identitätskonstruktion Derridas différance-Argument, wonach sich ein Element immer nur durch einen Akt der Verschiebung konstituiert, am Werk sieht. Trotz der Tatsache, dass im Fall der antagonistischen Identitätskonstitution der Andere durchaus symbolisiert wird – wenn auch „inadäquat“ –, wohingegen sich die Figur des Realen auf die Unmöglichkeit von Symbolisierung überhaupt bezieht, könnte immer noch eingewendet werden, beide Phänomene seien nur zwei Seiten derselben Medaille. Handelt es sich doch beide Male um die Unabschließbarkeit des Sozialen: im ersten Fall um die Unmöglichkeit einer voll entfalteten differentiellen Struktur und im zweiten Fall um die Unmöglichkeit einer abgeschlossenen Identität. Dem könnte man wiederum entgegnen, weshalb es zweier Argumentationsmuster bedarf, wenn doch beide Male das Gleiche gemeint ist? Versuchen wir dieses Problem anhand einer Illustration zu beleuchten. In Brodocz Beispiel der Verfassung als deutungsoffener Signifikant nimmt die Verfassung die Position des leeren Signifikanten ein und markiert so den Ort, wo Gesellschaft mit ihrer eigenen Unmöglichkeit 88
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konfrontiert wird. Die Verfassung würde demnach den „leeren Ort der Macht“ (Lefort) begründen, der in demokratischen Gesellschaften nie mit nur einer einzigen Bedeutung besetzt werden kann. Die unterschiedlichen Verfassungsinterpretationen bezeichnen hingegen die Ebene der antagonistischen Auseinandersetzungen und Identifizierungsprozesse. Der konkrete Fall der Frage der Verfassungskonformität unterscheidet sich also sehr wohl von der Frage nach dem Sinn der Verfassung überhaupt. Oliver Marchart (1998) gibt uns ein passendes Instrument zur theoretischen Differenzierung dieses Unterschieds an die Hand. Die Frage, ob zum Beispiel das Studiengebührenverbot im Hochschulrahmengesetz verfassungswidrig ist oder nicht, betrifft einen ganz anderen Referenten als die Frage, ob die Verfassung selbst verfassungswidrig ist oder nicht. Im ersten Fall geht es um die Frage, welchen Ort ein Element innerhalb eines Systems bezieht, im zweiten Fall geht es hingegen um die Systemfrage als solche. Die Dimension des leeren Signifikanten ist also keinesfalls identisch mit der Dimension des Anderen, obwohl beide durch den Antagonismus hervorgebracht werden und beide sich auf die Unmöglichkeit der Schließung des Diskurses beziehen. Vielmehr begründet der leere Signifikant (Verfassung) als ordnungsstiftende Leerstelle des Diskurses überhaupt erst die Produktion weiterer Signifikanten (Studiengebührenfrage). Nicht der leere Signifikant ist der Ausgangspunkt von Identifizierungsakten, sondern deren Bedingung, weil vom Ort des leeren Signifikanten die Produktion weiterer Signifikanten ausgeht, die dann der Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und Identifizierungsprozessen sind. Erst wenn es einen Signifikanten gibt, der selbst nicht in Frage gestellt wird, sondern immer schon als gegeben akzeptiert wird und demzufolge an sich keine Bedeutung hat (Verfassung), werden Sinngebungsprozesse (Studiengebühren) ermöglicht. Diese Konstruktion nun macht aber nur Sinn, wenn wir akzeptieren, dass die beiden Antagonismen durchaus eine jeweils eigene Rolle spielen. Der erste Antagonismus konstituiert die Gesellschaft, wohingegen der zweite Antagonismus erst möglich wird, wenn im Akt der hegemonialen Artikulation der universale Horizont einer solchen Gesellschaft mitevoziert bzw. präsupponiert wird. Mit Blick auf eine Unterscheidung Althussers zwischen dem Begriff der Ideologie, der den allgemeinen Mechanismus und die Bedingung von Subjektivierung (Interpellation) bezeichnet, und dem Begriff der ideologischen Formation, der den konkreten Sozialen Ort bezeichnet (vgl. Althusser 1977), würde ich vorschlagen, den Signifikanten auf der gesellschaftstheoretischen Ebene als hegemonialen Signifikanten und den Signifikanten auf der Ebene des Subjekts als antagonistischen Signi89
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fikanten zu bezeichnen. Der antagonistische Signifikant hat ebenso wie der hegemoniale Signifikant einen flottierenden, das heißt einen nicht völlig fixierbaren und damit „deutungsoffenen“ (Brodocz) bzw. „entleerten“ (Nonhoff) Charakter. Allerdings unterscheiden sich hegemonialer und antagonistischer Signifikant durch ihre asymmetrische Abhängigkeitsbeziehung. Der hegemoniale Signifikant instituiert den antagonistischen Signifikanten und lässt ihn so in seiner spezifischen Optik hervortreten, indem über den antagonistischen Signifikanten im Namen der (unabschließbaren) Ordnung, die der hegemoniale Signifikant konstituiert, gesprochen wird. Beide ermächtigen sich gegenseitig. Ohne die Verfassung (hegemonialer Signifikant) wäre die Frage nach der Verfassungswidrigkeit/-konformität der Studiengebühren (antagonistischer Signifikant) unmöglich, wohingegen ohne die Frage nach den Studiengebühren die Ordnung der Verfassung nicht präsent wäre. In dieser Abhängigkeitsbeziehung ist der hegemoniale Signifikant eigentümlich „machtlos“, weil der antagonistische Signifikant die jeweils virulente Frage in Bezug auf den hegemonialen Signifikanten stellt. Ebenso wie der Schirmherr einer Initiative ist er nicht in der Lage, die konkreten Auseinandersetzungen zu führen, bleibt dies doch der Initiative, die nur den Namen des Schirmherren trägt, überlassen. Aus diesem Grunde eignen sich bereits verstorbene Personen als Namensgeber besonders gut, da sie auf der Ebene des Antagonismus nicht mehr selbst in das Geschehen eingreifen müssen. Andererseits braucht der antagonistische Signifikant den hegemonialen Signifikanten als Namenspatron des hegemonialen Feldes, um die jeweilige Identität prestigeträchtig auszustatten und damit einem spezifischen sozialen Ort (innerhalb einer Ordnung) zuzuweisen. Wenn nicht immer schon klar ist, was entschieden werden soll, verliert der antagonistische Signifikant seine Virulenz. Der hegemoniale Signifikant organisiert im hegemonialen Feld das Prestige, indem er dem Feld seinen Namen gibt und der antagonistische Signifikant übernimmt die eher „technische“ Aufgabe der Identifizierung (Laclau 1990a) durch die Rekrutierung spezifischer Sprecher. Hegemoniale Felder weisen demnach zwei unterschiedliche, aber aufeinander angewiesene Dimensionen auf. So müssen die einzelnen Akte diskursiver Artikulation analytisch von dem universalen Rahmen, der in den einzelnen Akten immer auch aufgespannt werden muss, unterschieden werden. Der universale Rahmen konstituiert ein Feld, das die einzelnen Akte übersteigt und einschließt. Dieser universale Rahmen ist jedoch keine ontologische Positivität, sondern der ideologische Effekt multipler partikularer (antagonistischer) Akte. Ein einzelnes diskursives Produkt muss immer seine Zugehörigkeit zu einem umfassenderen Ganzen mit hervorbringen, um eine spezifische Relevanz entfalten zu kön90
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nen. Hegemonie ist somit ein Mechanismus, der unterschiedliche partikulare Elemente mit einander in Beziehung setzt und dadurch einen universalen Effekt evoziert. Von der hegemonialen Konstellation gehen wiederum spezifische Effekte aus, im Anschluss an Foucaults Gouvernementalitätstheorie als Machteffekte beschrieben werden können. Die spezifische Verknüpfung zwischen dem Partikularen – den einzelnen diskursiven Akten auf der Ebene des antagonistischen Signifikanten – und dem Universalen – den Rahmen des hegemonialen Signifikanten, der die ideologische Totalität eines Feldes hervorbringt und ausgehend von den partikularen Akten evoziert wird – begründet zu haben, ist das Verdienst der Hegemonietheorie. Dass es Laclau/Mouffe versäumt haben, hierfür eine angemessene methodologische Übersetzung anzubieten, liegt sicherlich in ihrer Geringschätzung der „ontischen“ Ebene begründet. Für die Ausarbeitung einer hegemonietheoretischen Diskursanalyse erfordert dies einerseits eine ontologische Ausbuchstabierung des hegemonialen Feldes, das den Kontext der einzelnen diskursiven Aussagen umreist. Auf der anderen Seite muss diese ontologische Ausbuchstabierung methodologisch kohärent übersetzbar sein. Bevor dies im nächsten Kapitel mit Foucaults Theorie der diskursiven Formation erfolgt, soll hier anhand eines empirischen Beispiels die Problematik der Verknüpfung des Universalen mit Partikularen demonstriert werden.
Ein Beispiel Der Baden-Württembergische Wissenschaftsminister Peter Frankenberg lässt sich am 20. August 2001 im „Tagesspiegel“ mit der folgenden Aussage zitieren: „Nicht jeder soll vom Bachelor zum Master wechseln.“
Zunächst soll danach gefragt werden, welche Elemente dieser Aussage auf der Ebene des antagonistischen Signifikanten analysiert werden können. Die Negation „nicht“ und das Personalpronomen „jeder“ verweisen hier auf die Person „Peter Frankenberg“, die in Bezug auf den Objekt- und Prädikatsteil des Satzes „soll vom Bachelor zum Master wechseln“ eine Position bezieht. Dass es sich in dieser Stellungnahme Frankenbergs um einen Konflikt handelt, bezeugt die Negation „nicht“. Während der Sprecher (Peter Frankenberg) die Position „Nicht jeder soll vom Bachelor zum Master wechseln“ vertritt, weist Frankenberg einen (imaginären) Widersacher zurück, der für die gegenteilige Position steht („Jeder soll vom Bachelor zum Master wechseln“). Damit wird zunächst ein Feld um zwei antagonistische Positionen herum aufgespannt. 91
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Wenn wir diese Aussage auf der Ebene des hegemonialen Signifikanten untersuchen wollen, dann fragen wir danach, welcher universale Rahmen von dieser Aussage aufgespannt wird. Die Nomen „Bachelor und Master“ verweisen hier zunächst auf den „Bologna-Prozess“ mit seiner gesamten Problematik. Dadurch schreibt sich diese Aussage in ein mehr oder weniger komplexes Feld ein, das über eine Geschichte verfügt, über einen institutionellen Rahmen, über einen spezifischen Platz innerhalb der Hochschulreformen etc. Zudem verweist der Konflikt zwischen dem Sprecher „Frankenberg“ und dem (imaginären) Widersacher auf diverse Konfliktlinien innerhalb des Feldes. Diese Konfliktlinien können sich auf Partikularkonflikte um einzelne Sachthemen beziehen oder innerhalb eines großen Lagerkonfliktes verortet sein. Schließlich verweist der Name „Peter Frankenberg“ auf den Baden-Württembergischen CDU-Wissenschaftsminister, der im Rahmen des Bildungsföderalismus eine spezifische institutionelle und machtpolitische Position bezieht etc. All diese Kontextmerkmale verweisen jedoch nicht auf ein unabhängig von dieser Aussage existierendes, präexistentes oder transzendentales Feld. Vielmehr wird auch das hegemoniale Feld erst durch die diskursive Aktivität auf der Ebene des antagonistischen Signifikanten hervorgebracht. So evoziert ein partikularer Akt (die Aussage) einen umfassenderen, universalen Rahmen, der ein hegemoniales Feld konstituiert. Jenseits des partikularen Aktes, der Aussage oder des Textes, befindet sich immer mehr als nur das singulare Phänomen. Aber ohne die kontingente Erscheinung des singularen Phänomens wäre das „Mehr“ der Gesellschaft ein „Nichts“. Erst durch die hegemoniale Verknüpfung des interdiskursiv verstreuten Rohmaterials im Zuge der partikularen Artikulation wird die Gesellschaft als heterogenes hegemoniales Feld virulent. Aber wie kann dieser hegemoniale Effekt methodisch herausgearbeitet werden? Nach Laclau/Mouffe müssten wir unterschiedliche Elemente isolieren, die in einer äquivalenten Beziehung zueinander stehen, damit der universale Effekt evoziert wird. Dies ist an dieser Aussage jedoch kaum nachvollziehbar. Ein weiteres Problem besteht darin, wie mit der Hegemonietheorie die Beziehungen der Elemente im Material gezeigt werden kann. Wo beispielsweise zeigt sich die Differenz zwischen „Bachelor und Master“ und „Diplom/Magister“? Methodologisch gesehen scheint es sinnvoll zu sein, von multiplen Beziehungsmodalitäten auszugehen. Aus textpragmatischer Sicht handelt es sich im oben angeführten Textbeispiel um Implikationen und Implikaturen; polyphonietheoretisch gesehen wird hier ein Lokutor evoziert, der zwei Sprecherperspektiven sich widersprechende Propositionen vertreten lässt, wobei der Lokutor einen Sprecher annimmt und den anderen zu92
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rückweist; sprechakttheoretisch gesehen handelt es hier um eine direktive Aussage. Aus differenztheoretischer Sicht müssten Unmengen von Material angeführt werden, um zu zeigen, dass hier ein Konflikt vorliegt. Und selbst dann wäre nicht sicher, ob dieser Konflikt wirklich am Material gezeigt werden könnte. Zudem bleibt die Frage offen, wie der Mangel des hegemonialen Feldes im Antagonismus herausgearbeitet werden kann. Schließlich müssen in der Analyse einerseits Aspekte herangezogen werden, die sich am Text zeigen lassen, und solche, die nicht direkt dem Text entnehmbar sind, weil sie Teil des Kontextes sind. Für eine hegemonietheoretische Diskursanalyse, wie sie im fünften und sechsten Kapitel dieser Arbeit durchgeführt werden soll, erfordert dies eine methodische Zweiteilung. Während für die Analyse der partikularen antagonistischen Akte die äußerungstheoretische Diskursanalyse herangezogen werden soll, kann der Bereich, der den weiteren Rahmen des hegemonialen Feldes bildet, mit der Frame-Semantik von Minsky beschrieben werden. Die äußerungstheoretische Diskursanalyse hat einzelne Textausschnitte zum Gegenstand, die erschöpfend und objektiv analysiert werden können. Die Frame-Analyse ist dagegen eine Katalogisierungstechnik. Damit soll das kontextuelle Rohmaterial aufgelistet werden, auf das die einzelnen diskursiven Akte selektiv und kontingent zugreifen.
Die Gouvernementalisierung des hegemonialen Feldes Aber welche Wirkungen entfalten hegemoniale Felder, wenn sie als Produkte vorliegen? Zu den großen Verdiensten des Sprachwissenschaftlers Saussure zählt nicht nur das den Strukturalismus begründende differenztheoretische Paradigma, wonach „es in der Sprache [...] nur Verschiedenheit ohne positive Einzelglieder [gibt]“ (Saussure 1967: 143). Anders als Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie ist Saussures Theorieprojekt methodologischer und nicht ontologischer Natur (vgl. Jameson 1972: 3-39). In diesem Sinne unterscheidet Saussure die Analyse der Sprache in eine diachrone und eine synchrone Perspektive. Während die diachrone Analyse der Frage nach der Entwicklung und Transformation des Sprachbaus (langue) nachgeht, untersucht die synchrone Analyse die Struktur des Sprachbaus, wie sie im Hier und Jetzt des konkreten Sprachgebrauchs (parole) realisiert wird. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Synchronie und Diachronie spricht Saussure sogar von zwei unterschiedlichen Wissenschaften, wobei die eigentliche sprachwissenschaftliche Analyse den synchronen Sprachbau, nicht aber die diachronen Transformationen in den Blick nimmt. Aus
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methodologischer Sicht ist demnach die Synchronie von Interesse, weil nur diese Dimension einen sprachwissenschaftlichen Zugang erlaubt. In dieser Arbeit soll keine Analyse der langue durchgeführt werden. Vielmehr wurde mit dem Begriff des hegemonialen Feldes ein gesellschaftstheoretisches Axiom formuliert, das den Mechanismus der Konstitution des Sozialen umreißt. Mit den Methoden der äußerungstheoretischen Diskursanalyse (vgl. Kapitel 5) sollen die formalen Strukturmerkmale und die generativen Regeln der Bildung dieser Struktur herausgearbeitet werden (vgl. Kapitel 7). Damit ist auch die empirische Analyse dieser Arbeit eine synchrone Analyse und keine Policyprozessanalyse. Aber anders als Saussures langue bezeichnet der Begriff des hegemonialen Feldes kein kohärentes System. Hegemoniale Felder sind hierarchische und heterogene Gebilde, die durch spezifische Mechanismen konstituiert werden, indem antagonistische (partikulare) Akte auf interdiskursiv verstreutes Rohmaterial zugreifen und durch die Regeln der Anordnung einen universalen (hegemonialen) Effekt evozieren. Hegemonie bedeutet allerdings nicht, dass partikulare Akte ausschließlich auf interdiskursives Rohmaterial (retrospektiv) zugreifen. Vielmehr erzeugt der hegemoniale Mechanismus selbst neues interdiskursives Rohmaterial, das weiteren hegemonialen Akten zur Verfügung steht. Hegemonie findet stets in einem „vorstrukturiertem“ Raum statt, ohne dass die Struktur dieses interdiskursiven Raumes nachfolgende Akte schlicht determinieren würde. Das Verhältnis zwischen den durch hegemoniale Akte erzeugten interdiskursiven Rohmaterialien und daran anschließenden hegemonialen Akten ist kontingent, nicht jedoch beliebig! Aber wenn dieses Verhältnis kontingent aber nicht beliebig ist, wie kann es dann beschrieben werden? Hierfür bieten Foucaults Machtanalysen mögliche Antworten.
Von der Souveränität zur Biomacht Der Begriff der Macht nimmt nicht nur durch die zahlreichen Publikationen, Vorlesungen und Vorträge eine prominente Stellung in Foucaults Gesamtwerk ein. Er fungiert zudem als ein systematisches Bindeglied zwischen der Frage des Wissens, die Foucault in der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens behandelt, und der Frage des Subjekts, der er sich Anfang der 1980er Jahre verstärkt zuwendet (vgl. Foucault 1989a, b). Für Foucault ist die Macht nicht nur eines neben zahlreichen anderen Phänomenen moderner Gesellschaften, sondern ist die Bedingungen für die Produktion von Wissen und diskursiver Subjektivität. Wenn das Wissen und die Wahrheit das Produkt und die Voraussetzung sozialer Praxis sind, kann die Macht als die dynamische Matrix der Wissens- und Wahrheitsproduktion beschrieben werden (vgl. Deleuze 94
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1992). Ist Macht nach Weber „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1980: 28), so umreißt Foucaults Machtbegriff eine Dimension sozialer Praxis, die zugleich allgemeiner und konkreter ist als Webers Dominanzbegriff. In Der Wille zum Wissen unterstreicht Foucault, dass Macht nicht auf Repression reduzierbar ist (vgl. Foucault 1983: 23-53). Die „Repressionshypothese“, so Foucault, unterstellt eine Instanz (herrschende Klasse, Monarch, Vater etc.), die Macht „besitzt“ und aufgrund dieser Eigenschaft die Möglichkeit hat, andere (beherrschte Klasse, Untertan, Frau/Kind etc.) zu hindern, ihre individuellen Gattungspotentiale zu entfalten. Dem hält Foucault entgegen, dass jede Entfaltung von Subjektivität auf Macht angewiesen ist. Zwar leugnet Foucault nicht „Herrschaftszustände, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt“ (Foucault 1983: 26, vgl. auch Lemke 2002: 483-487), jedoch weist er den „negativen“ Charakter einer solchen weberianischen Machtkonzeption zurück. „Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches“ (Foucault 1994: 250). Indem Foucault den produktiven Charakter der Macht unterstreicht, weist er nicht nur einen „juridischen“ Souveränitätsbegriff zurück, wonach „ein allmächtiger Potentat“ an der Spitze eines Staates steht und durch Gesetze und Verbote reglementierend in die Gesellschaft eingreift. Vielmehr reduziert die „juridische Konzeption“ (Lemke 1997: 98) Macht einerseits auf eine Besitzkategorie, wodurch auf der anderen Seite machtfreie Räume unterstellt werden, die sich dem Zugriff des Souveräns entziehen. Dagegen bringt Foucault die Relationalität und Universalität von Macht in Anschlag. Die Macht ist demnach allgemeiner als die weberianische Konzeption, weil sie jede soziale Beziehung „affiziert“ (Deleuze 1992). Gleichzeitig ist sie konkreter, weil sie nach Foucault keine abstrakte Besitzkategorie bezeichnet, sondern eine Technik, die nur in ihrer praktischen Ausübung studierbar ist. „[D]ie Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (Foucault 1983: 94). Damit hat der Begriff der Macht für Foucault einen ähnlichen Status wie die Solidarität in Durkheims Gesellschaftstheorie, mit dem Unterschied, dass Solidarität die Gesellschaft nach Durkheim integriert, während Macht das Soziale als ein heterogenes Beziehungsensemble produziert. Wenn die Macht kein Besitz ist, sondern eine Beziehung, wenn sie nicht nur unterdrückt, sondern auch hervorbringt, wenn sie nicht das Ei95
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gentum privilegierter Positionsinhaber ist, sondern „überall“ und wenn der Begriff der Macht keine „Chance“ bezeichnet, sondern eine Technik, dann hat dies bestimmte methodologische Konsequenzen. In einer umfangreichen Studie hat Foucault zahlreiche Techniken der Disziplinierung in den Gefängnissen, Armeen, Schulen, Werkstätten und anderen Einrichtungen des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet (vgl. Foucault 1994). Dabei interessierte sich Foucault nicht für die „großen“ Institutionen, Legitimationsformen, Interessen und Apparate der modernen Staatsmacht, sondern für die konkreten Techniken der Bestrafung, Überwachung, Parzellierung, Schulung etc. der individuellen Körper. Es ging Foucault in Überwachen und Strafen darum, die Macht in ihren „äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen“ (Foucault 1999: 42) und die Techniken und Strategien der Subjektivierung, Wissensformation und Wahrheitsproduktion herauszuarbeiten. Durch welche Techniken werden „Soldaten“, „Verrückte“, „Arbeiter“, „Schüler“ etc. produziert? Welches Wissen wird von der disziplinarischen Produktion der Subjekte gleichsam als Wahrheit vorausgesetzt und hergestellt? Welche Fähigkeiten, Körper, Kräfte und Widerstände bringen die Disziplinartechnologien des Überwachens hervor? Zwar bezeichnen die Disziplinen eine penible Überwachungstechnologie; allerdings hebt Foucault hervor, dass die Disziplinen die Individuen keinesfalls nur (negativ) reglementieren. Vielmehr produzieren sie spezifische Subjektivitäten, Körperhaltungen und Dispositionen. Anders als im Falle der Souveränitätsmacht, die Individuen als ausgebeutete, hörige Untertanen konstituierte und das Recht in Anspruch nahm, „sterben zu machen und leben zu lassen“, ist die Disziplinarmacht dadurch gekennzeichnet, „leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1983: 134, Herv. i.O.). Mit der Disziplinarmacht arbeitet Foucault somit eine historisch bedingte Machtform heraus, deren intrinsisches Telos nicht wie das der Souveränitätsmacht des spätmittelalterlichen Feudalsystems in der Unterjochung und Produktion der Untertanen besteht, sondern die auf die Herstellung menschlicher Körper mit vitalen Fähigkeiten abzielte. Darüber hinaus gelangt Foucault auf eben diesem Wege umfangreicher historischer Analysen zu einer allgemeinen Theorie der Macht, die zwar in der Abarbeitung an historischem Material elaboriert wird, aber die ihre Form als Theorie angesichts einer Gegenwart erhält, welche sich ihrerseits für Foucault nur durch eine genealogische Differenz als eine Art Schatten der Vergangenheit erschließt. So betont Foucault zwar, dass sich „die Macht zum Leben seit dem 17. Jahrhundert in zwei Hauptformen entwickelt“ (1983: 134); gleichzeitig hebt er aber hervor, dass sich kein „Leben“ jenseits der Macht entfalten kann: „ich glaube, dass es 96
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keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann“ (Foucault 1993: 25). Das „Leben“, die „Gesellschaft“ und das „Subjekt“ werden in der Analyse Foucaults auf eine eigentümliche Art und Weise verdoppelt, indem die theoretische, allgemeine Existenzform des „Lebens“, das die Macht (generell) hervorbringt, von einer historischen, konkreten Ausprägung überlagert, eingeholt und ausgeformt wird. So etabliert sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts neben der Disziplinarmacht, die von der Souveränitätsmacht überlagert und durchdrungen wird, die Biomacht, welche nicht länger die „individuellen Körper“, sondern die „Bevölkerung“ zum Gegenstand hat. Die „Geburt der Bevölkerung“, die der Entstehung der Disziplinartechnologien historisch unmittelbar folgt, markiert sodann nicht nur die Entstehung einer weiteren Machttechnologie, sondern dient Foucault gleichzeitig als „empirisches Material“ für die weitere Ausarbeitung seiner Machttheorie, die als „Biomacht“ das Leben und nicht die Körper oder die Untertanen hervorbringt und zum Gegenstand hat.
Die Gouvernementalisierung des Sozialen Fassen wir kurz zusammen: Die Macht ist nach Foucault eine dezentrale, produktive Beziehung zwischen multiplen Entitäten, die sich nicht in Besitz- und Unterdrückungskategorien denken lässt. Sie ist ein dynamischer Vorgang, den Deleuze als eine „Affektion [...] und von anderen Kräften affiziert [...] werden“ (Deleuze 1992: 100) umschreibt. Der Begriff des Affizierens ist von zentraler Bedeutung, weil sich unterschiedliche Modalitäten des „Affizierens“ und „affiziert Werdens“ herausarbeiten lassen. An dieser Stelle wird der Begriff der „Regierung“ im weitesten Sinne des Wortes als „Führen“, „Leiten“, „Lenken“, „Verhalten“ etc. virulent. Regierung kann als eine Aktivität umschrieben werden, die durch eine spezifische Rationalität (oder „Kunst“), Techniken, Wissen und ein Zielobjekt gekennzeichnet ist. Ebenso unterschiedlich wie die Rationalität, die Techniken und das Wissen können auch die Zielobjekte sein, auf die das Regieren sich stützt (vgl. Sennelart 2006: 479). „Kinder“, „Familien“ und „Kranke“ werden ebenso als Objekte des Regierens hervorgebracht wie die Objekte des modernen Staates: „Untertanen“, „Körper“, „Bevölkerung“ (vgl. Foucault 2006: 13-133). Während die Souveränitätsmacht die Untertanen und die Disziplinarmacht die Körper zum Gegenstand hat, operiert die Biomacht mit der Bevölkerung als Regierungsobjekt. Aber anders als die ersten beiden ist die Bevölkerung „lebendig“. Mit der Etablierung der Biomacht als dominante Form der modernen Regierungskunst geht die Formierung des „Menschen“ einher (vgl. Foucault 1974). „Die neue Technologie [die Biomacht, J.M.] [...] richtet sich 97
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an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw.“ (Foucault 2001b: 286). In wiederum umfangreichen historischen Analysen (Foucault 2001b, 2004, 2006), die als „Gouvernementalitätsstudien“ in den letzen Jahren immer mehr an Bedeutung gewannen (vgl. Bröckling et al. 2000, Pieper/Rodriguez 2003, Burchell et al. 1991, Krasman/Volkmer 2007, Lemke 1997, van Dyk 2006a, Traue 2010), beschreibt Foucault die Geschichte der Entstehung des modernen Staates als Etablierung und Ausformung einer neuen (historischen) Form von Macht, deren wichtigstes Merkmal die Reflexion und Rationalisierung der Regierungstechniken ist (vgl. Foucault 2004: 13-48), die sich als zentrales Wissensregime auf die politische Ökonomie stützt, als bedeutendste Technik die Sicherheitsdispositive anwendet und als völlig neuartiges Objekt die Bevölkerung produziert (vgl. Foucault 2006). Während auch andere historische Regierungsformen auf spezifische Formen von Wissen und Technologien basieren, ist vor allem die „Bevölkerung“ aus machtheoretischer Sicht besonders interessant. Denn mit der Bevölkerung als Zielobjekt der „Gouvernementalität“ oder Biomacht, die Foucault im Gegensatz zu den Untertanen und den Körpern als „Subjekt/Objekt“ bezeichnet, richtet Foucault nun zunehmend den Blick auf einen Teilaspekt seiner Machttheorie, der bislang unterbelichtet blieb: das Subjekt als Inkarnation des Lebendigen.
Die „Führung der Führungen“: das Affizieren als Produktion eines Möglichkeitsfeldes Wenn das Objekt der Machttechnologien lebendig und damit pulsierend ist, dann muss die Machtanalyse dem Eigensinn des Objektes der Macht auch in der Theorie Rechnung tragen. Es reicht demnach nicht länger hin, nur die vielgestaltigen Technologien der Macht herauszuarbeiten. Vielmehr muss nun auch jenen Aspekten der Macht Beachtung geschenkt werden, auf die die Macht als relationale Dynamik sich richtet. Denn mit der Bevölkerung als Zielobjekt der Macht werden die Impulse der Macht durch einen weiteren Impuls gebrochen, der nicht Teil der „objektiven Welt“ ist, sondern Teil der Macht selbst. Anders als die Disziplinarmacht pulsiert die Biomacht nicht nur auf ein passives Objekt (Körper), sondern operiert mit einem Objekt, das selbst pulsiert: die Bevölkerung. So ist es nicht verwunderlich, dass Foucault zwischen dem ersten Band von Sexualität und Wahrheit (Der Wille zum Wissen) und den folgenden beiden Bänden (Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich) nicht nur einige Jahre verstreichen ließ, sondern zudem einen 98
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Perspektivenwechsel vornahm, den er folgendermaßen umschreibt: „[D]ie Analyse der Machtbeziehungen und ihrer Technologien machte es möglich, sie (sic!) als offene Strategien ins Auge zu fassen, ohne die Macht entweder als Herrschaft zu konzipieren oder als Trugbild denunzieren zu müssen. Hingegen machte mir die Untersuchung der Weisen, in denen die Individuen dazu gebracht werden, sich als sexuelle Subjekte anzuerkennen, viel mehr Schwierigkeiten“ (Foucault 1989a: 11). Zwischen der Veröffentlichung des ersten Bandes und der letzten beiden Bände dieser unvollendeten Reihe, hielt Foucault die beiden Vorlesungsreihen zur Gouvernementalität (2004, 2006), wo er die Entstehung der Gouvernementalität als historisch neuartige Machtform herausarbeitet, die als Objekt ein lebendiges Subjekt hat. Allein im ersten Band analysiert Foucault mit der Staatsraison, der Policey und der Pastoralmacht scheinbar völlig heterogene Machtformen, um die Neuartigkeit der Wissensformierung (Reflexion = Staatsraison), der ersten biopolitischen Machttechniken (Policey) und das Problem der Produktion des Subjekts (Pastoralmacht) herauszuarbeiten und zu integrieren (vgl. zusammenfassend Foucault 2005a). Die „Gouvernementalität“, ein Begriff, der mit „Regierungsweise“ oder „Regierungsdenken“ missverständlich übersetzt ist (vgl. Sennelart 2006: 564), vereint eine „politische Technologie der Individuen“, die es ermöglicht, „uns selbst als Gesellschaft wahrzunehmen, als Teil eines sozialen Gebildes, einer Nation oder eines Staates“ (Foucault 2005c: 1000), mit den „Technologien des Selbst“ (Foucault 2005b), die spezifische „Formen und Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt“ (Foucault 1989a: 12). Mit der Bevölkerung ist demnach nicht nur ein Regierungsobjekt entstanden, das gegenüber den affizierenden Machttechnologien selbst eine pulsierende „Multitude“ (Hardt/Negri 2004) darstellt. Vielmehr hat die Beziehung zwischen den Machttechnologien und den Regierungsobjekten einen wechselseitigen Charakter, weil auch von der Bevölkerung innerhalb der Macht Aktivität ausgeht. Macht kann vor diesem Hintergrund als ein Aktivierungsmechanismus verstanden werden, als multiple „Handlungsweisen, die dazu bestimmt [sind], auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen einzuwirken“ (Foucault 1987: 255). Die Freiheit (oder Kontingenz) ist demnach ein konstitutives Element von Macht. „Die Individuen, die versuchen, die Freiheit der anderen zu kontrollieren, zu bestimmen, zu begrenzen, sind selber frei, und sie verfügen über gewisse Instrumente, um die anderen regieren zu können. All das beruht also auf Freiheit, auf Selbstbezug auf sich und auf der Beziehung zum Anderen“ (Foucault 1993: 27). Über den Begriff der Freiheit führt Foucault nun keinesfalls einen neuen Subjektivismus in die Machttheorie ein. Freiheit bedeutet 99
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vielmehr, dass zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Affizieren und affiziert werden, eine Lücke besteht, die vom gouvernementalen Feld selbst produziert wird und nicht beherrscht werden kann. Der moderne Staat, der durch die Gouvernementalität hervorgebracht wird, ist keine kompakte, homogene Einheit, die sich über eine epistemische Solidarität (bzw. einen „subjektiv geteilten Sinn“) schließt, sondern eine „bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit“ (Foucault 2006: 163) aus unterschiedlichen Gouvernementalitäten, die den Individuen das Material zur Verfügung stellen, das sie brauchen, um sich als handelnde Entitäten zu konstituieren und anzuerkennen. Die Biomacht ist keine Struktur und keine Matrix, sondern ein Einwirken, ein Effekt oder ein „Affizieren“. Mit dem Begriff der Gouvernementalität gelingt es Foucault, die Diachronie des Sozialen als ein durch Macht produzierter Raum heterogener und kontingenter Beziehungen zu entwerfen. Wenn Individuen auf symbolisches, institutionelles, affektives etc. Material zugreifen, um neue hegemoniale Felder zu produzieren, dann finden sie dort (mehr oder weniger) zahlreiche, komplexe und heterogene Arrangements vor, die selbst durch spezifische Regeln und Mechanismen hegemonialer Akte produziert wurden. Die Individuen sind „frei“, aus dem Repertoire der hegemonialen Produktion zu schöpfen. Jenseits dieser Freiheit liegt allerdings keine zweite, individuelle Freiheit, sondern das Joch der Ausschließung. In diesem Sinne sind gerade „freie“ Individuen immer auch opportunistisch. Hegemoniale Felder produzieren demnach ein Möglichkeitsfeld, welches das Rohmaterial für weitere hegemoniale Akte bereitstellt. In diesem Sinne ist das Verhältnis von interdiskursivem Raum und hegemonialem Feld kontingent aber nicht beliebig. Für die Analyse bedeutet dies, dass wir einerseits zeigen, nach welchen Regeln und Mechanismen hegemoniale Felder auf interdiskursives Rohmaterial zugreifen und dieses arrangieren (Kapitel 6 und 7), und andererseits nach den möglichen Machteffekten fragen, die hegemoniale Felder produzieren (Kapitel 8). Eine in diesem Sinne machttheoretisch informierte Diskursanalyse fragt somit nach den spezifischen, konstitutiven Effekten diskursiver Formationen – und diese Effekte sind (produktive) Machteffekte.
Zusammenfassung Im folgenden Kapitel soll nun die hier umrissene gesellschaftstheoretische Axiomatik des hegemonialen Feldes methodologisch operationalisiert werden. Dafür werden einige zentrale Weichenstellungen vorgenommen. Zunächst wird das gesellschaftstheoretische Paradigma der Differenz auf das methodologische Paradigma der Referenz umgestellt. Partikularitäten verknüpfen sich nicht durch Differenz, sondern 100
FÜR EINE POST-DURKHEIMIANISCHE GESELLSCHAFTSTHEORIE
durch unterschiedliche Formen von Referenz zu hegemonialen Formationen. Damit kann einerseits das gesellschaftsformierende Moment des Antagonismus (im Sinne des hegemonialen Signifikanten) beibehalten werden, ohne dass die differenztheoretische Sichtweise auf das Soziale im Sinne einer Hegemonieanalyse übernommen werden muss. Sodann soll der Vielschichtigkeit, Heterogenität und Komplexität hegemonialer Formationsprozesse methodologisch und methodisch Rechnung getragen werden. Dafür werden einige methodische Verfahren aus der Linguistik und der Kognitionswissenschaft vorgestellt und mit der oben umrissenen gesellschaftstheoretischen Axiomatik verbunden. Der ein oder andere kritische Leser wird sich am Ende des folgenden Methodologiekapitels fragen, welche Gründe eine Arbeit mit Laclau/Mouffe plausibel machen, die letztlich darauf hinausläuft, eines der Kernstücke der Hegemonietheorie, nämlich das differenztheoretische Denken, zurückzuweisen. Die Leserin könnte mit Recht annehmen, dass die methodologischen Kategorien nur gesellschaftstheoretisch verdichtet werden müssten, um schließlich einen ähnlichen post-durkheimianischen Gesellschaftsbegriff zu erhalten. Schließlich eröffnet doch gerade ein deleuzeianisch verstandener Foucault den Blick für den heterogenen, „anarchischen“ und „rhizomatischen“ Charakter des Sozialen. Es stellt sich allerdings aus lacanianischer Sicht die Frage, ob diese transversalen Figurationsprozesse ohne eine diskursive Figur funktionieren, die im Alltag des Sozialen einerseits präsent ist und die ihm gleichzeitig auf eine paradoxale Art und Weise immer wieder entzogen wird. Denn ohne den „leeren Ort der Macht“ (Lefort), den „Herrensignifikanten“ (Lacan), dem „transzendentalen Signifikat“ (Derrida) oder eben den „leeren Signifikanten“ (Laclau/Mouffe) wäre Sozialität nur als ein Phänomen vorstellbar, das alles, was es benötigt, um sich zu konstituieren, auch semantisch expliziert. Aber dann wären wir wohl wieder bei der Vorstellung eines durkheimianischen Sozialraumes angelangt … In der empirischen Diskursanalyse soll letztlich herausgearbeitet werden, wie mit Texten, die nur einen schwammigen semantischen Inhalt haben, effektiv Politik gemacht wird. Um dies zu zeigen, geht die im Folgenden vorzustellende Analyse folgendermaßen vor: • zunächst werden unterschiedliche Texte mit der äußerungstheoretischen Diskursanalyse (Angermüller 2007c) nach unterschiedlichen Formen abgesucht, über die der Text auf Kontexte zugreift (Kapitel 7). Angermüller folgend verwenden wir damit einen Diskursbegriff, der Diskurs als das Ergebnis der Verbindung von Text und Kontext definiert. • Dies erfordert nicht nur eine Analyse der Texte, sondern auch eine Analyse der kontextualen Umgebung (Kapitel 6). Hierfür greifen wir 101
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auf Minskys Frame-Semantik zurück (vgl. Minsky 1980, 1994). Mit der Frame-Semantik können unterschiedliche Kontexte, auf die die Texte des Bologna-Prozesses zugreifen, katalogisiert werden. Die Kontexte stehen dabei in keiner hierarchischen Beziehung, sind es doch erst die Texte, die unterschiedliche Elemente des Kontextes über die Formen mobilisieren. Texte können grundsätzlich unendlich viele Kontexte mobilisieren. In der Analyse dieser Arbeit soll allerdings danach gefragt werden, welche Kontexte die Akteure des Bologna-Prozesses mit den textuellen Formen verbinden. Der BolognaDiskurs ist kein populärer Diskurs, der mit „uninformierten“ Lesern funktionieren könnte, sondern ein Expertendiskurs, der Leser voraussetzt, die mit den hochschulpolitischen Fragen und Problemen mehr oder weniger vertraut sind und sich als Experten des BolognaProzesses anrufen lassen. In einem dritten Schritt werden die Ergebnisse der Diskurs- und Frame-Analyse hegemonietheoretisch interpretiert (Kapitel 7.3). Zunächst wird gezeigt, wie durch die Verbindung von Text und Kontext ein hegemoniales Feld aufgespannt wird. Der Mechanismus der Formierung der hegemonialen Instanzen, die aus der Verbindung der textuellen Formen mit spezifischen Kontextelementen hervorgehen, evoziert einen universalen Rahmen. Während die Diskursanalyse den heterogenen Charakter des Diskurses betont, zielt die Theorie der hegemonialen Formation auf die Mechanismen der Ausblendung der Heterogenität des Diskurses. Hegemonie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass weitere Bereiche sozialer Beziehungen durch spezifische Regeln und Mechanismen erfasst werden. Erst dadurch gehen von den hegemonialen Instanzen Machteffekte aus, die eine spezifische Form politischer Subjektivität installieren. So soll gezeigt werden, dass „Bologna“ als hegemoniale Instanz erstens durch die Verbindung einiger textueller Formen mit spezifischen Kontexten hervorgeht (Diskurs- und Frame-Analyse) und zweitens nur durch die spezifische hegemoniale Beziehung zu anderen hegemonialen Instanzen konstituiert wird. Erst wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, entfaltet die hegemoniale Instanz „Bologna“ eine politische Autorität, die selbst wiederum spezifische gouvernementale Effekte evoziert (Kapitel 8).
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5 ZUR METHODOLOGIE
DER
ÄU S S E R U N G S T H E O R E T I S C H E N
D I S K U R S AN AL Y S E
Einleitung In der sozialwissenschaftlichen Diskurstheorie und -forschung gilt Foucaults Werk als Klassiker unterschiedlicher diskurstheoretischer und – analytischer Forschungsstränge (vgl. Keller et al. 2001 und 2003, Angermüller 2001b). So sind mit einer differenztheoretischen Variante der „Hegemonieanalyse“ (Nonhoff 2006), der „Wissenssoziologischen Diskursanalyse“ (Keller 2005), der „Kritischen Diskursanalyse“ (vgl. Link 1988) oder der „äußerungstheoretischen Diskursanalyse“ bzw. „Aussagenanalyse“1 (Angermüller 2001a, Angermüller 2007c), um für die aktuelle Debatte im deutschsprachigen Raum nur einige zu nennen, unterschiedliche diskurstheoretische und -analytische Strömungen entstanden, die sich auf Foucault beziehen. Neben dem Klassikerstatus, den Foucault gemeinhin einnimmt, besteht hin und wieder die Tendenz, Foucaults Werk als geschlossenes Gesamtwerk zu interpretieren (vgl. Kögler 1994). Demgegenüber betont u.a. Angermüller die Brüche in und die Heterogenität von Foucaults Werk (Angermüller 2004b). Ausgehend von der Unterscheidung zwischen einem Foucault des Diskurses und einem Foucault der Macht und Subjektivität, wollen wir uns hier ausschließlich dem Foucault des Diskurses zuwenden. Im Folgenden sollen die zentralen Elemente von Foucaults Theorie der „diskursiven Formation“ vorgestellt und dabei insbe1
Hier wie im Folgenden beziehen sich die Begriffe „äußerungstheoretische Diskursanalyse“, „enunziative Diskursanalyse“, „Aussagenanalyse“ und „äußerungstheoretische Formanalyse“ auf die gleiche Methode der Diskursanalyse. Sie sind demnach gleichbedeutend. 103
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sondere die diskurstheoretische Bedeutung der Begriffe „Aussage“ und „Äußerung“ und des Begriffs des „Äußerungsfeldes“ herausarbeitet werden. Nachdem die zentralen methodologischen Kategorien dargestellt worden sind (5.1), soll der methodische Werkzeugkasten vorgestellt werden (5.2 und 5.3).
D i s k u r s i ve F o r m a t i o n , Au s s a g e u n d Ä u ß e r u n g Die diskursive Formation Der Diskursbegriff der Archäologie des Wissens und der Ordnung des Diskurses ist weder auf sprachliche Kommunikation reduzierbar, noch hat er eine konzeptionelle Verwandtschaft mit der habermasianischen „Diskursethik“ (Keller 2005). Vielmehr bezieht Foucault mit dem Begriff der „diskursiven Formation“ eine theoretische Position gegen reduktionistische Konzeptionen, die den Diskurs auf eine einheits- und sinnstiftende Instanz zurückführen. Die Einheit des Diskurses, so Foucault, wird weder durch spezifische Gegenstände und Begriffe, noch durch die Wahl der Strategien oder die Erscheinung spezifischer Äußerungsmodalitäten gestiftet (vgl. Foucault 1981: 31-112). Damit wendet sich Foucault sowohl gegen hermeneutische Ansätze, die Diskurse auf eine tiefer liegende Bedeutungsebene zurückführen, als auch gegen Code-Modelle, die die Differenzierungsregeln einer die einzelnen Diskursfragmente übergreifende Grammatik beschreiben. Der Begriff der diskursiven Formation verweist vielmehr auf die „autopoetische“ Formierungsweise des Diskurses, wobei der Begriff „Formation“ sowohl die dynamische Komponente des Formierens als auch die statische der Formation enthält.2 Auch wenn Foucault keine übergreifende Autorität als „organisatorisches Prinzip“ (Foucault 1981: 34) mehr kennt, die den Diskurs in unterschiedliche Regionen aufteilt, bedeutet dies nicht, dass der Begriff der diskursiven Formation das Soziale als einen undifferenzierten Raum konzipiert. Vielmehr verfügt der Diskurs über unterschiedliche intrinsische Ausschließungs- und Kontrollmechanismen, welche die „Produktion des Diskurses zugleich kontrollier[en], selektier[en], organisier[en] und kanalisier[en]“ (Foucault 1996: 11). Da die Identität einer spezifischen Formation auf keine übergreifende Instanz reduziert werden kann, muss diese identitätsstiftende Kraft Teil der Formation selbst sein. Als 2
Wie Angermüller bemerkt, werden in der deutschen Übersetzung des französischen Originals zahlreiche zentrale Begriffe wie „diskursive Formation“ und „Aussage“ und „Äußerung“ teilweise sinnentstellend übersetzt (siehe Angermüller 2007b). Ich werde aus diesem Grunde dort, wo es angebracht ist, die englische Übersetzung (Foucault 1972) heranziehen.
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ZUR METHODOLOGIE DER ÄUSSERUNGSTHEORETISCHEN DISKURSANALYSE
„historisches Apriori“ konstituieren die diskursiven Regeln die „Einheit des Diskurses“ (Foucault 1981: 183). Nicht die Bedeutung, das Thema oder der Ursprung bestimmen also, welcher Formation ein spezifische Aussage angehört, sondern die Hervorbringungsmodalitäten (vgl. Sarasin 2005). „Ein Formationssystem in seiner besonderen Individualität zu definieren, heißt also, einen Diskurs oder eine Gruppe von Aussagen durch die Regelmäßigkeit einer Praxis zu charakterisieren“ (Foucault 1981: 108). Gerade für die „Einheit“ des Diskurses, das heißt die Identifizierbarkeit unterschiedlicher Formationssysteme, erweist sich das irreduzible Ineinandergreifen und Aufeinanderangewiesensein des dynamischen und statischen Aspekts der diskursiven Formation als konstitutiv, ist die Hervorbringung der Formation doch unmittelbar an den Akt der Formierung gebunden. Für diskursive Regeln, die nach Foucault die formationsspezifischen Anordnungsweisen der Begriffe, Gegenstände, Äußerungsmodalitäten und Strategien bezeichnen, gilt daher, dass diese an die Praxis des Formierens gebunden sind und nicht einem übergeordneten Gesetz entspringen. Derrida hat diesen Aspekt am Beispiel der freien Entscheidung ausgeführt, die „einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen“ muss (Derrida 1991: 47). Aber anders als noch in Die Ordnung der Dinge (Foucault 1974) verweist der Begriff der diskursiven Formation nicht auf einen über Differenzen strukturierten Raum. Vielmehr treten an die Stelle von Signifikat und Signifikant und langue und parole Begriffe wie „Diskontinuität, Bruch, Schwelle, Grenze, Serie, Transformation“ (Foucault 1981: 33). Damit ist die basale Operationsweise der diskursiven Formation nach Foucault nicht auf bedeutungsgenerierende Differenzen reduzierbar, sondern umfasst zahlreiche Beziehungsmodalitäten. Wenn nun die Analyse diskursiver Formationen nicht darin besteht, „Ketten von logischen Schlüssen (wie man es oft in der Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie tut [die Hermeneutik, J.M.]) zu rekonstruieren“ oder „Tafeln der Unterschiede (wie es die Linguisten [der Strukturalismus, J.M.] tun) aufzustellen“ (Foucault 1981: 58, Herv. i.O.), worin besteht sie dann? Werden diskursive Formationen als „Systeme der Streuung“ (1981: 58), „diskontinuierliche Praktiken [...], die sich überschneiden und manchmal berühren, die einander aber auch ignorieren und ausschließen“ (1996: 34) und „endlos weiterwuchern“ (1996: 10) beschrieben, dann zielt Foucault damit auf ein Verständnis des diskursiven Feldes, das in erster Linie durch Heterogenität und Irreduzibilität gekennzeichnet ist. Damit hebt Foucaults Formationsbegriff die multiplen Anordnungsweisen der diskursiven Elemente hervor. Der Diskurs ist demnach ein verschachtelter und geschichteter Raum, der nicht durch Differen105
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zen, sondern durch sich widersprechende, mitunter ausschließende und sich spannungsvoll überlappende Bedeutungsebenen charakterisiert (vgl. Angermüller 2007b). Eine Aussage schreibt sich durch unterschiedliche Modalitäten in ein weiteres Äußerungsfeld ein. In Anlehnung an Pêcheux (1982) kann Foucaults Begriff der diskursiven Praxis auch als „Linearisierung“ beschrieben werden. Mit „Linearisierung“ meint Pêcheux die diskursive Anordnung interdiskursiven Rohmaterials, das grundsätzlich multiplen diskursiven Verwendungen zur Verfügung steht. Die Grenze der diskursiven Formation liegt demnach nicht zwischen zwei voneinander getrennten Formationen. Vielmehr muss die Grenze des Diskurses immer im Diskurs selbst verhandelt werden. In einer diskursiven Formation A tauchen immer auch Elemente von diskursiver Formation B, C usw. auf (vgl. Pêcheux 1983, Authier 1983). Heterogen ist eine diskursive Formation insofern, als dieses interdiskursive Material durch die Linearisierung nicht vollständig reduziert werden kann, sondern als „Vorkonstrukt“, „Querdiskurs“ und „zitiert-berichtenden Diskurs“ (Pêcheux 1983: 55) im Diskurs multiple Beziehungen herstellt.3 Foucaults diskursive Formation bezeichnet demnach keine integrierte Struktur, sondern vielmehr einen Interdiskurs, wo bereits vorhandene Elemente auf heterogene Weise angeordnet werden (vgl. Williams 1999). Die Diskursanalyse zielt demnach nicht auf eine umfassende Schematisierung der diskursiven Formation, sondern auf die Regeln und Mechanismen nach denen unterschiedliche Aussagen miteinander verbunden werden.
Aussage, Äußerung und Äußerungsfeld Die diskursive Formation ist dadurch charakterisiert, dass multiple Elemente wie Objekte, Begriffe, Äußerungen und Strategien durch jeweils formationsspezifische Regeln und Mechanismen in Beziehung gesetzt werden. Wie die Reihe der diskursiven Elemente wie Objekte, Begriffe, Strategien und Äußerungsmodalitäten, die Foucault seinen Studien Die Ordnung der Dinge und Die Geburt der Klinik entnommen hat und in der Archäologie des Wissens beispielhaft anführt, bereits verdeutlicht, geht es in der Analyse diskursiver Formationen – anders als beispielsweise in der Hegemonieanalyse (vgl. Nonhoff 2007) – nicht in erster Linie um die Analyse von Signifikationsprozessen. Die zentrale analytische Kategorie in Foucaults Diskurstheorie ist demzufolge auch nicht die Opposition von Signifikat und Signifikant, sondern die zwischen Aussage und Äußerung. Diskursive Formationen sind Formationen von 3
Siehe hierzu auch Jacqueline Authier (1983), die die Rolle von Zitationen analysiert hat.
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ZUR METHODOLOGIE DER ÄUSSERUNGSTHEORETISCHEN DISKURSANALYSE
Aussagen, nicht von Begriffen oder Themen. Die Aussage ist die kleinste Einheit des Diskurses und Ausgangspunkt der Formierung des diskursiven Feldes. Da die Aussage des Diskurses „Begriffe“ und „Objekte“ umschließt und sich auf die „Ebene (der) Existenz“ einer „Gesamtheit von Zeichen“ (Foucault 2001a: 990) bezieht, grenzt Foucault die Aussage sowohl vom Satz des Logikers (Proposition) und Grammatikers als auch vom Sprechakt der Analytischen Philosophie John L. Austins ab. Gegen eine Gleichsetzung der Aussage mit der Proposition führt Foucault das Argument an, dass Aussagen nicht notwendigerweise einen Wahrheitswert besitzen, wobei er den Grammatikern entgegenhält, dass auch „ungrammatische“ Sätze wie Statistiken Aussagen sind. Einer Gleichsetzung des Sprechakts mit der Aussage entgegnet Foucault lediglich, dass ein Sprechakt mehrere Aussagen umfasst und daher mit diesem nicht identisch sein kann. Wie Dreyfus/Rabinow (1994: 69-76) bemerken, zeigt dies bereits die tiefe Affinität zwischen John L. Austins Theorie der Sprechakte und Foucaults Diskurstheorie an. Ausgehend von Lyotards Begriff des Satzes, der aus einem Sender, einem Referenten, einer Bedeutung und einem Empfänger besteht, kann die Aussage als ein komplexes, die semiotische, propositonale und grammatische Ebene übersteigendes Gebilde beschrieben werden (Lyotard 1989). Auf der anderen Seite verweist die Aussage aber auch auf „weniger“ als Lyotards Satz, insofern sie schlicht einen „diskursiven Fakt“ (Angermüller 2005a: 75) bezeichnet. Beide Merkmale der Aussage verweisen auf eine jeweils eigene Dimension des Diskurses.
A: Die Aussage als Produkt des Aktes der Äußerung Betrachten wir zunächst die Dimension des Aussagefakts (im Folgenden Aussage). Die Aussage (franz. Original: énoncé)4 ist unmittelbar an den Aussageakt (im folgenden Äußerung) gebunden, der die Hervorbringung der Aussage organisiert. Im Gegensatz zu den subjektphilosophischen Konnotationen der deutschen Übersetzung „Äußerung“ verweist Foucaults Begriff der Äußerung (franz. Original: énonciation) auf den jeweils individuellen Sprachgebrauch. „Enunciation [Äußerung, J.M.] is understood as the individual act of language use that differs from the enonce [Aussage, J.M.], which is the linguistic object that derives from
4
Vgl. zu den begrifflichen Konsequenzen der Übersetzungsprobleme der Termini Aussage und Äußerung und den Bedeutungen der Begriffe énoncé und énonciation in der französischen Sprachwissenschaft Angermüller u.a. 2005a, 2007b. 107
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that use“ (Williams 1999: 173). Diese Gebrauchs- oder Äußerungsdimension verweist auf den Kontext der Äußerung. Der Kontext bezeichnet jedoch kein starres Ensemble von sozialen, geographischen, historischen usw. Beziehungen, die wie ein Container die Aussage formen und situieren. Insbesondere in der englischen Übersetzung (Foucault 1972: 88-92) wird deutlich, dass dieses „enunciative level“ (1972: 91) nicht vor der Produktion einer Aussage präsent ist, sondern erst durch die Äußerung selbst ins Spiel gebracht wird und in der Aussage ihre Spuren hinterlassen kann. „The referential of the statement forms the place, the condition, the field of emergence, the authority to differentiate between individuals or objects, states of things and relations that are brought into play by the statement itself [Herv. J.M.] [...]. It is this group that characterizes the enunciative level [Herv. i.O.] [...]” (Foucault: 1972: 91). Mit Maingueneaus Begriff der „Szenographie“ kann das Ineinandergreifen von Aussage und Äußerung als eine retrospektive Schleife begriffen werden, wodurch die Bedingungen und Umstände der Gültigkeit einer Aussage im Akt der Äußerung sowohl vorausgesetzt als auch erst hervorgebracht werden müssen (vgl. Maingueneau 1996)5. Im Gegensatz zu Saussures „langue“, dem Sprach(über)bau, der die unterschiedlichen Gebrauchsmöglichkeiten des konkreten Sprachgebrauchs („parole“) bereithält (vgl. de Saussure 1967), ist es in Foucaults Diskurstheorie der kontingente Akt der Äußerung, der die Produktion von Aussagen ermöglicht und der im Gegensatz zur Aussage unwiederholbar ist. Dies impliziert jedoch nicht, dass Foucault mit den Begriffen Aussage und Äußerung zwei distinktive Wirklichkeitsebenen einführt. Vielmehr ist jede Aussage an den Akt der Äußerung gebunden, dessen Spuren sich in die Aussage niederschlagen können. Damit greift Foucault Austins Theorie der Sprechakte (Austin 1998) auf, wo Austin die Mehrschichtigkeit von Sprache herausarbeitet. So hat eine Proposition immer auch eine „illokutionäre Kraft“, die neben der Bedeutung des Gesagten (der Proposition) die unterschiedlichen Bedeutungen der Sprechhandlung selbst bezeichnet. Da diese Bedeutung an die Sprechhandlung gebunden ist, die immer wieder neu evoziert werden muss, wird der Aussage durch die illokutionäre Kraft stets etwas Spezifisches hinzugefügt. Obwohl die Aussage also wiederholbar ist, wird 5
„Es [das Ethos, J.M.] ist also nicht trennbar von Sprechsituation des Diskurses (situation d’ énonciation), die wir seine scénographie nennen, also von der Szene, die der Diskurs voraussetzt, um hervorgebracht werden zu können und die er seinerseits durch seine Äußerung gültig macht: jeder Diskurs gibt durch seine Entfaltung vor, die Situation, die ihn relevant macht, hervorzubringen“ (Maingueneau 1996: 122, Herv. i.O.).
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durch die „enunziative Dimension“ (Angermüller 2005b) immer etwas Neues in die Aussage eingeführt: ein subjektiver Akzent, eine Wertung, eine individuelle Gewichtung, eine spezifische interdiskursive Verortung etc. So kann zwar die Aussage „wir brauchen Reformen“ unendlich oft wiederholt werden; die Bedeutung dieser Aussage wird dagegen variieren, weil die Kontexte, die über die Äußerung evoziert werden, nicht identisch bleiben. Zwar verweist der Begriff der Äußerung auf den ursprünglichen Akt der Produktion einer Aussage. Da dieser Akt aber in der Aussage seine Spuren hinterlässt, kann jede Aussage immer wieder neue Bedeutungen generieren, denn die Spuren der Äußerung in der Aussage funktionieren wie Ankereinrichtungen, über die die Aussage mit Kontext verkoppelt wird. Die Äußerungsspuren verweisen demnach nicht nur auf die ursprüngliche Äußerung, sondern machen die Aussage für weitere Kontextualisierungen verfügbar. Für die Analyse bedeutet dies, dass eben jene Äußerungsspuren, über die die Aussage auf Kontexte zugreift, herausgearbeitet werden können.
