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German Pages 330 Year 2014
Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.) Feministische Mädchenarbeit weiterdenken
Dieses Buch widmen wir: Den Mädchen_, bei denen wir lernen durften. Allen Mitarbeiter_innen der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille«.
Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.)
Feministische Mädchenarbeit weiterdenken Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis
Dieses Buchprojekt wurde gefördert von: Gerda-Weiler-Stiftung Rosa-Luxemburg-Stiftung Rosa-Luxemburg-Landesstiftung Niedersachsen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Gerlinde Maikowski Satz: Rainer Maikowski Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1383-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I n h a lt sv erz e ic h ni s Feministische Mädchenarbeit weiterdenken Eine Einleitung ……………………………………………………… 7 MART BUSCHE, LAURA MAIKOWSKI, INES POHLKAMP, ELLEN WESEMÜLLER Mit Lust und Beunruhigung Heteronormativitätskritik einbringen ….…………………………. 21 INES POHLKAMP, REGINA RAUW TransRäume Mehr Platz für geschlechtliche Nonkonformität! .………………... 37 INES POHLKAMP »Du Gymnasium-Mädchen!« Zur Relevanz der Kategorie Klasse ………………………….…..… 59 ELLEN WESEMÜLLER Das Drama ist, dass sie keine_r ernst nimmt. Politische Bildung mit sozial benachteiligten Mädchen ………….. 85 INES POHLKAMP, MALGORZATA SOLUCH Sich selbst stärken! Mädchen of Color in der Empowermentbildung ……………….. 107 FIDAN YILIGIN Rassismuskritische Pädagogik am Beispiel der Mädchen_arbeit in der »Alten Molkerei Frille« Eine programmatische Positionierung …………………………... 127 FIDAN YILIGIN
Augen auf und durch! Rassismuskritische Mädchen_arbeit aus weiß-deutscher Perspektive ………………………………………. 139 JENNIFER VOGT, SVENJA REIMANN Reflexive Koedukation revisited Mit Geschlechterheterogenität umgehen ………………………... 161 MART BUSCHE, LAURA MAIKOWSKI »Das ist wirklich ein harter Kampf!« Interview mit Sabine Pacalon zu gendersensibler Bildungsarbeit mit Tauben Jugendlichen .……………………….. 181 LAURA MAIKOWSKI It’s a men’s world? Jungen_arbeit aus nichtmännlicher Perspektive .………….…….. 201 MART BUSCHE Jungenarbeit und Intersektionalität – und was dieses Thema in einem Mädchenarbeitsbuch zu suchen hat ……………………………………………….…...... 223 MART BUSCHE, MICHAEL CREMERS Bilder von Mädchen Zur Produktion von Weiblichkeit in der Jungen_arbeit ……………………………………..………..……... 247 BJÖRN NAGEL 20 Jahre, sechs Bausteine, mehr als zwei Geschlechter und mindestens ein Paradox Veränderung und Kontinuität in der geschlechterbezogenen Weiterbildungsreihe der »Alten Molkerei Frille« ………………. 263 REGINA RAUW, MICHAEL DROGAND-STRUD Mit Wertschätzung und Hartnäckigkeit Eine Gruppendiskussion mit Friller Mädchen_- und Jungen_arbeiter_innen …………………………………………... 289 LAURA MAIKOWSKI, ELLEN WESEMÜLLER Mit Widersprüchen für neue Wirklichkeiten Ein Manifest für Mädchen_arbeit ……………………………….. 309 MART BUSCHE, ELLEN WESEMÜLLER Autor_innen …………………………………………………...… 325
Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Eine Einleitung MART BUSCHE, LAURA MAIKOWSKI, INES POHLKAMP, ELLEN WESEMÜLLER
Feministisches Denken ist kritisches Denken. Es stellt aktiv und radikal die herrschenden gesellschaftlichen Normen infrage, (in) die (wir) uns zur Zeit in einem alternativlos erscheinenden krisen-kapitalistischen Projekt auf verschiedenen Achsen von Ungleichheiten positionieren. Geschlecht ist in dieser neoliberalen Ungleichheitsrechnung nur eine Kategorie, allerdings eine zentrale. Hier geht es deshalb darum, die feministische Mädchenarbeit als subjekt- und bildungsorientierte Praxis auszudifferenzieren, ohne ihren kritischen Kern des politischen Widerstands gegen menschenunwürdige Bedingungen aus den Augen zu verlieren. Für uns Autor_innen1 geht es in der feministischen Mädchenarbeit um einen sozialen Möglichkeitsraum, in dem praktische Unterstützungen für Mädchen, gegenseitiges Lehren und Lernen, Auseinandersetzungen mit den Unbehaglichkeiten multipler Ungleichheitsverhältnisse sowie die kontinuierliche Wiederaneignung und ein Neudenken der Welt
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Mit dem Unterstrich (»Gender Gap«) wollen wir den Personen Raum schaffen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen (S_He 2003). Er soll weiterhin deutlich machen, dass wir die Kategorien Frau/Mädchen und Mann/Junge nicht als natürliche, sondern sozial konstruierte Kategorien innerhalb eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses betrachten.
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(vgl. Wacquant 2001) stattfinden, ohne gleichzeitig der eigenen Lebensmittel und -kräfte enteignet und lediglich Teil der marktförmigen Verwertung zu werden. Wir sind offen für eine andere Welt, die wir noch nicht kennen können. Unsere Offenheit und unser Vertrauen in diese Zukunft können nur im Kontakt entstehen, in der Freund_innenschaft und Solidarität mit anderen, erwachsenen und jüngeren Menschen. Mädchen können heute vieles erreichen, kaum ein Zugang ist ihnen formal verschlossen, ihre Selbstbilder sind in der Tendenz selbstbewusster. In den Debatten über Jungen als »Bildungsverlierer« scheint es so, als wären alle Mädchen gut ins Bildungssystem integriert und bedürften keiner eigenen Unterstützung mehr. Stattdessen wird ein jungenspezifischer Unterstützungsbedarf reklamiert (»mehr Männer«), nicht zuletzt aufgrund der »Verweiblichung« pädagogischer Beziehungen (Hurrelmann/Quenzel 2008). Doch die verschärfte Situation auf dem Bildungsund Arbeitsmarkt positioniert vor allem Mädchen und junge Frauen mit guten Zugangsmöglichkeiten auf den vorderen Plätzen. Mädchen sind außerdem zwar formal gleichgestellt, aber faktisch strukturell benachteiligt (z.B. bei Löhnen, Aufstiegschancen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf). In einer Gesellschaft, die permanent Gleichheit verspricht und permanent Ungleichheit schafft, werden Glück, Wohlergehen und Erfolg als Resultat individueller Anstrengung ideologisiert, Scheitern als unzureichendes Engagement oder »Pech« privatisiert. Um erfolgreich zu sein, orientieren sich Mädchen an »hegemonialen Männlichkeiten« (Connell 1999) und übernehmen Aspekte männlichkodierter Kulturen. Kritiklos folgen sie z.B. den Anforderungen einer unbeschwerten, aktiven Sexualität (inklusive frauenverachtendem DVD/Film-/Musikkonsum) und bestimmten risikobehafteten Verhaltensweisen (provozieren, raufen, saufen etc.). Dabei erfahren Mädchen selbst alltägliche Gewalt, Sexualisierungen und Reduzierungen auf Körper. Zugespitzt könnte man sagen: Das Bild des starken Mädchens hat einerseits Früchte getragen – Mädchen gestalten mit. Andererseits hat das Bild zur Verschleierung der Verletzungen von Mädchen beigetragen – denn die Verhältnisse sind vielerorts unverändert. Das Bundesjugendkuratorium empfiehlt unter anderem, aus der Erfolgsgeschichte der Mädchenförderung zu lernen, und die Erfahrungen der außerschulischen, geschlechtsbezogenen Bildung mehr zu nutzen (BJK 2009). Um diese Erfahrungen geht es in dem vorliegenden Buch: Wir reden über Mädchen und reflektieren unsere Mädchen_arbeit2, während wir Jungen mitdenken. 2
Wir schreiben »Mädchen_arbeit« statt »Mädchenarbeit«, wenn wir über die Friller Mädchen_arbeit schreiben. Wir wollen damit kennzeichnen,
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Zwölf Jahre nach den ersten dekonstruktiven Debatten in der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille«, nach Diskussionen über queerfeministische Perspektiven, den Umgang mit verschiedenen Ungleichheitskategorien und dem medialen »Arme-Jungen-Diskurs«, stellen wir hiermit unsere Ideen zu Theorie und Praxis der Mädchenarbeit heute vor. Uns ist es wichtig, dass feministische Mädchenarbeit und mit ihr die Mädchen sichtbar werden und bleiben. Das Buch richtet sich an alle geschlechterreflektiert arbeitenden und denkenden Bildungsarbeiter_innen und Interessierte, besonders an alle Personen, die Mädchenarbeit machen, weiterentwickeln und fördern. Es gibt noch viel zu tun, um Geschlechterhierarchien auszuhebeln!
1 . Fr i l l e r M ä d c he n_ a r b e i t Die Autor_innen dieses Buches waren oder sind Mädchen_- und Jungen_arbeiter_innen in der »Alten Molkerei Frille«3 in Ostwestfalen. Seit über 25 Jahren ist die Bildungsstätte mit ihren Themen um Gender, Gesundheit und Erziehung landesweit an der Konzeptionalisierung und Entwicklung der politischen Bildung beteiligt. Heute ist sie ein bekannter Ort für geschlechtsbezogene politische Jugendbildung mit überwiegend »sozial benachteiligten« Kindern und Jugendlichen, die in Mädchen- und Jungengruppen sowie in reflexiv koedukativen Gruppen arbeiten. Weiterbildungsangebote im Bereich geschlechtsbezogener Bildung, Beratung und Pädagogik sowie im nichtrassistischen Bildungskontext mit dem Fokus auf die Verschränkung von Gender und Migration bilden Schwerpunkte der Arbeit im Haus. Wegweisende Anfänge Die Bildungsangebote der »Alten Molkerei Frille« richten sich seit ihren Anfängen überwiegend an sogenannte bildungsferne Mädchen und Jungen. In einem Modellprojekt 1985 setzten sich Jugendliche in der Seminararbeit mit ihrer beruflichen Zukunft bzw. drohenden Arbeitslosigkeit auseinander. In der Folge entstanden erste Konzepte zu »parteilicher Mädchenarbeit« und »antisexistischer Jungenarbeit« (Heimvolkshochschule 1988).
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dass wir Gender als interdependente und unabgeschlossene Kategorie verstehen (Walgenbach et al. 2007). Mehr Informationen zur Einrichtung unter: www.hvhs-frille.de.
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Die Mädchenarbeit beschäftigte sich mit »Parteilichkeit«, um »Räume zur Entfaltung einer weiblichen Kultur« (ebd.: 27) zu schaffen. Damit wollte sie zu einer »Feminisierung der Normalität« (ebd.: 28) beitragen. Ziel dieser ersten »geschlechtsspezifischen« Angebote war laut Modellantrag, »[...] eine Erweiterung der Rollenkonzepte auf die Eigenschaften und Fähigkeiten des jeweiligen anderen Geschlechts zu erreichen« (ebd.: 8). In den 90er-Jahren verschob sich die Perspektive von einem eher defizit-orientierten (d.h. von einem Mangelzustand bei Mädchen und Jungen ausgehenden) Blick auf differenztheoretische Aspekte in der geschlechtsbezogenen Jugendbildung.4 Weiterhin ausgehend von einem hierarchischen Geschlechterverhältnis, argumentierten Glücks und Ottemeier-Glücks 1994, dass es zwar »Rollenabweichungen« von der Normalität gäbe, es aber trotzdem noch nicht möglich sei, sich als Mann oder Frau frei zu entwickeln (Glücks/Ottemeier-Glücks 1994). Die Autor_innen entwickelten daraufhin den Ansatz der geschlechtsbezogenen Pädagogik, die in geschlechtshomogenen und -heterogenen Gruppen Geschlecht und die Kritik am Geschlechterverhältnis zum Ausgangspunkt machte. »Was ich will!« Der Titel des 2001 entwickelten Konzepts der Mädchen_arbeit in Frille war gleichzeitig Programm. Partizipation und Interessen der Mädchen rückten in den Mittelpunkt sowie die »Vorbild-Autorität« der Pädagog_in (Rauw 2001a). Friller Mädchen_arbeit ging fortan nicht länger von einem essentialistischen Mädchenbild aus, ohne jedoch die feministischen Forderungen aufzugeben: Das Konzept hatte den Anspruch, die Ideen einer dekonstruktiven Pädagogik mit feministischen Anliegen zu kombinieren. Es blieb jedoch die zentrale Vorstellung, dass die weiblichen Pädagog_innen aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit eine Erfahrungskongruenz mit den Mädchen haben, aufgrund derer sie sich mit den Mädchen parteilich zeigen können und sollen.
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Diese Entwicklungen entsprechen ungefähr den historischen Phasen der Mädchenarbeit allgemein, so wie sie in der Literatur verschiedentlich konstatiert werden (vgl. Kunert-Zier 2005; BAG Mädchenpolitik 2006). Die Phasen sind in der realen Mädchenarbeitslandschaft jedoch weniger klar getrennt, da es häufig ein Nebeneinander verschiedener theoretischer Modelle und bildungspolitischer Praxen gab und gibt.
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Heute Dieses Buch ist ein Beitrag der jetzigen Generation Friller Mädchen_arbeiter_innen. Den Blick weg von der Opferperspektive auf die Stärken der Mädchen zu lenken, begrüßen wir, dennoch denken wir, dass dieser Schwenk auch kritische Auswirkungen hat. Einerseits ist damit die strukturelle Ebene von Ungleichheiten in der emanzipatorischen Pädagogik zu kurz gekommen, andererseits führte die Fokussierung auf die Stärken der Mädchen teilweise zu einem Leistungsdruck, der ihren Schwächen und Unsicherheiten zu wenig Raum ließ. Deswegen lenken wir den Blick nun auf die Gewaltförmigkeit von Geschlechterhierarchien. Auch in der dekonstruktiven und intersektionalen Perspektive wollen wir einen Schritt weiter gehen und neue Fragen stellen: Wer soll Mädchen_- und Jungen_arbeit machen? Wie kann diese Arbeit gelingen, wenn wir Gender als konstruierte und interdependente Kategorie verstehen? Wie können verschiedene Ungleichheitskategorien in die Mädchen_arbeit einfließen? Wie kann queer-feministische, emanzipatorische Mädchen_arbeit in Zeiten eines neoliberalen Kapitalismus aussehen?
2. Buchkonzept Nicht wenige Mädchenarbeitsbücher sind akademische Qualifizierungsarbeiten (z.B. Plößer 2009, Brinkmann 2006, Wallner 2006, Graff 2004, Schmidt 2002) und entbehren daher zwangsläufig der Reflexion über die eigene Praxis. Diese Leerstelle wollen wir füllen, indem wir in diesem Buch Theorie und Praxis verknüpfen und unsere Friller Mädchen_arbeit reflektieren. Dabei zehren wir auch von der Erfahrung jener Mädchenarbeitsprojekte, die sich seit Langem um antirassistische Mädchenarbeit5 bemühen (z.B. Eggers 2000, »respect« 2004, Arapi/Lück 2005). Die »Alte Molkerei Frille« war und ist ein Ort (parteilicher) Mädchenarbeit und (antisexistischer) Jungenarbeit. Uns war es auch aus dieser Tradition heraus wichtig, den Zusammenhang von Mädchen_- und Jungenarbeit in unserem Buch sichtbar zu machen.6 Das Buchprojekt 5
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In der antirassistischen Mädchenarbeit werden die Ungleichheitskategorien Gender und Migration sowie heterosexistische und rassistische Strukturen und Interaktionen gleichermaßen in den Mittelpunkt gerückt, ohne dass diese sich additiv ergänzen, sie bedingen sich eher gegenseitig. Vgl. die von der Friller Pädagogik zuletzt veröffentlichten Sammelbände zu Mädchenarbeit (Rauw/Reinert 2001b), Jungenarbeit (Jantz/Grote 2004) und geschlechtsbezogener Pädagogik (vgl. Rauw et al. 2001c).
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versteht sich konzeptionell als Mädchen_arbeitsreflexion, sieht aber von einer klaren Trennung zur Jungenarbeit ab. Für uns ist Mädchen_arbeit immer auch Jungenarbeit. Es ist trotzdem immer noch aktuell, Forderungen an die Jungen_arbeiter_innen zu stellen, sei es nach Solidarität im Umgang mit finanziellen Ressourcen oder im Verhalten in der konkreten Arbeit. Vielerorts fehlen qualifizierte Jungenarbeiter_innen. Das hindert uns jedoch nicht daran zu betonen, dass Geschlechterverhältnisse nur gemeinsam geändert werden können. Deshalb gibt es in diesem Buch auch Texte zur Jungenarbeit. Das ist ein Novum und wir freuen uns, dass wir Autor_innen dafür gewinnen konnten. Wir Herausgeber_innen haben, vom Aufbau des Buchs über die Artikel bis hin zur Schreibweise, viel miteinander diskutiert. Herausgekommen sind dabei jedoch keine konsensualen Positionen. Wir zeigen uns deshalb in der Heterogenität unserer politischen und pädagogischen Einstellungen, Meinungen, Begrifflichkeiten und Schwerpunkte. Dies spiegelt auch die Widersprüche, Kontroversen und Gemeinsamkeiten der Friller Jugendbildungsarbeit wider. Wir haben die Autor_innen des Buches in ihrem Schreibprozess begleitet, Inhalte und Positionen verantworten sie selbst. Wir haben gezielt nach Lücken und Möglichkeiten zum Weiterdenken gesucht und betrachten die Mädchenarbeit und uns als Mädchen_arbeiter_innen wohlwollend kritisch. Die Intention dieses Buches ist: Innehalten. Weiterdenken. (Anders) weitermachen. Wir wollen mit diesem Buch einen zur Diskussion anregenden Beitrag für eine queere, intersektionale, feministische und kritische Mädchenarbeit leisten.
3 . Z e nt r a le T h em e n Die Autor_innen beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit aktuellen Ansätzen und praktischen Umsetzungen der Mädchen_arbeit. Neben der Erweiterung der Kategorie Geschlecht um sexuelle Identität und der Kritik an Heteronormativität als grundlegende Bezüge der feministischen Mädchenarbeit, fügen wir unserem Verständnis von der Klientel der Mädchenarbeit die Kategorie Transgender hinzu. Transgender verstehen wir hier als einen übergeordneten Begriff für all jene Mädchen, NichtMädchen und geschlechtlich nichtidente Personen, die an der Mädchenarbeit partizipieren, sei es als Teilnehmer_innen oder als Teamer_innen. Sie sind ein Teil der Friller Mädchen_arbeit und uns herzlich willkommen. Darüber hinaus sind trotz unterschiedlicher Theorien und Kon-
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zepte der hier versammelten Autor_innen die Beschäftigung mit struktureller Gewalt, Dekonstruktion und Intersektionalität zu Querschnittsaufgaben des Buches geworden. Strukturelle Gewalt Thematisch beschäftigt sich dieses Buch mit strukturellen Gewaltverhältnissen, die wir als Mädchenarbeiter_innen in der Mädchen_arbeit allzu oft ausgespart haben zugunsten einer Sichtweise, die die Mädchen als Subjekte in den Mittelpunkt stellt. Wir wollen nun beide Herangehensweisen stärken: Die Mädchen mit ihren Ressourcen und Möglichkeiten wahrnehmen und strukturelle Gewalt nicht vernachlässigen. Die Beiträge versuchen, beide Aspekte miteinander zu verweben und fruchtbar zu machen. Mädchen sind immer noch massiv von sexueller und sexualisierter Gewalt betroffen. Solange sich daran nichts ändert, soll, muss und kann Mädchenarbeit dazu beitragen, interpersonale Gewalt, sexuelle und sexualisierte Gewalt, Sexismus sowie sexistische Diskriminierung aufzudecken und zu skandalisieren. Sie soll, muss und kann Mädchen darin begleiten und stärken, sich und ihr Sein ernst zu nehmen, ihnen Räume für neue Erfahrungen jenseits eines (hetero-)normativen Drucks und Zugänge für Gefühle und Verletzungen eröffnen. Das heißt, Selbstbehauptung und Strategien zum Erlernen und Erkennen der eigenen Selbstbestimmung im gesellschaftlich-politischen Kontext sind ebenso von zentraler Bedeutung wie Selbstermächtigung (z.B. sich trauen, als Mädchen bedeutend zu sein und Macht einzusetzen). Dekonstruktion Grundsätzlich verstehen wir dekonstruktives Denken als ein »Gegenden-Strich-Lesen«: sich nicht mit einfachem Sinnverstehen zufrieden geben, Selbstverständlichkeiten infrage stellen, an Ambiguitäten und Widersprüchen ansetzen. In diesem Sinn ist Dekonstruktion für die Entwicklung der Pädagogik von Bedeutung und wird für die Praxis der Mädchen_arbeit interessant. In der dekonstruktiven Mädchen_arbeit betrachten wir die Elemente der Wirklichkeiten der Mädchen und trauen uns, sie gemeinsam mit ihnen neu zusammenzusetzen. Unsere Mäd-
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chen_arbeit ist damit eine mögliche Rekonstruktion von Mädchen- und anderen Wirklichkeiten.7 Aus einer offenen, dekonstruktiven Lesart von Begriffen – und für die Pädagogik Lebens- und Beziehungsweisen sowie Realitäten – ergeben sich neue Perspektiven für die Mädchen_arbeit, geschlechterhierarchische Verhältnisse in Theorie und Praxis »gegen den Strich zu lesen«. Friller Mädchen_arbeit hat sich in den letzten Jahren in dieser Praxis versucht und auf Grund ihrer Kritik am gewaltsamen, zweigeschlechtlichen System den Mädchen, Pädagog_innen und Lehrer_innen die Möglichkeit eingeräumt, (vor allem) Geschlecht widerständig und als instabil zu lesen, um neue Handlungsräume zu eröffnen. Das vorliegende Buch zeigt an vielen Stellen die Versuche, das Gelingen und Scheitern dieser dekonstruktiven und rekonstruktiven Praxis auf. Intersektionalität Das Konzept der Intersektionalität8, welches vor allem in die akademischen Disziplinen der Gender Studies und der Sozialwissenschaften insgesamt als neuerer Forschungs- und Analyseansatz Einzug gehalten hat, greift auf, was in der Mädchen_arbeit schon lange Realität ist, aber auch hier neu in den Fokus rückt: Die vielfachen Zugehörigkeiten und sozialen Positionen der Mädchen, mit denen wir zu tun haben, ihre Differenzen und Gemeinsamkeiten. Die »Intersektionen« (im Sinne von Verknüpfungen, Überschneidungen und gegenseitigen Durchdringungen) sozialer Kategorien und Merkmale haben Einfluss auf ihre Lebenserfahrungen und strukturieren auf oft komplexe Art und Weise ihre Lebensverhältnisse sowie unsere Arbeit mit ihnen. Geschlecht, ethnische und kulturelle Zugehörigkeit, Klassen- und Milieuhintergrund, körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigungen, Mehrsprachigkeit, Hautfarbe, Erfahrungen mit Migration und Sesshaftigkeit, Generativität, Mobilität und andere soziale Merkmale generieren die Betroffenheit von struktureller und individueller Benachteiligung. In unserer Arbeit haben wir es 7
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Es geht bei einer dekonstruktiven Pädagogik nicht um das »Wegwischen« oder »Auflösen« von gesellschaftlichen Zusammenhängen, die Realitäten und Bedeutungen schaffen. Vielmehr steht eine multiperspektivische Sichtweise auf pädagogische Schauplätze, Situationen und Klientel im Mittelpunkt, die neue Sinnzusammenhänge und Handlungsoptionen ermöglicht. Die Idee der Intersektionalität entstand aus der Kritik Schwarzer Feminist_innen an einem weißen bürgerlichen Feminismus in den USA (vgl. z.B. Crenshaw 1997; McCall 2005).
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überwiegend mit mehrfach be(nach)teiligten Mädchen zu tun. Im Vergleich zu ihnen sind wir selbst in der Regel überwiegend mehrfach privilegiert, vor allem in den Bereichen Klasse, Bildung und Hautfarbe. Uns ist es wichtig, dass Mädchen in der Begegnung mit uns auf Erwachsene treffen, die Wert auf ihre multiplen Lebenserfahrungen legen, die ernsthaft mit ihnen über ihre Einschätzungen und Handlungsoptionen sprechen und sie als Akteur_innen ihres Lebens anerkennen. Eine intersektionale Analyse hilft uns dabei, Komplexität zu fassen und multiple Benachteiligungsstrukturen im Sinne der Dekonstruktion zu bearbeiten. Unsere Bildungsarbeit mit einer intersektionalen Perspektive stellt eine praktische Kritik an Dichotomien wie Deutsche/Nicht-Deutsche, Weiße/Nicht-Weiße, Männlichkeit/Weiblichkeit und Heterosexualität/Homosexualität dar, indem wir auf ihre historischen Herstellungsprozesse eingehen. Damit ist auch in der Mädchen_arbeit die große Chance gegeben, Migration, Klasse und auch Gender als interdependente Kategorien zu betrachten. Dies bedeutet, sich nicht auf einfache »Schwarz-Weiß«Muster zu verlassen, sondern von Komplexität und Diversität auszugehen, und trotzdem nicht von einer allgemeinen feucht-fröhlichen Buntheit der Verhältnisse, sondern auch von Widersprüchlichkeiten und (Interessens-)Gegensätzen. Dabei hilft uns unsere Erfahrung mit bestehenden Ansätzen, z.B. mit antirassistischer oder an sozialer Gerechtigkeit orientierter Bildungsarbeit. Das Konzept der Intersektionalität in Kombination mit einem Verständnis von Gender als interdependenter Kategorie begreifen wir von daher als eine fruchtbare Erweiterung unserer bisherigen Mädchen_arbeit (vgl. Busche/Stuwe 2010).
4. Die Artikel Ebenso heterogen wie die Themen sind die Arten der Texte: Neben den überwiegend wissenschaftlichen Artikeln – teils mit essayistischen und erzählerischen Elementen – gibt es Interviews mit Fachkräften, pädagogische Konzepte, Erfahrungsberichte und ein politisches Manifest. Ines Pohlkamp und Regina Rauw erörtern in ihrem Artikel »Mit Lust und Beunruhigung – Heteronormativitätskritik einbringen« die Möglichkeiten, die sich Pädagog_innen jenseits der eigenen sexuellen Orientierung für eine heteronormativitätskritische Mädchenarbeitspraxis bieten. Außerdem stellen sie die Frage, wie ein bewusster Umgang mit der eigenen sexuellen Orientierung aussehen kann. Ines Pohlkamp gewährt im Anschluss in »TransRäume. Mehr Platz für geschlechtliche Nonkonformität!« Einblicke in den Umgang mit
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Transgender in der Friller Mädchen_arbeit. Sie zeigt dabei pädagogischpolitische Strategien auf, die innerhalb der geschlechtsbezogenen Pädagogik bis jetzt eine Auseinandersetzung mit Transgender verhindert haben. Um die Intersektion von Geschlecht und Klasse geht es in Ellen Wesemüllers Artikel: »Du Gymnasium-Mädchen!«. Darin beschreibt sie, wie sich Mädchen_arbeit konzeptionell von der Herrschaftskategorie Klasse verabschiedet hat – bei gleichzeitiger Verschärfung von Klassengegensätzen in der gesellschaftlichen Realität – und plädiert für eine »Klasse« reflektierende Mädchenarbeit. Ines Pohlkamp und Malgorzata Soluch fragen anschließend in »Das Drama ist, dass sie keine_r ernst nimmt!«, wie eine Mädchen_arbeitspraxis mit »sozial benachteiligten« Mädchen aussehen kann. Dabei setzen sie auf Mehrdimensionalität, Partizipation und Prozessorientierung jenseits eines defizitären Blicks auf scheinbare Problemgruppen. Fidan Yiligins Artikel »Sich selbst stärken! Mädchen of Color in der Empowermentarbeit« reflektiert die Erfahrungen und Visionen migrantischer Mädchen_arbeiter_innen. Ihre These ist, dass gerade migrantische Mädchen_arbeiter_innen eigene Räume benötigen, um Diskriminierungserfahrungen zu thematisieren. In »Eine programmatische Positionierung« entwickelt Fidan Yiligin, wie die Konzepte von Empowerment der »Alten Molkerei Frille« und das der Frauen of Color zusammengeführt werden können. Sie veranschaulicht dies anhand eines Peer-Education-Projekts für rassismuskritische Mädchen_arbeit. »Augen auf und durch!« heißt Svenja Reimanns und Jennifer Vogts Artikel zu rassismuskritischer Mädchen_arbeit aus weiß-deutscher Perspektive. Ihr Erfahrungshorizont als weißen, deutschen Akademiker_innen entspricht in Bezug auf erlebten Rassismus oft nicht dem der Mädchen, die ihre Seminare besuchen. Die Autorinnen loten aus, wie sie in ihrer Arbeit den Erfahrungen von Mädchen of Color/mit Migrationshintergrund gerecht werden können. Der Artikel »Reflexive Koedukation revisited« von Mart Busche und Laura Maikowski widmet sich der Frage, wie in koedukativen Seminareinheiten geschlechterstereotype Strukturen transformiert bzw. reproduziert werden. Anhand von Praxisbeispielen erläutern sie die Bedeutung von Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht im reflexivkoedukativen Setting. Laura Maikowskis Interview mit Sabine Pacalon »Das ist wirklich ein harter Kampf« diskutiert die Erfahrungen mit dem Friller Modellprojekt »Jeder Mensch ist einzigartig«, für das Mädchen_- und Jungen_ar-
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beiter_innen ein Konzept zur geschlechtersensiblen Arbeit mit Tauben Jugendlichen entwickelt haben. Mart Busche schreibt in »It’s a men’s world?« über die Erfahrungen einer als weiblich wahrgenommenen Teamer_in in der Jungen_arbeit. Busche plädiert dafür, dass Jungen_arbeit auch Nicht-Männern offenstehen soll, und betont den Wert von fachlicher Qualifikation und Reflexion in den Jungen_arbeitsteams. Ausgehend von der Feststellung, dass sich Mädchen_- und Jungen_arbeit bedingen, beschäftigen sich Mart Busche und Michael Cremers in »Jungenarbeit und Intersektionalität« mit der Frage, wie eine intersektionale Perspektive in der Jungen_arbeit aussehen kann, die die Verschränkung von sozialen Ungleichheitskategorien wie Geschlecht und Klasse berücksichtigt. Björn Nagels Artikel »Bilder von Mädchen« zeigt anhand von Beispielen aus der Praxis, wie in der Jungen_arbeit Mädchenbilder (re)produziert werden. Nicht nur zwischen Jungen, auch in der Interaktion zwischen Teilnehmer_innen und Pädagog_innen und innerhalb des Teams spielen Geschlechterstereotype eine wichtige Rolle. Nagels Fazit ist, dass Jungen_ und Mädchen_arbeit stärker miteinander kooperieren müssen. Regina Rauw und Michael Drogand-Strud zeigen in »20 Jahre, sechs Bausteine, mehr als zwei Geschlechter und mindestens ein Paradox« die Veränderungen und Kontinuitäten auf, die die Friller Weiterbildung »Genderkompetenz« für angehende Mädchen_- und Jungen_arbeiter_innen erfahren hat. Sie zeigen auf, wie sich die Qualifizierungsreihe mit Erkenntnissen aus der Geschlechterforschung auseinandergesetzt und diese mit den Notwendigkeiten und Herausforderungen einer pädagogischen Praxis verbunden hat. In dem intergenerationellen Gespräch »Wertschätzung und Hartnäckigkeit« diskutieren aktuelle und ehemalige Mädchen_- und Jungen_arbeiter_innen der »Alten Molkerei« Kontinuitäten und Brüche in ihrer Praxis. Sie sprechen über die aktuellen Themen der Mädchen_arbeit, die Bedeutung von Migration und Klasse in den Seminaren sowie die Zusammenarbeit mit den Jungen_arbeiter_innen. Das Buch schließt mit einem Mädchen_arbeitsmanifest: »Mit Widersprüchen für neue Wirklichkeiten«. Mart Busche und Ellen Wesemüller plädieren für eine Erweiterung und damit Dekonstruktion des Be-griffs Mädchen. Dabei ist es den Autor_innen wichtig, mit symbolischer Politik nicht die Widersprüche der gesellschaftlichen Realität aus den Augen zu verlieren, in der Menschen als Mädchen bzw. Frauen wahrgenommen und benachteiligt werden.
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5. Danksagungen Unser Dank gilt allen Teilnehmer_innen unserer Mädchen_&_Jungen_arbeits-Seminare sowie den derzeitigen und ehemaligen Mitarbeiter_innen der »Alten Molkerei«9 in Leitungsteam, Hauswirtschaft, Hausmeisterei, Reinigung, Verwaltung, den Zivildienstleistenden sowie allen Kolleg_innen aus der Mädchen_- und Jungen_arbeit. Die »Alte Molkerei Frille« ist ein wundervoller und einzigartiger Ort des Lernens. Ihr alle habt dazu beigetragen, dass dieses Buch entstehen konnte. Wir danken der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Rosa-LuxemburgLandesstiftung Niedersachsen und der Gerda-Weiler-Stiftung für die finanzielle Unterstützung unseres Buchprojekts. Darüber hinaus danken wir: Gerlinde und Rainer Maikowski, Katharina Debus, der AG »Identitätskritische Jungenarbeit«, Jasamin Boutorabi, Christine Kirchhoff, Antje Krueger, Gino Althöfer, Esther Hanauer, Marcus Hawel, Patricia Hecht, Jay Keim, Vonka Lun, Corinna Trogisch, Michael von Wirth, Sabine Pacalon, LenA Brückhoff, Tanja Kinzel, unseren Wohngemeinschaften und allen Freund_innen, die am Prozess beteiligt waren.