B: Das Äußerungsfeld Wenden wir uns nun dem Aspekt der Aussage zu, den Lyotards Satzbegriff zu erfassen sucht. Aussagen sind keine monolithischen Gebilde, sondern mehrschichtige und intransparente Produkte, die immer schon in ein komplexes System anderer Aussagen verwoben sind. „[E]s gibt keine Aussage im allgemeinen, keine freie, neutrale und unabhängige Aussage; sondern stets eine Aussage, die zu einer Folge oder einer Menge gehört, eine Rolle inmitten der anderen spielt, sich auf sie stützt und sich von ihnen unterscheidet [...]“ (Foucault 1981: 144). Jede Aussage setzt immer schon andere Aussagen voraus, auf die sie sich durch „Fremdreferenzen“ (Benveniste) wie (nominale) Referenz, Anaphora, Katatphora, Präsupposition, Inferenz, Implikation etc. bezieht (vgl. Brown/Yule 1989, Yule 2003). Zudem folgen auf eine Aussage immer weitere Aussagen. Schließlich enthält eine Aussage immer andere Aussagen. Aussagen sind keine abgeschlossenen Gebilde; das Außen der Aussage wird immer in der Aussage selbst verhandelt. Mit Bachtins Theorie der Dialoghaftigkeit der Sprache (vgl. Bachtin 1986), aber auch anderer Symbolpraktiken wie Kleidung, Lachen, Essen usw. (vgl. Bachtin 1990) können Aussagen als Einheiten beschrieben werden, die immer auch andere Aussagen inkorporieren, um ihre individuelle Virulenz zu entfalten. Bachtin verdeutlicht dies am Beispiel der Parodie, indem er zeigt, wie die grotesken Figuren und Rituale des Karnevals die Symbole der kirchlichen und königlichen Macht darstellen, um sich von diesen durch Überhöhung zu distanzieren. Die Pointe liegt darin, dass die „andere“ Aussage immer auch hervorgebracht werden 109
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muss, um sich davon mit der „eigenen“ Aussage (ironisch) distanzieren zu können. Die Aussage ist demnach ein komplexes System. Sie enthält immer auch die Akzente anderer Aussagen, indem sie darauf anspielt, daran anschließt, sich von diesen abgrenzt oder sich mit ihnen solidarisiert. Anstatt von kompakten Aussagen zu sprechen, wäre es demnach passender, von Aussagepartikeln oder Spuren zu reden, die komplexe Aussagesysteme bilden. Neben dieser „quantitativen“ Komplexität weist die Aussage noch eine „qualitative“ Komplexität auf, welche die Aussage soziographisch markiert. Denn „eine Aussage ist nicht von dem Status ablösbar, den sie als ‚Literatur‘ oder als unwesentliche Bemerkung, die man gleich wieder vergessen kann, als wissenschaftliche Wahrheit, die für immer erworben worden ist, oder als prophetisches Wort erhalten kann“ (Foucault 1981: 144). Aussagen sind immer Teil eines „Äußerungsfeldes“, das durch spezifische diskursive Regeln charakterisiert ist. Eine beliebige Aussage wie „Schön!“ ist durch ihren propositionalen oder grammatischen Gehalt im Feld nicht lokalisierbar. Vielmehr erhält die Aussage ihre diskursive Bedeutung erst durch die Regeln ihrer Hervorbringung und Wiedereinschreibung, das heißt durch die Äußerung und das in diesem Akt verknüpfte („linearisierte“) interdiskursive Material. Ganz im Sinne Wittgensteins kann von der Aussage behauptet werden, dass „die Bedeutung [im weitesten Sinne, J.M.] eines Wortes [einer Aussage, J.M.] sein Gebrauch in der Sprache“ ist (Wittgenstein 2003: § 43). Wenn eine Aussage also nicht nur in sich komplex ist, sondern stets als Teil eines spezifischen Sprachspiels aufgefasst werden muss, dann bedeutet diese qualitative Komplexität, dass die Aussage immer auch soziographisch verortet ist. Aussagen sind nicht Teil beliebiger anderer Aussagen, sondern entfalten ihre Virulenz immer in einem spezifischen Äußerungsfeld. Mit dem Begriff des Äußerungsfeldes ist eine Dimension des Diskurses umrissen, die die singulare Aussage übersteigt. Aussagen schreiben sich immer auch in weitere Felder ein, die ökonomische, institutionelle, ideologische, historische, genrespezifische etc. Regeln betreffen. Um dieser Dimension des Diskurses gerecht zu werden, müssen wir neben der Aussagenanalyse auf ein methodisches Instrumentarium zurückgreifen, das dem umfassenden und vielfältigen Charakter des Äußerungsfeldes Rechnung trägt. Während mit der Aussagenanalyse die Regeln beschrieben werden können, nach denen die Aussage über die Spuren der Äußerung auf Kontexte zugreift (Kapitel 5.2), kann mit der Frame-Analyse das umfassende und vielfältige Ensemble des Äußerungsfeldes katalogisiert werden (Kapitel 5.3). Da das Äußerungsfeld nicht jenseits einzelner Aussagen existiert, sondern erst ausgehend von Aussagen ins Spiel gebracht wird, ist eine Trennung von Aussagenanalyse 110
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und Äußerungsfeldanalyse unmöglich. Andererseits bleibt eine Aussagenanalyse ohne eine Beschreibung des Äußerungsfeldes unvollständig. Aus diesem Grunde hat die Analyse des Äußerungsfeldes nur einen vorläufigen Charakter. So wird mit der Frame-Analyse ein Katalog des Äußerungsfeldes vorgelegt, der die zentralen politischen Reformprogrammatiken und Forderungen, institutionellen Tendenzen und Konfliktmechanismen umreist, kurz: es werden die Ressourcen beschrieben, auf die Aussagen über die Kontextualisierungsoperatoren zugreifen.
Z i e l e u n d I n s t r u m e n t e d e r Au s s a g e n a n a l ys e Die „äußerungstheoretische Diskursanalyse“ (Angermüller 2007c, Williams 1999) hat es wie die Wissenssoziologische Diskursanalysen (Keller 2005, Schwab-Trapp 2004), Ideologieanalysen (Kellermann 2006) oder Policy-Analysen (Witte 2006a) mit natürlichen Textdokumenten zu tun. Anders als diese sucht die Aussagenanalyse Texte allerdings nicht nach semantischen Inhalten, sondern nach den Spuren der Äußerung ab, über die Texte auf Kontexte zugreifen. Die Aussagenanalyse „dekonstruiert“ (Angermüller 2005b) auf diese Weise Texte und betont damit den heterogenen Charakter des Diskurses. In der Aussagenanalyse werden weder die ideologischen und politisch-programmatischen Inhalte noch das darin abgespeicherte gesellschaftliche Wissen rekonstruiert. Vielmehr ist die Aussagenanalyse eine Formanalyse, die die Zugriffsmechanismen der Texte auf Kontexte (Angermüller 2007c) bzw. die Gebrauchsregeln (Williams 1999) herausarbeitet. Denn die Äußerung hinterlässt in der Aussage keine semantischen Irritationen sondern formale Spuren. Über formale Spuren greifen Texte auf unterschiedliche Art und Weise auf Kontexte zu. Die wichtigsten formalen Spuren sind deiktische Referenz und axiologische Partikel, die das Subjekt, die Zeit und den Ort der Äußerung in der Aussage reflektieren, polyphone Operatoren, die unterschiedliche Perspektiven in den Diskurs einführen, Fremdreferenzen, die auf unterschiedliche Sachverhalte und Objekte im Kontext Bezug nehmen, und Nominalisierungen, die ein „selbstverständliches“ Wissen in den Diskurs einführen. Nach Angermüller haben die formalen Spuren einen „instruktiven“ Charakter. Sie lenken und orientieren den Blick des Lesers und fordern ihn auf, ausgehend vom Text unterschiedliche Kontexte aufzusuchen. Welche Kontexte der Leser auffindet, ist im Text nicht festgeschrieben, sondern hängt vom enzyklopädischen Wissen des Lesers ab. Texte sind demnach keine Bedeutungsträger, sondern eher Steuerungs- und Orientierungswerkzeuge. Sie „aktivieren bei ihren Lesern [...] vielfältige Wissensbestände“ (Angermüller 2007c: 29). Während im Folgenden darge111
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stellt werden soll, wie Texte den Leser instruieren und dadurch multiple Wissensbestände aktivieren, soll anschließend mit der Frame-Analyse eine Methode vorgestellt werden, mit der große Teile der Wissensbestände katalogisiert werden können, auf die die Akteure des BolognaProzesses spontan zugreifen, wenn sie mit den Texten des BolognaProzesses konfrontiert sind. Während es also zunächst darum geht, die für alle sprachkompetenten Leser geltenden Instruierungs- und Aktivierungsmechanismen vorzustellen, unterstellt die Katalogisierung der Wissensbestände einen eingeschränkten Leserkreis.
Deiktische Referenz und axiologische Partikel6: Wer spricht? Neben Austins Theorie der Sprechakte bildet vor allem Benvenistes formaler Apparat der Äußerung einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt der äußerungstheoretischen Diskursanalyse. Benveniste interessiert sich insbesondere dafür, wie Subjektivität in die Sprache (langue) eingeführt wird. Ausgehend von Bühlers „Origo“ (Bühler 1999), der Koordinatenausgangspunkt des Sprechens „Ich“, „Hier“, „Jetzt“, entwickelt Benveniste eine Sprachtheorie, die den Kontext des Sprachgebrauchs ausgehend von der Äußerungssituation berücksichtigt. Benveniste unterscheidet zunächst zwischen Selbstreferenz und Sachreferenz. Selbstreferenz bezeichnet den Akt, wodurch mittels der deiktischen Pronomen „ich“ und „du“ der Sprachvollzug in der Aussage reflektiert wird. Die Personalpronomen „ich“ und „du“ benennen nicht nur ein Referenzobjekt, dem ein Merkmal zukommt („ich bin hier, du bist dort“), sie zeigen (Deixis) dabei gleichzeitig auf die Person, die spricht und die angesprochen wird („ich bin hier, du bist dort“). Dies gilt jedoch nicht gleichermaßen für die dritte Person „er“, „sie“, „es“, die Benveniste als „Nicht-Person“ bezeichnet und ebenso wenig für alle Demonstrativpronomen wie „dieser“, „jenes“, „der“, „die“, „das“, die nach Benveniste sach- bzw. fremdreferentiell sind. Benveniste zufolge sind nur die selbstreferentiellen Partikel deiktisch, nicht jedoch die sach- und fremdreferentiellen Formen. Die deiktischen Partikel sind allerdings keine kohärenten Gebilde. So hat der Partikel „ich“ grundsätzlich eine Doppelstruktur. „Es gibt also bei diesem Prozess eine doppelte, gekoppelte Instanz: Instanz des ich als Referenz und Diskursinstanz, die ich als Referiertes enthält“ (Benveniste 1977: 281, Herv. i.O.). Demnach ist „ich“ als Objekt und Subjekt der Aussage analysierbar und reflektiert als deiktischer Partikel den Kontext der Äußerung. Neben den Personalpronomen „ich“ und „du“ 6
Diese Partikel (ohne –n) sind nicht mit Sprachpartikeln (mit –n) wie „nun“, „aber“, „jedenfalls“ etc. zu verwechseln (vgl. Helbig/Helbig 1995).
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haben auch die Adverbien „hier“ und „jetzt“ diese Funktion. „Die Anwendung“ dieser selbstreferentiellen Partikel „hat also die DiskursSituation und keine andere zur Voraussetzung“ (Benveniste 1977: 283). Während fremdreferentielle Partikel der Situation der Äußerung grundsätzlich enthoben sein können, ist dies im Falle der selbstreferentiellen, deiktischen Partikel nicht möglich. Mit den selbstreferentiellen Partikeln können wir nicht nur die Spuren des Äußerungskontexts in der Aussage analysieren, sondern finden hier im Gegensatz zu fremdreferentiellen Partikeln immer zwei Bedeutungsebenen in der Aussage vor: ein äußerndes „ich“, das mit „ich“ gezeigt wird, und ein geäußertes „ich“, das mit „ich“ bezeichnet wird. Nach Benveniste markiert der deiktische Partikel „ich“ im Gegensatz zu den anderen selbstreferentiellen Partikeln „du“, „hier“ und „jetzt“ die subjektive Rede, „weil jeder Sprecher sich als Subjekt hinstellt, indem er sich in seiner Rede auf sich selbst als ich bezieht“ (Benveniste 1977: 289, Herv. i.O.) Damit gibt uns Benveniste ein Instrument an die Hand, um diskursive Subjektivität zu analysieren. Subjektivität ist damit jenseits der faktisch ausgeführten Äußerung nicht vorstellbar. Das Subjekt ist nach Benveniste weder vor der Sprache noch ohne Sprache denkbar. Die Vorstellung, man könnte Sprache als Ausdruck von Subjektivität analysieren, bezeichnet Benveniste als „Fiktion“, unterstellt eine solche methodische Vorgehensweise doch ein Subjekt, das bereits vor der Äußerung konstituiert wäre. Das Subjekt ist nach Benveniste als kompakte Einheit überhaupt nicht denkbar. Vielmehr konstituiert es sich in der Äußerung immer nur als Facette des Diskurses. Neben den deiktischen Partikeln „ich“ bzw. „wir“ können auch axiologische Partikel wie „schön“, Konnotationen in schriftlicher und mündlicher Rede und konventionalisierte Wertungen wie „Bürokratieabbau“ als Spuren von diskursiver Subjektivität gelesen werden (vgl. Angermüller 2007c: 142/43), weil dadurch ein subjektiver Standpunkt sichtbar gemacht wird. Ausgehend von Austins Unterscheidung zwischen der illokutionären Kraft und der propositionalen Ebene, die jeden Sprachgebrauch kennzeichnet, müssen grundsätzlich auch Aussagen, die keine subjektiven bzw. auf den Kontext verweisende Spuren enthalten, als aus zwei Ebenen zusammengesetzte Konstrukte konzipiert werden. Insofern ist Benvenistes Unterscheidung zwischen dem Äußerungsmodus Diskurs, der mit selbstreferentiellen (deiktischen) Partikeln operiert, und Geschichte, der ohne solche Partikel auskommt und sich auf den Bericht von Tatsachen bezieht, kein Hinweis darauf, dass der Geschichtsmodus kein Diskurs in dem Sinne ist, dass die Texte hier nicht auf Kontexte verweisen. Vielmehr bezeichnet dieser Modus nur eine spezifische Form von Diskursivität, die dadurch charakterisiert ist, dass sie weitestgehend ohne 113
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Subjektivität operiert. Während die meisten Diskursarten kaum ohne selbstreferentielle deiktische Partikel auskommen, können Protokolle und andere Sachberichte als Beispiel für diese Art von Diskurs genannt werden. Die deiktischen und axiologischen Formen verbinden den Text und den Kontext, indem die Aussage durch spezifische Formen in personeller, zeitlicher und räumlicher Hinsicht orientiert wird. Ausgehend von den deiktischen und axiologischen Formen kann danach gefragt werden, „Wer spricht?“, „Wer oder was befindet sich auf dem Punkt, der vom Äußerungszeitpunkt ‚jetzt‘ aus gesehen ‚damals‘ oder ‚später‘ verortet ist?“. Schließlich kann gefragt werden, „Welche Position befindet sich ausgehend von ‚hier‘‚ dort‘ ?“. Unter Berücksichtigung der Kontexte kann schließlich danach gefragt werden, welche sozialen, politischen, institutionellen etc. Namen und Adressen mit den diskursiv evozierten Positionen in Verbindung gebracht werden können, welche Beziehung sie eingehen und wie das Subjekt des Diskurses mit Blick auf diese Positionen orientiert wird.
Polyphonie: Mit welchen Perspektiven operiert der Text? Ebenso wie der deiktische Operator „ich“ weist der polyphone Aufbau des Diskurses eine heterogene Struktur auf. Bachtin hat insbesondere in seinen Analysen der Romane Dostoevskijs (Bachtin 1971) eine Theorie der „Dialogizität des Wortes“ entwickelt. Bachtin wendet sich damit gegen die Auffassung der „traditionellen Stilistik“ (Bachtin 1986: 96), die Worte als isolierte, sinnerfüllte Bedeutungseinheiten analysiert. Nach Volosinov ist mit der „traditionellen Stilistik“ vor allem der deutsche Idealismus angesprochen, der das Wort als Ausdrucksmittel eines sinngebenden Subjekts betrachtet, dessen tieferer Sinn hermeneutisch rekonstruiert werden kann. Bachtin (und Volosinov) grenzen sich mit der Dialogizitätstheorie aber auch von Saussures Linguistik ab, wonach das Wort nur ein Element der „langue“ ist und dort seinen festen Platz hat (vgl. Volosinov 1975: 95-119). Mit der Dialogizität des Wortes bezeichnet Bachtin die Verwobenheit gesprochener Worte in andere Worte, Akzente, Ideologien, Genres etc. Ein einzelnes Wort ist niemals autonom, sondern beinhaltet immer schon Widerrede und (antizipierte) Antwort. Es ist stets auf weitere, darauf folgende Worte ausgerichtet und erlangt niemals eine autonome Integrität. Das Wort ist demnach weder als zeitlich ursprüngliche noch als räumlich abgeschlossene Sinneinheit denkbar. Nach Bachtin taucht ein Wort immer inmitten anderer Wörter auf und inkorporiert deren Akzente. Insbesondere am Beispiel der Parodie zeigt Bachtin, wie ein Wort aus unterschiedlichen, sich überlagernden Stimmen besteht. Das parodisti114
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sche Wort ist demnach immer ein dezentriertes Wort, weil sich der andere Akzent im Wort befindet. So zeigt Bachtin in Formulierungen wie: „Dieses Arztsöhnchen war nicht nur unbefangen [...]“ wie sowohl die Autorstimme als auch die Stimme des Romanhelden gleichzeitig präsent sind (Bachtin 1986). Den formalen Merkmalen nach gehört diese Passage zur Situationsbeschreibung des Autors, der, indem er für seine Beschreibung die Formulierung „Arztsöhnchen“ wählt, sich im selben Moment mit der verachtenden Haltung des Romanhelden gegenüber der vom Autor beschriebenen Person solidarisiert. In diesem Wort sind also zwei Stimmen präsent: einerseits die Stimme des Romanautors und andererseits die des Helden. Ducrot hat Bachtins Dialogizitätstheorie aufgegriffen und darauf aufbauend unter Rückgriff auf die äußerungstheoretische Begrifflichkeit eine Polyphonietheorie formuliert (vgl. Angermüller 2007c: 125-139, Pérennec 2007)7. Nach Ducrot wird eine Aussage vom Lokutor orchestriert. Der Lokutor ist nach Ducrot kein außerdiskursives Subjekt, sondern bezeichnet eine innerdiskursive Instanz, die in jeder Aussage präsent ist und durch deiktische und axiologische Partikel sichtbar werden kann. Der Lokutor spricht nie selbst, sondern lässt immer andere Sprecher und Äußerungsquellen auftreten, die er annimmt, zurückweist oder auf kritische Distanz hält. Während der Lokutor einige Sprecher annimmt, weist er andere dem Allokutor zu. Nach Ducrot ist der Lokutor keine integrierte Gestalt, sondern stets gespalten in einen Lokutor (1), der nur für das Gesagte die Verantwortung übernimmt, und einen Lokutor (2), der durch „ich“ oder „wir“ auf eine Person oder Institution verweist (vgl. Pérennec 2007). Während der Lokutor (1) die textuelle Verantwortlichkeitsinstanz ist, übernimmt der Lokutor (2) die institutionelle Verantwortung. Wir werden im Folgenden dann vom Lokutor sprechen, wenn der Lokutor (1) gemeint ist, und von der institutionellen Adresse, wenn vom Lokutor (2) die Rede ist. Diese Arbeit folgt weitestgehend Angermüllers Vorschlag, mit der Weiterentwicklung von Ducrots Polyphonietheorie zur „skandinavischen Theorie der linguistischen Polyphonie“ (ScaPoLine) zu arbeiten (vgl. Angermüller 2007c: 145-152, Flottum 2005). Nach der ScaPoLine besteht der Diskurs aus vier Instanzen. Erstens, dem Lokutor. Der Lokutor ist der „Konstrukteur“ (Flottum 2005) oder „Strippenzieher“ (Angermüller 2007c) der Aussage. Der Lokutor spricht nie selbst, sondern 7
Bezüglich Ducrot, dessen Schriften weder auf Englisch noch auf Deutsch vorliegen, greife ich im Folgenden auf Angermüllers Darstellung der Polyphonietheorie zurück, ohne jedoch die Vielfältigkeit von Ducrots Arbeit, die Angermüller ausführlich darstellt, zu berücksichtigen (siehe dazu Angermüller 2007c). 115
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lässt zweitens unterschiedliche Sprecherperspektiven (per) gegeneinander antreten, die drittens mit diversen Äußerungsquellen („diskursive Wesen“, [l], [a]) verbunden werden können (vgl. Angermüller 2007c: 145, Flottum 2005: 33). Durch die Verbindung von Sprecherperspektive und diskursiven Wesen wird im Diskurs Verantwortungsübernahme für „per“ durch „[l]“ oder „[a]“ organisiert. Diese Frage kann, muss aber vom Text nicht grundsätzlich beantwortet werden ([x]). Dem Lokutor steht immer der Allokutor gegenüber. Die Sprecherperspektiven, die vom Lokutor angenommen bzw. dem Allokutor zugewiesen werden, müssen nicht unbedingt einer Äußerungsquelle zugeschrieben werden. Angermüller verdeutlicht die unterschiedlichen Instanzen anhand eines Beispiels (vgl. Angermüller 2007c: 146/47). So enthält die Aussage „Peter hat vielleicht nicht gegessen“ drei Sprecherperspektiven (per), denen zwei Äußerungsquellen (in den eckigen Klammern) zugeschrieben werden können. Eine Äußerungsquelle bleibt unbestimmt ([x]). Die Beziehung zwischen den Perspektiven (per) wird durch ihr dialogisches Verhältnis hervorgebracht. Die Aussage kann folgendermaßen formal dargestellt werden: per1 (1) [x] P(1): „Peter hat gegessen“ per1 (2) [l1]: NEIN [per1 (1)] per1 (3) [l0]: VIELLEICHT [per1 (2)]
Der Lokutor nimmt per1(3) an, kann jedoch die anderen beiden Perspektiven durch das Adverb „vielleicht“ nicht eindeutig verorten. Schließlich muss nach ScaPoLine noch zwischen dem „verantwortlichen Sprecher“ [l] und dem „textuellen Lokutor“ unterschieden werden. Der textuelle Lokutor wird in der Regel durch Personalpronomen und Eigennamen markiert. Während der textuelle Lokutor den verantwortlichen Sprecher [l] notwendigerweise voraussetzen muss, ist dies umgekehrt nicht der Fall. Das gleiche gilt für die zwei Erscheinungsformen des Allokutors. Die Aussagenanalyse interessiert sich nicht für den Bedeutungsgehalt der Propositionen (P), sondern für die formalen Merkmale. Klassische polyphone Formen sind Negationen wie „nicht“ oder „un-“. Aber auch Nebensätze und Adverbien können Polyphonie auslösen. So enthält die Aussage „Ich glaube nicht, dass es regnet“ drei Perspektiven: per1 (1) [x] P(1): „Es regnet“ per1 (2) [a]: „Ich“ GLAUBT [per1 (1)] per1 (3) [l]: NEIN [per1 (2)]
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Der Lokutor übernimmt hier per1(3), weist per1(2) dem Allokutor zu und überlässt per1(1) einer unbestimmten Äußerungsquelle. Die unterschiedlichen Sprecherperspektiven bilden keine willkürlichen Beziehungen. Vielmehr kann in der Formalisierung der Sprecherperspektiven eine dialogische Reihenfolge oder Hierarchie herausgearbeitet und ein dialogisches Feld erstellt werden. So stellen im obigen Beispiel die drei Perspektiven nicht nur ein mehrschichtiges, heterogenes Ensemble dar, sondern gehen eine dialogische Beziehung ein, die sich von per1(1) über per1(2) nach per1(3) erstreckt. Die Reihenfolge der Sprecherperspektiven ist demnach nicht willkürlich, sondern wird durch ihre dialogische Beziehung festgelegt. Nachdem die Analyse der diskursiven Formen ein dialogisches Feld herausgearbeitet hat, kann im Kontext des analysierten Textes nach den institutionellen Adressen gesucht werden, die die jeweiligen Äußerungsquellen institutionell verantworten müssen. So kann beispielsweise ein X-beliebiger Mensch im Alltag oder ein Meteorologe mit [l] in Verbindung gebracht werden. Würde [l] die institutionelle Adresse „Meteorologe“ tragen, müsste die hegemonietheoretische Interpretation, die von den katalogisierten Kontextelementen angeleitet wird, völlig andere Wege nehmen, als wenn der „X-beliebige Mensch“ die institutionelle Verantwortung übernimmt. So kann mit der Polyphonieanalyse gezeigt werden, wie Texte immer mehrere Perspektiven verhandeln. Der Leser ist angesichts der Multiperspektivität der Aussage aufgefordert, die unterschiedlichen Sprecherperspektiven mit institutionellen Adressen zu verbinden. Dadurch spannen Texte ein politisches Feld auf, das dem Leser keinesfalls als neutrales Feld von Positionen vor Augen geführt wird, sondern als hierarchischen, ethisch-moralisch ausbuchstabierten Raum.
Intertextuelle und extratextuelle Referenz: Wie greift der Text auf Sachverhalte zu? Neben den deiktischen und polyphonen Formen enthalten Texte zahlreiche andere Formen, die nicht auf den Äußerungskontext, sondern auf intra-, inter- und extratextuelle Sachverhalte verweisen. Ausgehend von Benvenistes Unterscheidung zwischen (deiktischer) Selbstreferenz und Fremd- bzw. Sachreferenz müssen einige Formen des Textes auf der Seite der Sachreferenz verortet werden. Während Benveniste die Personalpronomen der ersten und zweiten Person als selbstreferentielle (deiktische) Partikel konzipiert, welche die Äußerungssituation reflektieren, ordnete er die Personalpronomen der dritten Person (der „Nicht-Person“) dem Bereich der Fremd- bzw. Sachreferenz zu. Über Sachreferenzen nimmt der Text auf Dinge, Konzepte, Ereignisse vorher Gesagtes und noch zu Sagendes Bezug. 117
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Bühler beschrieb die Sprache als eine Operation zweier Felder: des „Zeigefeldes“ und des „Symbolfeldes“ (Bühler 1999). Dem Zeigefeld gehören die deiktischen Partikel der Origo „ich“, „hier“, „jetzt“ an, wohingegen Nomen (z.B. „Pferd“, „Begriff“) dem Symbolfeld angehören. Während die Partikel des Zeigefeldes räumlich, zeitlich und personal referieren, verweisen die Symbole auf „Dinge“ und „Bedeutungen“. Eine Zwitterstellung zwischen dem Zeigefeld (bzw. der Origo) und dem Symbolfeld (den Nomen) nimmt Bühler zufolge die „Anaphora“ ein. Die Besonderheit der Anaphora besteht darin, dass sie sich sowohl im Zeigefeld als auch im Symbolfeld bewegen. „Man weist mit dieser und jener [...] auf soeben in der Rede Behandeltes zurück, man weist der [...] und anderen Zeigwörtern auf sofort zu behandelndes voraus“ (Bühler 1999: 121, Herv. i.O.). Während die Elemente der Origo ohne Sach- und Bedeutungsreferenz operieren, sondern nur die Äußerungssituation zum Gegenstand haben, bleiben die anaphorischen Elemente als Zeigepartikel auf die Sach- und Bedeutungsreferenzen des Symbolfeldes angewiesen. Dem ersten (deiktischen) Fall entspricht also ein Satz wie: „Ich ging nach Hause, als ich dort ankam [...]“, während dem zweiten (anaphorischen) Fall ein Satz wie: „Peter ging nach Hause. Als er dort ankam [...]“ entspricht. Während „er“ auf „Peter“ anaphorisch zurückverweist, operiert der Satz nach wie vor mit dem sachreferentiellen Nomen „Peter“. Die beiden Personalpronomen der ersten Person „ich“ im ersten Satz verweisen dagegen jeweils auf den Lokutor, wobei der Lokutor nicht identisch mit einer Person wie „Peter“ sein muss (vgl. Pérennec 2007). Mit den selbstreferentiellen („ich“/„du“, „hier“, „jetzt“ usw.) und der sachreferentiellen Formen („er“, „diese“ usw.) werden also zwei unterschiedliche Dimensionen des Diskurses bezeichnet. Während im saussure’schen Strukturalismus Texte durch spezifische Operationen von Differenzen Bedeutung (Signifikant und Signifikat) erzeugen, können wir ausgehend von Bühler (1999) und Brown/Yule (1989) einen pragmatischen Textbegriff einführen, der vor allem anaphorisch und sachreferentiell operiert. Während Bühler noch das Symbolfeld vom Zeigefeld unterscheidet, betont die angelsächsische Pragmatik, dass auch Nomen mit Referenzen operieren (vgl. Yule 2003, Brown/Yule 1989). Aussagen wie: „Peter geht nach Hause“ werden nicht hinsichtlich ihrer Bedeutung (langue) untersucht. Vielmehr wird danach gefragt, welche Präsuppositionen, Inferenzen, Implikationen, Implikaturen und anaphorischen und deiktischen Referenzen diese Aussage organisieren. Präsuppositionen bezeichnen Sachverhalte, die von Hörer und Sprecher als notwendig unterstellt werden müssen, z.B. dass „Peter“ ein Mensch ist, während Inferenzen nahe liegende, aber nicht notwendige Sachverhalte bezeichnen. 118
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So könnte es sein, dass „Peter“ „obdachlos“ ist und nicht „geht“ sondern „fährt“ etc. Anders als in der zeitgenössischen sprachwissenschaftlichen Diskussion (vgl. Grewendorf et al. 1989) wird der Begriff der Präsupposition wie auch die der anderen textualen Operatoren ausschließlich in Bezug auf Text und Kontext konzipiert. Da hier davon ausgegangen wird, dass Texte jenseits ihres Gebrauchs nicht virulent werden können, muss das Problem der „semantischen Präsuppositionen“ (vgl. Grewendorf et al. 1989: 428-446), also das Problem der Präsupposition ohne Kontext, als Scheinproblem erscheinen. Während Präsuppositionen und Inferenzen das Verhältnis zwischen einem Sprecher und einer Proposition regulieren, bestimmen Implikaturen und Implikationen das Verhältnis zwischen Proposition und Proposition (vgl. Brown/Yule 1989). So präsupponiert die Aussage „ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause“, dass die Person, die mit „ich“ deiktisch markiert wird, „weiß“, wie man ein „Fahrrad fährt“. Eine Inferenz dieser Aussage liegt dann vor, wenn es beispielsweise um die Frage geht, warum die Person, die mit „ich“ gezeigt wird, Fahrrad fährt. So könnte „ich“ sich mit seinem/ihrem Freund, der ein Auto hat, gestritten haben, woraufhin „ich“ sagt „ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause (und nicht mit deinem Auto)“. Inferenzen können durch unterschiedliche argumentative Formen wie „wenn auch“ oder durch Partikeln wie „so“ evoziert werden („So! Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause!“). Anders als Präsuppositionen evozieren Inferenzen ein grundsätzlich verhandelbares Wissen. Auf der anderen Seite impliziert die Aussage „ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause“, dass das Fahrrad nicht kaputt ist, dass es eine Straße oder einen Fahrradweg im Kontext der Äußerung gibt etc. Eine Implikatur dagegen wäre eine Proposition über diese Aussage, die, im Gegensatz zur Implikation, nicht notwendigerweise wahr ist (ist es ein Damenfahrrad, ein Herrenfahrrad etc.?). Die Referenz auf Sachverhalte des weiteren Kontextes kann auch über die anaphorischen Referenzen verlaufen. Brown/Yule unterteilen die anaphorische Referenz in zwei Grundfunktionen. „Exophorische“ Partikel verweisen auf etwas außerhalb des Textes („Schau dir das an“, einen Sonnenaufgang), wohingegen „endophorische“ Partikel auf Elemente im Text verweisen. Die endophorischen Partikel können ihrerseits noch in „anaphorische“, die auf bereits Gesagtes zurückverweisen, und „kataphorische“ Partikel, die auf im Text Kommendes hinweisen, unterschieden werden.
Nominalisierung und Vorkonstrukt: Wie inkorporiert der Diskurs andere Diskurse? Anders als die Sachreferenzen, die auf Objekte oder Propositionen im Text oder im Kotext der Aussage verweisen, können Nomen auch äuße119
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rungstheoretisch als „Nominalisierungen“ analysiert werden. So unterscheidet bereits Bühler zwei Formen von Nomen, die durch ihre spezifische Beziehung zum Artikel charakterisiert sind (Bühler 1999: 303315). Nomen können entweder von einem bestimmten oder einem unbestimmten Artikel geführt werden. Der bestimmte Artikel bringt das Nomen mit einem Gegenstand in Verbindung, wohingegen der unbestimmte Artikel das Nomen mit einem Begriff versieht. Der Satz „das Pferd“ kann demnach zwei unterschiedliche Referenzen aufweisen. Einerseits das konkrete Pferd und andererseits die Gattung oder den Begriff des Pferdes. Im ersten Fall würde das Demonstrativpronomen „das“ auf ein Objekt im Umfeld der Aussage verweisen; im zweiten Fall dagegen muss die Tatsache, „dass es Pferde gibt“, anerkannt werden. Die Frage, welche Referenz gemeint ist, hängt also von der Ziel- oder Zeigerichtung des anaphorischen Partikels „das“ ab. Als bestimmter Artikel zeigt „das“ auf einen Gegenstand im Text oder außerhalb des Textes (exooder endophorisch), als unbestimmter Artikel zeigt „das“ dagegen auf das Nomen selbst. Grundsätzlich sind alle Nomen auf verbale Handlungen zurückführbar. Während viele Nomen (z.B.: „das Haus“) sich zu konventionellen Begriffszeichen (Sachreferenzen) verdichten, sind andere noch von den Spuren der verbalen Handlung gezeichnet (z.B.: „das Lesen“). Besonders deutlich ist dies an Nomen mit Suffixen erkennbar. So ist beispielsweise „Erklärung“ zerlegbar in „ich erkläre, dass X“, „sie erklären, dass X“ etc. Aber auch andere Nomen, wo diese Spur bereits getilgt ist, können auf eine solche Äußerungsquelle zurückgeführt werden. Als Nominalisierungen können solche Nomen bezeichnet werden, die auf Verben und Adjektive zurückführbar sind (vgl. Angermüller 2007c: 144). Beispiele dafür sind „die Attraktivität“, „die Internationalisierung“, „die Vitalität“ oder „das Lernen“. All diese Nominalisierungen setzen eine Äußerungsquelle voraus, die abhanden gekommen ist. Das Auftauchen von Nominalisierungen in Texten signalisiert, dass an einem Ort, zu einer Zeit und von einer Person, der bzw. die nicht mehr kontrovers verhandelt werden müssen, eine Äußerung vollzogen wurde, deren Aussage im aktuellen Diskurs nominalisiert ist. Damit desartikulieren Nominalisierungen die Verbindung von Sprecherperspektive und diskursiven Wesen. Die propositionalen Inhalte von Nominalisierungen müssen von keinem Sprecher mehr ausdrücklich verantwortet werden. Der Leser wird aufgefordert, die Existenz des anderen Diskurses, auf den die Nominalisierung verweist, anzuerkennen. Angermüller (2007c: 152-154) hat die Rolle der Nominalisierungen mit Pêcheuxs Theorie des „Vorkonstrukts“ äußerungstheoretisch reformuliert. Während die Präsupposition und die Implikation ein Wissen be120
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zeichnet, das sich unmittelbar aus dem „Hier“ und „Jetzt“ des Diskurses ergibt, verweist das Vorkonstrukt auf ein Wissen, das nach allgemeiner Anerkennung verlangt. „Mit dem Vorkonstrukt-Begriff versucht Pêcheux dem Rechnung zu tragen, was davor und anderswo gesagt wurde, und zwar im Unterschied zu dem, was von der Aussage selbst ‚konstruiert‘ wird“ (Angermüller 2007c: 152). Das Vorkonstrukt verweist auf Selbstverständlichkeiten, die von keinem infrage gestellt und verantwortet werden müssen; es verlangt nach allgemeiner Anerkennung. Die Äußerungsquelle von Nominalisierungen ist im Diskurs abgeschnitten, weil keine diskursiven Wesen wie [l] oder [a] dafür die Verantwortung übernehmen müssen. Während der Leser Begriffszeichen und Sachreferenzen relativ frei mit semantischen Inhalten füllen kann, hat das Vorkonstrukt eine disziplinierende Wirkung. Der Leser wird dem Textverlauf nicht folgen können, wenn er die Existenz des (anderen) Diskurses, der durch das Vorkonstrukt in den aktuellen Diskurs eingeführt wird, nicht anerkennt. Wie Angermüller zeigt, ist das Vorkonstrukt also keinesfalls ein einfaches Begriffszeichen, das durch ein Objekt oder eine Bedeutung gesättigt werden könnte. Vielmehr füget es weitere Sprecherperspektiven in das dialogische Feld der Aussage ein, die allerdings keinem textuellen Verantwortungsträger zugeschrieben werden können. Das Vorkonstrukt führt somit semantische Inhalte in den Diskurs ein, die von niemandem mehr verantwortet werden müssen. Wenn Diskurse mit Vorkonstrukten operieren, dann lassen sie anonyme Instanzen sprechen, die im „Hier“ und „Jetzt“ der Aussage nach allgemeiner Anerkennung verlangen. So können vorkonstruierte Perspektiven eine von irgendwem, irgendwann, irgendwo getroffene politische Entscheidung ins Spiel bringen, die für die Sprecherperspektiven, die von lokalisierbaren Äußerungsquellen vertreten werden, als nicht zu hinterfragende Hintergrundfolie fungieren. So kann die Aussage „die Aufgabe besteht nicht darin, X zu tun“ mit der Vorkonstrukttheorie als eine dreistimmige Aussage analysiert werden. Während X ein Nomen bezeichnet, das auf diverse semantische Inhalte durch Inferenzen referiert, ist „die Aufgabe“ eine Nominalisierung, die äußerungstheoretisch untersucht werden kann. per1 (1) [x] P(1): „die Aufgabe“ (ich gebe euch auf = ich verlange von euch) per1 (2) [a]: „X tun“ [per1 (1)] per1 (3) [l]: NEIN [per1 (2)]
Während per1 (2) und per1 (3) in ein agonales Verhältnis eintreten, versteht sich per1 (1) für Lokutor und Allokutor von selbst. Keiner bezieht Position für oder gegen per1 (1), verhandeln doch per1 (2) und per1 (3) 121
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nur, was von per1 (1) aufgegeben (verlangt) wurde. Per1 (1) verweist auf einen Diskurs, der im „Hier“ und „Jetzt“ der Äußerung nicht stattfindet, sondern bereits stattgefunden hat. Somit hat die äußerungstheoretische Reformulierung des Vorkonstrukts ein nicht zu unterschätzendes ideologiekritisches Potential. Während der Leser frei ist zu entscheiden, mit welchem konkreten semantischen Inhalt das Nomen „die Aufgabe“ zu besetzen ist, kann er die Existenz einer „Aufgabe“ nicht zurückweisen, ohne die Autorität des Sprechers vollständig in Frage zu stellen.
D i e F r a m e - An a l ys e : d i e K a t a l o g i s i e r u n g des Kontextes Während die Aussagenanalyse danach fragt, wie Texte über unterschiedliche Formen auf Kontexte zugreifen, soll im Folgenden mit Minskys Frame-Analyse eine Methode vorgestellt werden, mit der die Kontexte bzw. das weitergefasste Äußerungsfeld beschrieben werden kann. Wie wir im ersten Abschnitt des Kapitels gesehen haben, ist das Äußerungsfeld, in das sich eine Aussage einschreibt, äußerst vielfältig. Es umfasst sowohl institutionelle, ökonomische, kognitive, soziale, ideologische, genrespezifische etc. Arrangements. Zudem bezeichnet das Äußerungsfeld keine Wirklichkeitsebene, die jenseits konkreter Aussagen liegt. Erst der Zugriff des Textes evoziert Kontexte. Aus diesem Grunde kann der realisierte Kontext nur ausgehend von konkreten Aussagen beschrieben werden. Eine Methode zur Analyse des Kontextes bzw. des Äußerungsfeldes muss demnach einerseits der Vielschichtigkeit der Kontexte gerecht werden und andererseits dem vorläufigen Charakter eines Katalogs, dessen Inhalte selektiv neu zusammengesetzt werden können, entsprechen. Eine Möglichkeit der Analyse des Kontextes bietet Bergers und Luckmanns Wissenssoziologie (Berger/Luckmann 1999). Demnach konstituiert sich das Partikulare (das Subjekt) und das Universale (die Institution) in einem dialektischen Wechselverhältnis gegenseitig. Der Kontext könnte hiernach als ein Ensemble von sedimentierten bzw. institutionalisierten Wissenskonfigurationen untersucht werden. Problematisch ist dieser Ansatz aber, weil er dem kontingenten Charakter der Verknüpfung von Partikularität und Universalität nicht gerecht wird. Nach Berger/Luckmann müsste der Kontext als ein immer schon präkonstituierter Bereich, der als positives, rekonstruierbares Wissen vorliegt, angenommen werden. Im Sinne einer von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilten „symbolischen Sinnwelt“ rahmt das kontextuelle Wissen wie eine Matrix die einzelnen diskursiven Akte, ist doch das interna-
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lisierbare Wissen die Voraussetzung für die partikularen Externalisierungsprozesse. In der Diskursanalyse geht die Rahmung aber von den einzelnen diskursiven Akten aus und evoziert nur als ideologischer Effekt eine materielle Wirklichkeit. Institutionen als akkumulierte Wissensformationen stünden demnach den einzelnen Akten nicht als externalisiertes Material menschlichen Handelns für weitere Internalisierungsprozesse zur Verfügung. Der Gegenpart zur Institution wäre hegemonietheoretisch gesehen auch nicht das internalisierende und externalisierende Individuum, sondern der durch den Äußerungsakt hervorgerufene Mangel. Institutionen bzw. Wissenskonfigurationen müssen aus der Sicht der Diskursanalyse als heterogene, unabgeschlossene Ensembles konzipiert werden, die jenseits des partikularen Aktes keine ontologische Existenzform aufweisen. Demnach wird hier der Akt der Hervorbringung und nicht das bereits hervorgebrachte und sedimentierte Wissen fokussiert. Während Foucault selbst (sicherlich etwas leichtfertig) zwischen institutionellen und diskursiven Praktiken unterscheidet, betonen Laclau/Mouffe, dass auch Institutionen an den Akt der hegemonialen Artikulation gebunden sind (vgl. Laclau 1990a). Diesen Aspekt des Diskurses hat insbesondere Austin mit der Theorie der Sprechakte herausgearbeitet (vgl. Austin 1998). In den Untersuchungen zu den „Unglücksfällen“ zeigt Austin, dass auch Institutionen an den Akt der Hervorbringung gebunden sind. Die Hervorbringung von Institutionen ist hiernach nicht an ein intentional handelndes Subjekt gebunden, sondern basiert auf dem Äußerungsakt. Dieser Prozess entgleitet den Handelnden grundsätzlich, weil der Kontext eben keine Voraussetzung des Handelns ist sondern das Produkt. Erst der Text arrangiert das Kontextmaterial und evoziert so den ideologischen Effekt des Universalen. Idealtypische Institutionen können als Ressourcen verstanden werden. Sie bestehen aus unterschiedlichen Elementen, die ausgehend von partikularen Akten immer wieder neu arrangiert werden müssen. Dies ist die ontologische Voraussetzung für Austins „Unglücksfälle“. Für die politische Soziologie hat Scharpf darauf hingewiesen, dass „Institutionen die wichtigsten Einflussgrößen auf [...] Akteure und Interaktionen sind, weil [...] die Akteure selbst auf sozial konstruierte Regeln angewiesen sind, um sich in ansonsten chaotischen sozialen Umgebungen zurechtzufinden, und weil diese Regeln, sofern sie diese Funktion tatsächlich erfüllen, zum ‚gemeinsamen Wissen‘ aller Akteure gehören [...]“ (Scharpf 2000: 78). Damit betont Scharpf die prägende Virulenz von institutionellen Arrangements, welche die individuelle Äußerungssituation übersteigen und als „Wissen“ der Akteure immer schon vorhanden sind. Aber wie kann die Verbindung dieser institutionellen Arran123
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gements mit der individuellen Situation, das heißt mit dem Komplex von Aussage und Äußerung, methodisch übersetzt werden? Neben Bergers und Luckmanns Wissensbegriff bietet Goffmans Begriff des „Rahmens“ eine weitere Möglichkeit, den institutionellen Aspekt methodisch zu erfassen. Der Rahmenbegriff bezeichnet bei Goffman Schemata, die den Individuen zur Verfügung stehen, um alltägliche Individualereignisse zu verstehen (Goffman 1980). Ausgehend von einer partikularen Situation (z.B. ein Autounfall) wird auf der Seite des erlebenden Individuums ein Interpretationsprozess ausgelöst, der durch Rahmen angeleitet wird und es dem Individuum ermöglicht, die Partikularsituation in einen umfassenderen Kontext, der aus weiteren Elementen besteht, einzuordnen und so die Situation zu verstehen. Mit Goffmans Rahmenbegriff können so die individuellen Situationen mit einer umfassenderen Struktur verknüpft werden. Allerdings lässt Goffman die Rolle des interpretierenden Individuums unbestimmt und eröffnet somit zahlreiche Räume für eine subjektivistische Interpretation der Rahmentheorie. Einen ähnlichen Ansatz wie Goffman verfolgt auch Minskys „frame theory“, die Minsky folgendermaßen definiert: „When one encounters a new situation [...], one selects form memory a structure called a frame“ (Minsky 1980: 1, Herv. i.O.). Rahmen sind nach Minsky „eine Art Skelett, etwas wie ein Antragsformular mit vielen Leerstellen oder Lücken“ (Minsky 1994: 245), die Minsky „Terminals“ nennt. Zwar interessiert sich Minsky ebenso wie Goffman für die Art des Verstehens. Anders als Goffman konzipiert Minsky „Verstehen“ nicht als eine Interaktion zwischen Subjekt und Objekt. Die „Welt da draußen“ ist für Minsky nur eine Illusion des Geistes. Minsky konzipiert die kognitive Dimension bzw. den „Geist“ als Mentopolis („Geistesgesellschaft“). Die Geistesgesellschaft besteht aus einer unendlichen Menge von „Agenten“ und „Agenturen“, die jeweils nur einfache Tätigkeiten ausführen können und für jede spezifische Tätigkeit immer wieder zu neuen „Agenten- und Agenturenaggregaten“ zusammengesetzt werden (vgl. Minsky 1994). Agenten und Agenturen bezeichnen demnach keine primären Entitäten, sondern sind auf Prozesse und Aktivitäten angewiesen, die sie stets mit Blick auf spezifische Anforderungen ausführen. Produktion und Produkt, Akt und Fakt sind irreduzibel aufeinander angewiesen und können nach Minsky als gleichursprünglich gelten. Betrachten wir zur Illustration folgende Handlung: „Maria war zu Hans’ Feier eingeladen. Sie fragte sich, ob ihm ein Drachen gefallen würde.“ Nach Minsky registriert ein Agent der „Wahrnehmungsagentur“ („Sehen“, „Hören“, „Lesen“ etc.) die „Einladung“, die von einem anderen Agenten einer anderen Agentur („Sprachagentur“) als „Geburtstags124
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einladung“ interpretiert wird. Dieser Agent wiederum nimmt Kontakt mit einem anderen Teil der „Sprachagentur“ auf, wo ein „Wortagent“ das „Polynem“ „Geburtstagseinladung“ aufruft. Dieser Wortagent stellt nun alles zusammen, was das Polynem „Geburtstagseinladung“ impliziert (feierliche Kleidung, Geschenk etc.). Der in dieser Agentur „zuständige“ Agent für „Geschenke“ ruft wiederum andere Agenten auf, die die Frage „Was ist ein passendes ‚Geschenk‘ für ‚Hans‘?, Wer ist ‚Hans‘? usw.“ beantworten müssen. Agenten sind nach Minsky also keine Dinge, die Eigenschaften besitzen. Agenten sind ausschließlich Prozesse bzw. Handlungsvollzüge, die ausgehend von individuellen Situationen ausgelöst werden. Damit ist Minskys Agentenmodell begrifflich Foucaults Äußerungstheorie näher als Goffmans Rahmen. Frames sind dagegen umfassendere Handlungsskripte, die ausgehend von Individualereignissen aufgerufen werden und die Agenturen mit Elementen und Regeln ausstatten. So ruft der oben genannte Satz in diesem Fall einen „Geburtstagsframe“ auf, der eine Vielzahl von Terminals wie „Geburtstagsgeschenk“, „feierliche Kleidung“, „Spiele“, „Festessen“ etc. und Regeln „Schenke ein Geschenk, das gefällt!“, „Kleide Dich angemessen!“ etc. enthält. Frames sind keine Strukturen, die ein Ereignis wie eine Matrix (Berger/Luckmann) einbetten, noch sind sie Interpretationsschemata, die Möglichkeit eines sinnverstehenden Subjektes (Goffman) unterstellen. Vielmehr werden Frames ausgehend von den spezifischen Texten erst aktiviert. Mit dem Frame-Begriff kann die Virulenz umfassender institutioneller Arrangements sowie situationsspezifischer Umstände ausgehend von Aussage und Äußerung konzipiert werden. Erst wenn der Satz „Hiermit lade ich Dich zu meiner Geburtstagsfeier ein!“ geäußert ist, werden die spezifischen Kontexte (Freundschaft zwischen Einladender und Eingeladenem, Geburtstagsrahmen, ‚Geburtstagsfeier‘ als Institution einer westeuropäischen Gesellschaft etc.) mobilisiert. Ein weiteres Merkmal des Frame-Begriffs besteht darin, dass die Terminals in den Diskursen nicht gefüllt werden müssen. So kann der Geburtstagsframe, der durch eine Einladung evoziert wird, versehentlich verletzt oder auch absichtlich benützt werden, um dem Einladenden „ein’s auszuwischen“. Damit würden die Terminals des „Geburtstagsframes“ mit den Elementen eines „Racheframes“ gefüllt. Einzelne diskursive Ereignisse evozieren demnach umfassende und grundsätzlich unendlich viele Kontexte, die niemals kompakt, geschlossen und kohärent sind, sondern immer prekär, offen und weitläufig bleiben. Begreifen wir Institutionen bzw. Wissen als Frames, die aus Terminals bestehen, welche selbst wiederum niemals alle aufgefüllt werden (müssen) und entsprechende Handlungsanweisungen enthalten, die nie 125
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
„richtig“ befolgt, die absichtlich gebrochen oder einfach ausgelassen werden können, dann kann mit Minskys Frame-Begriff gezeigt werden, wie Texte zwar auf Kontexte angewiesen sind (und umgekehrt), diese aber andererseits keine kompakten, abgeschlossenen und integrierten Einheiten bilden. Der Begriff des hegemonialen Feldes verweist auf ein unabschließbares Terrain, das mit dem Frame-Konzept (stets unvollständig) katalogisiert werden kann. Schließlich können ausgehend von einer Aussage ganz unterschiedliche Frames evoziert werden. Diese Multiplizität von Frames kann eine widersprüchliche, sich überlagernde, ergänzende und unvermittelt nebeneinander stehende Vielfalt an Frames sein. Der diskursive Akt der Geburtstagseinladung kann einen Freundschaftsframe, einen Gästeframe, einen Westliche-Wertegemeinschaftsframe, einen Racheframe etc. evozieren, die selbst wieder in Subframes untergliedert werden können. Der Frame-Begriff verweist damit weder auf ein abgeschlossenes institutionelles Arrangement, noch auf subjektive Sinngebungsprozesse, sondern auf ein unabschließbares Feld von Elementen, auf die Texte in der diskursiven Praxis zugreifen können. Mit Minskys Frame-Begriff kann in der Analyse gezeigt werden, dass die Verbindung von Text und Kontext keinesfalls so verstanden werden darf, dass der (integrierte) Kontext die Aussagen und Äußerungen von innen her regiert und schon „vor“ der Äußerung einer Aussage präsent war. Vielmehr sind auch die Kontexte auf Texte angewiesen. Auch werden die Institutionen bzw. das situationsübergreifende Wissen durch die diskursive Verbindung von Text und Kontext niemals vollständig realisiert. Zwar bilden Frames kohärente Skripte, die wie Institutionen aus Objekten und Regeln bestehen. Allerdings sind Frames an Texte gebunden, weshalb einerseits die Terminals, die Rollen und Rollenanweisungen der Institutionen, niemals gefüllt werden (müssen) und anderseits nie vor der Äußerung feststehen kann, welche Frames und Subframes von einer Aussage evoziert werden. Minskys Frame-Begriff eignet sich demnach als eine Methode zur Analyse des hegemonialen Feldes, weil damit die Elemente der Kontexte, auf die Texte zugreifen, katalogisiert werden können. Weder der Sinn noch die determinierende Kraft der Elemente des Kontextes stehen im Fokus der Analyse, sondern das schlichte Vorhandensein der Elemente und ihrer möglichen Beziehungen untereinander. Welche Rolle sie spielen, kann erst in der Diskursanalyse gezeigt werden. Die Frame-Analyse ist demnach anders als die Wissensanalyse nach Berger/Luckmann und die Rahmenanalyse nach Goffman eine konstruktivistische, keine rekonstruktive Methode. Sie bildet den ersten Schritt der hegemonietheoretischen Diskursanalyse. Aufbauend auf den Ergebnissen der FrameAnalyse muss in der Diskursanalyse gezeigt werden, wie Texte auf spe126
ZUR METHODOLOGIE DER ÄUSSERUNGSTHEORETISCHEN DISKURSANALYSE
zifische Elemente der Kontexte, die mit der Frame-Analyse zusammengetragen wurden, zugreifen und diese arrangieren. Wenn in der Diskursanalyse Regelmäßigkeiten festgestellt werden können, dann besteht der dritte Schritt der hegemonietheoretischen Diskursanalyse darin, diese Merkmale herauszuarbeiten und zu einem Modell des hegemonialen Feldes des Bologna-Prozesses zu verdichten. Erst dann kann von einem hegemonialen Feld überhaupt die Rede sein.
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T EIL III: D ER B OLOGN A -P ROZESS
6 D AS EINE
HOCHSCHULPOLITISCHE
FELD:
F R AM E AN A L Y S E
Einleitung Der Bologna-Prozess ist eine bildungspolitische Initiative, unter deren Dach unterschiedliche politische Debatten aus den letzten 20 Jahren Hochschulpolitik zu einem Reformprojekt verknüpft werden konnten (Maeße 2008). Zum einen schließt der Bologna-Prozess an eine Diskussion aus den 1990er Jahren an, wo eine Überfrachtung des Studiums, zu lange Studienzeiten, zu hohe Abbrecherquoten und eine Praxisferne des Studiums insbesondere an Universitäten beklagt wurde (Turner 2001). Zum zweiten schließt der Bologna-Prozess an eine bildungspolitische Debatte über die mangelnde „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ der deutschen Hochschulen aus der Mitte der 1990er Jahre an. Hier ging es insbesondere um die Frage, wie ausländische Studierende mit angelsächsischem Hintergrund für ein Studium in Deutschland gewonnen werden könnten. Im Zuge dieser Diskussion wurden zahlreiche Strategiepapiere und Beschlüsse zu Bachelor und Master, ECTS, Modularisierung und Akkreditierung vorgelegt und von der Kultusministerkonferenz beschlossen (Witte 2006a). Im Jahr 1999 schließlich wurde in der oberitalienischen Stadt Bologna eine Erklärung abgegeben, die mittlerweile ca. 45 Staaten unterzeichnet haben. Diese Erklärung sah die Schaffung eines „Europäischen Hochschulraumes“ vor und gab dem BolognaProzess seinen Namen. Der Bologna-Prozess hat von Land zu Land sehr unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschlagen (Witte 2006a, Musselin 2008). In Deutschland wurde dieser Prozess etwa ab 2003 überregional diskutiert.
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DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Charakteristisch am Bologna-Prozess ist demnach zum einen seine Namensgebungsfunktion. So gut wie alle politischen Inhalte, die mit dem Bologna-Prozess assoziiert werden können, waren schon vor der Erklärung von Bologna in unterschiedlichen Politikkontexten erarbeitet worden. Die Bologna-Erklärung sowie die Nachfolgeerklärungen enthalten nichts Neues, sondern fassen lediglich die politischen Reformstichworte wie „Bachelor/Master“, „ECTS“, „Qualität“ etc. zusammen (siehe auch Heß 2003). Was diese Reformstichworte genau bedeuten, ist den Dokumenten des Bologna-Prozesses selbst nicht zu entnehmen (Winter 2009: 83). Vielmehr sind die Reformakteure an den Hochschulen und den Wissenschaftsorganisationen aufgerufen, ausgehend von den Schlagworten der Bolognatexte selbständig auf die Suche nach möglichen Bedeutungen und Umsetzungsmöglichkeiten zu gehen. Der BolognaProzess hat somit, und hierin liegt die zweite Besonderheit, einen Kreativität stiftenden Charakter. Denn üblicherweise enthält jedes Reformprogramm ein Drehbuch, auf das die Reformakteure in der Umsetzung zurückgreifen können und sollen. Im Bologna-Prozess fehlte dieses Drehbuch. Vielmehr zirkulieren die Texte des Bologna-Prozesses und können je nach Kontext sehr unterschiedlich interpretiert werden. Die Akteure greifen dann vor Ort nach bestem Wissen und Gewissen auf die Ressourcen zurück, über die sie verfügen, um die Bolognadokumente zu interpretieren. Winter vergleicht den Bologna-Prozess recht treffend mit einem Medikament, dem sowohl der Beipackzettel als auch ein kompetenter Arzt oder Apotheker fehlten, den man zur Not befragen könnte (Winter 2009: 83). Die eine oder andere Überdosis „Bologna“ ist wohl dadurch zu erklären. Vor diesem Hintergrund kann auch das oft beklagte „Reformchaos“ nicht sonderlich verwundern (Pletl/Schindler 2007). Der BolognaProzess ist streng genommen keine Reform, sondern eine Aufforderung zur Reform, und hierin liegt eine dritte Besonderheit. Auch dies kann rückblickend nicht verwundern, weil weder die Europäische Union noch Bund und Länder die entscheidenden Kompetenzen im Studienbereich haben. Denn laut Vertrag über die Europäische Gemeinschaft und deutschem Grundgesetz liegt die Gestaltung, Ausführung und Zertifizierung des Studiums vor allem im Kompetenzbereich der Hochschulen selbst. Der Bologna-Prozess wurde demnach weder in Bologna, Berlin oder Prag, noch in Bonn, Paris oder Bergen gemacht, sondern überall dort, wo sich Wissenschaftspolitiker, Hochschulangehörige und Bildungsexperten auf die Suche nach der möglichen Bedeutung und den naheliegenden Umsetzungsmöglichkeiten des Bologna-Prozesses gemacht haben. Bologna ist vor diesem Hintergrund eine self-fulfilling-prophecy, die erst in Erwartung ihrer Realisierung Realität wird (Krücken 2004). 132
DAS HOCHSCHULPOLITISCHE FELD: EINE FRAMEANALYSE
Der Bologna-Prozess konstituiert als politisches Vehikel eine Realität eigener Art, indem er bereits vorhandene institutionelle und programmatische Elemente des hochschulpolitischen Feldes neu verknüpft und in Beziehung setzt. Deshalb haben wir es mit zwei unterschiedlichen analytischen Herausforderungen zu tun. Zum einen muss der Mechanismus der Konstitution herausgearbeitet und beschrieben werden. Dies erfolgt im nächsten Kapitel mit der Diskursanalyse. In diesem Kapitel soll dagegen das Umfeld beschrieben werden, in das sich die Texte des Bologna-Prozesses kommunikativ einschreiben konnten, und das dadurch neu geordnet und hervorgebracht wurde. Weil auf der einen Seite die Beziehungen der Elemente zueinander erst durch den Konstitutionsmechanismus hergestellt werden, die Elemente aber auf der anderen Seite ohne Beziehungsmodalität keine Existenzform haben (vgl. dazu Luhmann 1998), stehen wir nun vor der Herausforderung, die Elemente beschreiben zu müssen, ohne allerdings die Beziehungsmodalität, die der Bologna-Prozess erst hervorbringt, berücksichtigen zu können. Aus diesem Grunde benötigen wir nun einen Beziehungsmodus oder eine „Form“ (Luhmann), die es einerseits erlaubt, das Feld, in das Bologna relevant werden konnte, zu beschreiben, und die andererseits einen, wenn man so will, „künstlichen“ Charakter hat. Aus diesem Grunde kommt nur eine konstruktivistische Methodologie in Frage, die es erlaubt, einen Katalog des hochschulpolitischen Feldes anzulegen. Hierfür bietet Minskys Frame-Semantik eine konsistente Begrifflichkeit. Die Frame-Semantik geht davon aus, dass unterschiedliches Wissen ausgehend von einzelnen sprachlichen Erscheinungen (Texte) aufgerufen und in Frames organisiert wird. Die Reihe von Wissen und Wissensblöcken, die ausgehend von Texten aufgespannt werden kann, ist grundsätzlich unbegrenzbar, weil sprachliche Formen ein „Evokationspotential“ (Busse 2006) haben, das auf Seiten der Akteure Wissen mobilisiert (vgl. Angermüller 2007c, siehe aus der Perspektive der kognitiven Semantik Ziem 2008). Die Akteure im hochschulpolitischen Feld sind Interpretationskünstler, die sich ausgehend von administrativen und politischen Texten in diskursiv aufgespannten Handlungsfeldern verorten und ausgehend von dieser Verortung selbständig weitere Handlungen durchführen, indem sie wiederum Texte unterschiedlicher Art produzieren. Dafür greifen sie auf Reformkonzepte, institutionelles Wissen und regionales Handlungswissen zurück, das ihnen als bewusste oder unbewusste Ressource zur Verfügung steht. Im Folgenden sollen zentrale Aspekte dieses Wissens mit der Framesemantik beschrieben werden, um darauf aufbauend im nächsten Kapitel mit der Diskursanalyse die Regeln und Mechanismen der Verbindung von politischem Text und politisch-institutionellem Wissen herauszuarbeiten. Die Akteure, 133
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
von denen hier ausgegangen wird, sind natürlich keine strukturierten, autonomen Subjekte, sondern diskurskompetente Wesen, deren Leistung ausschließlich darin besteht, Text und Kontext miteinander zu verknüpfen (siehe dazu Angermüllers Idee des „Lesers“: Angermüller 2007c). Der Vorzug der Frameanalyse, wie sie für die Zwecke dieser Arbeit verwendet werden soll, besteht darin, dass damit größere Wissenszusammenhänge beschrieben und katalogisiert werden können. So werden in der folgenden Frameanalyse drei Wissensblöcke erarbeitet, um damit den institutionellen (polity) und politischen (policy) Hintergrund von kleinen Diskursfragmenten zu beschreiben. Abschließend soll eine Tendenz der hochschulpolitischen politics herausgearbeitet werden, auf die in der Diskursanalyse im nächsten Kapitel detaillierter eingegangen wird. Das Ziel der Frameanalyse besteht darin, einen „Wissenskatalog“ der Elemente des Kontextes des hochschulpolitischen Feldes anzulegen, auf den die Texte, die im nächsten Kapitel diskursanalytisch untersucht werden sollen, diskursiv zugreifen. Wie im letzen Kapitel gezeigt wurde, hat die Frame-Konzeption von Minsky für die Analyse des hegemonialen Feldes zahlreiche Vorzüge gegenüber subjekttheoretischen und durkheimianisch-institutionalistischen Ansätzen. Denn weder ist das hegemoniale Feld ein „Container“, der die multiplen partikularen Akte (Texte) „einbettet“, noch bezeichnet es eine sinnhaft aufgebaute Lebenswelt. Vielmehr konstituiert sich das hegemoniale Feld ausgehend von partikularen Akten, die für die Analyse in Textform vorliegen. Die partikularen Akte nehmen durch spezifische diskursive Mechanismen Bezug auf das hegemoniale Feld, indem die Elemente des Kontextes immer wieder neu selektiert und arrangiert werden. Schließlich entsteht dann ein hegemonialer Effekt, wenn durch die Akte der Verknüpfung von Text und Kontext ein universaler Rahmen evoziert wird. Ob dies der Fall ist und wie dieser hegemoniale Effekt hervorgebracht wird, ist letztendlich der Gegenstand der hegemonietheoretischen Interpretation der Frame- und Diskursanalysen. Die Kontextanalyse hat es also nicht mit einem Ensemble von Elementen zu tun, deren Beziehungen immer schon hergestellt sind, sondern mit einer Katalogisierung der Elemente, auf die die Texte zugreifen. Demnach steht hinter der Frame-Analyse keine rekonstruktive, sondern eine konstruktivistische Methodologie. Folgen wir Minsky, dann werden Frames immer ausgehend von Einzelerscheinungen (Texten) mobilisiert. Es braucht hier kein kompakter Kontext angenommen zu werden, der die Texte wie eine Containermatrix einschließt und rahmt. Gegenüber der subjekttheoretischer Perspektive muss aus eben diesem Grunde auch kein wissendes Subjekt unterstellt werden. Ausgehend von 134
DAS HOCHSCHULPOLITISCHE FELD: EINE FRAMEANALYSE
Texten wie dem von Bulmahn werden zahlreiche Frames mobilisiert, deren Terminals (oder slots) nie alle gefüllt werden (vgl. Ziem 2006). Wie Busse (2006) betont, haben Wörter ein Evokationspotential. Demnach bietet jedes Wort Anschlussmöglichkeiten an unzählige Wissenskomplexe. Zu diesen Wissenskomplexen können persönliche Beziehungen, historische, regionale, sprachliche und andere Besonderheiten ebenso gehören wie spezifische Policy- und Polity-Frames. Die Frames, die hier entworfen werden, sind auf der Grundlage umfangreicher Recherchen in der Bibliothek für Hochschulforschung des HoF in Wittenberg angefertigt worden. Dabei wurde sowohl Sekundärliteratur als auch Originaldokumente und Zeitschriften- und Zeitungsartikel herangezogen. Als Grundlage für die Erstellung der Policy-Frames sind hier insbesondere Pasternack 2006b, Rehburg 2005, Friedrich 2001a,b,c, 2003, Müller-Böling 1995 und Teichler 2005c zu nennen. Literaturgrundlage der polity-frames waren vor allem Raschert 1980, Bauer 1999 und Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 1997. Darüber hinaus wurden unter anderem Originaldokumente der KMK (Kultusministerkonferenz 1996, 1997 und 2005), die Webseiten von KMK, BMBF und HRK1 und die jährlichen Arbeitsberichte der HRK herangezogen. Schließlich konnten zahlreiche Daten durch umfangreiche Recherchen in den Hochschulzeitschriften „DUZ“ und „Forschung und Lehre“ und im Pressespiegel der HRK erhoben werden.
Was im hochschulpolitischen Feld gefordert wird Policy-Frames können ganz allgemein als politische Reformprogrammatiken definiert werden, die spezifische Ziele, Mittel und Problemkonstruktionen enthalten. Im Folgenden werden zehn unterschiedliche Policy-Frames beschrieben, ohne den Anspruch zu erheben, damit den Horizont möglicher Policy-Frames des hochschulpolitischen Feldes vollständig abgesteckt zu haben.
Der Hochschulsteuerungsframe (HSF) Seit etwa Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich im hochschulpolitischen Feld Deutschlands nach und nach ein Hochschulsteuerungsframe (HSF) heraus. Das wesentliche Ziel des HSF besteht in der Steigerung der Effizienz und Qualität der Hochschulen in Forschung und Lehre (siehe auch „Qualitätsframe“). Es lässt sich jedoch nur schwer ein einzi1
www.kmk.org, www.bmbf.de, www.hrk.de 135
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
ges Kernziel des HSF bestimmen, da damit ganz unterschiedliche Ziele erreicht werden sollen. Unter anderem ist die Umstrukturierung der Hochschulen nach dem HSF selbst Ziel und nicht nur Mittel zur Effizienzsteigerung an den Hochschulen. Aus der Sicht des Staates könnte damit eine Abwälzung der Verantwortung verbunden sein. Aus Sicht der Hochschulleitung wird so die Forderung nach mehr Eigenständigkeit erfüllt. Das Kernelement des HSF besteht in der Umstellung der staatlichen Mittelzuweisung von der Bedarfsfinanzierung (Inputsteuerung) zur leistungsorientierten Finanzierung (Outputsteuerung) (vgl. Rehburg 2005). Demnach wird nicht in erster Line der Bedarf der Hochschule festgestellt und die benötigten Mittel daran errechnet und zugewiesen. Vielmehr werden unterschiedliche Leistungsindikatoren festgelegt, anhand derer die Leistungsfähigkeit und Effizienz der Hochschule bestimmt werden kann. Zu diesen Indikatoren zählen die Anzahl der Studierenden in der Regelstudienzeit (siehe auch „Studienreformframe“), die Anzahl der Absolventen, die eingeworbenen Drittmittel, Veröffentlichungen, die Quote weiblicher Wissenschaftler (siehe auch „Genderframe“), die Zahl der Promotionen etc. (vgl. Friedrich 2001a). Ein weiteres wichtiges Element des HSF ist die Qualitätssicherung. Die Hochschulen sollen nicht nur effizient arbeiten, sondern darüber hinaus qualitativ hochwertige Dienstleistungen in Forschung und Lehre anbieten (siehe auch „Qualitätsframe“). Im Gegenzug zu dieser Rechenschaftspflicht der Hochschulen gegenüber dem Staat wird diesen mehr Autonomie zugesprochen. Durch Deregulierung, das heißt durch Streichung von Regeln im Hochschulrahmengesetz und in den Landeshochschulgesetzen, sollen die Hochschulen größere Entscheidungsspielräume erhalten, insbesondere was die konkrete Verwendung der Finanzen betrifft (vgl. Friedrich 2001b). Darüber hinaus sollen die Hochschulen die gesetzlichen Entscheidungsspielräume für eine eigenständige Profilbildung nutzen. Die Idee der „Gesamtuniversität“, die alle wissenschaftlichen Fächer anbietet, wird die Idee der „Profiluniversität“ entgegengesetzt, die sich auf bestimmte Kernbereiche konzentrieren soll (vgl. Müller-Böling 1995). Für die Umsetzung dieses Steuerungsmodells sieht der HSF drei wesentliche Maßnahmen vor: Zielvereinbarungen, Globalhaushalte und Hochschulmanagement. Zielvereinbarungen sind zeitlich begrenzte vertragsförmige Vereinbarungen zwischen Hochschule und Staat, wo die Mittelzuweisung des Staates an die Hochschulen an die Erreichung spezifischer Ziele geknüpft ist. Zielvereinbarungen können einerseits im Sinne eines Hochschulpaktes bzw. eines Hochschulvertrags sehr allgemeine und langfristige Ziele beinhalten, die zwischen einem Bundesland 136
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und einigen oder allen Hochschulen vereinbart werden, oder im Sinne von reinen Zielvereinbarungen mit Vertragscharakter, wo vor allem Einzelfragen zwischen dem Land und einzelnen Hochschulen geregelt werden (vgl. Rehburg 2005). Im Rahmen solcher Zielvereinbarungen sollen Globalhaushalte verhandelt werden. Mit einem Globalhaushalt wird einer Hochschule ein Gesamtbetrag zur freien Verfügung übertragen. Die Idee besteht darin, dass die Hochschule selber entscheiden kann und soll, wie sie diese Gelder einsetzt. Nach Abschluss der in den Zielvereinbarungen festgesetzten Frist kann anhand der beschriebenen Indikatoren schließlich die Leistungsfähigkeit (der Output) der Hochschule festgestellt werden. Die Ergebnisse dieser Evaluation (siehe auch „Qualitätsframe“) fließen dann in weitere Zielvereinbarungen ein. Da im HSF die Hochschule als eigenständige betriebswirtschaftliche Einheit betrachtet wird, sollen Hochschulen auch organisatorisch nach dem Modell von Privatunternehmen umstrukturiert werden. Anstatt des Staates können demnach auch Stiftungen die Trägerschaft von Hochschulen übernehmen. Die Stiftungsräte sollen ähnlich wie Aufsichtsräte von Wirtschaftunternehmen funktionieren und die wesentlichen Richtungsentscheidungen der Hochschule treffen. Vorgesehen ist im HSF, dass die Stiftungsräte aus unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft und international zusammengesetzt sind. Der Rektor bzw. Präsident der Hochschule soll durch einen professionellen und hoch bezahlten Hochschulmanager ersetzt werden, der nicht wie im Falle der „Volluniversität“ von den Mitgliedern der Hochschule, sondern vom Stiftungsrat benannt bzw. gewählt werden soll und weit reichende Entscheidungsbefugnisse erhält. Ein weiteres Kernelement des HSF ist die Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen. An die Stelle der Unterscheidung zwischen Universität und Fachhochschule als staatliche Einrichtungen tritt die „profilierte“ und „wettbewerbliche“ Hochschule (vgl. Müller-Böling 1995). Die Hochschulen sollen in jeder Hinsicht in Konkurrenz treten: In Konkurrenz um Studierende, um Wissenschaftler, um staatliche und private Gelder, um Studiengebühren (siehe auch „Studiengebührenframe“), um Reputation etc. Die Konkurrenten der Hochschule sind dabei im Grunde regional, national, international und sektoral unbegrenzt (sieh auch „Internationalisierungsframe“): Kindergärten, andere Hochschule, die USA, Australien oder, wenn es um das Ansehen geht, auch die Formel 1 oder die Bundesliga. Damit auch die Konkurrenz um Wissenschaftler verstärkt werden kann, soll die Verbeamtung des wissenschaftlichen Personals weitestgehend aufgehoben und durch eine leistungsorientierte Besoldung ersetzt werden.
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DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Der Internationalisierungsframe (IF) Die Herausbildung des Internationalisierungsframes (IF) geht vor allem auf eine Initiative des letzten Bundesministers für Bildung, Forschung, Wissenschaft und Technologie der Schwarz-Gelben Regierungskoalition, Jürgen Rüttgers, zurück, der 1996 eine Debatte um die „Internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen“ initiiert hat. Ziel des IF ist es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität der deutschen Hochschulen zu stärken, indem die Anzahl ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen erhöht wird. Wesentliche Elemente des IF sind der Abbau von Barrieren für ausländische Studierende. Dazu zählt beispielsweise der Hochschulzugang, das auf Magister, Diplom und Staatsexamen ausgerichtete eingliedrige Studiensystem, Anerkennung der Abschlüsse und das deutsche Ausländer- und Arbeitsrecht (vgl. Kultusministerkonferenz 1996). Weitere Maßnahmen zur Erreichung der Ziele des IF bestehen in der Intensivierung der Werbung deutscher Hochschulen im Ausland, der Verbesserung der sozialen und fachlichen Betreuung (siehe auch „Hochschulausbauframe“ und „Studienreformframe“), dem Ausbau des Fremdsprachenangebots und der Umstellung der einsprachigen auf eine zweisprachige Lehrkultur. Neben der Einwerbung ausländischer Studierender ist die Förderung der internationalen Mobilität (siehe auch „Bolognaframe“) der deutschen Studierenden, der Wissenschaftler und des Verwaltungspersonals ein weiteres Internationalisierungselement. Als drittes Element des IF tritt neben die eigentliche Studierendenproblematik (siehe auch „Studienreformframe“) gegen Ende der 1990er Jahre die internationale Ausrichtung, Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Hochschulen und Hochschulräume (siehe dazu auch „Hochschulsteuerungsframe“). So sollen die Universitäten und Fachhochschulen neben ihrer deutschen Bezeichnung eine englischsprachige Bezeichnung führen (University of ... für die Universitäten; University of Applied Sciences für die Fachhochschulen), die Internetauftritte mehrsprachig gestalten, Bachelor- und Masterabschlüsse in englischer und deutscher Sprache anbieten (siehe auch „Bolognaframe“), die Studienleistungen mit Leistungspunkten nach dem mit dem im Rahmen des SOKRATES/ERASMUS-Programms der Europäischen Union entwickelten European Credit Transfer System (ECTS) versehen (siehe auch „Europaframe“), die Studieninhalte und Forschungsvorhaben am aktuellen internationalen Stand orientieren (siehe dazu auch „Qualitätsframe“) etc.
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DAS HOCHSCHULPOLITISCHE FELD: EINE FRAMEANALYSE
Der Studienreformframe (SRF) Der Studienreformframe (SRF) ist nach dem „Hochschulausbauframe“ der älteste Policy-Frame, der das gegenwärtige hochschulpolitische Feld charakterisiert. So, wie wir ihn heute vorfinden, entwickelte sich der SRF bereits Anfang der 1990er Jahre. Während die Überlastsituation der deutschen Hochschulen in den 1980er Jahren noch unter dem Vorzeichen der Unterfinanzierung und Untertunnelung2 diskutiert wurde, veränderte sich die Richtung der Debatte, nachdem die „Strategie der Untertunnelung“ gegen Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre gescheitert war. Von nun an standen neben dem Staat vor allem auch die Hochschulen im Mittelpunkt der Reformdebatte. Der SRF diagnostiziert, dass das Studium in Deutschland zu lang, zu schlecht und zu praxisfern ist. Die Maßnahmen des SRF zielen demnach auf eine Verkürzung der Studiendauer, eine Verringerung der Abbrecherquote und einen stärkeren Praxisbezug des Studiums (Berufsorientierung) (siehe auch „Bolognaframe“). Zu den einzelnen Maßnahmen zählen die Einführung und Durchsetzung von Regelstudienzeiten, eine Festlegung verbindlicher Prüfungszeiten für Zwischenprüfungen und Abschlussprüfungen, eine Kürzung bei den Studieninhalten (Entschlackung), der Erlass von Studien- und Prüfungsordnungen, die den Studierenden mehr Orientierung geben etc. (vgl. Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1993). Ein zentrales Element des SRF ist in diesem Zusammenhang eine Differenzierung des Studiums in ein theoriebezogenes und ein berufsbezogenes Studium (vgl. Hochschulrektorenkonferenz 1992). Darüber hinaus sollen die pädagogischen Fähigkeiten der Lehrenden verbessert werden bzw. lehrbezogene Anreize und Sanktionen verschärft werden. Eine Option des SRF besteht darin, Änderungen am Dienstrecht vorzunehmen, die Regellehrverpflichtungen zu erhöhen, zusätzliche Lehrvergütungen und Lehrstellen einzuführen etc. Insgesamt soll eine Verbesserung der Qualität der Lehre erreicht werden (siehe auch „Hochschulausbauframe“ und „Qualitätsframe“). Neben zahlreichen solchen Veränderungen innerhalb des deutschen Studiensystems bildet die Einführung von Bachelor- und Master2
Die „Untertunnelung“ ging in den 1970er/80er Jahren davon aus, dass ab Mitte der 1990er Jahre die Anzahl der Studierenden wieder den Belastungskapazitäten der Hochschulen entspricht. Deshalb wurde von den Hochschulen verlangt, diese 20 Jahre der „Überlast“ ohne Ausbau und entsprechender Finanzierung „durchzuhalten“. Die Metapher „Untertunnelung“ bezieht sich dabei auf eine statistische Kurve, die zwischen 1970 und 1995 die Anzahl bzw. prognostizierte Anzahl der Studierenden darstellte. Diese Kurve hatte die Form eines „Berges“, der durch „Ausharren“ der Hochschulen auf dem Ausbaustand von 1970 „untertunnelt“ werden sollte. 139
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abschlüssen ein weiteres Element des SRF, das jedoch erst ab Ende der 1990er Jahre hinzutrat (siehe auch „Bolognaframe“). Neben einer Straffung des Studiums durch Modularisierung und eine Vermehrung der Prüfungen sollte vor allem der Bachelor einerseits dazu führen, die Abbrecherquoten zu senken, indem den Studierenden, die noch vor Beendigung des Studiums die Hochschule verlassen, ein Abschluss verliehen werden kann, und andererseits dazu, die Berufsorientierung des Studiums zu verbessern (vgl. Kultusministerkonferenz 1997).
Der Studiengebührenframe (SGF) Ebenfalls in den 1990er Jahren wurde die Debatte um die Einführung von Studiengebühren intensiviert. Mit Blick auf die Ziele des Studiengebührenframes (SGF) lassen sich zwei unterschiedliche Aspekte identifizieren. Zunächst galten Studiengebühren vor allem als eine mögliche zusätzliche Finanzierungsquelle (siehe auch „Hochschulausbauframe“) für die Hochschulen. Später trat noch ein weiteres Ziel zum SGF hinzu. Studiengebühren sollen demnach einerseits für die Hochschulen Anreize für eine Verbesserung der Lehre bieten (siehe auch „Studienreformframe“) und den Studierenden als Kunden Druckmittel in die Hand geben, um eine verbesserte Lehre notfalls einzuklagen. Andererseits sollen Studiengebühren den Wettbewerb zwischen den Hochschulen verschärfen und zu einer Profilbildung (siehe auch „Hochschulsteuerungsframe“) und horizontalen und vertikalen Differenzierung (siehe auch „Spitzenuniversitätenframe“) der Hochschullandschaft beitragen. Der Spitzenuniversitätenframe (SUF) Der Spitzenuniversitätenframe (SUF) geht vor allem auf eine Initiative der Rot-Grünen Bundesregierung 1998 bis 2005 unter Bundesministerin Edelgard Bulmahn zurück. Der SUF verfolgt das Ziel, die deutsche Hochschullandschaft in einen international wettbewerbsfähigen Raum umzustrukturieren (siehe auch „Hochschulsteuerungsframe“). Universitäten und Fachhochschulen sollen durch Profilbildung Schwerpunkte herausbilden, wodurch ein horizontal differenzierter Raum entstehen soll. Darüber hinaus soll dieser Raum durch eine staatliche Anstoßförderung eine Spitzgruppe von forschungsstarken und für die Lehre attraktiven Hochschulen ausbilden (siehe auch „Qualitätsframe“). Diese Spitzenhochschulen sollen dadurch international (vor allem in der Forschung) konkurrenzfähig gegenüber den US-amerikanischen Elitehochschulen sein (siehe auch „Internationalisierungsframe“). Zudem sollen Spitzenuniversitäten private Gelder in Form von Studiengebühren (siehe auch „Studiengebührenframe“) und nichtstaatlichen Drittmitteln erwirtschaf140
DAS HOCHSCHULPOLITISCHE FELD: EINE FRAMEANALYSE
ten können. Eine wichtige Grundbedingung dafür sind hohe Qualitätsstandards (Exzellenz) in Forschung und Lehre (siehe auch „Qualitätsframe“).
Der Genderframe (GF) Der Genderframe (GF) zielt im Kern auf eine Gleichberechtigung von weiblichen Wissenschaftlern auf allen Stufen der akademischen Laufbahn. Dies bezieht sich sowohl auf die spezifischen, unter anderem mit der Kindererziehung verbundenen Ansprüche von Frauen, und andererseits auf eine quantitative Gleichstellung von Frauen in akademischen Positionen von der Promotionsförderung bis zur Professur. Genderbezogene Aspekte sind sowohl ein Qualitätskriterium (siehe dazu „Qualitätsframe“) als auch Gegenstand von Zielvereinbarungen (siehe dazu „Hochschulsteuerungsframe“). Der Hochschulausbauframe (HAF) Der Hochschulausbauframe (HAF) ist der einzige Policy-Frame des gegenwärtigen hochschulpolitischen Feldes, der bereits weit in die Gründungsphase der Hochschulen in Deutschland zurückreicht. Das Ziel des HAF besteht in der permanenten Anpassung von Bildungs- und Wissenschaftsdienstleistungen an den Bedarf von Wirtschaft und Bevölkerung. Dazu soll von staatlicher Seite für die Hochschulen ausreichend Geld für Gebäude, Bibliotheken, Geräte und Personal zur Verfügung gestellt werden. Grundlage hierfür ist die Kapazitätenverordnung, die ein als angemessen betrachtetes Betreuungsverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden vorschreibt, und die Nachfrage der Wissenschaft nach Personal- und Sachmitteln. Darüber hinaus sind eine staatlich sichergestellte ausreichende Studienfinanzierung und weitere Maßnahmen zur Förderung von Studierenden Gegenstand des HAF (soziale Dimension) vorgesehen. Zu diesen weiteren Maßnahmen gehören unter anderem eine Verbesserung der Lehre und eine Reform der Lehrinhalte (siehe auch „Studienreformframe“), ein ungehinderter Zugang zu den Hochschulen und eine staatlich bereitgestellte, an den individuellen Interessen der Studierenden orientierte Hochschul-landschaft. Der Qualitätsframe (QF) Die Entstehung des Qualitätsframes (QF) geht zurück auf den Umschwung in der hochschulpolitischen Debatte Anfang der 1990er Jahre, wo zunehmend die Hochschulen und weniger der Staat Gegenstand der Debatte wurden (siehe auch „Studienreformframe“ und „Hochschulsteuerungsframe“). Der QF zielt im Kern auf eine Evaluation der in den 141
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Hochschulen erzielten Produkte und Dienstleistungen in Bildung und Wissenschaft. Lehre und Forschung sollen einerseits hinsichtlich der Effizienz der eingesetzten Mittel und andererseits hinsichtlich des gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und ökonomischen Bedarfs (Effektivität) begutachtet werden. Im Rahmen der leistungsorientierten Finanzierung (siehe auch „Hochschulsteuerungsframe“), der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen (siehe auch „Spitzenuniversitätenframe“ und „Internationalisierungsframe“) und der Verbesserung der Lehre (siehe auch „Studienreformframe“) sollen Lehre und Forschung in ein System der Qualitätssicherung eingebettet werden (vgl. Friedrich 2003). Dieses System besteht aus drei Teilen: der Akkreditierung, der Evaluation und der Rechnungslegung (Accountability). Zunächst werden allgemeine Ziele definiert, die der Akkreditierung zu Grunde liegen. Im Falle der Lehre gehören pädagogisch definierte Kompetenzen wie Wissen, Verstehen und Können (vgl. Kultusministerkonferenz 2005) sowie formale Strukturen wie spezifische Abschlüsse (Bachelor/Master), Leistungspunktesysteme (ECTS), eine modularer Aufbau des Studiums etc. zu diesen Zielen (siehe auch „Bolognaframe“). Im Akkreditierungsprozess sollen Studiengänge von Akkreditierungsagenturen anhand solcher Kriterien überprüft werden. Dafür verfassen die Antrag stellenden Hochschulen zunächst einen Bericht über den einzurichtenden Studiengang. Auf Grundlage dieses Berichts sowie ein- bis mehrtägigen Begehungen der Hochschulen durch eine Begutachterkommission erstellt die Akkreditierungsagentur einen Bericht, wo die Akkreditierung mit oder ohne Auflage erteilt oder nicht erteilt wird. Die Akkreditierungsagenturen, die selbst von einem Akkreditierungsrat zugelassen worden sind, sollen aus Repräsentanten der Wirtschaft, des Staates, der Wissenschaft, der Studierenden und international zusammengesetzt sein. Einige Jahre nach der Akkreditierung ist eine Evaluation vorgesehen. Das Evaluationsverfahren überprüft im Wesentlichen, ob der akkreditierte Studiengang so, wie er im Rahmen der Akkreditierung zugelassen wurde, auch realisiert wurde. Der dritte Aspekt, die Rechnungslegung, bezieht sich auf eine permanente Re-Akkreditierung und Evaluation in der Zeit. Das heißt, Hochschulen sollen ständig die Aktualität, Effizienz und Notwendigkeit der von ihr angebotenen Dienstleitungen nachweisen (siehe auch „Hochschulsteuerungsframe“, „Studienreformframe“ und „Internationalisierungsframe“). Das Qualitätssicherungssystem in der Forschung soll im Prinzip ebenso aufgebaut werden. Allerdings tut sich der QF schwer, die Forschung ebenso klar zu verorten wie die Lehre, weil in der Forschung diejenigen, die sie betreiben, auch diejenigen sind, die sie beurteilen, 142
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nicht jedoch diejenigen, die sie finanzieren. Im Grundsatz gilt allerdings auch für die Forschung, dass sie aktuellen internationalen Standards entsprechen (durch Veröffentlichungen in entsprechenden Zeitschriften), effizient durchgeführt und permanent begründet (Forschungsberichte) sowie gleichzeitig innovativ ausgerichtet sein soll.
Der Bolognaframe (BF) Der Bolognaframe (BF) geht zurück auf eine Erklärung von 29 europäischen Bildungsministerinnen und –ministern 1999, wurde 2000 in die Lissabonstrategie der Europäischen Union eingebunden, wonach Europa zum „wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden soll, und entwickelte sich im Zuge mehrerer Nachfolgekonferenzen weiter. Der BF zielt auf die Erschaffung eines Europäischen Hochschulraumes (EHEA) bis 2010 und auf eine Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen dieses Raumes (siehe auch „Hochschulsteuerungsframe“ und „Internationalisierungsframe“). Zudem soll der EHEA mit einem Europäischen Forschungsraum (ERA) verbunden werden (vgl. Bildungsminister 2003). Um diese Kernziele zu realisieren, sollen alle Studiengänge auf Bachelor- und Masterabschlüsse umgestellt werden und im Rahmen des EHEA leicht verständlich und vergleichbar sein. Zudem soll das Studium eine Beschäftigungsfähigkeit (Employability) aufweisen (siehe auch „Studienreformframe“), mit einem Kreditpunktesystem (ECTS) und einem Diploma Supplement (siehe auch „Europaframe“), das den Inhalt des Studiums mehrsprachig darstellt, ausgestattet sein. Darüber hinaus sollen die Studiengänge in Modulform strukturiert sein, eine Europäische Dimension erhalten (siehe auch „Internationalisierungsframe“) und in ein Qualitätssicherungssystem eingebettet sein (siehe auch „Qualitätsframe“). Diese Maßnahmen sollen neben der Beschäftigungsfähigkeit innerhalb des EHEA die internationale Mobilität der Studierenden erleichtern (siehe auch „Hochschulausbauframe“ und „Internationalisierungsframe“). Schließlich sollen alle strukturellen Maßnahmen im Europäischen Rahmen abgestimmt und koordiniert werden (vgl. Eckardt 2005, Bildungsminister 1999). Auf der ersten Nachfolgekonferenz in Prag 2001 kam noch das Ziel hinzu, das Lebenslange Lernen zu fördern, die Studierenden in den Reformprozess mit einzubinden und die internationale Attraktivität des EHEA zu fördern (vgl. Bildungsminister 2001). Auf der zweiten Nachfolgekonferenz in Berlin wurde das Doktorandenstudium als dritte Phase nach Bachelor und Master sowie die Integration des EHEA mit dem ERA in den BF mit aufgenommen (vgl. Bildungsminister 2003).
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Der Europaframe (EF) Der Europaframe (EF) bildete sich bereits seit der Gründungphase der Europäischen Gemeinschaft heraus (vgl. Bauer 1999, Walter 2006, Eckhardt 2005). Das übergreifende Ziel aller Maßnahmen des EF besteht in der Intensivierung der Integration Europas durch Bildung (vgl. Bauer 1999). Unter Integration werden im EF zwei Aspekte zusammengefasst, die in den letzten 50 Jahren unterschiedlich betont wurden. Einerseits soll durch Maßnahmen im Bildungsbereich die Beschäftigungsfähigkeit (in den 1990er Jahren als Employability bezeichnet) und das Qualifikationsniveau erhöht werden; andererseits soll durch solche Maßnahmen die Herausbildung einer Europäischen Identität befördert werden („Europa der Bürger“). Zu den Maßnahmen, die eine Europäische Integration im Sinne dieser ökonomischen und kulturellen Ziele befördern sollen, zählen die Mobilitätsförderung, die Förderung der Anerkennung von Berufsabschlüssen und Studienleistungen (durch das ECTS) (siehe auch „Bolognaframe“ und „Internationalisierungsframe“), die Förderung der Fremdsprachenkenntnisse und schließlich der Informationsaustausch zu Bildungsfragen. Die institutionellen Ressourcen des Feldes Polity-Frames beschreiben das hochschulpolitische Entscheidungssystem beziehungsweise die institutionelle Struktur. Wenn im Folgenden von „Akteuren“ die Rede ist, dann wird damit weder eine Akteurstheorie unterstellt noch irgendeine andere Form von Subjektivismus. Der Begriff „Akteur“ wird hier nur deshalb benützt, weil sich die „Akteure“ in den Polity-Frames selbst als Akteure bezeichnen. Dieses Wort dient demnach nur der Markierung von diskursiven Instanzen, die in den Diskursen regelmäßig bezogen werden können. Wie auch die PolicyFrames bestehen die Polity-Frames aus Terminals und stellen allgemeine Bedeutungs- und Handlungsskripts dar. Allerdings liegt die Bedeutung dieser Frames auf einer anderen Ebene als bei den Policy-Frames. Im Folgenden sollen einige zentrale Merkmale des institutionellen Systems herausgearbeitet werden, die im weitesten Sinne des Begriffs als Terminals bezeichnet werden können. Ebenso wie die Elemente der PolicyFrames werden auch die Elemente der Polity-Frames ausgehend von Texten mobilisiert. Und ebenso wie die Policy-Frames sind auch die Polity-Frames keine Idealtypen, sondern interdiskursive Ressourcen. Schließlich erhebt auch die folgende Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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Der kooperative bildungspolitische Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland (BKFF) Das institutionelle Entscheidungssystem im Hochschulbereich der Bundesrepublik Deutschland entspricht im Kern der Grundstruktur des kooperativen Staates, der durch ein konsensorientiertes Zusammenwirken von Staat und zivilgesellschaftlichen Interessenverbänden gekennzeichnet ist (vgl. Esser 1999). Allerdings weist der bildungspolitische kooperative Föderalismusframe (BKFF) gegenüber der üblichen Struktur des kooperativen Staates durch die grundgesetzlich festgeschriebene Wissenschaftsfreiheit und die ebenfalls grundgesetzlich festgeschriebene Kulturhoheit der Länder einige Besonderheiten auf, die sich bereits in der Zusammensetzung der kooperativen Akteure zeigt. Neben den legislativen Organen von Bundesparlament, Länderparlamente und Hochschulgremien und den zivilgesellschaftlichen Interessenverbänden treten bundesweite Arbeits- und Koordinierungszusammenhänge. Zu den gegenwärtig wichtigsten dieser bundesweiten Zusammenhänge zählen die Kultusministerkonferenz (KMK), der Wissenschaftsrat (WR) und der Akkreditierungsrat (AR). Diese Arbeitszusammenhänge dienen der bundesweiten Koordinierung von Bildungs- und Wissenschaftsfragen und haben weder eine Lobbyfunktion noch Gesetzgebungs- und Ausführungskompetenzen (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1997). Von daher ist der BKFF durch eine dreipolige Akteurkonstellation, die jeweils als Subframe dargestellt werden kann, gekennzeichnet. A: Der Legislativ-Subframe („Blockade und Erpressung“) Zum Legislativpol zählen die Länderparlamente, der Bundestag und die Hochschulgremien. Auf der Grundlage des Art. 30 Grundgesetz haben grundsätzlich die Länder im Kulturbereich, zu dem auch die Hochschulen gehören, die gesetzgebenden und administrativen Kompetenzen (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1997). Die Länder entscheiden autonom über die Errichtung und Schließung von Hochschulen. Über die Landeshochschulgesetze und die Finanzierung bestimmen sie darüber hinaus über die Struktur der Hochschulen. Die Steuerungsmöglichkeiten der Länder finden erst an der durch das Grundgesetz garantierten Wissenschaftsfreiheit, an den Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und an den eigenen fiskalischen Möglichkeiten ihre Grenze. Der Bund hat vor allem durch das Hochschulrahmengesetz, das Bundesausbildungsförderungsgesetz, die Nachwuchsförderung, die Forschungsförderung, das Dienstrecht und das Hochschulbaufördergesetz Kompetenzen im Hochschulbereich. Das Hochschulrahmengesetz legt allgemeine Normen und Grundsätze für den Hochschulbereich fest, und über das Dienstrecht werden bundesweit einheitliche Laufbahnen im öf145
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fentlichen Dienst festgeschrieben. Über die Forschungsförderung, die Ausbildungsförderung, die Nachwuchsförderung und den Hochschulbau hat der Bund vor allem Einfluss über seine Voll- bzw. Anteilfinanzierung. Darüber hinaus ist der Bund in der Lage, über Hochschulsonderprogramme den Hochschulen eine über das übliche bundesweite Budget hinausgehende Zusatzfinanzierung zukommen zu lassen. In der Regel „erkauft“ sich der Bund dadurch auch Einfluss auf die strukturelle Entwicklung im Hochschulbereich, weil die Länder seit der Gründung der Bundesrepublik auf die Zusatzfinanzierung des Bundes angewiesen sind, um von ihren formalen Zuständigkeiten im Rahmen des Art. 30 Grundgesetz Gebrauch machen zu können. Die Kompetenzen des Bundes im Hochschulbereich finden in der Regel in der Kulturhoheit der Länder und der Wissenschaftsfreiheit ihre Grenzen, die oftmals erst vom Bundesverfassungsgericht gezogen werden. Die Hochschulen haben durch Art. 5 III. Grundgesetz (GG) das Recht auf Selbstverwaltung (vgl. Bauer 1999). Dazu zählen neben der Forschungsfreiheit das Recht, die Art und Weise festzulegen, wie der wissenschaftlichen Nachwuchs herangezogen wird und die Nachwuchsbildung autonom durchzuführen. Die Hochschulen entscheiden über die Lehrinhalte, die Vergabe wissenschaftlicher Titel und die Reproduktionswege der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Schließlich finden die Kompetenzen der Hochschulen ihre Grenzen an den Länderkompetenzen, den Bundeskompetenzen und an ihren Finanzierungsmöglichkeiten. Gerade durch die Finanzhoheit und Entscheidungskompetenzen über die Struktur der Hochschullandschaft der Länder ist dem offiziellen, durch das Grundgesetz gesetzten Autonomierahmen der Hochschulen immer auch ein „inoffizieller“, durch eben jene Länderhoheit begründeter Handlungsrahmen an die Seite gestellt. Aus diesem System der Kompetenzverteilung ergibt sich schließlich, dass keiner der drei Akteure wirkliche Autonomie hat, weil sich die Kompetenzen dieser drei Akteure in den meisten Fällen überschneiden. Die jeweilige Überschneidungsform kann nur für jeden einzelnen Fall beschrieben werden. Neben der oben kurz umrissenen rechtlichen Kompetenzverteilung ergeben sich aus eben dieser Kompetenzverteilung zwei weitere Konfliktmechanismen, die auf die institutionellen Kompetenzen zurückstrahlen. Diese institutionalisierte Konfliktform kann als ein System der „Blockade und Erpressung“ bezeichnet werden. Die obere Ebene (Bund auf Land und Land auf Hochschule) ist auf die untere Ebene in Gesetzesumsetzungsverfahren immer angewiesen. Dadurch wird der unteren Ebene immer ein gewisser Raum für „Blockade“ und „interessengeleiteter Rechtsauslegung“ eröffnet. Ein Beispiel hierfür ist die teilweise Nichtumsetzung von Rahmenvorschriften des Bundes aus 146
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dem Hochschulrahmengesetz in die Landeshochschulgesetze der Länder und die gegenwärtige Umsetzungspraxis der Hochschulen im BolognaProzess. Umgekehrt ist die untere Ebene auf die obere Ebene durch die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen, um ihre rechtlich festgeschriebenen Kompetenzen wahrnehmen zu können. Dadurch eröffnete sich der oberen Ebene immer ein gewisses „Verhandlungs- bzw. Erpressungspotenzial“. Hierfür wiederum ist die Ausweitung der Bundeskompetenzen im Hochschulbereich (Hochschulrahmengesetz und Hochschulbaufördergesetz) gegen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre sowie die Durchsetzung des Bologna-Prozesses an den Hochschulen seitens der Länder ein Beispiel.
B: Der Gremien-Subframe („Politikverflechtung“) Der zweite Pol im BKFF wird von bundesweiten Gremien und Arbeitsgruppe gebildet, die aus Vertretern von Bund, den Ländern und, in einigen Fällen, Hochschulen und der zivilgesellschaftlichen Interessensvertretungen zusammengesetzt sind. Zu diesen Arbeitsgruppen zählen beziehungsweise zählten die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung“ (BLK) (1970 bis heute), der „Wissenschaftsrat“ (WR) (1957 bis heute), die „Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland“, kurz: „Kultusministerkonferenz“ (KMK) (1949 bis heute), der „Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (1953 bis 1965), der „Deutsche Bildungsrat“ (1965 bis 1975) und weitere, zu Einzelfragen sporadisch gebildeten Bund-Länder-Arbeitsgruppen (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1997). Neuerdings muss auch der Akkreditierungsrat (AR), der als Stiftung 1999 eingerichtet wurde, dazu gezählt werden. Der rechtliche Hintergrund für die Bildung zahlreicher bundesweiter Arbeitsgruppen ist die durch Art. 30 Grundgesetz festgeschriebene Kulturhoheit der Länder, die Kompetenzverteilung im Bildungsbereich sowie das Interesse aller Akteure, trotz Art. 30 Grundgesetz bundeseinheitliche Reglungen im Bildungsbereich herzustellen (vgl. Bauer 1999). Durch diese Konstellation entsteht ein Entscheidungssystem, das Scharpf als „Politikverflechtung“ beschrieben hat und das insgesamt als ein typisches Merkmal der föderalistischen Bundesrepublik gilt (vgl. Scharpf 1978). Politikverflechtung bedeutet, dass Gesetzgebungs- und Durchführungskompetenzen auf unterschiedlichen administrativen und legislativen Ebenen verteilt sind, wobei sich die Interessen der entsprechenden Akteure in der Regel widersprechen. Da aber kein Akteur autonom handeln kann und somit auf die Kooperation der anderen Akteure angewiesen ist, entsteht ein Koordinierungs- und Konsenszwang. So ist es auch nicht verwunderlich, dass in allen oben aufgezählten Gremien 147
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bei allen wichtigen Fragen das Einstimmigkeitsprinzip und eine paritätische Zusammensetzung der beteiligten Akteursgruppen vorherrscht. Politikverflechtung führt in der Regel zu einem Entscheidungssystem, das entweder keine, keine weit reichenden oder Entscheidungen zustande bringt, mit der allen Beteiligten unzufrieden sind. Insofern erzeugt Politikverflechtung bei den Beteiligten und Betroffenen nach Scharpf enormen Entscheidungsstress und Frust. Allerdings gibt es nicht nur einen prototypischen Mechanismus der Politikverflechtung, sondern unterschiedliche Typen und Aspekte dieses Mechanismus’. Die von Scharpf herausgearbeiteten Merkmale der Politikverflechtung gelten im Falle des Bildungsbereichs vor allem für Fragen der Finanzierung und Bildungsplanung (vgl. Raschert 1980)3. Welche konkrete Ausprägungsform der Politikverflechtung jeweils beobachtet werden kann, hängt immer von den beteiligten Akteuren und der Brisanz der Problematik ab. Für den Fall des Bologna-Prozesses wollen wir uns auf die Beschreibung der Politikverflechtung in der KMK und im AK und die damit verbundene Problematik beschränken. Die KMK ist ein freiwilliger Zusammenschluss der für Kulturfragen zuständigen Minister und Senatoren der Bundesländer. In der KMK hat jedes Land eine Stimme und es herrscht in den meisten Fragen das Einstimmigkeitsprinzip. Die KMK fasst Beschlüsse und Empfehlungen und erarbeitet durch das Sekretariat und die Ausschüsse Berichte und Analysen. Die Beschlüsse der KMK sind nicht rechtskräftig, sondern müssen durch die Länderparlamente in Landesgesetze umgewandelt werden. Diese Praxis erzeugt bei den Landesparlamenten regelmäßig Unmut, weil so diese Beschlüsse einerseits den üblichen demokratischen Prozessen enthoben sind, aber andererseits nicht nicht umgesetzt werden können, will ein Bundesland sich bundesweit nicht isolieren (vgl. Raschert 1980). Dies gilt gerade für weit reichende Beschlüsse. Die Beschlüsse der KMK haben also von Fall zu Fall unterschiedliche informelle Verbindlichkeit. Im Falle des Bologna-Prozesses spielte die KMK durch zahlreiche Beschlüsse zur Einführung von Bachelor und Master eine bedeutende Rolle. Zu nennen ist hier vor allem der Beschluss „Ländergemeinsame Strukturvorgaben gemäß § 9 Abs. 2 HRG für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen“, der bereits 1999 verabschiedet wurde, sowie zahlreiche andere Dokumente zu dieser Problematik. Die „Strukturvorgaben“ wurden unmittelbar nach der Novellierung des HRG beschlossen, wo die Erprobung von Bachelor- und Masterstudiengängen vorgesehen war. Wie Witte betont, konnte dieses und andere Papiere zu 3
Aus diesem Grunde gilt die BLK ab ca. 1980 als „tot“.
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den Bologna-Reformen zu dieser Zeit relativ „geräuschlos“ und unkontrovers die KMK passieren, weil die mit Bachelor und Master verbundenen Reformen zu dieser Zeit als relativ unverbindliche Vorschläge eingeschätzt wurden, denen man lediglich einen Nischenstatus für ausländische Studierende einräumte (vgl. Witte 2006b). Vor diesem Hintergrund wurden zahlreiche weitere Papiere beschlossen, die inhaltliche Ausgestaltungsräume für die erst ab ca. 2003 als solche in die politische Diskussion eingetretenen Bologna-Reformen vorschreiben. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Form der Politikverflechtung bedeutet dies zweierlei. Erstens war die Frage nach Bachelor und Master, Akkreditierung und Modularisierung etc. zum Entscheidungszeitpunkt kein wirkliches Politikum, das in Politysystemen der Politikverflechtung zu Frust und Entscheidungsunfähigkeit führen konnte (vgl. Raschert 1980). Die Entscheidung wurde getroffen, noch bevor es etwas zu entscheiden gab, das heißt noch bevor sich andeutete, dass mit der Bologna-Reform ein großflächiger Umwälzungsprozess in Gang gekommen ist. Zweitens war mit den zahlreichen Beschlüssen, Arbeitspapieren und Berichten ein umfassendes Policy-Programm „dezentral“ erarbeitet, auf das in der Umsetzung der Bologna-Reformen zurückgegriffen werden konnte. Den Ländern dienen diese Beschlüsse als Verweise für die über Zielvereinbarungen, Landeshochschulgesetze und im Rahmen von Finanz- und Strukturverhandlungen umzusetzenden Bologna-Reformen. Den Hochschulen wiederum dienen diese Papiere als willkommene Handlungsanweisungen für eine Reform, deren Gegenstand Teil ihrer durch Art. 5 III. Grundgesetz garantierten Wissenschaftsfreiheit ist. Eine ähnliche Struktur weist der AR auf. Der AR ist besetzt von Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Studierenden und arbeitet auf Grundlage eines Vertrages zwischen den Ländern. Dieser Vertrag sieht vor, dass der Akkreditierungsrat allgemeine Qualitätsstandards für die Errichtung und Ausgestaltung neuer Studiengänge entwirft, Akkreditierungsagenturen akkreditiert, die das Recht haben, das Sigel des AR zu vergeben und diese Akkreditierungsagenturen überwacht. Zudem sieht der Vertrag vor, dass die Länder in der Zulassung neuer Studiengänge dieses Akkreditierungssystem akzeptieren und zur Grundlage ihrer Zulassungsentscheidung machen. Der Vertrag sieht darüber hinaus vor, dass jedes Land diesen Vertrag flexibel handhaben kann. Das heißt, dass sich die Länder hier keinesfalls endgültig darauf festgelegt haben, das Akkreditierungssystem als Grundlage ihrer Entscheidung zu akzeptieren. Das letzte Wort über die Übernahme der Verantwortung haben sich die Länder also vorbehalten.
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Das typische Merkmal dieses Systems der Politikverflechtung besteht darin, dass hier der Ort der Entscheidung „verloren gegangen“ ist (KMK) und immer wieder in dieses System hin und her geschoben werden kann (AK). Dadurch werden der Entscheidungsstress sowie der damit verbundene Frust aber keinesfalls vermieden, sondern allenfalls nur verschoben, und zwar auf die Hochschulen.
C: Der Stakeholder-Subframe („Konsens“) Den dritten Pol des BKFF bilden die zivilgesellschaftlichen Interessengruppen, die in der gegenwärtigen Debatte als Stakeholder bezeichnet werden. Der Begriff „Stakeholder“ verweist auf die doppelte Rolle dieser Akteure im BKFF. Einerseits wird ihnen damit zugestanden, gewisse „Anteile“ am gegenwärtigen Hochschulsystem zu haben, und andererseits über diese „Anteile“ Einfluss zu nehmen. Die wichtigsten Stakeholder sind der „freiwillige zusammenschluss von studentInnen“ (fzs), die „Hochschulrektorenkonferenz“ (HRK), die „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ (BDA), die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ (GEW) und einzelne Fachverbände. Neuerdings sollte auch das „Centrum für Hochschulentwicklung gGmBH (CHE)“, ein 1994 von der Bertelsmann Stiftung und der HRK gegründeter think tank, dazu gezählt werden. Der fzs ist weitestgehend als legitimer Repräsentant der Studierenden anerkannt, die BDA gilt als wichtiger Repräsentant der Unternehmen und die HRK als Interessensvertretung der Hochschulen. Von ihnen wird in der Regel ein Statement zu den jeweiligen Reformmaßnahmen verlangt, das sie über Positionspapiere abgeben. Diese Positionen sind Gradmesser für die Legitimität, Angemessenheit und zu erwartende Wirkung von Reformen. Die GEW scheint Probleme zu haben, sich in dieser Dreierkonstellation zu verorten, weil sich vor allem der fzs bzw. die Studierenden hier als Interessenvertretung der Dienstleistungsempfänger positionieren konnten. Zwischen GEW und fzs besteht aber eine ausgeprägte ideologische und institutionelle Zusammenarbeit. Zudem ist es der GEW gelungen, sich durch ihre umfassende politische Erfahrung im bildungspolitischen System in vielen Gremien zu platzieren und so Einfluss auf Policy-Programme (Arbeitspapiere etc.) auszuüben. Die HRK hat im BKFF die stabilste Position. Sie wird nicht nur am intensivsten in die Ausarbeitung von gemeinsamen Beschlüssen, Stellungnahmen und anderen Papieren von KMK und Bund mit einbezogen, sondern drüber hinaus vom Bund finanziert. Das CHE hat ebenso wie die GEW eine Sonderstellung im BKFF, die darin besteht, dass das CHE ein umfangreiches Angebot an Policy-Programmen und Evaluationsstudien anbietet sowie an der Umsetzung zahlreicher Reformen mit Bera150
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tern zum Teil kostenlos beteiligt ist. Dies unterstreicht noch einmal die wichtige Rolle von Policy-Angeboten im BKFF. Das CHE ist zwar ein privater Akteur, wird jedoch keinesfalls ausschließlich aus privatwirtschaftlichen Erlösen finanziert. 20% der Kosten übernimmt der Bund durch die Finanzierung der HRK. Die restlichen 80% sind Stiftungsgelder der Bertelsmannstiftung, die Eigentümerin des Bertelsmannkonzerns ist und dadurch erheblich Steuern spart. Somit ist das CHE ebenso wie die HRK eine weitestgehend öffentlich finanzierte Einrichtung ohne öffentliche Kontrolle. Insgesamt besteht im BKFF die Tendenz, die Stakeholder sowohl institutionell als auch ideologisch über die Übernahme von Positionen in die kulturföderalistische Politikverflechtung mit einzubinden. Die Gremien- und Legislativakteure müssen die Positionen der Stakeholder nicht nur immer wieder neu mit einbinden, sondern verlangen auch eine regelmäßige Positionierung. Das wohl spektakulärste Beispiel dafür ist die Initiierung und Finanzierung der Kampagne „Bachelor Welcome!“ von führenden deutschen Großunternehmen durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF). In dieser Kampagne bekennen sich zahlreiche Großunternehmen zum Bachelor als vollwertigen Abschluss, nachdem die Wirtschaftsvertreter im Zuge der Realisierung der Bologna-Reformen „zwischen den Zeilen“ mitgeteilt haben, dass sie den Bachelor nicht als vollwertigen Abschluss anerkennen wollen. Insgesamt kann für den Stakeholderpol konstatiert werden, dass er auf Konsens angelegt ist. Wo dies möglich ist, werden die Stakeholder symbolisch und/oder institutionell in das Entscheidungssystem eingebunden. Auch in Fällen, wo sich die Stakeholder ausdrücklich gegen spezifische Reformmaßnahmen positionieren, wird dieser Konsensmechanismus nicht restlos annulliert. Solange die Stakeholder legitime Interessen formulieren, werden in der Regel Kompromisse geschlossen. Ein Beispiel hierfür ist die Debatte über Studiengebühren, wo die Studierenden eine klare Opposition beziehen, aber über die Diskussionen der relativ geringen Höhe (500€), der schleppenden Einführung, der Diskussion über ein umfassendes Darlehenssystem und Sozialklauseln relativ großen Einfluss in dieser Debatte haben.