Literatur Arapi, Güler/Lück, Mitja Sabine (2005): Mädchenarbeit in der Migrationsgesellschaft. Eine Betrachtung aus antirassistischer Perspektive. www.maedchentreffbielefeld.de/download/girlsactbuchkomplett.pdf [Abruf: 01.06.2010]. BAG Mädchenpolitik (2006): Feministische Mädchenarbeit und Mädchenpolitik im Kontext aktueller Theorie- und Politikdiskurse. www.maedchenpolitik.de/download/info6_bag2006.pdf [Abruf 22. 05.2010]. Brinkmann, Tanja Marita (2006): Die Zukunft der Mädchenarbeit. Innovationspotentiale durch neuere Geschlechtertheorien und Ungleichheitsforschung, Münster: Unrast-Verlag. Bundesjugendkuratorium (2009): Schlaue Mädchen – Dumme Jungen? Gegen Verkürzungen im aktuellen Geschlechterdiskurs. www. bundesjugendkuratorium.de/pdf/20072009/bjk_2009_4_stellungnahme_ gender.pdf [Abruf: 01.06.2010]. Busche, Mart/Stuwe, Olaf (2010): Bildungs- und Sozialarbeit intersektional erweitern. In: Riegel, Christine/Scherr, Sebastian/Stauber, Bar-
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Informationen zur »Alten Molkerei Frille« unter: www.hvhs-frille.de
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Mit Lust und Beunruhigung. Heteronormativitätskritik einbringen INES POHLKAMP, REGINA RAUW
In diesem Artikel gehen wir der Frage nach, wie Mädchen_arbeit sich gestalten soll, um Heteronormativität aufzubrechen bzw. nicht heteronormativ zu wirken. Zunächst erörtern wir einige theoretische und konzeptionelle Grundlagen heteronormativitätskritischer Mädchen_arbeit, die in Anregungen zur Selbstreflexion der Pädagog_innen1 münden. Darauf aufbauend stellen wir Möglichkeiten für eine heteronormativitätskritische Praxis dar. Anschließend wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung der eigenen sexuellen Orientierung zukommt und wie ein möglichst bewusster Umgang damit aussehen kann. Im Resümee halten wir Prinzipien für eine heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit fest.2
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Der Unterstrich ist ein symbolischer Platzhalter für Geschlechter, die sich im Dazwischen der dualistischen Zuordnungsdimensionen befinden oder sich geschlechtlich nicht zuordnen wollen bzw. können. Er kennzeichnet die Möglichkeit, dass Mädchen_arbeiter_innen sich nicht als Frauen oder nicht nur als Frauen verstehen und erweiterte neue Geschlechterkonzepte leben (vgl. Herrmann 2003). Dieser Artikel ist die überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags »Heteronormative Mädchenarbeit. Reflexionen und Anregungen«, den die Autor_innen in der Zeitschrift »betrifft Mädchen« 2009 veröffentlichten (siehe Literatur).
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1 . G r u n d la g e n h e t e r o n o r m a t i v it ä t s k r it i s c h e r M ä d c he n_ a r b e it »Hetero-normativitäts-kritisch«! Mit diesem zugegebenermaßen sperrigen Begriff wollen wir eine zentrale qualitative Ausrichtung unserer Mädchen_arbeit beschreiben: Uns geht es um Mädchen_arbeit, die politisch motiviert ist, denn sie will zum Abbau von Gewalt und Hierarchien im Geschlechterverhältnis beitragen. Heteronormativität ist ein zentraler Begriff in der dekonstruktiven Debatte und umfasst die Kritik an drei kulturellen Konstruktionen, die der Geschlechterhierarchie als scheinbare Selbstverständlichkeiten zugrunde liegen: 1. Es gibt biologisch (nur) Männer und Frauen (sex), 2. es gibt analog dazu ein soziales oder kulturelles Geschlecht (gender) und 3. das sexuelle Begehren ist auf das jeweils andere Geschlecht fokussiert (heterosexual desire), (vgl. Butler 1991, 1997). Diese drei aufeinander bezogenen Komponenten gilt es, offenzulegen, zu hinterfragen und zu kritisieren, denn sie bilden die Grundelemente einer geschlechter-diskriminierenden Haltung und Herrschaft. Heteronormativitätskritik ist also in erster Linie eine Kritik an einem Gedankenkonstrukt, in dem dominantes sexuelles Begehren und dominante sexuelle und geschlechtliche Praktiken aneinandergekoppelt sind, welche in unserer Kultur so selbstverständlich sind. Sie etablierten sich als normale Wahrnehmungsfolie und alltägliche Handlungspraxis. Dieser Zusammenhang begründet die »Kultur der Zweigeschlechtlichkeit« (Hagemann-White), in der wir leben. Heteronormativität zeigt sich beispielsweise dort, wo Homosexualität abgelehnt und lächerlich gemacht wird, zeigt sich in dem Lachen über Blondinenwitze, dort wo Männer nicht weiblich erscheinen dürfen, dort, wo sich küssende Frauen mit Ekel assoziiert werden, dort, wo in der Straßenbahn Kinder fragen, ob die Person nun ein Mann oder eine Frau ist, dort, wo Sexualität immer sofort Heterosexualität ist und Homosexualität als Zusatzthema im Programm ist, dort, wo eindeutige Familienmodelle (Vater, Mutter, Kind) als Norm dargestellt werden und andere Konzepte zusätzlich einbezogen werden (müssen), usw. Heteronormativität findet gezielt statt (z.B. als sexistische Werbung, wo Frauen auf ihre Körper reduziert werden, um ein Produkt anzupreisen) und wird (z.B. in der Familienpolitik) gezielt gefördert. Und oft findet Heteronormativität unbeabsichtigt statt und wird ohne Bedenken in Pädagogik, Bildung, Recht, Medizin etc. und eben auch in der Mädchen_- und Jungen_arbeit reproduziert. Heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit kritisiert beide, die offenen und die verdeckten Formen, und macht diese zum Thema.
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Heteronormativitätskritische Geschlechterforschung erweitert das System der Zweigeschlechtlichkeit (und damit den Fokus auf Geschlecht/Gender) durch den Blick auf die Norm in Bezug auf das sexuelle Begehren und die sexuellen Praxen. Sie widmen sich der Macht der Normalität von Heterosexualität. Es wird offensichtlich, wie heteronormative Konstrukte sowohl auf der Kultur der Zweigeschlechtlichkeit basieren als auch diese permanent wiederherstellen. Das heißt, es wird reflektierend auf die Herstellungsmodi von Heteronormativität geschaut. Eine heteronormativitätskritische Praxis der Mädchen_arbeit bewegt sich in diesem Spannungsfeld: Sie versucht einen Zugang zu Geschlecht und Sexualität zu ermöglichen, der verständlich und erkenntnisreich ist. Dabei bedient sie sich einer zweigeschlechtlichen Sprache und Praxis (wie in der Arbeit mit Mädchen deutlich wird) und will zugleich »gegen den Strich« gelesen werden. Deshalb gilt für die Praxis das, was für die Forschung gilt: »[Die] erziehungswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung [muss sich] mit dem Paradox auseinandersetzen, dass Mädchen- und Jungenarbeit ebenso wie lesbisch-schwule Bildungsarbeit an Geschlechterdichotomie und heterosexuellen Normen ansetzt und damit zunächst aufruft, was sie irritieren will.« (Hartmann 2009: 56)
Das heißt, die Praxis agiert innerhalb bestehender Kategorien und Identitäten, setzt sich also in Bezug zum Geschlechterdualismus und erweitert diese Perspektiven ständig, um neue Erkenntnisse zu ermöglichen. Außerdem wird die Selbstverständlichkeit geschlechtlicher/sexueller/ heteronormativer/sexistischer Praktiken infrage gestellt, offene sowie verdeckte Diskriminierungen und Gewalt werden somit offengelegt. Dabei werde es allerdings – so schreibt Jutta Hartmann – nicht gelingen, sich von den (hetero)normativen Vorgaben zu befreien, aber diese Herangehensweise lasse (den Mädchen) Raum für Freiheit und Vielfalt (vgl. Hartmann 2009: 57). Ziele heteronormativitätskritischer Mädchen_ arbeit sind vor diesem Hintergrund in erster Linie: • Mädchen sollen nichtnormative Denkanstöße insbesondere bezüglich Gender und Sexualität erhalten. Das ermöglicht für Mädchen neue Erfahrungen und kann Energien freisetzen. • Lust und Freude an Praxis und Denken wider die normativen Erfahrungen zu ermöglichen. In Experimentierräumen wider zwingende dualistische Eindeutigkeit erfahren Mädchen, dass es vielfältige (geschlechtliche und sexuelle) Identitäten/Selbstkonstituierungen und Praktiken gibt (Multiperspektivität).
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Die Neugierde der Mädchen soll geweckt werden, indem sie lernen, erfahren und neugierig ihre Fragen stellen dürfen. Der reziproke Bildungsprozess ist von gegenseitigem Respekt geprägt. Es findet die Vermittlung einer Kritik sowohl an der Eindeutigkeit als auch an der Dualität statt, denn das gewaltsame Geschlechterverhältnis basiert auf beidem. Offene und verdeckte Formen von Heteronormativität werden thematisiert. Erweiternde Handlungspraxen werden gefördert.
Das Infragestellen von normativen Weiblichkeitsbildern zählt zu den inhaltlichen Kernpunkten feministischer Mädchen_arbeit. Normative Mädchenbilder werden nicht nur gesellschaftlich inszeniert, sondern auch von Mädchen selbst genutzt und auch von Pädagog_innen transportiert. Alle Beteiligten setzen sich permanent ins Verhältnis zu normativen Vorgaben, in z.B. Ablehnung, Adaption oder Teiladaption. Um so wichtiger für die Qualität der Mädchen_arbeit ist die Selbstreflexion der Pädagog_in darüber, welche Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit sie selbst transportiert und wie sie aufgrund dessen das Verhalten der Mädchen interpretiert. Um Heteronormativität zu dekonstruieren, muss sich die Pädagog_in dafür mit ihren eigenen Mädchen- und Jungenbildern3 und ihrer eigenen Gender-Inszenierung auseinandersetzen. Es geht also darum, dass die scheinbar »natürliche normale« Art, sich und andere wahrzunehmen überhaupt als eine heteronormative erkannt wird, um ihre soziale Konstruktion zu erfassen und Veränderungen zuzulassen. In puncto Heteronormativität heißt dies herauszufinden, wo und inwieweit Pädagog_innen selbstverständlich von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit ausgehen: Plane ich zum Beispiel im Zusammenhang von Sexualpädagogik eine Einheit zum Thema Schwangerschaftsverhütung, weil ich vermute, dass das alle Mädchen betrifft? Denke ich, dass die Mädchen sich schick kleiden und schminken, um bei Jungen gut anzukommen? Nenne ich das Mädchen und den Jungen in der Grundschule, die miteinander spielen, »unser Pärchen«? Sehe ich Mädchen vor allem als Konkurrent_innen um die größere Anerkennung seitens eines (fiktiven) männlichen Gegenübers? Abstrakter gefragt: Merke ich, dass ich in meiner Einschät3
Die Auseinandersetzung mit Jungenbildern ist ebenso notwendig, weil die Annahmen über Mädchen häufig in einem direkten Zusammenhang mit den Annahmen über Jungen stehen. Mädchen_arbeiter_innen, Jungen_arbeiter_innen und andere Pädagog_innen denken Geschlecht zumeist dualistisch. Die Auseinandersetzung muss also in Bezug auf den Themenkomplex Geschlechterbilder und -präsentationen erfolgen.
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zung der Mädchen und ihres Verhaltens von einer heterosexuellen Denkweise ausgehe?
2 . A nr eg u ng e n f ü r e i n e h e t e r o n o r m a t i v it ä t s k r i t is c h e P r a x is Normative Macht hinterfragen, normatives Wissen erweitern und sich als Mädchen_arbeiter_in positionieren sind drei Grundvoraussetzungen wider eine heteronormative Herangehensweise. Emanzipatorische Pädagogik, zu der diese heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit zählt, trägt dazu bei, Komplexität zu erhöhen, um Themen, Positionen und Möglichkeiten wider die Zweigeschlechtlichkeit zu vervielfältigen, anstatt zu vereinfachen. 2.1 Die Macht der Selbstverständlichkeiten entlarven In der Praxis der Mädchen_arbeit schlägt sich dieser Selbstreflexionsprozess nieder, indem heteronormative Selbstverständlichkeiten transparent gemacht und Alternativen eröffnet werden. Die Mädchen_arbeiter_in würde damit z.B. bei der Besprechung der Frage, wie die Mädchen in Zukunft die Kindererziehung mit ihrem Partner teilen wollen, neue Perspektiven eröffnen: Sie könnte deutlich benennen, dass sie damit von einem heterosexuellen Lebenskonzept in der Kleinfamilie ausgeht oder sie benennt die Möglichkeit, dass es sich um einen Partner oder eine Partner_in handeln kann oder sie zeigt auf, dass Kindererziehung auch in Freundschaftsbeziehungen organisiert werden kann. Zusätzlich werden z.B. alleinerziehende Elternteile und Patchworkfamilien und 3er-Elternmodelle etc. thematisiert.4 Am Beispiel Verhütung könnte sie sichtbar machen, dass Schwangerschaftsverhütung bei lesbischem Sex kein Thema ist, sexuell übertragbare Krankheiten aber schon, und sie könnte auch den Blick auf weitere sexuelle Praktiken außer dem heterosexuellen Geschlechtsverkehr lenken. Im Verhütungskoffer befinden sich neben den Verhütungsmitteln auch Gegenstände des Safer Sex, zu denen neben dem Kondom auch Latexhandschuhe und das Dental
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Zusätzlich könnte man thematisieren, wie heute meist migrantische Hausangestellte für die Kindererziehung in gut situierten Familienmodellen die Aufgabe der Frauen übernehmen und damit eine Verlagerung der Tätigkeiten von Geschlecht hin zu Migration und Geschlecht führt.
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Dam5 gehören. Der bei Übungen zur richtigen Anwendung eines Kondoms häufig verwendete Holzpenis wird durch einen Dildo ersetzt, um auch die Themen Umgang mit Sex Toys sowie Erleben der eigenen Lust anzuregen. 2.2 Wissen um nichtnormative Lebenskonzepte Mädchen erleben alltägliche, sich stets wandelnde und gleichzeitig stabil bleibende Normalitäten. So ändern sich ganz konkret Geschlechterkonzepte stetig, aber eine patriarchalische gesellschaftliche Struktur wird dadurch nicht entscheidend verändert/abgebaut. Aufgabe einer emanzipatorischen Bildung ist es, dazu beizutragen, Normalitäten zu hinterfragen und zu erweitern und den Mädchen damit mehr Handlungsspielräume, Reflexionsangebote zu ermöglichen. In der Folge sollen sie zu mehr Selbstbewusstsein gelangen, um z.B. ein bewusstes Erleben des eigenen Körpers zu ermöglichen und um eine selbstbestimmte Sexualität zu leben. Heteronormativitätskritisches Wissen ist deshalb für die Mädchen_arbeit unerlässlich, um Mädchen überhaupt Angebote jenseits von (geschlechtlicher und sexueller) Normalität machen zu können. Dazu zählen beispielsweise auch Kenntnisse über nichtheteronormative Geschlechterkonzepte – wie Transgender, Transsexuelle, Homosexualität – sowie über gesetzliche Bedingungen und historische Entwicklungen. Auf der inhaltlichen Ebene sollten Mädchen_arbeiter_innen in der Lage sein, Antworten auf Fragen zu geben: Was ist der Unterschied zwischen Transsexuellen und Transgender? Was sind She-Males? Was machen Drag Queens und was steht im Transsexuellengesetz? Ferner sollte das Bild- und Filmmaterial Vielfalt ausdrücken. So kann mit Filmen über Lesben und Schwule, ebenso wie über queere Lebenskonzepte gearbeitet werden. Alternativ können auch Filme besprochen werden, die Facetten von normativen Lebenskonzepten aufzeigen. Mädchen können nach ihren Konzepten befragt werden und daran anschließend mögliche neue Begriffe und Konzepte ergänzt werden. Die Kreativität im Umgang mit Kritik an Heteronormativität und die Lust am Ausprobieren sind wesentliche Aspekte für die Auseinandersetzungen. Grundsätzlich machen Mädchen_arbeiter_innen Mädchen_arbeit, wenn sie sich kritisch zur Reproduktion von Normalität verhalten und die Möglichkeiten nutzen, 5
Ein Dental Dam ist eine Folie, die beim Cunnilingus auf die Vulva gelegt wird. Sie verhindert die Übertragung von Geschlechtskrankheiten und ist damit ein Safer-Sex-Utensil. Anwendung findet das »Lecktuch« auch beim analen Oralverkehr (Rimming).
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um den Mädchen Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit richtet dabei den Blick auf Sexualität, Beziehung, Geschlechterhierarchien, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit und will damit Interesse und Spaß an Wissen jenseits der normativen Sexualität und Geschlechterweisen wecken und zum Abbau von Gewalt und Hierarchie beitragen. 2.3 Position beziehen gegen Diskriminierung Wichtig für die Überwindung von Heteronormativität ist die Positionierung gegenüber Diskriminierung von homo-, bisexuellen oder queeren Beziehungskonzepten. Es geht darum, ob und wie eine Pädagog_in z.B. auf (verbale) Angriffe von Mädchen reagiert, die in der Praxis nicht selten so oder ähnlich vorkommen: Mädchen sollen sich für ein Kreisspiel an den Händen fassen – eine weigert sich mit dem Satz: »Ich bin doch nicht lesbisch!« Über einen Lehrer wird gesagt: »Der ist schwul, so wie der rumläuft!«6 Diese Sprüche machen sprachlos und viele Pädagog_innen schrecken davor zurück, darauf zu reagieren. Wenn Pädagog_innen an diesen Stellen schweigen, tragen sie die Diskriminierung mit. Wie aber kann die notwendige Positionierung aussehen? Die Pädagog_in kann sofort intervenieren und Grenzen setzen: »Stopp mit solchen Sprüchen! Das ist Diskriminierung – und die möchte ich hier nicht erleben!« Zum anderen kann sie das Thema in einer späteren Situation – losgekoppelt von dem Moment – nochmals aufgreifen: »Ich höre hier immer wieder Sprüche über Homosexuelle. Wir machen das jetzt mal zum Thema.« Zum Dritten kann die Pädagog_in die Mädchen fragen, warum sie diese Sprüche benutzen, um über die Antworten ins Gespräch zu kommen. Geht es vielleicht wirklich darum, dass z.B. sich anzufassen für einige Mädchen in der Situation nicht passt und sie nur diesen Weg sehen, dazu »Nein« zu sagen? Oder tragen sie eventuell über Sprüche ihre Machtkämpfe aus? Es könnte auch sein, dass sich die Mädchen in einer Gruppe ziemlich nahe gekommen sind und nun den Kommentar nutzen, um die heterosexuelle Normalität wiederherzustellen, sodass sexuelle Attraktivität untereinander ein Tabu wird bzw. bleibt? Oder gibt es eine dominante Homophobiestruktur? Haben sie einfach Interesse an dem Thema Lesbischleben? Oder wollen sie austes6
Das häufig verwendete Schimpfwort »schwul« stempelt oft diejenigen Jungen oder Männer ab, die gängigen Männlichkeitsbildern nicht entsprechen. Es beinhaltet eine Abwertung der betroffenen Person und eine Abwertung von Weiblichkeit. Männlichkeit ist der Ort, an dem keine Weiblichkeit vorkommen darf.
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ten, welche Grenzen die Pädagog_in setzen kann? Alles dies sind mögliche Interpretationen für einen einzigen Satz. Hier ist das Geschick, die Gelassenheit und das Standing der Mädchen_arbeiter_innen gefragt, um die Situation zu dechiffrieren. Die Intervention der Pädagog_in ist von ihrer eigenen Interpretation abhängig. Dafür ist es in jedem Fall unerlässlich, das Gespräch mit den Mädchen zu suchen, um sie ernst zu nehmen und entsprechend ihren Motivation(en) zielgerichtet agieren zu können.
3 . S ic h h et er o no r m a t i v it ä t s k r it i s c h h et er o , l e s b is c h , b i o d er q u ee r i n s S p i e l b r i n g e n Sensibilität, professionelle Kompetenz und politische Verantwortung für heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit ist unverzichtbar bei jeder Pädagog_in – unabhängig von ihrer eigenen sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechterzugehörigkeit und ihrem Beziehungskonzept. Allerdings beeinflussen diese Aspekte den Zugang zum Thema entscheidend: Nichtheterosexuelle Pädagog_innen beispielsweise nehmen die heterosexuelle Normalität häufig viel sensibler wahr. Wenn sie ihre eigenen Erfahrungen gegenüber den Mädchen ins Spiel bringen, stellen sie anhand ihrer Person heterosexuelle Normalitäten infrage. Doch sind mit dem Outen als Lesbe, Queer oder Bisexuelle auch Risiken wie Diskriminierung oder Kontaktverlust verbunden. Auch stellt sich die Frage nach den persönlichen Grenzen der Pädagog_in und inwieweit sie ihre privaten Beziehungserfahrungen im professionellen Kontext veröffentlichen will. Die Frage des »Outings« sollte daher sehr bewusst angegangen werden: von lesbischen, bisexuellen, queeren und auch bzw. gerade von heterosexuellen Pädagog_innen. 3.1 Herausforderungen für heterosexuelle Pädagog_innen Für Frauen mit einem heterosexuellen Beziehungskonzept stellt sich heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit eventuell als besonders große Herausforderung dar, eben gerade weil die eigene Beziehungskonzeption der heterosexuellen Norm entspricht: In den meisten Fällen wird eine heterosexuelle Mädchen_arbeiter_in sich nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert fühlen und daher möglicherweise weniger Beunruhigung, Bewusstsein und politische Motivation entwickelt haben. Es scheinen sich in ihrer Wahrnehmung zunächst vielleicht kaum Ansatzpunkte zur Hinterfragung von heterosexuellen Normali-
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täten zu bieten. Für viele Heterosexuelle scheint ein Bekenntnis zu ihrer sexuellen Orientierung oft gar kein Thema zu sein, da sie im »Normalfall« auch von den Mädchen keine diskriminierenden Reaktionen erwarten müssen. Es passiert nicht selten, dass sie sich nebenbei als »Hetera«7 inszenieren, indem sie z.B. wie beiläufig ihren Freund oder eigene Kinder erwähnen. Muttersein wird, wenn es nicht weiter thematisiert wird, von Mädchen meistens als Indiz einer heterosexuellen Lebensweise wahrgenommen. Selbst Pädagog_innen, die gar nichts über ihre Orientierung sagen, gelten (bei einer weiblichen Körperinszenierung) in der Regel als heterosexuell – »normal eben«. Solange die heterosexuelle Pädagog_in nicht selbst initiativ wird, indem sie beispielsweise Normalitäten benennt und weitere nichtheteronormative Sichtweisen integriert, wird sich Heteronormativität wie selbstverständlich in der Mädchen_arbeit reproduzieren, da auch diese Teil des Systems der Zweigeschlechtlichkeit ist. Der Schlüssel zu heteronormativitätskritischer Mädchen_arbeit liegt abermals im Bewusstsein der Pädagog_in: ob sie diese Normativität selbst realisiert, ihre Eingebundenheit und ihre Privilegien im System der Zweigeschlechtlichkeit erkennt und für die direkte und strukturelle Diskriminierung sensibilisiert ist, selbst wenn sie sich individuell nicht unmittelbar davon betroffen fühlt. Auch heterosexuelle Mädchenarbeiter_innen sind aufgefordert, Normalitäten infrage zu stellen, indem sie ihre sexuelle Orientierung als solche benennen. Damit entlarven sie scheinbar natürliche Selbstverständlichkeiten, wenn sie die damit verbundenen Privilegien offenlegen und so sichtbar machen. Sie können ihre eigenen Beziehungserfahrungen transparent machen – mit den dazugehörigen Brüchen, Verletzungen, Enttäuschungen und möglicherweise auch mit den Erlebnissen der Einschränkung, ihre homoerotischen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie können auch darüber nachdenken, dass und an welchen Punkten sie nicht »100% hetero« sind und damit die Eindeutigkeit und Absolutheit dieser Kategorie infrage stellen. Sie können das Konzept ihrer geschlechtlichen Identität durchschaubar machen, ihre Eindeutigkeiten und Uneindeutigkeiten benennen, ihr inneres »Verhandeln« in Bezug auf die Inszenierung ihres sozialen Geschlechts mit den dazugehörigen Gewinn- und Verlustseiten aufdecken und für Mädchen greifbar machen. In Kreisen feministischer Mädchen_arbeit, in denen viele Lesben oder queere Pädagog_innen vermutet werden, benennen heterosexuelle Pädagog_innen ihre Orientierung oft nur zurückhaltend – aus Angst vor 7
Gemeint ist die Inszenierung als heterosexuelle Frau.
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Ausgrenzung, vor dem Vorwurf, Normalitäten zu stabilisieren, oder aus Sorge, die anderen Mitarbeiter_innen unter Zugzwang zu setzen, sich ebenfalls gegenüber den Mädchen zu outen. Dies ist als reflektiertes Vorgehen im Umgang mit der eigenen dominanten und privilegierten Position zu sehen. Es kann aber auch dazu führen, dass sich bei heterosexuellen Mädchen_arbeiter_innen eine Scham entwickelt, da es im geschlechtersensiblen kritischen Kontext von Mädchen_arbeit durchaus zu einer Verkehrung der Normalität kommen kann: Dann gibt es z.B. Mädcheneinrichtungen, in denen den lesbischen oder queeren Mädchen_arbeiter_innen mehr Kenntnis und Kompetenz qua sexueller Orientierung/qua geschlechtlicher Verortung zugesprochen wird, da sie wider die Normalität leben. Dies halten wir für eine Art positiver Diskriminierung, denn in jeder Verkehrung von Normalität liegt wieder als dualistisches Gegenstück ein Stück Normalität.8 In jedem Fall beugt ein Austausch im Team über Umgang mit Geschlechter- , Beziehungs- und Lebenskonzepten, Offenheit im Kontakt mit Mädchen und die gleichzeitige Kenntnis der eigenen Grenzen im Kontakt mit den Mädchen möglichen Fallstricken vor. 3.2 Herausforderungen für nichtheterosexuelle Pädagog_innen Die Frage des »Coming Outs« im Beruf ist sowohl für lesbische Pädagog_innen als auch von diesen selbst in Fachkreisen bereits vielfach diskutiert worden (vgl. Trampenau 1989, Rich 1993, Strötges 1993, Hauck 2001). Nicht wenige Lesben lassen ihre sexuelle Orientierung im professionellen Kontext außen vor. Manch eine geht aber sehr offensiv damit um und stellt sich gleich in der Kennenlernrunde als Lesbe vor. Andere hingegen bringen ihre lesbischen Erfahrungen ein, wenn sie nach ihren Beziehungen gefragt werden oder es in einer konkreten Situation bereichernd wirkt. Mit dem Einbringen eigener lesbischer Erfahrungen wird für die Mädchen eine reale Person greifbar, die nicht der Norm entspricht und damit eine besondere Orientierungsfunktion einnimmt, weil sie – auch heute noch – möglicherweise die erste offen lesbisch lebende Person ist, der sie begegnen. Die Reaktionen hierauf reichen von Neugier, Interesse und Verliebtheit über Gleichgültigkeit bis hin zu Ablehnung oder Kontaktabbruch. Wenn die Pädagog_in sich outet, dann 8
Dies bedeutet, dass bspw. lesbische Mädchen_arbeiter_innen andere Erfahrungen in die Arbeit mit Mädchen einbringen können. Eine gleichzeitige Mystifizierung vom »Anderssein« ist jedoch, wenn sie stattfindet, für reflektierte heteronormative Mädchen_arbeit kontraproduktiv, weil sie auf einen Dualismus (hier hetero-homo) rekurriert.
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muss sie hiermit einen Umgang finden, sowohl auf ihre eigene persönliche Verletzung hin als auch in Bezug auf ihre professionelle Haltung und die Beziehungsebene mit den Mädchen. Allerdings überschreiten auch lesbische Outings selten das dichotome System, wenn sie sich auf eine Definition des vermeintlichen Andersseins begrenzen. Für bisexuelle Pädagog_innen liegt die Gefahr darin, sich selbst entweder als Lesbe oder als »Hetera« zu vereindeutigen bzw. von den Mädchen vereindeutigt zu werden, sodass ein Teil ihrer Realität von der Wahrnehmung ausgespart bleibt. Theoretisch könnten sie zwar die dualistische Polarität von homo- versus heterosexuell infrage stellen, als reale Praxis wird dies aber selten transportiert. »Bi«-Sein ist derzeit auch »irgendwie cool« – gilt als angesagt u. a. bei vielen Mädchen. Die Frage stellt sich, inwieweit die politische Dimension der Überschreitung von Dualitäten wirklich erkannt und verstanden wird oder ob die positive Bewertung nicht doch ein Indiz für verschleierte geschlechterhierarchische Inszenierungen ist (z.B. wenn Mädchen knutschen, um bei Jungen sexuelles Interesse zu wecken). Queere Mädchen_arbeiter_innen9 machen sich häufig für den offenen Umgang mit sexuellen Orientierungen stark. Für sie ist eine sexuelle Eindeutigkeit im Sinne der Queer Theory eine entscheidende Machtkategorie, die das herrschende Geschlechterverhältnis stabilisiert. Mit ihrem »Outing« können queere Pädagog_innen die Rolle von Sexualität und Beziehung in der Geschlechterfrage anhand der eigenen Person thematisieren. Allerdings wehren nicht wenige queere Pädagog_innen die Frage nach ihrer sexueller Orientierung ab, weil sie auf ein zweigeschlechtliches Bezugssystem rekurriert. So kann eine Person, wenn sie keine geschlechtliche Selbstdefinition/Identität hat, auch nur schwerlich sagen, welche sexuelle Orientierung sie hat. Das ist in der Theorie »konsequent«, in der Praxis der Mädchen_arbeit stellt es eine große Herausforderung dar, sich damit Mädchen begreiflich zu machen. Deutlich wird, dass ein offener Umgang mit der sexuellen Orientierung an sich kein Garant für nichtheteronormative Mädchen_arbeit ist.10
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Queere Mädchen_arbeiter_innen zeigen mit Blick auf die eigene sexuelle Orientierung eine Offenheit gegenüber vielen Geschlechtern und ihr eigenes Geschlechterkonzept ist möglicherweise nicht (nur) eindeutig männlich oder weiblich. 10 Wir betonen abermals: Mädchen_arbeiter_innen kommen aus unterschiedlichen sozialen Klassen, haben verschiedene Ethnizitäten, bringen verschiedene Körper mit und haben verschiedene Erfahrungen mit Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Gewalt gemacht. Gerade in diesem
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Gerade deshalb darf dieser Aspekt nicht allein an das Einbringen der eigenen Erfahrungen der Pädagog_in gebunden sein. 3.3 Über die eigene Erfahrung hinaus Abschließend möchten wir die Frage aufwerfen, ob Pädagog_innen sich gegenüber den Mädchen auch mit einer sexuellen Orientierung ins Spiel bringen »dürften«, die gerade nicht ihren realen Erfahrungen entspricht (vorausgesetzt sie verfügen über das notwendige Wissen darüber). Um Heteronormativität zu hinterfragen könnte es z.B. sinnvoll sein, dass sich eine Pädagog_in aus einem heterosexuell orientierten Team als lesbisch ausgibt. Oder dass sich eine bisexuelle Pädagog_in – weil sie sich hiermit zu verletzlich fühlt – lieber als »Hetera« zeigt und somit nur einen Teil ihrer biografischen Erfahrungen in die Beziehung zu den Mädchen einbringt.11 Diese Frage löst bei manchen moralische Skrupel aus, anderen verspricht sie einen Gewinn an Handlungskompetenz. Die Debatte hierüber kann sehr bereichernd sein und erfordert eine Reflexion bzw. Neubestimmung der Maxime »Authentizität« in der Mädchen_arbeit. Diese Diskussion muss geführt werden, denn sie geht ähnlich wie bei der vermuteten Erfahrungskongruenz von Mädchen_arbeiter_innen und Mädchen davon aus, dass es möglich ist, jenseits des Vorbildseins für Mädchen, einen Zugang zu Mädchen zuzulassen, bei dem eine scheinbar widerspruchsfreie Identität als Frau, »Hetera«, Lesbe für den Bildungsprozess nicht notwendig ist. Vielmehr sind das Verhalten, die Praxen und die Sprache ausschlaggebend. Das könnte zu einer Praxis führen, die genauer auf pädagogisches Handeln und Interaktionen schaut, statt sich zu häufig hinter der Idee von Vorbild und Erfahrungskongruenz12 zu verstecken.
sehr persönlichen Kontext der sexuellen Orientierung verändert und beeinflusst dies das jeweilige Setting je nach Mädchengruppe maßgeblich. 11 Die Friller Mädchen_arbeit findet in kurzzeit-pädagogischen Zusammenhängen statt. In kontinuierlichen pädagogischen Begleitprozessen spielen weitere Aspekte eine Rolle. Hierzu steht eine Auseinandersetzung noch aus. 12 In diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass z.B. Frauen und Mädchen qua Geschlecht oder lesbische Frauen und lesbische Mädchen qua sexueller Orientierung ähnliche Erfahrungen machen und es deshalb zu einer besonderen Nähe aufgrund von struktureller Benachteiligung und Gewalt kommt.