EU-Bologna-Polity-Frame (EBPF) Seit der Regelung im Vertrag von Maastricht (EGV §§ 149/150) haben die Mitgliedstaaten im Hochschulbereich die alleinige Zuständigkeit. Die Europäische Union hat nur subsidiäre Kompetenzen. Das heißt, dass die Kommission nur dann tätig werden kann, wenn Aufgaben im Interesse der Union und ihrer Mitglieder durch die einzelnen Staaten allein 151
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nicht bewältigt werden können. Dabei kann dieses Subsidiaritätsprinzip stets nur von Fall zu Fall ausgelegt werden. Was genau ein Eingriff ist und was eine subsidiäre Maßnahme, ist daher selbst Gegenstand von politischen und juristischen Auseinandersetzungen (vgl. Hrbek 1994). Im Hochschulbereich erstrecken sich die Maßnahmen der Europäischen Union im Wesentlichen auf die Koordination von Mobilitätsförderung, die Bereitstellung von Informationen zu europäischen Bildungsfragen und die Entwicklung von Instrumenten zur europäischen Vergleichbarkeit wie ECTS, Diploma Supplement, Qualitätssicherung etc. (vgl. Eckhardt 2005). Die Umsetzung der Entscheidungen der Europäischen Union ist grundsätzlich von der freiwilligen Kooperation der Mitgliedsstaaten abhängig. Im Kern erarbeitet die Kommission ein ganzes Set an Informationen, Strukturprogrammen und Mobilitätsprogrammen, die sie den Mitgliedstaaten als Servicedienstleistung zur Verfügung stellt. Das Polity-System des Bologna-Prozesses entfaltete sich in ebendiesem Kontext. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre entstanden regelmäßige Treffen von Generaldirektoren des Bildungsbereichs aus unterschiedlichen europäischen Mitgliedstaaten. Vor dem Hintergrund der EGVRegelung dienten diese Treffen zunächst nur einem lockeren Austausch auf höherer Beamtenebene (vgl. Friedrich 2001c). Im Mai 1998 unterzeichneten Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien die Sorbonne-Erklärung, worin diese vier Länder erklärten, gemeinsame Standards im jeweiligen nationalen Hochschulwesen einführen zu wollen. Die Sorbonne-Erklärung löste bei den anderen EU-Mitgliedsstaaten einerseits Empörung und andererseits Begehrlichkeiten aus, so dass man sich wenig später wiederum auf Beamtenebene darauf einigte, eine gemeinsame neue Erklärung zu verfassen und zu verabschieden. Dies geschah im Juni 1999 in Bologna, wo 29 Staaten die Bologna-Erklärung unterzeichneten. Sowohl die Sorbonne-Erklärung als auch die BolognaErklärung haben keinen rechtsverbindlichen Charakter. Sie sind lediglich Absichtserklärungen, die von den jeweiligen Unterzeichnern nach Gutdünken gehandhabt werden können. Darüber hinaus sind beide Dokumente sehr allgemein gehalten. Sie enthalten weder konkrete Maßnahmen, noch konkrete Umsetzungsschritte dieser Maßnahmen, noch irgendwelche anderen Festlegungen, die sich nicht in ganz unterschiedliche Richtungen interpretieren ließen (siehe nächstes Kapitel). Ab der Bologna-Konferenz hat sich ein follow-up-Mechanismus entwickelt, der nach und nach vertieft wurde und als institutionelle Entscheidungsstruktur des EU-Bologna-Polity-Frame (EBPF) beschrieben werden kann. Den offiziellen Kern des EBPF bilden die Ministerkonferenzen im Zwei-Jahres-Rhythmus. Auf den Ministerkonferenzen wird ein von einer Arbeitsgruppe, der Bologna-Follow-Up-Group (BFUG), 152
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auf Beamtenebene im Vorfeld ausgehandeltes Kommuniqué verabschiedet. Im Zuge dieser Nachfolgekonferenzen ist die Mitgliederzahl der Staaten, die die Bologna-Erklärung unterzeichnet haben, auf 45 Staaten bis 2005 angewachsen. Die BFUG besteht aus Vertretern aller Mitgliedsländer, der Europäischen Kommission, die ebenfalls Vollmitglied im Bologna-Prozess ist, und acht nicht stimmberechtigten Beobachtern. Dieser Beobachterstatus wurde den europäischen Stakeholdern eingeräumt. Dazu zählen die Studierenden (National Unions of Students in Europe, ESIB), die Hochschulen (European University Association, EUA), der Europarat, eine Vereinigung für weiterer Bildungseinrichtungen (European Association of Higher Education, EURASHE), die europäische Unteragentur der Bildungsabteilung der UNESCO (European Centre for Higher Education, CEPES), das europäischen Qualitätssicherungsnetzwerk (European Association for Quality Assurance in Higher Education, ENQA), die Gewerkschaften (European Trade Union Committee for Education, ETUCE) und die Arbeitgeber (Union for Industrial and Employer’s Confederations of Europe, UNICE). Die BFUG trifft sich alle acht Wochen und bereitet zwischen den Konferenzen alle wichtigen Entscheidungen vor. Aus der BFUG geht dann ein Board hervor, der die Arbeit der BFUG organisiert und die Implementierung der getroffenen Entscheidungen überwacht. Der Board besteht aus dem Land, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt die EU-Ratspräsidentschaft inne hat, dem Land, das sie davor innehatte, und dem Land, das sie nachfolgend inne haben wird, der Kommission, dem Gastland und drei von der BFUG gewählten Ländern. Neben dem Board wurde ein Sekretariat eingerichtet, das organisatorische Aufgaben übernimmt und vom jeweiligen Gastland gestellt wird. Schließlich finden regelmäßig Seminare zu den Einzelthemen des Bologna-Prozesses statt. Diese Seminare bereiten Policy-Programme vor und diskutieren diese in einem Kreis aus Experten der Regierungen und Stakeholdern. Schließlich tritt jedes Land in Form von nationalen „BolognaGruppen“ international in Erscheinung. Im Falle Deutschlands ist diese Bologna-Gruppe aus KMK, BMBF, fzs, GEW, BDA, HRK und dem DAAD zusammengesetzt. Diese Gruppe oder Delegation vertritt Deutschland im weitesten Sinne auf den Ministerkonferenzen, wobei jedes Land nur eine Stimme hat. Schließlich verfasst jedes Land einen Bericht über den Stand der Umsetzung der Bologna-Reformen. Drüber hinaus gibt die EUA regelmäßig zu den Ministertreffen einen „Trendsbericht“ in Auftrag, der eine Evaluation und Einschätzung erstellt, inwieweit der Europäische Hochschulraum als Ganzer verwirklicht ist. Dies alles wird überwiegend von der Europäischen Kommission bezahlt.
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Aus dieser Struktur können drei zentrale Merkmale des EBPF abgeleitet werden. Die Papiere oder Beschlüsse sind weitestgehend so formuliert, dass fast keine mögliche Interpretationsvariante des Beschlossenen ausgeschlossen wird. Zweitens wird so gut wie jeder, der sich als Stakeholder profilieren konnte, integriert. Da die Beschlüsse nicht rechtskräftig sind und der ganze Prozess auf die Freiwilligkeit der Beteiligten angewiesen ist, spielen drittens Policy-Programme eine zentrale Rolle. Diese Policy-Programme sind Initiativen, Interpretationsangebote und Reformvorschläge, die darauf angewiesen sind, dass ihnen auf nationaler Ebene eine gewisse Relevanz zugesprochen wird. Sie müssen, kurz gesagt, als prestigeträchtig anerkannt und von den nationalen Akteuren gelesen, interpretiert und für die politischen Auseinandersetzungen, Gesetzgebungsverfahren und Umsetzungsprozesse verwendet werden. Dabei sind die Akteure vor Ort „doppelt frei“. Einerseits enthalten diese europäischen Beschlüsse und Arbeitspapiere keine oder kaum zwingende Formulierungen, und zweitens müssen sie aufgrund ihrer Rechtsunverbindlichkeit nicht umgesetzt werden. Da aber der Bologna-Prozess aufgrund seiner massiven Konsenstendenz von allen Stakeholdern und Legislativorganen eine öffentliche Bekenntnis verlangt, die über Positionspapiere abgeben wird, und drüber hinaus dahin tendiert, möglichst jeden auch institutionell einzubinden, wird jede Opposition tendenziell im Keim erstickt. Denn einerseits kann (und muss) die offiziellen BolognaPapiere jeder und jede so interpretieren, wie er/sie das will; und andererseits ist es problematisch, sich gegen eine Policy-Programmatik aufzulehnen, in dessen institutioneller und symbolischer Erarbeitung man selbst integriert war und zu dessen Umsetzung man sich bekannt hat.
Der Konsens als Tendenz des Feldes Die in den letzten beiden Abschnitten vorgestellten Frames haben für die weitere Arbeit zwei Funktionen. Einerseits sollen sie dem Leser als Hintergrundinformationen dienen. In diesem Sinne bezeichnen die Frames einige Aspekte des hochschulpolitischen Feldes, die in der folgenden Diskursanalyse nicht ermittelt werden können. Andererseits erhalten wir mit diesen Frames einen ersten Block an Informationen über und Merkmalen des Bologna-Diskurses, auf die aufbauend im Folgenden vertieft eingegangen werden wird. Während die Policy-Frames ausgehend von Nomen und Nominationen wie „Wettbewerb“, „Internationalisierung“, „Qualität“ etc. mobilisiert werden und sich demnach dem Paradigma der Frame-Semantik weitestgehend beugen, kann dies von den PolityFrames nicht ohne weiteres behauptet werden. Die Polity-Frames werden hier nicht als „Polity-Dimension“ verstanden, die immer schon als 154
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kompaktes System „hinter“ den Diskursen steht. Vielmehr werden auch jene Elemente, die in den Polity-Frames zusammengefasst wurden, als sich überlagernde Konstruktionen verstanden, die ausgehend von den Texten mobilisiert werden. In der Gesamtschau der bisher vorgestellten Elemente des hochschulpolitischen Feldes können bis hierher zwei Merkmale festgehalten werden: das hochschulpolitische Feld der 1990er Jahre gleicht einem Universum, in dem spezifische Policies zirkulieren, auf die sehr unterschiedliche Akteure zugreifen können und die demzufolge inklusiv wirken. Auf der anderen Seite können mit dem kooperativen Konsens, der Politikverflechtung und dem System von Blockade und Erpressung drei institutionalisierte Praxisformen beobachtet werden, die das ganze Feld umfassen und nicht nur einige Teile davon. Dies wirft die Frage auf, wie im hochschulpolitischen Feld politische Auseinandersetzungen geführt werden. So soll im letzten Abschnitt in Umrissen gezeigt werden, dass nicht nur die politische Programmatik und das institutionelle System, sondern auch die Art der politischen Kommunikation einen Universalismus konstituiert, der als politische Form des Konsens bezeichnet werden kann und im Laufe der Untersuchung weiter herausgearbeitet werden soll.
Die Konturen der politischen Form des Konsenses Im Folgenden will ich anhand eines kleinen Textbeispiels aus dem politischen Diskurs zeigen, wie Texte auf Frames zugreifen. Zuvor lohnt allerdings ein kurzer Blick auf die hier zusammengestellten Frames selbst. So fällt zunächst auf, dass fast alle Policy-Frames untereinander verknüpft sind. Beinahe jeder der umfangreicheren Frames verweist auf andere Frames. Insbesondere der HSF, der IF, der SRF, der SUF der QF und der BF sind stark ineinander verzahnt. Hegemonieanalytisch gesehen bedeutet dies, dass eine äquivalente Verknüpfung der Nomen „Internationalisierung“, „Qualität“, „Wettbewerbsfähigkeit“, „Studienreform“ und „Bachelor/Master“ fast alle oben aufgeführten PolicyFrames mobilisieren und keinen der anderen Frames notwendigerweise zurückweisen würde. Diese Beobachtung kann auf die spezifische Entwicklung der Politics-Struktur des Feldes in den 1990er Jahren zurückgeführt werden. Seit etwa Anfang der 1990er Jahre hat sich im hochschulpolitischen Feld eine hegemoniale Forderung durchgesetzt, der sich kein Akteur des Feldes ohne weiteres entziehen kann. Diese Forderung lautet: „Hochschulreformen!“. Das hegemoniale Schlagwort „Hochschulreformen“ ist im hochschulpolitischen Feld der Bundesrepublik so alt wie dieses Feld selbst. Jedoch hat sich die hegemoniale Rolle dieser Forderung verändert. Ab Ende der 1990er Jahre hat sich neben diesem Schlagwort mit 155
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dem „Sparzwang“ eine Prämisse durchgesetzt, die sich relativ zügig konsensual etablieren konnte. So wurden im Rahmen der Austeritätspolitik auch die staatlichen Investitionen im Bildungsbereich auf dem Niveau der 1970er Jahre eingefroren. Abgesehen von einigen Hochschulsonderprogrammen und dem Aufbau der Hochschulen in den Neuen Bundesländern gab es keine spürbaren finanziellen Initiativen mehr im Hochschulbereich. Nachdem die Strategie der „Untertunnelung“ nicht aufging, weil die Zahl der Studierenden in den 1980er und 1990er Jahren nicht wie erwartet ab- sondern zunahm, wurde statt einer Abkehr von der Sparpolitik im Bildungsbereich staatlicherseits von den öffentlichen Einrichtungen insgesamt eine Effizienzsteigerung verlangt. In diesem Rahmen wurden zunehmend New-Public-Management-Modelle (NPM) in den Verwaltungen etabliert. Die Verwaltungen sollten Globalhaushalte erhalten und mit diesen Mitteln möglichst effizient und eigenständig wirtschaften. Insgesamt versprach man sich davon eine Kostensenkung bei konstanter Effektivität. Diese Konzeption sollte spätestens ab Anfang der 1990er Jahre auch auf die Hochschulen übertragen werden. Unter das Schlagwort „Hochschulreform“ fallen im hochschulpolitischen Feld allerdings nicht nur die mit dem NPM-Konzept verbundenen Hochschulsteuerungsfragen, sondern zahlreiche Hochschulstrukturfragen. Hierzu gehören Reformen der Studienstruktur und der Hochschulsteuerung ebenso wie Fragen zur Geschlechtergleichstellung, zum Dienstrecht, zur Nachwuchsförderung etc. (vgl. Turner 2001). Der Austeritätskonsens, der auch nach dem Regierungswechsel 1998 nicht aufgekündigt wurde, hat die historisch gewachsene und in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik praktizierte politische Programmatik, die bis dato neben anderen mit dem Schlagwort „Hochschulreform“ verbunden werden konnte, als Alternative zur Reform der Universitätsstrukturen im Sinne des NPM-Konzepts verdrängt. Ein den Anforderungen angemessener Ausbau der Hochschulen war in den 1990er Jahren keine politisch vertretbare Option mehr. Damit war auch der hochschulpolitischen Reformprogrammatik der klassischen Sozialdemokratie der Boden entzogen. Abgesehen davon, dass es aufgrund der politischen Machtverhältnisse schon seit dem Ende der Ära Brandt keine Mehrheiten für eine bundesweite Bildungsplanung mehr gab, wäre also ein Ausbau der Hochschulen unter dem politischen Zwang des Austeritätskonsens auch nach 1998 nicht durchsetzbar gewesen. Was die politische Konstellation vor 1990 von der nach 1990 allerdings unterscheidet, ist nicht das Problem, dass ein Hochschulausbau als Antwort auf die Krise an den deutschen Hochschulen politisch nicht mehr durchsetzbar war, sondern die Tatsache, dass es vor 1990 im hochschulpolitischen Feld zwei große politische Lager gab. Vor 1990 war 156
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das Schlagwort „Hochschulreform“ immer Teil des Lagers der politischen Linken und Liberalen. Das konservative Lager war im Kern ein oppositionaler Diskurs, das heißt ein Diskurs ohne eine eigene hochschulpolitische Policy-Proammatik.4 Diese Form änderte sich ab spätestens 1990 grundlegend. So setzte sich nach dem Scheitern der „Untertunnelungsstrategie“ ein Reformkonsens durch, der zunehmend die politische Form des Lagergegensatzes ablöste und von der politischen Form des Konsenses ersetzt wurde. An die Stelle der Lagerrhetorik („aktive Bildungspolitik“ vs. „bürokratische Reglementierung“), deren zentrale Schlagworte immer nur einem der beiden Lager zugänglich sind, tritt eine Konsensrhetorik („Wettbewerb“, „Qualität“ etc.), deren Schlagworte von allen Akteuren benutzt aber mit unterschiedlichen politischen Bedeutungen versehen werden können. So etablierte der hegemoniale Signifikant „Hochschulreform“ in den 1990er Jahren eine Konsensform, die die Konturen der politischen Konflikte und die operationale Logik dieser Konflikte grundsätzlich veränderte. Mit Foucault (2004, 2006) kann dies als die Etablierung einer neuen Regierungsweise bezeichnet werden. Während die Phase der 1960er und 1970er Jahre von einer keynesianischen Gouvernementalität beherrscht war, die im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet ist, dass sie ein passives Objekt (Hochschulen) als Gegenstand konstituiert, das man ausdehnen oder schrumpfen lassen kann, setzte sich ab spätestens 1990 eine Gouvernementalität durch, deren zentrales Merkmal darin besteht, dieses Objekt zu aktivieren und es somit als einen Regierungsgegenstand hervorzubringen, der sich als handelnde und sprechende Organisation selbst verändern und in diesem Sinne auch selbst regieren kann. Diese neoliberale Gouvernementalität funktioniert wie ein Aktivierungsprogramm, dessen operationaler Mechanismus als Konsens bezeichnet werden kann, der darauf abzielt, dass die anderen dazu gebracht werden, sich selbst zu regieren. Der Staat und das gesamte politische Establishment verlassen die Rolle des Planers, Interessenvertreters und Lagerrepräsentanten und schlüpfen in das Gewandt des Politik- und Reformanimateurs.
Der operationale Mechanismus des Konsenses Im Folgenden sollen am Beispiel des Bologna-Diskurses einige Grundzüge des operationalen Mechanismus der politischen Form des Konsenses herausgearbeitet werden. Konsens wird hier nicht als das Resultat einer Verhandlung zwischen politischen Akteuren verstanden. Der Kon4
Siehe den Disput zwischen Führ und Raschert (Deutsche Gesellschaft für Bildungsverwaltung 1992: S.21-47) 157
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sens zeigt sich vielmehr erst im Konflikt in der Konsensform. Hier soll die Hypothese vertreten werden, dass die politische Form des Konsenses mit dem Scheitern der „Untertunnelungsstrategie“ ab 1990 zunehmend das gesamte hochschulpolitische Feld beherrscht und durchdringt. Um zu zeigen, dass diese Form ein Merkmal des hegemonialen Feldes insgesamt ist, soll nicht eine Aussage der etablierten Akteure wie Bundesministerium, KMK oder HRK untersucht werden, sondern eine Aussage eines Vertreters des als oppositionell geltenden Studierendenverbandes fzs. Um einen nahe liegenden Einwand gleich an dieser Stelle zu entgegen: es wird hier nicht behauptet, dass der fzs nicht oppositionell sei. Ebenso wenig ist die politische Form des Konsenses nicht nicht oppositionell. Auch der Konsens lässt Kritik und Widerspruch zu. Aber wie funktioniert Kritik in der Konsensform? Die Lagerform unterscheidet sich von der Konsensform nicht darin, dass letztere keinen politischen Anderen hervorbringt. Sie zeichnet sich vielmehr durch die Art und Weise aus, wie dieser Anderen evoziert wird. Das folgende Diskursfragment ist ein Ausschnitt aus einem Artikel von Heiner Fechner, Mitglied des Vorstandes des fzs, aus der DUZ-Sonderbeilage zum BolognaProzess 2003. [...] (1) Während der freie zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs) die Entwicklung des europäischen Diskurses grundsätzlich begrüßt, (2) ist die studentische Unterstützung auf nationaler Ebene maßgeblich von der politischen Gesamtrichtung der laufenden Hochschulreform abhängig. (3) Dieser Artikel beschäftigt sich ausschließlich mit der Umsetzung des BolognaProzesses in Deutschland. [Absatz im Originaldokument] (4) Auf die lokale Ebene heruntergebrochen, ist der Bologna-Prozess in Deutschland eher ein Flop: (5) Das Diploma Supplement ist an den meisten Hochschulen weiterhin unbekannt. (6) Die schrittweise, den Hochschulen überlassene Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen erschwert die Einführung konsekutiver Angebote; (7) vergleichbare Kriterien sind weitgehend nicht existent. (8) ECTS/Kreditpunktsysteme werden so unterschiedlich eingeführt, dass sie eine Übertragbarkeit von Leistungen objektiv eher behindern als fördern: (9) Der Arbeitsaufwand der Studierenden für einzelne Studienleistungen – der zentrale Aussagewert von ECTS-Punkten – wird regelmäßig durch Multiplikation von Semesterwochenstunden mit dem Faktor x „gemessen“, (10) was nicht nur mit der studentischen Realität selten übereinstimmt, sondern auch eine Anerkennbarkeit nicht ernsthaft erwarten lässt. (11) Qualitätssicherung wird als lästiger Kostenfaktor betrachtet, (12) eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Qualität von Studium und Lehre – unter Mitwirkung der Studierenden – findet nicht statt [...]“
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(aus: „Umsetzung à la carte?“, von Heiner Fechner, Vorstandsmitglied des fzs, in: DUZ-Spezial 2003, „Von Bologna nach Berlin. Eine Vision gewinnt Kontur“, S. 22/23)
In dieser Textpassage werden zentrale Policy-Maßnahmen des BF, des SRF, des IF und des QF aufgezählt. Die Nomen „Diploma Supplement“ (5), „Bachelor- und Master-Studiengänge“ (6), „vergleichbare Kriterien“ (7) und „ECTS“ (8) mobilisieren den BF und den SRF, das Nomen „Anerkennbarkeit“ (10) den IF und den BF, das Nomen „Qualitätssicherung“ (11) den QF und die Nomen „Studium und Lehre“ den SRF. Ohne Zweifel wird hier nicht die gesamte Policy-Programmatik dieser Frames sowie alle damit verknüpfbaren Brücken zu anderen Frames realisiert. Der fzs-Diskurs evoziert hier nur die Aspekte der Frames, die sich unmittelbar auf eine „Verbesserung des Studiums“ im Sinne der Studierenden beziehen. Auf der anderen Seite hat der fzs für ebendiese studentischen Forderungen keine eigene Semantik hervorgebracht. Der Verzicht auf eine eigene, oppositionelle Semantik ist bereits ein Indiz dafür, dass die Semantik der oben beschriebenen Frames als eine Konsenssemantik bezeichnet werden kann, die verschiedene hegemoniale Verknüpfungen diverser Teile der unterschiedlichen Policy-Frames des hegemonialen Feldes erlaubt. Der Lokutor wird in diesem Diskursfragment durch die axiologischen Partikel „Flop“ (4), „unbekannt“ (5), „erschwert“ (6), „behindern“ (8), „‚gemessen‘“ (9), „nicht ernsthaft“ (10) und „lästig“ (11) markiert und lässt eine Reihe von Sprechern auftreten, die durch die Negation „nicht“ und „un-“ (in [5], [7], [10], [12]), durch den Negations-Junktor „eher... als“ (8) und durch die Zitation „‚gemessen‘“ evoziert werden. Die Aussagen (6) und (11) sind monophon. In allen Fällen werden diese Aussagen im konstativen illokutionären Modus hervorgebracht. Konstative Aussagen sind Aussagen, die hinsichtlich der Unterscheidung „wahr“ vs. „falsch“ operieren und als Referenten eine „externe Realität“ evozieren. Der Lokutor nimmt in jeder Aussage die Sprecher an, die dem affirmierenden Sprecher widersprechen. Dies soll anhand der Aussage (7) beispielhaft gezeigt werden. In Aussage (7) treten zwei Sprecher auf, die widersprechende Propositionen vertreten. Ein Sprecher per7 (1) vertritt die Proposition P(1): „vergleichbare Kriterien sind weitgehend existent“, wohingegen ein Sprecher per7 (2) dem widerspricht: NEIN [per7 (1)]. Der Lokutor nimmt den Sprecher per7 (2) an und weist den Sprecher per7 (1) dem Allokutor zu. Demnach wird der Sprecher vom Lokutor zurückgewiesen, der behauptet, dass die evozierten Policy-Frames umgesetzt wurden. Dies ist ebenfalls in den Aussagen (5), (10) und (12) der Fall. In Aussa159
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ge (6) und (11) nimmt der Lokutor die monophonen Sprecher an (z.B.: „Qualitätssicherung wird als lästiger Kostenfaktor betrachtet“) und in Aussage (8) den Sprecher, der die Proposition „ECTS/Kreditpunktsysteme werden so unterschiedlich eingeführt, dass sie eine Übertragbarkeit von Leistungen objektiv eher behindern“ vertritt. Damit präsupponiert sowohl der Lokutor als auch der Allokutor nicht nur die Existenz der Konsens-Policies. Vielmehr erkennen beide auch die Gültigkeit dieser Forderungen an, deren erfolgreiche Umsetzung vom Diskurs nur noch evaluiert wird. Alle Sprecher, die von den Lokutoren dieser Aussagen angenommen werden, sind in gewisser Hinsicht „BeweisführungsScouts“ des monophon evozierten Sprechers in Aussage (4), der für die Proposition „Auf die lokale Ebene heruntergebrochen, ist der BolognaProzess in Deutschland eher ein Flop“ steht. Zwar bezieht sich diese Aussage kritisch auf den Bologna-Prozess. Jedoch wendet sich der Lokutor hier keinesfalls gegen den Prozess selbst, sondern vielmehr gegen die Art und Weise der Umsetzung, beklagt doch der Autor das „Scheitern“ des Prozesses. Die Konsensform verlangt nicht, dass alle Akteure des Feldes einheitliche Positionen vertreten. Sie besteht vielmehr darin, dass alle Akteure im Konflikt die gleichen Instanzen herbeizitieren, um ihre Position als legitim zu markieren. Dadurch wird das Politische zurückgenommen und in den Modus einer „Sachauseinandersetzung“ überführt. So beruft sich der Lokutor hier auf ein allgemein anerkanntes Gesetz, eine von allen Akteuren des Feldes anerkannte Forderung, die in diesem Diskurs präsupponiert wird, um seine Position im Feld zu markieren. Dieses Gesetz wird durch das Nomen „Bologna-Prozess“ in Aussage (4) ins Spiel gebracht. Damit ist ein Ort markiert, der einerseits selbst nicht infrage gestellt werden kann, und der es andererseits erlaubt, weitere Forderungen zu erheben, wie eben die nach einer „richtigen“ oder „guten“ Umsetzung des Bologna-Prozesses. Der Lokutor kann hier „Bologna“ für sich und gleichzeitig für alle anderen fordern lassen, um in diesem Rahmen seine Partikularforderung zu platzieren. Der Konsens der Forderung erlaubt es dem Lokutor, einfach nur zu konstatieren, dass „der BolognaProzess ein Flop ist“, wobei der Konflikt, der über das Nomen „Flop“ ausgetragen wird, nur möglich ist, wenn sowohl Lokutor als auch Allokutor die politische Legitimität des Bologna-Prozesses attestieren. Das Gleiche gilt für die Aussagen (5) bis (12). Die Kontroversität zwischen den innertextuellen Kontrahenten liegt hier nicht auf der Ebene der Policy-Frames, sondern auf der Ebene der Umsetzung der Policies. Die Policies sind demnach „irgendwann“ von „irgendwem“ gefordert worden und gelten in diesem Diskurs als legitimer, universaler Bestandteil des Feldes. Die Forderung, die irgendwo von irgendwem auf160
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gestellt wurde, und nun als allgemein anerkannte Forderung gilt, muss nur noch konstativ evaluiert werden („vergleichbare Kriterien sind weitgehend nicht existent“ [P(2)]), um sich im Raum politisch zu positionieren. Auch in diesem Fall werden die Policy-Frames nicht nur vom Lokutor anerkannt, sondern als allgemein anerkannt Forderung diskursiv hervorgebracht. So kann die politische Form des Konsenses auf ein Subjekt der Forderung weitestgehend verzichten, weil diese Forderung als Universalie des Feldes präsentiert wird. Die politische Subjektivität ist verdinglicht und allen Akteuren verfügbar gemacht. Sie muss selbst nicht mehr legitimiert werden, sondern strukturiert als Konsensinstanz die Konflikte im Feld. Der Lokutor muss nur noch dafür Sorge tragen, dass er mit Blick auf diese Forderungen evaluierende Sätze formuliert und sich dabei nicht gegen den Konsens stellt. Dass dies wiederum nicht selbstverständlich ist, gerade wenn man Kritik in der politischen Form des Konsens äußert, zeigen die Aussagen (1) bis (3), wo der Lokutor zahlreiche Sprecher zurückweist, die „gegen Bologna“ sind, um keine Zweifel über seine Loyalität zum Bologna-Prozess und über die Existenzberechtigung der institutionellen Adresse „fzs“ als Teil der hochschulpolitischen Polity aufkommen zu lassen. In den nun folgenden Diskursanalysen soll die Problematik der politischen Form des Konsenses vertieft werden. Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive (vgl. Foucault 1987, 2004, 2006) ist auch die politische Form des Konsenses eine Ressource des hegemonialen Feldes. Die Art und Weise, wie Konflikte geführt werden, ist ebenso wie die konkreten Forderungen (Policies) und die institutionelle Struktur des Feldes (Polity) nicht beliebig. Denn die Akteure des Feldes sind über Jahre hinweg konditioniert worden, ihre Forderungen auf eine spezifische Art und Weise vorzutragen. Politische Kommunikation ist im Modus des Konsenses standardisiert. Ebendiese politische Form des Konsenses kann als ein Konglomerat aus unterschiedlichen Gouvernementalitäten beschrieben werden (vgl. Foucault 2005), und es ist dieser Aspekt des hochschulpolitischen Feldes, der im folgenden Kapitel detaillierter in den Blick genommen werden soll.
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7 D I E PO LI TI S C HE L O GI K DES BO LO G N AP R O Z E S S E S : E I N E D I S K U R S AN A L Y S E
„Im Mittelalter lag mitten in Deutschland eine Stadt, die Schilda hieß. Ihre Bewohner nannte man deshalb die Schildbürger. Das waren seltsame Leute. Alles, was sie taten, machten sie falsch. Und alles, was man ihnen sagte, nahmen sie genau so, wie man es ihnen sagte. Wenn zum Beispiel jemand zu ihnen sagte: „Ihr habt ja ein Brett vor dem Kopf!“, dann griffen sie sich schon an die Stirn und wollten das Brett wegnehmen. Und wenn jemand zu ihnen sagte: „Bei euch piept es ja!“, so blieben sie ganz ruhig, um genau hinzuhören. Nach einiger Zeit sagten sie dann: „Es tut uns leid, aber wir können nichts piepen hören.“ So viel Dummheit wurde natürlich bald überall bekannt. Und überall lachte man über die Schildbürger. Aber kann man eigentlich so dumm sein?“ Aus: „Die Geschichte der Schildbürger“)
Einleitung Wie sich herausstellte, waren die Schildbürger nicht dumm. Vielmehr waren die Bürger Schildas, so die Legende, sehr kluge und hilfsbereite Menschen, die jedem Hilfegesuch von Bürgern anderer Städte sofort nachkamen, bis schließlich ihre eigene Stadt kurz vor dem Ruin stand. Da beschlossen sie, sich zukünftig dumm zu stellen, um sich und ihre Stadt vor ihrer eigenen Klugheit und Hilfsbereitschaft zu schützen. Frei163
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lich ist diese Erklärung für die vermeintliche Dummheit der Schildbürger nur eine retrospektive Rationalisierung im Sinne der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967). Und ebenso wäre die andere Erklärung für das seltsame Verhalten der Schildbürger, wonach diese schlicht dumm seien, auch eine retrospektive Rationalisierung. Während die politischen Wissenschaften entweder dazu neigen, Phänomene, deren Rationalität nicht unmittelbar evident ist, zu erklären, in dem Sinne, dass man ihnen eine Absichtslogik unterstellt („die Schildbürger haben sich aus guten Gründen dumm gestellt!“, Webers subjektiv gemeinter Sinn), oder dazu tendieren, die Entwicklungsverläufe aus „strukturellen Zwängen“ und „Integrationsproblemen“ abzuleiten, mit dem Ergebnis, dass gezeigt wird, warum diese Entwicklung so und nicht anders hätte verlaufen können („die Schildbürger hätten sich ruiniert, wenn sie sich nicht dumm gestellt hätten!“, also im Sinne einer strukturfunktionalen Teleologie), soll im Folgenden ein Ansatz verfolgt werden, der die formale Logik von Politikprozessen selbst untersucht. Wie kam es also, dass die Schildbürger für dumm gehalten wurden, bzw. wie gelang es den Schildbürgern, sich gegenüber ihren „Lesern“ für dumm zu verkaufen? Alles, was „komisch“ oder „erklärungsbedürftig“ scheint, soll nicht wegerklärt, sondern auseinandergenommen und hinsichtlich seiner politischen Wirkungsmöglichkeiten beschrieben werden. In der folgenden Diskursanalyse geht es, grob gesagt, darum, sich zu fragen, was die Schildbürger des Bologna-Prozesses machen und insbesondere, wie sie es machen. Es soll nicht darum gehen zu erklären, warum sie es machen, wie sie es machen, oder ob sie eine Alternative dazu gehabt hätten oder nicht. Die Analyse konzentriert sich folglich nicht auf die Interessen, die hinter den Diskursen stecken, oder den strukturellen Zwängen, die man aus den Diskursen hermeneutisch herauslesen könnte. Vielmehr interessiert sie sich für die Logik der Diskurse selbst und fragt danach, welche strukturellen Zwänge von den Diskursen ausgehen können. Die folgenden Texte des Bologna-Prozesses wurden auf Grundlage des Feldkatalogs ausgewählt (Kapitel 6.2). Sie sind jedoch weder Idealtypen noch repräsentative Beispiele. Vielmehr sind sie wichtigen institutionellen Knotenpunkten des mit der Frame-Konzeption entworfenen Feldes entnommen. In diesem Sinne können sie als für das Feld typische Stichproben bezeichnet werden. So werden zunächst (7.1) die BolognaErklärung und einige Nachfolgedokumente des Bologna-Prozesses nach Forderungen und Verantwortlichkeitsinstanzen abgesucht. Hier wird die Frage gestellt: Was fordert „Bologna“ und wer übernimmt wofür die Verantwortung? Ziel dieser Analyse ist es erstens, jenes Dokument zu analysieren, das in den nationalen und regionalen Bologna-Diskursen auf unterschiedliche Art und Weise für weitere Diskurse verwendet 164
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wird, und zweitens zu fragen, mit welchen diskursiven Zwängen und Ressourcen die Leser der Bologna-Erklärung konfrontiert sind. Anschließend (7.2) werden drei Texte analysiert, die den Bologna-Prozess historisch kartieren. Die Frage, der hier nachgegangen werden soll, lautet: Durch welche diskursiven Mechanismen verortet sich der BolognaProzess in Zeit und Raum? Anschließend (7.3) werden unterschiedliche Varianten des Konsenses herausgearbeitet. Zunächst wird ein Textauszug des Vorsitzenden des neu gegründeten Akkreditierungsrates (AR) zum Thema „Qualität“ analysiert. Der AR ist eine der wichtigsten Institutionen im Bologna-Prozess, weil er über die Qualitätsfrage die Zulassungspraxis der Bachelor- und Masterstudiengänge entscheidend beeinflusst. Anschließend wird ein Redeauszug des Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), die zu den wichtigsten kooperativen Akteuren der hochschulpolitischen Polity gehört, analysiert. Die HRK ist in viele relevante Entscheidungsprozesse mit eingebunden, verteilt Gelder des Bundes für die Unterstützung des Bologna-Prozesses und versteht sich selbst als einer der wichtigsten Akteure in diesem Prozess. Anschließend wird ein Kritiker-Diskurs und ein Verteidiger-Diskurs analysiert. Hierfür wird ein Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) mit der damaligen Bundesministerin Bulmahn herangezogen. Abschließend (7.4) erfolgt die hegemonietheoretische Interpretation der Ergebnisse der Diskursanalyse.
Große Worte, leere Begriffe: die Bologna-Erklärung Die Bologna-Erklärung ist das zentrale Dokument des BolognaProzesses und bildet demnach einen wichtigen diskursiven Bezugspunkt für die regionale und nationale diskursive Praxis. Demzufolge ist es nur folgerichtig, vor der Analyse der Verweisungslogik in den nationalen Bologna-Diskursen, das Objekt, auf das verwiesen wird, näher zu betrachten. Obwohl eine hegemoniale Verortung der politischen Akteure keinesfalls ein „richtiges Verständnis“ der Bologna-Dokumente zur Voraussetzung hat und die Art und Weise, wie individuelle diskursive Praktiken aneinander anschließen, kontingent ist, ist die spezifische Form der regionalen und nationalen Bologna-Diskurse keinesfalls unabhängig von der diskursiven Form und Logik der Texte, auf die sie sich beziehen. So bewirkt beispielsweise ein völkerrechtlicher Vertrag zahlreiche juristische Diskurse; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass daneben zahlreiche politische oder andere Diskurse auftreten. Die Art und Weise, wie diese diskursiven Praktiken sich formieren, ist dann zwar
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kontingent; jedoch bilden sie sich nicht unabhängig von solchen prädestinierten Dokumenten. Denn der formale Aufbau des Bezugstextes orientiert die Leseprozesse (Angermüller 2007c) und kanalisiert somit den weiteren Politikverlauf (Foucault 1996). Die folgenden Textfragmente gelten als Grundlage der BolognaReformen. Sie werden in der Regel als „Beschlüsse“ von mittlerweile über 40 europäischen Bildungsministern ausgewiesen, die zwar keine rechtliche Gültigkeit beanspruchen können, aber gemeinhin als Dokumente mit politischer Verbindlichkeit anerkannt werden. Das bedeutet zweierlei. Erstens kann nicht der rechtliche Status dieser Dokumente von Interesse sein, der zahlreiche Rechtsdiskurse auf den Plan rufen würde, sondern die Inhalte, die von den Ministern beschlossen wurden. Dies setzt voraus, dass diese Erklärungen und Kommuniqués nicht als europäische „Symbolpolitik“ gelten können. Vielmehr müsste sich damit ein „fester Wille“ der europäischen Bildungsminister verbinden, so die zweite Annahme. Diese beiden Kriterien (der feste Wille und die semantisch Genauigkeit der Beschlüsse) müssen auf dem ersten Blick erfüllt sein, gelten die Reformen des Studiensystems, die im Rahmen des Bologna-Prozesses durchgeführt werden, doch nicht selten in öffentlichen Reden und Stellungnahmen als eine „grundlegende Reform“ oder gar „Revolution“.
Exkurs: Die Analyse Dafür soll in der folgenden Diskursanalyse die Bologna-Erklärung und einige Teile der Nachfolgekommuniqués einerseits nach Behauptungen und Forderungen abgesucht werden, die auf die Inhalte der Dokumente verweisen, und andererseits gefragt werden, wie und von wem diese Behauptungen und Forderungen verantwortet werden. Der Text soll also nicht erschöpfend analysiert werden. Forderungen werden mit F(..) und Behauptungen mit B(..) markiert. Der Lokutor ist kein empirisches Individuum, sondern eine innerdiskursive Instanz, die durch deiktische, affektive und axiologische Formen sichtbar gemacht werden kann und unterschiedliche Sprecher (per) und Äußerungsquellen (Q) auftreten lässt, mit denen er sich solidarisiert, von denen er sich distanziert oder die er auf ambivalente Distanz hält. Obwohl der Lokutor nie selbst spricht, sondern die Sprecher für sich sprechen lässt, ist er die Instanz, die über die Zuweisung von diskursiven Figuren und Sprechern für das im Text Gesagte letztlich die Verantwortung trägt. Äußerungsquellen (Q) sind vom Lokutor ins Spiel gebrachte Orte im Diskurs, denen der Ursprung für etwas Gesagtes zugeschrieben wird. Sprecher (per) sind diskursive Perspektiven, die der Lokutor als Regisseur auf- und gegeneinander antreten lässt. Diskursive Figuren ([l], [x], [a], [q]) regeln die Verantwor166
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tungsübernahme für einen semantischen Inhalt (B, F, P, I), der einer spezifischen Perspektive (per) entspricht. Nominalisierungen schließlich bringen eine „vorkonstruiertes“ Wissen ins Spiel, dessen Äußerungsquelle abgeschnitten ist und das als allgemein anerkanntes „Jedermannswissen“ postuliert wird. Vorkonstrukten lässt sich demnach, wenn überhaupt, nur schwer eine diskursive Figur zuordnen (vgl. Angermüller 2007c: 139-155, Pérennec 2007). Die Analyse besteht im Kern darin, den Diskurs in seine Bestandteile zu zerlegen (und nicht auszulegen). Zunächst werden Sprecher (per), diskursive Figuren ([l], [x], [a], [q]) und semantische Einheiten1 (P, B, F etc.) isoliert; dann werden Sprecher und semantische Einheiten verknüpft; dann wird gefragt, welcher Sprecher sich mit welcher diskursiven Figur verbinden lässt; schließlich erhält jeder Sprecher eine Nummer (1, 2, n) und es wird die Zugehörigkeit zur Aussage (per1, 2, n) kenntlich gemacht: per1 (1) [l] P(1): „schön formalisiert“
In der folgenden Analyse wird zwischen dem realen Menschen und dem Lokutor unterschieden. Das „sprechende Subjekt“ bezeichnet hier den institutionellen Menschen, wobei der Lokutor nur den ausführenden Sprecher meint. „Sprechendes Subjekt“ und „Sprecher“ sind beide Lokutoren, insofern sie deiktisch gezeigt werden können. Sie müssen aber nicht notwendigerweise zusammenfallen (vgl. Pérennec 2007). Da es gerade in politischen Diskursen üblich ist, dass nicht derjenige, dem ein Text zugeschrieben wird, mit demjenigen identisch ist, der den Text tatsächlich geschrieben hat, soll im Folgenden der institutionelle Absender einer Aussage mit dem Begriff „institutionelle Adresse“ bezeichnet werden. So wird hier dem textuellen Verantwortungsträger (dem Lokutor) ein institutioneller Verantwortungsträger (die institutionelle Adresse) an die Seite gestellt. Dies kann folgendermaßen aussehen: (1) „Ich bin nicht für Studiengebühren“ (Pressemitteilung BMBF, E. Bulmahn) per1 (1) [a] P(1): „ich“ ist für Studiengebühren per1 (2) [l]: NEIN per1 (1) Wer spricht? 1
Nicht jedoch Inhalte. Die Inhalte ordnet erst der Leser in Interpretationsprozessen zu. 167
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Frage: Auf wen wird mit „ich“ gezeigt? Antwort durch die Information im Kotext: „E. Bulmahn“ Antwort durch Blick auf den institutionellen Kontext: „Pressesprecher des BMBF“ Institutionelle Adresse: „E. Bulmahn“ Diskurse können aber auch Äußerungsquellen und anonyme Sprecher zu Wort kommen lassen: (1) „Wir wissen, dass die Bürger/innen Europas mehr Geld für Bildung fordern“ per1 (1) [q] P(1): „mehr Geld für Bildung!“ per1 (2) [x] P(2): per1 (1) „fordert P(1)“ per1 (3) [l] P(3): „Wir“ weiß, dass per1 (2) WAHR Wer spricht? q (Äußerungsquelle): „Bürger/innen Europas“ x (anonymer Sprecher), institutionelle Adresse unklar: Wissenschaftler, vielleicht Sozialforscher? l (Lokutor), institutionelle Adresse unklar: Wissenschaftler, vielleicht Bildungsökonom?
Exkurs: Ende Der folgende Text wurde in einzelne Aussageabschnitte gegliedert, die von (1) bis (33) durchnummeriert sind, und lässt sich zunächst grob in drei thematische Blöcke einteilen. Der erste Block (1) bis (12) beschreibt einleitend die allgemeine Bedeutung der Hochschulen für Europa, der zweite Block (13) bis (21) leitet die dann folgende Aufzählung der Hochschulreformmaßnahmen ein. Von (22) bis (33) werden schließlich Maßnahmen aufgezählt, wobei hier exemplarisch eine Beschränkung auf die Maßnahme vorgenommen wurde, die als eine der einschneidendsten Maßnahmen im „Bologna-Prozess“ gilt (Bachelor und Master). Zudem wurden die unterschiedlichen Formulierungen dieser Reformmaßnahme auch aus dem Prag-Kommuniqué und dem BerlinKommuniqué angeführt. „(1) Dank der außerordentlichen Fortschritte der letzten Jahre ist der europäische Prozess für die Union und ihre Bürger zunehmend eine konkrete und relevante Wirklichkeit geworden. Die Aussichten auf eine Erweiterung der Gemeinschaft und die sich vertiefenden Beziehungen zu anderen europäischen 168
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Ländern vergrößern die Dimension dieser Realität immer mehr. (2) Inzwischen gibt es in weiten Teilen der politischen und akademischen Welt sowie in der öffentlichen Meinung ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas, (3) wobei wir insbesondere auf seinen geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen aufbauen und diese stärken sollten. (4) Inzwischen ist ein Europa des Wissens weitgehend anerkannt als unerlässliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als unverzichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft; (5) dieses Europa des Wissens kann seinen Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends ebenso vermitteln wie ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem sozialen und kulturellen Raum. (6) Die Bedeutung von Bildung und Bildungszusammenarbeit für die Entwicklung und Stärkung stabiler, friedlicher und demokratischer Gesellschaften ist allgemein als wichtigstes Ziel anerkannt, besonders auch im Hinblick auf die Situation in Südosteuropa. (7) Die Sorbonne-Erklärung vom 25. Mai 1998, die sich auf diese Erwägungen stützte, betonte die Schlüsselrolle der Hochschulen für die Entwicklung europäischer kultureller Dimensionen. (8) Die Erklärung betonte die Schaffung des europäischen Hochschulraumes als Schlüssel zur Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung seiner Bürger und der Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt. (9) Mehrere europäisch Länder haben die Aufforderung, sich für die in der Erklärung dargelegten Ziele zu engagieren, angenommen und die Erklärung unterzeichnet oder aber ihre grundsätzliche Übereinstimmung damit zum Ausdruck gebracht. (10) Die Richtung der Hochschulreformen, die mittlerweile in mehreren Ländern Europas in Gang gesetzt wurden, zeigt, dass viele Regierungen entschlossen sind zu handeln. (11) Die europäischen Hochschulen haben ihrerseits die Herausforderung angenommen und eine wichtige Rolle beim Aufbau des europäischen Hochschulraumes übernommen, auch auf der Grundlage der in der Magna Charta Universitatum von Bologna aus dem Jahre 1988 dargelegten Grundsätze. (12) Dies ist von größter Bedeutung, weil Unabhängigkeit und Autonomie der Universitäten gewährleisten, dass sich die Hochschul- und Forschungssysteme den sich wandelnden Erfordernissen, den gesellschaftlichen Anforderungen und den Fortschritten in der Wissenschaft laufend anpassen. (13) Die Weichen sind gestellt und das Ziel ist sinnvoll. (14) Dennoch bedarf es kontinuierlicher Impulse, um das Ziel größerer Kompatibilität und Vergleichbarkeit der Hochschulsysteme vollständig zu verwirklichen. (15) Um sichtbare Fortschritte zu erzielen, müssen wir diese Entwicklung durch Förderung konkreter Maßnahmen unterstützen. (16) An dem Treffen am 18. Juni nahmen maßgebliche Experten und Wissenschaftler aus allen unseren Ländern teil, (17) und das Ergebnis sind sehr nützliche Vorschläge für die zu ergreifenden Initiativen. (18) Insbesondere müssen wir uns mit dem Ziel der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems befassen. (19) Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation lässt sich 169
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an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere Länder besitzt. (20) Wir müssen sicherstellen, dass die europäischen Hochschulen weltweit ebenso attraktiv werden wie unsere außergewöhnlichen kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen. (21) Wir bekräftigen unsere Unterstützung der in der Sorbonne-Erklärung dargelegten allgemeinen Grundsätze, und wir werden unsere Maßnahmen koordinieren, um kurzfristig, auf jeden Fall aber innerhalb der ersten Dekade des dritten Jahrtausends, die folgenden Ziele, die wir für die Errichtung des europäischen Hochschulraumes und für die Förderung der europäischen Hochschulen weltweit für vorrangig halten, zu erreichen: (22) Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, auch durch die Einführung des Diplomzusatzes (Diploma Supplement) mit dem Ziel, die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern. (23) Einführung eines Systems, das sich im wesentlichen auf zwei Hauptzyklen stützt: einem Zyklus bis zum ersten Abschluss (undergraduate) und einen Zyklus nach dem ersten Abschluss (graduate). (24) Regelvoraussetzung für die Zulassung zum zweiten Zyklus ist der erfolgreiche Abschluss des ersten Studienzyklus, der mindestens drei Jahre dauert. (25) Der nach dem ersten Zyklus erworbene Abschluss attestiert eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene. (26) Der zweite Zyklus sollte, wie in vielen europäischen Ländern, mit dem Master und/oder der Promotion abschließen. [...]“ (aus: „Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, Bologna, 19. Juni 1999“, vgl. Bildungsminister 1999)
Beim Lesen dieses Textes fällt zunächst die teilweise „feierliche“ und „blumige“ Sprache auf („Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation lässt sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere Länder besitzt“, Aussage [19]). Die Bologna-Erklärung beruft sich auf allgemeine Werte wie „Frieden“, „Internationalität“, „Fortschritt“ und „Gemeinschaftlichkeit“ (vgl. insbesondere Aussage [1] bis [6]). Auf der anderen Seite wirkt dieser Text etwas kantig, hölzern und technokratisch. Diese Wirkung wird insbesondere durch die zahlreichen Nominalisierungen wie „Qualifizierung“, „Entwicklung“ (8), „Aufforderung“, „Übereinstimmung“ (9) oder „Wettbewerbsfähigkeit“ (18) hervorgerufen. Der Text ist mit solchen Nominalisierungen regelrecht übersät. Bei insgesamt 641 Wörtern enthält der Text ca. 65 Nominalisierungen, wobei hier nur solche mitgezählt wurden, die durch „-ung“, „-ät“, „-keit“ oder ähnliche Formen noch ein Formmerkmal tragen, das eine ursprüngliche Äußerung dokumentiert. Dies ist eine Quote von über 10%. Demgegenüber können nur 14 Formen von Subjektivität gefunden werden,
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wobei hier Doppelungen wie „wir, uns“ oder „wir, insbesondere“ nicht als eine Form, sondern als jeweils zwei Formen gezählt wurden. Dies ist lediglich eine Quote von 2%. Dieser Aspekt des Bologna-Diskurses soll im nächsten Abschnitt ausführlicher behandelt werden. Hier steht zunächst die Frage im Mittelpunkt, welche Forderungen (F) und Bedeutungen (B) der Text hervorbringt, wie konkret und damit potentiell handlungsweisend diese Forderungen und Bedeutungen sind und wer dafür verantwortlich zeichnet.
Aussage (1) bis (3): die anonymen Anderen fordern lassen In der Aussage (1) wird konstatiert, dass „der europäische Prozess“ für „die Union und ihre Bürger“ eine „konkrete“ und „relevante“ „Wirklichkeit“ geworden ist, und dass sich „die Dimension dieser Realität“ durch die „Erweiterung“ und sich „vertiefenden Beziehungen“ zu „anderen europäischen Ländern“ „vergrößert“. In Aussage (2) lässt der Lokutor mit „weiten Teilen der politischen und akademischen Welt“ und der „öffentlichen Meinung“ eine Äußerungsquelle Q(2) zu Wort kommen, die sich für die „Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas“ [F(2)] aussprechen. Allerdings wird diese Forderung F(2) nicht an einen aktiven „Willen“ oder ein transparentes „Interesse“ gebunden, sondern an ein eher passives „wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas“. Durch das Personalpronomen „wir“ in Aussage (3) solidarisiert sich der Lokutor, der mit der institutionellen Adresse, den Unterzeichnern dieser Erklärung (die Minister), identisch ist, zunächst vordergründig mit F(2). Diese Solidarisierung erfolgt durch das Relativadverb „wobei“, das in diesem Kontext F(2) ergänzt um die Forderung danach, „auf seinen geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen“ [F(3)] aufzubauen. Damit wird die Forderung F(2) um eine weitere Forderung F(3) ergänzt bzw. spezifiziert und durch das Adverb „insbesondere“ bekräftigt. Der Lokutor wird durch den axiologischen Partikel „insbesondere“ und das Personalpronomen „wir“ sichtbar. Das inkludierende „wir“ verweist nicht nur deiktisch auf die Unterzeichner der BolognaErklärung, sondern inkludiert auch Q(2). Interessanter mit Blick auf die polyphone Struktur dieser Aussage ist dagegen das Relativadverb „wobei“ und das Adverb „insbesondere“. Das Relativverb „wobei“ kann einerseits als eine Abwandlung von „und“ gelesen werden und anderseits als eine Form von „aber“. Lesen wir „wobei“ als eine Abwandlung von „und“, dann würde „wobei“ F(2) mit F(3) lediglich verketten. Lesen wir „wobei“ hingegen als eine Abwandlung von „aber“, dann würde durch „wobei“ F(2) zumindest relativiert, nicht jedoch vollständig zurückge171
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wiesen. Für diese Leseweise spricht die Verkettung von „wobei“ mit „insbesondere“, weil durch das Adverb „insbesondere“ in Aussage (3) F(3) als einen Aspekt ins Spiel gebracht wird, der in F(2) unterbelichtet blieb. Zunächst verweist „wobei“ anaphorisch auf F(2) zurück und leitet in Verbindung mit „insbesondere“ kataphorisch eine Spezifizierung von F(2) ein. Dies gelingt aber nur um den Preis einer latenten Distanzierung von F(2). Nach Brown/Yule (1989) induziert das Relativverb „wobei“ eine Implikatur von F(2), die von einem Sprecher per3 (1) vertreten wird und in etwa folgendermaßen ausformuliert werden könnte: „Die Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas lässt sich beliebig herstellen“ [per3 (2): I(3)]. Demgegenüber steht ein Sprecher per3 (3), der I(3) verneint: „NEIN [per3 (2)]“ [per3 (3) [l]]. Der Lokutor weist per3 (1) zurück und solidarisiert sich mit per3 (2), wodurch der Lokutor in eine kritische Distanz zu Q(2) manövriert wird. Diese Haltung der kritischen Distanz zu Q(2) evoziert einen Sprecher per3 (4), der F(3) als Spezifizierung von F(2) vertritt, wobei der Lokutor sich mit diesem Sprecher solidarisiert: per2 (1) [q] F(2): „die Notwendigkeit der Errichtung eines vollständigeren und umfassenderen Europas“ per3 (2) [a] I(3): „F(2) lässt sich beliebig herstellen“ („wobei“) per3 (3) [l1]: NEIN per3 (1) („wobei“) per3 (4): [l0] F(3): „wir sollten insbesondere auf seinen geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen aufbauen und diese stärken“ WEIL [per3 (3)]
Das dialogische Feld wird über eine argumentative Implikatur aufgespannt, indem der Lokutor über das Relativverb „wobei“ Stellung zu per2 (1) F(2) bezieht, ohne per2 (1) F(2) allerdings direkt zu unterzeichnen. Damit gelingt es dem Lokutor, sich mit per2 (1) F(2) indirekt zu solidarisieren, ohne die unmittelbare Verantwortung dafür zu übernehmen. Diese dialogische Konstruktion hat den strategischen Vorteil, dass der Lokutor die Inhalte der Forderung F(2) übernehmen kann, ohne den illokutionären Modus der Forderung, der Q(2) zugeschrieben wird, übernehmen zu müssen. Der Lokutor überlässt es den „weiten Teilen der politischen und akademischen Welt“ und „der öffentlichen Meinung“ die Forderung aufzustellen, um sich dann auf das, was einmal im Raum steht, beziehen zu können. Die vom Lokutor angenommene Position lie172
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ße sich folgendermaßen umschreiben: „angesichts der Forderung per2 (1) [q] F(2) gilt per3 (4) F(3)“, wobei F(2) nun von F(3) impliziert werden muss. Der Lokutor versteckt sich in gewisser Hinsicht hier hinter per2 (1) [oder Q(2)], indem per2 (1) weder vollständig angenommen, noch zurückgewiesen wird. Erst die Abspaltung des illokutionären Modus von den Inhalten erlaubt es dem Lokutor, die Inhalte zu übernehmen. Mit Blick auf die Inhalte, die hier vorgetragen werden, wirkt dieses komplizierte Manöver jedoch irritierend, werden doch hier lediglich Allgemeinplätze vorgetragen, die nach semantischer Sättigung verlangen. Was genau ist mit einem „vollständigerem und umfassenderem Europa“ gemeint und worin bestehen die „geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen“, auf die aufgebaut werden soll?
Aussage (4) bis (5): die anonymen Anderen behaupten lassen In Aussage (4) und (5) werden zwei Behauptungen aufgestellt. Die erste Behauptung wird in der 3. Person Singular hervorgebracht, der „NichtPerson“ nach Benveniste. Diese Behauptung könnte als eine Metabehauptung bezeichnet werden, die eine andere Behauptung enthält [MetaB(4) = „Es ist anerkannt, dass B(4)“]. Das Adverb der Zeit „inzwischen“ markiert den Lokutor, indem der Sprecher per4/5 (3), der die Behauptung MetaB(4)2 verantwortet, am Zeitpunkt der Äußerung T0 verortet wird. Die andere Behauptung, die in MetaB(4) behauptete Behauptung, besagt, dass ein „Europa des Wissens“ eine „unerlässliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als unverzichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft“ ist und „seinen Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends ebenso vermitteln“ kann „wie ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem sozialen und kulturellen Raum“ [B(4)]. Diese Behauptung B(4) wird vom Lokutor zwar angenommen. Dafür holt er sich allerdings durch die Metabehauptung die Unterstützung einer anonymen Äußerungsquelle. Ohne die Adverbien „inzwischen“ und „weitgehend“ würde hier „jedermann“ in Zeit und Raum als Quelle von MetaB(4) infrage kommen. Durch das Adverb „weitgehend“ wird dieser völlig unbestimmte Raum auf die möglichst unbestimmte Art und Weise, die die deutsche Sprache zur Verfügung stellt, eingegrenzt. Würde der Lokutor B(4) auch verantworten, wenn er die Unterstützung durch die, die B(4) „anerkannt“ haben, nicht hätte? Zudem wird 2
Die sich auch auf Aussage (5) bezieht, was aber hier nicht weiter berücksichtigt werden soll. 173
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durch die Negation „un-“ in „unerlässlich“ ein Dialog zwischen zwei widersprechenden Perspektiven inszeniert: per4 (1) [a] B(4): „Ein Europa des Wissens ist eine erlässliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung [...]“ per4 (2) [q] B(4): NEIN [per4 (1)] per4 (3) [x] MetaB(4): [per4 (2)] („anerkannt“) per4 (4) [l0] P(4): JETZT, VIELLEICHT [per4 (3)] („inzwischen“ „weitgehend“)
Der Lokutor verknüpft zwei anonyme Äußerungsquellen, wovon die eine Äußerungsquelle ([q]) die Behauptung vertritt und die andere diese Behauptung kommentiert ([x]). Der Lokutor tritt durch die Grenzziehung hervor, indem [x] dem Zeitpunkt „jetzt“ zugeordnet wird. Ein strategischer Vorteil einer solchen schwammigen Grenzziehung liegt darin, dass er einen Streit über die Grenze selbst erschwert. Da nicht klar ist, wo die Grenze zwischen denjenigen, die einverstanden sind, und denjenigen, die nicht einverstanden sind, verläuft, kann keine Seite der anderen vorwerfen, falsche Lager zu konstruieren. Jeder ist aufgefordert, sich selbst seine Grenze zu ziehen. An dieser Stelle wird die zweite Bedeutung des Adverbs der Zeit „inzwischen“ virulent. „Inzwischen“ kann in B(4) als eine Variante des deiktischen Partikels der Zeit „jetzt“ gelesen werden. Demnach markiert „Inzwischen“ einen zeitlichen Ort, ein „hier“, der wiederum einen anderen zeitlichen Ort, ein „damals“, impliziert. Anders als „jetzt“ könnte „inzwischen“ folgendermaßen umschrieben werden: „Jetzt gilt X, damals galt nicht-X“. Dadurch wird B(4) mitsamt der durch das Adverb „weitestgehend“ evozierten Grenze in einem Raum des „jetzt“ verortet, wobei der nicht weiter spezifizierte Raum des „damals“ als eine Art Rückzugsgebiet für jene zur Verfügung steht, die per4 (3) widersprechen bzw. widersprochen haben [per4 (2)]. Der Kreis derjenigen, die per4 (2) unterschreiben würden, wird also durch zwei Grenzziehungen markiert, die einerseits so schwammig sind, dass niemand weiß, wer genau wo steht („weitgehend“) und wann genau das einmal anders gewesen sein soll („inzwischen“). Andererseits sind sie so unklar formuliert, dass die Grenze selbst kaum verortbar ist. Darüber hinaus kann der Lokutor sich schnell wieder von per4 (4) zurückziehen. Denn durch die Anwendung der 3. Person wird exophorisch eine anonyme Instanz verwiesen, der keiner widerspricht und zu der niemand Stellung beziehen muss. So lässt der Lokutor anonyme Instanzen Be-
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hauptungen vertreten, die, wie schon in den Aussagen davor, über Allgemeinplätze nicht hinauskommen und inhaltlich nicht spezifiziert werden.
Aussage (6) bis (10): Sich selbst woanders sprechen lassen Aussage (6) wiederholt im Kern den Inhalt der Aussage (4) und (5). Interessanter für die diskursive Operationsweise der Bologna-Erklärung sind dagegen die Aussagen (7) bis (10). Hier wird zunächst mittels des anaphorischen Pronomens „diese“ behauptet, dass die SorbonneErklärung, die ein Jahr vor der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung in Paris von Deutschland, Frankreich, Groß Britannien und Italien unterschrieben wurde, sich auf B(4) bezieht und darüber hinaus, dass die Sorbonne-Erklärung „die Schlüsselrolle der Hochschulen für die Entwicklung europäischer kultureller Dimension“ und „die Schaffung des europäischen Hochschulraumes als Schlüssel zur Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung seiner Bürger und der Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt“ [B(7)] betont. Die Sorbonne-Erklärung fungiert hier ebenfalls als eine Äußerungsquelle [Q(7)], der die Behauptungen B(4) und B(7) zugeschrieben werden: per7 (1) [q] B(7): „die Hochschulen haben eine Schlüsselrolle für die Entwicklung europäischer kultureller Dimension“ UND „die Schaffung des europäischen Hochschulraumes ist der Schlüssel zur Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung seiner Bürger und der Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt“ per8 (1) [l] B(8): [q] sagt und betont, dass [per7 (1)]
Die Partikel „mehrere Europäische Länder“, „in mehreren Ländern Europas“ und „viele Regierungen“ verweist auf eine weitere Äußerungsquelle [Q(9)], wobei Aussage (9) die gleiche Struktur aufweist wie Aussage (7) und (8). Der Lokutor wird in den Aussagen (7) bis (10) nirgends sichtbar. Die Unterzeichner, die das, was dem Lokutor zugeschrieben wird, verantworten müssen, beziehen keine Position. Das heißt, dass die Unterzeichner, die institutionelle Adresse (IA) der Bologna-Erklärung, auf Q(7) und Q(9) [bzw. auf per7 (1)] verweisen, um über diverse Forderungen zu berichten. Ein Blick auf den Kontext verrät uns allerdings, dass jene institutionellen Adressen (IA), die sich mit Q(7) und Q(9) verbinden, weitestgehend die gleichen IAs sind, wie die, die das im Berichtsmodus Beschriebene verantworten müssen.
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Die Unterzeichner (IA) verweisen auf die Sprecher der Äußerungsquellen Q(7) und Q(9) und lassen so sich selbst woanders sagen, was sie hier dokumentieren. Das Individuum spaltet sich in ein Subjekt des Geforderten [Q(7)/Q(9)] und ein Nicht-Subjekt des Berichtens (IA). Der Vorteil dieser Strategie liegt darin, dass erstens nicht alle institutionellen Adressen (IA) identisch sein müssen mit all jenen, die im Kontext dieser Aussage an den Äußerungsquellen Q(7) und Q(9) gefunden werden können und zweitens jede institutionelle Adresse (IA) sich beliebig von Q(7) und Q(9) distanzieren oder emphatisch damit identifizieren kann. Für ein und dieselbe IA stehen mit Q(7), Q(9) und dem leeren Ort (IA) demnach drei diskursive Positionen bereit, auf die es nach Gutdünken hin und her springen kann. Der Lokutor verschiebt die Verantwortung für die Forderungen damit auf unterschiedliche Äußerungsquellen, wobei die institutionelle Adresse dieser Aussage mit der institutionellen Adresse der Äußerungsquellen oft identisch ist. So gelingt es den Ministern nicht einmal die Forderungen, die sie selbst woanders geäußert haben, hier als Forderungen zu wiederholen. Während der Lokutor in den Aussagen (1) bis (5) noch Äußerungsquellen zu Wort kommen lässt, die anderen institutionellen Adressen („öffentliche Meinung“) zugeschrieben werden können, werden hier Äußerungsquellen hervorgebracht, die mit den institutionellen Adressen des Lokutors fast identisch sind. Damit zitiert der Lokutor eine Verantwortlichkeitsinstanz, die die gleiche institutionelle Adresse wie der Lokutor selbst aufweist, ohne dass der Lokutor jedoch das, was er dort behauptet und gefordert hat, hier verantwortet.
Aussage (13) bis (21): Der „Spannungsbogen“ und die permanente Perpetuierung des Bedeutungskerns Wenn wir nach den ersten zwölf Aussagen der Bologna-Erklärung hier ein Zwischenfazit ziehen, dann kommen wir zu dem Schluss, dass bisher lediglich Allgemeinplätze ohne konkrete, geschweige denn handlungsanweisende Bedeutungen aneinandergereiht wurden. Das Dokument liest sich bis hier her wie eine Lobrede auf nichts, wobei selbst diese bedeutungsschwachen Allgemeinplätze überwiegend nur von anonymen Figuren verantwortet werden: Ein Heer anonymer Niemande sagt etwas, das sich bei näherer Betrachtung als nichts erweist… In Aussage (13) wird demgegenüber eine Art Wendepunkt markiert. Mit der konstativen Aussage „die Weichen sind gestellt“ wird auf alles vorher Gesagte anaphorisch zurückverwiesen, wobei der Lokutor im zweiten Teilsatz von Aussage (13) „und das Ziel ist sinnvoll“ [B(13)] eine Sprecherperspektive per13 (1) eine Art „feierliches Bekenntnis“ zum „Ziel“ vortragen lässt, mit dem der Lokutor sich solidarisiert („sinn176
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voll“). Hier tritt der Lokutor – der verantwortliche Sprecher des Textes – durch den axiologischen Partikel „sinnvoll“ erstmalig mit einer Stellungnahme hervor. Der „feierliche“ Akt der Identifizierung mit dem „Ziel“ impliziert hier allerdings eine semantische Tiefe, die durch das bisher Gesagte nicht gerechtfertigt werden kann. Vielmehr verlangen diese Allgemeinplätze selbst noch nach semantischer Bestimmung. Der Leser der Bologna-Erklärung hat an dieser Stelle im Grunde zwei Möglichkeiten. Entweder er legt das Dokument frustriert zur Seite, oder er entwickelt eine Erwartungshaltung und lässt sich auf die letzten Zeilen der Bologna-Erklärung vertrösten. Diese Erwartung nach einer fassbaren und potentiell handlungsleitenden Bedeutung der Bologna-Erklärung wird durch die latente Distanzierung des Lokutors in Aussage (14) neu aufgebaut. So wird in Aussage (13) und (14) ein neuer Spannungsbogen und eine damit verbunden Erwartungshaltung erzeugt. Die latente Distanzierung von dem „emphatischen“ Bekenntnis B(13) in Aussage (13) weist zwar eine ähnliche Struktur wie die „Spezifizierung“ in Aussage (2/3) auf, konstituiert allerdings eine Sprecherperspektive, die den Leser über die dann folgenden, spannungsgeladenen Zeilen hinweg begleiten wird. „Dennoch“ evoziert eine Implikatur von B(13), die von einem Sprecher per13 (2) vertreten wird: „Die Weichen sind gestellt, das Ziel ist sinnvoll und der Zug fährt von alleine“ [per13 (2): I(13)], sowie eine weitere Sprecherperspektive per13 (3), die diese Implikatur zurückweist: „Nein, von alleine fährt der Zug nicht“ [per13 (3): I(13x)]. Der Lokutor weist per13 (2) dem Allokutor zu, nimmt die von per13 (3) vertretene Implikatur I(13x) an und lässt per13 (3) dadurch als eine Figur hervortreten, die es in gewisser Hinsicht „besser weiß“ als per13 (2). Damit gibt der Lokutor einem Sprecher per14 (1) Recht, der mit „erhobenem Zeigefinger“ den Leser darauf hinweist, dass es „kontinuierlicher Impulse“ (14) und der „Förderung konkreter Maßnahmen“ (15) [F(14)] bedarf. per13 (1) [l] B(13): „die Weichen sind gestellt und das Ziel ist sinnvoll“ per13 (2) [a] I(13): „der Zug fährt von allein“ („Dennoch“) per13 (3) [l1] I(13x): NEIN [per13 (2)] („Dennoch“) per14 (1) [l0] F(14): „es bedarf kontinuierlicher Impulse, um das Ziel größerer Kompatibilität und Vergleichbarkeit der Hochschulsysteme vollständig zu verwirklichen“ WEIL [per13 (3)]
Der Text leitet hier eine Art Finale ein, indem der Lokutor eine Implikatur von B(13) dialogisch verhandeln lässt und per13 (3) argumentativ mit 177
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per14 (1) verknüpft. So konstituiert der Text einen Leser, der aufgefordert wird, den Raum nach Möglichkeiten danach abzusuchen, worauf per14 (1) F(14) hinweist, wobei die Erwartung geschürt wird, dass die Lösung für F(14) in den kommenden Zeilen zu finden sein wird. Denn durch die argumentative Verknüpfung von per13 (2) mit per14 (1) muss eine Sprecherperspektive angenommen werden, die über ein spezifisches Wissen verfügt. Worauf verweist die Aufforderung nach „kontinuierlichen Impulsen“? Was ist ein „vollständigere[s] und umfassendere[s] Europa“ (2), ein „Europa des Wissens“ (4)? Worin besteht nun die „Bedeutung von Bildung und Bildungszusammenarbeit“ (6) und „die Schlüsselrolle der Hochschulen“ (7), welche Elemente enthält der „Europäische Hochschulraum“ „als Schlüssel zur Förderung der Mobilität und arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung seiner Bürger und der Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt“ (7)? Was ist schließlich das genaue „Ziel“? Bevor per14 (1) allerdings diese Frage(n) beantwortet, verweist die Bologna-Erklärung in Aussage (18) mit „an dem Treffen am 18. Juni“ zunächst auf sich selbst, das heißt auf den Akt der Unterzeichnung, und rekrutiert einige Experten („nahmen Experten und Wissenschaftler aus allen unseren Ländern teil“), um den zuvor installierte Sprecher per14 (1), der dem Leser gegenüber vorgibt, über ein spezifisches Wissens zu verfügen, mit noch mehr Prestige auszustatten. Hinter per14 (1) versammelt sich also nicht nur eine internationale, „europäische“ politische Prominenz (die Minister), sondern auch „Experten“ und „Wissenschaftler“. Dadurch kann der Spannungsbogen für den Leser in letzter Sekunde noch einmal um ein paar Grad gedehnt werden. Der Leser muss sich allerdings noch über einige feierliche und staatstragende Formulierungen („Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation lässt sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere Länder besitzt“ [19]) hinweg gedulden, bis er erfährt, wie der „Europäischen Hochschulraum“ innerhalb der „ersten Dekade des dritten Jahrtausends“ (21) erbaut werden soll.
Aussagen (23) bis (31): (um) den Reforminhalt (herum) beschreiben Eine der in Deutschland populärsten Maßnahme, die zur Schaffung eines Europäischen Hochschulraumes umgesetzt werden soll, ist die Einführung von Bachelor und Master. Diese Maßnahme wird in der BolognaErklärung folgendermaßen festgeschrieben: „[...] (23) Einführung eines Systems, das sich im wesentlichen auf zwei Hauptzyklen stützt: einem Zyklus bis zum ersten Abschluss (undergraduate) 178
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und einen Zyklus nach dem ersten Abschluss (graduate). (24) Regelvoraussetzung für die Zulassung zum zweiten Zyklus ist der erfolgreiche Abschluss des ersten Studienzyklus, der mindestens drei Jahre dauert. (25) Der nach dem ersten Zyklus erworbene Abschluss attestiert eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene [...]“
Hier wird klar und deutlich gesagt, dass es sich um zwei aufeinander folgende Abschlüsse handelt, wobei die Zulassung zum zweiten Zyklus den erfolgreichen Abschluss des ersten Zyklus’ zur Voraussetzung hat, der selbst schon berufsqualifizierend sein und mindestens drei Jahre andauern soll. Der zweite Abschluss wird folgendermaßen umschrieben: „[...] (26) Der zweite Zyklus sollte, wie in vielen europäischen Ländern, mit dem Master und/oder der Promotion abschließen [...]“
Damit „beschlossen“ die Minister die Existenz der Realitäten an europäischen Hochschulen: ein Abschluss, der mindestens drei Studienjahre umfasst und ein darauf aufbauender Abschluss, der zum Master und/oder zur Promotion führt. Auf der Ministerkonferenz, die zwei Jahre später in Prag stattfand, einigten sich die Minister auf folgende Formulierung: „[...] (27) Mit Genugtuung haben die Ministerinnen und Minister festgehalten, dass das Ziel – (28) die Einführung gestufter Abschlussgrade, die auf zwei Hauptstufen basieren, wobei Hochschulbildung als Undergraduate-Studium und Graduate-Studium definiert wird – in Angriff genommen und erörtert worden ist. (29) Einige Länder haben diese Struktur bereits eingeführt, und einige weitere Länder sind stark daran interessiert. (30) Es ist wichtig festzustellen, dass in vielen Ländern die Abschlüsse als Bachelor und Master oder vergleichbare zweistufige Abschlüsse an Universitäten und an anderen Hochschuleinrichtungen erworben werden können. [...]“ (aus: „Auf dem Wege zum Europäischen Hochschulraum, Kommuniqué des Treffens der Europäischen Bildungsminister, Prag, 19. Mai 2001“, vgl. Bildungsminister 2001)
Neu ist an den Kommuniqués, dass das Verhältnis zwischen dem Lokutor und der institutionellen Adresse unklar wird. Das Kommuniqué installiert einen „Erzähler“, der über das, was die Minister auf der Konferenz gesagt, getan und gedacht haben, berichtet („Mit Genugtuung haben die Ministerinnen und Minister festgehalten, dass X“ (27)). Damit wird die Einheit von institutioneller Adresse und Lokutor aufgehoben. Anders als in der Bologna-Erklärung wird hier der Blick auf die Geschehnisse der Ministertreffen gerichtet. Das Kommuniqué doku179
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mentiert demnach einen originären Akt, der als Quelle von Forderungen und Behauptungen fungiert. Musste der Leser im Falle der BolognaErklärung noch im Dokument selbst nach Forderungen und Behauptungen suchen, so ist er hier aufgefordert, das Ministertreffen selbst als direkte Äußerungsquelle und Verantwortlichkeitsinstanz aufzusuchen. Die Worte des Kommuniqués sind keine Entscheidungen mehr; vielmehr dokumentieren sie eine Entscheidung/Forderung/Behauptung. Das Kommuniqué ist demnach ein zitierender Diskurs, wobei die Texte des zitierten Diskurses nicht in schriftlicher Form vorliegen. Andererseits ist das Kommuniqué ein amtliches Dokument, wofür die Minister die institutionelle Verantwortung tragen, und kein journalistischer Bericht. In diesem Sinne schwankt das Kommuniqué zwischen einem zitierenden und einem zitierten Diskurs. Diese Ambiguität eröffnet einen Zwischenraum, der den Bereich möglicher Interpretationen erweitert und gleichzeitig die textuelle Grundlage für Interpretationen aufweicht. Weitere zwei Jahre später, auf der Berlin-Konferenz 2003, wird die Problematik des zweistufigen Studiensystems schließlich folgendermaßen formuliert: „[...] (31) Die Abschlüsse des ersten Studienzyklus sollten im Sinne des Lissabon-Abkommens den Zugang zum zweiten Zyklus, Abschlüsse des zweiten Zyklus den Zugang zum Doktorandenstudium ermöglichen. [...]“ (aus: „Den Europäischen Hochschulraum verwirklichen, Kommuniqué der Europäischen Bildungsminister, Berlin, 19. September 2003“, vgl. Bildungsminister 2003)
Hier lässt der Lokutor einen Erzähler auftreten, der mehr oder weniger empfiehlt („sollte“), dass der zweite Abschluss dem ersten folgt und das Doktorandenstudium dem zweiten Abschluss. Damit lassen die Minister vier Jahre nach der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung ihrem Erzähler erstmalig eine halbwegs klare Empfehlung verkünden, wonach es nicht zwei, sondern drei Abschlüsse geben soll(te). Einen feierlichen Beschluss der Minister selbst, wo der erste Abschluss den Titel „Bachelor“ und der zweite Abschluss den Titel „Master“ trägt, finden wir auch im Kommuniqué der dritten Bologna-Nachfolgekonferenz in Bergen 2005 nicht.
Zusammenfassung Zusammenfassend können drei Merkmale der europäischen Bolognabeschlüsse festgehalten werden. Erstens konnten weder klare Behauptungen noch handlungsweisende Forderungen herausgearbeitet werden. Die 180
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Bologna-Erklärung enthält ebenso wie die Nachfolgekommuniqués nur Allgemeinplätze, die keinen, einen nur sehr schwammigen oder fast jeden semantischen Inhalt annehmen können. Zweitens werden diese schwammigen Allgemeinplätze überwiegend nicht von den Ministern, sondern von anonymen Äußerungsquellen verantwortet. Die institutionelle Verantwortung dafür tragen allerdings die Minister. Und drittens konnte ein Mechanismus der Aufschiebung des semantischen Kerns herausgearbeitet werden. Indem nur Allgemeinplätze aneinandergereiht werden, steht der Leser vor der Wahl, entweder die Bologna-Erklärung als ein nichtssagendes, irrelevantes Dokument abzuqualifizieren, oder aber sich nach jedem Satz auf den folgenden erwartungsvoll vertrösten zu lassen und schließlich sein interpretatives Geschick auf das, was zwischen den Zeilen steht, zu lenken. Der Leser wird in dieser zweiten Lösung dazu aufgefordert, den Sinn der Bologna-Erklärung selber zu suchen. Schlägt der Leser der Bologna-Erklärung diesen Weg ein, dann muss er diesem Dokument eine institutionelle Relevanz zuschreiben, die ihm interpretative Höchstleistungen abverlangt. Für die Interpretation steht dem Leser allerdings nicht nur die Bologna-Erklärung zur Verfügung. Vielmehr kann er andere Texte und Kontexte mit einbeziehen. Die Bedeutung des Bologna-Prozesses erschöpft sich nicht in der Tiefe der Worte und der Entschlossenheit seiner Minister. Denn die Bedeutung von Diskursen kann nie allein durch Texte geklärt werden. Der Sinn der Texte ist immer auch auf engere und weitere Kontexte und Kotexte angewiesen. Aus der Sicht der Bologna-Erklärung sind die nationalen und regionalen Umsetzungsaktivitäten ein wichtiger Kontext für die Verwendung der Bologna-Dokumente, der zahlreiche weitere Texte bereithält. Ohne diese Kontexte wäre die Bologna-Erklärung auch dann bedeutungslos, wenn ihre Forderungen und Behauptungen inhaltlich etwas aussagen würden (Maeße 2008). Im Folgenden sollen einige Texte analysiert werden, die in diesen nationalen und regionalen Bologna-Kontexten produziert wurden. Aus der Perspektive der Bologna-Erklärung agieren hier empirische Leser, die sich in ihren Diskursen auf die Bologna-Dokumente beziehen. Die empirischen Leser sind mit der semantischen Weitläufigkeit der Forderungen und Behauptungen der Bologna-Dokumente und der unklaren diskursiven Urheberschaft der Beschlüsse konfrontiert, die in diesem Abschnitt herausgearbeitet wurde. Zudem fließen zahlreiche polity- und policy-Kontexte in die nationalen und regionalen Bologna-Diskurse mit ein. Was die nationalen und regionalen Bologna-Leser auszeichnet, ist der Fakt, dass sie die Bologna-Dokumente für die eigene Textproduktion verwenden können. Wie sie dies tun, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden. 181
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Varianten des Konsenses im Bologna-Diskurs Die Blumen-Technokratie Jedes politische Projekt muss sich narrativ im Raum der Ereignisse und in der Zeit, in der es seine Rolle sieht, verorten. Es muss eine Geschichte über sich, seine Umstände, seine Entstehung, eventuell sein Schicksal oder seine Ambitionen erzählen, will es erfolgreich sein. Dabei verortet sich ein Projekt nicht nur in der Zeit, vielmehr muss es die Zeitlichkeit, in der es sich verortet, auch hervorbringen. Konstitutiv für eine narrative Verortung ist die Frage, wie das politische Projekt sich gegenüber anderen Projekten einordnet, wie es sein „hier“ und sein „jetzt“ organisiert, und wie es damit eine spezifische Form von Relevanz entfaltet. Im Folgenden soll anhand von drei paradigmatischen Beispielen gezeigt werden, wie der Bologna-Prozess im Bologna-Diskurs narrativ verortet wird, das heißt wie der Bologna-Prozess seine eigene Geschichte erzählt. Allerdings soll keine Narrationsanalyse vorgenommen werden (vgl. dazu Jameson 1981). Vielmehr will ich mit der äußerungstheoretischen Diskursanalyse zeigen, wie der Bologna-Diskurs das „Ich“, das „Hier“ und das „Jetzt“ des Bologna-Prozesses organisiert und damit spezifische „heroische“, „blumige“ und „technokratische“ Effekte evoziert, die in gewisser Hinsicht auch als „Ethos“ des Bologna-Prozesses bezeichnet werden können (Maingueneau 1996). Eine solche narrativ-diskursive Rahmung des Bologna-Prozesses ist in fast jedem Text und fast jedem Textgenre vorzufinden. In Monographien findet sich diese Rahmung fast immer in der Einleitung. Zeitschriften- und Zeitungsartikel leiten den eigentlichen Beitrag ebenso mit einer kurzen Variante dieser Rahmung ein. Selbst Kommissionsberichte verzichten selten darauf, ganz zu schweigen von den Beschlüssen und Kommuniqués. Die folgenden Beispiele sind dem ersten StocktakingReport zum Stand der Erreichung der Ziele der Bologna-Erklärung, einem Artikel aus der DUZ Sonderbeilage zum Bologna-Prozess 2003 und einem weiteren Artikel der DUZ Sonderbeilage 2005 entnommen. Drei Geschichten… 1) den Aufbruch erleben „[...] (1) Die 90er Jahre des vergangen Jahrhunderts und die Jahrtausendwende waren und sind für die Erneuerung der Hochschullandschaft in Europa eine solche günstige Zeit. (2) Der Fall der Mauer in Berlin gab den Blick frei für eine neue – oder alte? – Vision von Europa. (3) Dies musste gerade auch die Hochschulen berühren, die zu den Kernidentitäten eines durch die Diktaturen und Terrorregime des 20. Jahrhunderts bedrohten Europa gehört hatten. (4) 182
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Nicht zuletzt durch die Programme der Europäischen Union nahm die Mobilität in Europa erheblich zu. (5) Die Zahl der ausländischen Studierenden in Deutschland wuchs von 1992 bis 2001 um über 50%. Im Jahr 2002 konnte allein für das ERASMUS-Programm der millionste Austauschteilnehmer gefeiert werden. (6) Die Vereinbarungen zwischen den Hochschulen führten zu neuem Vergleich und Verständnis. (7) Das allseits anerkannte Ziel, Studienzeitverluste zu vermeiden, und die von den Hochschulen wie auch von den sie tragenden Staaten durchweg geteilte Bereitschaft, in dem entstehenden und zunehmenden Wettbewerb möglichst erfolgreich „dazustehen“, trugen eine neue Dynamik in die Hochschulentwicklung und bauten einen Veränderungsdruck auf, der seine Form suchte. (8) Die Wahrnehmung der wachsenden globalen Verflechtung schließlich, einschließlich die Drohszenarien, die von den privaten Bildungsdienstleistungen und ihren Verfechtern ausgehen, verstärkte die Aufgeschlossenheit für vereinfachte internationale Lösungen. (9) Kurz, nach den großen Veränderungen der politischen Landschaft in Europa und der Welt am Ende der 80er Jahre kam es bottom-up zu einer Unruhe, Offenheit und Veränderungsbereitschaft unter den Hochschulen, wie sie lange nicht bestand [...]“ (aus: „Der Bologna-Prozess – ‚bottom-up‘ und ‚top-down‘“, von Birger Hendriks, Abteilungsleiter für Wissenschaft, Hochschulen und Forschung im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und Hermann Müller-Solger, Leiter der Unterabteilung 31 – Hochschule im Bundesministerium für Bildung und Forschung, in: DUZSpezial 2003, „Von Bologna nach Berlin. Eine Vision gewinnt Kontur“, S. 6/7)
Wer diesen Text liest, der erhält den spontanen Eindruck, dass der Bologna-Prozess nichts Geringeres als eine „neues Zeitalter“ ankündigt. Unter dem Label „Hochschulen“ wird eine „Bewegung“ kreiert, die aus einem epochalen „Dornröschenschlaf“ erwacht ist und nun die Initiative ergriffen hat. Ein „neuer Akteur“ kündigt sich an, der die „großen Veränderungen der politischen Landschaft in Europa und der Welt“ (9) erkannt hat und auf den „Veränderungsdruck“ (7) mit „Unruhe, Offenheit und Veränderungsbereitschaft“ (9) reagiert. Wie bringt der Text solche Effekte hervor? Zunächst evoziert der Diskurs vor allem in Aussage (1) bis (6) durch zahlreiche Nomen und Nominalisierungen seinen Äußerungszeitpunkt t0, der mit dem „historischen“ Zeitpunkt t0, dem Auftauchen „Bolognas“, weitestgehend zusammenfällt, indem unterschiedliche Zeitpunkte in der Vergangenheit markiert werden. So werden durch Formulierungen wie „90er Jahre des vergangen Jahrhunderts“, „Jahrtausendwende“ und „Fall der Berliner Mauer“ Zeitpunkte markiert, die ein konventionelles Wissen über einen 183
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„epochalen Wandel“ hervorrufen. Durch die Gegenüberstellung dieser Ereignisse mit den „Diktaturen und Terrorregime des 20. Jahrhunderts“ wird die „befreiende“, „epochale“ Konnotation dieser Nomen noch unterstrichen. Diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit t1 wird der Äußerungszeitpunkt t0 gegenübergestellt und durch die Nominalisierung „Erneuerung“ und das Nomen „Vision“ markiert. Obwohl zwischen dem Zeitpunkt der Äußerung und dem historischen Zeitpunkt t0 eine minimale Lücke besteht, herrscht doch eine gewisse Solidarität zwischen diesen beiden, ist doch alles, was im unmittelbaren „Jetzt“ der Äußerung präsent ist (die Bologna-Nachfolgekonferenz in Berlin) von der Aura der „Vision“ und der „Erneuerung“ eingehüllt. Der Gestus der „Befreiung“ („Fall der Berliner Mauer“) und „Epochalität“ („Jahrtausendwende“) von t1 im Hinblick auf t0 („Erneuerung“) wird jedoch nicht nur durch die konventionellen Konnotationen dieser Nomen und Nominalisierungen bewirkt, sondern auch durch die teilweise emphatische Stellungnahme des Lokutors („Vision“, „günstige Zeit“). So wird das historische „Jetzt“ („Bologna-Prozess“) mit dem diskursiven „Jetzt“ („Erneuerung“, „freier Blick“) verbunden und kausal in ein „epochales Befreiungsnarrativ“ eingebunden. (Erst „der Fall der Mauer“ und die „Jahrtausendwende“ gaben den „Blick frei“ für „Erneuerung“. Und das gilt auch und gerade „jetzt“ angesichts der „Berlin-Konferenz“.) Der Leser wird durch die diskursive Inszenierung von t0 und die weitestgehend monophonen emphatischen Identifizierungen des Lokutors Zeuge einer „Umbruchsituation“. Der diskursive Effekt solcher Formen wie „frei“ oder „neu“ entsteht dadurch, dass diese Formen als Tempus-Negationen gelesen werden können. „Frei“ und „neu“ evoziert zum Zeitpunkt „damals“ einen Zustand von „gefangen“, „unfrei“ bzw. „alt“ etc., wobei all diese Attribute negativ besetzt sind. „Frei“ und „neu“ markieren damit zum Äußerungszeitpunkt t0 einen historischen Zustand, der eine spontane Identifikation mit dem historisch-narrativen „Jetzt“ („Bologna-Prozess“, „Berlin-Konferenz“) fast unumgänglich macht. Die unmittelbare Gegenwart der Aussagen dieses Diskurses folgt nicht einfach nur der „Erneuerung“ im Sinne einer kausalen Ereigniskette. Diese unmittelbare Gegenwart „ist“ (neben anderen Ereignissen) die „Erneuerung“: „hier“ (in „Berlin“) und „jetzt“ („2003“). Die Aussagen (4), (5) und (6) schließen an diese temporale Dynamik an. Der axiologische Partikel „nicht zuletzt“ bringt zwei Sprecherperspektiven hervor, wobei der Lokutor per4 (1) („zuletzt durch die Programme der Europäischen Union nahm die Mobilität in Europa erheblich zu“) zurückweist [NEIN per4 (1)] und damit die Rolle der „Europäischen Union“ bei der „Zunahme der Mobilität“ unterstreicht. Die Proposition „die Zunahme der Mobilität“ muss dagegen einer Äußerungs184
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quelle zugeschrieben werden, deren Verantwortungsträger unsichtbar gemacht worden ist. Damit muss die Proposition, dass „die Mobilität zugenommen hat“, als selbstverständliches Wissen präsupponiert werden, wobei dies in der nachfolgenden Aussage (5) noch einmal argumentativ unterstrichen wird. Die „Zunahme der Mobilität“ reiht sich damit in das in Aussage (1) bis (3) evozierte historische Narrativ ein. Mit „Vereinbarungen zwischen den Hochschulen“ wird in Aussage (6) ein weiteres Ereignis zum Befreiungsnarrativ hinzuaddiert, sodass der Effekt einer „dynamischen Entwicklung“ von t1 nach t0 entsteht, die sich über die Aufzählung der Einzelthemen („Mobilität“, „Vereinbarungen zwischen den Hochschulen“) nun zunehmend entlang eines kartierten Raumes erstreckt. Ab Aussage (7) ergänzt der Diskurs die zeitliche Verortung weiter um eine räumliche bzw. kartographische Komponente, indem eine Reihe hochschulbezogener Probleme („Mobilität“, „Studienzeit“, „Wettbewerb“, „globale Verflechtung“, „private Bildungsdienstleistungen“) in einem Raum des „hier“ und „dort“ und entlang von t1 und t0 verteilt werden. So evoziert „Studienzeitverluste vermeiden“ einen räumlichen Ort „hier“, indem durch die immanente Negation („-verluste“, „vermeiden“) ein räumlicher Ort „dort hinten“ kreiert wird, wo „lange Studienzeiten“ aus der Sicht des „hier“ ein „Problem“ sind. „Hier“ herrscht dagegen eine demgegenüber abgeneigte Disposition („vermeiden“) vor, wodurch implizit ein Wunsch evoziert werden kann, einen räumlichen Punkt „dort vorne“ zu erreichen (und zu einem späteren Zeitpunkt, t2), von wo aus „lange Studienzeiten“ der Vergangenheit angehören (t1). Ähnlich funktioniert die raum-zeitliche Verortung mit „Wettbewerb“. Vom Äußerungszeitpunkt t0 aus wird dieser „Wettbewerb“ auf einen späteren Zeitpunkt (t2) verortet („entstehenden“), wodurch zum Zeitpunkt t0 eine Situation des „Aufbruchs“ („Bereitschaft“) und der „kreativen Unruhe“ („neue Dynamik“) entsteht. Die „wachsende globale Verflechtung“ und die „privaten Bildungsdienstleistungen“ gehören dagegen eher dem historischen Zeitpunkt „Jetzt“ an und sind vom Ort der Äußerung aus gesehen unmittelbar „hier“. Die Aussage (9) greift schließlich noch einmal auf das „epochale Befreiungsnarrativ“ zurück, indem „die großen Veränderungen“ auf t1 zu einer „Unruhe, Offenheit und Veränderungsbereitschaft“ zum Zeitpunkt t0 führten. Der Diskurs organisiert so seinen Ort und seinen Zeitpunkt der Äußerung, der in unmittelbarer Nähe zum historischen „heute“ („BolognaProzess“) steht, indem er sich in einem Raum der „Nähe“ und „Ferne“ („Wettbewerb“, „private Bildungsdienstleistungen“, „Mobilität“ etc.) verortet, der wiederum in ein „epochales Befreiungsnarrativ“ eingewoben wird. Hierbei spielen nicht nur die emphatischen Stellungnahmen 185
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des Lokutors („Vision“, „Drohszenarien“ etc.), sondern insbesondere die Nominalisierungen eine wichtige Rolle. Nominalisierungen greifen auf ein Wissen zurück, dessen Äußerungsquelle im aktuellen Diskurs nicht mehr ausgewiesen ist. Sie sprechen gewissermaßen für sich und verlangen nach Anerkennung, indem sie durch die Absenz der Äußerungsquelle einen „existentiellen Effekt“ hervorrufen. Dadurch evozieren die Nominalisierungen „der Fall der Mauer in Berlin“ („ich sage: die Mauer fällt“) oder „die Wahrnehmung der globalen Verflechtung“ ([1] „ich sage: die Welt verflechtet sich“, [2]„Verflechtung“: [3] „ich nehme eine globale Verflechtung wahr“, [4] „Wahrnehmung der globalen Verflechtung“) aber nicht nur den „Existenzeffekt“; durch das implizite Präteritum in „der Fall“ und den Ort („Berlin“) verbindet sich mit dem Ereignis ein Ort und ein Zeitpunkt. Dieser Effekt kann aber auch durch andere Formen hervorgerufen werden, wie im zweiten Fall („globale Verflechtung“) durch die Präteritumform des Verbs „verstärken“ („verstärkte“). Damit kann von Nominalisierungen nicht nur ein „existentieller“, sondern zudem ein „historisierender“ (Wann?) und „kartierender“ (Wo?) Effekt ausgehen, der ebenso nach Anerkennung der Zeit und des Orts verlangt. Das gleiche gilt für den Bezugszeitpunkt t0 und den Bezugsort der Äußerung, der die Zeit und den Ort „Bolognas“ markiert. So ist zwar die „Unruhe“, „Offenheit“ und „Veränderungsbereitschaft“ „unter den Hochschulen“ zum historischen Zeitpunkt t0 immer schon geschehen; jedoch wird der historische Zeitpunkt t0, der den „Aufbruch“ („Bologna“) markiert, durch die Nachfolgekonferenzen („Bologna-Prozess“) in Richtung des Äußerungszeitpunktes „Jetzt“ perpetuiert, sodass jeder eine affektive Beziehung zu einem Kollektiv aufbauen kann, das von sich behauptet: „ich war unruhig, offen, veränderungsbereit“ und „ich bin es (auch) jetzt“. So stellt der Diskurs eine Kartierung, eine Erzählung und einen historischen Zeitpunkt t0, der in den Äußerungszeitpunkt hineinragt, bereit und ermöglicht es, sich in einem Raum zu orientieren, wo der „Aufbruch“ inmitten einer „blumigen“, „heroischen“ Umgebung stattfindet, den der Leser nicht nur bezeugen, sondern an dem er auch selbst teilhaben kann.
2) Mit der „Tram“ nach Europa „(1) Der Zug von Bologna in den gemeinsamen europäischen Hochschulraum erreicht immer mehr Freunde. (2) An jeder Station wird die Reisegesellschaft größer, 2003 zählte sie in Berlin dreiunddreißig internationale Partner, im norwegischen Bergen kamen zwei Jahre später noch fünf hinzu. (3) Die Vision der von Gibraltar bis Wladiwostok vernetzten Ausbildung hat im sechsten Jahr nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt – (4) auch wenn es jetzt und künftig 186
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mehr und mehr um konkrete Weichenstellungen geht, mühsame Hausaufgaben, die auf dem Weg zum Ziel Schritt/chen für Schritt/chen gelöst werden müssen [...]“ (aus: „Von Berlin nach Bergen. Auf dem Weg zur Praxisreife“, von Hermann Horstkotte, freier Journalist, in: „Bologna – Berlin – Bergen: von der Vision zur Praxisreife“, DUZ-Spezial 2005, S. 5)
Eine eher „blumige“ und weniger „heroische“ Aura geht von diesem Diskurs aus. Im Kontext der Metapher „Zug“ markieren die Nomen „Bologna“ und „europäischer Hochschulraum“ einen Zeitpunkt in der Vergangenheit t1 („Bologna“) und einen Zeitpunkt in der Zukunft t2 („europäischer Hochschulraum“). Der Äußerungszeitpunkt t0 reiht sich auf eine Kette von „Stationen“, die sich von t1 nach t2 erstrecken und als eine Richtungsorientierung fungieren. Dabei kann der Leser Zeuge einer „Erfolgsstory“ sein, die von t1 nach t0 und perspektivisch in Richtung t2 verläuft. Der Effekt der „Erfolgsstory“ wird einerseits durch die von „Station zu Station“ steigende Zahl der Teilnehmer am Bologna-Prozess („immer mehr Freunde“, „2003 zählte sie in Berlin dreiunddreißig, im norwegischen Bergen kamen 2 Jahre später noch fünf hinzu“) und andererseits durch die positive Konnotation der Nomen „Freunde“, „Reisegesellschaft“ und „Partner“ hervorgerufen. Nicht zuletzt kann das Adjektiv „gemeinsam“ in Aussage (1) als deiktischer Partikel gelesen werden, der einen alle inkludierenden Charakter hat. In den Aussagen (1) und (2) ist dem Lokutor weder ein Allokutor an die Seite gestellt, noch greift er auf Äußerungsquellen im engeren Sinne zurück. Der Diskurs wirkt deshalb „harmonisch“ und konfliktfrei. Keine kaputten Schienen oder streikende Lokführer. Alle sitzen gemeinsam im Zug und sammeln hier und da noch „Freunde“ und „Partner“ auf. Dem Leser wird es nicht schwer fallen sich vorzustellen, wie rechts und links der Strecke die „Wiese blüht“ und die „Sonne scheint“. Die „harmonische“, „gemeinschaftliche“ Aura dieser Aussagen wird auch nicht zuletzt dadurch evoziert, dass die Aussagen monophon sind. Die diskursive Struktur verändert sich nun in Aussage (3) vollständig. Hier evozieren die Negationen „nichts“ und „eingebüßt“ und die Nominalisierungen „Attraktivität“ und „Vision“ fünf Sprecherperspektiven: per3 (1) [x] P(1): „die von Gibraltar bis Wladiwostok vernetzten Ausbildung“ per3 (2) [x] P(2): „Vision“ per3 (1) per3 (3) [x] P(3): „Attraktivität“ per3 (2)
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per3 (4) [a] P(4): NEIN per3 (3) per3 (5) [l] P(5): NEIN per3 (4)
Der Lokutor muss insgesamt fünf Perspektiven hervorbringen, um letztlich den Sprecher zu positionieren, den er favorisiert: per3 (5). Dabei ist es nicht nur interessant, dass nach zwei monophonen Aussagen plötzlich eine derart verschachtelte Aussage folgt. Der Lokutor kann seinen Sprecher per3 (5) nur über eine doppelte Negation, die drei verschachtelte Perspektiven enthält, in Stellung bringen. Zudem stellt sich die Frage, ob es „unattraktive“ „Visionen“ geben kann [per3 (4)], impliziert doch „Vision“ konventionellerweise „Attraktivität“. Schließlich fällt auf, dass die Nominalisierungen „Vision“ und „Attraktivität“ eine affektive Konnotation besitzen. Durch den „vorkonstruierten“ Charakter der Nominalisierungen identifiziert sich nicht nur der Lokutor mit per3 (2) und per3 (3). Vielmehr sind „alle“ aufgefordert, diese affektive Identifizierung mit per3 (1) vorzunehmen. Der dem Lokutor widersprechende Leser kann also ohne größeren kognitiven Aufwand lediglich die Position von per3 (4) annehmen und müsste damit behaupten, dass die „Vision“ nicht mehr „attraktiv“ sei; dass per3 (1) jedoch eine „Vision“ ist, dies muss auch per3 (4) anerkennen. Der spannungsvolle Charakter von Aussage (3) setzt sich in Aussage (4) fort. Hier wird insbesondere an die „Ernsthaftigkeit der Beteiligten“ des Bologna-Prozesses appelliert. Die konzessive Konjunktion „auch wenn“ leitet zunächst eine latente Distanzierung von per3 (5) ein, die aber im gleichen Atemzug zurückgenommen wird. Der Appell an die „Ernsthaftigkeit“ entsteht genau durch die Lücke, die sich zwischen der Distanzierung von per3 (5) und der gleichzeitigen Rücknahme dieser Distanzierung auftut. Die Lücke wiederum kann mit der Zurückweisung einer Implikatur beschrieben werden, die zunächst einmal evoziert werden muss, bevor sie zurückgewiesen werden kann. Diese Implikatur und ihre Zurückweisung könnte folgendermaßen ausformuliert werden [siehe per4 (7) und per4 (8)]: per4 (6): [x] P(6): „es geht um konkrete Weichstellungen“ per4 (7): [a] I(7): NEIN per3 (5), WEIL [per4 (6)] („auch wenn“) per4 (8): [l1] P(8): NEIN per4 (7) per4 (9): [l2] P(9): „mühsam“ per4 (6) per4 (10): [l3] P(10): „muss gemacht (‚gelöst‘) werden“ per4 (6) 188
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per4 (11): [l4] P(11): ZÜGIG („Schritt für Schritt“) per4 (10) per4 (12): [l0] P(12): VIELLEICHT („/chen“) per4 (11)
Der Appell wird darüber hinaus durch die temporalen deiktischen Partikel „jetzt“ und „künftig“ unterstrichen. Anders als in Aussage (3), wo der Äußerungszeitpunkt t0 noch durch das Nomen „sechs Jahre“ nach t1 („danach“ = „Start“ der „Reise“) symbolisiert war, wodurch der Äußerungszeitpunkt nicht unmittelbar gezeigt wurde, erfordern „jetzt“ und „künftig“ sowie die beiden Adverbien „mehr und mehr“ die unmittelbare Aufmerksamkeit für per4 (6). Gegenüber der monophonen diskursiven Zeitlichkeit, wo sich der Äußerungszeitpunkt t0 auf einer „Reisestrecke“, die über verschiedene „Stationen“ von t1 nach t2 verläuft, „harmonisch“ einfügt, markiert die Zeitlichkeit der Aussage (4) einen Bruch. Die Eisenbahn-Metapher der ersten beiden Aussagen aufgreifend, scheint hier die Erreichung von t2 an die intensive Arbeit der „Reisegesellschaft“ gebunden zu sein („es geht um konkrete Weichenstellungen“ [per4 (6)]). Diese „Aktivität“, die „jetzt“ und „künftig“ erforderlich ist, wird durch die zahlreichen Kommentierungen des Lokutors noch unterstrichen. So ist per4 (6) „mühsam“ [per4 (9)], „muss gemacht werden“ [per4 (10)], und zwar zumindest „Schrittchen für Schrittchen“ [per4 (12)], oder besser doch „Schritt für Schritt“ [per4 (11)]. Während die Aussagen (1), (2) und (3) eine „blumige“, „gemeinschaftliche“ Aura hervorbringen, evoziert Aussage (4) eine Aura der „emsigen Arbeit“, wo nicht mehr alles automatisch glatt läuft. Dies wird nicht nur durch die zahlreichen kommentierenden Sprecherperspektiven, die der Lokutor annimmt, hervorgebracht, sondern vor allem durch den deiktischen Partikel „jetzt“, der den Blick des Lesers abrupt vom Bild der „gemeinschaftlichen Reisegesellschaft“ in das „hier“ und „jetzt“ der „Arbeit“ verschiebt. Dieser Bruch kann meines Erachtens in zwei Richtungen interpretiert werden. Einerseits, so könnte argumentiert werden, verflechtet sich die Zeitlichkeit von Aussage (4) in die Zeitlichkeit von Aussage (1) bis (3) kausal: „Wenn ihr nicht arbeitet (4), ist die gemütliche Reise zu Ende (1), (2), (3)!“. Diese Interpretation ist sicherlich nachvollziehbar, kann aber den paradigmatischen Bruch nicht wirklich erhellen. Andererseits kann dieser Bruch als die Intervention eines anderen Diskurses interpretiert werden. Diese Interpretation, die nur mit Blick auf den Kontext begründet werden kann und hier weiter verfolgt werden soll, beschreibt diesen Bruch als die Intervention eines „technokratischen“ Diskurses in einen „blumig-gemeinschaftlichen“ Diskurs. Denn neben solchen „blumigen“ und „heroischen“ Diskursen sind gerade technokratische Diskurse typisch für den Bologna-Diskurs insgesamt. 189
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So soll zunächst eine solche „technokratische“ diskursive Narrativisierung des Bologna-Prozesses vorgestellt und analysiert werden, um anschließend diesen Bruch zu interpretieren.
3) Die Karte der Karten der Karten... „(1) In der ‚Sorbonne-Erklärung‘ haben sich die für Hochschulbildung zuständigen Minister Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und Italiens am 25. Mai 1998 verpflichtet, sich für einen gemeinsamen Rahmen der Hochschulausbildung einzusetzen, um die Anerkennung der akademischen Abschlüsse im Ausland und die Mobilität der Studierenden zu fördern. (2) Die am 19.06.1999 in Bologna von 29 europäischen Bildungsministern verabschiedete Gemeinsame Erklärung ‚Der Europäische Hochschulraum‘ benennt die wesentlichen Ziele, die die europäischen Bildungsminister für die Errichtung des europäischen Hochschulraums und die Förderung der europäischen Hochschulen weltweit als vorrangig ansehen. (3) Am 18./19. Mai fand in Prag die erste Bologna-Folgekonferenz statt. (4) Die teilnehmenden Ministerinnen und Minister haben festgestellt, dass die in der Bologna-Erklärung festgelegten Ziele eine breite Akzeptanz gefunden und von den meisten Unterzeichnerstaaten und deren Universitäten und anderen Hochschuleinrichtungen als Grundlage für die Entwicklung des Hochschulwesens genutzt werden. (5) Im ‚Prager Kommunique‘ wurden die Bologna-Zielsetzungen bekräftigt und die Bedeutung von Mobilität, Qualitätssicherung und Akkreditierung, der europäischen Dimension in der Bildung, des lebenslangen Lernens und der Beteiligung der Hochschulen und Studierenden bei der Schaffung des europäischen Hochschulraums betont. (6) In Prag wurden neben den 30 Signatarstaaten der Bologna-Erklärung (Lichtenstein wurde rückwirkend zum Zeichnerstaat erklärt) drei weitere Staaten – Kroatien, Zypern, Türkei – als Mitglieder des BolognaProzesses aufgenommen. (7) Die Konferenz in Prag hat auch Neuerungen hinsichtlich der Gremienstruktur und Verfahren zur Vorbereitung von Ministersitzungen im Bologna-Prozess gebracht. (8) In der großen Bologna-Gruppe (Follow-up-Group) sind alle Unterzeichnerstaaten vertreten. (9) Vorsitz führt die jeweilige EU Präsidentschaft. Neues Vollmitglied der Gruppe ist die EUKommission [...]“ (aus: „Realisierung der Ziele der ‚Bologna-Erklärung‘ in Deutschland – Sachdarstellung – (Gemeinsamer Bericht von KMK, HRK und BMBF), 30.07.2003“: S. 2)
Obwohl dieser Textausschnitt relativ lang ist, lassen sich die entscheidenden Formmerkmale schnell zusammenfassen. Der Text ist ein typischer Bericht, was man an den Verbformen, die (fast) ausnahmslos im Präteritum stehen, ablesen kann. Er operiert ausnahmslos ohne Subjektivität und ist überwiegend um fünf Kernfragen herum gruppiert: „Was geschah?“ („...haben sich verpflichtet, sich für einen gemeinsamen 190
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Rahmen der Hochschulausbildung einzusetzen, um die Anerkennung der akademischen Abschlüsse im Ausland und die Mobilität der Studierenden zu fördern“ etc.), „Wo ist dies dokumentiert?“ („SorbonneErklärung“ etc.), „Wer hat es getan?“ („Minister“ etc.), „Wo geschah es?“ („Sorbonne/Paris“, „Bologna“, „Prag“), „Wann geschah es?“ („25. Mai 1998“ etc.). Wenn wir nur die Nominalisierungen zählen, die durch die Endung „-ung“, „-ät“ und ähnliche Formen noch eine Äußerungsquelle erahnen lassen, kommen wir auf 26 Nominalisierungen. Bei insgesamt 235 Wörtern ist dies eine Quote über 10%. So gut wie jeder semantische Inhalt wird durch Nominalisierungen evoziert. Der normale Zeitungsleser, der über kein bildungspolitisches Vorwissen verfügt, versteht hier, streng genommen, nichts. Nichtsdestotrotz arbeitet dieser Diskurs eine akribisch durchbuchstabierte Karte aus und gibt dem Leser alle wichtigen Schlagworte an die Hand. So zeichnet der Diskurs eine Landschaft, die von „Paris“ über „Bologna“ nach „Prag“ verläuft, gibt durch das jeweilige Datum eine zeitliche Reihenfolge an, die der Leser befolgen kann, benennt die Dokumente und die Verantwortlichen und liefert schließlich Schlagworte, die der Leser in anderen Dokumenten nachschlagen kann. Diese numerischen Fakten fungieren aus diskursanalytischer Sicht als Quellen, die vom Leser aufgesucht werden können. Der Diskurs zeichnet aber nicht nur eine detaillierte Karte, sondern erweckt damit beim Leser die Erwartung, dass er fündig wird, wenn er die genannten Orte aufsucht. Damit ist der Leser aufgefordert, sich in einen Bereich hineinzubegeben, wo gearbeitet und zahlreiche Reformpapiere und Beschlüsse produziert werden. Zu seinem Erschrecken wird der Leser dann feststellen, dass er an diesen Orten Texte findet, die nicht weniger kompliziert zu lesen sind als dieser Text. Er findet dort überwiegend weitere Karten vor, die ihn auf eine neue Reise durch den Dschungel der EU-Bürokratie schicken. Denn an diesen Orten arbeiten Diplomaten und Verwaltungsfachleute, die, anders als der „normale“ Leser, mit den Schlagworten zahlreiche Bedeutungen verbinden können. Diese Bedeutungen liegen nicht allein auf der semantischen (policy) Ebene, sondern betreffen vor allem die komplizierte „Europolity“ (Krzyzanowski/Oberhuber 2007). Die Europolity besteht zu einem Großteil aus juristisch und verwaltungswissenschaftlich ausgebildeten Mitarbeitern. Allein an der Versammlung zur Ausarbeitung des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ hatten über 65% der Beteiligten eine juristische oder verwaltungswissenschaftliche/politikwissenschaftliche Ausbildung (vgl. Krzyzanowski/Oberhuber 2007: 92). Die Europolity ist strukturell konsensorientiert. Hier müssen nicht nur die Interessen von 27 Nationalstaaten (bzw. 45 im Bologna-Prozess) berücksichtigt werden, sondern auch 191
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noch fast ebenso viele Sprachen. Dadurch entsteht eine europäische Mundart, die ihre eigenen Merkmale aufweist. Eines dieser Merkmale ist der technokratische Jargon, der vor allem durch die enorme Anzahl an Nominalisierungen entsteht. Nicht der Berichtsmodus und das damit einhergehende Fehlen jeglicher subjektiver Spuren, sondern die Suffixe „-ung“, „-ät“ etc. machen diesen Diskurs so „europäisch“. Alles, was gesagt wird, muss immer bereits „irgendwo“ von „irgendwem“ „irgendwann“ schon einmal gesagt worden sein und als allgemein anerkanntes Wissen präsentiert werden. Der Leser kann vom Äußerungszeitpunkt t0, der in der Regel durch das Datum des technokratischen Dokuments evoziert wird, über eine Kette von Zeit- und Ortsangaben zurückverfolgen, wie es zum „Jetzt“ der Äußerung kam, und bekommt über die Nominalisierungen den Eindruck vermittelt, dass an den angegebenen Orten und zu den ausgewiesenen Zeiten etwas Gesagt wurde. Rauszubekommen, was das genau bedeutet, ist eine alles andere als abenteuerliche Reise mit ungewissem Ausgang.
Die Blumen-Technokratie Das konstitutive Merkmal von Nominalisierungen besteht darin, dass das damit verbundene „Wissen ‚sich von selbst versteht‘ und von niemandem verantwortet werden muss“ (Angermüller 2007c: 153). Das, was sich „von selbst versteht“, muss auch nicht mehr persönlich, und im engeren Sinne des Wortes, politisch vertreten werden. Es wird als der Konsens präsentiert, der eine von allen geteilte Meinung postuliert. Von der Konsensdoktrin der technokratischen Diskurse gehen selbst wiederum spezifische Normen aus. So muss derjenige, der durch eine Stellungnahme persönlich sichtbar wird, dies umgehend korrigieren. Ein klassischer politischer Antreiber ist in einem solchen Diskurs kaum denkbar, setzt doch die Existenz eines „starken“ Lokutors immer auch die Präsenz des Allokutors voraus. Aber „Europa“ widerspricht man in der Regel nicht, und wenn, dann nur im Namen „Europas“. Eine legitime Gegenposition erscheint in diesen Diskursen somit problematisch. Anderseits ist es grundsätzlich schwierig, eine Position zu beziehen, ohne eine Gegenposition auch nur anzudeuten. So kann vor diesem Hintergrund die „blumige“ bzw. „heroische“, oft monophone Sprache als eine adäquate diskursive Antwort auf das Politikverbot des technokratischen Diskurses interpretiert werden. In den blumig-heroischen Diskursen spricht nicht der Autor des Textes selber. Vielmehr lässt er die „Ereignisse“ für sich sprechen. Dadurch erlaubt es der Diskurs dem Autor, auch ohne die typischen Formmerkmale (z.B. „wir wollen“) Position zu beziehen. Eine affektive Identifikation mit Bologna und eine damit verbundene Stellungnahme, ohne jedoch persönlich 192
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sichtbar zu werden, gelingt dadurch, dass der Lokutor im heroischen Diskurs die „großen Ereignisse“ für sich sprechen lässt und im blumigen Diskurs auf die „gemeinschaftlich-gemütliche“ Atmosphäre von „Märchen“ oder „Disney-Comics“ zurückgreifen kann. Das Objekt der Problematik (Bologna) wird durch eine spezifische diskursive Raum-ZeitKartierung gerahmt und erscheint in der Aura der „Geschichte(n)“, in die es eingebettet wird, wie ein Objekt, das Teil dieser märchenhaftheroischen Umgebung ist. In diesem Sinne kann die heroische und blumige Aura der diskursiven Kartierung des Bologna-Prozesses als eine politische, weil subjektiv-affektive Antwort auf ein Politikverbot des technokratischen Konsenses, der jede subjektive Investition untersagt, interpretiert werden. Das Subjekt taucht demnach in den blumigen und heroischen Objekten wieder auf. Weil die Welt des Bologna-Prozesses mehr oder weniger für „sich selbst“ spricht, braucht der Lokutor zu den Objekten nicht mehr ausdrücklich Stellung beziehen. Dies bedeutet aber andersherum, dass die impliziten Attribute der Objekte unumstritten sind. Während in demokratischen Auseinandersetzungen die Objekte (Konjunkturprogramme, Agenda 2010) politisch umkämpft sind, sind sie in Konsensdiskursen nun tendenziell universell. Die Objekte sind nicht Gegenstand des politischen Kampfes, sondern sind in sich selbst politisch. Erinnert dieser Diskurs nicht an die sich glorreich inszenierenden, mit Schmuck und Diamanten zur Schau gestellten Monarchen, die nie Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung sein konnten und unter sich einen Stab von Ministern vereinten, der die wirkliche Politik im Staat betreibt? Wenn wir vor diesem Hintergrund noch einmal auf die Aussage (4) des zweiten Textteils zurückblicken, wo der Autor des Textes nach dem Bruch zwischen Aussage (1) bis (3) und (4) die Akteure auffordert, „Schritt für Schritt“ „konkrete Weichenstellungen vorzunehmen“, diese Aufforderung einerseits durch insgesamt sechs Sprecherperspektiven hervorbringt und andererseits sich ganz am Ende der Aussage durch die Einführungen der Suffixe „-chen“ („Schritt/chen für Schritt/chen“) wieder zurücknimmt, könnte dies dann nicht als eine Intervention des Politikverbots und damit des technokratischen Paradigmas gelesen werden? Während auf der einen Seite die europäischen Diskurse im BolognaProzess äußerst technokratisch wirken und keinerlei persönliche Identifikation zulassen, finden wir auf der anderen Seite eine affektive Identifikation mit Europa oder eben Bologna, die durch eine heroisch-blumige diskursive Kartierung erzeugt wird. Der Autor gerät in dieser Darstellung der „Geschichte(n) Bolognas“ regelrecht ins Schwärmen. Dies kann den halbwegs informierten Leser angesichts des technokratischen Charakters der Kernthemen des Bologna-Prozesses durchaus irritieren. 193
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
So drängt sich die etwas polemische Charakterisierung Bolognas als eine Blumen-Technokratie auf. Der Begriff Blumen-Technokratie umreißt eine Situation, in der ein technokratisch-apolitisches diskursives Moment von affektiven Objekten eingeholt wird. Bereits dieses Merkmal würde es schon rechtfertigen, von einer Konsenskultur zu reden. Die politische Form des Konsenses, die in den folgenden Abschnitten herausgearbeitet werden soll, verweist jedoch auf ein spezifisch deutsches hegemoniales Moment des Bologna-Diskurses. Dieses hegemoniale Moment ist, so die Hypothese, eine strukturelle Voraussetzung für den blumig-technokratischen Charakter der diskursiven Kartierung des Bologna-Prozesses. Denn im Bologna-Diskurs überlappen sich zwei bisher institutionell voneinander getrennte politische Felder und verschränken sich zu einem neuartigen hegemonialen Feld, dessen zentrales Merkmal in der politischen Form des Konsenses besteht. Ein Einwand könnte jedoch gegen die hier vorgebrachte These von der Blumen-Technokratie vorgetragen werden. Wenn man begeisterte Europapolitiker sprechen hört, dann ist oft die Rede von „Bremsern“, „Nachzüglern“ und „Treibern“, wenn es um die Etikettierung unterschiedlicher EU-Staaten geht. Dies erweckt den Eindruck eines enorm konfliktgeladenen Europas. Die Frage ist nur, für wen? Aus der Sicht der Technokraten, die ständig in Verhandlungen sind, in Ausschüssen sitzen, Texte verfassen und Kompromisse schmieden, ist Europa sicherlich enorm politisch. Die Bürgerinnen und Bürger sind da allerdings außen vor. Sie erleben europäische Politik in den meisten Fällen als eine undurchsichtige Gemengelage, wo hinter verschlossenen Türen über große Zeitspannen Ergebnisse zustande kommen, die nach ihrer Präsentation in der Öffentlichkeit nicht mehr verhandelbar sind. Vielleicht besteht das oft beklagte Demokratiedefizit Europas nicht unbedingt nur in der institutionellen Struktur, sondern auch im blumig-technokratische Charakter der europäischen Diskurse. In diesem Sinne ist die skeptische Haltung vieler Bürgerinnen und Bürger keine antieuropäische oder gar provinzielle Grundhaltung, sondern ein diskursiver Effekt europäischer Texte, wie am Beispiel der Bologna-Erklärung aufgezeigt werden konnte (Kapitel 7.1). Denn wenn weder klar ist, wer spricht, noch klar ist, was gesagt wird, dann kann man wohl kaum emphatische Zustimmung erwarten.