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4 . D a s T a b u i m T a b u : P äd ä d ag a g o g i s c he G ew a lt u n d G r e nz ü b er s c h hrr e iitt u n ng gen Ein schwieriges und leidvolles Thema in der Pädagogik ist der Machtmissbrauch von pädagogisch Tätigen gegenüber ihrem Klientel: den Kindern und Jugendlichen. Auf dem Hintergrund der Heteronormativitätskritik gilt es, auch hier heterosexuelle Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen: Wir müssen uns bewusst werden, dass es auch sexuelle Grenzüberschreitungen innerhalb eines heterosexuellen und eines lesbischen, queeren Kodex’ gibt: Pädagog_innen, die die körperlichen und/oder emotionalen Grenzen von Mädchen überschreiten, um dabei ihre eigenen sexuellen und/oder emotionalen Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Gewalt bringt ein großes Maß an Leid und Verletzungen mit sich und findet unabhängig von der sexuellen Orientierung der Pädagog_innen statt. Die Thematisierung dieser sexuellen und emotionalen Gewalt bricht mit zwei Tabus: zum einen werden Frauen als Täter_innen sexueller Gewalt in den Blick genommen, zum anderen wird hier auch im Kontext von Grenzüberschreitung und Gewalt homosexuelles Begehren enttabuisiert. Eine doppelte Tabuisierung macht es den Opfern ungemein schwer, ihre Erfahrungen selbst als Gewalterfahrung zu realisieren und zu benennen, sich Hilfe zu suchen und die Täter_innen zur Verantwortung zu ziehen. Das Feld der Mädchen_arbeit steht hier vor einer großen Herausforderung, diese Fragen zu zulassen, denn das heißt auch, Abschied zu nehmen von den eigenen Idealisierungen von Frauen (»Frauen sind keine Täter_innen.«) und von weiblicher Homosexualität (»Hier gibt es keine Hierarchie.«).
5 . R es ü m ee : M it L u s t u nd B eu nr u h ig u ng Normalitäten zu hinterfragen bringt Befreiung und Unruhe. Die Voraussetzungen dafür sind die Lust auf mehr Möglichkeiten und Gerechtigkeit, der Mut für Riskantes und Unbekanntes und die Gelassenheit gegenüber den vielfältigen Geschlechterkonzepten. Darüber hinaus braucht heteronormativitätskritische Mädchen_arbeit: 1. die Reflexion der eigenen heterosexuellen Denkweisen unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung; 2. Inhalte und Interaktionen, die an den Brüchen, Widerständen und Uneindeutigkeiten der Pädagog_innen und der Mädchen ansetzen und diese zum Thema machen;
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3. Inszenierungen des normativen Alltags, die zum Gegenstand der Mädchen_arbeit gemacht werden und diesen gleichzeitig infrage stellen. Das Benennen der heteronormativen Selbstverständlichkeiten und Normalität ermöglicht erst Kommunikation über den Gegenstand; 4. eine kritische Haltung der Pädagog_in gegenüber der normativen Geschlechterhierarchie und der ihr innewohnenden Gewalt und die Selbstsicherheit der Pädagog_in, dazu aktiv Position zu beziehen; 5. Sensibilität und Bewusstsein gegenüber Machtmissbrauch und Gewalt sowohl in heterosexuellen als auch in nichtheterosexuellen Beziehungsgefügen; 6. ein Bewusstsein darüber, dass das (geschlechtliche) Sein der Mädchen und der Pädagog_innen beweglich und veränderbar ist; 7. einen gemeinsamen Diskussionsprozess, ein Bewusstsein über die Ziele und ein politisches Verständnis der Mädchen_arbeit; 8. Teamarbeit, in der man sich darüber verständigt, welche Normalitäten und Bewertungen innerhalb des Teams vorhanden sind, wie die Pädagog_innen mit Informationen über ihr »Privatleben« umgehen, wie dem Risiko von Diskriminierung aufgrund der jeweiligen Lebensweisen begegnet wird und ob es eine Bereitschaft gibt, sich selbstkritisch, fehlerfreundlich und wohlwollend im Prozess mit den Mädchen zu beobachten und sich gegenseitig zu unterstützen, um dazu beizutragen die Macht der Heteronormativität zu destabilisieren.
L i t er a t u r Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hartmann, Jutta/Kleese, Christian/Wagenknecht, Peter/Fritzsche, Bettina/Hackmann, Kristina (Hg.) (2007): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften. Hartmann, Jutta (2009): Pädagogische Implikationen eines macht- und identitätskritischen Konzeptes. In: Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit e.V. (Hg.): betrifft mädchen: Queer! Wie geht nicht heteronormativitätskritische Mädchenarbeit?, 2/2009, 52–57.
Mit Lust und Beunruhigung | 35
Hauck, Maren (2001): »Normal halt« oder: Wie gehen Pädagoginnen mit ihrer sexuellen Orientierung um? In: Regina Rauw, Ilka Reinert (Hg.): Perspektiven der Mädchenarbeit. Partizipation – Vielfalt – Feminismus., Quersichten Band 2, Opladen: Leske & Budrich, 67– 78. Herrmann, Steffen Kitty: Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung. http://www.gender-killer.de/wissen%20 neu/texte%20queer%20kitty.htm [Abruf: 01.03.2010]. Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit e.V. (2009) (Hg.): betrifft mädchen: Queer! Wie geht nicht heteronormativitätskritische Mädchenarbeit?, 2/2009. Rauw, Regina (2001): Die Angst der Frauen vor der Autonomie. Wie’s losgeht, wenn Frauen von sich selbst ausgehen. In: Regina Rauw, Olaf Jantz, Ilka Reinert, Franz Gerd Ottemeier-Glücks (Hg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit, Quersichten Band 1, Opladen: Leske & Budrich, 117–126. Rich, Adrienne (1993): Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz. In: Dagmar Schultz (Hg.): Audre Lorde, Adrienne Rich: Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 138– 168. Strötges, Gisela (1993): Ansätze zu einer feministischen Sexualpädagogik. In: Senatsverwaltung für Jugend und Familie Berlin: Pädagogischer Kongreß: Lebensformen und Sexualität. Was heißt hier normal? Dokumente lesbisch-schwuler Emanzipation. Berlin, 125–132. Trampenau, Bea (1989): Kein Platz für lesbische Mädchen. Beeinträchtigungen und Möglichkeiten für Konzepte lesbischer Mädchenarbeit, Kiel. Ziese, Kathrin (1999): Das »lesbische Mädchen« im Jugendarbeitsdiskurs. In: Sozialwissenschaftliche Forschung & Praxis für Frauen e.V.: Mädchen zwischen patriarchalen Zuschreibungen und feministischen Ansprüchen. Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 22/51, 93–104.
TransRäume. Me hr Pla tz für gesc hlec htliche Nonk onformität! INES POHLKAMP
Transgender ist bislang kein Thema in der Mädchen- und Jungenarbeit. Dieser Artikel nähert sich der Idee von Transgender in der Praxis an, präsentiert Ausschnitte aus der Friller Mädchen_arbeit im Umgang mit Transgender und zeigt pädagogisch-politische Strategien auf, die verhindern, dass konstruktive Auseinandersetzungen mit diesem Thema stattfinden. Aus der Perspektive auf geschlechtliche Performativität plädiert die Autorin dafür, TransRäume1 in der Mädchen_arbeit zu schaffen, um die Bedeutung von Sprache und nichtnormativem Handeln der Mädchen und Mädchen_arbeiter_innen akzentuiert in den Mittelpunkt zu rücken. Die Errichtung von TransRäumen, in denen geschlechtlich Widersprüchliches und Uneindeutiges möglich ist, bedeutet eine Entlastung von zuschreibender normativer Weiblichkeit für die Mädchen, für die Mädchen_arbeiter_innen und für die Mädchen_arbeit.
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TransRäume meint hier Orte für alle Geschlechter, einschließlich der Intersexen, Transgender, Transsexuellen etc. sowie für homosexuelle, bisexuelle und heterosexuelle Reproduktions- und Rezeptionspraxen. In diesen Räumen können Bedeutungen und Begegnungen von Geschlechtern jenseits von eindeutigen Genderpräsentationen und sexuellem Begehren sowie deren Bewertungen möglich werden.
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1 . M ä d c h e n, T r a n s g e nd er In der Mädchen_arbeit ist es selbstverständlich, von Mädchen auszugehen. Seit Mitte der 90er-Jahre weist dekonstruktive Pädagogik aber immer wieder darauf hin, dass die Identität Mädchen als anerkennender Bezug altbewährte zweigeschlechtliche Zuschreibungen reproduziert (vgl. Schmidt 2002, Plößer 2009).2 Dank der Analysen queer-theoretischer und intersektionaler Denker_innen wird deutlich, dass Prozesse der Vergeschlechtlichung mehr beinhalten als die statische Herausbildung der zwei anerkannten Geschlechter Mann und Frau. Das heißt, es existieren neben deren dynamischer Hierarchie untereinander auch die Hierarchien innerhalb der jeweiligen Kategorie sowie zusätzlich Schnittstellen mit anderen gesellschaftlich relevanten Kategorien und Zugehörigkeiten. Kurz gesagt: Kein Gender existiert ohne die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse und umgekehrt, kein Gender existiert ohne Race/Ethnizitäten und umgekehrt usw. (vgl. Walgenbach et al. 2007, Winkler et al. 2009). Dieser von der Intersektionalitätsforschung eingebrachte Fokus auf kategoriale Schnittstellen und Dynamiken hilft, ein komplexeres Bild von geschlechtlichen Konstruktionsprozessen zu zeichnen. Die historisch und im alltäglichen Tun als konstruiert zu begreifende Geschlechterdualität schafft jenseits geschlechtlicher Vereindeutigung, in der eine Person entweder Mann oder Frau ist und werden muss, Lücken und Leerstellen. Demzufolge ist Mädchenarbeit zum einen ebenfalls konfrontiert mit Geschlechtergruppen und Einzelpersonen, die sich nicht bzw. nicht nur unter einer Geschlechterkategorie (Mädchen oder Jungen) subsumieren lassen (wollen). Zum anderen ist deutlich, dass die Vergeschlechtlichungen nur ein Ausschnitt der Lebensrealitäten, Identitäten und gesellschaftlichen Verortungen des Lebens sind und andere Ungleichheitskategorien ebenfalls eine zentrale Rolle spielen (können). Wer sind nun diese Jugendlichen, die sich von sozialpädagogischen (Identitäts- und Ungleichheits-)Kategorien nicht oder nur schlecht greifen lassen? Wer sind diese Mädchen, die vor allem geschlechtlich »aus der Rolle fallen«? Und weiter – hinsichtlich des Themas dieses Buches –
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Allein der Bezug auf die Kategorie Frau (Mädchen), so wird mit der Queer-Theoretiker_in Judith Butler argumentiert, sei ein Rekurs auf die hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit und verstärke, was zu demontieren sei: die Dualität und die Hierarchie der Dualität von (nur) zwei Geschlechtern. Zur Politik und Repräsentation des Subjekts »Frau« vgl. Butler 1991.
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gefragt: Was wissen wir eigentlich über Mädchen, die Mädchen oder auch nicht Mädchen sind?3 1.1 Wer ist ein_e Transgender? Der Begriff Transgender wird oft von und für Personen verwendet, die sich jenseits oder zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit bewegen, die sich also z.B. als Transsexuelle_r, Intersexe, Crossdresser_in, Drag Queen etc. oder eben als Transgender4 identifizieren (vgl. Feinberg 1996, Wilchins 2006). Hier umfasst der Begriff deshalb alle Personen, für die alltäglich entweder eine geschlechtliche Klassifizierung nicht möglich oder nicht gewünscht ist. Dazu zählen auch Personen mit geschlechtlich eindeutiger Identität Mann oder Frau, deren Genderpräsentation nicht heteronormativ ist oder aber diejenigen, die in der Gefahr schweben, dass ihr Geschlecht »als falsch« entlarvt werden könnte. Die sexuellen Orientierungen aller dieser Personen sind – wie bei geschlechtlich eindeutigen Menschen auch – vielfältig. Sie finden sich mitunter vielgestaltig innerhalb einer Person.5 Für Transgender-Personen trifft zu, was Sabine Hark als »deviante Subjekte« bezeichnet: Ihre »Identität (ist) niemals abgeschlossen [...], auch wenn ihre Bedeutung temporär geschlossen wird. Deviante Subjekte sind nicht über Zeit und Raum identisch, und ihr Ausgangspunkt ist die Differenz innerhalb von Identität, der konstitutive Mangel an der Wurzel jeglicher Identität.« (Hark 1999: 181). Das bedeutet, dass Transgender-Personen in keiner Zugehörigkeit vollständig aufgehoben sind. Sie setzen sich ins Verhältnis zur (Geschlechter-)Differenz, ohne je eine geschlechtliche Eindeutigkeit zu er3
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Die Theorie der Mädchen- und Jungenarbeit vermittelt in vielen Beiträgen den Eindruck, genau zu wissen, was Mädchen und was Jungen sind. Den aktuellen Irritationen durch die hier allgemein akzeptierte Essenzlosigkeit der Kategorien folgt ein Rekurs auf die Kategorien aus politischer Perspektive. So betont Frigga Haug zu Recht ihre Beunruhigung ob der vielfältigen Sprache über Vielfalt, aus der heraus keinerlei Sprechen über politische patriarchale und kapitalistische/ neoliberale Verhältnisse mehr möglich sei (vgl. Haug 2009). Jede hier gegebene Beschreibung einer Bezeichnung der »geschlechtlich nonkonformen« Personengruppen dient der Orientierung und ist zugleich eine unzulässige Reduktion, die Heterogenität homogenisiert. Wobei hier vordergründig die Innenwahrnehmung im Fokus steht. Die Außenwahrnehmung ist insofern interessant, wenn für die Personen Uneindeutigkeit zum Thema wird.
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langen. Transgender-Personen erhalten im zweigeschlechtlichen Alltag keine Stimme, kein politisches Mandat und leben in ständiger Gefahr als »Andere« erkannt zu werden (vgl. Engel 2002). Transgender Jugendliche tauchen in der Diskussion um (geschlechterreflektierende) Pädagogik, zu der Mädchen- und Jungenarbeit zählt, nicht auf; sie bekommen keine rechtliche oder politische Stimme. Bis heute gibt es kaum Studien zur sozialen Verfasstheit von Jugendlichen mit nicht eindeutigen geschlechtlichen Identitäten jenseits von pathologisierenden Zuschreibungsprozessen. Sie sind demzufolge als eigenständige Gruppe(n) (noch) nicht sichtbar gemacht.6 1.2 Mädchenarbeit ist ein transphobes Feld Transphobie wird die Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt genannt, die sich gegen Transsexuelle, Transgender, Intersexen und andere Personen richtet, die nicht in das eindeutige Bild von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern passen. Transphobie ist die Angst vor geschlechtlich Uneindeutigem, die Angst vor geschlechtlicher Instabilität und geschlechtlicher Devianz (gegenüber der Zweigeschlechtlichkeit). Sie findet sowohl in interaktiven als auch in innersubjektiven Prozessen statt. Die Gewalt der Transphobie gegen Transgender-Personen kann intendiert oder nicht intendiert sein. Für die betroffene Person impliziert sie in jedem Fall neben den Schmerzen der gewaltsamen Ausgrenzung auch subjektrelevante Auswirkungen. So ist in der Folge die Auseinandersetzung um die eigene Verortung im System der Zweigeschlechtlichkeit alltäglich. Diese bestimmt die alltäglichen eigenen geschlechtlichen Inszenierungen, um entweder sichtbar oder auch unsichtbar agieren und leben zu können. Die Gewalt reicht von indirekter (psychischer) Gewalt wie Verleumdung und Diskriminierung über direkte (physische) Gewalt, wie Morddrohungen, Vergewaltigung und Mord. Transphobie findet an unterschiedlichen Orten statt: in der medizinischen Praxis, in der Schule, im Kindergarten, im Hort, in der Pädagogik, in der Universität, auf der Straße, in den Medien, am Arbeitsplatz etc. Transphobie stärkt das System der Zweigeschlechtlichkeit, weil sie Abweichungen jenseits von Mann- und Frausein ignoriert, bekämpft oder tötet.7 6
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Zu den »Lebenslagen« lesbischer, schwuler oder bisexueller Jugendlicher existieren demgegenüber erste Studien (vgl. z.B. Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales 2001; Senatsverwaltung Berlin für Schule, Jugend und Sport 1999). Heute etabliert sich eine theoretische Richtung des »Transfeminism«, in der die Ideen und Existenzen von Trans-Personen in die feministischen
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Transphobie kann ebenso an bereits gender-reflektierten Orten – beispielsweise auch in der feministischen Mädchenarbeit – auftreten.8 Mädchenarbeit ist ein originär transphobes Feld: In ihrem Namen trägt sie die weibliche Seite der Zweigeschlechtlichkeit und lässt damit zunächst einmal jede Uneindeutigkeit außen vor.9 Feministische Mädchenarbeit ist vermutlich heute durch ihre vielfältigen Auseinandersetzungen um die Konstruktion von Geschlecht weniger transphob (und vor allem weniger homophob) als viele andere Konzepte und Praxen der Pädagogik. Dennoch gibt es in der Mädchenarbeit (und in der Jungenarbeit) großen Handlungsbedarf zur Reduzierung der Transphobie. Deshalb wage ich an dieser Stelle einen Blick in die Praxis und versuche, die Friller Mädchen_arbeit auf diese Lücke hin zu charakterisieren.
2 . G e s c h l e c h t l ic h e ( U n - )E i n d e u t ig k ke eiten in der Praxis Die geschlechtliche Eindeutigkeit spielt in der Mädchenarbeit immer wieder eine entscheidende Rolle, denn es ist deren Aufgabe zu reflektieren, an welchen Stellen diese hergestellt wird und wo diese Eindeutigkeit durch die Mädchenarbeit essentialisiert wird. Jutta Hartmann beschreibt im Folgenden für die geschlechtersensible Forschung ein Grundproblem, das für Mädchenarbeit ebenso gilt: »(Die) erziehungswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung (muss sich) mit dem Paradox auseinandersetzen, dass Mädchen- und Jungenarbeit ebenso wie lesbisch-schwule Bildungsarbeit an Geschlechterdichotomie und heterosexueller Norm ansetzt und damit zunächst aufruft, was sie irritieren will« (Hartmann 2009: 56).
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Theorien integriert werden (vgl. z.B. Scott-Dixon 2006). Häufig sind diese Ansätze gekoppelt an intersektionale Perspektiven. Diese theoretischen Entwicklungen können sich als produktiv für die Auseinandersetzungen rund um Mädchenarbeit erweisen, weil sie über die eindeutige Zugehörigkeit von Geschlecht hinausweisen. Die schwul-lesbische und die feministische Szene haben bspw. vielerorts jahrelange Diskussionen und Kämpfe bezüglich der Öffnung oder Schließung ihrer Räume für Transgender-Personen geführt. Ergänzend: Der Jungenarbeit ist durch die Beschäftigung mit Männlichkeiten, deren konstituierendes Merkmal die Abwertung von Weiblichkeit ist, Homophobie und Transphobie unmittelbarer immanent.
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Auf der Basis dieser äußeren Eindeutigkeit der Mädchengruppe erhoffen sich Mädchenarbeiter_innen einen erleichterten Blick auf die Heterogenität innerhalb der Mädchengruppe. Sie erwarten aus dieser Zuordnungsdimension, Mädchen von heteronormativen Strukturen entlasten zu können, um sie dann genauer in ihrer Vielfalt und Subjektivität in den Blick nehmen zu können (vgl. Rauw 2001). In der Folge bedeutet dies, dass beispielsweise in Mädchengruppen immer wieder das »Andere«, nämlich die Jungen, qua Abwesenheit zum Thema gemacht wird. In (Mädchen-) Internetcafés wird mit Jungen gechattet, in Seminaren werden in den Pausen »Jungs-Flirt-Hotlines« angerufen und im Seminarsetting lautet eine häufig gestellte Frage: »Und was machen die Jungen?«. Das Thema »andere Geschlechter und Lebensweisen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit« ist in der Regel – vermutlich aus Unkenntnis, Angst oder Desinteresse – kein Thema.10 Ferner glauben viele Mädchen_arbeiter_innen durch ihr mädchenpädagogisches Setting bereits die Tür für Mehrdimensionalität von Geschlechtern und Lebensweisen zu öffnen. Das führt zu absurden Einschätzungen vonseiten der Praktiker_innen: Auf meine an eine Kolleg_in eines Mädchentreffs gerichtete Frage, ob ihre Einrichtung für Lesben, Transgender und Intersexen offen sei, nickte diese und meinte: »Ja, selbstverständlich – nur für Jungen nicht.« Daraufhin fragte ich: »Und was tut ihr dafür, dass ihr offen seid für andere Geschlechterkonzepte und Lebensformen?« Sie schaute irritiert: »Das wissen doch alle, dass wir offen sind!« Hier zeigt sich, wie selbst in Mädchenarbeitskreisen davon ausgegangen wird, dass sie – innerhalb ihrer geschlechtlichen Kategorie, nennen wir sie »Mädchen Plus« – Offenheit qua nomen besitzen. Dass diese Offenheit aber sichtbare und spürbare Orte, Herangehensweisen und Methoden braucht, auch dass Homophobie und Trans-
10 Dies ist auch ein Problem in Bezug auf homosexuelle Lebensweisen und Realitäten. In der Regel werden sie nicht zum Thema gemacht, es sei denn eine Mädchen_arbeiter_in verfolgt das Thema oder aber ein geoutetes Mädchen ist in der Gruppe. Dieser Fall ist allerdings sehr selten, denn »Outings« geschehen in der Regel erst nach dem Verlassen der Schule. Eine Berliner Studie zeigt ein siebenfach so hohes Risiko zur Selbsttötung bei homosexuellen Jugendlichen (vgl. Berliner Senat 2008). Es ist aber unter emanzipatorischen Gesichtspunkten bedeutsam, Themen wie Homo- und Transsexualität sowie Rassismus oder Antisemitismus zu bearbeiten, ohne dass offen oder direkt Betroffene anwesend sind, da nur so gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen thematisiert werden können.
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phobie in der Mädchenarbeit Themen sind, war der Kolleg_in nicht bewusst.11 Außerdem existieren innerhalb der offenen und außerschulischen Mädchenarbeit Beispiele, bei denen sich die Ansprache, die Methoden oder die Themen zumeist an heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit orientieren. Beispielsweise wurde in der Friller Mädchen_arbeit jahrzehntelang die Frage gestellt: »Wie stehen Jungen auf dem Schulhof?« oder »Was stört euch an den Jungen?« Diese Fragen dienten völlig unabhängig von der Gruppenkonstellation, der Bedürfnis- und Problemlage der Mädchen zur Thematisierung des dichotomen Geschlechterverhältnisses. Diese Fragen und die durch sie hervorgerufenen Antworten reproduzieren stereotype Jungenbilder. Das bedeutet, die Mädchen stellten Jungen zumeist als breitbeinig, laut und gewalttätig dar. Folgerichtig wurden beispielsweise leisere Jungen vergessen und stattdessen »nervende« oder fiktiv männliche Klassenkameraden in den Blick genommen. Schnell wurde schließlich von Mädchen mitgeteilt, dass die Jungen in der eigenen Klasse aber zum Teil eigentlich »süß« seien. Das bedeutet, dass im Grunde mit diesen Fragen reduzierende Geschlechtervereindeutigungen und Heteronormativität sehr wahrscheinlich reproduziert werden, da die Mädchen sich des entsprechenden Zuschreibungsrepertoires bedienen und somit die Differenz der Geschlechter, Junge vs. Mädchen, hervorgelockt und dramatisiert wird. Seit über einem Jahrzehnt versucht die queer-feministische Mädchenarbeit an der Dekonstruktion von Zuschreibungsverfahren aufgrund von Geschlecht zu arbeiten; aber wer kennt schon die klassischen Zuschreibungen gegenüber Transgender? Wer kennt Teile der Kämpfe, der Gewalt und der Lösungen? Wo existieren Konzepte für die Dekonstruktion von Zuschreibungen jenseits der Homophobie? Insgesamt lässt sich sagen, dass in der Auseinandersetzung um Transgender und Mädchenarbeit (noch) eine große Lücke klafft, obwohl der Blick auf widerständige Geschlechterkonzepte im Sinne der Dekonstruktion eigentlich naheliegen müsste. In vielfältigen Diskussionen wurde in der »Alten Molkerei« immer wieder auf diese Lücke in der eigenen Mädchen_arbeit hingewiesen. Wir haben diskutiert, Sensibilisierungsprozesse angestoßen und ausprobiert. Im folgenden Praxisbeispiel zeigt sich exemplarisch, wie TransRäume in 11 Das gilt auch für Rassismus: Ähnliche blinde Flecken bemängeln antirassistische Mädchen_arbeiter_innen, wenn davon ausgegangen wird, dass alle Mädchen angesprochen sind und sie auf besondere Bedürfnisse, Themen oder Interaktionen von migrantischen Mädchen nicht reagieren und diese nicht gezielt ansprechen.
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einem außerschulischen Mädchenseminar in der »Alten Molkerei« geschaffen werden können. Das Setting: Zwei Teamer_innen begleiten vierzehn 13- bis 14-jährige Mädchen in dem pädagogischen Prozess zum Thema Zukunft, Berufs- und Lebensplanung. Die Themen Lebenskonzepte und Beziehungen liegen den Mädchen sehr am Herzen. Die folgende Szene spielt sich am zweiten Vormittag des Drei-Tage-Seminars ab: »Die Mädchen fordern ein, sich über Beziehungen mit Jungen auszutauschen. Sie wollen mit Jungen flirten lernen, erklärt eine engagiert. Wir, die anwesenden Mädchen_arbeiter_innen, nicken tapfer und denken: ›Oh Scheiße. Erstens sind das nicht unsere Inhalte, zweitens nicht unsere Kompetenzen und drittens: wo ist da die Kritik an Heteronormativität?‹ Wir entwickeln eine Idee: Wir sammeln Beziehungsformen. ›Okay, ihr kennt Heterosexuelle‹ Fragezeichen in den Augen der Mädchen. Wir erklären. ›Was kennt ihr noch?‹ Viele Antworten prasseln auf uns ein: Verarsche-Beziehung, platonische Beziehung, was mit Tieren, Liebesbeziehung, Homosexuellen-Beziehung, SM-Beziehungen, Küssbeziehungen usw. Wir halten ein: ›Und was für Geschlechter kennt ihr?‹ Sie antworten: ›Schwule.‹ Wir nicken. Schreiben das auf. Und ›Transsexuelle.‹ Die Tafel füllt sich dank des Wissens der Mädchen. Wir Mädchen_arbeiter_innen ergänzen zwischendurch die Wandzeitung mit uns wichtigen Geschlechtern. Wir erklären viele Begriffe und Lebensweisen. Es gibt viele Fragen. Wir tauschen uns aus, diskutieren, lachen und reden über verschiedene Beziehungsformen. Schließlich leiten wir auf das gewünschte Thema der Mädchen über: Beziehung mit Jungen. Es entsteht ein gutes, aneinander interessiertes Gespräch, wo die Einzelnen ihre Erfahrungen mit Jungen präsentieren und nicht wenige Tipps zum Kennenlernen ausgetauscht werden. Abschließend sagen sieben der 14 Mädchen, dass sie heute viel Neues gelernt haben. Und Jessica, eine Teilnehmerin, betont, es sei stark gewesen: ›Das mit Transgender habe ich nicht gewusst, dass es so etwas gibt.‹ Mehrere Mädchen pflichten ihr nickend bei.« (Erfahrungsbericht von Svenja Reimann/Ines Pohlkamp aus einem Mädchenseminar 2009 in Frille)
Dieser Bericht zeigt einen pädagogischen Prozess, in dem die Teamer_innen durch ihre Offenheit die Möglichkeit haben, die Mädchen selbst zu Expert_innen des von ihnen gewählten Themas werden zu lassen. Es gelingt, die Mädchen zu einer Sammlung von Beziehungskonzepten und Geschlechteridentitäten einzuladen. Es gibt in dieser Sammlung kein richtig oder falsch, sondern das Gesagte hat immer eine Bedeutung für den Prozess. Doch was passiert auf der Ebene der Performativität? Trans-Geschlechter werden aus der Nische des »NichtAngerufenen« als eine alltägliche Geschlechterform anerkannt. Durch die Benennung, das Füllen des Begriffs gelang es, Geschlechter jenseits
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von Männern und Frauen denkbar zu machen und sie nicht mit einem Stigma zu belegen. Hierfür war es vonseiten der Mädchen_arbeiter_innen notwendig, die Themenfelder ernsthaft zu besetzen und auch auf irritierte Fragen hin diesem Themenkomplex Gewicht zu verleihen. Es sind somit TransRäume geschaffen worden, die Felder jenseits normativer Zweigeschlechtlichkeit eröffnet haben. Ferner wurden die eigenen Vergeschlechtlichungsprozesse und Wünsche an Beziehungsformen und Konzepte auf spielerische Weise thematisiert und infrage gestellt. In einer offenen Atmosphäre wurden die Möglichkeiten, das Zwangssystem Zweigeschlechtlichkeit zu überschreiten, zutage gebracht und interessiert aufgenommen. Zudem wurde – und das ist von grundsätzlicher Wichtigkeit – den Wünschen und Interessen der Mädchen ebenfalls entsprochen, und so konnte das Interesse an Jungen und Beziehungen mit Jungen auch seinen zentralen Raum erhalten. TransRäume eröffnen heißt demzufolge, Mehrdimensionalität und Komplexität statt Einfachheit und Normativität zuzulassen und ggf. zu evozieren.
3 . E in s t i eg in p er f o r m a t i v e s D e nk e n – w id er d i e E i nd eu t ig k e it Doch von der Praxis noch ein Blick zurück auf die theoretische Konzeption der Performativität: Diese bietet reflexive Anknüpfungspunkte, um TransRäume in der Mädchenarbeit zu schaffen, und fundiert, warum es unerlässlich ist, sich den Trans-Leerstellen in der Mädchenarbeit zuzuwenden. Dabei beschreibt das Konzept der Performativität nicht, was ein Subjekt tut, sondern wodurch sich ein Subjekt geschlechtlich konstituiert (vgl. Jagose 2001: 113). Christian Schütte-Bäumer plädiert dafür, diese alltäglichen Identitätskonstruktionen stärker in den pädagogischen Blick zu nehmen: »Mädchen- und Jungenidentitäten lassen sich nicht wegdekonstruieren. Sie sind da, weil sie ständig ›angerufen‹ werden, weil sie in diskursiven Kontexten dem Zwang ausgesetzt sind, Identitäten annehmen zu müssen. (...) Entscheidend für eine wissenschaftliche, reflexive Inaugenscheinnahme getrenntgeschlechtlicher Jugendarbeit indes ist der grundsätzliche Umgang mit Identitätskonstruktionen« (Schütte-Bäumer 2007: 250).
Schütte-Bäumer geht hier von einer zweigeschlechtlichen Anrufung der Jugendlichen aus. Innerhalb der »heterosexuellen Matrix«, die nur zwei Geschlechter voraussetzt, wiederholt sich die Herstellung von diesen
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Geschlechtsidentitäten ständig. Diese Wiederholungen nennt Butler »Performanz« oder »Inszenierung«. »Performativität« bezeichnet demnach einen Sprechakt, der Handlungen in Kopien, Wiederholungen oder Reproduktionen vollzieht. »Die Performativität ist demzufolge kein einmaliger Akt, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist« (Butler 1997: 36).
Durch die ständigen Wiederholungen der geschlechtlichen Körper entsteht eine Art »Natürlichkeit« der binären zweigeschlechtlichen Ordnung, deren Verschleierung und Verdeckung legitimierend wirkt. Dies erzeugt die hegemoniale Vorstellung von Stabilität und Unveränderbarkeit der Zweigeschlechtlichkeit. Die geschlechtliche Performativität ist abhängig von den Machtverhältnissen und den Akteur_innen. Die Akteur_innen bewegen sich im Spannungsverhältnis der sich materialisierenden Normen durch Identifizierungsprozesse und gesellschaftliche Machtlinien (vgl. Butler 1997: 40; 259). Butler zeigt auf, dass Geschlecht »eine performativ inszenierte Bedeutung ist (und damit nicht »ist«), die eine parodistische Vervielfältigung und ein subversives Spiel der kulturell erzeugten Bedeutungen der Geschlechtsidentität (gendered meanings) hervorrufen kann« (Butler 1991: 61). Performativität birgt die Idee der Veränderung von Geschlechtsidentitäten und Genderpräsentationen in sich. Die Vergeschlechtlichung der Subjekte kann sich nach Butler in der Vielfalt der Bedeutungen subversiv zeigen. Identitäten beschreiben heute weniger »Seinsformen« als Herstellungsprozesse von Zugehörigkeiten oder Identifizierungsprozesse. Sie sind Effekte disziplinierender, normalisierender und (sich selbst) regulierender Machttechniken. Damit haben Identitäten nach Butler nie nur einen deskriptiven, sondern immer gleichzeitig einen ausschließenden Charakter (vgl. Butler 1991). Butler fordert ein Verlassen identitätsfixierter Haltungen, um die Reproduktion des Ausschließens zu verhindern und plädiert für eine offene Herangehensweise an die Kategorie Geschlecht. Die geschlechtlichen Identitäten unterliegen zwar den normativen, normalisierenden und regulierenden Machttechniken der hegemonialen Gesellschaften, müssen jedoch ständig performativ reproduziert werden, was auf eine gleichzeitig vorhandene Instabilität hindeutet. »Die enormen Anstrengungen, Identität zu formieren und intakt zu halten, verweisen dabei ebenso sehr auf ihre ›Unnatürlichkeit‹ und Instabilität der
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Kategorie wie auf die Techniken, die notwendig sind, Identitätsgemeinschaften am Leben zu halten« (Hark 1999: 17).