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DIE POLITISCHE LOGIK DES BOLOGNA-PROZESSES: EINE DISKURSANALYSE
Der Technokrat Seit der zweiten Bologna-Nachfolgekonferenz in Berlin 2003 zählt die Qualitätssicherung zu den zentralen Themen des Bologna-Prozesses. Auf der Berlin-Konferenz wurde eine Arbeitsgruppe aus EUA (Hochschulrektoren, Europa), EURASHE (Bildungseinrichtungen, Europa), ESIB (Studierende, Europa) und ENQA (Europäisches Netzwerk zur Qualitätssicherung) zusammengestellt, die den Auftrag erhielt, ein Arbeitspapier zu Standards und Richtlinien zur Qualitätssicherung zu erarbeiten. Dieses Papier mit dem Titel „Standards and Guidelines for Quality Assurance in the European Higher Education Area“ wurde auf der dritten Nachfolgekonferenz in Bergen 2005 von den Ministern als Grundlagenkonzept für die Qualitätssicherung beschlossen. In einem Artikel mit dem Titel Neues zur Qualitätsfrage. Entwicklungen auf der Bergen-Konferenz, veröffentlicht in einer Sonderausgabe des Hochschulmagazins DUZ zum Bologna-Prozess, unterstützt und finanziert vom Bundesministerium (BMBF) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), bezieht sich Jürgen Kohler, Vorsitzender des deutschen Akkreditierungsrates (AR), zunächst auf jenen Passus im BergenKommuniqué, wo das Papier der Arbeitsgruppe durch die Minister beschlossen wird. Anschließend berichtet Kohler über einen Aspekt zur Qualitätssicherung aus dem Arbeitspapier selbst, wonach Akkreditierung nicht nur die Überprüfung der Qualität von Studiengängen, sondern darüber hinaus die Überprüfung des Vorhandenseins eines Systems der Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität an Hochschulen beinhaltet. Kohler will, so hat es zumindest den Anschein, darauf hinweisen, dass sich die Praxis der Akkreditierung zukünftig verändern wird. Ob und wie ihm das gelingt, soll in der folgenden Diskursanalyse gezeigt werden. Das unten stehende Textdokument schließt unmittelbar an die Erörterung an. Die Konjunktion „damit“ in Aussage (1) verweist anaphorisch auf diesen Sachverhalt zurück. „[...] (1) Damit wird angedeutet, dass zumindest neben der Programmebene als Gegenstand der zu Akkreditierungszwecken zu analysierenden Qualität auch die hochschuleigenen Vorkehrungen zur Steuerung der institutionellen Prozesse bei Studiengangsentwicklung und –fortschreibung Akkreditierungsobjekt sein sollen. (2) Aus der Sicht des bisherigen deutschen Akkreditierungsansatzes hat dies eine erhebliche Brisanz, (3) weil damit für die interne, die externe und die agenturbezogen-externe Qualitätssicherung nicht mehr ausreichend erscheint, sich auf die Betrachtung des Studiengangs als solchen, also gewissermaßen des „Produkts“, zu beschränken, ohne den Blick auch auf die studien-
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gangentwickelnde Qualität der Hochschule, also quasi des „Produzenten“, zu richten [...]“ (aus: „Neues zur Qualitätsfrage. Entwicklungen auf der Bergenkonferenz“, von Jürgen Kohler, Vorsitzender des Akkreditierungsrates, in: „Bologna – Berlin – Bergen. Von der Vision zur Praxisreife“, DUZ-Spezial 2005, S. 20)
Beim Lesen dieses Textausschnitts fällt wiederum der technokratischkantige Stil auf. Der Text ist schwer lesbar, enthält lange, verschachtelte Sätze und ist übersät mit Nominalisierungen („Akkreditierungszwecken“, „Vorkehrungen“, „Studiengangsentwicklung und -fortschreibung“, „Akkreditierungsansatz“, „die interne, die externe und die agenturbezogen-externe Qualitätssicherung“, „Betrachtung“). Darüber hinaus enthält der Text zahlreiche Einschränkungen und Relativierungen („angedeutet“, „zumindest“, „erscheint“, „also“, „gewissermaßen“, „quasi“), die die Sichtbarkeit des Autors im Text zusätzlich verwischt. Für Leser, denen diese Debatten und Problematiken nicht vertraut sind, ist dieser Text wohl kaum verstehbar. Dies scheint auf dem ersten Blick verwunderlich, ist Kohlers Beitrag doch weder ein Kommissionsbericht noch ein juristisches Gutachten, sondern ein Zeitschriftenartikel in der Sonderbeilage der Hochschulzeitschrift DUZ anlässlich der dritten BolognaNachfolgekonferenz in Bergen. Diese DUZ-Sonderbeilage trägt den Titel „Bologna – Berlin – Bergen. Von der Vision zur Praxisreife“ und ist, da von der Hochschulrektorenkonferenz und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert, kostenlos im Internet zugänglich. Schon der Titel signalisiert, dass es sich bei dieser Ausgabe um eine öffentlichkeitswirksame PRMaßnahme handelt. Die Zeitschrift ist vielfarbig gestaltet und mit Bildern der Stadt Bergen, Aufnahmen von Randgesprächen der Konferenz, wo unter anderem der Kommissionspräsident José Manuell Barroso abgebildet ist, Fotos von europäischen Traditionsuniversitäten etc. versehen. Darüber hinaus hat sich hier nicht nur die gesamte deutsche und europäische Prominenz des Hochschulbereichs durch Beiträge, Zitate und Abbildungen verewigt. Auch die Studierenden, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften kommen zu Wort. Im Editorial vergleicht der Chefredakteur der DUZ, Wolfgang Häuser, den Bologna-Prozess gar mit der „Erfindung des Automobils“. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verwunderlich, dass es dem Autor nicht gelungen ist, einen Artikel zu verfassen, der den Grundstandards des professionellen Kampagnenjournalismus auch nur halbwegs entspricht. Aus diskursanalytischer Perspektive verweisen die Kontextualisierungsoperatoren nicht nur auf Produktionskontexte. Vielmehr können 196
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Texte ihre Produktionskontexte verlassen und durch die Kontextualisierungsoperatoren in Rezeptionskontexte wiedereingeschrieben und dort neu interpretiert werden. Damit unterstreicht die äußerungstheoretische Diskursanalyse das zirkulative Moment des Diskurses (Angermüller 2007c). Gerade weil dieser Text so kantig und holprig wirkt, drängt sich hier aber die Frage nach den Produktionsbedingungen regelrecht auf. Aus diesem Grunde soll im Folgenden nach einer diskursanalytischen Zerlegung des Textes auch danach gefragt, wie unterschiedliche institutionelle Kontexte vom Text reflektiert werden. Damit wird der Text aus Sicht der Diskursanalyse einerseits mit Blick seine Produktionskontexte im Sinne einer „Situationsanalyse“ (Schütze et al. 1993) untersucht, um anschließend die klassische diskursanalytische Frage nach den Rezeptionsbedingungen zu stellen.
Die Forderungen lesen... Bereits in der ersten Aussage treten drei Sprecher in ein dialogisches Verhältnis, das sich folgendermaßen darstellen lässt: per1 (1): [x1] P(1): „neben der Programmebene als Gegenstand der zu Akkreditierungszwecken zu analysierenden Qualität [sollen] auch die hochschuleigenen Vorkehrungen zur Steuerung der institutionellen Prozesse bei Studiengangsentwicklung und – fortschreibung Akkreditierungsobjekt sein.“ per1 (2): [l1] „zumindest“ per1 (1) per1 (3): [l0] VIELLEICHT per1 (1) („angedeutet“)
Wie bereits in der ersten Aussage deutlich wird, muss vom Text immer mehr als die intendierte Botschaft hervorgebracht werden. In diesem Fall lässt der Lokutor drei verschiedene Sprecher ins Gespräch kommen, wobei der erste Sprecher per1 (1) die semantische Einheit P(1) zugewiesen wird, welche von den anderen beiden Sprechern verhandelt wird. Während der Lokutor die Sprecher per1 (2) und per1 (3) annimmt ([l]), bleibt unklar, wer die Verantwortung für per1 (1) übernimmt ([x]). Von zentraler Bedeutung für die Frage, was Kohler hier sagen will, sind die Sprecher per1 (1) und per1 (3). Der mittlere scheint irgendwie in der Luft zu hängen und ist erst einmal nicht von Interesse. Der erste Unterschied zwischen diesen beiden Perspektiven liegt darin, dass per1 (1) irgendwie in per1 (3) enthalten ist, aber durch das Passivverb „angedeutet“ relativiert wird. Der Lokutor nimmt per1 (3) vollständig an, ohne per1 (1) allerdings zurückweisen zu können. Während per1 (3) vom Lokutor vertreten wird, bleibt unklar, wer per1 (1) zu ver197
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antworten hat. So kann der Lokutor sich lediglich darauf festlegen, dass „angedeutet wird“, dass „per1 (1) = wahr“. Der zweite Unterschied zwischen per1 (3) und per1 (1) liegt im illokutionären Modus. Während per1 (3) im konstativen Modus geäußert wurde („damit wird angedeutet, dass X“), ist per1 (1) durch das Modalverb „sollen“ eine normativer Satz. Aus sprechakttheoretischer Sicht unterscheiden sich diese beiden Sätze hinsichtlich ihrer „Erfüllungsbedingungen“ (Searl 2004). Während konstative Sätze wahr oder unwahr sind, operieren normative Sätze mit der Unterscheidung gut/schlecht, gewollt/nicht gewollt etc. So scheint der erste Sprecher eine Forderung zu erheben („soll“), während der dritte Sprecher über diese Forderung spricht („angedeutet“). Auch in Aussage (2) werden zwei Sprecherperspektiven hervorgebracht: per2 (4): [x2] P(2): „dies [per1 (1), (2) und/oder (3)] hat eine erhebliche Brisanz.“ per2 (5): [l] P(3): „Aus der Sicht des bisherigen deutschen Akkreditierungsansatzes“ gilt: per2 (3) = WAHR
Besonders interessant ist in dieser Aussage die Formulierung „aus der Sicht“, das Tempusadverb „bisher(igen)“, das Demonstrativpronomen „dies“ und die axiologische attributive Nominalkonstruktion „erhebliche Brisanz“. Wertungen wie „erhebliche Brisanz“ können nach KerbratOrecchioni als eine Markierung diskursiver Subjektivität gelesen werden (vgl. Angermüller 2007c: 143). Dieser subjektive Akzent wird interessanterweise im gleichen Satz wieder zurückgenommen, weil das Tempusadverb „bisher“ ausgehend vom Äußerungszeitpunkt t0 einen Zeitpunkt t-1 kreiert. Dadurch wird eine Vergangenheitsperspektive evoziert, von wo aus das von „erheblicher Brisanz ist“, was durch die Anaphora „dies“ sichtbar gemacht wird. Die Proposition „dies hat eine erhebliche Brisanz“ könnte demnach von einer Person vertreten werden, die für ein Akkreditierungssystem steht, das zum Äußerungszeitpunkt t0 nicht länger aktuell zu sein scheint. Mit per2 (4) lässt der Lokutor einen halb anonymisierten Sprecher zu Wort kommen. Allerdings führen nicht nur axiologische Partikel wie „erhebliche Brisanz“, sondern auch Tempusadverbien in gewisser Hinsicht Subjektivität in den Diskurs ein, weil sie eine Position in einem durch die deiktischen Markierungen der Zeit evozierten Raum einführen. Der Lokutor zitiert hier in gewisser Hinsicht einen Vertreter des „bisherigen Akkreditierungswesens“ mit den Worten „dies hat eine erhebliche Brisanz“ [per2 (4)] und gibt diesen Sprecher schließlich Recht [per2 (5)]. 198
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Da nun klar scheint, dass aus der Perspektive t-1 „etwas“ von „erheblicher Brisanz“ ist, bleibt nur noch zu klären, was dies denn sein könnte. In Aussage (1) haben wir strenggenommen zwei Kandidaten, auf die „dies“ anaphorisch verweisen könnte: entweder per1 (1) oder per1 (3). Da wir aber davon ausgehen können, dass „damit wird angedeutet, dass X“ kaum von „erheblicher Brisanz“ sein kann, kommt hierfür wohl nur per1 (1) infrage. Und diese Lösung erscheint nun auch aus diskursanalytischer Sicht von erheblicher Brisanz, weil der Lokutor in Aussage (1) sich noch darum gedrückt hat, den Wahrheitsgehalt („damit wird angedeutet, dass X“ und nicht „ich glaube, dass X“) von per1 (1) vollständig anzunehmen. Vielmehr wird hier plötzlich sowohl der Wahrheitsgehalt als auch die Gültigkeit der Forderung von Aussage (1) implizit als Selbstverständlichkeit präsentiert. Das Demonstrativpronomen „dies“ funktioniert in dieser Aussage wie ein Vorkonstrukt, weil der Leser dieses Textes implizit aufgefordert wird, per1 (1) zu unterzeichnen, wenn er in diesem Text nicht den Faden verlieren will. Wenden wir uns schließlich Aussage (3) zu, die als besonders verschachtelter kausaler Nebensatz auf Aussage (2) folgt. Hier werden durch die Negationsoperatoren „nicht“ und „ohne“ sowie durch das Tempuspartikeln „mehr“ zunächst sieben Sprecherperspektiven evoziert. Aufgrund der Komplexität dieser Aussage, soll das dialogische Feld, das hier aufgespannt wird, zunächst nach dem Modell einer Konversation ausbuchstabiert werden. Bevor die unterschiedlichen Sprecherperspektiven in Stellung gebracht werden können, müssen zwei vorkonstruierte Perspektiven gesetzt werden, auf die sich die Sprecherperspektiven beziehen. So lässt der Lokutor zunächst irgendwen behaupten, dass „der Studiengang betrachtet wird“ und „der Blick sich auf die studiengangentwickelnde Qualität richtet“ [per3 (6), (7)]. Anschließend wird auf einem Nebenschauplatz per3 (7) von drei Sprechern verhandelt, wobei der Allokutor per3 (7) zurückweist („Die Studiengangentwickelnde Qualität muss nicht betrachtet werden“). Dieser Sprecher per3 (8) wird vom Lokutor mit Blick auf den Zeitpunkt t0 zurückgewiesen [per3 (9)], aber mit Blick auf den Zeitpunkt t-1 angenommen [per3 (10)] („Die studiengangentwickelnde Qualität musste damals nicht in den Blick genommen werden, jetzt allerdings schon. Und zwar wegen per1 (1)“). Erst die Sprecher per3 (11) und (12) verhandeln die eigentliche Frage, ob es nämlich jetzt „ausreichend“ ist, sowohl den „Studiengang“ als auch die „studiengangentwickelnde Qualität“ zu überprüfen. Diese Sprecherperspektiven bilden ein dialogisches Feld, das folgendermaßen formalisiert werden kann:
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per3 (6) [x3] P(4): Betrachtung des Studiengangs = tx per3 (7) [x4]: P(5): Blick auf studiengangentwickelnde Qualität richten = tx per3 (8) [a1]: NEIN per3 (7) = tx, „ohne“ per3 (9) [l1]: NEIN per3 (8) WEGEN per1 (1) WENN t0 „ohne“ per3 (10) [l2]: WAHR per3 (8) WENN t-1 „(nicht) mehr“ per3 (11) [a2]: AUSREICHEND per3 (6) „nicht“ per3 (12) [l0]: VIELLEICHT NEIN per3 (11) WEGEN per3 (9)
Reduzieren wir diese Aussage auf den semantischen Gehalt, der vom Lokutor angenommen wird, also auf das, was der Autor des Textes sagen will, dann erhalten wir folgenden Satz: „Die Qualitätssicherung richtet zukünftig vermutlich den Blick auf den Studiengang und die studiengangsentwickelnde Qualität“. Anstatt eine solche Aussage zu produzieren, die mit nur zwei Sprecherperspektiven auskommt und ohne die vier Nebensätze der Originalaussage, lässt der Lokutor in Aussage (3) sieben Sprecher auftreten, wobei er sich schließlich doch nicht endgültig entscheiden kann. Denn obwohl per3 (12) klar dem Allokutor zugewiesen wird, kann der Lokutor sich letztlich nicht darauf festlegen, ob nun per3 (6) und (7) wahr sind oder nicht [per3 (12)]. Die insgesamt zehn Sprecherperspektiven, die diesen Diskurs organisieren, bilden eine Beziehung, die folgendermaßen illustriert werden kann: Abbildung 1: Y
Lokutor [l]
Allokutor [a]
Unklar [x]
Perspektiven
X t0 t-1 tx
per1 (2), (3), per2 (5), per3 (9), (12)
per3 (8), (11)
per3 (10) per1 (1), per2 (4), per3 (6), (7)
Wie aus der Gegenüberstellung in der Tabelle deutlich wird, setzt sich der Diskurs aus sechs qualitativ unterschiedlichen Perspektiveinstellun200
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gen zusammen, die sich einmal entlang unterschiedlicher Zeitpunkte (x-Spalte) und einmal entlang verschiedener diskursiver Figuren bzw. Verantwortungsinstanzen (y-Spalte) erstrecken. Links oben im Feld finden wir die Sprecher, die der Lokutor annimmt, in der Mitte oben die, die dem Allokutor zugewiesen werden, und links unten die Perspektiven, die scheinbar keinen Verantwortungsträger finden. Die Sprecher lassen sich allerdings nur zu Schematisierungszwecken in kleine isolierte Grüppchen unterteilen, weil sie, wie wir oben gesehen haben, in ein dialogisches Verhältnis zueinander treten. Und dabei fiel nun auf, dass die Sprecher des Lokutors immer wieder von anderen Sprechern „infiltriert“ werden. Das heißt, dass die Sprecher des Lokutors ihre Thesen nie klar formulieren konnten, weil insbesondere die Perspektiven rechts unten die wichtigen semantischen Einheiten vertreten haben, zu denen die Sprecher des Lokutors immer nur vage Stellungnahmen abgegeben haben. Werfen wir einen Blick zurück auf die Formalisierungen, dann können wir sehen, dass alle semantischen Einheiten außer eine [P(3)] hinter den Sprecherperspektiven von [x] stehen. Und genau genommen ist „aus der Sicht des bisherigen Akkreditierungswesens“ eher eine deiktische Zeitmarkierung und weniger eine semantische Einheit, weil der propositionale Teil nur hervorgebracht werden muss, um die Zeitmarkierung „bisherigen“ syntaktisch in Stellung zu bringen. Während also die anonymen Gestalten [xn] für das semantisch verwertbare stehen, fallen die Sprecher des Lokutors vor allem dadurch auf, dass sie zu den semantischen Einheiten von [xn] in ein zickzackförmiges Verhältnis treten, weil sie [xn] nie wiedersprechen aber [xn] auch nie ausdrücklich unterschreiben. Nach Authier-Revuz können diese Rückzieher als „enunziative Schleifen“ gelesen werden. Enunziative Schleifen sind Diskurse über Diskurse und zeigen die Heterogenität des Sprachsystems (langue) an (Angermüller 2007c: 136). An dem Punkten, wo die Kohärenz der Sprache kollabiert, wird demnach Subjektivität in den Diskurs eingeführt. Das Subjekt gerät auf Distanz zum Gesagten und wird so als Bruchlinie sichtbar (Authier 1983). Das seltsame Verhältnis zwischen den Sprechern von [l] und [x] soll im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der enunziativen Schleife etwas detaillierter untersucht werden.
...und der Verlust des Signifikats Ein genauerer Blick auf Aussage (3) kann über diese Irritation Aufschluss geben. Aussage (3): „weil damit für die interne, die externe und die agenturbezogen-externe Qualitätssicherung nicht mehr ausreichend erscheint,
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sich auf die Betrachtung des Studiengangs als solchen, also gewissermaßen des „Produkts“, zu beschränken, ohne den Blick auch auf die studiengangentwickelnde Qualität der Hochschule, also quasi des „Produzenten“, zu richten.“ Der zweite Nebensatz dieser Aussage kann in zwei grammatikalische Ebenen zerlegt werden. Einmal in den Nebensatz mit den beiden Einschüben (siehe oben) und einmal ohne diese beiden Einschübe: Aussage (3) ohne Einschub: „weil damit für die interne, die externe und die agenturbezogen-externe Qualitätssicherung nicht mehr ausreichend erscheint, sich auf die Betrachtung des Studiengangs als solchen [Einschub 1] zu beschränken, ohne den Blick auch auf die studiengangentwickelnde Qualität der Hochschule [Einschub 2] zu richten.“ Einschub 1: also gewissermaßen des „Produkts“ Einschub 2: also quasi des „Produzenten“ Zunächst fällt auf, dass sich der Satz ohne die beiden Einschübe gleich viel fließender liest. Erst durch die Kommentare (Einschub 1 und 2) wirkt er so verschachtelt und kompliziert. Die Einschübe 1 und 2 können ebenfalls als enunziative Schleifen gelesen werden. Demnach kommentiert der Diskurs hier mit diesen Einschüben die beiden Nomen „Studiengang“ und „studiengangentwickelnde Qualität der Hochschule“, wodurch die Verständlichkeitsselbstverständlichkeit der beiden Nomen zurückgenommen und die Bedeutung (das Signifikat) infrage gestellt wird. So distanziert der Lokutor sich graduell von diesen beiden Nomen (Signifikanten), ohne sie jedoch völlig zurückzuweisen. Dadurch bringt der Diskurs eine Irritation hervor, weil durch das permanente Aufstellen eines neuen Kandidaten und den prompten Rückzug desselben immer unklarer wird, was hier eigentlich gesagt werden soll. Dieser Zerbröselungsprozess des Signifikats setzt sich nun in den Einschüben fort. Während der Abtönungspartikeln „also“ eine Zuspitzung einleitet, wird durch „gewissermaßen“ und „quasi“ eine weitere enunziative Schleife eingeleitet, die sich auf die Nomen „Produkt“ und „Produzenten“ bezieht. Schließlich evozieren die Gänsefüßchen wiederum eine Distanzierung. So lässt der Lokutor hier durch die Zitation eine anonyme Instanz einen Begriffsvorschlag für das infrage stehende Signifikat machen, das zwar einerseits angenommen wird, aber dann doch wieder auf Distanz bleibt. Die enunziative Schleife, die eine Distanzierung des Lokutors vom zuvor Gesagten anzeigt, besteht selbst aus wie202
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derum zwei enunziativen Schleifen. Der Diskurs kommt mit dem, was er hervorgebracht hat, nicht ins Reine und sieht sich veranlasst, durch immer neue Schließungsversuche einen nicht greifbaren Rest zu integrieren. Dieses Zickzackspiel der Wider/Strebung lässt sich nun bis auf die semantische Ebene der Metaphern „Produkt“ und „Produzent“ selbst zurückverfolgen. Während die Metapher „Produkt“ als eine passende Umschreibung für das Nomen „Studiengang“ gelten kann, scheint die zweite Metapher etwas verunglückt. Denn „Produktionsprozess“ wäre wohl die angemessenere Umschreibung für „studiengangentwickelnde Qualität der Hochschulen“ gewesen. Oder soll wirklich der „Produzent“, also die „Hochschulen“, und nicht der „Produktionsprozess“, also das „Qualitätssicherungssystem“ akkreditiert werden? Die Dynamik dieses Diskurses kann somit als ein Prozess der Verschiebung des Signifikats und eine permanente Distanzierung vom Gesagten durch aneinander anknüpfende enunziative Schleifen beschrieben werden, der an einer spezifischen Stelle kollabiert: Abbildung 2: Gesagtes
1) 2)
per1 (1) per2 (4) per3 (7) Studiengang/ studiengangentwickelnde Qualität
Formmerkmal der enunziativen Schleife per1 (3) per2 (5) per3 (12 Einschub 1 / 2; Produkt, Produzent „gewissermaßen“/„quasi“
3)
Produkt/Produzent
4)
Kollaps
Semantische Irritation
a)
Produkt = Studiengang
passt
b)
Produzent = studiengangentwickelnde Qualität
passt nicht
Gänsefüßchen
203
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Zusammenfassung: von den Produktionskontexten zu den Rezeptionsmöglichkeiten Interpretation I: hermeneutische Rezeption Der Diskurs hat offensichtlich gravierende Probleme damit, seine Sprecher entsprechend in Stellung zu bringen, um etwas Nachvollziehbares vertreten zu können. So stellt sich einerseits die Frage, wer für die Sprecherperspektive [x] infrage kommt, und zweitens bleibt offen, wie das „abwesende Signifikat“, oder das „Gemeinte“, umschrieben werden kann. Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. Ohne Zweifel kommt für per1 (1) nur eine institutionelle Adresse infrage: Die Minister auf der Bergen-Konferenz. Die Sprecherperspektive wird aber in eine ambivalente Stellung zu den anderen Sprecherperspektiven gebracht. So scheint diese Perspektive dem Konflikt zwischen dem Lokutor und dem Allokutor einerseits enthoben zu sein. Per1 (1) ist auf eine eigentümliche Weise (omni)präsent, weil der Zeitpunkt der Äußerung und die Verantwortungsträger unsichtbar gemacht worden sind. Andererseits wirkt diese Sprecher auf gewisse Weise naturalisierend, geht es doch im Widerstreit zwischen dem Lokutor und dem Allokutor nicht um ein Sollen, sondern um ein Sein. Die Frage, die diese beiden widerstreitenden Perspektiven verhandeln, lautet eben nicht „wollen wir beides, Studiengang und Qualitätssicherungssystem, akkreditieren?“, sondern „wird demnächst beides akkreditiert?“, vertreten doch sowohl der Lokutor als auch der Allokutor nur konstative Sätze, also Sätze, die hinsichtlich der Frage wahr vs. falsch evaluiert werden können, nicht hinsichtlich gut vs. schlecht. Der letzte Evaluationsmodus gilt dagegen für normative Sätze wie P(1). Die Sprecherperspektive [x] markiert demnach einen Ort, wo die Entscheidung (das „Sollen“) immer schon gefallen ist, während Lokutor und Allokutor diese Entscheidung dann scheinbar bloß noch interpretieren (das „Sein“). Aber kann es so schwierig sein herauszufinden, ob nun beides akkreditiert werden soll oder nicht? Offensichtlich, und dies hat zwei Gründe. Einerseits sind die Bologna-Dokumente oft uneindeutig und schwammig formuliert (siehe Kapitel 7.1). Andererseits haben sie keine rechtliche Gültigkeit. Rechtliche Gültigkeit erlangen die beschlossenen Maßnahmen erst in der Umsetzung auf nationaler Ebene. Und hier gilt nationales Recht. Im Falle der Studiengangsstruktur und -inhalte haben die Hochschulen volle juristische Autonomie. Allerdings, und dies ist von Land zu Land, von Hochschule zu Hochschule und von Studienfach zu Studienfach sehr unterschiedlich, können die übergeordneten Ebenen des Bildungsföderalismus (Bund, Land, Fakultät etc.) auf die untere Ebene immer informellen Druck ausüben („Erpressung“, vgl. Kapitel 204
DIE POLITISCHE LOGIK DES BOLOGNA-PROZESSES: EINE DISKURSANALYSE
6.2). Die Erpressung findet allerdings in der Blockade der unteren Ebene immer seine Grenze. Und aus diesem Grunde kann die Erpressung allein nicht funktionieren, ist doch das Widerstandspotential zu unberechenbar. Dieses Verhältnis von Erpressung und Blockade sowie die damit einhergehende implizite Androhung eines Widerstandspotentials legt die Vermutung nahe, dass in diesem Diskurs noch eine weitere Instanz „mitredet“. Die unterschiedlichen Sprecherperspektiven und diskursiven Elemente, die durch das polyphone Spiel des Textes hervorgebracht werden, eröffnen ein weites Feld an Kombinationsmöglichkeiten. So kann beispielsweise die Metapher „Produzent“ rückübersetzt werden. Die Frage lautet dann, durch welches Element kann „Produzent“ im Kontext von „Produkt“ = „Studiengang“, „studiengangentwickelnde Qualität“ = „Produktionsprozess“ substituiert werden? Wäre „die Hochschulen“ nicht eine passende Entsprechung? Dann finden wir im institutionellen Kontext das Nomen „Akkreditierungsrat“. Schließlich haben wir es hier mit der Reform des Akkreditierungswesens zu tun. Wenn schon der Lokutor sich nicht mit diesem Ziel eindeutig identifizieren will, dann ist es zumindest [x], der dieses Ziel vertritt. Setzen wir nun die Nomen aus diesem Kontext in die Aussage (3) ein, dann erhalten wir einen Satz, der etwas über diskursiv-institutionelle Problematik dieses Reformdiskurses sagen könnte. „weil damit für den Akkreditierungsrat nicht mehr ausreichend erscheint, sich auf die Betrachtung des Studiengangs als solchen, also gewissermaßen des „Produkts“ (= das alte Akkreditierungswesen), zu beschränken, ohne den Blick auch auf die Hochschule, also quasi des „Produzenten“ (= der das neue Akkreditierungswesen etablieren soll), zu richten.“
Insgesamt können nun vier diskursive Figuren beschrieben werden, die dieser Diskurs hervorbringt.
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Zunächst eine anonyme und in gewisser Hinsicht „über dem Geschehen“ stehende Instanz [x], die den Ort der getroffenen Entscheidung markiert und von wo aus normative Sätze geäußert worden sind [per1 (1)]. Dann eine evaluierende Instanz, wo die Sprecherperspektiven verortet sind, die die „richtigen“ Interpretationen des von [x] Geforderten bzw. Beschlossenen vertreten. Diese Instanz wird vom Lokutor angenommen. Dem gegenüber steht drittens die Instanz des Allokutors, wobei der Allokutor einen schweren Stand hat und tendenziell absurde Positionen vertreten muss. 205
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
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Schließlich wird mit den „Hochschulen“ eine vierte Instanz realisiert, die dem Diskurs in gewisser Hinsicht zu entgleiten scheint. Dieser „abwesende Sprecher“, so die These, wird über die spiralförmige enunziative Schleife evoziert und durch einen spezifischen Zensurmechanismus nur implizit sichtbar gemacht. Er muss irgendwie präsupponiert oder hermeneutisch „erahnt“ werden, damit der Text Sinn macht.
Im institutionellen Gefüge des bildungspolitischen Kulturföderalismus sind die Hochschulen der Ort, wo die Reform letztlich umgesetzt werden muss. Auch wenn die Hochschulen hier nicht ausdrücklich zu Wort kommen, scheinen sie doch äußerst präsent zu sein. Sie sind nämlich nicht nur der Ort der Umsetzung, sondern auch der Ort des potentiellen Scheiterns der Reform. Betrachtet man diesen Beitrag von Jürgen Kohler als eine Aufforderung an die Hochschulen, ein Qualitätssicherungssystem einzurichten, das von den Akkreditierungsagenturen akkreditiert werden wird, berücksichtigt man die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 GG und die institutionalisierten Widerstandspotentiale der Hochschulen im Bildungsföderalismus, dann könnte dies ein Teil der Erklärung für diesen holprigen, kantigen Diskurs sein. So können die Hochschulen als eine diskursive Instanz beschrieben werden, die im Prozess des Schreibens dieses Artikels als imaginärer Zensor „mit am Schreibtisch saßen“ und den Autor immer wieder dazu zwangen, sich von dem, was er gerade aufschreibt, zu distanzieren, während der andere Zensor, nämlich die Minister auf der Bergen-Konferenz, gewissermaßen „im Vorzimmer seines Büros“ warteten und ihren Bologna-Technokraten nicht raus lassen würden, bis er einen Artikel über „Neues zur Qualitätsfrage“ geschrieben hat. So prallen in diesem Diskurs zwei Gesetze aufeinander, die im politischen Imaginären des Bologna-Diskurses von zwei Figuren vertreten werden, die trotz ihrer Distanz zueinander komplementäre Charakteristika aufweisen. Während „Bologna“ (oder „die Minister“) mit der sanften, aber unsichtbar gemachten Macht einer indiskutablen Entscheidung als eine Instanz auftritt, werden „die Hochschulen“ als verstreute, ungreifbare, heterogene, potentielle Widerstandguerilla entworfen. Beide befinden sich an einem unsichtbar gemachten Ort, in einem „Irgendwo“, die der Diskurs nur über seine Lücken und Brüche reflektiert. So kann ausgehend von dieser hermeneutischen Rezeption ein Vier-Felder-Schema entworfen werden, das sich aus einer unsichtbar gemachten Autorität [x], einem interpretierenden Technokraten [l], einem technokratischen Hasardeur [a] und einer anonymen, unberechenbaren Akteursgruppe zusammensetzt.
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Interpretation II: politische Rezeption Während bereits bei der Produktion von politischen Aussagen unterschiedliche kontextuelle Arrangements in die Aussage einschrieben werden, reflektiert die Aussage nicht einfach nur diese institutionellen Elemente. Vielmehr verlässt die Aussage ihre Produktionskontexte und funktioniert in unterschiedlichen Rezeptionskontexten als autonomes politisches Instrument. Dabei fungieren die Spuren der Äußerung, also das oben herausgearbeitete facettenreiche und brüchige Arrangement, als Kontextualisierungsvehikel für die Rezeption. Aus der Perspektive der Leser inszeniert der Text ein Schauspiel, das folgendermaßen dargestellt werden könnte: Aussage 1 Mr. X: neben der Programmebene als Gegenstand der zu Akkreditierungszwecken zu analysierenden Qualität [sollen] auch die hochschuleigenen Vorkehrungen zur Steuerung der institutionellen Prozesse bei Studiengangsentwicklung und –fortschreibung Akkreditierungsobjekt sein. Kohler1: Das, was Mr. X sagt, ist das mindeste. Kohler2: unter Berücksichtigung dessen, was vorher gesagt wurde („damit“), hat Mr. X vielleicht („angedeutet“) Recht hat. Aussage 2 Kollege1: Was Mr. X, Kohler1 und/oder Kohler2 sagen („dies“), ist von erheblicher Brisanz. Kohler3: Aus der Sicht des bisherigen deutschen Akkreditierungsansatzes hat mein Kollege Recht. Kohler4: Wenn Sie als Leser wissen wollen, warum Kohler3 Recht hat, folgen Sie dem unten stehenden Dialog! („weil“) Aussage 3: Kollege2: für die interne, die externe und die agenturbezogen-externe Qualitätssicherung (ist es) ausreichend, X zu tun. (Anmerkung: X wird erst weiter unten verhandelt)
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DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Kollege3: Kollege2 hat bezüglich der Gegenwart Unrecht. („nicht mehr“) Kollege4: Kollege2 hat bezüglich der Vergangenheit Recht. („nicht mehr“) Opponent1 (mgl. Leserpräsupposition): Wenn Kollege3 Recht hat, könnte dann nicht Kollege4 Unrecht haben? („nicht“) Kohler4: Kollege3 und Kollege4 haben tendenziell Recht. („erscheint“) Qualitätsexperte1 bringt folgende Idee ins Spiel: „die Betrachtung des Studiengangs als solchen (durchführen).“ (Implikation von „beschränken“) Ein Nebenschauplatz wird eröffnet: Ein Kommentator zitiert einen anonymen Sprecher: „also das Produkt“ Kohler5: eventuell hat der Kommentator Recht. („gewissermaßen“) Qualitätsexperte2 steht für folgende Idee: „den Blick auch auf die studiengangentwickelnde Qualität der Hochschule richten.“ Ein weiterer Nebenschauplatz wird eröffnet: Ein Kommentator zitiert einen anonymen Sprecher: „also den Produzenten“ Kohler6: eventuelle hat der Kommentator Recht. („quasi“) Opponent2: der Idee von Qualitätsexperte2 nicht folgen! („beschränken“, „ohne“) Kohler5: der Opponent2 hat nicht Recht. Wenn der Leser den Text von Kohler ernst nehmen will, muss er sich die Frage stellen: Was will Kohler sagen? Um diese Frage allerdings zu beantworten, muss er sich durch das hier dargestellte Gewimmel von semantischen Einheiten bzw. Propositionen durcharbeiten. Die vom Text hervorgebrachten Propositionen werden aber nicht alle von Kohler vertreten. Vielmehr werden sehr unterschiedliche Figuren sichtbar gemacht, die der Leser irgendwie für sich kenntlich machen muss. Dies 208
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könnte wie im oben inszenierten Fall geschehen, indem mit den abstrakten Sprecherperspektiven (per1, 2, n) sozialstrukturelle Personen verknüpft werden („Kohler“, „Qualitätsexperte“ etc.). Dabei stechen drei Merkmale hervor. Zunächst mobilisiert der Diskurs auf der einen Seite eine ganze Schar von Figuren, auf die der verantwortliche Sprecher „Kohler“ sich bezieht, um seine Aussage (Kohler5) hervorzubringen. Zweitens fällt auf, dass der Kohler-Diskurs immer auch einen Opponenten konstruiert (der Allokutor). Schließlich funktionieren sowohl Proponent (Lokutor) als auch Opponent (Allokutor) nur vor dem Hintergrund des mysteriösen Mr. [X], der hervorgebracht werden muss, damit Opponent und Proponent ihre Interpretationsvorgänge durchführen können. Die Leser können nun mit den hier evozierten diskursiven Figuren und semantischen Einheiten sehr unterschiedliche Wissensvorräte verbinden und sind (fast) frei darin zu entscheiden, ob sie Proponent oder Opponent folgen, obwohl der Lokutor hier freilich eine klare Empfehlung für den Proponenten ausspricht. Aber kann der Leser dem Proponenten oder dem Opponenten folgen, ohne Mr. [X] ratifiziert zu haben? Auch Mr. [X] muss vom Leser irgendwie konstruiert werden, obgleich dies eher implizit geschieht und als „Fakt“ rationalisiert werden kann. Denn während Proponent und Opponent diskursive Verantwortungsträger sind, besteht die Rolle von Mr. [X] gerade darin, Verantwortung unsichtbar zu machen. Dieses Merkmal des Bologna-Prozesses soll in den folgenden Diskursanalysen weiter elaboriert werden. Bevor wir dies tun, wollen wir aber zum Abschluss noch einmal Kohler zu Wort kommen lassen. Wenn wir ausformulieren würden, was Kohler letztlich sagt („Kohler5“), könnte das folgendermaßen aussehen: Kohler: Mit dem, was vorher über das Bergener Kommuniqué gesagt wurde, wird angedeutet, dass Mr. X Recht hat. Mein Kollege hat nun Recht, wenn er sagt, dass dies von erheblicher Brisanz ist, unter der Voraussetzung freilich, dass wir dies aus der Sicht des deutschen Akkreditierungsansatzes betrachten. Denn es könnte tendenziell richtig sein, dass meine Kollegen Recht haben, wenn sie sagen, dass früher der Studiengang als solcher akkreditiert wurde. Heute dagegen würde ich den Opponenten zurückweisen, wenn er konstatiert, dass der Qualitätsexperte, der sagt, dass auch die studiengangentwickelnde Qualität zu betrachten ist, Unrecht hat.
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Der Populist Neben der Interpretation der Bologna-Dokumente, die oft sehr technokratisch wirkt, ist die „Umsetzung“ eine der größten Herausforderungen im Bologna-Prozess. Zu dieser Frage sind zahlreiche Publikationen in den letzten Jahren erschienen. Die Publikationen reichen von den von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) herausgegebenen Bänden, die zahlreiche Dokumente zum Bologna-Prozess enthalten, Expertisen des HoF Wittenberg und der HIS GmbH, Evaluationsstudien zur Umsetzung des Bologna-Prozesses über Kommentare, Best-Practice-Verfahren und Erfahrungsberichte bis hin zu wissenschaftlicher Begleitforschung durch die Hochschulforschung (vgl. Kapitel 3). Zum Bologna-Prozess finden darüber hinaus zahlreiche Seminare und Tagungen statt. Die HRK hat, vom BMBF finanziert, eigens eine Servicestelle Bologna eingerichtet und entsendet über das Kompetenzzentrum Bologna zahlreiche Bolognaexperten, die ausgewählten Hochschulen bei der Umsetzung Unterstützung zukommen lassen. Die Umsetzung des Bologna-Prozesses ist aber nicht nur eine organisatorische Aufgabe. Vielmehr sind die zahlreichen Appelle an die Hochschulen, die Studienreform „richtig“ durchzuführen, und die Wirtschaft, den Bachelorabschluss anzuerkennen, Teil der UmsetzungsDiskurse. In diesen Diskursen tauchen handfeste und griffige Schlagworte wie „alter Wein in neue Schläuche“ vs. „wirkliche Curriculumreform“ auf, weshalb diese Diskurse oft etwas populistisch wirken. Gerade in Texten, die im Namen der HRK veröffentlicht werden, sind solche Appelle nicht selten. Dies kann auf den Beobachter durchaus irritierend wirken, ist die HRK doch ihrem Selbstverständnis nach die „Stimme der Hochschulen“ in der Öffentlichkeit. Wenn also die „Stimme der Hochschulen“ öffentlich an ihre eigene Klientel appelliert, die sie ja in der hochschulpolitischen Öffentlichkeit gegenüber anderen Akteuren vertritt, dann stellt sich die Frage, in wessen Namen die HRK dann eigentlich spricht? Die HRK gilt als eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen, kooperativen Akteure im hochschulpolitischen Feld (vgl. Kapitel 6.2). Sie ging nach der deutschen Wiedervereinigung aus der „Westdeutschen Rektorenkonferenz“ hervor und fusionierte Mitte der 1990er Jahre mit der Interessenvertretung der Fachhochschulen (FRK). In ihr sind fast alle Hochschulen Deutschlands vertreten. Finanziert wird die Arbeit der HRK, die über zahlreiche feste Stellen und ein Sekretariat in Bonn verfügt, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Das Budget beträgt ca. 3 Mio. € p.a. Anders als andere kooperative Akteure der hochschulpolitischen Polity wird die HRK eng in die Arbeit der KMK 210
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und des BMBF mit eingebunden (vgl. Kapitel 6.2). Gerade im Rahmen des Bologna-Prozesses sind zahlreiche Beschlüsse und Empfehlungen veröffentlicht wurden, die von KMK und HRK gemeinsam gefasst wurden. Die HRK ist demnach eng in die Arbeit der KMK eingebunden, deren Beschlüsse und Empfehlungen oft Gesetzescharakter haben. Auch zum Bundesministerium pflegt die HRK eine enge Beziehung, die über finanzielle Zuwendungen hinausgeht und sich in gemeinsamen Veröffentlichungen, PR-Kampagnen und Policy-Strategien manifestiert. Nicht zuletzt ist die HRK zu 20% am Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann-Stiftung beteiligt. Nachdem die Strategie der Untertunnelung Ende der 1980er Jahre offiziell als gescheitert angesehen war und die Hochschulstrukturen zunehmend ins Visier der Hochschulpolitik gerieten (vgl. Kapitel 6.3), entstand zwischen den staatlichen Vertretern und der Hochschulrektorenkonferenz ein zunehmend angespanntes Klima. Während die Hochschulen an die staatliche Finanzverantwortung appellierten, konterten Bund und Länder mit dem Argument, die Hochschulen seien zu „ineffizient“ und der Staat habe kein Geld. Die HRK verfolgte bis Mitte der 1990er Jahre unter ihrem damaligen Präsidenten Hans-Uwe Erichsen eine „Policy-Deal-Strategie“, die vorsah, dass die HRK sich intensiv um Strukturreformen bemühte und im Gegenzug von staatlicher Seite mehr Autonomie und die Aussicht auf finanzielle Zuwendungen erhielt. Nach der Amtszeit von Erichsen verfolgte sein Nachfolger Klaus Landfried diese Strategie weiter. Jedoch verschob sich unter Landfried zunehmend der Akzent in Richtung der Einforderung von „Reformen“ an den Hochschulen. Dies gipfelte in einen Vorwurf Landfrieds an den Deutschen Hochschulverband (DHV), wo er die Professoren als „faule Säcke“ bezeichnete (vgl. dazu Maeße 2006). So entwickelte die HRK im Laufe der 1990er Jahre ein Policy-Profil, das sie zunehmend als „Reformer der Hochschulen“ sichtbar machte.
„Bologna umsetzen!“... Das folgende Textfragment ist ein Auszug aus einer Rede, die der damaligen Präsidenten der HRK, Peter Gaehtgens, auf einer Tagung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) und der HRK am 23. September 2003 in Berlin gehalten hat. Die Tagung trug den Titel „Mit dem Bachelor ins Unternehmen. Auswirkungen des Bologna-Prozesses auf Ausbildungs- und Karrierestrukturen im Bereich der Wirtschaftswissenschaft“. Veröffentlicht sind die Tagungsbeiträge in einem Tagungsband (Hochschulrektorenkonferenz 2004). Gaehtgens geht in seiner Rede zunächst auf die 2. Ministerkonferenz in Berlin ein und betont die große Bedeu211
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tung des Bologna-Prozesses für die Entwicklung Europas im Rahmen der Lissabon-Strategie, wonach Europa bis 2010 zum „dynamischsten und wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden soll. Danach hebt Gaehtgens hervor, dass der Europäische Hochschulraum keine „McDonaldisierung“ der europäischen Hochschulen einleite, sondern auf die „kulturellen Traditionen“ der europäischen Hochschulen aufbaue. Anschließend kommt er auf die kommende Konferenz in Bergen 2005 zu sprechen. Nachdem Gaehtgens seinen Bericht über die Berlin-Konferenz abgeschlossen hat, folgt der unten stehende Abschnitt. „[...] (1) Wir haben eine umfassende Studienreform vor uns. (2) Es geht dabei aber nicht nur um die Veränderung eines Etiketts, sondern die Grundidee der Gestaltung von Ausbildungsgängen an deutschen Hochschulen verändert sich: (3) Die Aufgabe besteht nicht in einer technischen Neuordnung des Studienablaufs, sondern in einem neuen Nachdenken über Studieninhalte und deren Notwendigkeit angesichts des späteren Berufszieles der Studierenden und ihrer Qualifikation für einen sich stark verändernden internationalen Arbeitsmarkt. (4) Das ist für die deutschen Hochschulen wirklich neu und für diejenigen, die angefangen haben darüber nachzudenken, nicht einfach. (5) Denn ein Bekenntnis zu Bachelor und Master heißt natürlich auch, dass der Bachelor in Zukunft der Regelabschluss sein wird: (6) Nur wenn wir dieses Ziel erreichen, wird eine Verkürzung der überlangen Studiendauer und hoffentlich auch eine Verminderung der teilweise hohen Abbrecherquoten erreicht [...]“ (aus: „Begrüßung“, Peter Gaehtgens, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, in: „Mit dem Bachelor ins Unternehmen. Auswirkungen des BolognaProzesses auf Ausbildungs- und Karrierestrukturen im Bereich der Wirtschaftswissenschaft“, vgl. Hochschulrektorenkonferenz 2004, S. 10)
Werfen wir einen ersten Blick auf das Textfragment, dann fällt auf, dass auch dieser Text mit Nominalisierungen regelrecht übersät ist („Veränderung“, „Gestaltung“ [2]; „Aufgabe“, „Neuordnung“, „Nachdenken“, „Notwendigkeit“ [3]; „Bekenntnis“ [5], Verkürzung“, „Verminderung“ [6]). Auf der anderen Seite kommt der Negationsoperator „nicht“ insgesamt drei Mal vor (Aussage [2], [3] und [4]). Schließlich operiert dieser Diskurs mit „diskursiver Subjektivität“ (Kerbrat-Orecchioni nach Angermüller 2007c: 143), weil er relativ viele subjektive Spuren aufweist. In Aussage (1) und (6) operiert der Diskurs mit der deiktischen Form „wir“ (bzw. „uns“) und in Aussage (1), (3), (4) und (5) mit den axiologischen Partikeln „umfassend“, „stark“, „wirklich“ und „natürlich“. Dieses gemeinsame Auftreten relativ vieler subjektiver Spuren, Negationsoperatoren und Nominalisierungen wirkt auf den ersten Blick ungewöhn212
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lich, weil technokratische Texte in der Regel mit relativ vielen Nominalisierungen operieren, wohingegen politische Texte eher durch ein häufiges Auftreten von deiktischen und polyphonen Operatoren gekennzeichnet sind. Denn während die subjektiven Spuren den verantwortlichen Sprecher sichtbar machen, verwischen Nominalisierungen diskursive Verantwortlichkeit, indem sie die semantischen Einheiten, die im ersten Fall vom verantwortlichen Sprecher angenommen und verantwortet werden müssen, als Jedermannswissen postulieren. Anonymität und Subjektivität gehen hier eine bizarre Symbiose ein. Schauen wir uns das etwas genauer an. In Aussage (1) markiert der Diskurs durch das Personalpronomen der ersten Person Plural „wir“ den verantwortlichen Sprecher, der als Teil einer Gruppe sichtbar gemacht wird: per1 (1): [l] P(1): „Wir haben eine umfassende Studienreform vor uns“
Das Personalpronomen kann nicht nur als deiktischer Verweis auf der Äußerungsebene untersucht werden, sondern auch als bezeichnendes „wir“ auf der Aussageebene. Dadurch wirkt „wir“ auf die Leser nicht nur inkludierend. Vielmehr müssen auch diejenigen, die nicht von „wir“ interpelliert werden, unterstellen, dass Gaehtgens hier im Namen einer imaginären Gemeinschaft spricht. Diese Gemeinschaft wird wie in einem Wettlauf vom Diskurs aufgestellt und durch das Ortsadverb „vor“ auf einen räumlichen Punkt orientiert, der metaphorisch auch als Zeitpunkt vorstellbar ist („hier“ metaphorisch für „heute“; „dort“ metaphorisch für „morgen“): t1. Ausgehend von t1 wird ein Punkt in der Gegenwart sichtbar: t0, der als Startlinie gegenüber der Ziellinie t1 markiert wird. Durch „uns“ richtet sich schließlich der Blick der Gruppe auf t1. Die Läufer stehen nun im sprichwörtlichen Sinne „in der Startlöchern“. Bevor aber der Startschuss fallen kann, muss erst noch das Laufparkett ausgelegt, die einzelnen Bahnen markiert und die Ziellienen symbolisch sichtbar gemacht werden. Dies nimmt der Diskurs in den nun folgenden Aussagen vor. Die Aussagen (2) und (3) können als eine erste grobe Zielbestimmung gelesen werden, indem der Negationsoperator „nicht“ jeweils drei komplementäre Sprecher entwirft, die für jeweils zwei unterschiedliche Zieldefinitionen plädieren: Aussage (2) per2 (2): [a]: P(2): „Es geht per1 (1) („dabei“) nur um die Veränderung des Etiketts“
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per2 (3): [l1]: NEIN [per2 (2)] per2 (4): [l0] P(3): „die Grundidee der Gestaltung von Ausbildungsgängen an deutschen Hochschulen verändert sich“ Aussage (3) per3 (5): [a] P(4): „Die Aufgabe besteht in einer technischen Neuordnung des Studienablaufs“ per3 (6): [l1]: NEIN [per3 (5)] per3 (7): [l0] P(5): „die Aufgabe besteht in einem neuen Nachdenken über Studieninhalte und deren Notwendigkeit angesichts des späteren Berufszieles der Studierenden und ihrer Qualifikation für einen sich stark verändernden internationalen Arbeitsmarkt“
Das Adverb „dabei“ in Aussage (2) verknüpfet diesen Teil des Diskurses mit der Aussage (1), indem sie auf per1 (1) anaphorisch zurückverweisen („dabei“). Die Nominalisierungen „Veränderung des Etiketts“ (2), „Grundidee der Gestaltung“ (3), „technische Neuordnung des Studienablaufs“ (5) und „neues Nachdenken über Studieninhalte“ (7) markieren dagegen einen durch zwei Lager konturierten Raum. Die binäre Raumaufteilung lässt sich mit einer Tabelle folgendermaßen darstellen: Abbildung 3: „per1 (1)“ = „dabei“ = „die Aufgabe“ Lokutor
Allokutor per2 (2)
per2 (3) per2 (4) per3 (5) per3 (6) per3 (7) Veränderung des Etiketts Nein Grundidee der Gestaltung Technische Neuordnung Nein Neues Nachdenken über Studieninhalte 214
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Wie anhand dieser Illustration deutlich wird, lassen sich einige Formen des Textes der Seite des Lokutors und andere der des Allokutors zuordnen. Zuerst macht der Allokutor einen Vorschlag [per2 (2) und per3 (5)], der in einem zweiten Schritt vom Lokutor zurückgewiesen wird [per2 (3) und per3 (6)], woraufhin der Lokutor abschließend selbst einen eigenen Vorschlag vorträgt [per2 (4) und per3 (7)]. Durch dieses recht überschaubare, klar strukturierte dialogische Spiel gelingt es dem Lokutor, seinen Leuten zu zeigen, in welche Richtung sich die Laufbahn erstreckt: „lauf‘ nicht Richtung ‚technische Neuordnung‘ und ‚Veränderung des Etiketts‘; die richtige Bahn erstreckt sich entlang der Linie ‚neues Nachdenken‘ und ‚Grundidee verändert sich‘!“ Auffällig ist jedoch, dass sich mit „dabei“ und „die Aufgabe“ zwei Elemente weder der einen noch der anderen Seite zuordnen lassen. Während „dabei“ anaphorisch auf per1 (1) zurückverweist, scheint das Nomen „die Aufgabe“ eine Neubezeichnung vorzunehmen. Aber was wird mit „die Aufgabe“ bezeichnet? Ein Gegenstand wie „Studienreform“? Diese Lösung ist ausgeschlossen, weil Lokutor und Allokutor diese Frage ja erst verhandeln müssen. Denn es ist ja der Inhalt bzw. die Bedeutung der „Aufgabe“, die hier unklar ist. Zudem ist es fraglich, ob die Richtungsvorgaben, die Lokutor und Allokutor hier geben, tatsächlich so eindeutig sind, wie es auf dem ersten Blick scheint. Denn wenn der Leser sich fragt, was „technische Neuordnung“ und „neues Nachdenken“ genau bedeutet, wo soll er da nachschauen? Der Text selbst kommt über nichtssagende Worthülsen nicht hinaus. Und schließlich müssen die Läufer und die Leser sich fragen, welche seltsame Figur die Mannschaft hier auf die falsche Fährte lenken will. Denn während mit dem Präsidenten der HRK eine hochschulpolitische Autorität für die Glaubwürdigkeit und Seriosität des Lokutors birgt, ist der Allokutor mit keiner institutionellen Adresse ausgestattet. Er hängt irgendwie lose im institutionellen Raum und scheint widersinnige Positionen zu vertreten. Aber ist die Seriosität des Fürsprechers nicht irgendwie immer auch an die Redlichkeit seines Gegenspielers gebunden? Diese drei Probleme, die Rolle von „die Aufgabe“, die Bedeutung der nichtssagenden Richtungsmarker „neues Nachdenken“ etc. sowie die auffällige Rolle, die Lokutor und Allokutor hier zu spielen scheinen, sollen der Ausgangspunkt der nun folgenden Diskussion sein.