Gleichzeitig fokussiert Butler diejenigen Identitäten, die außerhalb der herkömmlichen Zweigeschlechtlichkeit stehen. »Die kulturelle Matrix, durch die die geschlechtliche bestimmte Identität (gender identity) intelligibel wird, schließt die ›Existenz‹ bestimmter ›Identitäten‹ aus, nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität (gender) nicht vom anatomischen Geschlecht (sex) herleitet und in denen die Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch aus der Geschlechtsidentität ›folgen‹« (Butler 1991: 39).
Die hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit setzt eine geschlechtliche Kongruenz zwischen dem biologischen Sex und dem sozialen/kulturellen Gender bei zugleich gegengeschlechtlichem Begehren voraus. Nach Butler ist diese Kongruenz ein Ideal, das vielfältigen Brüchen unterliegt. Geschlechtlich nonkonforme Personen eint die oft sichtbare und (gewollt oder ungewollt) thematisierte Instabilität und Divergenz dieser Identitätenvorgabe am Beispiel der eigenen Person. Sie stehen mit ihrer Performativität jenseits der Kongruenz und zeitgleich in ihrem Kern, da sie sich in Relation zur Heteronormativität verorten (müssen).12 Aber warum ist die Praxis der Mädchenarbeit weit entfernt von geschlechtlicher Nonkonformität?
4 . S t r a t e g i e n z u r V e r h i n d e r u n g e i n e r n o t w e n d ig e n Auseinandersetzung Innerhalb der geschlechtsbezogenen Pädagogik ist der kritische Rekurs auf Zweigeschlechtlichkeit ein wesentlicher, wobei das Wahrnehmen und Aufbrechen der Zuschreibungen dazugehört. Die Bemühungen, diese Pädagogik aus dem zweigeschlechtlichen Bezug auszunehmen, müssen aber notwendigerweise im Kontext geschlechterhierarchischer
12 Im Bereich der Jungenarbeit hat Olaf Stuve sich mit der paradoxen Verbindung von Jungenarbeit und Queer Theory auseinandergesetzt. Er betont: »Der ständige Zwang zur Wiederholung in der Stilisierung eines phantasmagorischen ›männlichen Ideals‹ verweist selbst auf den imaginären Charakter eines vermeintlich authentischen Originals. Die Authentizität ist vielmehr schon Ergebnis des ›performativen Prozesses‹ (Butler) [...]« (Stuve 2001: 287f.).
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Strukturen, in denen eine Dominanz und Höherbewertung von Männlichkeiten auch heute vielfach noch Alltag ist, scheitern. Bis heute ist die Alltäglichkeit der Existenz von zwei Geschlechtern so diskursmächtig, dass alle anderen geschlechtlichen Inszenierungen in den Bereich des »Exotischen«, des pathologischen Problems oder des absonderlichen, aber unwichtigen Einzelfalls verbannt werden. Mädchenarbeit bleibt diesem Paradox verhaftet. In der Folge argumentieren Pädagog_innen außerhalb und innerhalb der Mädchenarbeit oft gegen die offene Auseinandersetzung mit Transgender. Sie bedienen sich bewusst und unbewusst diverser Strategien, die es ermöglichen, dass das Thema Transgender eine Leerstelle der geschlechtsbezogenen Arbeit bleibt. Diese Strategien entsprechen manchmal den eigenen Positionen von Mädchenarbeiter_innen. Oder aber sie sind mit derartigen Ansichten von Mädchen- oder Jungenarbeitskolleg_innen, Kooperationspartner_innen oder Lehrer_innen konfrontiert. 4.1 »Die haben doch genug mit sich zu tun in der Pubertät!« (Geschlechtersensible) Kinder- und Jugendarbeit sollte nach Corinna Voigt-Kehlenbeck ihre Klientel in ihren (nicht nur geschlechtlichen) Orientierungsprozessen flankieren und begleiten (vgl. Voigt-Kehlenbeck 2008). Insbesondere die geschlechtlichen und sexuellen Identitätsfindungsprozesse verursachen für die Kinder und Jugendlichen, und hier im besonderen Maße für die Jugendlichen in der Pubertät, starke Verunsicherungen. Diesem Wissen entsprechend hat das folgende Argument zunächst seine Berechtigung: »Das Thema Transgender kann man den Jugendlichen doch nicht auch noch antun. Das ist zu viel. Die verstehen ja ihr eigenes Mädchen- und Junge-Sein gar nicht und man darf sie nicht noch mehr verunsichern.«
Hingegen stellt Helga Bilden heraus, dass der Druck, sich geschlechtsidentisch anzupassen, vielfach Leid verursacht und fordert von Fachkräften: »PädagogInnen und Eltern könnten dem gesellschaftlichen Druck und dem Druck der peer-group etwas entgegensetzen: nämlich Anerkennung für das Uneindeutig- und Widersprüchlichsein, für das Überschreiten von Grenzen. Sie könnten Jugendliche unterstützen, die nicht geschlechtsangepasst sind, ihnen helfen, erwünschte und lebbare Selbstkonzepte und Praktiken zu entwickeln, auch passende Subkulturen zu finden beziehungsweise zu schaffen« (Bilden 2001: 145).
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Dass aber der Prozess der vereindeutigenden Vergeschlechtlichung die eigentliche Katastrophe an dem Mädchen- und Junge-Werden ist, nehmen bislang nur wenige Pädagog_innen in den Blick. Jungen müssen lernen auf dem Fußballplatz mitzumachen, müssen sich in Konkurrenz setzen und um Mädchen buhlen. Mädchen müssen stark und selbstbewusst sein, sich mit Schönheit auseinandersetzen, müssen ruhig und angepasst sein und dürfen um Jungen buhlen. Oft ist dies weniger stereotyp, trotzdem müssen sie in dem Prozess die Eindeutigkeit ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit herstellen (vgl. Kolip 1997). Das heißt: Die Präsenz anderer Räume und anderer Geschlechterkonzepte könnte zu einer Entlastung und Bestätigung anstelle einer abermaligen Verunsicherung der Jugendlichen führen. Erst dann wäre es möglich, wie Corinnna Voigt-Kehlenbeck vorschlägt, die Jugendlichen in ihrer geschlechtlichen Suche zu begleiten, um damit die Annahme einer eindeutigen widerspruchsfreien Identität immer (wieder) infrage zu stellen. 4.2 »Die gibt es doch kaum! Oder hast du schon mal eine Transgender in der Mädchengruppe gehabt? Jetzt mal ehrlich!«13 Ja, klar. Und gar nicht wenige. Es gibt nur wenige Studien, die die Anzahl von geschlechtlich nonkonformen Personen erheben, diese basieren oftmals auf rein medizinischen Definitionen und folgen einer Pathologisierungslogik.14 Sicher ist, dass die Anzahl derjenigen Kinder und Ju-
13 Dies ist ein sehr altes sich permanent wiederholendes Argument: Harold Garfinkel erhielt aufgrund der Vorstellung seiner berühmten Intersexuellen-Transsexuellen Agnes-Studie von 1967 folgendes Feedback eines Kollegen: »I don’t see why one needs to pay that much interest to such cases. She [Agnes] is after all a very rare occurrence. These persons are after all freaks of nature« (Garfinkel 2006 (1967): 63). 14 Das Problem an Studien ist die Notwendigkeit der Produktion weiterer Kategorien und damit eine eindeutige Festlegung der Befragten. Dem steht die politische Transgender-Bewegung kritisch gegenüber. Nach Schätzungen – die aufgrund der bereits erwähnten zugrunde liegenden biologischen Kategorisierungen als kritisch zu bewerten sind – beläuft sich allein der Anteil intersexueller Menschen an der Weltbevölkerung auf 1,7 bis 4 Prozent (Fausto-Sterling 2000). Für die USA gibt es eine Schätzung, dass 2-5 Prozent der Männer regelmäßig Crossdressing praktizieren. Für manche Länder wird eine Transgender-Prävalenz von 1:200 geschätzt, http:// ai.eecs.umich.edu/people/conway/TS/DE/TSprevalence-DE.html, [Abruf: 25.03.2010].
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gendlichen, die sich nicht geschlechtlich eindeutig verhalten oder kleiden und einen Anpassungsprozess in Elternhaus, Kindergarten, Schule und Hort erleben, wesentlich höher ist als die Anzahl derjenigen, die sich selbst als »Transgender« bezeichnen. Erzählungen von Mädchen, die nicht nur Mädchen sein wollen, Mädchen, die gerne Jungen sein wollen, Mädchen, die nicht verstehen, warum sie bestimmte Kleidung tragen sollen und Mädchen, die sich habituell und direkt »unerwartet« verhalten, sind gar nicht so selten. Ob für diese Mädchen jemals die Frage aufkommt, ob Transgender der bessere Begriff für ihre geschlechtliche Selbstbezeichnung wäre, kann hier nicht beantwortet werden, denn bislang haben sie keine Wahl. Sie sind Mädchen. Und bleiben Mädchen, so zeigt es ihnen oftmals auch die Mädchenarbeit, selbst wenn es dort gelingt, eine größere Bandbreite an Mädchenrealitäten zu eröffnen, und deren emanzipatorischer Ansatz »ohne Mädchenbild« (vgl. Rauw 2001) arbeitet. Hier entsteht oft das Problem, dass Mädchen_arbeiter_innen widerständige und brüchige Praktiken der Mädchen, bezogen auf ihr Mädchen-Sein, nicht lesen können oder wollen, weil sie selbst ihren eigenen Mädchennormen folgen. Wenn Mädchen sich schön machen wollen, wird dies zum Beispiel oft als erotischer Bezug auf Jungen/Heterosexualität gelesen und es wird selten gefragt, wie man dies auch jenseits von heterosexuell aufgeladener Erotik interpretieren könnte. Möglich wäre beispielsweise auch, Spaß an der Herstellung von Schönheit zu haben, ein homoerotisches Begehren ausdrücken zu wollen oder erst jetzt die finanziellen Ressourcen und Möglichkeiten zu haben, sich diesem Thema zu widmen u.v.a.m. 4.3 »Das ist eine Theoriediskussion! Sonst nichts!« Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Diskussion um andere Geschlechter eine rein theoretische sei, die an poststrukturalistische und queere Theorien anknüpft und damit nur für eine marginalisierte Gruppe von Bedeutung sei. Diese theoretische Diskussion speist sich natürlich schon aus queeren Kämpfen, aus Erfahrungen und Widerfahrnissen von Personen, die in der Zweigeschlechtlichkeit einsam wurden und sich neu gruppieren wollten und mussten (vgl. z.B. Jagose 2001, Wilchins 2006). Ihre Anerkennung, ihre Verlautbarungen, ihre Performativität und ihre Sichtbarkeit können auch für die Mädchenarbeit heute nicht länger ignoriert werden. Es ist somit kein theoretisches, sondern vor allem ein alltagsrelevantes und politisches Anliegen, die Subjektwerdung jenseits der Zweigeschlechtlichkeit anzuerkennen und damit eige-
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ne Bilder von Mädchen und Jungen zu revidieren und neue Räume zu eröffnen. Der Blick, den diese Theorien auf die aktuellen Geschlechterverhältnisse offenlegen, ermöglicht ein komplexes Verständnis hierarchischer Geschlechterstrukturen. Queere Theorien nehmen diverse Ungleichheitskategorien in den Blick und betonen, dass der Rekurs auf die Kategorie Mädchen nicht aus dem gewaltsamen Geschlechterverhältnis herausführt, sondern dieses bestärkt (vgl. Butler 1991). Die Anregungen aus diesen Auseinandersetzungen sollten die Perspektive auf die Mädchenarbeit ändern, ihr neue Paradigmen ermöglichen und sie mit deren Hilfe in ein neues Licht stellen. 4.4 »Lass uns doch erst mal zu Homophobie und so arbeiten. Das machen wir ja bislang auch noch nicht!« Es ist in der bisherigen pädagogischen Diskussion bis vor zehn Jahren üblich gewesen, verschiedene Ungleichheitskategorien wie Klasse, Rassismus und Gender gegeneinander aufzurechnen. Es ist einfach zu sagen: Wir betrachten die eine Kategorie und dann können wir die andere Kategorie nicht mehr betrachten. Das heißt, aus einer dominanten Kultur heraus findet häufig eine aktive Ausblendung statt. Eine weiß-deutsche heterosexuelle Mädchen_arbeiter_in muss sich die Themen Homosexualität und Rassismus »anlernen«, um sie aktiv in einen Prozess einzubringen. Hingegen trägt eine lesbische Mädchen_arbeiter_in bspw. immer schon die Ungleichheitskategorie Homosexualität indirekt oder direkt, bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv mit in den Prozess hinein.15 Die eigenen intersektional verwobenen gesellschaftlichen Positionen, sollten von Anfang an für Mädchen_arbeiter_innen Teil der pädagogischen Selbstreflexion sein. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, um TransRäume in der Mädchenarbeit zu eröffnen.
15 Ob sie dabei offen homosexuell (bisexuell, trans, etc.) ist oder verdeckt lebt, ist dabei irrelevant. Ich gehe davon aus, dass sie in der Regel in ihren Argumenten, Vermittlungsstrategien und in ihrer Inszenierung immer wieder ihre Auseinandersetzungen um das Thema bewusst oder unbewusst einfließen lässt. Ähnlich verhält es sich bei Mädchen_arbeiter_innen, die sich biografisch mit Klasse, Ethnizität, Rassismus oder Antisemitismus auseinandersetzen (mussten).
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4.5 »In meiner Klasse ist keine_r trans oder so! Der eine ist vielleicht schwul.« Das Verwechseln von trans und homo basiert auf einem Unwissen und es ist wichtig, die Nähe und auch die Distanz dieser beiden Lebens- und Beziehungskonzepte in der Mädchenarbeit zu kennen und sie benennen zu können. Im Alltagsempfinden werden Personen, die eine TransGeschlechteridentiät haben, automatisch mit Homosexualität verbunden. Männer mit Röcken oder Nagellack sind dann schwul, Frauen mit kurzen Haaren oder burschikosem Auftreten lesbisch. Es ist wichtig, zwischen trans- und homosexuell zu unterscheiden. Zwar haben beide Bereiche möglicherweise (aber nicht notwendigerweise) etwas mit Geschlechterkonzepten zu tun, und homosexuelle wie trans-idente Personen sind Angriffen, Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt. Trotzdem kann ein schwuler Mann bzw. eine lesbische Frau durchaus ein eindeutig männliches bzw. weibliches Geschlechterkonzept leben. »Trans« meint hier, in einer Person, ohne Berücksichtigung der sexuellen Orientierung, ein widersprüchliches, eigenes »Geschlechterkonzept« jenseits von (nur) Mann oder Frau zu leben. Natürlich ist der Umgang mit Transgender in der Mädchenarbeit immer auch mit einer Infragestellung der heterosexuellen Matrix verbunden. Eine Transgender-Person in der Mädchengruppe ist – liebt sie_er ein Mädchen – vielleicht lesbisch, – liebt sie_er einen Jungen_ – vielleicht heterosexuell? Liebt sie_er eine andere Transgender-Person vielleicht transliebend? Die Einordnung der Geschlechterentwürfe im Zusammenhang mit den sexuellen Orientierungen wird unmöglich. Sie_er liebt womöglich queer. Und das sagt dann erst mal nichts zum eigenen Geschlecht oder zum Geschlecht der anderen Personen aus. Insofern hinterfragt jede Auseinandersetzung mit Transgender schon die heterosexuelle Matrix, denn Worte, Taten und Erklärungsmodelle der bisherigen Mädchenarbeit versagen. Homosexualität und Transsexualität, homosexuelles Leben und Trans-Geschlechterkonzepte müssen beide in den Auseinandersetzungen um Inhalte und pädagogische Konzepte der Mädchenarbeit an Einfluss gewinnen. 4.6 »Ich stelle mich mit dieser Thematisierung doch ins Abseits. Die sollen mich und meine Mädchenarbeit ernst nehmen.« Eine letzte Strategie, sich nicht der Auseinandersetzung um Transgender zu stellen, speist sich aus der Angst vor der Stigmatisierung der eigenen Person und des pädagogischen Feldes. Die Mädchenarbeit hat bereits
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seit Jahrzehnten immer wieder Themen für Kinder und Jugendliche fruchtbar gemacht, die sich in anderen pädagogischen Settings erst etablieren mussten und die sich zum Großteil bis heute noch nicht etabliert haben. Themen wie Lesbischleben, Schönheitsideale, Sexualität, Schwangerschaft, sexueller Missbrauch, Gewalt gegen und unter Mädchen, Zukunft, Religion und Rassismus sind nur einige der Themen, die in der Mädchenarbeit angegangen werden. Sie stellt sich damit immer wieder mit brisanten Themen für die Mädchen zur Verfügung, um ihnen einen Platz in der Gesellschaft für grundlegende Auseinandersetzungen zu bieten. Oft war und ist die Besetzung dieser Themen mit Angst vor der eigenen Courage verbunden. Häufig gab es Diskussionen, ob diese Thematisierungen die Mädchenarbeit ins Abseits stellen könnten. Dies ist aber bislang nicht geschehen. Im Gegenteil: Mädchenarbeit hat sich längst ein eigenes Standing verschafft, wagt sich weiter hervor und muss – so meine These – sich jetzt mit Wünschen nach gesellschaftlicher Freiheit und Selbstbestimmung dem Thema Transgender widmen. Denn Gründe gibt es genug, diesem Thema endlich den Raum zu geben, der ihm auch in der Mädchenarbeit gebührt.
5 . T r a ns n s g e nd n d er e r in d er e r (g ( g e s c h l ec e c ht h t er e r b e z o g en enen) p ä d a g o g i s c he n A r b e i t z u m T hem a m a c h en Neben nichtheteronormativer Sexualpädagogik, queerem Anspruch der Mädchenarbeit, feministischen Perspektiven und intersektionalem Anliegen bietet die Forderung nach TransRäumen der Mädchenarbeit neue Anknüpfungspunkte. Die Berücksichtigung von TransRäumen in der geschlechterreflektierenden Pädagogik der Mädchenarbeit erfordert aber zunächst eine Rückbesinnung auf: • den Prozess der Vergeschlechtlichung, der ein lebenslanger Prozess ist. Gemeint ist hier, dass Vergeschlechtlichungsprozesse ein ständiges Austarieren der geschlechtlichen Identitäten innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse bedeuten. Vergeschlechtlichungen entsprechen nie vollkommen einem der beiden hegemonialen Geschlechter. Es gilt, davon auszugehen, dass diese Prozesse brüchig und widersprüchlich sind. Sie sind als »transgenerale« Vergeschlechtlichungsprozesse fruchtbar zu machen, um unterschiedliche dominante Machtverhältnisse zu kritisieren; • die Kritik an der Kongruenz von Sex, Gender, Desire (»heterosexuelle Matrix«). Diese Facetten der geschlechtlichen Zugehörigkeiten sind
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keinesfalls immer nur in einem zweigeschlechtlichen Dualismus zu benennen; die Bedeutung von Körpern. In der Regel geht Mädchenarbeit von einem weiblichen Körper aus, was sich an primären und (angenommenen) sekundären Geschlechtsmerkmalen festmacht. Zwar wird kein Mädchen vor dem Besuch der Mädchengruppe normiert, dennoch ist ein »Kind mit Jungennamen« oder ein »Junge im Kleid« zumeist nicht in Mädchentreffs oder Mädchengruppen erwünscht. Hier gilt es, die Auseinandersetzungen um weibliche Körper(-inszenierungen) um Auseinandersetzungen mit TransKörper(-inszenierungen) zu erweitern und sie im Komplex Kritik an Schönheitsnormen und Normierungen zum Thema zu machen; die Integration des Gedankens und Wissens um andere – nicht auf weiblich oder männlich reduzierte – Geschlechter. Grundlegend sollten Mädchen_arbeiter_innen (und Jungen_arbeiter_innen) eine eigene Haltung der Selbstverständlichkeit von Transgender entwickeln. Außerdem kann Transgender ein ausgewählter Lehrinhalt (wie auch Homosexualität u.v.a.m.) sein. Transgender kann in den Methoden als Fragestellung oder als Möglichkeit auftauchen und damit für den Verlauf der geschlechtsbezogenen Pädagogik »Normalität« qua Anrufung werden.
Mädchenarbeit ist Teil des Diskurses um Geschlechterverhältnisse und bringt sich durch ihre Protagonist_innen auch mit ihren eigenen Begriffen und Konzepten von Geschlechtern ein. Dies bedeutet einen reflexiven Umgang mit Identitäten und ein Bewusstsein für soziale ausschließende Ungleichheitskategorien zu haben und deshalb verstärkt die Selbstbezeichnungen der Mädchen in den Blick zu nehmen, bzw. mit ihnen zu erarbeiten, wie sie sich am liebsten bezeichnen wollen. Das bedeutet auch, Gender als interdependente Kategorie wahrzunehmen, zu fördern und zu thematisieren. Grundsätzlich ist das kongruente, widerspruchsfreie Vorbild der Frau in der Mädchenarbeit (und das Vorbild des Mannes als Imagination in der Mädchenarbeit) zu hinterfragen. Wir brauchen mehr Transgender-Irriationen in der Mädchenarbeit. Das können Trans-Personen sein oder Personen, die reflexiv und offen mit ihrer Vergeschlechtlichung umgehen und eigene Irritationen, Widersprüche und Anpassungsmomente dechiffriert haben. Damit wird das Thema TransRäume relevant für alle geschlechtlichen Lebensentwürfe von Mädchen_arbeiter_innen wie auch für die Begegnung mit Mädchen.
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6 . F a z it : T r a n s R ä u m e Dieser Artikel versucht Impulse zu geben, um jede Mädchen_arbeit für TransRäume zu öffnen. Es zeigt sich, dass es notwendig ist, sich auf bestehende Annahmen zurückzubesinnen und bewusste Erweiterungen der Konzepte vorzunehmen. In der Regel wird möglichst allgemein in der heteronormativitätskritischen Pädagogik, zu der ich die Friller Mädchen_arbeit zähle, von der Unterstützung bspw. des »Herausbilden(s) eines geschlechtlichen und sexuellen Selbstverständnisses« ausgegangen, »das selbst beweglich bleibt und Achtung und Wertschätzung gegenüber anderen Existenz- und Lebensweisen beinhaltet« (Hartmann 2009: 57). Aber allein die Beweglichkeit und der flexible Umgang mit zwei Geschlechtern füllt die Leerstelle der fehlenden TransRäume nicht. Es gilt, neben den Auseinandersetzungen um geschlechtliche Mädchen- und Jungen-Wissenskomplexe, Trans-Themen und -Räume als eigenständiges Wissensgebiet zu integrieren und zu bearbeiten. Das bedeutet notwendigerweise (noch) nicht die Einführung einer neuen GeschlechterGruppe (Mädchen-, Jungen- und Transgendergruppe), denn dafür sind Trans-Geschlechter (heute noch zu) unsichtbar und darüber hinaus rechtlich, gesellschaftlich oder performativ kaum anerkannt. Um an diesem Anerkennungsprozess teilzunehmen und den Mädchen und Jungen Entlastungs-, Entwicklungs- und Möglichkeitsräume zu geben, muss die Mädchenarbeit eigene Konzepte überarbeiten und Anknüpfungspunkte für eine Trans-Praxis bieten: Sie sollte in einem ersten Schritt ihre eigenen dualistischen Konzepte und die Analyse von Hierarchie und Ausschluss überarbeiten. Damit rücken Identitätskonstruktionen in den Fokus, die nicht einfach als das »Andere«, das »Besondere« zu stigmatisieren sind: »Dabei geht es nicht darum, andere Identitätspositionen als ›andere‹ sichtbar zu machen und für eine Anerkennung dieser ›anderen‹ (lesbischen, schwulen, transexuellen, intersexuellen etc.) Positionen einzutreten. Durch die Forderung, ›andere‹ Identitäten (an-)zuerkennen, wird die normative Identitätsordnung nicht infrage gestellt« (Plößer 2009: 61f.). .
Denn damit stünde – und da schließt sich der Kreis wieder – die Mädchenarbeit im gleichen Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit. Plößer plädiert dafür, in pädagogischen Prozessen, nicht das Doing Gender zu negieren, aber »multiple Verortungsmöglichkeiten« (vgl. ebd. 62) anzubieten. Helga Bilden geht in ihrer Darstellung noch weiter, sie will, dass in der Benennung und Performativität am Beispiel »der Geschlechter und
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Sexualitäten: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Intersex-Personen, Transsexuelle, Transgender-Personen sichtbar werden, wenn sie genannt, repräsentiert werden – nicht nur als Pathologien, sondern in ihren Lebensweisen und Selbstdefinitionen [...], wenn sich heterosexuelle Frauen und Männer auf die Begegnung mit ihnen einlassen, dann werden die Alltagsannahmen des Zweigeschlechter-Systems, mit denen wir dieses dauernd wiederherstellen, brüchig werden. [...] Es geht [...] darum, den Raum von Geschlecht zu überschreiten« (Bilden 2001: 144). Ich unterstütze diese Position und fordere deshalb, dass als Konsequenz aus bisherigen queeren und dekonstruktivistischen Diskussionen TransRäume in die Mädchenarbeit eingeführt werden. Dies ist meines Erachtens ein notwendiger Schritt, um, wie Helga Bilden es fordert, die Kategorie Geschlecht zu überschreiten, um sie bedeutungslos zu machen. In TransRäumen gibt es eine Offenheit für viele Geschlechter. In der Mädchenarbeit wäre es ein erster Schritt, konkret von Mädchen bzw. Frauen, Männern bzw. Jungen, Transgender und anderen Geschlechtern zu sprechen. Immer. Ohne Ausnahmen. Des Weiteren wäre die Aufgabe von Mädchen_arbeit jenseits von Heteronormativität und Stereotypen die Herstellung von Trans-Performativität. Dies heißt, Räume und Orte zu schaffen, in denen Transgender-Personen oder solche, die sich im Umfeld dieser Räume bewegen, sich verorten/bewegen/wohlfühlen können. Ein Raum für Widersprüche und Ambivalenzen, für Eindeutigkeiten und Uneindeutigkeiten, für alle instabilen Geschlechterentwürfe trägt dem Rechnung, dass Geschlecht immer instabil und veränderbar ist. Deshalb – so meine zentrale These – bedeutet die Errichtung von TransRäumen eine Entlastung für die Mädchen und für die Mädchenarbeit. Sie versucht zur Sprache und zur Anerkennung zu bringen, was alle Mädchen und Mädchen_arbeiter_innen immer wieder bewegt: Wer oder was zwingt eigentlich Mädchen dazu, Mädchen zu sein? Wie werden eigentlich Mädchen gemacht? Wer sind eigentlich Mädchen? Ein Ziel von feministischer Mädchenarbeit ist es, Kritik zu entwickeln, um Herrschaft und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen zu überwinden: TransRäume sind ein Prinzip, ein Symbol und ein Umsetzungsangebot, diesem Ziel Rechnung zu tragen. Sie sind keine konkreten Räume für Transgender-Personen. TransRäume sind offene Geschlechterräume, in denen alles, was innerhalb und außerhalb von (zweigeschlechtlichen) Hierarchien Bewegung verursacht, nicht verschwiegen, nicht nur geduldet oder ausgegrenzt wird. Trans-Orte in der Mädchenarbeit schaffen keinen normativ freien Raum, schaffen aber das Mehr an Möglichkeitsräumen, die mit geschlechtlicher Lust und Reflexion zu Normalitätskonstruktionen belegt
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werden können. Sie sind eine notwendige Konsequenz aus einem Jahrzehnt queerer und dekonstruktivistischer Debatten rund um geschlechterreflektierende Pädagogik. Es ist Zeit für mehr geschlechtliche Nonkonformität!
Literatur Bilden, Helga (2001): Die Grenzen von Geschlecht überschreiten. In: Fritzsche, Bettina, et al. (Hg.): Dekonstruktive Pädagogik. Opladen: Leske & Budrich, 137–147. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Frankfurt/M.: CampusVerlag. Fausto-Sterling, Anne (2000): The Five Sexes, Revisited. The Sciences, July/August 2000, 17–23. Feinberg 1996: Transgender warriors. Boston: Beacon Press. Garfinkel, Harold (2006 (1967)): Passing and the Managed Achievement of Sex Status in an »Intersexed« Person. In: Stryker, Susan/Whittle, Stephen (Hg.) (2006): The Transgender Studies Reader, New York/London: Routledge, 58–93. Hark, Sabine (2.Aufl. 1999): deviante subjekte. Opladen: Leske & Budrich. Hartmann, Jutta (2009): Heteronormativität. In: Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW e.V. (Hg.): Queer! Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit?, betrifft Mädchen 2/2009, 52–58. Haug, Frigga (2009): Erinnerungsarbeit – Mädchenarbeit in Genderzeiten. In: Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW e.V.: Mädchenarbeit in Genderzeiten. Fünfter Vernetzungskongress Mädchenarbeit in NRW 15.–17.10.2008 in Schwerte, 24–34. Jagose, Annamarie (2001): Queer Theory. Berlin: Querverlag. Kolip, Petra (1997): Geschlecht und Gesundheit im Jugendalter, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales, 2001: Schwule Jugendliche: Ergebnisse zur Lebenssituation, sozialen und sexuellen Identität, Hannover. Plößer, Melanie (2009): Dekonstruktion-Feminismus-Pädagogik. Königsstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag. Rauw, Regina (2001): Was ist eigentlich ein Mädchen? In: 9. Rundbrief der LAG Mädchenarbeit NRW (2007), 29–33.
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»Du Gymnasium - Mädchen!« Zur Relevanz der Kategorie Klasse ELLEN WESEMÜLLER
Dieser Text will zeigen, dass die Herrschaftskategorie »Klasse« konzeptuell in der politischen Bildungsarbeit mit Mädchen fehlt. Im Kontrast dazu beleuchtet er die Ebenen, auf denen »Klasse« in der Mädchenarbeit sehr wohl eine Rolle spielt. Er ist damit ein Plädoyer für eine klassenreflektierende Mädchen_arbeit. Im ersten Kapitel möchte ich den gesellschaftlichen Hintergrund skizzieren, vor dem Mädchen_arbeit in der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« stattfindet. Wie haben sich die Klassenverhältnisse verschärft, und wie wirkt sich das auf pädagogische Handlungsfelder aus? Im zweiten Kapitel möchte ich aufzeigen, wie »Klasse« in der Mädchen_arbeit konzeptuell ausgeblendet wird. Dabei betrachte ich zunächst die aktuellen pädagogischen Text- und Theorieproduktionen sowie Untersuchungen zum Thema Armut. Dann stelle ich die Entwicklung in Konzepten und Texten aus Frille sowie die Friller Praxis in Seminaren und im Team dar. Im dritten Kapitel zeige ich beispielhaft, wie klassenreflektierende Mädchen_arbeit aussehen könnte. Im Fazit werde ich einen politischen Ausblick wagen. Zunächst ein paar einleitende Worte darüber, warum ich den Begriff »Klasse« benutze, wann »Milieu« und »Schicht«, und warum ich mich nicht auf Begriffe wie »soziale Benachteiligung« oder »Bildungsbenachteiligung« beziehe, die im pädagogischen Gebrauch häufiger anzutreffen sind. Ich verwende »Klasse« als analytische Kategorie, die sich auf die Herrschaftsform des Kapitalismus bezieht, welcher unterschiedliche
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ökonomische Realitäten erst hervorbringt.1 Ich verstehe »Klassengesellschaft« nicht nur als Struktur, sondern auch als soziales Verhältnis zwischen Menschen, die in dieser Ungleichheitsökonomie Positionen einnehmen und diese damit reproduzieren. Die marxistische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft erkennt dabei zwei Hauptkategorien: die Klasse der Geld- und Produktionsmittel Besitzenden und die der davon Freien. So gesehen gibt es in der HVHS Frille nur eine Klasse: die der (zukünftigen) Lohnabhängigen. Mit dieser Erkenntnis ist jedoch noch nicht viel gewonnen. Denn die zu einer Klasse Gehörenden sind oft weder in ihrer ökonomischen Position noch in jedem anderen gesellschaftlichen Verhältnis gleich, – prägend sind außerdem Gender, sexuelle Identität, Hautfarbe, Migrationserfahrung, Bildung, Befähigung etc. Ich möchte deshalb für eine intersektionale Perspektive auf Klasse plädieren, die diese Verhältnisse zusammendenkt und verschränkt. Des Weiteren bedeutet gemeinsame Klasse nicht, eine gemeinsame Identität zu haben. Deshalb möchte ich in meiner Analyse der Mädchen_arbeit nicht nur darauf schauen, wo die Mädchen im sozialen Raum stehen, sondern auch, wie sie sich selbst verorten. Zur Beschreibung der Auswirkungen des Herrschaftsverhältnisses »Klassengesellschaft« auf den kulturellen Bereich, erscheint mir die Analyse der »Lebensstile« des französischen Soziologen Pierre Bourdieu geeignet, der auch »feine Unterschiede« der »Milieus« zu erfassen vermag (vgl. Bourdieu 1987). Die Begriffe »soziale Benachteiligung« oder »Bildungsbenachteiligung« zitiere ich lediglich. Ihrer Idee nach implizieren sie falsche Versprechungen: Sie suggerieren, dass die Benachteiligung durch Klasse (auch mit Hilfe der Pädagogik) verringert oder gar aufgehoben werden kann, und dann alle im Vorteil sind. Der Kapitalismus baut jedoch auf den Unterschieden von Klassen auf – wer Klassenunterschiede nicht will, muss also auch Klassenverhältnisse angreifen. Auf der kulturellen Ebene ist der Begriff »Benachteiligung« Ausdruck der Defizitorientierung eines Diskurses der Mittelklasse, die vorgibt, selbst ein »hohes« Maß an sozialer Kompetenz und Bildung zu haben, das den »benachtei-
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Dass der Gebrauch des Begriffs »Klasse« nicht per se von einer (kapitalismus-)kritischen Haltung zeugt, zeigt der Blick über den deutschen Tellerrand: So hatte bspw. die englische Premierministerin Margaret Thatcher kein Problem damit, von der »working class« zu sprechen, während sie die Gewerkschaften zerschlug. Auch bürgerliche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit stehen nicht zwangsläufig im Widerspruch zum Gebrauch dieses Begriffs, wenn sie z.B. den »Ausgleich« zwischen Klassen anstreben (vgl. Heinrich 2005: 12).
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ligten« Mädchen fehle. Betrachtet man jedoch die Identitäten und Selbstbeschreibungen der Mädchen, so bezeichnen sie sich selbst nicht als »sozial benachteiligt« oder »bildungsfern«. Sie sagen vielleicht: »Meine Mutter hartzt.« Die Verwendung des Begriffs »soziale Benachteiligung« zeugt daher nicht zwangsläufig von klassenbewusster Pädagogik. In seiner Perspektive auf die »Benachteiligten« unterschlägt er, dass auch die »Bevorteilten« eine bestimmte Position in der Klassengesellschaft einnehmen. Der Begriff »Klasse« hingegen benennt dieses Verhältnis; seine Differenzierung in Mittelklasse, Arbeiterklasse, Unterschicht/Prekariat macht die »feinen Unterschiede« der Milieus deutlich. Zuletzt noch etwas zu der Klasse, der ich angehöre: Ich wurde in eine weiß-deutsche, bildungsbürgerliche Mittelklasse geboren, meine Eltern sind als Mann und Frau verheiratet, haben studiert und sind bzw. waren verbeamtet. Ich habe einen Ausbildungs- und zwei Studienabschlüsse. Während und nach meiner Ausbildungszeit habe ich mein Leben mit dem Geld meiner Eltern, Stipendien und Honorartätigkeiten (u.a. mit Mädchen_arbeit) finanziert. Seit Juni 2009 beziehe ich als Selbstständige ALG II.
1 . G es e l l s c h a f t l i c he V er s c h ä r f u ng en u n d p ä d a g o g is c h e H a n d l u n g s r ä u m e Die Kategorie »Klasse« und die Analyse der »Klassengesellschaft« spielen im gesellschaftlichen Diskurs kaum eine Rolle, obwohl sich Klassenverhältnisse täglich reproduzieren und zuspitzen. So zeigt der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht des Deutschen Bundestages2, dass die Löhne zwischen 2002 und 2005 um durchschnittlich 4,8 Prozent sanken (Deutscher Bundestag 2008:12). Gleichzeitig stiegen die höheren Einkommen – die berühmte Kluft zwischen Arm und Reich wurde tiefer und die Schere zwischen Geschlechtern3, bestimmten Migrationshin2 3
Die rot-grüne Bundesregierung initiierte diesen Bericht in ihrer ersten Legislaturperiode. 2001 entstand der erste, 2005 der zweite Bericht. Frauen bekommen deutlich niedrigere Löhne als ihre männlichen Kollegen. Im europäischen Vergleich sind sie in Deutschland einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Ein Grund ist, dass der Niedriglohnsektor wächst und der Geschlechterunterschied dort besonders groß ist: Hier arbeiten 24,8% der Männer und 47,7% der Frauen (vgl. ebd.:13). Der vermehrte Einstieg von Frauen in die Lohnarbeit bei gleichzeitigem Verlust der Vollzeitarbeit und die Zunahme flexibler Arbeitsverhältnisse wird deshalb auch »Feminisierung der Arbeit« genannt (vgl. Haug 2004).
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tergründen4 und Altersgruppen5 ging weiter auseinander. Die Gründe für diese dramatische Verschlechterung sind schnell benannt: Die Verarmung durch Hartz IV seit 2004 sowie die Ausweitung des Niedriglohnsektors (z.B. durch Ein-Euro-Jobs), die weitere Prekarisierung durch Kurzarbeit aufgrund der Finanzkrise seit September 2008 sowie die Sparmaßnahmen im sozialen Bereich, um die großzügigen Geschenke der Konjunkturpakete an die Wirtschaft wieder auszugleichen. Auch im Kulturbetrieb wird auf die Unterschicht eingedroschen (vgl. Altenhain et al. 2008). In sogenannten Selbstverbesserungsshows und der Ratgeberliteratur werden jene Diskurse gestärkt, die behaupten, dass arme Kinder zu dick seien, weil sich ihre Eltern nicht um sogenannte gesunde Ernährung und Bewegung kümmerten,6 dass arme Eltern ihre Kinder nicht erziehen könnten7, dass keiner mehr wisse, wie man sich benehme8, und dass man sich nur richtig anstrengen müsse, um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen.9 4
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Wer einen Migrationshintergrund hat, den benachteiligt der Ausbildungsund Arbeitsmarkt stärker. 37% der Männer und knapp 50% der Frauen mit Migrationshintergrund über 25 Jahre haben keinen beruflichen Abschluss. Dabei ist es weniger der Status der Migration an sich, sondern der sozioökonomische Hintergrund, der diese Ausschlüsse verursacht. Nicht alle Migrant_innen sind gleichermaßen »benachteiligt«: Betroffen sind vor allem Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund (siehe auch Artikel von Busche/Cremers in diesem Buch). Armut trifft Kinder härter als Erwachsene. Die aktuelle amtliche Statistik 2005 weist für Kinder bis 15 Jahre eine Armutsrisikoquote von 12% aus. Eine OECD-Studie vom September 2009 befand, dass trotz der (im Vergleich) hohen Transferleistungen an Kinder fast jedes sechste Kind in Deutschland in relativer Armut lebt (d.h. von weniger als 50% des Durchschnittseinkommens). Im OECD-Schnitt ist es nur jedes achte Kind (vgl. OECD 2009). Die Klassenverhältnisse wirken sich auch auf die schulischen Leistungen und Abschlüsse aus. Die erste PISA-Studie 2000 hatte ergeben, dass der Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und elterlichem Beruf in Deutschland so stark ausgeprägt ist wie nirgendwo sonst (vgl. OECD 2001). »Liebling, wir bringen die Kinder um!«, RTL2, 2006; »The biggest looser«, ProSieben, 2009. »Die Supernanny«, RTL, seit 2004; Michael Winterhoff 2008: »Warum unsere Kinder Tyrannen werden«, 21 Auflagen; ders. 2009: »Tyrannen müssen nicht sein«, 12 Auflagen. »Teenager außer Kontrolle – Letzter Ausweg Wilder Westen«, RTL BootCamp, 2007. »Deine Chance – 3 Bewerber 1 Job«, ProSieben, seit 2007.
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Zunächst gab es – außer den großen Hartz-IV-Demonstrationen – keinen Widerstand des Prekariats. Die Aufstände in Frankreichs Vorstädten im Herbst 2005 – ausgelöst durch den Tod zweier migrantischer Jugendlicher, die bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei starben – schürten dann jedoch bei Politiker_innen auch hierzulande die Befürchtung, die Wut der Marginalisierten könne auf Deutschland übergreifen.10 Statt eine emanzipatorische Pädagogik zu fördern, greift der Staat jedoch zu ordnungspolitischen Maßnahmen, um Aufstände (präventiv) zu bekämpfen.11 Gleichzeitig etabliert sich eine produktorientierte Pädagogik, die nicht nur nichts gegen Klassenverhältnisse hat, sondern die eigene Marktorientiertheit auch noch stolz inszeniert.12 Die Politik versucht aber auch, mittels klassischer Pädagogik (vorbeugende) Befriedung zu leisten, wenn Jugendliche aus verarmten Schichten durch präventive Programme zur »Gewaltfreiheit« erzogen werden sollen.13 Auch der Kinder- und Jugendförderungsplan Nord10 Kleinere Störungen im Betriebsablauf gab es dann auch: Im März 2006 sandte die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln einen Hilferuf in die Republik, die Lehrer_innen stünden der Gewalt ihrer Schüler_innen ohnmächtig gegenüber. Doch die Verschärfung der Klassenverhältnisse hatte nicht nur Auswirkungen auf die Unterschicht. So zeugten die Diskussionen über die Amokläufe von Erfurt (2002), Emsdetten (2006), Winnenden und Ansbach (2009) von Überraschung darüber, dass die jugendlichen Täter nicht aus armen Verhältnissen stammten. 11 Seit Dezember 2007 bewacht die Sicherheitsfirma »Germania« 13 Schulen in Neukölln. Den Zuschlag bekam die Firma vom Berliner Senat, weil sie sich unter anderem beim Wachschutz der Agentur für Arbeit verdient gemacht hatte. Statt Sozialarbeiter_innen oder Street Worker_innen patrouillieren seit 2006 »Kiezläufer« in einigen Stadtteilen Berlins – Menschen mit Migrationshintergrund und prekären Arbeitsmarktchancen, die als billige Ordnungskräfte fungieren. 12 So führte die Rütli-Schule eine Siebdruck-AG ein, die im CorporateDesign-Stil eines Unternehmens Kleidung mit dem Aufdruck »Rütli« produziert. 13 So bspw. die Projekte des »Europäischen Sozialfonds«, dessen Motto lautet: »In Menschen investieren!« Die geförderten Projekte sind laut Eigendarstellung »bewusst in multikulturellen und sozial schwachen Jugendmilieus angesiedelt [...]. Denn gerade benachteiligte Jugendliche [...] haben nicht selten erhebliche Defizite in den Schlüsselkompetenzen: Denkbar schlechte Startchancen im Berufsleben! Um den Teufelskreis von Ausgrenzung aus Arbeit und Gesellschaft zu durchbrechen, setzt das Projekt bei den emotionalen Kompetenzen an: Benachteiligte Jugendliche,
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rhein-Westfalens, für die Anträge in Frille ausschlaggebend, fokussiert »sozial benachteiligte Jugendliche«, um sie »zu demokratischem und sozialem Engagement« anzuregen und ihre »Partizipation und gesellschaftliche Teilhabe« auszubauen (vgl. NRW KJP 2007).
2 . D a s b e r e d t e S c hw e ig e n ü b e r K l a s s e i n d er p ä d a g o g i s c he n T ex t - u n d The o r ie p r o d u k t i o n nd eo Pädagogische Texte zu sozialen Ungleichheiten müssen diese begreifen, um sie in pädagogische Konzepte zu übersetzen, sodass sie in der Praxis thematisiert werden können. In der Wahl ihrer Fokusse und Begriffe zeigt sich jedoch, dass die pädagogische Text- und Theorieproduktion Klassenverhältnisse oft überhaupt nicht erfassen kann.14 Probleme, die strukturellen und gesellschaftlichen Charakter haben, werden häufig auf einer rein diskursiven Ebene verhandelt (»Wie wird etwas gesagt oder gehört?« statt: »Wie ist etwas beschaffen?«). Ich möchte exemplarisch zwei Begriffe herausstellen, die mir problematisch erscheinen, weil sie das Mitdenken von »Klasse« in der Mädchen_arbeit verhindern. 2.1 Lebenslage statt »Klasse« oder »Milieu« In pädagogischen Texten wird zumeist nicht von »Klasse«, sondern von »Lebenslage«15 gesprochen. Nahnsen führte fünf Kriterien für Lebenslagen ein: Versorgungs- und Einkommensspielraum, Kontakt- und Kooperationsspielraum, Lern- und Erfahrungsspielraum, Muße- und Rege-
Migranten und jugendliche Straftäter [...] lernen, sich sozial einzugliedern, aktiven Bürgersinn zu entwickeln und finden leichter den Weg in die Beschäftigung« (ESF 2009). 14 Ähnliches lässt sich für die Gesellschaftstheorie sagen. Bezeichnenderweise fehlen auch hier oft Intersektionalitäts- oder Interdependenztheorien, die Klasse explizit und konzeptionell zum Thema machen und damit Anknüpfungspunkte für eine klassenreflektierende Pädagogik bieten könnten. Ausnahmen sind Hooks 2000, 2003; Klinger/Knapp 2005, 2008; McRobbie 2006; Degele/Winker 2007, 2009; Kemper/Weinbach 2009. 15 Auch Marx und Engels sprechen von »Lebenslagen«. Sie arbeiten den Begriff jedoch nicht theoretisch aus und gebrauchen ihn nicht, wie »Klasse«, analytisch (vgl. MEW Bd. 2: 327; Bd. 3: 61, 338, 385, 472; Bd. 4: 490; Bd. 23: 476, 511, 672).
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nerationsspielraum, Dispositions- und Partizipationsspielraum (Nahnsen 1975: 148). Enders-Drägesser passte diese Kriterien auf geschlechtsspezifische Lebenslagen (Enders-Drägesser 1996, 1999) sowie auf Armut und Geschlecht an (Enders-Drägesser/Sellach 2002). Viele Texte in der Mädchenarbeit beziehen sich auf das Konzept der »Lebenslage« (bspw. Kosman 2008; Rauw 2008). Das Lebenslagenkonzept hilft, anders als der Begriff »Klasse«, die Spezifik der Alltagsumstände der Mädchen zu zeigen. In seiner Differenziertheit verliert der Begriff jedoch die makropolitische und -ökonomische Dimension aus dem Blick. So werden Klassenverhältnisse zu einem undurchsichtigen Feld, einem bunten Strauß vielfältiger Faktoren, die in keinem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen und nirgends ihren Ursprung zu haben scheinen. Ich möchte hingegen vorschlagen, den Begriff »Milieu« zu verwenden, der auf die Klassengesellschaft als den Entstehungszusammenhang ökonomischer Unterschiede verweist, zusätzlich kulturelle, soziale und symbolische Unterschiede einbezieht und die spezifischen Lebensstile einschließt, die sich aus diesen Unterschieden ergeben. 2.2 Armut statt politischer Ökonomie Seit zehn Jahren gibt es vermehrt Studien zu Kinderarmut in Deutschland (vgl. Holz et al. 2000, 2003, 2005; Chassé et al. 2003; Shell Jugendstudie 2006; World Vision Kinderstudie 2007), die – trotz der naheliegenden Thematik – Klasse nicht reflektieren. Holz stellt für die AWOStudie fest, dass sich Kinderarmut durch Auffälligkeiten bzw. Beschränkungen in den Lebenslagen zeige und zu Entwicklungs- und Versorgungsdefiziten sowie zu sozialer Ausgrenzung führe. Die Zukunftsperspektive der Kinder werde so beeinträchtigt. In der Lebensbewältigung mit restriktiven Ressourcen entwickelten sie aber auch »ganz einmalige Kompetenzen« (Holz 2006: 16). Dabei stellt die Autorin auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Auswirkung von Armut fest. Arme Mädchen hätten in der Grundversorgung (Nahrung, Kleidung, Wohnen) Defizite, Jungen hingegen im sozialen und gesundheitlichen Bereich. In Bezug auf soziales Verhalten stellt die Studie fest: »Arme Mädchen wehrten sich weitaus mehr als nicht arme [Mädchen, E.W.] und erreichten die Werte der Jungen.« (Holz 2006: 19) Beide Gruppen hätten allerdings große Entscheidungsspielräume – bei Kleidung, Spielkameraden, Schlafengehen, Heimkommen, Hausaufgaben und Fernsehen. So verfügten arme Kinder über eine »hohe, zum Teil überfordernde Autonomie« (Holz 2006: 18).
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Auch Beisenherz stellt im Vergleich mehrerer Studien einen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Verarbeitung von Armut fest: Durch die Anforderungen in der Familie würden Mädchen eher »frühreif«, was sich durch »akzelerierte körperliche und sexuelle Entwicklung« zeige (Beisenherz 2002: 84). Jungen dagegen neigten zu »normabweichendem Verhalten« mit dem Ziel der »Geldbeschaffung«: »meist durch Kinderarbeit diverser Form, durch Handel oder auch Kleinkriminalität« (ebd.). Den Studien ist gemein, dass sie geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen (wollen) und damit (unbewusst) stereotype Geschlechterrollen reproduzieren: Das nährt unter anderem das klassistische16 Vorurteil des Bildungsbürgertums, Arme seien nicht emanzipiert und sexistisch.17 So zeugen die Studien manchmal eher von der Verurteilung von Armen als von der Verurteilung von Armut. Dieser schiefe Eindruck hängt auch mit der konzeptuellen Verengung der Studien zusammen: Statt des gesamten sozialen Raums fokussieren sie nur die Armen. Auch hier ist der defizitäre Blick auf die prekären Schichten auffällig. Wo die Bezeichnung »Defizit« bei der materiellen Grundversorgung noch einer Realität entspricht – arme Kinder haben real weniger Geld zur Verfügung – ist diese Setzung bei der »gesundheitlichen« Lage schon uneindeutiger: Wer definiert zum Beispiel, was »gesunde Ernährung« ist? Und was ist »gesünder«: dick oder dünn? (vgl. Schorb 2009) Von »kulturellen« oder »sozialen« Defiziten zu sprechen, ist fast unmöglich. So wird armen Kindern kulturelle und soziale Kompetenzen abgesprochen, wo sie massive soziale Kompetenzen aufweisen (wie Kleidung, Essen, Fahrkarten organisieren; Kinder mit erziehen; Versorgungsnetzwerke aufbauen und pflegen) und über kulturelles Wissen verfügen (über Interessenvertretung, Familiengeschichte, Migrationserfahrung, Mehrsprachigkeit). Das Bild der defizitären Armen bleibt auch im Widerspruch dazu bestehen, dass sogar empirisch festgestellt wird, dass arme Kinder »ganz einmalige Kompetenzen« haben. Diese werden im selben Atemzug als »zum Teil überfordernd« dargestellt – eine respekt-
16 Den Begriff »klassistisch« halte ich nur für bedingt sinnvoll, weil er auf soziales Verhalten und Vorurteile fokussiert und damit suggeriert »es genüge, das Bewusstsein in Ordnung zu bringen, um die Gesellschaft in Ordnung zu bringen« (Adorno 1972: 460). Das, so Adorno, ist der Prototyp bürgerlicher Ideologie. 17 Dieses Vorurteil wirkt auch in der rassistischen Variante, wenn »Migranten«, »Muslimen«, »Afghanen« etc. unterstellt wird, sie unterdrückten »ihre« Frauen. Statt die Haare der Frauen verschleiert der eigene Sexismus damit seine patriarchalen Strukturen.
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volle, anerkennende und wissbegierige Haltung für diese Kompetenzen fehlt völlig. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der pädagogischen Textproduktion der Begriff »Lebenslage« den der »Klasse« ersetzt hat, der Fokus auf »Armut« die Analyse der »Klassengesellschaft«. Dies hat u.a. zur Folge, dass arme Kinder als defizitär gebrandmarkt werden, eine Sichtweise, die weder die Position der Sozialforscher_innen und Pädagog_innen in der Klassengesellschaft thematisiert, noch (in Konzepte übersetzt) den Mädchen wirksame und nachhaltige Strategien an die Hand geben kann, sich für ihre Interessen einzusetzen, und die erst recht nicht ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse zum Tanzen bringt. Es müssen deshalb neue Ansätze entwickelt werden, die dem Herrschaftsverhältnis »Klasse« gerecht werden.
3. In Frille Die Friller Pädagogik arbeitete in den 80er-Jahren mit Jugendlichen, die geringe ökonomische Zukunftsaussichten hatten, und entwickelte anhand der gewonnenen Erkenntnisse ihren Fokus auf Geschlecht. Im Verlauf ihrer Geschichte hat die Friller Mädchen_arbeit der Verwobenheit von Geschlecht mit anderen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Konzepte daraufhin erweitert – vor allem in Hinblick auf Heteronormativität, Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit und Rassismus. Die Herrschaftskategorie »Klasse« ist dabei aus dem Blick geraten. Dabei ist es nicht so, dass »Klasse« im Friller Kosmos keine Rolle spielt, im Gegenteil. Nicht nur in der Begründung der Anträge, auch in den Seminaren sind wir mit Klassen konfrontiert: Die Mädchen kommen mindestens zur Hälfte aus der Arbeiterklasse oder Unterschicht, während die Teamer_innen größtenteils studiert haben und einen bildungsbürgerlichen Mittelklassestatus besitzen. Wir sind mit Klassenverhältnissen konfrontiert, wenn wir mit Kolleg_innen über unsere biografischen Erfahrungen sprechen, wenn wir von unserem Alltag erzählen, Politik diskutieren oder uns darüber austauschen, wie wir die Mädchen wahrnehmen. Wir kämpfen gegen Klassenverhältnisse, wenn wir mehr Lohn für unsere Mädchen_arbeit einfordern, oder bestärken diese, wenn wir über unsere Arbeitsverhältnisse schweigen. Kurz: »Klasse« ist überall.
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3.1 »Klasse« in Projekten, Konzepten und Texten Wie genau »Klasse« aus den Konzepten verschwunden ist, will ich anhand der Textproduktionen der »Alten Molkerei Frille« nachzeichnen. Das ist wichtig, um nachzuvollziehen, auf welcher theoretischen Grundlage die Mädchen_arbeit heute stattfindet, die Klasse thematisiert oder verschweigt. Ausgangspunkt der Friller Pädagogik war »die Situation von jungen Erwachsenen angesichts bestehender und drohender Arbeitslosigkeit« (HVHS 1988: 6), ein Thema, bei dem »Klasse« eine wichtige Rolle spielen könnte. Die Pädagogik sprach Jugendliche an, die »aufgrund sozialer und schulischer Probleme als Benachteiligte gelten, Schwierigkeiten mit dem Finden von Ausbildung und Arbeit haben, arbeitslos sind« (ebd.). Den Fokus »Jugendarbeitslosigkeit« spiegeln auch die Titel der Projekte18 und Publikationen wider (vgl. Glücks 1983, 1985). Als gesellschaftlichen Hintergrund ihrer Arbeit nennen die Pädagog_innen die zunehmende Arbeitslosigkeit Jugendlicher bei gleichzeitiger Schulzeitverlängerung und die damit einhergehende Verunsicherung derer Zukunftsperspektiven. Schon in den Anfängen fokussiert die Friller Pädagogik nicht »Klasse«, sondern »soziale Benachteiligung«. Es ist jedoch eine Einbettung des Begriffs in gesellschaftliche Diskurse und ökonomische Realitäten zu erkennen, wenn eingeschoben wird, dass die Jugendlichen nur als benachteiligt »gelten«, und wenn gesellschaftliche Verschiebungen auf Arbeitsverhältnisse bezogen werden. In den Seminaren befragten die Pädagog_innen die Jugendlichen zu ihren Wohnverhältnissen, Hobbys und Körperbildern. Dabei stellten sie fest, dass es eine geschlechtsspezifische Reaktion auf die drohende Arbeits- und Perspektivlosigkeit gab: »Mädchen/ junge Frauen [...] erwiesen sich als risikobereiter, phantasievoller und handlungsfähiger in Konfliktsituationen; sie nutzten unsere Angebote wesentlich kreativer für ihre eigenen Interessen« (HVHS 1988: 7). Dem Schwerpunkt »soziale Benachteiligung« wurde daraufhin die Geschlechtsspezifik hinzugefügt: Klassenlagen wurden anhand von Geschlechterlagen spezifiziert.19 Als Ziel geschlechtsspezifischer Arbeit wurde unter anderem eine »Hinterfragung des gesellschaftlichen Arbeitsbegriffes und seinen Konsequenzen für eine gleichberechtigte, gegenseitig anerkennende Haltung der Geschlechter zueinander« (ebd.) formuliert. Des Weiteren war die »per18 »Bildungsarbeit im Vorfeld der Jugendarbeitslosigkeit«, Modellprojekt 1985. 19 So im Modellprojekt »Was Hänschen nicht lernt, ... verändert Klara nimmermehr«, 1986 bis 1988.
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sönliche Auseinandersetzung« mit »privaten und beruflichen Bezügen im Alltag« notwendig (ebd.). Hier sind Bezüge auf gesellschaftliche Diskurse – wie die Hinterfragung des Arbeitsbegriffs (nicht jedoch der Klassengesellschaft) – zu erkennen sowie die Erkenntnis, dass diese Verhältnisse auch die Pädagog_innen durchdringen, und deshalb reflektiert werden müssen. Entgegen dem eigenen Anspruch, beide Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren, wurde in den folgenden sieben Jahren das Thema »soziale Benachteiligung« in den Texten kaum erwähnt. Erst 1995 gab es dazu wieder Publikationen (Drogand-Strud 1995, 1998; Glücks 1996; Jantz 1997). Außer bei Jantz geht es jedoch auch hier nicht um »Klasse«. Die damalige Leiterin der geschlechtsbezogenen Erziehung, Elisabeth Glücks, schreibt, dass auf der Ebene von Einfluss- und Machtsphären für Frauen wenig erreicht worden sei, weder durch Gesetze noch über finanzielle Ressourcenverteilung (Glücks 1996a: 11f.). Dadurch wandle sich auch die Mädchenarbeit: »Es scheint sich eher die Mädchenarbeit Platz zu nehmen, die versucht, [...] auf die zentrale Frage der Macht und Einflussnahme auf strukturellem und gesellschaftspolitischem Gebiet Antworten zu finden« (Glücks 1996b: 116). Mädchenarbeit definiert sie wie folgt: »das, was Mädchenarbeit sein kann: [...] Verteilungskampf um Räume, Arbeitsplätze, finanzielle Mittel mit entsprechenden (zwischenmenschlichen) Konflikten zu andersdenkenden KollegInnen und Vorgesetzten« (Glücks 1996b: 117). Damit stellt Glücks die Geschlechterfrage stark in den Vordergrund, was für die Analyse dieses Herrschaftsverhältnisses (Patriarchat) ein politischer Zugewinn ist. Aus den Zitaten geht jedoch nicht mehr hervor, ob es »nur« um die Gleichstellung von Männern und Frauen geht oder auch noch um die Aufhebung von Klassenunterschieden. Damit läuft sie Gefahr, Klassenverhältnisse zu verschleiern. 2001 gab es eine konzeptionelle Neuorientierung der Friller Mädchen_arbeit (vgl. Rauw 2001). In einem Sammelband beschreiben die Pädagog_innen ihren neuen Fokus in Bezug auf Interkulturalität, Aggression, sexuelle Orientierungen und Konkurrenz. »Soziale Benachteiligung« kommt als Diskriminierungskategorie nicht vor, Verteilungskämpfe spielen keine Rolle mehr. »Klasse« ist zu diesem Zeitpunkt aus den Texten vollständig verschwunden. Veröffentlichungen, die soziale Ungleichheit ansprechen, gibt es erst wieder ab 2008 (vgl. Pohlkamp 2008; Busche/Cremers 2009; von Wirth 2009). In einigen Texten geht es auch um klassenreflektierende Bildungsarbeit. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in der Friller Mädchen_arbeit erst nur um »soziale Benachteiligung«, dann verstärkt auch
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um Geschlecht und zuletzt kaum noch um »soziale Benachteiligung« ging. »Klasse« als Analysekategorie spielte kaum eine Rolle. Konzeptuell umgesetzt wurde eine klassenreflektierende Mädchen_arbeit nie: Wo »Klasse« punktuell mitgedacht wurde, entstammte sie der Bildungs- und Defizitorientierung eines Mittelklasse-Diskurses. Die Aufgabe der Friller Mädchen_arbeit ist es nun, »Klasse« wieder verstärkt in die Praxis zu integrieren. 3.2 »Klasse« in der Praxis Ich möchte nun die pädagogische Praxis in Frille unter dem Aspekt »Klasse« beleuchten. Vor meinem Erfahrungshintergrund betrachte ich dabei drei Ebenen: die der Mädchen, die der Teamer_innen und die Beziehungsebene zwischen beiden.20 3.2.1 Die Mädchen
Welche »Klasse« von Mädchen kommt nach Frille? 2009 gab es sechs Seminare mit Gesamtschulen, fünf mit Berufskollegs, drei mit Förderschulen und die »Wilde Woche«. Frille erhebt keine Sozialdaten der Teilnehmer_innen, aber die Jugendlichen aus Berufskollegs, Haupt- und Förderschulen sowie Teile der Gesamtschuljugendlichen gelten aufgrund ihrer schulischen Einstufung bzw. Aussortierung in zukünftige Arbeitslose bzw. Ausbildungsplatzlose im gesellschaftlichen Diskurs als »sozial benachteiligt«. Mit Ausnahme der »Wilden Woche«, die in den Osterferien stattfindet, demnach auf Freiwilligkeit basiert und zu der überwiegend Mädchen aus der Umgebung mit einem MittelklasseHintergrund kommen, teamen wir das restliche Jahr mit Mädchen, deren Eltern überwiegend Arbeiter_innen, prekär Beschäftigte oder Arbeitslose sind. Klasse zeigt sich im Seminarraum als objektive Realität (»Klasse an sich« bei Marx). Einige Beispiele aus dem Friller Alltag sollen das verdeutlichen. Zum Kennenlernen setzten wir manchmal die Methode »Vier-Ecken-Spiel«21 ein. Bei der Frage: »Wie viele Sprachen sprichst 20 Diese Ebenen lassen sich auch analytisch nur schwer trennen, in der Praxis jedoch beeinflussen sie sich permanent gegenseitig. 21 Eine Methode, bei der zu einer Frage vier Antwortmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Mädchen positionieren sich je nach Gegebenheit bzw. Meinung in den vier Ecken des Raumes. Bei der Frage »Wie viele Sprachen sprichst du?« stellen sich diejenigen in die erste Ecke, die nur eine Sprache sprechen, in die zweite, die zwei Sprachen sprechen usw.
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du?« und: »Wie viele Geschwister hast du?« bleibt die erste Ecke meist leer, in der letzten stapeln sich Mädchen und fragen: »Wo stelle ich mich hin, wenn ich fünf Sprachen spreche/sieben Geschwister habe?« Dieses Beispiel zeigt neben der Realität der Mädchen, dass manchmal schon unsere Methoden für ein Milieu konzipiert sind, das nicht dem der Teilnehmer_innen entspricht. Oft kommt Klasse zum Ausdruck, wenn Mädchen über ihre Zukunftsvorstellungen und Berufsperspektiven sprechen. Eine Methode, die wir hier manchmal einsetzen, ist »Körperumrisse«22. Als einmal in keinem der Bilder eine berufliche Vorstellung der Mädchen auftauchte, fragte eine Teamerin: »Habt ihr denn gar keine Vorstellung davon, was ihr mal werden wollt?« Betretenes Schweigen. »Habt ihr denn in der Schule noch nie darüber geredet?« Kopfschütteln. Ein Mädchen sagte: »Ich will bald für ein halbes Jahr ein Praktikum bei Netto machen.« Da wir es in den Seminaren nicht nur mit »Klasse an sich« zu tun haben, sondern auch mit den Selbsteinschätzungen und Identitäten (»Klasse für sich« bei Marx), ein Beispiel, wie Mädchen ihre eigene (hier: Gender-)Position in den Seminaren artikulieren und einschätzen. Um in die Diskussion zu kommen, setzen wir die Methode »Der heiße Preis«23 ein. Dort gibt es unter anderem die Frage: »Seid ihr benachteiligt? Diskutiert!« Die Mädchen nennen dann oft, wo, wann und wie sie von Teilhabe ausgeschlossen sind. Trotzdem kommen sie am Ende zu dem Ergebnis, dass sie nicht benachteiligt werden. Oft sagen sie dann, dass sie gar nicht wollen, was sie nicht können. Dabei zeigt sich ein scheinbarerer Widerspruch: Einerseits können sie ihre Lage sehr gut einschätzen und artikulieren. Andererseits fühlen sie sich nicht benachteiligt. Wie lässt sich dieser Widerspruch interpretieren? Nach Klinger und Knapp entspringt dieser Widerspruch der kapitalistischen Widersprüchlichkeit selbst, einer Gesellschaft, die permanent Ungleichheiten produziert und permanent Gleichheit verspricht (vgl. Klinger/Knapp 2005: 1). Haug und Gschwandtner finden in einer Analyse von Schulaufsätzen zum Thema Zukunft, dass nahezu alle Mädchen in ihren Zukunftsvisio-
22 Auf großen Papierrollen werden die Umrisse der Mädchen gemalt. Die Frage lautet: »Wie stelle ich mir meine Zukunft vor?« Die Teilnehmer_innen malen, schreiben und kleben ihre Vorstellungen auf das Papier. 23 Die Methode ist angelehnt an die Fernseh-Quiz-Show »Jeopardy!«. Zwei Teams beantworten Fragen, die ihrem Schwierigkeitsgrad nach in Punkten abgestuft sind. In Frille haben wir Fragen zu den Themen »Schule«, »Liebe«, »Familie« etc. entwickelt, die in Pantomime, Diskussionsrunden oder Einzelerzählungen beantwortet werden.