...(und die anderen sprechen) „lassen“ Wenn wir die Nominalisierungen, die im unteren Teil der Tabelle aufgelistet sind, nun selbst äußerungstheoretisch untersuchen, dann erhalten wir ein wesentlich komplexeres Bild des Diskurses. Demnach würden
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hier nicht sechs, sondern insgesamt zwölf Sprecher auftreten, von denen einige hinter den Nominalisierungen versteckt sind: Aussage (2) per2 (2): [x1]: „Veränderung des Etiketts“ per2 (3): [a]: „Es geht per1 (1) nur um per2 (2)“ per2 (4): [l1]: NEIN per2 (3) per2 (5): [x2] P(3): „die Grundidee der Gestaltung von Ausbildungsgängen an deutschen Hochschulen“ per2 (6): [l0]: ANDERS per2 (5) („verändert sich“). Erläuterung: t-1 → t0 → t1, wobei für t-1 und t0 die „alte Grundidee“ und t0 und t1 die „neue Grundidee“ gilt. T0 kommt in beiden Varianten vor, da „verändert sich“ transitiv ist. Aussage (3) per3 (7): [x3]: „Die Aufgabe“ per3 (8): [x4]: „technische Neuordnung des Studienablaufs“ per3 (9): [a]: per3 (7) BEDEUTET per3 (8) per3 (10): [l1]: NEIN per3 (9) per3 (11) [x5]: „neues Nachdenken über Studieninhalte“ per3 (12): [x6]: „Notwendigkeit“ per3 (11) per3 (13): [l0]: per3 (7) BEDEUTET per3 (11) WEGEN per3 (12)
Weil die Nomen „Notwendigkeit“, „Nachdenken“, „Neuordnung“, „Aufgabe“, „Gestaltung“ und „Veränderung“ keine einfachen Substantive wie „Haus“ oder „Studiengang“ sind, sondern das Produkt eines Substantivierungsprozesses, der durch die Suffixe „-keit“ und „-ung“ im Nomen noch reflektiert wird, können sie als Sprecherperspektiven analysiert werden, denen der Verantwortungsträger abhanden gekommen ist: [x]. Damit verweisen sie auf gesellschaftliche und historische Orte, wo Akteure angenommen werden können, die dort Sätze geäußert haben wie: „es ist notwendig“, „ich denke neu nach“, „ich ordne neu“, „ihr sollt“, „ich gestalte“ und „ich verändere“. Wie Angermüller am Beispiel „Rassismus“ (2008) gezeigt hat, führen Nominalisierungen ein Wissen
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in den Diskurs ein, das vom Leser nur schwer hinterfragt werden kann und nach spontaner Anerkennung verlangt. In diesem Sinne funktionieren Vorkonstrukte wie Evidenzen, weil der Leser sich nicht die Frage stellen muss, ob tatsächlich irgendwelche Leute Studiengänge „technisch neu ordnen“ oder darüber „neu nachdenken“. Denn es sind nicht nur die Verantwortungsträger unkenntlich gemacht, zudem ist durch die substantivierte Form auch der propositionale bzw. der Satz-Charakter verschwunden. Nichtsdestotrotz sind auch diese Formen diskursiv wirksam. Werfen wir beispielsweise ein Blick auf das Vorkonstrukt „die Aufgabe“ [x3], dann fällt auf, dass die ganze Richtungsdebatte zwischen Lokutor und Allokutor völlig gegenstandslos wäre, wenn „die Aufgabe“ nicht vorkäme oder beliebig ersetzt würde. Denn ohne eine Aufgabe in dem Sinne, dass irgendjemand irgendwann eine Art „Auftrag“ erteilt hätte, wäre es geradezu sinnlos, nach dem Inhalt dieser Aufgabe zu suchen („technische Neuordnung“ vs. „neues Nachdenken“). So muss der Leser spontan anerkennen, dass es eine Aufgabe gibt. Dies allerdings ist nur möglich, wenn er gleichzeitig präsupponiert, dass es jemanden gibt oder gab, der diesen Auftrag erteilt hat. Und dies wiederum macht es unumgänglich, dass der Leser anerkennt, dass dieser Akt der Auftragserteilung eine Entscheidung voraussetzt, die implizit oder explizit, gewusst oder ungewusst, bemerkt oder eben unbemerkt als legitim gelten muss. Ohne diese Voraussetzung macht es keinen Sinn, überhaupt erst an den Start zu gehen, die richtige Bahn zu finden und loszulaufen. Das Vorkonstrukt „die Aufgabe“ führt somit einem Konsens über die Legitimität in den Bologna-Diskurs ein, über den Lokutor und Allokutor als Interpretationsagenten installiert werden. Ihre Aufgabe ist es, die genaue Bedeutung der Entscheidung von x3 herauszufinden. Die anderen Nominalisierungen wie „technische Neuordnung“ oder „neues Nachdenken“ sind zwar ebenfalls Vorkonstrukt. Auch von ihnen gehen die gleichen Kontextualisierungseffekte wie von „die Aufgabe“ aus. Aber im dialogischen Feld, das von diesem Diskurs aufgespannt wird, nehmen sie einen anderen Platz ein. Wie bereits in der Tabelle 1 deutlich wird, fungieren „Neuordnung“ und „Nachdenken“ ausgehend von „die Aufgabe“ wie Wegmarkierungen, wobei der Lokutor für „neu Nachdenken“ plädiert. „Neu Nachdenken“ bzw. „Neuordnung“ können einerseits ein konzeptuelles Wissen abrufen; will der Leser (und Gaehtgens Mannschaft) allerdings genau wissen, wohin sie laufen sollen, dann sind sie gezwungen, sich mit diesem konzeptuellen Wissen eingehend zu befassen. Und dies wiederum bedeutet, dass sich der Leser regelrecht vorstellt, wie irgendjemand „neu nachdenkt“, einen „Studiengang technisch neu ordnet“ oder das „Etikett verändert“. Der Lokutor verzichtet 217
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aber darauf, die Leute, die mit diesen Dingen beschäftigt sind oder sein könnten, zu nennen und gibt noch nicht einmal explizite Hinweise darauf, dass es Leute sind und dass diese einer Beschäftigung nachgehen. Stattdessen bedient er sich einer komplett verdinglichten, technokratischen Sprache. Bisher hat der Diskurs drei unterschiedliche Instanzen entworfen, die sich alle um das „Start-Ziel-Bild“ aus Aussage (1) herum gruppieren: eine Legislativinstanz, die durch das Vorkonstrukt „die Aufgabe“ ins Spiel gebracht wird (der Sportverband, der die Spielregeln festlegt); einen Lokutor, der für die „richtige“ Laufrichtung plädiert (der Trainer, der die Strategie festlegt); und einen Allokutor, der die Leute in die Irre führen will (ein „U-Boot“ des gegnerischen Teams); beide markieren ihren Vorschlag für die zurückzulegende Wegstrecke durch Vorkonstrukte, hinter denen der Leser (das Team) weitere Sprecher vermuten kann. Aber Gaehtgens Rede ist an dieser Stelle noch nicht beendet. Schauen wir also, was es für die Mannschaft vor dem Startsignal noch zu wissen gibt. Aussage (4) per4 (14): [l1] P(1): per2 (5), per3 (8), (11) („das“) ist für die deutschen Hochschulen wirklich neu“ per4 (15): [a] P(2): „per2 (5), per3 (8), (11) ist für diejenigen, die angefangen haben darüber nachzudenken, einfach“ per4 (16): [l0]: NEIN per4 (15) Aussage (5) per5 (17): [x7]: „Bekenntnis zu Bachelor und Master“ per5 (18): [l1] P(3): „der Bachelor wird in t1 („Zukunft“) der Regelabschluss sein“ per5 (19) [l0]: per5 (17) IMPLZIERT („denn“) per5 (18) Aussage (6) per6 (20): [x8]: „Verkürzung der überlangen Studiendauer“ per6 (21): [x9]: „Verminderung der teilweise hohen Abbrecherquoten“ per6 (22): [l0]: WENN per6 (18), DANN per6 (20) UND per6 (21)
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Auch hier wurden die Vorkonstrukte wieder mit einem Unterstrich gekennzeichnet, und wir sehen, dass weitere Plätze durch den Diskurs markiert werden. In Aussage (4) unterstreich Gaehtgens, dass der Weg, den er den Lokutor vorschlagen lässt, nicht zu unterschätzen ist („nicht einfach“), um in Aussage (5) darauf hinzuweisen, warum. Auch hierfür werden wieder jene Sprecher, die den Grund vertreten, warum dieser Weg nicht einfach ist, durch Vorkonstrukte unsichtbar gemacht. Schließlich findet Gaehtgens in Aussage (6) noch ein Argument dafür, warum die Läufer überhaupt loszulaufen sollen, wobei er dieses Argument ebenfalls durch verwischte Sprecher vertreten lässt, die er in per6 (22) nur noch argumentativ zusammenaddiert. Der Diskurs von Gaehtgens operiert also mit einer Reihe von vorkonstruierten Instanzen, die auf unterschiedliche Regionen des hochschulpolitischen Feldes verweisen. So wird durch die Verwendung zahlreicher Vorkonstrukte ein politisches Handlungsfeld entworfen, wo die Existenz politischer Akteure nur implizit vorausgesetzt werden kann. Das politische Handlungsfeld, das dieser Diskurs entwirft, lässt sich nun als ein Tableau konstruieren, das lauter implizite Hinweise auf verschiedene politische Handlungsträgerschaften gibt. So könnte sich vor dem inneren Auge des Lesers folgendes Szenario abspielen: (1) Wir haben eine umfassende Studienreform vor uns.
Der Anführer Gaehtgens stellt die Mannschaft auf („wir“) und gibt die Marschrichtung an („vor uns“; t0 → t1). (2) Es geht dabei aber nicht nur um die Veränderung eines Etiketts, sondern die Grundidee der Gestaltung von Ausbildungsgängen an deutschen Hochschulen verändert sich:
Bevor der Trupp losrennt, muss aber erst die Richtung genauer definiert werden („es geht dabei aber“). Dies erweist als etwas problematisch, weil einige wohl schon in die falsche Richtung unterwegs sind („nicht um Veränderung des Etiketts“), wobei nicht klar ist, wer dies ist, wann dies geschehen sein soll und wo dies genau stattfand bzw. stattfindet („Veränderung“ → Vorkonstrukt, wo die deiktischen Hinweise abgeschnitten sind). Die Mannschaft muss spontan anerkennen, dass es wohl stattgefunden hat bzw. die Gefahr besteht, dass es stattfinden könnte (Vorkonstrukteffekt 1). Um die Leute nicht schon am Ziel zu verunsichern, zeigt Gaehtgens anschließend in die richtige Richtung („die Grundidee der Gestaltung von Studiengängen verändert sich“), wobei er
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DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
hier seine Gefolgschaft nach einer „Grundidee“ suchen lässt. Wie bei einer Schnippseljagt gibt er ihnen einen verschachtelten Hinweis, was sie mit der Grundidee anfangen könnten. Die Läuferschaar muss implizit ein Szenario durchspielen, wo irgendwelche Leute dabei sind, auf irgendeine Art und Weise Studiengänge zu gestalten („Gestaltung von Studiengängen“) (Vorkonstrukteffekt 2). Das Team wird allerdings darauf hingewiesen, dass dies so, wie es früher gemacht wurde, jetzt nicht mehr gemacht wird („verändert sich“). (3) Die Aufgabe besteht nicht in einer technischen Neuordnung des Studienablaufs, sondern in einem neuen Nachdenken über Studieninhalte und deren Notwendigkeit angesichts des späteren Berufszieles der Studierenden und ihrer Qualifikation für einen sich stark verändernden internationalen Arbeitsmarkt.
Um wirklich sicher zu gehen, dass sich die Läufer in die richtige Richtung bewegen, wiederholt Gaehtgens die Zielvorgabe noch einmal, indem wieder auf zwei Orte hingewiesen wird, an denen irgendwelche Leute irgendetwas machen („den Studienablauf technisch neu ordnen“ bzw. „über Studieninhalte neu nachdenken“), wobei auch hier die Äußerungsquellen abgeschnitten sind („Neuordnung“, „Nachdenken“, Vorkonstrukteffekt 3 und 4). Zudem holt er sich etwas Verstärkung aus Europa („Aufgabe“, Vorkonstrukteffekt 5), wohin der legitimative Ort der Entscheidung wegdelegiert wird, und aus der hochschulpolitischen Debatte („Notwendigkeit“, Vorkonstrukteffekt 6), wo eine Konsensforderung den Weg in die richtige Richtung flankiert („Berufsbefähigung“/„Employabilty“). (4) Das ist für die deutschen Hochschulen wirklich neu und für diejenigen, die angefangen haben darüber nachzudenken, nicht einfach.
Da die Gefolgschaft nun offensichtlich etwas irritiert und überfordert zu sein scheint, lässt Gaehtgens einen „Maulhelden“ auftreten, den er behaupten lässt, dass das, was diverse Leute an diversen Orten tun („neu nachdenken“, „die Grundidee der Gestaltung von Studiengängen verändern“) einfach ist. Den Maulhelden („ … ist doch alles kein Problem, machen wir mit links!“) weist er allerdings souverän zurück („nicht“), indem er seinen Leuten versichert („wirklich“), dass das, was diverse Leute an diversen Orten womöglich gerade tun, für eine Gruppe von Menschen, die den Namen „deutsche Hochschulen“ trägt, „neu“ ist. Die Gefolgschaft kann nun den Blick auf diese Gruppe von Menschen werfen, und sie wird womöglich sehen, wie diese Leute früher irgendetwas gemacht haben („technische Neuordnung“, „umetikettieren“, „For220
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schung und Lehre“, „Studierende am Arbeitsmarkt vorbeibilden“, „Magister- und Diplomabschlüsse verteilen“ etc.), das sie jetzt nicht mehr so machen („wirklich neu“). (5) Denn ein Bekenntnis zu Bachelor und Master heißt natürlich auch, dass der Bachelor in Zukunft der Regelabschluss sein wird:
Dies will Gaehtgens nun begründen („denn“), indem er einen Ort ins Spiel bringt, an dem er seine Gefolgschaft wiederum irgendwelche Leute vermuten lässt („Bekenntnis“ → Vorkonstrukteffekt 7), die dort irgendetwas machen („bekennen“). Dies allerdings hat für diese Leute zur Folge („heißt natürlich auch“), dass zum Zeitpunkt t1 („Zukunft“) etwas Realität ist („sein wird“), das Gaehtgens als „Bachelor = Regelabschluss“ definiert. (6) Nur wenn wir dieses Ziel erreichen, wird eine Verkürzung der überlangen Studiendauer und hoffentlich auch eine Verminderung der teilweise hohen Abbrecherquoten erreicht.“
Schließlich formiert Gaehtgens wieder seine Truppe („wir“), spezifiziert das Ziel („dieses“ anaphorisch auf „Bachelor = Regelabschluss“) und setzt zur Argumentation an („nur wenn“), indem er für seine Gefolgsleute wiederum zwei Orte konstruiert („Verkürzung“ und „Verminderung“, Vorkonstrukteffekt 8 und 9), an denen diese wiederum irgendwelche Leute vermuten können, die eine Forderung erheben („verkürzt die Studiendauer“, „vermindert die teilweise hohen Abbrecherquoten“), die es zu umzusetzen gilt („erreichen“).
Zusammenfassung: der Zerfall der Bewegung und die Produktion der Mulitude Der Leser dieses Textes kann sehr unterschiedlichen institutionellen Orten entstammen. Und je nach institutioneller Verortung wird er entscheiden, ob er sich zu der Gefolgschaft, die Gaehtgens hier aufstellt („wir“), zählt oder nicht. Welchen institutionellen Leser Gaehtgens hier im Sinn hat, ist nicht unbedingt klar. Denn auch Wirtschaftsvertreter, Politiker und selbst die HRK sind aufgerufen, sich in der Umsetzung des Bologna-Prozesses zu engagieren. Wenn wir uns nun vorstellen, wie Hochschulangehörige, die mit Sicherheit zum engeren Adressatenkreis dieser Rede gezählt haben dürften, diesen Text ungefähr lesen würden, dann fällt auf, dass Gaehtgens die Leute, denen er die Reformrichtung erklären will, selbst als Sprecher auftreten lässt. Betrachten wir dieses Szenario etwas detaillierter, dann läuft der Reformpopulist Gefahr, dass seine 221
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Gefolgschaft komplett auseinanderfällt, bevor sie überhaupt losgelaufen ist. Die entscheidende Frage lautet nämlich: wer wird außer Gaehtgens selbst deiktisch über „wir“ sichtbar, wenn eine Figur als Entscheidungsinstanz fungiert (per3 (7): „die Aufgabe“), die (implizit) fordert, dass es vorwärts (nach t1) gehen soll und eine weitere Instanz erklärt, warum es vorwärts gehen soll (per6 (20): „Studienzeitverkürzung“ und per6 (21): „Verminderung der teilweise hohen Abbrecherquoten“). Aber die entscheidende Frage war doch, wohin es eigentlich gehen soll und wohin es auf gar keinen Fall gehen soll! Gaehtgens Gefolgschaft wurde nun implizit via Vorkonstrukt aufgefordert, sich an Leuten ein Beispiel zu nehmen, die „über Studieninhalte neu nachdenken“, die Zeuge einer Situation werden, wo Leute „Studiengänge gestalten“, deren „Grundidee“ sich „ändert“, und die ein „Bekenntnis zu Bachelor und Master“ abgeben, was zu implizieren scheint, dass der „Bachelor in Zukunft der Regelabschluss ist“. Wenn nun Hochschulangehörige mit „wir“ interpelliert werden und sich zu Gaehtgens Gefolgschaft zählen, dann stehen sie plötzlich vor der bizarren Situation, dass sie selbst, die Unwissenden, es sind, die wissen, wo das Ziel sich befindet. Aber damit noch nicht genug. Sie selbst sind es auch, die angeblich wissen, wie der falsche Weg verläuft3. Das „wir“, das den Leser auf eine Gemeinschaft orientiert, die der Diskurs ihrerseits durch Lokutor und Allokutor auf einen Ort (t1) orientiert, der ausschließlich über Vorkonstrukte sichtbar wird, droht deshalb zu zerfasern, weil die gleichen Leute, die mit „wir“ markiert sind, sich hinter den abgeschnittenen Quellen der Vorkonstrukte befinden. Und kann von Leuten, denen man erst erklären muss, wohin sie gehen sollen, wirklich erwartet werden, dass sie zielgerichtet loslaufen, wenn sie es selbst sind, auf die sie schauen müssen, um die richtige Richtung von der falschen zu unterscheiden? Vielleicht kann dies Teil einer Erklärung dafür sein, dass die Umsetzung des Bologna-Prozesses oft als so „chaotisch“ wahrgenommen und als „falsch“ und von „Besitzstandswahrern hintertrieben“ etikettiert wird. In Anlehnung an Hardts und Negris Katalogisierung unterschiedlicher Formen der Kriegführung ähnelt der Akteur, der auf diese Weise vom Diskurs konstruiert wird, dem „Netzwerkkämpfer“ (Hardt/Negri 2004: 97). Anders als die „Volksarmee“, die in unserer Analogie dem Lagergegensatz der großen Volksparteien entsprechen würde, und der „Guerillakrieg“, der wohl eine angemessene Übersetzung für die politische Logik der Neuen Sozialen Bewegungen ist, sind die Netzwerkkämpfer eine amorphe, aber äußerst vitale und unschlagbare politische 3
Zu hoffen bliebe aus der Sicht des Anführers, dass sie zumindest dies wissen!
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Bewegung. Die Netzwerkkämpfer arbeiten ohne politisches Programm, demokratische Legitimationsprozeduren und abgestimmte Taktik. Keiner kann ganz genau wissen, was sie wollen, fordern oder planen, weil niemand im Namen dieser Einheiten sprechen kann. Die Akteure, die zu diesen Netzwerkkämpfern gezählt werden könnten, müssen noch nicht einmal selbst wissen, dass eventuell sie als Teil dieser Bewegung konstruiert sind. Sie sind als diskursive Größe einfach nur „da“ und von keiner Autorität kontrollier- und berechenbar. Der entscheidende Punkt ist hierbei nicht, ob es diese Netzwerkkämpfer tatsächlich gibt, das heißt ob sie eine sozialstrukturelle Existenzform haben. Vielmehr operiert der Diskurs mit einer solchen Instanz. Und ebenso wie der Terrorismus, der kaum identifizierbar ist aber trotzdem (oder gerade deswegen) politisch sehr effektiv sein kann, bringt der post-demokratische, nicht-autoritative Konsensdiskurs des Bologna-Prozesses eine zerfaserte und durcheinander gewürfelte Menge hervor, die für die Fürsprecher des BolognaProzesses genauso ungreifbar ist, wie der merkwürdige Mr. X für die Leser.
Die Kritik Obwohl der Bologna-Diskurs insgesamt sehr technokratisch wirkt und in einem komplexen institutionellen Umfeld mit wenigen Konstanten und viel Unklarheit stattfindet, produzierte das hegemoniale Feld des Bologna-Prozesses auch zahlreiche Texte, die jeder Zeitungsleser auch mit wenig Vorwissen versteht. Am Beispiel eines Interviewausschnitts aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) mit der damaligen Bundesministerin Edelgard Bulmahn soll mit der „ironischen Provokation“ eine weitere Spielart des Konsenses im Bolognadiskurs herausgearbeitet werden. Denn der Leser wird sich zu Recht fragen, ob es im Bolognadiskurs überhaupt keine Kritik gab. Die gab es, und wie Kritik im Bologna-Prozess funktioniert, soll in diesem abschließenden Kapitel gezeigt werden. Bundesministerin Bulmahn gehört zu den ausdrücklichen Befürwortern des Bologna-Prozesses. Neben der KMK vertritt sie die Bundesrepublik Deutschland auf den Ministerkonferenzen des BolognaProzesses. Im Rahmen seiner institutionellen Möglichkeiten hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung durch die Aufnahme von Bachelor- und Masterabschlüsse, der Akkreditierung, des ECTS und anderer Maßnahmen ins Hochschulrahmengesetz seine Aufgaben im Rahmen des Bologna-Prozesses zum Zeitpunkt dieses Interviews weitestgehend erledigt. Darüber hinaus unterstützt das Bundesministerium die Bolognareformen durch finanzielle Beihilfen. Insbesondere Ministerin 223
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Bulmahn tritt öffentlich als engagierte Reformerin auf und muss im Rahmen des Bologna-Prozesses anders als die HRK oder Akkreditierungsrat weniger die Befindlichkeiten anderer Akteure berücksichtigen. Bulmahn kann also relativ frei sprechen. Etwas anders sieht die Situation dagegen beim Interviewer Bulmahns aus. In Kommentaren tritt vor allem die bildungspolitische Journalistin der FAZ, Heike Schmoll, für die „humboldtianischen Ideale“ der „Gelehrtenuniversität“ ein und sieht insbesondere in der Einführung von Bachelor und Master den flächendeckenden Einstieg in die „Halbbildung“. Die FAZ bemüht sich insgesamt um eine kritische Berichterstattung über den Bologna-Prozess. Vor diesem Hintergrund muss auch die Frage des Journalisten gelesen werden. Während die Befürworter des Bologna-Prozesses gerne mit den anteiligen Zahlen der Studiengänge, die bereits in Bachelor und Master umgewandelt wurden, argumentieren, kontern die Kritiker in der Regel mit den anteiligen Zahlen der in Bachelor und Master eingeschriebenen Studierenden. Mit der ersten Zahl wird das Bild einer „dynamischen Reform“ gezeichnet; die zweite Zahl „enthüllt“ dieses Bild als „Trugbild“. In den regierungsoffiziellen Darstellungen werden meistens die „guten Zahl“ herangezogen. Die „schlechten Zahlen“ sind dagegen nur der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit bekannt. „[...] Frage: (1) Warum setzen sich die Bachelor-Studiengänge in Deutschland nur so schwer durch? Bulmahn: (1) Die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengänge ist eine wichtige Voraussetzung dafür, in Europa vergleichbare Studiengänge zu schaffen. (2) Das setzt sich doch überall durch. (3) Wir haben mit der Einführung dieser Studiengänge in der deutschen Hochschullandschaft einen Prozess mit hoher Dynamik ausgelöst. (4) Dieser Prozess, mit dem wir einen europäischen Wissenschafts- und Forschungsraum schaffen, ist unumkehrbar [...]“ (aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.12.2004)
Zunächst wollen wir uns anschauen, wie die Frage des Journalisten diskurstheoretisch analysiert werden kann. Da es sich hier um einen Dialog zwischen dem FAZ-Journalisten und Bildungsministerin Bulmahn handelt, muss der Kontextualität von Aussagen in der Formalisierung bereits Rechnung getragen werden. Denn streng genommen handelt es sich hier nicht um einen, sondern um zwei unterschiedliche Diskurse, die im Rahmen einer face-to-face-Kommunikation produziert worden sind. Dabei scheint Bulmahn der Frage des Journalisten in ihrer Antwort auszuweichen. Diese für politische Diskurse typische kommunikative Strategie ist aus diskursanalytischer Sicht kein Ausweichen im strengen Sinn, 224
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sondern kann als ein Dialog zwischen zwei Sprechern beschrieben werden, die der Diskurs durch Leserpräsupposition hervorbringt.
„Bologna“ kritisieren... Zunächst kann der Diskurs des Journalisten als ein Dialog zwischen zwei Sprecherperspektiven beschrieben werden: per1 (1): [x] P(1): „Die Bachelor-Studiengänge setzen sich in Deutschland nur schwer durch“ per1 (2): [l]: WARUM per1 (1)
Obwohl die Frage des Journalisten auf den ersten Blick wie eine monophone Aussage aussieht, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass der verantwortliche Sprecher seine Frage nur lancieren kann, wenn er einen weiteren Sprecher auftreten lässt, der einen konstatierenden Blick auf den „Stand der Umsetzung des Bologna-Prozesses“ wirft. Die mit x gekennzeichnete Sprecherperspektive per1 (1) könnte kontextuell mit einem Bildungsexperten verknüpft werden, der implizit über Zahlen, Einschätzungen, Messinstrumente etc. verfügt, um auf dieser Grundlage seine These „die Bachelor setzt sich in Deutschland schwer durch“ hervorzubringen. Der Journalist selbst wird so nicht als kompetenter Beobachter des Bologna-Prozesses sichtbar und kann sich auf seine reine Journalistenrolle zurückziehen, indem er sich mit „warum“ auf per1 (1) bezieht. Dabei muss allerdings präsupponiert werden, dass „per1 (1) = WAHR“. Wenn die impliziten Aussagen, die dieser Diskurs mitverhandelt, ausformuliert werden, dann könnte die Frage des Journalisten folgendermaßen laute: „Mal angenommen per1 (1) hat Recht, warum ist dies so Frau Bulmahn?“ Denn da wir es hier mit einer face-to-faceKommunikation zwischen dem Journalisten und Bulmahn zu tun haben, kann die Ausgangsprämisse von per1 (2), nämlich P(1), durch Bulmahn relativ leicht in Frage gestellt und zurückgewiesen werden. Aber wie wird aus dieser schlichten Frage eine kritische Provokation? Berücksichtigen wir erstens das Adjektiv „schwer“ und die Partikel „nur“ und „so“, dann die Tatsache, dass die wissenschaftsjournalistische Abteilung der FAZ das Bachelor-Mastersystem ablehnt, drittens das gegensätzliche Bild zwischen den regierungsoffiziellen Zahlen (Anzahl der Studiengänge ⌐ „Bologna kommt voran“) und den Zahlen, auf die sich Kritiker berufen (Anzahl der eingeschriebenen Studenten ⌐ „Nein, Bologna kommt nicht an“), und berücksichtigen wir schließlich noch, dass Bulmahn als Ministerin politische Ergebnisse
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grundsätzlich verantworten muss, dann ergibt sich ein dialogisches Feld, das folgendermaßen aussieht: per1 (1): [x] P(1): „Die Bachelor-Studiengänge setzen sich in Deutschland schwer durch“ per1 (2): [l1]: WARUM per1 (1) per1 (3): [a]: LEIDER per1 (1) („nur so schwer“) per1 (4): [l2]: NEIN per1 (3) (Bulmahn muss hier wissen, dass der Journalist ein Kritiker von Bachelor und Master ist) (Ironie) per1 (5): [l0]: IMPLIKATION P(1) und PRÄSUPPOSITION per1 (3): „Sie, Frau Bulmahn, sind gescheitert!“ (Provokation)
Dass es sich bei dieser Frage um eine ironische Provokation handelt, lässt sich aber nur unter den genannten Voraussetzungen erkennen. Der ironische Diskurs funktioniert grundsätzlich nur, wenn die formal ablesbaren Diskurselemente an ein spezifisches Kontextwissen anknüpfen, indem sie auf woanders Gesagtes anspielen und den Akteuren bekannte Meinungen implizit zitieren. So funktioniert die Aussage: „Das ist aber ein schöner Blumenstrauß“ auch nur dann als Ironie, wenn der Gesprächspartner den verwelkten Strauß in der Ecke stehen sieht. Wenn in politischen Diskursen Kritik durch ironische Provokation formuliert wird, dann ist es grundsätzlich vielversprechend, sich die diskursive Struktur, d.h. das dialogische Feld noch einmal etwas genauer anzuschauen. Es fallen nämlich zwei Dinge auf, die etwas irritierend wirken. Formulieren wir das dialogische Spiel zwischen den fünf Sprechern als einen Dialog aus, wie er von realen Personen in einem Rundtischgespräch geführt werden könnte. Zunächst lässt der Moderator einen Bildungsexperten zu Wort kommen, der den „Stand der Dinge“ referiert: per1 (1). Daraufhin meldet sich ein Journalist, der die Frage in den Raum wirft, warum das, was der Bildungsexperte gerade referiert hat, so ist, wie es ist. Bevor Bulmahn darauf antworten kann, fällt ihr ein Fürsprecher des Bologna-Prozesses ins Wort, und bringt sein Bedauern über den Zustand des Bologna-Prozesses in Deutschland zum Ausdruck: per1 (3). Dann meldet sich ein Kritiker des Bologna-Prozesses und grinst nur in die Runde: per1 (4). Schließlich meldet sich ein Politikwissenschaftler und konstatiert, dass Bulmahn als Verantwortungsträgerin ja politisch gescheitert sein muss, wenn der Bildungsexperte Recht hat. 226
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Aber warum kommt der Politikwissenschaftler in unserem Szenario zu dieser Schlussfolgerung? Und wieso bringt der Befürworter sein Bedauern offen zum Ausdruck, während sich der Kritiker auf ein hämisches Grinsen beschränkt? Werfen wir an dieser Stelle noch einmal einen Blick auf die ursprüngliche Frage zurück und vergessen für einen kurzen Augenblick das eben kreierte Szenario und die These, dass es sich hierbei um Ironie handelt, dann sehen wir, dass der Lokutor dem Befürworter ja irgendwie Recht gibt. Denn der „bedauernde“ Sprecher per1 (3) kann ja nur zurückgewiesen werden, wenn der Leser weiß oder zumindest vermutet, dass der FAZ-Journalist ein Kritiker des BachelorMaster-Systems ist. Vor diesem Hintergrund kann der Sprecher per1 (3) als eine Figur gelesen werden, die nicht nur eine Partikularposition in einem offenen Diskussionsprozess vertritt, sondern für die „öffentliche Meinung“ steht, die als Konsens daherkommt und zu der sich auch der Journalist zumindest „offiziell“ bekennen muss. Zudem geht es in dem Dialog zwischen dem Journalisten und Bulmahn ja gar nicht um die Frage, ob man das Bachelor-Master-System ablehnen sollte oder nicht. Vielmehr geht es darum, ob es sich durchsetzt oder nicht. Und nur vor diesem Hintergrund können wir im oben aufgeführten Szenario dem Politikwissenschaftler behaupten lassen, dass Bulmahn gescheitert ist. Scheitern kann man allerdings nur retrospektiv. Erst wenn etwas bereits in Gang gesetzt ist, kann konstatiert werden, dass es sich nicht durchsetzte, und zwar nicht, obwohl man es wollte, sondern trotz der Tatsache, dass es gewollt war. Etwas Gewolltes setzt aber ebenso wie die Existenz einer konsensualen „öffentlichen Meinung“ eine Entscheidung voraus, die wiederum von einer Figur autorisiert worden sein muss. Und so kann gezeigt werden, dass auch und gerade die Kritik am BolognaProzess in den Fällen, wo sie öffentlich vorgetragen wird, in der politischen Form des Konsenses bleibt, die durch die implizite Ratifizierung des Mr. X gestiftet wird. Mr. X ist allerdings in diesem Diskurs schon sehr weit in den Hintergrund getreten und muss noch nicht einmal formal sichtbar werden wie im Falle des Technokraten- und Populistendiskurses. Vielmehr hegemonialisiert der Konsens einen umfangreichen Raum sozialer Beziehungen, wodurch eine bestimmte Art zu sprechen, zu diskutieren, zu fragen und so in Beziehung zu treten festlegt wird. Aus diesem Grunde ist Kritik am Bologna-Prozess auch heute noch fast ausschließlich nur als Kritik an der Umsetzung des Bologna-Prozesses möglich. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass der Bolognadiskurs eine symbolische Herrschaftsordnung konstituiert, die sowohl ohne Geld- und Ämtermacht als auch ohne institutionalisierte Legitimierungsverfahren im Sinne der weber’schen Macht- und Herrschaftstheorie funktioniert. Wie schon Bachtin am Beispiel der Parodie im Karneval 227
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gezeigt hat und wie man es in nicht-demokratischen Systemen wie das der DDR studieren konnte, tritt Ironie und subtile Provokation immer dann auf, wenn die beteiligten Akteure nicht das Gefühl haben, in die Entscheidungsprozeduren involviert zu sein.
... „dagegenhalten!“ Bundesministerin Bulmahn ist nun mit der eben analysierten Situation konfrontiert. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Bulmahn spontan und unmittelbar geantwortet und gleichzeitig diese und weitere Aspekte des Kontextes intuitiv erfasst hat. Zunächst fällt auf, dass der Bulmahn-Diskurs mit viel Subjektivität operiert. Jede Aussage ist mit subjektiven Äußerungsspuren versehen. In Aussage (1) ist der axiologische Partikel „wichtig“ eine solche Spur und in Aussage (2) markiert der Abtönungspartikeln „doch“ einen Einspruch gegen eine anders lautende Position. Besonders interessant ist das Personalpronomen der ersten Person Plural in Aussage (3). Hier wird über „wir“ auf ein politisches Kollektiv verwiesen, dem die politische Verantwortung für den BolognaProzess zugeschrieben wird. Das gleiche gilt für das „wir“ im Nebensatz von Aussage (4). Dieses „wir“ ist allerdings ein exkludierendes „wir“, weil es sich auf diejenigen bezieht, die sich aktiv einbringen. Dieser Aspekt wird durch die Verben „ausgelöst“ und „schaffen“ verdeutlicht. Das inkludierende „wir“ operiert meistens mit den Modalverben „wollen“, „können“, „sollen“, „müssen“ etc. Dass der Diskurs hier nicht mit dem inkludierenden, sondern mit dem exkludierenden „wir“ operiert, zeigt einmal mehr den „kämpferischen“ (und damit auch angreifbaren) Charakter von Bulmahns Auftreten. Und diese Form diskursiver Sichtbarkeit ist ein typisches Beispiel für das Untypische des Bologna-Prozesses. Betrachten wir schließlich noch das letzte subjektive Anzeichen: den axiologischen Partikel „hohe Dynamik“ in Aussage (3). Anders als „wir“ in Aussage (3) bezieht sich „hohe Dynamik“ in derselben Aussage nicht aus der gleichen Perspektive auf den Gegenstand („diese Studiengänge“, „der Prozess“ = „Bologna-Prozess“). Während das „wir“ einen Ort markiert, der am aktiven Pol der Verursachung liegt, ist die Perspektive, die durch das axiologische Adjektiv „hohe“ markiert wird, ein ehr „evaluierender“ Blick. Bezieht „wir“ nur diejenigen ein, die für den Bologna-Prozess verantwortlich zeichnen, so kann „hohe Dynamik“ fast jeder sagen, der von sich behaupten würde, etwas über den BolognaProzess zu wissen. Das gleiche gilt für das Adjektiv „wichtig“ in Aussage (1). So kann bis hierher festgehalten werden, dass der Diskurs des Bologna-Befürworters Bulmahn mit zwei unterschiedlichen Formen von Subjektivität operiert: einer „expressiven“ Form („wir“) [Subjekt 1] und einer „evaluierenden“ Form („wichtig“, „hohe“) [Subjekt 2]. 228
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Um zu verstehen, was es mit diesen beiden Formen von Subjektivität auf sich hat, sollen im Folgenden die unterschiedlichen Sprecherperspektiven herausgearbeitet werden. Der Bulmahn-Diskurs wird durch insgesamt acht Sprecher organisiert. per1 (1): [x] P(1): in Europa vergleichbare Studiengänge schaffen („dafür“) per1 (2): [l] P(2): Die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengänge ist eine wichtige Voraussetzung für P(1) [Subjekt 2] P(2) kann als eine Konditionalproposition von P(1) gelesen werden. Der Lokutor nimmt per1 (2) und damit auch indirekt per1 (1) an. Während per1 (2) eine Stellungnahme der „evaluierenden“ Subjektivitätsform ist, wird mit per1 (1) eine Perspektive ein „allgemein anerkanntes“, vorkonstruiertes Wissen ins Spiel gebracht, weil die Aussage „In Europa vergleichbare Studiengänge zu schaffen“ als ein allgemein anerkanntes Ziel postuliert wird. Weder dem Lokutor noch dem Allokutor wird per1 (1) zugeschrieben. Die Perspektive mit der subjektiven Einfärbung, per1 (2), vertritt gegenüber P(1) eine Position, die ein (durchaus kontroverses) Mittel beschreibt, um das Ziel, P(1), zu erreichen. In Aussage (2) wird per1 (2) durch das anaphorische Demonstrativpronomen „das“ wieder aufgenommen, wobei der Abtönungspartikeln „doch“ einen Widerspruch evoziert. Demnach sprechen hier zwei Stimmen, wobei der Lokutor per2 (3) annimmt und per2 (4) dem Allokutor zuweist: per2 (3): [l] P(3): „Das setzt sich überall durch“, WOBEI „das“ = P(2), „doch“: [Subjekt 2] per2 (4): [a]: NEIN per2 (3) („doch“)
Da der Abtönungspartikeln „doch“ eine bewertende Stellungnahme markiert, kann er wie ein axiologischer Partikel gelesen werden. Obwohl es sich hierbei um eine persönliche Stellungnahme handelt, muss diese Subjektivität der evaluierenden Form zugeordnet werden, weil sich per2 (3) nicht auf P(1), sondern auf P(2) bezieht. Letztlich bliebe aber der Einwand berechtigt, ob ein empörendes „doch“ nicht eine intensivere subjektive Färbung hat als ein konventionelles „wichtig“. Der Gegenstand, auf den sich die Einstellung der subjektiven Optik richtet, ist aber von der „emphatisch-expressiven“ (Subjekt 1) weiter entfernt als von der „nüchtern-evaluierenden“ Form (Subjekt 2). Aussage (3) liest sich wie ein Bruch mit dem vorher Gesagten. Der Diskurs scheint hier neu auszuholen, um das in Aussage (1) und (2) Gesagte zu rahmen und neu einzubetten. Dies zeigt sich einerseits daran, dass weder ein anaphorischer Verweis noch ein unmittelbarer argumen229
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tativer Überbrückungszusammenhang zwischen Aussage (2) und (3) hergestellt ist. Andererseits organisiert das „wir“ in dieser Aussage eine neue subjektive Einstellung. Anstatt einen Prozess, der einfach nur „da“ ist und „läuft“, zu evaluieren, verweist das Personalpronomen „wir“ deiktisch auf das politische Subjekt dieses Prozesses, wobei das Adjektiv „hohe“ diese Perspektive wieder zurücknimmt, indem so „von außen“ auf den „Prozess“ geblickt wird. Dadurch ist in dieser Aussage eine Sprecherperspektive präsent, in die zwei unterschiedliche Blickwinkel eingeflochten sind, die sich vielleicht so darstellen lassen: per3 (5): [l] P(4): „Wir haben mit der Einführung dieser Studiengänge in der deutschen Hochschullandschaft einen Prozess mit hoher Dynamik ausgelöst“, [Subjekt 1] per3 (5x): [x]: „ein Prozess“ per3 (5l): [l]: „hohe Dynamik“ per3 (5x), [Subjekt 2]
In Aussage (4) greift das Demonstrativpronomen „dieser“ und das Nomen „Prozess“ auf per3 (5x) zurück, wobei der eingeschobene Nebensatz an per3 (5) anschließt. Das Adjektiv „unumkehrbar“ evoziert als polyphoner Operator zwei Sprecherperspektiven, wovon der Lokutor eine annimmt [per4 (7)] und die andere dem Allokutor zuweist [per4 (6)]. Per4 (6) und per4 (7) sind ebenfalls „evaluierende“ Perspektiven. Sie setzen einen Gegenstand voraus („der Prozess“), zu dem hinsichtlich seiner „Umkehrbarkeit“ zwei konträre Positionen bezogen werden. Per4 (8) operiert wiederum mit der „aktiven“ Form von Subjektivität: per4 (6): [a] P(5): „umkehrbar“ per3 (5x) per4 (7): [l1]: NEIN per4 (6) per4 (8): [l0] P(6): „wir schaffen einen europäischen Wissenschafts- und Forschungsraum“, [Subjekt 1]
Im Ergebnis können wir im Bulmahn-Diskurs mit dem Lokutor, dem Allokutor und der anonymen Konsensperspektive drei unterschiedliche Instanzen isolieren, die diesen Diskurs organisieren, wobei die Sprecherperspektiven, die vom Lokutor angenommen werden, mit zwei unterschiedlichen Subjektivitätsformen operieren. Dabei fällt auf, dass die Sprecherperspektiven, die in der „expressiven“ Subjektivitätsform geäußert wurden, weitestgehend monophon sind. Denn auch in per3 (5) wird die Polyphonie nicht durch das „wir“, sondern erst durch die Vorkons230
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trukte eingeleitet. Die „evaluierende“ Subjektivität ist jedes Mal polyphon, weil sich in die Perspektive, in der sie evoziert wird, immer die anonyme Konsensperspektive [x] inkorporiert. „Vergleichbare Studiengänge in Europa zu schaffen“ und „der Prozess“ werden als unkontroverse Dinge und Ziele präsentiert. Zum Äußerungszeitpunkt t0 ist diese Perspektive immer als eine getroffene und von allen geteilte Entscheidung präsent, die vom Äußerungszeitpunkt t0 ein vergangenes, vom „Jetzt“ der möglichen Entscheidungen abgetrenntes „Damals“ evoziert, das das „Jetzt“ rahmt und präjudiziert. Es ist zudem interessant, dass auch die Allokutoren nicht ausdrücklich als „Bologna-Gegner“ positioniert werden. Weder per2 (4) noch per4 (6) stellt „den Prozess“ generell infrage. Während der Lokutor den Allokutor per2 (4) nur bezweifeln lässt, dass „Bachelor- und Masterstudiengänge“ „eine wichtige Voraussetzung“ für das, was von [x] verantwortet wird, sind, bezieht sich der Zweifel von per4 (6) bezüglich der „Umkehrbarkeit des Bologna-Prozesses“ nicht auf die Realität und Legitimität „des Prozesses“ zum Äußerungszeitpunkt t0 („jetzt“), sondern auf sein mögliches Scheitern zu einem späteren Zeitpunkt (t2). So könnte die Perspektive per4 (6) in einem anderen Kontext genauso gut von Bologna-Befürwortern angenommen werden mit dem Verweis darauf, dass „der Bologna-Prozess umkehrbar ist“ und „wir ihn schleunigst umsetzen müssen“, damit per4 (8) – „wir schaffen einen europäischen Wissenschafts- und Forschungsraum“ – erreicht wird. Aber genau das stellt ja der Kritiker per1 (3) infrage.
Zusammenfassung: Tod eines Kritikers Um abschließend sehen zu können, wer im Dialog zwischen Bulmahn und der FAZ wie mit wem redet, ist auch hier die Konstruktion eines dialogischen Szenarios sinnvoll. Stellen wird uns also wieder ein Rundtischgespräch vor, wo der Moderator den ersten Sprecher zu Wort kommen lässt: die Aussage „in Europa vergleichbare Studiengänge zu schaffen“ wird von einem Sprecher vorgetragen, der vom Moderator nicht eigens vorgestellt werden muss, weil das, wofür er steht, sich von selbst versteht. Nennen wir ihn also Mr. X. Nun meldet sich Bulmahn zu Wort und stellt folgende These auf: „damit wir das erreichen, was Mr. X gefordert hat, ist die Einführung von Bachelor und Master eine wichtige Voraussetzung“. An dieser Stelle nun meldet sich ein Nörgler, dem in etwa folgende Aussage in den Mund gelegt werden kann: „Die These, die Frau Bulmahn gerade vorgetragen hat, setzt sich nicht überall durch“. Diesem Sprecher fällt Bulmahn nun regelrecht ins Wort: „Doch, das setzt sich sehr wohl durch!“ Und an genau dieser Stelle findet das Streitgespräch zwischen dem Kritiker per1 (4) und dem Kritiker des Kri231
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tikers per2 (4) statt. Um den entscheidenden Punkt in der Bolognakritik genau zu erfassen, müssen wir nun die beiden Rundtischgespräche zusammendenken: Zuerst tritt der Bildungsforscher auf: „Die BachelorStudiengänge setzen sich in Deutschland schwer durch“. Dann stellt der Journalist seine „Warum-Frage“. Ein Bologna-Befürworter fällt Bulmahn ins Wort: „bedauerlich, was der Bildungsforscher konstatiert“. Jetzt setzt der Kritiker ein hämisches Grinsen auf. Dann kommt der Politikwissenschaftler mit seiner Analyse: „Tja, die Politik (Bulmahn) ist wohl gescheitert.“ Nun spricht Mr. X und verkündet das Ziel, „in Europa vergleichbare Studiengänge zu schaffen“. Bulmahn springt ihm bei und unterstreicht, dass „die Einführung von Bachelor und Master eine wichtige Voraussetzung für das ist, was Mr. X gefordert hat“. Nun ergreift der Zweifler das Wort: „diese Einsicht hat sich nicht überall durchgesetzt“. Diesem Zweifler widerspricht Bulmahn heftig: „doch!“. Auf diese Weise legt sich der Bulmahndiskurs nun seinen eigenen Kritiker zurecht, den sie dann empört zurückweisen kann. Das hämische Lächeln des Ironikers kostet Bulmahn auch nur eine Lächeln, weil sie über Mr. X verfügt, und den muss der Journalistenkritiker über per1 (3) als „öffentliche Meinung“ ja auch erst einmal sprechen lassen, bevor die ironische Geste mit per1 (4) zum Zuge kommt. Aber hat der Diskurs damit nicht ein Tor geöffnet und den Boden bereitet für eine Kritik, die erst einige Jahre später einsetzen sollte, nämlich die auf statistischen Daten fußenden Erkenntnisse, dass die Maßnahmen des Bologna-Prozesses und insbesondere der verschulte Bachelor internationale Mobilität unterbinden, und dass diese Maßnahmen tatsächlich nicht dazu beitragen „ein Europa vergleichbarer Studiengänge zu schaffen“? Geschichte wiederholt sich nun einmal doch, aber dann eben als Farce. Und was wird aus dem Kritiker Nr. 2, also dem Journalistenkritiker werden? Mit ihm passiert genau das, was mit den meisten Ironikern passiert. Sie werden entweder verbitterte Zyniker, die aus Protest gleich alles hinschmeißen und dann für ein mittelalterliches elitäres Bildungssystem eintreten, oder sie durchlaufen eine andere Permutationsreihe: sie verlassen ihre Position und stellen ihre Kritik auf eine sachliche Grundlage, treten in die Öffentlichkeit und zeigen Gesicht: per1 (4) → per2 (4) → perx (n) [?]: t1.
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DIE POLITISCHE LOGIK DES BOLOGNA-PROZESSES: EINE DISKURSANALYSE
Das hegemoniale Feld und die Rolle des Mr. X Der Bologna-Prozess ist ein facettenreicher Konsensdiskurs, der durch unterschiedliche Techniken und Mechanismen sowohl die konkrete Bedeutung der Reforminhalte als auch die politische Verantwortung für die Reform unsichtbar macht. Die politische Form des Konsenses ist aber kein Merkmal, das allein auf den Bologna-Diskurs zutrifft. Vielmehr nährt sich das hochschulpolitische Feld als Ganzes seit dem Zusammenbruch der Lagerform ab ca. Ende der 1980er Jahre zunehmend dieser Form. Im Folgenden soll nun der letzte Schritt der hegemonietheoretischen Diskursanalyse vollzogen werden. Während mit der FrameAnalyse die Elemente Feldes katalogisiert wurden und mit der Diskursanalyse gezeigt wurde, wie Texte auf die Policy-, Polity- und PoliticsElemente des Feldes zugreifen und diese Elemente durch spezifische Regeln und Mechanismen arrangieren, soll nun eine hegemonietheoretische Interpretation der in der Diskursanalyse erzielten Ergebnisse vorgenommen werden.
Hegemonie als Konstruktionsmechanismus Hegemoniale Effekte können von rechtlich abgesicherten, institutionalisierten Instanzen ausgehen. Eine solche Instanz kann ein Monarch oder eine demokratisch gewählte Regierung sein, die auf rechtlicher Grundlage handelt. Ein rechtlich-institutionelle Hegemonialisierung des Feldes muss im Falle des Bologna-Prozesses ausgeschlossen werden, gibt es doch weder eine völkerrechtlich verbindliche noch eine nationalstaatlich transparente Handlungsgrundlage. Denn weder ist die Bologna-Erklärung ein völkerrechtlicher Vertrag, noch erlaubt die institutionelle Struktur der Politikverflechtung in den Politikbereichen, die den BolognaProzess betreffen, ohne weiteres die Entstehung eines politischen Zentrums. Eine zweite Möglichkeit der Hegemonialisierung des Feldes bestünde in der symbolischen Integration über „Themen“. So wird der Bologna-Prozess in Feuilletons und politischen Debatten regelmäßig mit der „Einführung von Bachelor und Master“ äquivalent gesetzt. Wie allerdings insbesondere am Beispiel des Diskurses des Populisten deutlich wurde, können im Namen des Bologna-Prozesses fast zahllose Themen verhandelt werden. So bedeute der Bologna-Prozess nicht nur „die Einführung von Bachelor und Master“, sondern außerdem „die Einführung von ECTS, Modularisierung, Diploma Supplement, eines Qualitätssicherungssystems“, die „Umstellung von der input- zur outcome-Steuerung“ etc. Im Namen des Bologna-Prozesses können argumentative Systeme aufgebaut werden, die das gesamte Reformtableau der letzten 20 Jahre 233
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
Hochschulpolitik aufrufen. So „bewirkt“ „die Umstellung auf Bachelor und Master, ECTS“ etc. eine „Verkürzung der Studiendauer“, „erhöht“ die „Qualität der Lehre“, „führt“ zu einer „Berufsorientierung“ und „schärft“ das „Profil der Hochschulen“. Dies wiederum „schafft mehr Wettbewerb zwischen den Hochschulen“, was wiederum mehr „Effizienz und Qualität“ zur Folge hat und als eine „notwendige Voraussetzung“ für „die internationale Attraktivität der Hochschulen“ gilt. Im Namen des Bologna-Prozesses können zahlreiche Elemente der PolicyFrames des hochschulpolitischen Feldes mobilisiert und neu arrangiert werden. Diese Möglichkeit kann als ein konstitutives Merkmal des hegemonialen Feldes bezeichnet werden. Denn erst wenn ein Element aus dem „System von Differenzen“ ausgeschlossen wird und als prädestinierte Partikularität zum Namen der Universalität wird, kann von einer hegemonialen Formation gesprochen werden, so Laclau (vgl. Laclau 1996b). Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Soziale als eine Ansammlung zahlloser partikularer, antagonistischer Akte konstituiert. Die entscheidende Frage ist nun, wie die antagonistischen Akte („Signifikanten“) einen hegemonialen Akt („Signifikanten“) evozieren, der selbst nichts zu sagen hat, aber die Bedingung dafür ist, dass in seinem Namen gesprochen werden kann. Der hegemoniale Effekt ist drittens auch nicht auf einen „leeren Signifikanten“ zurückführbar, der in der empirischen Analyse bezeichnet werden könnte, betonen doch Laclau/Mouffe, dass der leere Signifikant eine ontologische und keine methodologische Kategorie ist. Denn anders als Saussure entwerfen Laclau/Mouffe keine Methodologie (vgl. Jameson 1972). Der Begriff der Hegemonie bezeichnet nicht einfach nur ein graduell strukturiertes Feld. Hegemonie ist vielmehr eine kontingente Operation, die eine Relation zwischen dem Partikularen und dem Universellen herstellt und nicht eine Relation zwischen zwei oder mehr Signifikanten bezeichnet wie noch bei Saussure. „The argument I have developed is that, at this point, there is the possibility that one difference, without ceasing to be a particular difference, assumes the representation of an incommensurable totality. In that way, its body is split between the particularity which it still is and the more universal signification of which it is the bearer. This operation of taking up, by a particularity, of an incommensurable universal signification is what I have called hegemony“ (Laclau 2005: 70, Herv. i.O.).
Hegemonie ist also nicht an die empirische Existenz eines „leeren Signifikanten“ gebunden, der in der empirischen Analyse benannt werden könnte und ebenso wenig an die Konstruktion einer sozialen Welt, die 234
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als ontologische Positivität präsent und rekonstruierbar wäre, sondern an die Regeln und Mechanismen der Verknüpfung des Partikularen mit dem Universellen. Dieser Akt der Hegemonialisierung evoziert den Effekt der integrierten Ordnung eines sozialen Raumes, nicht jedoch diesen sozialen Raum selbst. „Somit sind die Logik des Objekts klein a und die der Hegemonie nicht einfach homolog: Sie sind identisch, denn beide zeigen, wie strukturelle Effekte möglich sind, ohne dass sie jedoch strukturell determiniert sind“ (Laclau 2007: 34, Herv. i.O.). Die hegemonietheoretische Interpretation fragt also nicht danach, wie der soziale Raum konturiert ist, welche Subjektpositionen er zu Verfügung stellt oder welche Normen und Werte er etabliert. Sie fragt danach, durch welche diskursiven Mechanismen der ideologische Effekt einer solchen sozialen Welt evoziert wird, die durch spezifische Möglichkeitsräume und Zwänge charakterisiert ist. Dieser Effekt entsteht im Falle des BolognaProzesses durch einen spezifischen dialogischen Mechanismus, der an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten variiert und wiederholt werden kann. Die hegemonietheoretische Interpretation fragt also danach, ob durch unterschiedliche diskursive Praktiken der Effekt eines Feldes entsteht, das in der Lage ist, größere soziale Einheiten zu unterwerfen, Individuen auf eine spezifische Weise zu subjektivieren und Legitimität zu stiften. Im Falle des Bologna-Prozesses konnte ein Konsensmechanismus herausgearbeitet werden, der als politische Form des Konsenses bezeichnet wurde. Die politische Form des Konsenses, deren allgemeine Konturen nun ausgearbeitet werden sollen, ist keine Entscheidung, die in Form eines Beschlusspapiers vorliegt, wie dies im institutionellen Konsens der Fall ist. Die Konsensform ist vielmehr ein hegemonialer Mechanismus, der eine spezifische Form von Politik bezeichnet und diskursanalytisch herausgearbeitet werden kann. Dabei geht es nicht darum, was die Akteure denken. Es geht auch nicht darum herauszuarbeiten, was für eine Lebenswelt interaktiv konstruiert wird, die es den Subjekten ermöglicht, auf spezifische Deutungsmuster einer symbolischen Sinnwelt zurückzugreifen, um so den Alltag sinnvoll zu rahmen. Vielmehr geht es darum, die allgemeinen Praxismuster herauszuarbeiten, über die der Text auf Kontexte zugreift. Darauf aufbauend muss unter Zuhilfenahme des mit der Frame-Semantik erstellten Feldkatalogs gefragt werden, auf welche Elemente des Kontextes die partikularen Texte nach welchen Regeln zugreifen. Diskursivität operiert immer mit einer Raumaufteilung, wo sich auf der einen Seite die Perspektiven des Lokutors und auf der andere die des Allokutors finden. Mit Blick auf die letzten vier Analyse – die des „Bologna-Technokraten“, des „BolognaPopulisten“, des „Bologna-Kritikers“ und des „Bologna-Verteidigers“ – 235
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kann ein spezifischer dialogischer Mechanismus herausgearbeitet werden, der durch das Verhältnis der diskursiven Instanzen, die er hervorbringt, charakterisiert ist. Dieser dialogische Mechanismus, der gleichsam ein Handlungsfeld aufspannt, lässt sich folgendermaßen illustrieren: Abbildung 4: Der dialogische Mechanismus der politischen Form des Konsenses – das hegemoniale Feld. [x]
Lokutor
Allokutor
? paradigmatische Optionen der Position (?)
„Bologna bedeutet, X zu tun.“ / „Wir wollen Bologna.“ / „Wir wollen Bologna als Gelegenheit nutzen, um X zu verändern/verbessern.“ / „Der Minister, Rektor etc. macht Druck.“ / „Es ist besser, wir setzen Bologna um.“ / „Wir setzen Teile von Bologna um.“ / „Vielleicht setzen wir Bologna um.“ / „Wir etikettieren um.“ / „Wir überlegen noch.“ / „Bologna ist uns egal.“ / „Wir sehen Bologna skeptisch.“ / „Bologna regiert in unsere Angelegenheiten rein.“ / „Wir sind gegen Bologna.“ etc.