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nen nicht über die Realitäten (wie hohe Scheidungsraten, Arbeitslosigkeit) reflektieren. Ihr privates Leben scheint so nicht in dem Zusammenhang zu stehen, in dem es (wahrscheinlich) stattfinden wird. Die Autorinnen interpretieren: »Der Wunsch, Hausfrau zu sein, kommt vornehmlich aus den Schichten, deren Leben sozial verunsichert ist [...]. Es sind dies auch die Schülerinnen ohne Lehrstelle, mit fremder Muttersprache, im Wartestand [...]. Die Hausfrauenrealität ist in diesen Fällen schöne Utopie« (Haug/Gschwandtner 2006: 23). Dies schließt an Bourdieu an, der die Selbstbeschränkung als »amor fati«, Liebe zum Schicksal, ansieht: Als eine Strategie, mit den Unmöglichkeiten umzugehen, sie als selbstgewählte Entscheidung zu benennen. Diese Wahl sei »freilich eine unfreiwillige Wahl, durch Lebensumstände geschaffen, die alles außer der Entscheidung für den ‚Notwendigkeitsgeschmack’ als pure Träumerei ausschließen« (Bourdieu 1987: 290). Ein Ausspruch eines Mädchens aus dem Friller Alltag möchte ich aus intersektionaler Perspektive interpretieren, um ihre Selbstbeschreibung in Bezug auf Klasse im Zusammenhang mit anderen Herrschaftsverhältnissen zu beleuchten.24 Um spazieren zu gehen, will ein Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund aus einer Förderschulklasse ihre Stoffschuhe zubinden. Dabei reißt eine Lasche ab. Sie sagt: »Meine Schuhe sind kaputt. Ich hasse Deutschland.« Die Teamerin muss lachen und fragt, ob Deutschland daran schuld sei, dass ihre Schuhe kaputtgehen. Das Mädchen sagt: »Ja. Hier geht immer alles kaputt, was wir kaufen.« In diesem Ausspruch sind Erfahrungen unterschiedlicher Diskriminierungen enthalten: die Zugehörigkeit zur Unterschicht, der Rassismus und die gekränkte Ehre (als Mädchen?), nicht schön sein zu können. Das Mädchen benennt, dass seine Kleidung schlechte Qualität hat. Es weiß, dass das daher kommt, was es kauft (und kaufen kann). Es weiß, dass es nicht allein betroffen ist: Mit »wir« können Familie, Verwandtschaft oder andere Mädchen in seiner Lage gemeint sein. Kurz: Das Mädchen weiß um seine Klassenposition. Es sagt auch, wer verantwortlich ist: Deutschland. Nicht direkt, als Produzent seiner Schuhe, sondern als Ort mit System, in dem alles, was für das Mädchen bereitsteht, kaputtgeht. Damit spricht es auch seine Migrationserfahrung an. Es gehört nicht zu Deutschland (und will es vielleicht auch gar nicht), einem Land, das es Rassismus spüren lässt und es – irgendwie damit zusammenhängend – mit schlechten Dingen zum Leben ausstattet. Mit seinem Ausspruch 24 Ich bin mir bewusst, dass ich dabei nicht neutral interpretieren kann, sondern dass meine eigene (Klassen-)Position eine Rolle spielt, sowie mein Wunsch, dass die Aussage des Mädchens meine These unterstützt.
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lehnt das Mädchen eine Opferrolle ab. Es prangert vielmehr die Verletzung seiner Ehre oder seines Rechts an, sich gut kleiden zu können. Es verortet sich in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Es kritisiert diese Zustände. 3.2.2 Die Teamer_innen
Auf dieselbe Weise möchte ich nun in der Analyse der Klassenposition der Pädagog_innen vorgehen. In einem ersten Schritt soll es zunächst um ihre Milieuzusammensetzung gehen (»Klasse an sich«): Die Teamer_innen in Frille kommen aus groß- und kleinunternehmerischen sowie groß- und kleinbürgerlichen Elternhäusern, zum gleichen Teil jedoch auch aus einem proletarischen Milieu. Heute haben fast alle einen Hochschulabschluss und verfügen über hohes kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. In Frille arbeiten sie jedoch als Honorarkräfte, mit einem Tagessatz von 90 Euro.25 Manche haben zusätzlich feste Anstellungen (zumeist halbe Stellen), manche bis zu fünf andere Honorarjobs nebenbei, wieder andere beziehen als Selbstständige ALG II. Wie werden die eigenen Verhältnisse im Teamer_innen-Kreis reflektiert (»Klasse für sich«)? Dies will ich anhand von Beispielen aus den Fort- und Weiterbildungen analysieren, weil dort Raum für Auseinandersetzung und Reflexion ist, und weil sie die Schwerpunkte der Friller Arbeit zeigen: Es gibt in Frille keine Fort- oder Weiterbildung zum Thema »Klasse«. Dabei taucht das Thema immer wieder auf, auch wenn es selten explizit thematisiert wird. In der Reihe »Gender-Kompetenz« ging es 2005 um Beispiele stereotype Männer- und Frauenbilder. Als typisch weiblich wurde die Handtasche markiert, als typisch männlich (bei älteren Männern) ein Schmiss im Gesicht. Ein Teamer_ aus dem subproletarischen Milieu merkte an, dass es sich hier um Geschlechterinszenierungen der Mittelklasse handelt: Im proletarischen Milieu hätten ältere Männer z.B. auch Handtaschen (in Leder, mit einem langen Riemen ums Handgelenk gewickelt) und keinen Schmiss, da sie in keiner Studentenverbindung gewesen seien können. Dieses Beispiel zeigt, dass Geschlechterbilder ohne Klassenzugehörigkeit nicht thematisiert werden können, und dass sich Teamer_innen, deren Milieu nicht mitgedacht wird, selbst zu Wort melden müssen.
25 Das entspricht, je nach Arbeitszeit und Abgrenzungsvermögen, einem Stundenlohn von höchstens 9 Euro, Versicherungsabzüge der Selbstständigen nicht mitgerechnet.
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2006 nahm der Geschlechtsspezifische Arbeitskreis an einer Weiterbildung zu Anti-Bias26 teil. Dabei zeigte sich dieser Ansatz klassenblind: So stellten die Leiter_innen ein Diagramm vor, in der die Anwendung von »Gewalt« als »nicht befähigend« galt. Ein aus dem proletarischen Milieu kommender Jungen_arbeiter machte einen klassenreflektierenden Einwand: Er merkte an, dass ein arbeitsloser Jugendlicher, der sich aus Wut und Hilflosigkeit entscheidet, körperliche Gewalt bspw. gegen seinen Sachbearbeiter anzuwenden, eventuell keine anderen (nicht »gewalttätigen«) Ressourcen zur Verfügung habe. Körperliche Gewalt könne in diesem Falle auch ermächtigend sein (wenn auch nicht notwendigerweise weiterbringend). Diese unterschiedliche Ressourcenverteilung nicht zu thematisieren mache diesen Ansatz ideologisch: Er versuche, den Jugendlichen eine Handlung auszutreiben, ohne ihnen Instrumente der Ermächtigung in die Hand zu geben. Dieses Beispiel zeigt neben den Erfahrungen des Teamers aufgrund seiner Klasse auch, dass die politische Bildung oft von einen Gewalt-Verständnis ausgeht, das auf physische Gewalt reduziert ist und strukturelle Gewalt vernachlässigt, damit blind für Herrschaftsverhältnisse und die unterschiedliche Ressourcenverteilung durch die Klassengesellschaft wird. Während es bei vielen anderen Herrschaftsverhältnissen (Sexismus, Rassismus etc.) als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass die Teamer_innen ihre eigene Verwobenheit und Position in gesellschaftliche Verhältnisse in Fortbildungen reflektieren, scheint dies bei Klasse nicht der Fall zu sein. Dabei sollte es gerade in der politischen Bildung darum gehen, sich als Teil der Klassengesellschaft zu sehen und die eigene Position nicht zu neutralisieren. 3.2.3 Die Beziehungsebene: Mädchen und Pädagog_innen in der Seminararbeit
Auf dieser Ebene soll es darum gehen, wie die unterschiedlichen sozialen Positionen in Frille aufeinandertreffen. In der Mädchen_arbeit setzen wir die Methode »Talkshow« ein. Das soll den Mädchen zu ermöglichen, in einem ihnen bekannten Format über ein Thema, das ihnen am Herzen liegt, zu reden. Es gibt dabei ver-
26 Ein pädagogischer Ansatz, der darauf zielt, Vorurteile zu entdecken, um damit (gesellschaftliche) Diskriminierungen abzubauen. Entwickelt wurde das Konzept Anfang der 80er in den USA für die Grund- und Mittelstufe, in Südafrika wurde der Ansatz nach dem Ende der Apartheid (auch für die Erwachsenenbildung) weiterentwickelt.
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schiedene Rollen wie z.B. Gäste, die gegensätzliche Statements vorbringen, die Moderatorin etc. Eine Mädchen_arbeiter_in saß zunächst still und ohne Rolle im Publikum, um sich, als die Diskussion erlahmte, als »Psychologin« einzuschalten. Das Mädchen in der Rolle der Moderatorin rief sie auf: »Und nun will unsere Sichologin was sagen.« »Psychologin heißt das«, sagte die Mädchen_arbeiter_in. »Hab ich doch gesagt, du scheiß Gymnasium-Mädchen!«, sagte das Mädchen. Die Teamer_in war kurz still, dann lachte sie und sagte: »Wo sie recht hat, hat sie recht!« Durch einen Sprachgebrauch, der dem Mädchen nicht eigen war, bzw. durch die Verbesserung seiner Sprache, hat die Teamer_in, die selbst aus einem proletarischen Milieu kommt, nun aber promoviert, ihre Überlegenheit (wenn auch unbewusst) demonstriert. Das Mädchen hat dies sofort erkannt und thematisiert. Es war ihm zu verdanken, dass »Klasse« im Seminar zum Thema wurde. Am Beispiel eines Musikvideos des Aggro-Berlin Rappers Fler, mit dem die Teamer_innen über Nationalismus und Sexismus sprechen wollten, thematisierten die Mädchen »Klasse«. Unsere Frage lautete zunächst: »Wo spielt das Video?« Wir erwarteten so etwas hören wie: »Berlin, Hauptstadt etc.« Die Antwort der (Friller!) Mädchen lautete: »Märkisches Viertel.« Auf unsere Nachfrage, was das denn sei, sagte ein Mädchen: »Da stehen Schlichtwohnungen.« Auf unsere hilflosen Blicke sagte ein Mädchen: »Na, einfache Wohnungen.« Die Teamer_innen wollten, dem eigenen politisch korrekten Anspruch folgend, Sexismus und Rassismus in einem Medium diskutieren, dass den Mädchen bekannt ist. Sie vergaßen dabei, dass die Mädchen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit in dem Video das für sie dominierende Herrschaftsverhältnis benannten. Auch hier mussten die Mädchen selbst diesen Erfahrungshintergrund benennen, um die Teamer_innen darauf aufmerksam zu machen. Alle Beispiele zeigen die blinden Flecke der Teamer_innen und die Lebensrealitäten der Mädchen, die sich selber stärker mit der Kategorie Klasse beschreiben als die Mädchen_arbeiter_innen.
4 . K la s s e n r e f l e k t i e r e n d e P ä d a g o g i k Zum Abschluss möchte ich noch einige Beispiele nennen, in denen klassenreflektierende Pädagogik in Frille gelungen ist, zunächst aus der Jungen_-, dann aus der Mädchen_arbeit.27 27 Einige wenige Träger der politischen Jugendbildung haben Materialien zu klassenreflektierender Pädagogik entwickelt. Die Bausteine für nichtrassis-
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Beim schon erwähnten »Großen Preis« gab es die Frage: »Was ist ungerecht?« Ein Junge sagte: »Wenn ein Vater arbeiten geht und ein anderer nicht, und beide bekommen das gleiche Geld.« Zunächst ließ der Jungen_arbeiter die Teilnehmer_innen diskutieren. Dann zeichnete er acht Kästchen auf für die Arbeitsplätze und zehn für die Menschen, die sich darauf bewerben. Er fragte: »Wenn alle auf die Arbeitsplätze loslaufen, wie viele Menschen bleiben übrig?« »Zwei.« »Und wenn ich die zwei durch Bewerbungstrainings richtig fit mache, und sie dann vielleicht einen dieser Jobs bekommen, wie viele bleiben dann übrig?« »Immer noch zwei.« »Und wenn ich ihnen jetzt Strafen auferlege, ihnen das Geld kürze, wie viele bekommen dann keinen Job?« »Wieder zwei.« Gemeinsam überlegten die Jungen, wie die Arbeit besser aufgeteilt werden könnte. Sie kamen darauf, dass man die Kästchen teilen könnte, um aus acht sechzehn Arbeitsplätze zumachen. Der Jungen_arbeiter fragte: »Warum macht das keiner?« Schulterzucken. Der Teamer sagte: »Weil der Arbeitgeber, der die Arbeitsplätze vergibt, ein Interesse daran hat, dass es immer zwei gibt, die da drumrum laufen und die anderen unter Druck setzen, damit sie weiter in Konkurrenz stehen und nicht aufmucken.« Dann zeichnete er ein Haus auf und die acht Arbeitsplätze hinein. Auf jedem dieser Arbeitsplätze verdient ein Arbeiter 1000 Euro. Doch alle Arbeit zusammen ist mehr wert als 8000 Euro, sie ist vielleicht das Doppelte wert. Der Besitzer dieser Arbeitsplätze bekommt dieses Geld, ohne überhaupt zu arbeiten. »Ist das gerecht?« »Nein!« Wichtig war dem Teamer, die Frage der Schuld zu klären, bspw. dass ein Arbeitsloser nicht »schuld« daran ist, dass es nicht genügend Arbeitsplätze gibt, dass dies ein gewollter Zustand ist, der sinnlos und unmenschlich und doch änderbar ist. Auch wenn sie stark kognitiv geführt wurde, war es für die Jungen keine abstrakte Diskussion, weil ein Großteil ihrer Eltern »hartzt«. Kritisch anzumerken ist, dass die Episode eher
tische Bildungsarbeit des DGB-Bildungswerks Thüringen enthalten Methoden, die ein besonderes Augenmerk auf die Verwobenheit von Klasse, Rassismus und Geschlecht legen (vgl. DGB-Bildungswerk Thüringen 2008). Dort gibt es z.B. die Methode »Wer macht welche Arbeit«, mit deren Hilfe die Erfahrungshintergründe Geschlecht, Migration und Klasse bearbeitet werden können. Seit 2006 arbeiten die Erfinder_innen der »Bausteine« an einer politischen Bildung für Ökonomiekritik. Sie haben ein Wochenendseminar konzipiert, erklären auf einer Wiki-Internetseite komplexe Zusammenhänge des Kapitalismus und stellen Materialien bereit (vgl. Arbeitsgruppe Politische Ökonomie und Kapitalismuskritik 2009). Diese Bausteine zielen allerdings auch eher auf einen kognitiven Lernprozess.
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einem schulischen Lernprozess glich als der Friller Prozessorientierung, mit (teilweise suggestiven) Fragen und Antworten. Der Kollege arbeitete jedoch mit Bildern und anschaulicher Sprache, sodass die Teilnehmer_innen komplexe Sachverhalte gut nachvollziehen konnten. Kritisch anzumerken ist auch, dass die Beispiele wenig geschlechterreflektiert waren. So sind es oft Frauen, die den Kampf um Arbeitsplätze verlieren; nicht alle verdienen 1000 Euro für ihre Arbeit – Frauen verdienen bei gleicher Arbeit weniger; die Arbeitgeber und Hausbesitzer sind meistens Männer, wobei es gut gewesen wäre, auch von Arbeitgeberinnen und Hausbesitzerinnen zu sprechen. Ich möchte mit diesem Beispiel dazu ermutigen, die Methode geschlechterdifferenziert zu erweitern, und in klassenreflektierender Arbeit nicht davor zurückzuschrecken, auch mal kompliziertere Verhältnisse zu erklären. Auch das »Gewaltdreieck«28 nach Johan Galtung (vgl. Galtung 1980) hat sich meines Erachtens bewährt, um »Gewalt« aus der rein physischen Ecke des Bildungsbürgertumdiskurses herauszuholen und die Klasse-Realitäten der Mädchen zu spiegeln. Die Mädchen schreiben zunächst auf, welche Formen der Gewalt sie kennen. Dann stellt die Teamer_in das Dreieck vor, dessen Spitzen mit »struktureller« »physischer« und »psychischer« Gewalt beschrieben werden. Nachdem die Begriffe geklärt wurden, ordnen die Mädchen ihre Beispiele zu. Dabei ist es auch möglich, Beispiele zwischen den Spitzen zu positionieren. Einmal diskutierten die Teilnehmer_innen lange über ein Beispiel: Der Vater eines Mädchens war bei der Arbeit vom Baugerüst gefallen und konnte nicht mehr arbeiten. Ist das Gewalt? Und wenn ja: Was für eine? Die Mädchen nannten daraufhin immer mehr Beispiele, wo Menschen bei der Arbeit verletzt und verkrüppelten wurden oder sogar starben. Schließlich einigten sie sich darauf, dass auch Arbeit strukturelle Gewalt sei. Hier zeigten die Mädchen ihre Erfahrungen aus ihren Klassenverhältnissen und diskutierten diese. Sie erweiterten ihr Verständnis von Gewalt. Die Teamer_innen in Frille reflektierten die eigene Klasse, als sie sich mit ihren (prekären) Arbeitsverhältnissen auseinandersetzten.29 28 Siehe auch: http://baustein.dgb-bwt.de/C5/Gewaltdreieck.html 29 2006/2007 erstritten die freien Mitarbeiter_innen durch ihre Organisierung eine Lohnerhöhung. Aus dem »Politischen Papier« heißt es zur Begründung: »Seit Jahren sind unsere Gehälter für pädagogische Arbeit gleich geblieben. Bei steigenden Lebenserhaltungskosten kommt dies einer faktischen Lohnkürzung gleich. […] Mit dieser prekären Arbeitslage stehen wir nicht allein da. Seit der Umsetzung der Agenda 2010 haben sich die Arbeitsverhältnisse in der BRD verschärft. Dies gilt auch für den Sektor der Weiterbildung. Laut einer Studie des Kölner Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung aus dem Jahre 2005 bestehen hier drei Viertel
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Klassenverhältnisse spiegeln sich in Arbeitsverhältnissen. Mädchen_arbeiter_innen, die den Mädchen beibringen wollen, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen, dies selbst aber nicht tun, sind nicht nur unauthentisch und unglaubwürdig. Ihre Pädagogik kann meines Erachtens auch nicht wirksam werden, weil sie von etwas nur theoretisch sprichen, von dem sie praktisch keine Ahnung haben.
5 . F a z it Ich halte den in diesem Artikel aufgezeigten Mangel an klassenreflektierender Pädagogik für fatal, weil er sich konträr zu einem Alltag verhält, in dem sich Klassenverhältnisse verschärfen. In dieser historischen Situation braucht der Staat Pädagog_innen dafür, gegen die Verzweiflung junger Menschen anzugehen – oder zumindest ihre Probleme zu ordnen, die sie ohne den Staat gar nicht hätten. Vor dem Hintergrund des gleichzeitig stattfindenden neoliberalen Diskurses »Jeder ist seines Glückes Schmied«, geraten auch die Friller Leitlinien – die Menschen anzuleiten, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen – unfreiwillig in schlechte Gesellschaft. Während ich es für richtig halte, die Mädchen zu ermutigen, ihre Interessen zu vertreten und ihr Leben zu gestalten, halte ich es für fatal, nicht von strukturell
der Beschäftigungsverhältnisse aus Honorarverträgen. […] Laut Ver.di haben sich die Löhne und Honorare im Weiterbildungssektor seit dem Jahr 2003 halbiert. […] Die Träger vieler Weiterbildungseinrichtungen reagieren auf den staatlicherseits verschärften Druck auch mit der inhaltlichen Anpassung ihres Angebots. ARGE und Bundesagentur für Arbeit geben verstärkt Geld für »aktive Arbeitsmarktpolitik« aus. Menschen sollen zu »lebenslangem Lernen« animiert werden, nicht für sich, sondern für die Wirtschaft. ›Human Capital‹ gilt als Ressource, um Arbeitskraft effizienter auszubeuten. Dies ist keine politische Bildung, wie wir sie verstehen oder weitergeben möchten.[…] Wir sind in der Weiterbildung tätig, weil wir sie auch als politische Bildung verstehen. Wir wollen Erwachsenen und Jugendlichen Möglichkeiten aufzeigen, sich und ihre Fähigkeiten zu erkennen, Kraft und Selbstbewusstsein zu erlangen, sich in den gesellschaftlichen Kontext einordnen zu können, Kritik zu üben und zu kämpfen. […] Wir begreifen uns und unsere Arbeitsverhältnisse als Teil der Gesellschaft, die wir kritisieren und verändern wollen. Unser Selbstverständnis ist es, als Bildungsarbeiter_innen diese Zustände zu kritisieren und zu bekämpfen« (vgl. HVHS »Alte Molkerei Frille« 2009).
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bedingten Unmöglichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten (z.B. in Bezug auf Berufswahl, Zukunftspläne) zu sprechen. Dafür müssen nicht nur neue Methoden in der Mädchenarbeit entwickelt und der Kampf am eignen Arbeitsplatz thematisiert werden, die Pädagog_innen sollten neben Gender und Rassismus auch zu »Klasse« qualifiziert werden. Dieses Herrschaftsverhältnis kann nicht nebenbei, als »Querschnitt«, mitlaufen, sondern muss konzeptuell ausgearbeitet und in den Fokus genommen werden. Auch die Begriffe »(politische) Bildung«, »Gewalt« und »soziale Benachteiligung« müssen in Bezug auf ihre Klassenbedingtheit analysiert und hinterfragt werden. Gerade in den Berufs- und Zukunftsseminaren müssen die Teamer_innen die Realitäten von Hartz IV und Prekarität sichtbar machen, statt das Bildungsideal einer Mittelklasse hochzuhalten, deren besten Tage gezählt sind. Das Schweigen über Klassenverhältnisse (sowohl gegenüber den Mädchen in den Seminaren als auch in der Reflexion der eigenen Position) ist ideologisch und trägt weder zur gesellschaftlichen Veränderung noch zu einer individuellen Stärkung der Mädchen bei. Politische Bildungsarbeit muss aber, wenn sie sich selber ernst nimmt, gesellschaftliche (Ungleichheits-)Strukturen benennen, um sie mit persönlichen Realitäten zu verknüpfen. Dies bedeutet, die tagtäglichen Erfahrungen der Mädchen – jenes Gefühl, dass alles irgendwie nicht klappt – zu kontextualisieren, ihnen die »Schuld« für ihr »Versagen« zu nehmen und ihre persönlichen Probleme zum Interesse von allen zu machen. Das soll keinem höheren Ziel dienen als dem, dass sich Mädchen ihrer Interessen bewusst werden, sie formulieren und durchsetzen können. Für ein glückliches und schönes Leben.
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Das Drama ist, dass sie ke ine_r ernst nimmt . Politische Bildung mit sozial benachteiligten Mädchen INES POHLKAMP, MALGORZATA SOLUCH
In diesem Artikel stellen wir unsere Erfahrungen mit sogenannten sozial benachteiligten Mädchen1 dar, die von demokratischen Entscheidungsprozessen oder von leistungsorientierter Teilhabe fast oder ganz ausgeschlossen sind. Sie besuchen die Haupt-, Gesamt- und Förderschulen oder verweigern sich gänzlich dem Schulsystem. Diese Mädchen, die die zentrale Klientel der Friller Mädchen_arbeit2 darstellen, brauchen für eine gelingende Mädchen_arbeit andere Herangehensweisen, als sie in der (politischen) Bildungsarbeit für bildungsnahe Mädchen angemessen sind.3 In diesem praxisnahem Artikel arbeiten wir erste Anknüpfungs1
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Soziale Benachteiligung ist keine Beschreibung oder Charakterisierung einer geschlossenen Gruppe. Damit wird allenfalls eine Position in der Gesellschaft umschrieben, in der vor allem materielle, aber auch rechtliche, kulturelle und soziale Zugehörigkeiten erkämpft werden müssen. Gemäß der Schreibweise in diesem Buch: Wir schreiben Mädchen_arbeit, wenn wir explizit die Mädchen_arbeit in der »Alten Molkerei« meinen und schreiben Mädchenarbeit, wenn wir allgemein über dieses pädagogische Feld sprechen. Das bedeutet nicht, dass die hier aufgezeigten Herangehensweisen nicht auch für bildungsnahe Mädchen von großer Bedeutung sein könnten. Aber die Didaktik und Methodik herkömmlicher Schul- und Bildungsarbeit fokussiert primär kognitive Methodik und produziert Aus-
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punkte von sogenannter sozialer Benachteiligung und politischer Bildung heraus.4
1 . S o z i a l b e n a c ht e i l ig t e M ä d c he n Offiziell sind sozial benachteiligte Jugendliche und damit sozial benachteiligte Mädchen und Jungen5 jene, denen eine besondere Hilfe und Förderung im Sinne des KJHG6 zuteil wird. Sie verfügen über geringe materielle, kulturelle und soziale Ressourcen und sind deshalb oft von einer Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Bildungs- und Berufslaufbahnen in Deutschland sind eng an die soziale Herkunft gekoppelt (vgl. Schröter 2007, Shell Deutschland Holding 2006), auch der Zusammenhang von Bildungschancen und sozialer Ungleichheit ist gleichermaßen bekannt (vgl. Grundmann et al. 2004, Gogolin 2002). Allen sozial benachteiligten Jugendlichen ist mindestens eins gemein: Sie werden stigmatisiert und mit vielfältiger Abwertung konfrontiert, die an soziale Herkunftsstrukturen statt an individuelle Handlungsweisen gekoppelt ist. In zahlreichen Fällen erfahren diese Jugendlichen eine ethnisierende und vergeschlechtlichte Etikettierung, die bestimmte dominante Seins- und Verhaltensweisen für sie bereithält. Wir Autor_innen wenden uns gegen die provokante Etikettierung, sozial benachteiligte Jugendliche seien gewalttätig, leben in der ersten, zweiten oder dritten Generation von Migrant_innen in Deutschland, seien zumeist männlich, disziplinlos, politisch desinteressiert, verwahrlosen und
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schluss und Ausgrenzung, sodass diese Methodik in jedem Fall für sozial benachteiligte Klientel im (außer-)schulischen Setting nicht geeignet ist. Dieser Artikel ist eine Überarbeitung des Artikels von Pohlkamp 2008, erschienen im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, 3/08, 301–305. Im Folgenden wird überwiegend von Mädchen geredet, da der Text die Friller Mädchen_arbeit in den Blick nimmt. Das bedeutet nicht, dass didaktische und inhaltliche Anknüpfungspunkte nicht auch für die Jungen_arbeit zentral werden können, gerade weil wir davon ausgehen, dass die Geschlechtszugehörigkeiten sozial konstruiert sind und damit mit hierarchischen und ungleichen Bedeutungszuweisungen existieren, die aufeinander verweisen. Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII).
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stören ein imaginiertes friedliches Gleichgewicht (vgl. Borg 2006, Detjen 2007).7 Die konkrete Arbeit zeichnet sich durch das Dilemma aus, dass Pädagog_innen mit sozial benachteiligter Klientel arbeiten, ohne aber die strukturellen Benachteiligungen, und damit die Ursachen vieler ihrer potenziellen Problemlagen, beheben zu können. Dies führt bildungspolitische Arbeit an die Grenzen der Möglichkeit, Einfluss auszuüben, der über eine individuelle Persönlichkeitsstärkung hinausgeht. Mädchen_arbeiter_innen bieten beispielsweise im Kontext von Berufsorientierung und Lebensplanung meist Möglichkeiten für Lernprozesse, in denen die Vermittlung von »auch du kannst es schaffen« im Vordergrund steht. Diese neoliberale Logik der individualisierten Probleme wird auch in der Mädchen_arbeit in der »Alten Molkerei« nicht gänzlich durchbrochen. Dennoch richtet diese Mädchen_arbeit den Blick stärker auf die Momente im Leben der Mädchen, die für eine kreative und lustvolle Lebensplanung von Bedeutung sein können, ohne dabei die Bedeutung von Ungleichheitskategorien wie z.B. Klasse, Gender und Ethnizität in den Hintergrund zu drängen. In der Mädchen_arbeit versuchen wir mit ganzheitlichen Sensibilisierungs- und Kontaktangeboten für sozial benachteiligte Mädchen, diesen die Möglichkeit zu geben, sich als gesellschaftliche Subjekte zu verstehen.
2 . Z u r D id a k t i k m it s o z i a l b e na c h t e i l ig t e n M ä d c he n Politische Bildung mit Mädchen aus Förderschulen, aus Verweiger_innenprojekten, aus Jugendgefängnissen und aus bestimmten Subkulturen ist ein Angstfaktor oder eine Herausforderung für viele Pädagog_innen. Einige Mädchen_arbeiter_innen haben Angst vor zu viel Selbstbewusstsein, Stärke, Eigen- oder Machtwillen von Mädchen. Diese Scheu kann gleichzeitig einhergehen mit einer professionellen Hilflosigkeit vor angepassten Mädchen: Wie können angepasste Mädchen überhaupt motiviert werden, für ihre eigenen und auch für politische Belange einzustehen? Sozial benachteiligte Mädchen sind aber beides und vieles dazwischen. Sie sind laut, benehmen sich raumgreifend, sind leise und 7
Demgegenüber, so die Etikettierung, seien Jugendliche aus sozial abgesicherten/gut situierten Familien im Freizeitverhalten an Kunst interessiert, seien Leseratten und engagierten sich in Vereinen. Diesen Jugendlichen bleibt es vorbehalten, sich als politisch interessiert zu bezeichnen (vgl. Detjen 2007).
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benehmen sich angepasst oder wenig rebellisch und sind oft mal so, mal so. Mit anderen Worten: Sie sind keine homogene Gruppe. Es kann demzufolge für die pädagogische Arbeit mit sozial benachteiligten Mädchen kein Patentrezept geben. Hartnäckig hält sich die Sicht auf sozial benachteiligte Mädchen, die angeblich eher rebellisch auftreten (»Ich komm aus Kreuzberg, du Muschi!«8) und möglicherweise laut lachend Männer »verarschen«, um dabei vielleicht andere Seiten ihres Charakters zu kaschieren. Dass alle Bilder von diesen Mädchen unzulässige Verkürzungen sind, ist in der pädagogischen Diskussion nur selten Thema und wird kaum in der praktischen Umsetzung reflektiert. In der Eigenreflexion der Mädchen_arbeiter_innen ist dies ebenfalls ein noch zu erschließendes Neuland. Die Transitbereiche und Zwischenräume im Verhalten dieser Mädchen kommen nur selten zur Sprache. Statt zu fragen, wie kann und muss ich meine pädagogische Haltung, mein Konzept, meine Ansprache, meine professionelle Perspektive dekonstruieren und ggf. ändern, lautet die Frage, die sich wegen der unreflektierten eigenen Sichtweise stellt: Was soll man mit diesen Mädchen, jenen, die den Klischees entsprechen und jenen, die den Klischees nicht entsprechen und eigentlich allen jenen sogenannten sozial benachteiligten Mädchen, machen? Und was können die Ziele einer solchen Bildungsarbeit überhaupt sein? 2.1 Methodenvielfalt Viele sozial benachteiligte Mädchen fühlen sich häufig von Pädagog_innen, Lehrkräften und Ausbildner_innen ungerecht behandelt, unverstanden und ungerecht bewertet. Dass dies in der Regel mit strukturellen und hegemonialen »Dominanzkulturen« (vgl. Rommelspacher 1995) der Schulen und Ausbildungsstätten zusammenhängt, ist heute kein Geheimnis mehr. Politische Bildung kann demgegenüber Spielräume nutzen, um frontales Lernen, Verstehen und Leistungsorientierung durch gemeinsame und ganzheitliche Prozesse zu ersetzen. Damit können Anerkennung und nichthegemoniale Lebensrealitäten9 sowie Solidarität ihren persönlichen und politischen Raum erhalten. 8 9
Zitat eines Kreuzberger Mädchens aus dem Dokumentationsfilm »Prinzessinnenbad« von Bettina Blümner 2007. Nichthegemoniale Lebensrealitäten zu berücksichtigen bedeutet beispielsweise, Migrationsgeschichte und Schwarze Erfahrungen und Organisation sowie Transgender, Intersexen, Homosexualität u.v.a.m. in den Bildungsprozess einzubeziehen. Es bedeutet, Kenntnisse mitzubringen und zuzu-
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Eine Schlüsselfunktion kommt in der Arbeit mit sozial Benachteiligten und politischer Bildung der Auswahl der Methodik zu. Sie speist sich in unserer Mädchen_arbeit beispielsweise aus theaterpädagogischen, erlebnispädagogischen, geschlechtsbezogenen, kooperations- und spielorientierten Ansätzen. Klassische kognitive schulische Methodik wie auf Schreiben basierte Übungen, Frontalunterricht, Vorträge sowie Belehrungen sind zu vermeiden, da sie zu sehr mit dem Schul- und Leistungsprinzip verbunden sind und einen geschlossenen Bildungsprozess voraussetzen.10 Grundsätzlich bietet Partizipation die Chance, Mädchen für einen Bildungsprozess zu motivieren. Ziel ist, sie für einen offenen Bildungsprozess zu begeistern, d. h. sie sollen am Ende des Prozesses das Gefühl haben, entscheidende Interessen (wieder-)gefunden, (versteckte) Fähigkeiten und Leidenschaften entdeckt und neue Wege ausprobiert zu haben. In einem partizipativen Prozess gilt es, Wohlgefühl, Sicherheit und Möglichkeiten zur Bewegung zu geben. Eine Bewegung, die ausgehend von ihrem eigenen Reflexions- und Denkprozess in der Lage sein kann, das eigene Tun und Handeln sowie die eigenen Perspektiven zu verschieben und infrage zu stellen. Partizipation bedeutet deshalb, die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmer_innen anzuerkennen und ihnen Entscheidungsmöglichkeiten bezüglich der Inhalte und des Ablaufs des Seminars zu lassen. Grundsätzlich geht es demgemäß in einem ersten Schritt darum, eine Didaktik zu entwickeln, die die Subjekte wieder in den Mittelpunkt eines offenen Bildungsprozesses rückt und nicht auf Leistung, Ergebnis und Konzentrationsdauer setzt. Konkret bedeutet dies, ein abwechslungsreiches Programm zu bieten, Kontaktangebote zu machen und immer wieder auch Erlebnisse zu schaffen, die für die Mädchen schön sind und die sie als entlastend und bereichernd empfinden. 2.2 Interessierter Blick Sozial benachteiligte Mädchen müssen als Subjekte ernst genommen und akzeptiert werden. Insgesamt sind Offenheit und Akzeptanz eine wertvolle Voraussetzung für die Arbeit mit der Klientel (vgl. Akka/Pohlkamp 2007). Um eine subjektorientierte politische Bildung zuzulassen ist es sinnvoll, in kleinen Gruppen zu arbeiten. Eine solche Bil-
lassen, die weiß-deutschen und an der Normalität orientierten Lebenswelten nicht entsprechen. 10 Vielen Mädchen und Jungen ist z.B. Schreiben ein Gräuel, weil das in der Schule sanktioniert wird. Im schulischen Kontext wird dieses Verweigern oft als fehlendes Interesse oder fehlende Motivation gedeutet.
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dung setzt den Menschen in den Fokus der Auseinandersetzung und nicht a priori den zu vermittelnden Inhalt. Eine notwendige Voraussetzung ist, dass Mädchen_arbeiter_innen Interesse an eingebrachten Ideen wie auch an Auseinandersetzung haben. Dabei sollten die geheimen pädagogischen Lehrpläne reflektiert werden und je nach Teilnehmer_innengruppe hinterfragt werden. Pädagogische Positionen und Privilegien müssen genauso reflektiert werden wie die eigenen Reaktionen auf angeblich unangebrachtes Verhalten von Mädchen. Wie reagiere ich auf laute Mädchen? Wie reagiere ich, wenn ich ethnisierend angesprochen werde (z.B. wenn mich eine »du Kartoffel« nennt)? Was ist für mich Rassismus? Wie ist mein Verhältnis zu Gewalt? Was sehe ich und was schätze/mag ich nicht an scheinbar angepassten Mädchen? Warum erkenne ich diese als angepasst? Welche Werte sind mir wichtig? Und welche Dogmen kann auch ich nur schwer durchbrechen? Und so weiter. Nur in der Reflexion solcher oder ähnlicher Fragen ist es möglich, überhaupt einen offenen, interessierten Blick in der Mädchenarbeit zu gewinnen. Ein interessierter Blick heißt: 1. Neugierde zulassen, ohne aufdringlich zu werden, 2. sich des eigenen Wertekanons bewusst zu sein, 3. die eigene Verortung in Bezug auf Ungleichheitskategorien (Klasse, Geschlecht, Ethnizität, Mobilität, Alter, Bildung etc.) zu reflektieren. Ein interessierter Blick setzt eine innere Haltung von Empathie, Kritikfähigkeit und Selbstreflexion voraus. Ein elaborierter Sprachgebrauch ist oft hinderlich, denn viele Mädchen verwenden je nach Szene, Region, Herkunft und Alter unterschiedliche Szenesprachen/Begriffe/Codes, die sich jenseits des Hochdeutschen entwickelten (z.B. »Kanak Sprak«, vgl. Zaimoglu 1995). Ein Beispiel aus einem Seminar mit einer 7. Klasse einer Förderschule Lernen aus Bremen von 2010 zeigt anschaulich, wie sich diese Mädchen protestierend gegenüber unverständlicher Sprache verhalten und Unwohlsein mit unverständlicher Sprache benennen: »Draußen auf dem Flur fährt ein Junge aus der Jungengruppe Skateboard. Die Mädchen sind abgelenkt und wollen auch lieber raus in den Flur zum Toben. Ich als Seminarleitung möchte aber gerne mit dem Thema Konfliktbearbeitung anfangen, auch wenn die Jungengruppe draußen noch Pause hat. Drei der zehn Mädchen spielen mit ihren Handys. ›Bitte legt die weg oder ich nehme die für die Zeit des Seminars an mich‹, eröffne ich freundlich, aber bestimmt die Runde. Die Handys landen daraufhin in den Hosen- und Handtaschen. ›Heute geht es um Konflikte. Als Erstes werden wir die Konflikte in diesen Raum holen, um dann zu gucken, wie hier andere Lösungen möglich sind.‹ Ein Mädchen schüttelt genervt den Kopf. Ich schaue fragend in ihre Richtung: ›Was ist los Bernadette?‹ Diese mault: ›Nichts.‹ Dann poltert Olga:
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›Nichts ist los. Mir ist langweilig und du sprichst wie eine Anwältin. Nichts ist hier los. Die Jungen haben noch Pause. Und wir?‹ Ich fühle mich in die Ecke gedrängt, reagiere angefasst: Ich gehe auf den Flur, sage dem Jungen, dass er aufhören soll, im Haus Skateboard zu fahren, sondern dass er seine Pause draußen verbringen soll und dass sie sowieso gleich vorbei ist. Dann setze ich mich zurück ins Seminar. Die Mädchen schauen mich irritiert an. Dann hole ich tief Luft und stelle mich dem Konflikt: ›Okay. Was habe ich denn Komisches gesagt?‹«.
In diesem Beispiel wird deutlich, wie eng fehlendes Verstehen mit Langeweile zusammenhängt. Es ist deshalb notwendig, sich den Jugendlichen gegenüber in Worten, Gesten, Verhaltensweisen, Ausdrücken und Ausrufen verständlich auszudrücken. Mädchen_arbeiter_innen sollten beachten, dass sie mit ihren Verhaltensweisen/Begriffen/Codes im Kontakt mit den Mädchen bleiben. Sie müssen nicht deren Sprache adaptieren und sollten dies auch, um nicht peinlich zu wirken, in den meisten Fällen unterlassen, aber sie sollten um den Unterschied von Sprache und Ausdruck wissen und trainieren, Methoden, Übungen und auch Vorträge so zu präsentieren, dass das Gesagte für die Klientel verständlich ist und sie Anknüpfungspunkte für sich finden kann. Außerdem und das zeigt das Beispiel ebenfalls, ist es gut, den Mädchen zuzuhören und sich als Person zur Verfügung zu stellen und Kritik an der eigenen Person und dem eigenen Verhalten zu reflektieren. Diese Situation mündete in eine Diskussion über den bisherigen Verlauf des Seminars. Die Mädchen kritisierten, dass oft gar nicht klar gewesen sei, warum sie dieses Seminar besuchen und dass sie die Teamer_in mit ihren Arbeitsanweisungen oft nicht verstehen, und sie finden, dass sie weniger Pausen haben als die Jungen. Daraufhin – und hier leiten wir bereits zum nächsten Punkt über – wurde nach der Diskussion gemeinsam nach möglichen Vorgehensweisen und Verbesserungen gesucht, um das Seminarsetting gemeinsam neu zu gestalten. 2.3 Prozessorientierung Ein Kernprinzip politischer Bildung mit sozial benachteiligter Klientel ist die prozessorientierte Arbeitsweise. Prozessorientierung geht davon aus, dass ein vorab festgeschriebenes Programm, starr gesetzte Inhalte ebenso wie eine starr gesetzte Struktur des Ablaufs des Seminars für die Lernprozesse hinderlich sind. Die Mädchen_arbeiter_innen in Frille geben eine ungefähre Programmstruktur vor, sind aber jederzeit in der Lage, von einer Übung
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abzuweichen, sie zu ersetzen, eine neue Denkrichtung für den Prozess zu formulieren oder den Schwerpunkt zu wechseln. Das Gleiche gilt für Themen der Mädchen_arbeit. Ist ein von den Lehrer_innen, den Mädchen oder dem Team eingebrachtes Thema durch ein plötzlich neu im Seminar auftauchendes Thema in den Hintergrund gerückt, so wird das für die Mädchen dringliche Thema als Erstes bearbeitet. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Tag zu Sexualaufklärung geplant war, dieser aber ab Mittag in das Thema Gruppendynamik und Mobbing überwechselt. Dies ist eine politische Bildungspraxis, in der der Kontakt mit den Mädchen im Vordergrund steht. Das Vorgehen ermöglicht, den Interessen der Teilnehmer_innen folgen zu können und damit die Motivation zur Teilnahme zu erhöhen. Auf der Seite der Teamer_innen erfordert dies eine hohe Flexibilität und Fähigkeit zur Wahrnehmung des Gruppenklimas, das Ernstnehmen der geäußerten Wünsche (nach Pause, nach mehr Bewegung, nach neuen Themen) sowie eine hohe Kompetenz zu verschiedenen Inhalten arbeiten zu können. Das Prinzip der Prozessorientierung fördert die Verantwortung der Teilnehmer_innen für selbst eingebrachte Wünsche, Bedürfnisse und Ideen. Wesentlich für die Prozessorientierung ist die wohlwollende Annahme, dass alle Beteiligten einen fruchtbaren Prozess eingehen wollen. 2.4 Reflexion als Mädchen_arbeiter_innen Die politische Bildung mit sozial benachteiligten Mädchen benötigt speziell qualifizierte Mädchen_arbeiter_innen, die ihre eigene Haltung und ihr didaktisch-methodisches Wissen reflektieren. Das bedeutet vor allem, dass sie in der Lage sind, ihre eigenen »Dominanzkulturen« (vgl. Rommelspacher 1995) (z.B. heterosexuell, eindeutig männlich, eindeutig weiblich11, weiß-deutsch, etc.) zu reflektieren und sich auch mit ihren eigenen marginalisierten Zugehörigkeiten (z.B. homosexuell, Schwarz, trans-geschlechtlich, etc.) auseinandergesetzt haben. Fachlich müssen die Referent_innen in der Lage sein, prozessorientiert und partizipativ leiten zu können, was ein hohes Methodenwissen, einen sicheren Umgang mit Inhalten sowie eine hohe Flexibilität im Transfer des Wissens und im Kontakt mit den Jugendlichen verlangt. Qualifizierte Referent_innen können vielfältiges pädagogisches und themenspezifisches Fachwissen mit einer persönlichen Haltung des Ernstnehmens der Teil11 Weiblichkeit ist im patriarchalischen Geschlechterverhältnis nicht dominant. Sie wird aber zum Teil einer Dominanzkultur gegenüber queerer Nicht-Zugehörigkeit, bzw. gegenüber Transgender, Transsexuellen oder Intersexuellen Zugehörigkeiten.
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nehmer_innen kombinieren, um nicht zuletzt Widersprüche auszuhalten und produktiv mit ihnen umzugehen. Politische Bildung mit sozial benachteiligten Mädchen heißt, sich gegen eine alleinig »LehrendenRolle« zu verwahren und sich mit den eigenen Erfahrungen als Mensch, Frau, Mann, Trans, Schwarz, weiß etc. mit Widersprüchen anzubieten sowie be- und angreifbar zu machen. Ferner ist eine notwendige Voraussetzung, die eigenen Grenzen in den Auseinandersetzungen zu kennen und sich selbst in diesem reziproken Lernprozess nicht von den Mädchen, den Inhalten oder der Dynamik überrennen zu lassen, sondern sich selbst in jedem Moment des Prozesses wahrzunehmen. Gleichwohl beginnt jede daran interessierte Mädchen_arbeiter_in irgendwann einmal, sich dem Themenkomplex Bildung für sozial benachteiligten Mädchen zu nähern. In diesem Fall ist es von großem Vorteil, wenn Einsteiger_innen in ihren jeweiligen Institutionen und Gruppen eine gute Begleitung und kollegiale Beratung für die Lern- und Lehrprozesse erhalten. Denn es ist das besonders Schöne an der Mädchenarbeit, dass sie mittlerweile viele Generationen von Expert_innen und Praktiker_innen mit unterschiedlichen kulturellen, sexuellen und auch identitären Hintergründen, mit unterschiedlichen Konzepten und verschiedensten Aufgabengebieten versammelt hat.12 Jede Mädchen_arbeiter_in sollte fachlich begleitet werden. Und jede qualifizierte Mädchen_arbeiter_in sollte sich trauen, ihre eigene Mädchenarbeit und ihre Zugänge stetig zu reflektieren, sich Feedback einzuholen und die eigene Bewegung zuzulassen, um auch Entwicklungen innerhalb der Mädchenarbeit aufnehmen zu können: Wandel von Mädchen- (und Jungen-)bildern, Veränderung der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse, der politischen Argumentationen und der Geschlechtertheorien. Mädchen_arbeiter_innen können und sollten so Diskussionen und Diskurse mitgestalten. Ihre Erkenntnisse und Fragen rund um die Mädchenarbeit sollten Teil der Fachdiskussionen werden und in die Lobbyarbeit oder in ihre weitere (jugend-)politischen Vernetzungen mit einfließen. Denn: Geschlecht ist nie statisch. Mädchenarbeit auch nicht.
12 Das ist insofern zu betonen, als dass Mädchenarbeit ein Produkt von frauenpolitischen Kämpfen ist und seit über 30 Jahren einen Teil der Mädchen- und Frauenbildung darstellt. Politisch motivierte pädagogische, sozialarbeiterische und bildungspolitische Arbeit mit Mädchen ist damit geschichtlich ein relativ neues Phänomen.
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2.5 Notwendiger Rahmen In unserem mehrtägigen Seminarprogramm hat sich gezeigt, dass die Wünsche nach körperlicher Bewegung, thematischer oder didaktischer Abwechslung und nach Pausen ernst zu nehmen sind. Mädchen zeigen so Bedürfnisse, die Begegnungen und Lernprozesse überhaupt erst ermöglichen. So hat sich in der »Alten Molkerei« gezeigt, dass theoretisch orientierte Themen und inhaltliches Arbeiten sowie Vorträge besser am Vormittag zu platzieren sind, sodass am Nachmittag ein erlebnispädagogischer Prozess zu neuen, aufbauenden Themen fruchtbar werden kann. Dazu gehört auch, dass Arbeitseinheiten in kleinen Intervallen fast immer die Konzentration und die Begeisterung der Mädchen ermöglichen. Möglichkeiten zur (geschlechtsbezogenen) Gruppenarbeit in außerschulischen Räumlichkeiten gehören zu weiteren wichtigen Rahmenbedingungen für außerschulische Mädchenarbeit. Günstig wirkt sich aus, wenn mindestens zwei Referent_innen pro Kleingruppe (bis zwölf Teilnehmer_innen) teamen, ein flexibler Umgang mit Pausen und nichtfrontale Sitzordnungen möglich sind, gemeinsam bestimmte Rahmenbedingungen (»Regeln«) entwickelt werden, wenn ein gemeinsames Arbeiten sonst durch das Verhalten der Mädchen untereinander gestört würde. Bildungsarbeit mit sozial benachteiligten Mädchen bedeutet zuallererst, sie willkommen zu heißen. Sie sollen sich eingeladen fühlen, und merken, dass sie wir sie als Bereicherung und nicht – wie sie es oft aus der Schule oder aus anderen Institutionen kennen – als Belastung empfinden. Das Klima einer Bildungsstätte kann sich positiv auf die Atmosphäre auswirken, wenn alle Angestellten (Hausmeister_in, Verwaltungsfachkräfte, Leitung, Hauswirtschaft, Bildungsreferent_innen usw.) den Jugendlichen mit Wohlwollen und Respekt begegnen.
3 . I n ha lt l i c h e P r ä m is s en Während im vorangegangenen Kapitel das praktische Know-how sowie die Qualifizierungsanforderungen für Mädchen_arbeiter_innen im Mittelpunkt standen, geht es in diesem Kapitel um eigene pädagogische Perspektiven im inhaltlichen Programm einer jeder Mädchenarbeit. Anhand der vier Aspekte Erfahrung, Normalität, Widerstand/Widerspruch und Zugehörigkeitspraxen von Mädchen soll deutlich werden, wie Mädchenarbeit damit neue Wege beschreiten kann.
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3.1 Erfahrungen Viele Inhalte, die Mädchen begeistern oder bewegen – wie beispielsweise virtuelle Welten, Flirten, Musik, HipHop, Lieblingssoaps, Leistungsdruck oder Stress –, werden in der politischen Bildung nicht ernst genommen und ignoriert. Dabei finden diese Erfahrungswelten ihren Ursprung in den Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten der Mädchen. Die Inhalte der politischen Bildung müssen die unterschiedlichen Lebenswelten der Mädchen nicht nur berücksichtigen, sondern diese zu ihrem Ausgangspunkt machen. Viele Kompetenzen der Mädchen werden nicht erkannt, weil sie für Referent_innen unbekannt oder unbedeutend sind. Fast alle Inhalte können in der Mädchenarbeit thematisiert und interessant gestaltet werden, wenn sie sich an den Lebensrealitäten und Wissenskontexten der Teilnehmer_innen orientieren.13 Es wird also am Erfahrungsschatz und am Wissen der Mädchen angesetzt, um Raum für deren (emotionale) Erlebnisse zu schaffen, welche dann in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gesetzt, analysiert und ansprechbar gemacht werden. Hieraus ergeben sich für die Mädchen ein neues Selbstverständnis und neue Handlungsoptionen, die sie (persönlich und politisch) stärken und in ihre Lebenswelten übertragen können.14 Dabei ist grundsätzlich die Erfahrungswelt der Mädchen_arbeiter_in mit den eigenen emotionalen Bezügen als Wahrnehmungsfolie zugelassen, sollte aber nicht zum allgemeingültigen Schema für das Erkennen der Mädchenerfahrungen gemacht werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit existiert nur eine geringe Form von Erfahrungskongruenz zwischen dem Erleben der Mädchen und dem Erleben der Mädchen_arbeiter_innen. Es besteht aber ein gemeinsamer Bezugspunkt darin, dass sowohl Mädchen als auch Mädchen_arbeiter_innen sich zu den Kategorien Mädchen und Frau ins Verhältnis setzen und aufgefordert sind, sich darin möglichst identitär zu verorten. Diese Auseinandersetzung mit Erfahrungen zu fördern, ohne festzuschreiben, ist eine Kunst der emanzipatorischen Mädchenarbeit.
13 Erfahrungslernen ist seit den 60er-Jahren ein zentraler Begriff gewerkschaftlicher Bildung. Die Erfahrungen wurden zum Ausgangspunkt für die Kritik an strukturellen Machtverhältnissen genommen, um Gesellschaft verändern zu können (vgl. Negt 1968). Daran knüpfen diese Ideen an. 14 Jugendliche aus privilegierten Milieus sind unserer Erfahrung nach oftmals stärker an disziplinierende Regeln gebunden und »lernen«, auch ohne ihr Wissen praktisch anwenden zu können.
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3.2 Normalitäten Für die Mädchenarbeit gilt, sich mit bestehenden Normalitäten auseinanderzusetzen, vor allem mit Heterosexismus, Geschlechterhierarchie, Rassismus und Klassismus. Normalitäten erzeugen Ausschluss, Unwohlsein, Leid, aber auch ein Gefühl von Zugehörigkeit und Unauffälligkeit. Viele sozial benachteiligte Mädchen haben das Gefühl der (gesellschaftlichen) Zugehörigkeit möglicherweise nicht in die Wiege gelegt bekommen. Beispiele aus der Praxis für feststehende Normalitäten sind Vorstellungen vonseiten der Pädagog_innen wie: Mädchen und Jungen sind immer heterosexuell, alle Jugendlichen haben zwei zusammenlebende Elternteile, Mädchen sind passiv und reden lieber, Jungen sind aktiv und raufen lieber, Rassismus spielt in dieser Gruppe keine Rolle usw. Im folgenden Beispiel aus einem Seminar in der »Alten Molkerei« mit einer 8. Klasse aus dem Ruhrgebiet im Sommer 2009 wird anhand der gesellschaftlichen Norm von Eigentum deutlich, wie ein Mädchen sich ihren Raum nimmt und dabei in eine paradoxe Situation kommt, die schlussendlich auch die Mädchen_arbeiter_in in eine skurrile Lage bringt. »Während eines erlebnispädagogischen Ausflugs zum Lahder See entdecken die Mädchen auf dem Weg dorthin reife Kirschen, die von einem Baum jenseits des Zauns auf die Straße ragen.15 Ein Mädchen freut sich sehr und probiert die Kirschen. Sie ist begeistert, winkt ihren Freund_innen zu und ist bereits dabei, sich in ihrer Handtasche ein Kirschendepot anzulegen. Plötzlich kommt die Besitzerin des Hofes um die Ecke und fängt an, das Mädchen aufs Wildeste zu beschimpfen. Das Mädchen guckt sie mit großen Augen an. Ich als Pädagogin stoße zu der Szene dazu, versuche zu beschwichtigen. In diesem Fall vor allem die zeternde Frau. Gleichzeitig aber denke ich, dass das Mädchen eine Grenzüberschreitung begangen hat und Kirschen ›geklaut‹ hat. Ich weise sie ebenfalls zurecht. Die Bäuerin murrt weiter. Das Mädchen schaut die Frau an und sagt: ›Darf ich von den Kirschen noch welche pflücken? Die schmecken so gut.‹ Mir ist plötzlich nicht mehr klar, was ich tun soll. Normal ist es, dem Mädchen deutlich zu machen, dass das mit den Kirschen, die über Zäune ragen, so eine Sache ist und sie von vielen nicht als öffentliches Gut gesehen werden. Gleichzeitig möchte ich für sie Partei ergreifen gegenüber einer Eigentum normalisierenden Position der Frau. Die Frau murmelt noch: ›Dann nimm halt welche mit!‹ und wendet sich ab. Das Mädchen pflückt weiter ein paar Kirschen und verlässt schließlich erhobenen Kopfs die Szenerie. Ich stehe 15 Im Kontext der Friller Mädchen_arbeit sind erlebnispädagogische Anteile Teil des Konzepts. In diesem Seminar sollte am See ein Floßbau-Projekt stattfinden.
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etwas verdattert da, probiere die Kirschen und pflücke mir noch ein paar für den Rest des Weges zum See.«
Dieses Beispiel zeigt, dass die Ansprüche, die Mädchenarbeit an Mädchen stellt, nämlich selbstbewusst, freudig und genießerisch zu sein, sich auszuprobieren und solidarisch für andere da zu sein, in der gesellschaftlichen Normalität zu Konflikten führen können. Es kann öffentliches Ärgernis verursachen, über Zaun ragende Kirschen zu essen. In dieser Situation spielen aber viele andere Komponenten eine pädagogisch weitaus relevantere Rolle: Experimentierräume eröffnen sich, Kontakt mit anderen Menschen wird erprobt, Aushandlungsprozesse werden geführt, Grenzen getestet, eigene Grenzen gewahrt, Selbstbewusstsein gespürt, Parteilichkeit erfahren, Unfairness, Fairness und ein Sichdurchsetzen erlebt. Wenn dieses Ereignis in diesem Sinne gedeutet wird, dann ist die dargestellte Szene ein Ausschnitt für die Möglichkeiten, die politische Bildung für sozial benachteiligte Mädchen bietet. Darüber hinaus prallen in dieser Situation verschiedene Lebenswelten aufeinander: Die des jungen Mädchens zu Gast in einem Tagungshaus auf dem Lande und die der alteingesessenen Frau, die möglicherweise seit vielen Jahrzehnten in diesem Dorf zu Hause ist und im übertragenen Sinne ihre Lebensweise durch die Ablehnung des Kirschenpflückens zu verteidigen sucht. 3.3 Widerstände und Widersprüche Das nachfolgende Beispiel aus einem Mädchenarbeitsseminar in der Alten Molkerei im Juni 2009 mit einer 7./8. Klasse Förderschule Lernen aus Ostwestfalen veranschaulicht, wie wichtig es ist, sich auf die Bedürfnisse der Mädchen einzustellen, auch wenn sie erst mal widersprüchlich erscheinen: »Gehetzt haben wir Mädchen_arbeiter_innen eine Traumreise vorbereitet, die von den Mädchen kurz vorher gewünscht worden war. Die ca. 13–14-jährigen Mädchen fordern wir auf, es sich bequem zu machen und bei Bedarf Decken und Kissen zu nehmen, um dann die Augen für eine Traumreise zu schließen. Es tritt Ruhe ein. Kaum beginne ich als Teamer_in zu lesen, giggelen mehrere Mädchen los, eine imitiert ein Schnarchen. ›Mir ist langweilig‹, sagte eine. Ich halte in der Meditationsphase inne, zucke die Achseln, lese weiter. Einige Mädchen prusten los, fassen einander an, halten sich an den Armen und Händen fest. Andere sagen: ›Ruhe. Hört doch mal zu.‹ Ratlos schaue ich meine Mitteamer_in an. Sie deutet mir per Fingerzeig an weiterzumachen. Ich mache eine kurze Pause und erdenke mir die Traumreise neu. Sie beginnt jetzt hier
98 | Mädchenarbeit weiterdenken im Raum und beschreibt eine Gruppe voll giggelnder Mädchen. Ich will sie in ein Fantasieland führen. Diese Reise soll den Mädchen die Möglichkeit geben, ihre Wünsche zu erleben und kurz Abstand zu bekommen zu ihrem Alltag, ihren Auseinandersetzungen im Seminar rund um Gruppenthematiken, Selbstbewusstsein und zum Konstrukt Schönheit. Ich atme tief durch und spreche weiter. ›Und wenn ich einschlafe?‹, fragte eine. Ich überlege noch, ob ich antworten oder doch die Methode abbrechen soll. Da sagt ein Mädchen laut: ›Ohhhh. Ruhhee.‹ Die fünf Mädchen, die sich anfassen und berühren, werden in der Folge langsam ruhiger, das imitierte Schnarchen wird weniger. Der ein oder andere Kopf rollt noch mal herum und plötzlich sind diese Mädchen als Gruppe ganz ruhig. Ich sage: ›Ihr geht jetzt durch einen schönen Wald, ihr seht aufregende und beruhigende Wege und wählt einen Waldweg für euch aus.‹ Ich lade die Mädchen auf einen imaginären Weg durch Wälder, Steppen, Berge, in Unterwasserwelten und schließlich in ein großes Schloss ein, wo sie sich zum Ende der Reise hin an einen reich gedeckten Tisch setzen können. Die Mädchen erwachen zufrieden und benommen und tauschen sich zu ihren Erlebnissen aus. Noch nie habe ich eine so lange, intensive Traumreise angeleitet, obwohl bestimmt zehn Minuten lang unklar war, ob die Konzentration für die Reise überhaupt da war.«
Giggeln, lachen, stören, nachfragen, laut sein u.v.a.m. sind Verhaltensweisen, die für viele Gefühlszustände stehen können. Sie können Langeweile, Aggression, Wut und Ablehnung bedeuten, aber ebenso gut auch Interesse, Neugierde, Aufregung und Freude signalisieren. Oft sind es diese scheinbaren Widersprüche von symbolischen und realen Aktionen der Mädchen einerseits und ihrer Interpretation durch Mädchen_arbeiter_innen andererseits, die pädagogische Prozesse zum Blockieren bringen. Manchmal scheint Kommunikation dann unmöglich zu sein. Dabei sind es oft die gegenseitigen Interpretationen von Verhaltensweisen, die gemeinsames Handeln erschweren. Im Falle dieser Traumreise war die Teamer_in vom Verhalten der Mädchen zunächst so irritiert, dass sie überlegte, die Übung abzubrechen. In der Folge zeigte sich, dass die meisten Mädchen eher aufgeregt waren, vielleicht weil sie das Gefühl des ›In-sich-gekehrt-Seins‹ noch nicht kennengelernt hatten, vielleicht weil sie wie in einem großen Schlaflager alle zusammen auf dem Boden lagen, vielleicht weil sie noch nie gemeinsam Ruhe erlebt hatten usw. Diese Traumreise haben sie schlussendlich im Wohlgefallen erlebt. Es
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hat sich gezeigt, dass Ruhe und Konzentration auch Sicherheit bieten können, um auf eine solche imaginäre Reise zu gehen.16 3.4 Zugehörigkeitspraxen von Mädchen Mädchen leben in und mit verschiedenen Zugehörigkeitskontexten. Sie ordnen sich ihnen zu oder werden ihnen zugeordnet: z.B. in familiäre Kontexte, Jugendkulturen, Cliquen, Peer-Groups, Vereine, religiöse oder politische Gruppen. Mädchen stellen sich die Frage nach Zugehörigkeiten per Identitätsentwicklung, zum Beispiel in Bezugnahme auf soziale Gruppen und Räume sowie im Kontext ihrer eigenen Vergesellschaftung. Dabei sind Zugehörigkeiten nie statisch, sondern immer an Aushandlungsprozesse gebunden und abhängig davon, wie eine Gesellschaft ihre Ressourcen verteilt. Außerdem entsteht durch jedes »WirGefühl«, das durch eine Zugehörigkeit aufkommt, gleichzeitig eine Abgrenzung den anderen Zugehörigkeiten gegenüber (vgl. Riegel/Geisen 2007). »Die Selbstverortnung von Jugendlichen (mit und ohne Migrationshintergrund) ist als pluriformer Prozess zu verstehen, als aktive und flexible Bezugnahme auf ein Netz von Zugehörigkeitskontexten, in denen unterschiedliche Kriterien (Geschlecht, Nation, Ethnizität, Jugendkulturen, der geografische Raum) wirksam sind und sich gegenseitig überlagern.« (Riegel/Geisen 2007: 11)
Dabei dient das Aushandeln von Zugehörigkeiten vor allem auch »der Absicherung und Erweiterung des jeweiligen Möglichkeitsraums – und bedeute[t] somit immer auch ein Aushandeln um die Verfügung eigener Handlungsfähigkeit und Wirkungsmacht im sozialen Raum.« (Riegel/ Geisen 2007: 12). Spezifische Zugehörigkeitspraxen bedeuten für Mädchen, denen andere kulturelle Zugänge verschlossen bleiben, oftmals ein Mehr an Lebensgestaltungsmöglichkeiten. Peer-Groups sind damit Referenzrahmen und Abgrenzungsmöglichkeit. Sie bieten somit vielfältiges Know-how, aber auch Gefühle wie Sicherheit und Geborgenheit. Wenn Kinder und Jugendliche nur eine reduzierte gesellschaftliche Teilhabe erhalten, ist davon auszugehen, dass sie mittels Zugehörigkeitspraxen ihren Platz in ihrer Familie, in ihrem Stadtteil, in ihrer Schule, in ihrem 16 Ferner zeigt sich hier natürlich auch, dass die Methode zur Teamer_in passen muss, sodass sie diese mit ihrer eignen Überzeugung darbieten kann.
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Quartier oder in ihrer Stadt suchen und finden. Die Bedeutung dieser Instanzen für die eigenen Erfahrungen, Kompetenzen und auch für ein Überleben wird in zahlreichen pädagogischen Prozessen ausgeblendet und allenfalls als »Jugendspinnerei« abgetan. Es ist deshalb von hoher Bedeutung, diese vielgestalten Zugehörigkeitskontexte von Mädchen wieder in den Blick zu nehmen und zu schauen, was sie interessiert und beschäftigt.
4 . S c h l u s s g ed a nk e n : M ä d c h e n z w is c h e n R eb e l l io n , R e s s o u r c e n u nd R u h e Wir sind uns sicher: Wenn die Mädchen, die in unseren Seminaren waren, erfahren würden, dass wir einen Artikel über die Arbeit mit ihnen schreiben, würden einige »kotzen« und andere würden sich geschmeichelt fühlen. Einige würden mit vor Stolz geschwellter Brust davon erzählen. Manch anderen wäre es nicht wichtig. Einige würden fragen, was an ihnen denn so besonders ist. »Wir sind doch normal halt!« Manch eine würde ihre Zigarette anzünden und uns vielleicht von oben bis unten mustern, unseren »Style«, unsere Körperhaltung, unsere manchmal fehlenden femininen Attribute bemerken.17 Womöglich würden sie denken oder sogar sagen: »Warum schreibt keine_r über euch, ihr seid doch Freaks!« 4.1 Eckpfeiler Dennoch möchten wir an dieser Stelle erste pädagogische Eckpfeiler für eine Mädchenarbeit mit sozial benachteiligten Mädchen bieten. Es sind dies Versuche, Erkenntnisse aus unserer Arbeit für andere Projekte anwendbar zu machen und auf den Punkt zu bringen, was man über diese Mädchenarbeit wissen kann, ohne die Mädchen unzulässig zu homogenisieren und sie damit auf soziale Benachteiligung zu reduzieren. Nie sind Begegnungen und Lernprozesse unabhängig von der Referent_in. Ihre Repräsentation, ihre Identitäten (und Nichtidentitäten), Wahrnehmungen und Reaktionen prägen entscheidend den Bildungsprozess.
17 »Warum bist du nicht geschminkt? Das sähe dann voll schön aus.« So ein 14-jähriges Mädchen zu einer nicht geschminkten Mädchen_arbeiter_in.
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Prozessorientierung und Partizipation bieten den Teilnehmer_innen Freiräume. Bildungsprozesse mit sozial benachteiligten Mädchen müssen stärker als andere Bildungsprozesse reziprok verlaufen. Die Mädchen sollen zu eigenen Positionierungen ermutigt werden. Diese zu finden und zu äußern ist ein notwendiges Ziel und notwendige Voraussetzung einer effektvollen politischen Bildung. Die Zugehörigkeitspraxen der Mädchen bieten notwendige inhaltliche Anknüpfungspunkte für politische Bildung. Dies setzt auch voraus, dass sich die Teamer_innen mit den eigenen Zugehörigkeitspraxen auseinandersetzen. Mädchenarbeit in der politischen Bildung benötigt ein Konzept, in dem Gelassenheit, Freude und Respekt den Mädchen gegenüber Grundlage ist. Politische Bildung für sozial benachteiligte Milieus muss sich auch mit neuen Themen beschäftigen, die jenseits der klassischen Bildungslandschaft existieren und die jugendlichen Lebenswelten strukturieren. Eine politische Bildung mit sozial benachteiligten Mädchen muss die Reproduktion von heterosexistischen, rassistischen, sexistischen, vereinnahmenden oder paternalistischen Selbstverständlichkeiten vermeiden. Das bedeutet, in ständiger Auseinandersetzung mit sich, den Mädchen und den Ungleichheitsstrukturen zu sein. Eine gegenseitige offene und differenzierte Wahrnehmung wird ermöglicht, wenn Selbstverständlichkeiten im Seminaralltag dekonstruiert werden. Alle Aktionen und »Störungen« im Bildungsprozess bieten Potenziale für Auseinandersetzungen. Sie sind nicht (immer) gegen die Mädchen_arbeiter_innen gerichtet oder als Desinteresse zu verstehen, sondern können Aspekte von Sorgen, Problemen, Verdrängung, Identitätsfindung, Gruppenfindung u.v.a.m. sein und damit immer auch Chancen für Rückzug, Solidarität und Empowerment. Mit Hilfe dieser Ideen kann politische Bildung ein Prozess zur Entwicklung des gegenseitigen Respekts werden, in dem die Konstruktion von »Problemgruppen« nicht greift, sondern der eigene defizitäre Blick reflektiert und die eigene Praxis herausfordert wird.