Präsupposition Negation Unklar
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Die hegemonialen Instanzen Als zentrales Merkmal der oben analysierten Diskurse konnte eine Dreierbeziehung zwischen dem Lokutor, dem Allokutor und einer Nominalisierung herausgearbeitet werden. Sowohl Lokutor als auch Allokutor musste jedes Mal eine Instanz [x] präsupponieren, die als Vorkonstrukt eine „Entscheidung“ in den Diskurs einführte, die „immer schon getroffen“ anerkannt werden muss. Diese Instanz war Grundlage und Bedingung für die Sprecherperspektiven des Lokutors und seines Gegenüber, des Allokutors. Ohne diese präsupponierte Instanz wären die vom Lokutor und Allokutor vertretenen Propositionen nicht denkbar gewesen, hatten diese doch die vorkonstruierte „Entscheidung“ immer als Hintergrundfolie zur Voraussetzung. Während beispielsweise im Diskurs des Bologna-Technokraten Lokutor und Allokutor die Frage verhandelten, ob ein „Qualitätssicherungssystem“ Gegenstand des deutschen Akkreditierungswesens sein wird oder nicht, ging es im Bulmahn-Diskurs darum, ob „Bachelor und Master“ „eine wichtige Voraussetzung für vergleichbare Studiengänge in Europa“ ist oder nicht. Jedes Mal wurde das dialogische Feld um ein Problem herum aufgespannt, das eine „Entscheidung“ zur Voraussetzung hat, die als „immer schon getroffen“ proklamiert wurde. Dabei fiel auf, dass sowohl Lokutor als auch Allokutor konstative („sein“) und keine direktiven („wollen“, „sollen“ etc.) Sätze angenommen haben. Im Rahmen dieser Dreierkonstellation wurde eine Subjektivitätsform evoziert, die für politische Diskurse eher ungewöhnlich ist. Während politische Diskurse typischerweise mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten expressiven Subjektivität operieren, die durch die erste Person Singular/Plural in Verbindung mit Modalverben wie „wollen“ hervorgebracht wird, überwog in den hier analysierten Diskursen eine evaluierende Subjektivität. Dies konnte besonders anschaulich im BulmahnDiskurs beobachtet werden, wo die expressive und die evaluierende Form sich durch einen paradigmatischen Bruch überlagerten. Anders als in der expressiven Form, die relativ „frei“ und „offensiv“ wirkt, spricht in der evaluierenden Form immer die Instanz [x] mit. Die Instanz [x] nistet sich in die Instanz [l] ein und besetzt die vom Lokutor angenommenen Sprecherperspektiven insofern parasitär, als das von [x] Entschiedene den Rahmen des von [l] Verantworteten bildet. Aus diesem Grunde wirken diese Diskurse so sperrig und technokratisch. Von der Verantwortlichkeitsinstanz [l] wird immer mehr proklamiert, als von dort letztlich vertreten werden kann, weil die vorkonstruierte Perspektive [x] stets auch zur Sprache kommt. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass sich [l] einerseits nie von [x] distanziert, ohne andererseits [x] explizit zu attestieren. Der abwesende Entscheider [x] wird immer nur im237
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plizit verhandelt. Insofern wird von [x] mehr als nur ein vorkonstruiertes Wissen in den Diskurs eingeführt. Vielmehr „kanalisiert“ (Foucault 1996) das Vorkonstrukt [x] die Perspektiven von [l] und [a]. Der Preis dieser Hybridität ist für [l] und [a] allerdings nicht der gleiche. Während [l] sich oft schwer damit tut, eine eigenständige Stellungnahme abzugeben, muss [a] tendenziell absurde Positionen vertreten, verneint [a] doch stets das von [l] in meist schwammiger Form Vertretene, während er andererseits [x] präsuppositional assertiert. Wenn [a] aber [x] Recht gibt, kann er [l] nicht problemlos widersprechen, erst recht nicht, wenn [l] nur vage Behauptungen aufstellt. Wenden wir uns nun präsupponierten Instanz [x] zu. Es wurde oben festgehalten, dass im Namen von [x] zahlreiche Elemente der PolicyFrames mobilisiert werden können. Damit wurde die These zurückgewiesen, dass der hegemoniale Effekt von spezifischen Themen wie „Bachelor und Master“ ausgeht. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass die Themen, die oft mit dem Bologna-Prozess synonymisiert werden, auch im Namen ganz anderer Instanzen hervorgebracht werden können. So ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Policy-Elemente des Bologna-Prozesses bereits vor der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung diskutiert und im Hochschulrahmengesetz verankert wurden. Der Bologna-Prozess hat, konzeptionell oder thematisch gesehen, also nichts Neues hervorgebracht (Witte 2006b, Maeße 2008). So kann zusammenfassend konstatiert werden, dass die Themen und Forderungen des Bologna-Prozess weder begrenzbar noch authentisch sind. Dennoch ist es ein Unterschied, ob eine Forderung wie „Bachelor/Master, ECTS“ etc. im Bologna-Diskurs oder in einem anderen Diskurs hervorgebracht wird. Und dieser Unterschied liegt nicht in den Themen oder ihrer argumentativen Verkettung, sondern in der Art und Weise, wie sie diskursiv hervorgebracht und dem Leser präsentiert werden. So fordert der Lokutor niemals, „Bachelor/Master“ einzuführen; vielmehr wird überwiegend konstatiert, dass Bachelor und Master der korrekten Leseweise der „Beschlüsse“ von Bologna entsprechen. Der Lokutor wird also nicht als ein expressives Subjekt der Forderung sichtbar, sondern als ein evaluierendes Subjekt der Auslegung. So werden Forderungen aneinandergereiht, die bereits woanders erhoben wurden. Damit determiniert [x] die Art und Weise der von den Sprecherperspektiven vertretenen Propositionen, indem [x] nie selbst spricht, sondern immer schon „gesprochen hat“. In diesem Sinne kann [x] als ein „abwesender Hegemon“ bezeichnet werden. Dabei ist es irrelevant, ob [x] eine autonome empirische Existenzform hat oder nicht. Es spielt weder eine Rolle, was die Minister wirklich gefordert haben noch, ob sie überhaupt eine Forderung aufge238
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stellt haben. Die Instanz [x] spricht im Bologna-Diskurs immer als eine abwesende Kraft mit, die in den Diskurs kein Was, sondern ein Dass einführt. Während die Instanz [x] für die Frage, dass gefordert wurde, steht, verhandeln die Sprecherperspektiven des Lokutors und des Allokutors die Frage, was gefordert wurde. Damit erhält [x] den Status einer „abwesenden Präsenz“, die immer mitevoziert wird. Hegemonial wird dieser Diskurs allerdings nicht dadurch, dass [x] als ein „leerer Signifikant“ den Raum hegemonialisiert, sondern erst durch den Mechanismus der Hervorbringung, das heißt durch das dialogische Verhältnis von [x], [l] und [a]. Das hegemoniale Feld, das über die Instanzen [x], [l] und [a], so wie sie hier definiert worden sind, aufgespannt wird, erlaubt nun eine Reihe von Permutationen, die sich entlang der Zeitachse (tx → t0 → t1) erstrecken und einen Raum (x, y) von Handlungsmöglichkeiten aufspannen: Abbildung 5:
[x]
[l]
L3
L2 L1
L4
[a]
L3
L3
L4
tx
←
t0
L1
L3 L4
L2
←
L4 x
y t1
Ln
[l]: evaluierender Sprecher [a]: absurder Sprecher [x]: Autorität L: Leser
Ln
Implikation: Kontradiktion : Wertfreie Kontrarität:
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An dieser Stelle soll nun ein letztes Szenario konstruiert werden, um zu zeigen, welche Dynamiken ausgehend von der hegemonialen Formation entstehen können: stellen wir uns vor, [l] vertritt die Proposition: „wir brauchen ein Qualitätssicherungssystem wegen [x]“, wobei [a] dem widerspricht: „wir brauchen kein Qualitätssicherungssystem wegen [x]“. Der linke L1 folgt [l] und der andere L1 [a]. Jeder L1 kommuniziert nun mit zwei L2s auf unterschiedliche Art und Weise, wobei die L2s mit unterschiedlichen L3s reden etc., welche sehr unterschiedliche Beziehungen zueinander eingehen mit anderen Ls. Wenn man nun die Propositionen mit den Beziehungsformen korreliert und die Permutationsreihe (L1 → Ln) einkalkuliert, dann kann man erkennen, wie eine unkontrollierbares System aus Gerüchteküchen, Hörensagen und „stille Post“ entsteht, wo Expertenwissen, oder das, was man gerade dafür hält, an sehr unterschiedlichen Stellen hohe symbolische Profite verspricht4 – ein System, das allerdings strukturiert ist, und zwar von [l], [a] und nicht zuletzt [x].
4
Siehe die steile Karriere des CHE, das mittlerweile in dem Institut CHEConsult Hochschulplanung anbietet.
240
T EIL IV: S CHLUSS
8 S P I E L Ü B E R B AN D E : W I E P O L I T I K G E M AC H T W I R D
MIT
BOLOGNA
Einleitung Die Logik politischen Handelns hat in den letzten Jahren ein neues Gesicht angenommen. Der Zusammenbruch der Lagerform, der Ende der 1980er Jahre aufgrund der Auflösung der Brandt-Politik einsetzte, und die damit einhergehende Etablierung einer Konsensform, die durch Austeritäts- und Reformzwang gekennzeichnet ist, trugen ebenso wie die kommunikative Internationalisierung durch eine zunehmende Orientierung an Entwicklungen in den USA („Amerikanisierung“) und im asiatisch-pazifischen Raum („internationale Attraktivität“) sowie die Europäisierungstendenz im Rahmen des Bologna-Prozesses dazu bei, dass sich die hegemonialen Koordinaten des hochschulpolitischen Feldes verschoben haben. Die Art und Weise, wie im hochschulpolitischen Feld Politik gemacht wird, hat sich in den 1990er Jahren verändert, und der Bologna-Prozess treibt diese Art technokratischer Konsenspolitik auf die Spitze (siehe dazu auch Wissel 2007). Die politische Logik des Bologna-Prozesses lässt sich in nationalstaatlichen Kategorien nicht mehr beschreiben. Dies gilt auch unter der Voraussetzung, dass der Bologna-Prozess, wie so viele andere Globalisierungsphänomene, in sehr starkem Maße ein deutsches Phänomen sein sollte. Durch die diskursive Virulenz einer transnationalen Instanz wird der Ort des Politischen verschoben und ist im institutionellen Gefüge des bundesdeutschen Kulturföderalismus nicht mehr lokalisierbar. Verantwortung wird im Bologna-Prozess weder über Wahlen noch über institutionelle Zuständigkeit definiert, sondern auf unterschiedliche Weise unsichtbar gemacht. Auch die Soziologie hat dieses Phänomen zur Kenntnis genommen. So spricht John Meyer (2005) aus neoinstitutionalistischer Perspektive von globalen Anpassungsprozessen, denen sich kein Staat entziehen kann. Folgen wir Meyer, dann können die Reformmodelle, die unter 243
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
dem Schlagwort „Bologna-Prozesses“ zirkulieren, als „globale Bildungsmodelle“ bezeichnet werden, die einen Anpassungsdruck auf alle weltweit existierenden Bildungssysteme ausüben. Organisationen können sich diesem isomorphen Druck nicht entziehen. Nach und nach würde der Bologna-Prozess eine weltweit homogene institutionelle Hochschulstruktur erzeugen. Ob dies in Aussicht steht, ist aus der Sicht der Hochschulsoziologie fraglich (Musselin 2008, Witte 2006). Fraglich ist zudem, ob die Theorie der Isomorphie eine Erklärung für den Wandel der europäischen Hochschulstrukturen abgeben kann, oder ob sie nicht vielmehr selbst erklärungsbedürftig ist. Die Lücke der Erklärungsbedürftigkeit könnte mit Münch gefüllt werden. So hat Münch (2009) im Anschluss an Meyer eine Variante des Isomorphieansatzes vorgestellt, die den lokalen institutionellen Besonderheiten und nationalen Traditionen Rechnung trägt. Demnach formiert sich ein transnationales Machtfeld, wo die Bildungswissenschaften als neue Wissenselite mit den Wirtschaftseliten eine Koalition eingehen. Vor allem am Beispiel PISAs zeigt Münch, wie transnationale Wissensformen entstehen, die in nationalstaatlichen Kontexten als Legitimationsressource eingesetzt werden, um spezifische Reformforderungen durchzusetzen. Die lokalen Autoritäten bestehend aus den demokratisch legitimierten politischen Verbänden und Institutionen werden zunehmend zurückgedrängt und verlieren an Legitimationskraft. Zwar unterschreibt auch Münch den Isomorphieansatz von Meyer; allerdings unterstreicht Münch einerseits die Fortdauer der nationalstaatlichen institutionellen Aktivitätsstruktur in den Bildungseinrichtungen, die eine „unheilsame Symbiose“ mit der neuen Formalstruktur eingeht, und betont andererseits mit Verweis auf Bourdieu die legitimitätsstiftende Funktion der globalen Bildungsmodelle der Wissenseliten. Die konkreten Legitimierungsvorgänge erfolgen allerdings immer in den lokalen und nationalstaatlichen Kontexten. Streng genommen kann Münch entgegengehalten werden, dass nicht (nur) die Wirtschaftseliten, sondern insbesondere die lokalen Autoritäten eine „unheilvolle Allianz“ mit den globalen Eliten eingehen. Denn wie Moravcsik (1997) am Beispiel der europäischen Union gezeigt hat, verweisen die Akteure der Verwaltungen in der nationalstaatlichen Praxis auf europäische Entscheidungen, um Widerstand innerstaatlicher Akteure aus den Parlamenten und der Zivilgesellschaft gegen spezifische Reformprogramme zu unterbinden. Der Bologna-Prozess ist vor diesem Hintergrund sicherlich ein Sonderfall, weil er nicht auf europäischem Recht basiert. Obwohl der Bologna-Prozess also nicht auf völkerrechtlicher Grundlage steht, obwohl der Bildungsbereich durch den Vertrag von Maastricht ausdrücklich dem nationalstaatlichen Kompetenzbereich zuge244
SPIEL ÜBER BANDE: WIE MIT BOLOGNA POLITIK GEMACHT WIRD
sprochen wurde, obwohl jede Initiative der Europäischen Kommission im Bildungsbereich in den 1990er Jahren argwöhnisch beäugte wurde und mitunter auf heftigen Widerstand stieß, obwohl den Reformthemen des Bologna-Prozesses noch wenige Jahre zuvor keine Aussicht auf Erfolg zugesprochen worden wären, obwohl jene Reformmaßnahmen tief in die Hochschulautonomie eingreifen und obwohl es keine klaren Vorstellungen davon gab, welche Effekte die Bologna-Reformen im Hochschulsystem hervorrufen werden, kann der Bologna-Prozess wohl nicht nur als eine der populärsten, sondern auch als eine der folgenreichsten Reformen des deutschen Hochschulsystems seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet werden. Wie war diese Entwicklung möglich? Um einer Erklärung für den reformimpulsiven Charakter des Bologna-Prozesses näher zu kommen, reicht es nicht aus, die formalen Kompetenzen, Verträge, souveränen Entscheidungen, die Impulse einer politischen Bewegung oder gar einer nationalen Tradition, die einen „Reformstau“ aufgreifen, als Quelle für eine Erklärung heranzuziehen, ist der Bologna-Prozess doch gerade dadurch gekennzeichnet, dass all dies, wenn überhaupt, nur rudimentär vorhanden war. Anstatt den Erfolg des Bologna-Prozesses auf eine solche Quelle zurückzuführen, haben wir in dieser Arbeit einen anderen Weg vorgeschlagen. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit war die gesellschaftstheoretische Ausgangsprämisse, wonach das Soziale nicht von der Totalität einer nationalstaatlich verfassten, durkheimianischen „Gesellschaft“ eingebettet ist. Das Soziale ist vielmehr das Produkt kontingenter partikularer Akte, die einen hegemonialen Effekt evozieren, indem sie unterschiedliche Elemente des Feldes in der diskursiven Praxis arrangieren. Nun soll danach gefragt werden, wie mit Bologna regiert wird, das heißt welche gouvernementalen Effekte vom hegemonialen Feld des Bologna-Diskurses ausgehen.
Die zwei Europas und die „Suche nach Bologna“: der euronationale Diskurs Europa: ein komplexer Raum Wie in der Diskursanalyse gezeigt wurde, sind die Bologna-Diskurse in Deutschland dadurch gekennzeichnet, dass sie einige ausgewählte Texte des Bologna-Prozesses wie die Bologna-Erklärung und die Nachfolgekommuniqués auf eine spezifische Art und Weise in die nationale und regionale diskursive Praxis einbauen. Aber auch die Produktion dieser privilegierten, europäischen Texte findet nicht im leeren Raum statt, sondern in einer komplexen europäischen Umgebung, auf die diese Texte über ihre diskursiven Formen interdiskursiv zugreifen. Die Integration und Herstellung Europas war und ist ein hegemoniales Projekt, das sich 245
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
nicht auf ein einzelnes hegemoniales Schlagwort reduzieren lässt. Die Gründe dafür liegen zwar schon in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft selbst, die als westeuropäischer Block in erster Linie ein Resultat des Kalten Krieges war (Huffschmid 1994). Sie zeigen sich drüber hinaus auch immer wieder in der Aktualität Europas. So ist nicht erst seit dem Bologna-Prozess, dem Balkan-Konflikt oder dem schleppenden Aufnahmeprozedere der Türkei die Frage virulent, wer zu Europa gehört und wer nicht (Balibar 2004). Auch die der globalen ökonomischen Integration nachfolgende politische Integration Europas (Hirst 2000), die durch die Herstellung der „vier Freiheiten“1 im Kern eine „negative Integration“ (Huffschmid 1994) war, und ab dem Vertrag von Maastricht unter dem hegemonialen Signifikanten „Europäische Union“ zunehmend für sich in Anspruch nimmt, Europa zu repräsentieren, verschiebt die Problematik, was Europa ist oder sein soll, lediglich, wird doch ausgerechnet dieses Projekt in zyklischen Abständen mit dem Nomen „Krise“ attribuiert. Nichtsdestotrotz gelang es unter dem Schlagwort „Europäische Union“ ein „hegemoniales Projekt“ (Nonhoff 2006) zu initiieren, das auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge agiert und für sich in Anspruch nimmt, das offizielle Europa zu repräsentieren. Neben diesem offiziellen Europa etablierten sich vor allem nach dem Zusammenbruch des Ost/West-Gegensatzes und der hegemonialen Karriere des Signifikanten „Globalisierung“ im politischen Feld vieler europäischer Staaten zahlreiche andere Europas, die nicht nur die Konstrukte der Feuilletons und sozialwissenschaftlicher Debatten sind, sondern durch die diskursive und institutionelle Aktivität von Regierungen, Verbänden und Vertretern der so genannten Zivilgesellschaft hervorgebracht wurden. Zu diesen anderen Europas, die nicht durch völkerrechtliche Verträge hergestellt sind, zählen ideologische (Russische Föderation, Türkei) und militärische Konflikte (Balkan) an den Grenzen des offiziellen Europas, Europäische Sozial- und Umweltpolitik, europäische Verbände (z.B. der EGB), die boat people im Mittelmeer, die sich seit kurzem abzeichnenden republikanisch-demokratischen Tendenzen im Zuge der Proteste gegen den EU-Verfassungsvertrag und die EUDienstleistungsrichtlinie und viele andere diskursive Praktiken, die die Grenzen Europas immer wieder neu ziehen und infrage stellen. Zu diesen europäischen Grenzphänomenen können auch solche Praktiken gezählt werden, die sich an der Grenze des EGV bewegen und neue europäische Institutionen hervorgebracht haben. Dazu gehören die im Rah-
1
Damit ist die Kapital-, Dienstleistungs-, Güter- und individuelle Bewegungsfreiheit gemeint.
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SPIEL ÜBER BANDE: WIE MIT BOLOGNA POLITIK GEMACHT WIRD
men der „Methode der offenen Koordinierung“ initiierten Projekte wie der Lissabon-Prozess oder eben der Bologna-Prozess.
Wie „globale Modelle“ gemacht werden Jede symbolische Praxis findet stets in unterschiedlichen Produktionsund Rezeptionskontexten statt. Auch die Texte des offiziellen Europas werden immer in nationalen Kontexten gelesen und bewirken keinesfalls einen homogenen europäischen Wirtschaftsraum – eher eine heterogene juristische, politische und ökonomische „Regierungspraxis“ (Foucault 2006) in transnationalen Handlungsfeldern. So fiel bei der Analyse der Bologna-Dokumente ein Aspekt auf, der nach weiterer Erklärung verlangte. Auf der einen Seite gilt der Bologna-Prozess als ein enorm erfolgreicher Hochschulreformprozess; auf der anderen Seite haben die Beschlüsse des Bologna-Prozesses keine völkerrechtliche Verbindlichkeit. Es wurde angenommen, dass der Erfolg des Bologna-Prozesses vor diesem Hintergrund zumindest zwei Voraussetzungen erfüllen müsste (vgl. Kapitel 7.1). Einerseits müssten die Bologna-Dokumente eine klar formulierte Policy-Programmatik enthalten und andererseits sollten diese Forderungen mit einer deutlichen Absichtserklärung verbunden sein. Es stellte sich heraus, dass beides nicht der Fall ist. Vielmehr verfängt sich die Bologna-Erklärung in schwammigen Formulierungen, die darüber hinaus von anonymen Gestalten vertreten werden, zu denen die Unterzeichner der Erklärung sich nur vage bekennen wollen. Die Bologna-Erklärung als Ursprung oder gar Triebkraft im Sinne eines tonangebenden, starken Subjekts des Bologna-Prozesses zu bewerten, verbietet sich vor diesem Hintergrund. Die „globale Wissenselite“ (Münch 2009) bleibt in den Hinterzimmern und muss warten, bis sich draußen jemand findet, der ihre Konzepte und Ideen verkauft. Es wurde darauf aufbauend die Hypothese aufgestellt, dass die politische (und semantische) Bedeutung der Bologna-Erklärung nicht auf die Erklärung selbst reduzierbar ist. Vielmehr müssen nationale Ko- und Kontexte in die Analyse mit einbezogen werden, wo die BolognaDokumente für weitere diskursive Praktiken verwendet werden. Die Analyse dieser Prozesse zeigte allerdings, dass die semantische Bedeutung des Bologna-Prozesses letztlich erst in der Umsetzung an den Hochschulen studierbar ist, kann doch fast jedes Reformthema im Namen des Bologna-Prozesses hervorgebracht werden. Die BolognaErklärung und die Nachfolgekommuniqués sind Schlagwortsammelsurien, die so gut wie alles enthalten, was in den 1980er und 1990er Jahren an Reformideen im hochschulpolitischen Feld hervorgebracht worden war. Insofern, so kann geschlussfolgert werden, ist der BolognaProzess in semantischer und politischer Hinsicht eine sich-selbst247
DIE VIELEN STIMMEN DES BOLOGNA-PROZESSES
erfüllende Prophezeiung, weil erst in der Umsetzung die konkreten Bedeutungen sichtbar werden. Damit muss jede Erklärung für den reformimpulsiven Charakter des Bologna-Prozesses, die die Rolle Bolognas in der Durchsetzung spezifischer Reforminhalte (policies) sieht (Heß 2003, Schewe 2004, Teichler 2005a), problematisch erscheinen. Wie soll aber ein Reformprozess, der zwar ohne inhaltliche Bedeutung und klar erkennbarer Autorschaft auf der Seite der Agierenden operiert, der aber durchaus von politischer Bedeutung ist, bewertet werden? Kann geschlussfolgert werden, dass nicht die politische Bedeutung (policy), sondern die lokale und regionale Autorität der politischen Akteure das Agens des Bologna-Prozesses bildet? Wie oben bereits angedeutet wurde, spielt die Autorität von Ministern, Ministerialbeamten, Rektoren und anderen hochschulpolitischen Akteuren eine wichtige Rolle. Bevor es jedoch überhaupt dazu kommt, dass regionale Akteure ihre Autorität geltend machen können, muss der Raum, in dem sich die Akteure bewegen, bereits in groben Zügen hegemonial abgesteckt sein. Diese Gouvernementalisierung erfolgte einerseits durch die Strukturierung des Feldes in den 1990er Jahren und andererseits durch die Bereitstellung der europäischen Dokumente (Bologna-Erklärung etc.) (vgl. Maeße 2008). Denn die regionalen Akteure müssen auf etwas zurückgreifen können, das als Ressource bereits vorhanden ist. Und hier kommen die globalen Eliten ins Spiel. Die Herausforderung der lokalen Autoritäten besteht nun darin, eine politische Programmatik so zu vertreten, dass sich möglichst geringe Widerstände dagegen entwickeln können. Dafür müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: erstens muss die Autorschaft dieser Programmatik möglichst unsichtbar sein (Wer fordert?) und zweitens darf die Programmatik diejenigen, die sie umsetzen müssen, nicht autoritativ auf eine bestimmte Konzeption festlegen (Was wird gefordert?). Das unbemerkte Zusammenspinnen unterschiedlicher Fäden ist die Kunst der Politik des Bologna-Prozesses als Bologna-Diskurs (Maeße 2008). Die Europäische Union ist kein Impulsgeber, der im Sinne einer „Weltkultur“ (Meyer 2005) eine homogene ökonomische, politische oder gar kulturelle Weltgesellschaft hervorbringt (siehe Musselin 2008). Ebenso sollte auch der Bologna-Prozess nicht als ein globales Bildungsmodell verstanden werden, das von außen eindringt und die nationalstaatlichen Systeme homogenisiert. Vielmehr wird der Effekt einer Weltkultur erst dadurch evoziert, dass nationale und regionale Akteure den europäischen Texten den Status von „globalen Bildungsmodellen“ in ihrer lokalen Praxis zuschreiben (siehe dazu auch Moravcsik 1997, Martens/Wolf 2006). Die „globalen Eliten“ (Münch 2009) sind ohne die „lokalen Autoritäten“ so machtlos wie ganz normale Technokraten ohne 248
SPIEL ÜBER BANDE: WIE MIT BOLOGNA POLITIK GEMACHT WIRD
ihre vorgesetzten Politiker, die durch Reden in der Öffentlichkeit das von den Technokraten erzeugte Wissen erst mit Legitimität ausstatten. Und die Theorie der „globalen Bildungsmodelle“ ist ein völlig apolitischer Erklärungsversuch, der die interpretativen Leistungen der Akteure komplett ignoriert. Während nun in demokratischen Diskursen die Politiker für spezifische Forderungen Verantwortung übernehmen müssen (und abgewählt werden können!), verweisen sie im Falle des Bologna-Prozesses in einem Spiel über Bande auf eine anonyme, technokratische Instanz. Genau genommen handelt es sich beim Bologna-Prozess um ein doppeltes Spiel über Bande: zunächst wird ein inhaltsleerer, technokratischer Text verfasst, der interdiskursiv auf unterschiedliche „glocale“ Wissensressourcen (Robertson 1992) zugreift; anschließend wird dieser Text als Beschluss ausgewiesen; in der regionalen politischen Praxis wird mehr oder weniger implizit auf den Beschluss verwiesen, wobei der Text nun wiederum von Bildungsexperten ausgelegt werden kann. Zu einem globalen Modell wird ein europäischer Text wie die Bologna-Erklärung erst durch dieses Zickzackspiel zwischen globaler Elite und lokaler Autorität, wobei sowohl die konkreten Inhalte als auch die politische Verantwortung dafür immer wieder hin und her geschoben werden. Die Texte werden schließlich nicht nur von den lokalen Autoritäten – also von den nationalen und regionalen Wissenschaftspolitikern und Beamten – gelesen, sondern müssen zudem durch die Feuertaufe der Öffentlichkeit. Dafür müssen die Texte mit einer Struktur ausgestattet sein, die divergierende Lesarten möglich macht, ohne jedoch kontroverse Debatten mit festen Lagerbildungen auszulösen. Und genau dies leistet eben ein schwammiger Text.
Bologna suchen und finden Anstatt also weiter in der Werkzeugkiste der traditionellen sozialwissenschaftlichen Macht- und Sinnbegriffe zu suchen, in der Hinsicht, dass ein klar erkennbarer Akteur eine klar erkennbare Botschaft vermitteln will, soll hier ein anderer Weg für die Erklärung des reformimpulsiven Charakters des Bologna-Prozesses vorgeschlagen werden. Es ist nämlich durchaus plausibel, den Mangel an Bedeutung und politischer Subjektivität nicht als ein Hindernis, sondern als eine Bedingung für den Erfolg des Bologna-Prozesses zu lesen. Aber wie funktioniert das genau? Sprechakttheoretisch gedacht, kann die Bologna-Erklärung als eine Aussage gelesen werden, die sowohl eine illokutionäre als auch eine propositionale Ebene hat. Wenden wir uns der illokutionären Ebene zu. In der Analyse der Bologna-Erklärung fielen zwei Aspekte der Syntax der aneinander gereihten Aussagen auf. Zum einen folgte ein Allge249
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meinplatz dem Nächsten. Zum anderen wurde gerade im letzten Drittel ein Spannungsbogen aufgebaut, indem die Lokutoren der Aussagen dieses Drittels Sprecher annehmen, die als „wissende Sprecher“ auftraten. Der Spannungsbogen setzte sich bis in die feierlichen Formulierungen der Maßnahmen des Bologna-Prozesses fort. Das „exklusive Wissen“ dieser Sprecher war im Diskurs als ein Wissen inszeniert, das sie „haben“ aber nicht „sagen“. Und dies ist der entscheidende Punkt. Denn indem der Spannungsbogen immer wieder Bedeutung versprach, ohne dieses Versprechen allerdings zu erfüllen, evoziert die Bologna-Erklärung eine „proaktive“ Aura. Die Bologna-Erklärung gibt eine Art „Versprechen“ ab, das gerade dadurch, dass sie selbst es nicht erfüllen kann, den illokutionären Charakter eines „Versprechens“ erhält, wobei der Ort des Subjekts und des Objekts des Sprechaktes offen gelassen wird. So bleiben in dem Satz „wir versprechen X“ die Positionen „wir“ und „X“ weitestgehend unbesetzt und verlangen nach einer Auffüllung, die nun die Leser dieser Dokumente leisten müssen. Dies hat zwei zentrale Konsequenzen. Auf der internationalen Ebene können möglichst viele nationale Interessen und Befindlichkeiten berücksichtigt werden, mit dem Effekt, dass möglichst viele Regierungen dem Bologna-Prozess beitreten können, wodurch die Bologna-Dokumente wiederum an Internationalität und Prestige gewinnen. Auf der anderen Seite können die zahlreichen nationalen und regionalen Akteure in die Bologna-Dokumente vieles hinein interpretieren, und so im Namen des Bologna-Prozesses völlig unterschiedliche Forderungen aufstellen. Dies ist zumindest das Potential der Bologna-Dokumente. Aber muss derjenige auf nationaler Ebene, der die Bologna-Erklärung und die Nachfolgekommuniqués einmal als hochwertige Dokumente anerkannt hat, nicht auch nach den Inhalten und Forderungen intensiv in den Dokumenten des Bologna-Prozesses suchen? Organisiert das „Versprechen“ ohne „Versprochenes“ und „Versprechenden“ der BolognaErklärung nicht auch eine ideologische Interpellation, präsupponiert doch der Akt des „Versprechens“, dass es etwas „Versprochenes“, das danach verlangt, gefunden zu werden, und einen „Versprechenden“, der mit der Unterschrift der Minister angenommen werden kann, gibt? Mit anderen Worten: gerade die Bedeutungslosigkeit der Bologna-Erklärung ist der Motor für den Prozess selbst, weil er Subjekte interpelliert, die sich auf die Suche nach den „Forderungen“ des Bologna-Prozesses machen (und damit als „Bologna-Prozess“ konstituieren). Die BolognaErklärung evoziert dadurch eine Erwartungshaltung, die dazu führen kann, dass sich die Leser auch tatsächlich auf die Suche nach dem „Sinn“ der Forderungen begeben und früher oder später auch fündig werden. Hierfür können sie auf zahlreiche nationale Kotexte (ihr Exper250
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tenwissen und das Wissen von Bildungsforschern) zurückgreifen und die Inhalte dieser Kotexte auf die Forderungen der Bologna-Erklärung übertragen. Die Bolognadokumente lösen so in den nationalen und regionalen Handlungsfeldern eine Suche nach Bologna aus, die allerdings in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedlich vollzogen wird (Musselin 2008, Witte 2006a). Es reicht demnach völlig hin, wenn mit der Bologna-Erklärung ein Ort der Entscheidung markiert ist; was dort genau entschieden wurde, dies müssen die nationalen und regionalen Akteure selber herausfinden. Somit trennt sich die Quelle der Entscheidung von der Quelle der Bedeutung, um in der regionalen diskursiven Praxis wieder zu verschmelzen und dort als Vorkonstrukt Anerkennung einzufordern. Und als hätte es jeder geahnt, dass der Bologna-Prozess einem Taschenspielertrick gleicht, wo doch klar ist, dass der Spieler das Herz-Ass längst aussortiert hat, so ist es doch verwunderlich, dass selbst Juristen, denen nun wirklich nichts heilig ist, was nicht „Recht“ ist, vor der Macht Bolognas einknicken (siehe Kilian 2006). Der BolognaProzess wurde nicht in Paris, Bologna, Berlin oder Bergen erfunden, sondern überall dort, wo sich Reformakteure und Bildungsexperten auf unterschiedlichen institutionellen Ebenen auf die Suche nach dem „Sinn“ von „Bachelor“ und „Master“, „ECTS“ und „Qualität“ begeben haben. Ohne eine legitime Autorität, die ihnen die schwerwiegende politische Entscheidungsverantwortung abnimmt, konnte dieser Prozess freilich nicht funktionieren. Und diese Autorität muss nun irgendwie inszeniert werden. Aber wie?
Die Form des hochschulpolitischen Feldes: die nationalen Europadiskurse Organisierte Verantwortungslosigkeit Wer davon überzeugt ist, dass in den Bologna-Dokumenten der Schlüssel für eine europäische Hochschulreform verborgen liegt, und sich auf die Suche danach begibt, der kann früher oder später auch fündig werden. In den Dokumenten des Bologna-Prozesses sind weitestgehend alle wegweisenden Schlagworte des deutschen hochschulpolitischen Feldes enthalten, sodass die Bologna-Dokumente ein reiches Repertoire an hegemonialen Artikulationsmöglichkeiten bereitstellen. So sind „Bachelor und Master“ nicht nur die Schlagworte der Studienreform schlechthin, sondern auch eine Grundvoraussetzung für die „Profilbildung“ der Hochschulen, um im „internationalen Wettbewerb“ bestehen zu können. Gerade kritische Beobachter des hochschulpolitischen Feldes sehen deshalb im Bologna-Prozess ein „Feigenblatt“ zur Durchsetzung von Forderungen, die nur vordergründig etwas mit dem Bologna-Prozess selbst zu 251
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tun hätten (siehe Schewe 2004). Auch wenn man den Kritikern grundsätzlich darin Recht geben könnte, dass der Bologna-Prozess als ein Vorwand zum Sparen herhalten muss und höhere Bildung zu einem Privileg der herrschenden ökonomischen Klasse erhebt, so unterstellt eine solche Bewertung der politischen Dynamik und Form des BolognaDiskurses doch eine Annahme, die weder theoretisch noch empirisch gerechtfertigt werden kann. Das hochschulpolitische Feld lässt sich nicht von einem Akteur beherrschen oder gar überblicken. Es ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass transnationale und nationale Elemente hegemonial miteinander verknüpft werden. In der Diskussion des Internationalisierungsansatzes (vgl. Hahn 2004b und Huisman/van der Wende 2004a) in der Hochschulforschung (vgl. Kapitel 3) wurde geschlussfolgert, dass der Einfluss transnationaler Prozesse auf nationale und regionale Policy-Programme die Identität der (nationalen und regionalen) Akteure nicht unberührt lassen kann. Wenn aber die Identität der Akteure durch den Bologna-Prozess eine transnationale Dimension erhält, kann dann diesen Akteuren noch vorbehaltlos unterstellt werden, dass sich hinter der offiziellen Absicht noch eine „inoffizielle“ Absicht befindet? Oder muss nicht vielmehr davon ausgegangen werden, dass auch den Akteuren, denen eine Doppelmoral unterstellt wird, die Mittel zur Durchsetzung ihrer „verborgenen, wirklichen“ Ziele auf die Füße fallen können, dass man, im sprichwörtlichen Sinne, die „Geister, die man rief“, nun nicht mehr los wird? Ohne Frage existiert immer ein Unterschied zwischen dem, was man in der Politik vorgibt zu erreichen, und dem, was letztlich erreicht wird. Einen berechnenden Akteur mit einer kompakten Identität „hinter“ den „offiziellen“, heterogenen Worten anzunehmen, ist jedoch eine unhaltbare Unterstellung. Wie in der Diskursanalyse gezeigt werden konnte, handelt es sich bei den Akteuren des Bologna-Prozesses keinesfalls um kompakte, kohärente Figuren. Vielmehr evoziert der Diskurs ein dialogisches Feld, wo mehrere Sprecherperspektiven zu Wort kommen und ein heterogenes Beziehungsgeflecht aufbauen. Gerade in den BolognaDiskursen erwies sich der verantwortliche Sprecher nun keinesfalls als ein „souveräner Macher“. Der Diskurs ist vielmehr durch eine evaluierende Subjektivität gekennzeichnet, werden die Sprecherperspektiven, die der Lokutor annimmt, doch stets von einer vorkonstruierten Instanz parasitär besetzt. Dadurch spricht in den Aussagen des Lokutors immer ein weiterer Sprecher mit, dessen Äußerungsquelle in den Diskursen abgeschnitten ist. Der Lokutor sagt immer mehr, als er selbst verantwortet. Die Instanz [x], die einerseits als Hintergrundannahme von den Sprecherperspektiven präsupponiert wird und andererseits diese Sprecherperspektiven überformt und kanalisiert, verweist auf einen nicht-nationalen 252
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Ort der getroffenen Entscheidung, der in den Bologna-Diskursen nach Anerkennung verlangt. Was an diesem Ort tatsächlich entschieden oder gefordert wurde, ist im Bologna-Diskurs zweitrangig. Wie in den Diskursanalysen gezeigt wurde, markiert die Instanz [x] vielmehr einen Ort, der die Tatsache, dass etwas entschieden wurde in den Diskurs einführt. Diese Rolle der Instanz [x] im dialogischen Feld der Konsensform war die konstitutive Voraussetzung für die evaluierende Form der Subjektivität, die letztlich eine Technokratenfigur hervorbringt. Der Sprecher, für den der Lokutor Partei ergriff, war dieser transnationalen Instanz, die dem Bologna-Diskurs hybridisiert und dezentralisiert, in gewisser Hinsicht unterworfen, musste er doch immer diesen Anderen an seiner Statt fordern lassen. So kann der Bologna-Diskurs insofern als ein transnationaler Diskurs bezeichnet werden, weil er ein Vorkonstrukt evoziert, das von den Sprecherperspektiven präsupponiert werden muss und einen Ort der „getroffenen Entscheidung“ markiert, der sich im nationalstaatlichen institutionellen Kontext nicht mehr verorten lässt. Das nationalstaatliche Imaginäre erscheint dadurch wie ein administrativer Korpus ohne institutionelle Verbindung zur Legislative. An die Stelle der Lagerform tritt eine vergleichsweise ausgereifte Konsensform; an die Stelle des politischen Konflikts tritt die teils inhaltsleere Sachauseinandersetzung; an die Stelle des Politikers tritt der Technokrat; und an die Stelle der Legislative die Exekutive. Der Bologna-Prozess evoziert einen bürokratischen Raum und kann in diesem Sinne als eine „Niemandsherrschaft“ (Arendt 1970) bezeichnet werden. Er ruft überall kleine Grüppchen von Interpretationskünstlern, Münchs „Wissenselite“ (2009), auf den Plan, die im Verbund mit Politikern und Wissenschaftsbürokraten, die kaum noch voneinander zu unterscheiden sind, die Verantwortung an Orte delegieren, welche für das hochschulpolitische Publikum in unerreichbarer Ferne liegen. Die „finsteren und fensterlosen Hauptquartiere“ (Adorno) der Globalisierung sind der ideologische Effekt dieses politischen Spiels über Bande, wo politische Verantwortung und das, wofür Verantwortung übernommen werden kann, permanent weiterdelegiert wird.
Konsenspolitik Der Lokutor lässt in den hier analysierten Bologna-Diskursen allerdings nicht nur andere für sich fordern; er muss darüber hinaus auch andere die Forderungen an seiner Statt umsetzen lassen. Dies konnte insbesondere am Beispiel des Bologna-Populisten, der nach und nach die Initiative verliert und letztlich nur noch anonyme Andere für sich sprechen lässt, gezeigt werden. Erscheint der verantwortliche Sprecher, der weitestgehend nur die evaluierenden Sprecher annehmen kann, dadurch 253
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nicht ein wenig hilflos zwischen den Sprechern verfangen, die die wirkliche Arbeit machen und gemacht haben und daher auch über das Vermögen verfügen, den Bologna-Prozess zu gestalten? Im BolognaDiskurs kann demnach keinesfalls von einer starken politischen Subjektivität gesprochen werden. Vielmehr gehen die Wortführer des BolognaProzesses auf die Suche nach der Bedeutung der Forderungen Bolognas. Diese Bedeutungen müssen allerdings bereits existieren. Dafür gehen sie im hochschulpolitischen Kontext auf die Suche und greifen (bewusst oder unbewusst) auf bereits bestehende Konzepte zurück, die an ganz unterschiedlichen Orten des hochschulpolitischen Feldes produziert wurden. Tun die Bologna-Experten damit aber etwas anderes als das, was sie den Hochschulen immer wieder vorwerfen: nämlich einfach nur umzuetikettieren? In der hybriden, transnationalen dialogischen Konstellation ist auch dies der Effekt einer politischen Form, in der eine starke, selbstbewusste, expressive politische Subjektivität eher skurril, fremdartig und deviant erscheinen muss. Die politische Form des Konsenses unterscheidet sich von der institutionellen Konsenstendenz des föderalen Systems der Politikverflechtung. Während letztere durch die föderale Kompetenzverteilung hervorgebracht wird, die trotz aller Lagergegensätze nach Einigkeit verlangt, bezeichnet die politische Form des Konsenses eine besondere Art des Konflikts. Konsens wird hier nicht wie im Falle der Politikverflechtung als das Resultat der Politik verstanden, sondern bezieht sich auf die Form einer politischen Auseinandersetzung. Der Konsens als politische Form bezeichnet also eine spezifische Operationsweise des politischen Feldes. So nimmt der Lokutor in der Regel Sprecher an, die konstative Sätze vertreten. Dies wiederum hat eine Instanz zur Voraussetzung, die eine Forderung vertritt, die von „irgendwem“ „irgendwann“ „woanders“ erhoben worden ist. Konsensdiskurse präsupponieren dadurch, dass alle Akteure des Feldes die Existenz dieser Forderung teilen, ein universales Einverständnis. Der verantwortliche Sprecher (der Lokutor) selbst muss sein Verhältnis zu dieser Instanz nicht mehr klären, sondern operiert mit der Präsupposition. Dies ist allerdings kein kontinuierlicher Prozess des Feldes, sondern der spontane, ideologische Effekt singularer Aussagen, der sich als Regel und sozialer Zwang des Feldes verfestigt und gouvernementale Effekte hervorbringt. Der Bologna-Prozess konstituiert damit ein Herrschaftssystem ohne symbolisches Zentrum, das zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Zu den elementaren Regeln der Konsensform im Bologna-Diskurs zählt auch die Frage, wer sich im Konsens befindet und wer draußen ist. Der Lokutor muss sicherstellen, dass er keinen Sprecher auftreten lässt, der gegen den Konsens spricht, wenn er seine Sprecher konstativ evalu254
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ieren lässt. Auf der anderen Seite werden immer auch die Sprecher hervorgebracht, die die Grenze des Konsenses artikulieren. Es fällt dabei auf, dass vor allem der Negationsoperator „nicht“ diese Raumaufteilung evoziert. Dadurch werden oftmals einfache Binäroppositionen hervorgebracht, wobei es problematisch sein dürfte, reale Akteure im Feld zu finden, die bereit wären, den vom Lokutor zurückgewiesenen Sprecher (den Allokutor) anzunehmen. Drittens sind die Forderungen, die der vorkonstruierten, „transzendentalen“ Instanz zugeschrieben werden, semantisch sehr allgemein gehalten, sodass multiple hegemoniale Verknüpfungen möglich sind. Typische hegemoniale Signifikanten in der Konsensform sind Nomen wie „Internationalisierung“ oder „Reform“. Dadurch ist die binäre Raumaufteilung oft schematisch, wodurch wiederum der ganze Konflikt durch den sich zurückhaltenden Lokutor mitunter blass, ermüdend und technokratisch wirkt. Schließlich evoziert der technokratische Konsensdiskurs immer auch einen Ort, der sich der Kontrolle des Diskurses zu entziehen scheint. Die politische Form des Konsenses ist demnach keinesfalls homogen und kohärent. Sie ist vielmehr inkonsistent, facettenreich, heterogen und dadurch politisch äußerst effizient. Wenn säkulare Gesellschaften durch einen „leeren Ort der Macht“ (Lefort) gekennzeichnet sind, dann bedeutet dies, dass das Soziale immer wieder aufreißt, Paradoxien herstellt und „Sinnzusammenbrüche“ (Stäheli 2000) aufweist. Dies aber ist zugleich der soziale Ort für die Produktion von Neuem.
Der Rückzug und die Rückkehr des Politischen: „(Un)Doing Bologna?“ Die Effekte des Konsenses Welche Machtimpulse gehen nun von der politischen Form des Konsenses aus? Zunächst besteht das wohl charakteristischste Merkmal der politischen Form des Konsenses darin, dass durch unterschiedliche diskursive Techniken das eigentlich Politische zurückgehalten wird. Nach Laclau/Mouffe bezeichnet der Ort des Politischen eine Situation der „Unentscheidbarkeit“, die im Akt der hegemonialen Artikulation gleichwohl eine Entscheidung erzwingt (Laclau 1990a). Auch Foucaults Begriff der „Äußerung“ verweist auf eben diesen kontingenten Akt, wonach die Aussage nicht auf die Intention eines Autors oder die Grammatik einer langue reduzierbar ist, sondern ausschließlich das Produkt des Äußerungsaktes darstellt, dessen Spuren sie enthalten kann (Foucault 1981). Ausgehend von Foucault hat Maingueneau (1999) eine Theorie „selbst konstituierender Diskurse“ entwickelt. Demnach erheben Aussagen nicht nur einen propositionalen Gültigkeitsanspruch. Vielmehr müs255
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sen sie im Akt der Äußerung auch die Bedingungen ihrer Gültigkeit herstellen und manifestieren. Damit unterstreicht Maingueneau, dass Diskurse unterschiedliche Strategien zur Anwendung bringen, um ihre kontingente, unentscheidbare Basis auszublenden. Eine geäußerte Aussage hätte immer auch anders sein können; einen Gültigkeitsanspruch kann sie aber nur erheben, wenn sie im Akt der Äußerung genau diesen Aspekt der Kontingenz, der Unentscheidbarkeit oder eben des Politischen auszublenden vermag. Wie organisieren Diskurse dieses „Ideologische“ (Zizek 2000a)? Die politische Form des Konsenses ist durch insgesamt drei Strategien der Ausblendung oder des Rückzugs des Politischen gekennzeichnet. Zunächst wird durch die Instanz [x] ein Ort evoziert, wo ein Akteur eine als legitim anerkannte Entscheidung getroffen hat. Der Ort der Entscheidung ist vom Äußerungszeitpunkt „Jetzt“ sowohl zeitlich als auch räumlich abwesend. Es spielt dabei keine Rolle, was an diesem Ort tatsächlich passierte. Vielmehr verlangt die Tatsache, dass es den Ort, den Akteur und den Zeitpunkt der Entscheidung gab, im Akt der Äußerung nach Anerkennung. Wird diese Anerkennung erfolgreich von den Akteuren im „Jetzt“ und „Hier“ der Äußerung vollzogen, dann werden dadurch die Spielräume weiterer diskursiver Akte erheblich eingeschränkt. Zwar verfügen die Diskurse nun mit der Instanz [x] über eine Ressource für die weitere Textproduktion; andererseits kann diese Ressource nur genutzt werden, indem der eigene Wille an die Instanz [x] abgetreten wird. Es geht nicht darum, zu sachlich oder ideologisch begründeten politischen Forderungen Stellung zu beziehen, sondern um die Interpretation, das Propagieren, die Umsetzung etc. der getroffenen Entscheidung. So eröffnet die Instanz [x] neue Spielräume für die weitere diskursive Praxis nur um den Preis, dass sie eine politische Auseinandersetzung, die über den Willen der Akteure verläuft, nicht zulässt. Die Konsequenz für den Ort des Politischen besteht in der Maxime: Die Entscheidung wird im „Hier“ und „Jetzt“ von Dir nicht getroffen! Erkenne die getroffene Entscheidung mit all ihren Implikationen an und ordne Dich unter! Hier schließt nun die zweite Rückzugsstrategie an. Wie in den Diskursanalysen gezeigt wurde, stechen die Wortführer des BolognaProzesses durch eine evaluierende Subjektivität hervor. Das Subjekt, das im Namen des Bologna-Prozesses spricht, ist gezwungen, sich selbst zurückzuhalten. Es geht nicht darum, eine persönliche, ideologische etc. Position zu beziehen. Stattdessen müssen die Diskurse auf ein großes Repertoire an woanders erhobenen Forderungen zurückgreifen können. Das vorkonstruierte Wissen gilt es in den Bologna-Diskursen geschickt in Beziehung zu setzen. An die Stelle der Standhaftigkeit einer expressiven Subjektivität des klassischen Politikers an der ideologischen Front 256
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tritt der lange Atem des Technokraten in der Sachauseinandersetzung. Während die Kreativität des Politikers sich darin zeigt, die politische Front zu brechen und den Gegner in das eigene Lager zu inkorporieren, besteht das Geschick des Technokraten darin, die Front erst gar nicht aufkommen zu lassen. Haben die Akteure in genuin politischen Diskursen die Wahl zwischen zwei Lagern, so stehen sie in Konsensdiskursen mehr oder weniger vor der Wahl, mitzumachen oder als legitime Teilnehmer keine Anerkennung zu finden. Die Konsequenzen für den Ort des Politischen zeigen sich ausgehend von dieser Strategie in der Maxime: Halt Dich zurück, lass’ die Anderen sprechen, ziehe keine Front auf! Reihe Dich ein und interpretiere mit, damit Du gehört werden kannst! Vor diesem Hintergrund ist es schon beachtlich, dass der Allokutor in den Diskursen überhaupt sichtbar wird, impliziert doch die Existenz des Allokutors die Bildung einer Front. Solange Diskurse ein Bild des Lokutors und des Allokutors entwerfen, hat der Leser grundsätzlich die Möglichkeit, sich der einen oder der andere Seite anzuschließen. So leitet bereits die diskursive Existenz des Allokutors die Politisierung des hegemonialen Feldes ein. In den Bologna-Diskursen ist der Allokutor jedoch eine eher tragische Gestalt, weil er einen illegitimen Ort markiert. Der Allokutor vertritt tendenziell absurde Positionen, weil er den Konsens anerkennt und sich gleichzeitig gegen den Konsens stellt. Wie in den Diskursanalysen gezeigt wurde, präsupponieren sowohl Lokutor als auch Allokutor die Existenz und Legitimität der Konsensinstanz [x]. Während aber der Lokutor vage Interpretationen vornimmt, weist der Allokutor selbst diese vagen Interpretationen zurück. Die Alternative, für die der Allokutor steht, ist kein eigner positiver Inhalt, sondern die Zurückweisung jeden positiven Inhalts überhaupt. Dieser ist aber selbst oft so vage und allgemein, dass er zahlreiche weitere Interpretationen erforderlich macht. Grob vereinfacht könnte der Dialog zwischen Lokutor und Allokutor folgendermaßen illustriert werden: Lokutor: „das Qualitätssicherungssystem verändert sich“ WEIL [x]; Allokutor: NEIN, TROTZ [x] (siehe dazu Kapitel 7). In diesem Sinne kann der Allokutor als eine hysterische Gestalt bezeichnet werden, die zwar die Entscheidung anerkennt, aber jeden positiven Inhalt dieser Entscheidung zurückweist. Wer die Position des Allokutors im Feld bezieht, macht sich zum Clown. Könnte nicht diese skurrile Position des Allokutors im dialogischen Feld die hegemoniale Voraussetzung für die oft ironischen Kommentare zum Bologna-Prozess sein? Die Konsequenz dieser Strategie für den Ort des Politischen zeigt sich in folgender Maxime: Lass’ Dich nicht auf den Allokutor ein, wenn Du ernst genommen werden willst! 257
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Neu beginnen…? Die hier umrissenen Techniken des Rückzugs des Politischen können den kontingenten und heterogenen Charakter des Diskurses aber nur graduell ausblenden, bleibt doch immer noch ein Rest an Subjektivität, ein – wenn auch skurriler – Allokutor und schließlich der Verdacht, dass an den „Beschlüssen“ der Minister von Bologna, Prag, Berlin etc. irgendetwas nicht stimmen kann. Dies zeigt sich nicht nur an den teils argwöhnischen, teils bitterbösen ironischen Gesten2, die sich unter Hochschulangehörigen beobachten lassen, sondern auch in der Interpretationsakrobatik der Hochschulforschung (siehe Teichler 2005b). Das Politische lässt sich niemals vollständig ausblenden, sondern fordert immer wieder sein Recht ein. Es zeigt sich an den Punkten, wo der Diskurs mit sich selbst hadert, wo er Fremdkörper inkorporiert, das Gesagte wieder und wieder kommentiert, ein Versprechen gibt, das er nicht einhält, die Sequenz abbricht und plötzlich argumentiert, oder auf Fragen antwortet, die niemand gestellt hat. Jeder Versuch, die Lücke zu schließen, führt nur dazu, dass die Lücke woanders wieder aufreißt. In Diskursen sprechen nicht nur der Lokutor und sein Widersacher, der Allokutor. Vielmehr befinden sich im interdiskursiven Raum zahlreiche weitere Figuren, die durch das Vorkonstrukt oder die Zensur an den Rändern des Diskurses präsent sind. An diesen Rändern wird das Gesagte infrage gestellt und die Konsistenz der Texte unterhöhlt, weil sich hier das radikale Andere des Diskurses in einer „traumatischen“ (Zizek 1989) oder „spektralen“ (Stäheli 2000) Gestalt ankündigt. An diesen Orten wird das hegemoniale Feld nicht nur an seine ontologischen Produktionsbedingungen erinnert, sondern gleichzeitig auf eine Zukunft verwiesen, die prinzipiell offen ist. Die Rückkehr des Politischen ereignet sich aber nicht erst in diesen zahllosen Zukunftsperspektiven, sondern findet immer schon im Hier und Jetzt des hegemonialen Feldes statt. Die „empirischen“ Orte, an denen das Politische zurückkehrt, sind zahlreich. Dazu können sowohl die Hochschulen gezählt werden, die angeblich „alten Wein“ in „neue Schläuche füllen“, als auch die ironischen Kommentare, die misstrauischen Blicke, die Weigerung, Bachelor- und Masterabschlüsse einzuführen, oder die verzweifelten gerichtlichen Klageversuche gegen den Bologna-Prozess. Die Rückkehr des Po2
Einen Erfahrungsbericht über die Umstellung auf Bachelor/Master schließt Kemp mit der Bemerkung, dass demnächst am „Centrum für Evaluation“ der Universität des Saarlandes ein „Master of Evaluation“ studiert werden kann. Diesbezüglich fragt der Autor ironisch, wie man sich die Evaluierung dieses Studiengangs vorzustellen habe (vgl. Kemp 2004: 315).
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litischen findet jedoch nicht nur unmittelbar in den Hochschulen statt. Auch die peinliche Zurückhaltung vieler Unternehmen auf die Frage, ob sie Bachelorabsolventen einstellen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, bricht die Kohärenz des hegemonialen Feldes. Die Orte der Rückkehr des Politischen sind nicht fixierbar, sondern dissimilieren mit der Expansion des Bologna-Diskurses in andere Praxisfelder. Umso vielschichtiger die Reformversuche, die im Namen des BolognaProzesses durchgeführt werden, sich auf Fragen von Arbeitsmarkt und Karrierechancen, Didaktik und Elitebildung, Studiengebühren und Studienförderung, Krankenversicherung und Mobilität, Qualifikationsniveau und Qualitätssicherung, Arbeitsbelastung und akademisches Selbstverständnis beziehen, umso vielfältiger werden die Risse und Brüche, an denen das Politische Widerstand leistet. So wächst mit der gesellschaftspolitischen Bedeutung und Komplexität eines Reformdiskurses auch die Heterogenität des hegemonialen Feldes, das er konstituiert. Diese Expansion hat der Bologna-Diskurs längst vollzogen. Und der Beobachter wird nicht umhinkommen, angesichts der Lage in den 1980er und 1990er Jahren vor der politischen Leistung der Akteure und Fürsprecher des Bologna-Prozesses den Hut zu ziehen. Die Wortführer des Bologna-Prozesses verlassen als Sieger das Feld. Aber ebenso sicher ist, dass dies nicht die letzte Schlacht war. Vielmehr werden die zahlreichen diskursiven Produkte, die im hegemonialen Feld des Bologna-Prozesses hervorgebracht worden sind, als interdiskursives Rohmaterial zukünftigen partikularen Akten zur Verfügung stehen. Die neuen globalen Eliten verdrängen die traditionellen lokalen Autoritäten, ja! Aber man sollte diese Rechnung nicht ohne die „glokalen Partikularitäten“ machen, die als „nicht-intendierte Nebenfolgen“ an den Rändern des Bologna-Prozesses wahrscheinlich nicht erst darauf warten werden, bis ihre Zeit reif ist. Die Rückkehr des Politischen ereignet sich nicht erst nach dem Bologna-Prozess, sondern ist ein Produkt der politischen Form dieses Prozesses selbst. Der Widerstand gegen Bologna war als antagonistisches, politisches Element immer schon Teil der politischen Form des Konsenses. Er ist kein Produkt der Inhalte, sondern ein Effekt der politischen Form. Die Rückkehr des Politischen überlebt als sinthomatischer Überschuss seinen eigenen Rückzug, und dies nicht trotz, sondern wegen des Rückzugs. Dadurch werden völlig neue Perspektiven für die Gestalt der Universität „nach Bologna“ eröffnet, die in ihrer Reichweite heute kaum absehbar sind. Ob der Typus des staatstragenden Professors in der Bologna-Universität noch zu finden sein wird, scheint ebenso fraglich wie die Vermutung, dass die künftigen Studierenden sich wie souveräne Kunden in der „unternehmerischen Universität“ bewegen werden. Viel259
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mehr könnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu gebracht werden, sich wie hörige Angestellte einer anonymen StachanowTechnokratie3 zu verhalten und die Studierenden, die für gesellschaftliche Führungsaufgaben ausgebildet werden sollen, wie unterwürfige Humankapitalbittsteller und Kreditpunktejäger. Vielleicht kommt das System Bologna erst nach dem Bologna-Prozess zu voller Blüte. Adorno, Max Weber und Franz Kafka lassen grüßen! Aber vielleicht eröffnet die Rückkehr des Politischen in der Konsensform nicht nur genügend Raum für eine Politik nach dem Bologna-Prozess. Vielleicht etabliert diese Politik auch eine politische Form, die es den Technokraten erlaubt, die Bühne der Politik zu verlassen und wieder als Beamte an ihre Schreibtische zurückzukehren.
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„Alexej Grigorowitsch Stachanow war jener Held der Arbeit, der in einer einzigen Schicht mehr als hundert Tonnen Steinkohle förderte und zum Namenspatron einer Bewegung wurde, die mittels Normüberfüllung und anschließender Normerhöhung die Arbeitsproduktivität steigern sollte“ (Bröckling 2009: 424). Die Stachanow-Bewegung führte letztlich zu einer Entwertung ihrer Arbeit sowie zu Qualitätsverlusten und Materialverschleiß.
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L I T E R AT U R
Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main. Ahrens-Vosege, Barbara, Brigitta Kovermann, Ralf Schneider und Dagmar Sommerfeld (2006): Das Dortmunder Theorie-PraxisModul in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung, in: Journal Hochschuldidaktik, Jg.17, Nr.1, S. 10-14. Akkreditierungsrat (2006): Kriterien zur Akkreditierung von Studiengängen (Beschluss des Akkreditierungsrates vom 17. Juli 2006), www.akkreditierungsrat.de, 20.03.2007, 17 Uhr 30. Alesi, Bettina, Sandra Bürger, Barbara M. Kehm und Ulrich Teichler (2005): Stand der Einführung von Bachelor- und MasterStudiengängen im Bologna-Prozess sowie in ausgewählten Ländern Europas im Vergleich zu Deutschland. Endbericht: Vorgelegt am 28. Februar 2005, Bonn. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg. Angermüller, Johannes (2001a): Diskurs und Raum: Zur Theorie einer textpragmatischen Diskursanalyse, in: Johannes Angermüller, Katharina Bunzmann und Martin Nonhoff (Hg.): Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, Hamburg, S. 63-76. Angermüller, Johannes (2001b): Diskursanalyse: Strömungen, Tendenzen, Perspektiven. Eine Einführung, in: Johannes Angermüller, Katharina Bunzmann, Martin Nonhoff (Hg.): Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, Hamburg, S. 7-22. Angermüller, Johannes (2003): „Propheten“ und „Humanisten“. Sciences humaines-Konjunktur und intellektuelles Feld in Frankreich
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Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften 2009, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1184-7
Heiner Fangerau, Thorsten Halling (Hg.) Netzwerke Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick 2009, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-980-0
Christian Filk Episteme der Medienwissenschaft Systemtheoretische Studien zur Wissenschaftsforschung eines transdisziplinären Feldes 2009, 392 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-712-7
Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Januar 2010, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2
Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen 2009, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1
Peter Schlögl, Krisztina Dér (Hg.) Berufsbildungsforschung Alte und neue Fragen eines Forschungsfeldes Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1370-4
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