4.2 Tristesse und Lebensfreude Sozial benachteiligte Mädchen entwickeln Bedürfnisse, die sie nicht stillen können, und die niemand anderes für sie stillt oder stillen kann. Sie bemühen sich, sie fordern und scheitern – zu oft, weil sie zu oft als sozial Benachteiligte nicht zum Kreis der Erwählten gehören (sollen), die zumindest den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nach frei(-er)
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wählen könnten, welche Zukunft die ihre sein soll. Im schlimmsten Fall nehmen sie das Stigma irgendwann als Teil ihres Selbst an. Ein Mädchen sagte während eines Konflikts in der Gruppe: »Ich lüge sowieso nur, denn mein Vater ist Zuhälter! Aus mir wird eh nichts.« Manchmal spricht die ganze Tristesse aus Sätzen wie diesen, die ein Gefühl von Ausweglosigkeit illustrieren, das von einigen Mädchen internalisiert worden ist. Es ist nicht immer leicht, das Scheitern zu begleiten, es ist nicht immer möglich, aus dem von ihnen als Scheitern Erlebtem Positives zu ziehen und sie für einen neuen oder anderen Anfang zu motivieren, denn einige mussten schon zu oft neu anfangen; z.B. an neuen Schulen, Ausbildungsplätzen, in neuen Stadtteilen, in neuen Ländern und Staaten und/oder mit neuen Sprachen. Es ist dann manchmal leichter, ihre Direktheit und Lebensfreude zu teilen und zu begleiten. Diese Widersprüche müssen von der Mädchenarbeit herausgearbeitet und als gesellschaftliches Problem publik gemacht werden. Wir als Mädchen_arbeiter_innen sollten uns politisch bemerkbar machen und in Diskurse eingreifen, damit diese, als homogene Gruppe stigmatisierten Mädchen endlich Möglichkeiten und Chancen erhalten, ihren Weg zu gehen. 4.3 Selbstbewusst Es heißt, sozial benachteiligte Mädchen sollen selbstbewusster und geradliniger werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass sie das noch nicht sind. Ein Trugschluss von jenen, die keinen Kontakt mit bildungsfernen Mädchen haben. Immer bleibt dem zum Trotz der erste Schritt, die Mädchen so zu sehen, wie sie sich geben, in ihrer Rebellion, in ihrem Sein, in ihrer Zufriedenheit und in ihrer möglicherweise auch gleichzeitigen Unzufriedenheit. Sie brauchen dazu weder unsere politische Haltungen noch unser Wissen, sie brauchen weder männliche noch weibliche noch queere Attribute, die wir ihnen beibringen und sie brauchen möglicherweise auch keine essentialistische Authentizität. Bei der Überlegung, was wir als Mädchen_arbeiter_innen zu lange vergessen haben, fällt uns Autor_innen als Erstes ein: die Mädchen zu fragen. Mädchen, denen wir begegnen, wissen zumeist, was für sie das Beste, ein möglicher Ausweg, eine Chance sein könnte. Wir können sie begleiten und aus unserem Erfahrungsschatz erzählen, aber wir können auch – und das empfehlen wir an dieser Stelle – erst mal zuhören und neugierig sein.
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4.4 Träume »Auch ein sozial benachteiligtes Mädchen muss nur wollen und sich anstrengen, dann steht ihr alles offen.« So lautet eine bekannte neoliberale Devise. Mädchen_arbeiter_innen und auch andere »Gendergeschulte« wissen, dass dieser Satz nicht stimmt und noch nie gestimmt hat. Und die Mädchen wissen das. Ihnen ist klar, dass ihr Schulabschluss möglicherweise nicht viel bedeutet. Sie sollen – so fordern viele – nicht nur hoffen, Friseur_in werden zu können, aber wenn wir sie dazu animieren, davon zu träumen, Tierärzt_in oder Diplomat_in zu werden, dann haben wir möglicherweise genauso wenig erreicht, sondern Fantasiewelten geboten, die Frustrationspotenziale bieten, gemäß dem Motto: »Der Traum ist aus, Mädchen.« Das ist die bittere Version, die aber gleichzeitig befreiende Aspekte enthalten kann, wenn wir sagen: »Gestaltet euren eigenen Traum«. Nein, logisch ist das nicht, mehr noch, es ist ein Widerspruch, denn das Ziel unserer Mädchen_arbeit ist es, mit Mädchen zu schauen, wie ihre Träume und wie ihre Realitäten aussehen. Und mehr noch, wir schauen, wie wir beides miteinander in Verbindung bringen können. Wir suchen nach Kontaktstellen beider Bereiche. Bei der einen stellt sich die Frage, wie sie den Job der Friseur_in mit einem Kinderwunsch verbinden kann, bei einer anderen vielleicht, wie sie doch einen Realschulabschluss bekommen kann, bei der Dritten, wie sie ihr lesbisches Coming-out mit ihrer Mutter besprechen kann, bei der Vierten, wie sie sich in der Schule gegen die Ungerechtigkeiten von Lehrer_innen engagieren und mit anderen organisieren kann. Wieder andere träumen von einer Aufenthaltsgenehmigung, davon, die Abschiebung doch noch abwenden zu können. Was wir hoffen, meistens anbieten zu können, ist die Möglichkeit, Perspektiven besprechbar zu machen, selbst dort, wo einer manchmal die Worte fehlen. 4.5 Rebellion Viele sozial benachteiligte Mädchen rebellieren, aber sie tun dies anders als linke Student_innen, Streikende in ihren Betrieben oder Punks in den Straßen. Viele von ihnen sind sich unsicher, welche Rebellion ankommt und wo überhaupt Rebellion möglich ist. Möglicherweise rebellieren manche Mädchen sogar gegen patriarchalische Geschlechterverhältnisse; gegen ihre Auswirkungen, denn – und darin kann jede Mädchen_arbeiter_in vertrauen – das kennen sie alle. Sie kennen Ausgrenzung, Sexismus, Rassismus, Gewalt, Schönheitsdruck etc. und auch
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Spaß am Mädchensein. Mädchen_arbeiter_innen wissen das manchmal nicht oder wollen es auch gar nicht wissen. Klar ist, dass viele der Seminarteilnehmer_innen sich originelle Rebellionen ausdenken und in ihrem Kosmos, d.h. in ihrem Zimmer, ihrer Klasse, ihrem Verein, ihrer Moschee oder im Gespräch mit Freund_innen versuchen, eigene Ressourcen, Spielräume der Rebellion und Ruhe miteinander zu verbinden. Viele Mädchen unterschiedlicher Herkunft, Ethnizität und Geschlechteridentität zeigen Gefühle und Umgangsweisen in Bezug auf soziale Ungleichheitskategorien. Sie müssen nicht zur Zivilcourage aufgefordert werden, sondern bringen ein Repertoire an direkten Umgangsweisen mit. Nicht wenige kennen soziale Ausgrenzung besser als jede akademische Person auf einer sozialwissenschaftlichen Tagung zu diesem Thema. Und vor allem: Sie haben ein Gefühl zu sozialer Ausgrenzung. Es ist ihr Alltag. Wenn wir gesellschaftliche Ungleichheit verstehen wollen, müssten wir deshalb nicht Wissenschaftler_innen oder Mädchenarbeiter_innen fragen, sondern die Mädchen selbst, denn sie wissen, wovon sie reden. 4.6 Eiskristalle Alle sozial benachteiligten Mädchen sind wie Eiskristalle: Sie sind einzigartig. Ihnen das zu vermitteln, ohne die strukturelle Gewalt, Diskriminierung und Ungleichheit zu vergessen, ist ein zentrales Ziel unserer Mädchen_arbeit. Sie sind natürlich nicht schuld daran, dass die kapitalistische Vergesellschaftung sie ausschließt. Doch wie ist das vermittelbar? Sie fühlen sich manchmal einsam in diesem Geflecht aus Anforderungen, Herausforderungen und Zwängen. Mädchen sollen sich – wie Eiskristalle – verschieden entwickeln dürfen und es muss egal sein, ob sie dabei einen langen Zopf oder kurze Haare tragen, lesbisch leben oder einen Mann heiraten, ohne oder mit Kindern leben wollen. Das Drama der sozial benachteiligten Mädchen ist, dass sie mit ihren Gefühlen, Wahrnehmungen und Erfahrungen nicht ernst genommen werden und sie niemand nach ihren Veränderungswünschen fragt. Mädchenarbeit sollte diese Eiskristalle endlich grundsätzlich in den Blick nehmen.
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Sich se lbst stä rk en! selbst stärken! Mädchen of Color in der de r Empowermentbildung Empowe rmentbildung FIDAN YILIGIN »Auch wenn die Auseinandersetzung mit Weißsein wissenschaftspolitisch eine Errungenschaft der letzten 10 bis 15 Jahre ist, so bleibt unbenommen, dass Schwarze Menschen und People of Color1 die weiße Hegemonie seit Beginn der ›Europäisierung der Erde‹ (W. Reinhardt) mit hegemonialkritischen Gegenblicken auf Weiße und Weißsein begleitet haben.« (Eggers/Kilomba/Pische/Arndt, 2005)
E i n l e it u ng Die Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« befindet sich seit 2009 in einem neuen Entwicklungs- und Experimentierprozess. Die intern angestoßene Organisationsentwicklung zielt darauf ab, das weiß-deut1
In diesem Aufsatz wird die Tradition der Dichotomisierung aufgegriffen, um einerseits die Botschaft des Textes zu verdeutlichen, aber auch weil sich in diesen Dichotomien die Positionierungen, Erzählungen und Hierarchisierungen abspielen. Hier wird das binäre Verhältnis von People of Color und Weiß-Deutschen dargelegt. Mit People of Color sind alle Personen gemeint, die rassifiziert oder ethnifiziert werden. Weiß-Deutsche bedeutet, das von Personen die Rede ist, die weder rassifiziert noch ethnifiziert werden. Dabei wird auf der Argumentationsstrategie von Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Pische und Susan Arndt aufgebaut (2005).
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sche2 Bildungshaus für People of Color zu öffnen und die Mädchenarbeit unter diesem Aspekt weiterzuentwickeln. In der politischen Bildungsarbeit ist die »Alte Molkerei Frille« bereits im Hinblick auf »Genderkompetenz« etabliert. Weil sich die Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeutung sehr ähneln, ist es ein nahe liegender Schritt, nun die Aufdeckung der rassistischen Strukturen, Einstellungen und Emotionen anzugehen. Das gilt insbesondere, weil der bestehende emanzipatorische Ansatz einen fruchtbaren Boden für diese Arbeit bietet. So war die Bereitschaft aller Mitarbeiter_innen vorhanden, sich dem Thema rassismuskritische Migrationsgesellschaft zu nähern. Themen wie Critical Whiteness, nichtrassistische Bildungsarbeit und Empowerment wurden bereits in Form von Weiterbildungen bearbeitet. Damit wurde eine wichtige Vorarbeit geleistet. Die Voraussetzungen für einen Implementierungsprozess von Empowerment/Critical Whiteness sowie von Transkulturellen Teams in die Bildungsarbeit der »Alten Molkerei« sind also gegeben. People of Color berufen sich auf den Empowermentbegriff, der aus der Civil-Rights- und der Black-Power-Bewegung entsprungen ist. Für People of Color ist Empowerment eine Errungenschaft von kritischen sozialen Bewegungen. In Deutschland hat sich im Rahmen von aktivistisch-politischen Netzwerken von People of Color ein Ort für die Entwicklung neuer Impulse in der Empowermentarbeit herausgebildet.3 Die Mädchen_arbeit mit Mädchen of Color gewinnt auch in Frille mit dem Perspektivwechsel zu Empowerment und Critical Whiteness neue Konturen. Dieser Perspektivwechsel erweist sich aufgrund der wachsenden Zahl von Mädchen of Color und der gleichzeitig verstärkten Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs in den letzten Jahren als notwendig, aber auch weil die Zahl der Mädchen_arbeiter_innen of Color zunimmt. Die Notwendigkeit in der Mädchen_arbeit Frauen of Color einzustellen, wurde im Zuge der Anerkennung der Migrationsgesellschaft offensichtlich. Die Politik und die Geldgeber_innen reden von Integration durch Good-Practice, aber auch kritisch reflektierte weiß-deutsche Pädagog_innen wissen, dass Ansätze, denen paternalistische Haltungen innewohnen, von den Mädchen of Color kritisch durchschaut werden. Das 2 3
Zur Erläuterung der kursiven Schreibweise siehe den Beitrag »Augen auf und durch!« in diesem Buch. Ein solcher Ort wurde in Berlin (Oktober 2008) als erstes bundesweites Empowermentforum unter dem Titel »Move on up – Empowermentvisionen in Bewegung« organisiert.
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gängige Bild von Mädchen of Color, die die Hilfe der weiß-deutschen Pädagogin empfangen, wird mittlerweile hinterfragt. Diese in der Öffentlichkeit zu beobachtenden Aspekte spielen sich auf zwei Ebenen ab: Die erste Ebene thematisiert die Arbeit mit Mädchen of Color. Die zweite Ebene thematisiert Pädagog_innen of Color in der Arbeit mit Mädchen of Color. Transkulturelle Teams sind demzufolge erforderlich. Beide Ebenen verlangen eine adäquate Auseinandersetzung. Die zentrale Relevanz von Positionierungen der Akteur_innen von People of Color und der weiß-deutschen Pädagog_innen rückt in den Mittelpunkt. Das setzt aber auch voraus, das sich Pädagog_innen of Color und Pädagog_innen des Critical Whiteness miteinander verbinden und aufeinander Bezug nehmen. Sowohl die Perspektiven und Bedürfnisse als auch die Visionen und Ansprüche von Pädagog_innen of Color in der Mädchen_arbeit müssen auf einer Grundlage von Respekt und Anerkennung in die Mädchen_arbeit implementiert werden. Damit geht ein Paradigmen- und Perspektivwechsel einher, der die bisherige Defizitorientierung in der Mädchenarbeit mit Mädchen of Color ablöst sowie kritische Prozesse und Wissensproduktionen fortsetzt. Die diesem Beitrag zugrunde liegende These ist folgende: Die Ansprüche, Bedürfnisse und Visionen von Frauen/ Mädchen of Color werden von weiß-deutschen Frauen in der Mädchen_arbeit ignoriert. In der Regel werden Frauen of Color wahrgenommen als nicht emanzipiert genug, um feministische Mädchen_arbeit zu leisten. Dies geht einher mit dem politisch diskutierten Aspekt der Assimilation in die feministische Mädchen_arbeit. Die Nicht-Anerkennung ihrer Realität, die fatale Realität der »Anderen« wird so fortgeschrieben. Oder plakativer ausgedrückt: Nur der weiß-deutsche Feminismus ist Realität und vor allem der Maßstab, an den sich alle »Anderen« zu halten haben. Vor diesem Hintergrund benötigen gerade Mädchen_arbeiter_innen of Color Empowerment-Räume, um sich mit solchen und ähnlichen Diskriminierungserfahrungen zu beschäftigen. Aktivismus, aktivistische Arbeit von Frauen of Color benötigt Räume, in denen gearbeitet werden kann, um weitere Schritte ins Visier zu nehmen. Ein weiteres Anliegen ist, dass Mädchen_arbeit mit Mädchen of Color aus der Perspektive von Pädagog_innen of Color etabliert werden muss. Wenn bald jedes dritte Mädchen eine Migrationsgeschichte hat, müssen die Bedürfnisse der Mädchen of Color in der feministischen Mädchenarbeit4 adäquat mit berücksichtigt werden. Die traditionelle 4
Siehe »respect« – antirassistische jungen und mädchenarbeit gegen ausgrenzung und gewalt.
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Mädchenarbeit reproduzierte bestehende Machtverhältnisse. Ein Beispiel dafür ist, dass gerade in den 80er/90er-Jahren in den Beratungsstellen für Mädchenarbeit die Mädchen als »Opfer« ihrer Herkunftsfamilien betrachtet wurden. Es war gängiges Credo, Mädchen of Color »retten« zu wollen, sie zu emanzipieren. Aus diesem Grund wurden sie aus den Familien weg zu den Mädchenhäusern hin beraten. Die Mädchen wurden somit lediglich als »Empfängerinnen von Hilfe« und Opfer ihrer Zustände betrachtet. Diese Unterstützung war zwar sexismuskritisch angelegt, nicht aber rassismuskritisch. Dies zeigt exemplarisch, wie die Bilder über die »ausländischen« Mädchen in die Mädchenarbeit hier eingebettet wurden und wie schwierig es ist, mit den gesetzten Positionierungen zu brechen. Die Auseinandersetzungen und Überlegungen im vorliegenden Text speisen sich aus vielfältigen kritischen Wissensproduktionen, zumeist von People of Color. Bei der Darlegung von Bildern und Wissen »über« und um »orientalische« Migrant_innen wird hauptsächlich auf die Forschungsergebnisse von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Erol Yildiz Bezug genommen, um schließlich mit Maria do Mar Castro Varela und Maisha Eggers auf die aktuelle Mädchenarbeit mit Mädchen of Color zu kommen. Im Zentrum des Textes stehen die Bilder über die als »orientalisch« definierten Frauen und Mädchen. Diese Diskurse sind sowohl global als auch lokal (auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen) zu beobachten. Im Vordergrund steht die Herstellung der Bilder, die bis heute noch Geltung haben und deren Tragfähigkeit kaum hinterfragt wird. Die Botschaft hierbei ist, diese Bilder mit dem kritischem Blick von People of Color zu analysieren, um schließlich ein kritisches Wissen aus der Perspektive von Forscher_innen of Color zu forcieren. Das kritische Wissen, das von Forscher_innen of Color produziert wird, dient in der Empowermentbildung als ein ausschlaggebendes Tool, das die Reflexion des Gewordenseins mit bestimmt, um schließlich das Gewordensein selbstbestimmt weiterkonstruieren zu können: Das Denken verändern, um sich selber zu ändern. Von der Assoziation über »orientalische« Mädchen/Frauen bis zur kritischen Wissensbildung mit Mädchen/Frauen of Color ist es ein langer Weg, der aber nötig ist, um der Mehrdimensionalität des Gewordenseins5 näherzukommen. Die Konstruktion der »Anderen« (vgl. Said 1994), ausgehend von einem postkolonialistischen Hegemonialanspruch, und schließlich die Dekonstruktion der »Anderen« (vgl. Meche5
In Anlehnung an Edward Said (1994), Michel Foucault (1978), Gayatri Chakravorty Spivak (1988) u.a.
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ril 2003) – aus der Perspektive von People of Color – sind die tragenden Säulen des vorliegenden Beitrags.
2. Theoretische Reflexionen In diesem Abschnitt wird die Strategie der Konstruktion der und des »Anderen« dargelegt, um die Notwendigkeit des kritischen Wissens hervorzuheben. Was wird reaktiviert und welche Bilder stehen in dieser Einordnung zur Verfügung? Die Darlegungen in diesem Text beziehen sich auf die historisch gewachsenen Auffassungen von Welt- und Menschenbildern. Sie werden auf zwei Ebenen betrachtet und abgeleitet. Die erste Ebene befasst sich mit Edward Saids und Gayatri Chakravorty Spivaks Forschungsergebnissen, die global zu betrachten sind, und die zweite Ebene basiert auf den Forschungsergebnissen von Erol Yildiz, der sich auf die Migrationsgesellschaft6 der Bundesrepublik bezieht. Edward Said (1994) beleuchtet in seiner Orientalismus-Studie die Hierarchisierung zwischen dem Okzident und dem Orient. Er zeigt auf, wie die Funktionalisierung der Kollektivsymbole (kulturelle Stereotypen) und deren Bedeutung im Umgang mit der Bevölkerung aus den als orientalisch definierten Gebieten eingesetzt werden. Er belegt nachdrücklich, dass die über den Orient produzierten Texte und Bilder nicht die Lebenswirklichkeit »im Orient«, sondern vielmehr kollektive westliche Vorstellungen widerspiegeln (vgl. Said 1978). Diese beinhalten sowohl exotische Phantasien als auch Ängste schürende »Weisheiten«. Zugespitzt kann in der Tradition der Dichotomie demnach behauptet werden, dass der orientalische Mann männlicher ist als ein weißer Mann und die orientalische Frau weiblicher als eine weiße Frau. Mit den Tools der »Stereotypisierung« kann die Herstellung »der_des Anderen« hervorragend bewerkstelligt werden: »The construction of identity – for identity, whether of Orient or Occident, France or Britain, while obviously a repository of distinct collective experiences, is finally a constriction in my opinion – involves the construction of opposites and ›others‹ whose actuality is always subject to the continuous in6
Aus Sicht vieler politischer Akteur_innen hat das Thema Einwanderung mit dem Inkrafttreten des ersten deutschen Zuwanderungsgesetzes zum Jahresanfang 2005 seine Antwort gefunden. Bis dahin verstand sich Deutschland nicht als Einwanderungsland. Zur Geschichte der Ausländerpolitik siehe Ulrich Herbert, 2001.
112 | Mädchenarbeit weiterdenken terpretation and re-interpretation of their differences from ›us‹. Each age and society re-creates its ›Others‹« (Said 1994: 332).
Das Thema der Reproduktion von der_dem »Anderen« in der Forschungsarbeit von Edward Said wird auch von der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak (1988) aufgenommen. Sie spezifiziert dies in Bezug auf die Rolle der Frau. Mit dieser Neuordnung der Wissensproduktion setzt sie sich in ihrem Text »Can the Subaltern Speak?« auseinander und führt auf, wie die Systematisierung und Hierarchisierung der »Anderen« funktioniert. Sie durchleuchtet die Forderungen der Aufklärung nach dem zentralen Recht auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und zeigt, dass diese nur für den weißen Mann besiegelt werden. Gayatri Chakravorty Spivak beschreibt, dass die Forderungen nach Frauenrechten aus dieser Tradition der Aufklärung stammen. Sie dokumentiert, dass Menschenrechte und Frauenrechte in unmittelbarerem Zusammenhang stehen. Diese Rechte sind der_dem »Anderen« zuzugestehen, um nicht im Namen der Frauenrechte die »Unzivilisiertheit« des »Orients« festzuschreiben. Spivak stellt damit die Zivilisierungsmission infrage. In diesem Zusammenhang warnt sie vor dem kolonialistischen Wohlwollen und dem ethnozentristischen Universalismus. Mit folgenden Fragestellungen weist sie darauf hin, dass das »Othering«, die Konstruktion der_des »Anderen«, eine Konstruktion des Eigenen im Spiegel der_des »Anderen« ist7. Wer spricht hier wie über wen? Wer wird gehört/nicht gehört? Wer definiert hier wen/wofür? Angelegt an diese Logik schreibt Menekse Yiligin: »Es geht auch darum, wie beim Orient-Okzident-Diskurs, einen negativen Gegenpol zum eigenen Lebensstil zu finden und auch aufrechtzuerhalten, damit […] im Auge behalten werden kann, wie frau nicht sein will oder wovon sie sich in unserer ›entwickelten‹, ›zivilen‹ Gesellschaft bereits entfernt hat« (Yiligin 2001: 5).
Bereits in den 70er Jahren machten »orientalische« Feminist_innen aus Marokko, Ägypten, Türkei, Malaysia, etc. darauf aufmerksam, dass die Differenzlinie Geschlecht immer auch mit anderen Differenzlinien der Geschichte des Kolonialismus verschränkt ist. Die Bestrebung »das Andere« sichtbar zu machen und zu zeigen, dass Aktivist_innen aus dem
7
Wie z.B. modern/rückständig, emanzipiert/nicht emanzipiert, puritanisch/ exotisch.
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»Orient« eine eigene Perspektive auf die Frauenbewegung im »Orient« haben, trat in den Mittelpunkt. 8 Zu den bekanntesten Frauen zählen Nawal El Saadawi und Fatima Mernissi. Nawal El Saadawi, ägyptische sozialistische Feministin, thematisiert den Einfluss des Kolonialismus und jenes Geflecht von imperialistischen Beziehungen, die bis heute die Stellung der Frau im Orient mit reproduzieren. Sie betont, dass sowohl die patriarchalen Muslimbruderschaften als auch die westlichen Industrienationen davon profitieren, wie die Stellung der Frau zementiert wird. Diese Auffassung unterstreicht die marokkanische Feminist_in Fatima Mernissi9, indem sie darlegt, warum der Imam vor der »orientalischen« Frau Angst hat und der Westen diese Angst nicht sieht und auch nicht sehen will und gleichzeitig die »orientalische« Frau mit Zuschreibungen der »Schwäche« bestückt. Mit dieser Beobachtung weist Fatima Mernissi darauf hin, dass die Frauen aus dem »Orient« sicherlich über Handlungsstrategien verfügen, die die »orientalischen« Männer zu spüren bekommen. Dieses Widerstandspotenzial der »orientalischen« Frauen wird aber im »Westen« nicht wahrgenommen. Sowohl Nawal El Saadawi als auch Fatima Mernissi, werden von aktivistischen Feminist_innen »vergöttert« und von der konservativ orientierten Bevölkerung verachtet. Beide Frauen setzen sich für die Stärkung von Mädchen und Frauen ein. Sie werden in der hiesigen FeminismusDebatte sehr selten rezipiert. Beide Frauen erläutern, dass der Kampf gegen die patriarchalen Strukturen wichtig ist, dass aber der Kampf gegen die postkolonialen Mächte wesentlich mehr verlangt. Zu den postkolonialen Anforderungen schreibt Nawal El Saadawi Folgendes: »Wir geraten in eine Verteidigungsstellung (…) Ich bin gezwungen meine Kultur, meine Identität, den Islam, Ägypten usw. zu verteidigen. (…) Wir sprechen immer nur von uns und nicht darüber, was hier im Westen passiert« (El Saadawi 1994: 108).
Diese ausdifferenzierte Darlegung vom »orientalischen« Feminismus und »westlichen« Feminismus wird im Weiteren die Plattform darstel8
9
Der »orientalische« Feminismus knüpft nur bedingt an Edward Saids Orientalismus-Studie an. Er ist vielmehr die Antwort auf die »nicht sichtbaren« feministischen Frauen, die geografisch im Orient verortet werden. Diese »nicht sichtbaren« Aktivist_innen gehen für die Rechte der Frauen und Mädchen demonstrieren und leisten kritische Wissensproduktionen. Fatima Mernissi interpretiert den Koran feministisch und bietet damit dem Klerus die Stirn. Sie ist Professorin der Soziologie und lehrt u.a. in Rabat/Marokko.
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len, auf der sich die programmatischen Positionierungen aufbauen. Im folgenden Abschnitt werden Schlussfolgerungen aus Edward Saids Orientalismus-Studie von Erol Yildiz dargelegt, um schließlich die Zusammenhänge der global funktionierenden Diskurse auf die der Bundesrepublik zu übertragen. Erol Yildiz erforscht die Auswirkungen dieses von Edward Said entwickelten Wissens und untersucht den Umgang mit der Bevölkerung, die eine Migrationsgeschichte vom »Orient« in den »Okzident« in der Bundesrepublik Deutschland aufweist. Er verdeutlicht, wie sehr das von Said herausgearbeitete Orientbild noch immer die Gesinnung in Medien, Politik und Wissenschaft beeinflusst (vgl. Yildiz 2010). Dieses Wissen schließt auch das Wissen über Mädchen of Color ein. Die weiß-deutsche Perspektive auf die Migrantengruppen »aus dem Orient« ist von Beginn an mit Fremdheit konnotiert. Erol Yildiz dokumentiert diesen spezifischen Umgang mit Migration in der Bundesrepublik Deutschland als eine Institutionalisierung und Materialisierung, die historische Kontinuität aufweist. Migrant_innen werden kulturalisiert und ethnisiert; hierbei betont er die »Veralltäglichung« dieser ethnisierenden und kulturalisierenden Praxen im Zusammenhang mit dem rassistischen Wissensbildungsprozess, der wiederum durch eine Institutionalisierung kultureller Hegemonie begleitet wird: »Mit dieser Logik wird Differenz zur Devianz. Die Abwertung und Aussonderung der Perspektiven nicht-westlicher Gesellschaften und damit auch die eines großen Teils der Migranten hat dazu geführt, dass die Dichotomie zwischen (...) ›Wir‹ und ›ethnisch Anderen‹ heute noch als eine quasi-natürliche Entwicklung behandelt wird. Dieses binäre Denken erscheint dann als eine ontologische Gegebenheit« (Yildiz 2010: 60).
Um zu verdeutlichen, wie dieses Wissen »über« und die Konstruktionen von Identitäten funktionieren, setzt Erol Yildiz an der Analyse von Perspektiven an. Als Beispiel für seine Forschungsergebnisse in Bezug auf den Blickwinkel mag Folgendes gelten: Bevor sich Köln als »Europäische Kulturhauptstadt« beworben hatte, wurden Jugendliche of Color mit eher negativ besetzten Adjektiven beschrieben, sowohl von der aktuellen Politik als auch von den Medien. In der Bewerbungsphase wurden dann plötzlich gerade aus diesen Jugendlichen kulturelle Zugewinne. Sie wurden nun positiv konnotiert beschrieben. Dieses Phänomen ist aus der Hermeneutik bekannt: Beobachtungsergebnisse stehen u.a. sowohl mit Biografien als auch mit Intentionen in Verbindung. Migration kann demnach entweder als Normalität oder als Anomalie betrachtet werden.
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»Je nach Perspektive erscheint sie somit als konstitutiv für die Formierung von Gesellschaften oder als riskant, als notwendiges Übel. Von diesem Blickwinkel hängt es in der Folge ab, wie politisch, rechtlich oder pädagogisch darauf reagiert wird: konstruktiv oder restriktiv skandalisierend« (Yildiz 2010: 59).
Auch Avtar Brah legt dar, dass die Gastarbeiter_innenforschung von Anfang an aus einer postkolonialen Perspektive beschrieben und verortet wurde. Sie bezieht sich dabei auf Etienne Balibar: »Wie Balibar (1991) anmerkt, bezog sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Hauptbedeutung des Begriffs ›Europäer‹ auf Gruppen von KolonistInnen in den kolonisierten Gebieten der Welt« (Brah 1996: 25). Aufbauend auf diesen Denkstrukturen mit ethnifizierendem Alltagswissen ist die Konstruktion von Gruppen durch ethnifizierte Zuschreibungsprozesse ein Ansatz, der defizitär orientiert ist. Der nächste Textabschnitt thematisiert die Defizitorientierung der Ausländerpädagogik, um die Notwendigkeit des Paradigmen- und Perspektivwechsels zu verdeutlichen.
3 . V o n d e r A u s lä n d e r _ p ä d a g o g i k z u r t r a ns k u l t u r el l e n P ä d a g o g i k Seit nun fast fünf Jahren ist die Bundesrepublik auch offiziell ein Einwanderungsland. Die Gastarbeiter_innen, die im Zuge der Anwerbeabkommen für das Land rekrutiert wurden, sollten – so die Idee in den 60er, 70er und sogar noch in den 80er-Jahren – samt ihren Familienangehörigen irgendwann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Danach waren alle Systeme (die Wirtschaft, die Politik, der Klerus, das Bildungssystem, das Staatsbürger_innenrecht, die Asylpolitik) unserer Gesellschaft ausgerichtet (vgl. Herbert 2001). Die Ausländer_pädagogik war von all den zuvor beschriebenen negativ konnotierten und konstruierten Ansätzen abgeleitet. Sie verstand sich als »Retterin« der People of Color: Den Kindern, die keine Zukunft in der damaligen Bundesrepublik hatten, sollte sie helfen, sich hier ein wenig zurechtzufinden: »Es entstand die bis heute geläufige Metapher vom ›Leben zwischen zwei Welten‹. Man verlangte von den Zugezogenen und deren Nachkommen eine Kultur der Eindeutigkeit, also ihre ›Assimilation‹ in eine hiesige Normalität«. (Yildiz 2010: 64)
Als die ersten Gastarbeiter-Frauen zum Arbeiten gekommen oder als Familienangehörige nachgezogen waren, wurden Möglichkeiten einer
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Integration außer Acht gelassen. Gerade diese Frauen, die seit Jahren ihre Migrationsgeschichte mit sich tragen, sind im emanzipatorischen Sinne Pionier_innen. Trotzdem wurden sie aus einer defizitorientierten Perspektive heraus nur bemitleidet, ihre Stärken wurden kaum sichtbar gemacht, ein emanzipatorisches Engagement wurde ihnen nicht zugeschrieben. Den Biografien dieser Frauengeneration schenkte man kaum Beachtung. Mit ihren Vorstellungen und ihren Lebenskonzepten haben sie sicherlich emanzipiert gehandelt, ohne von den weiß-deutschen Feminist_innen Anerkennung zu bekommen.10 »Die Anderen werden als noch nicht reif für die Freiheit und Gleichheit betrachtet, sie gelten als unzivilisiert, faul, grausam, kindlich etc.« (Yildiz 2010: 72) Die Möglichkeit, dass gerade diese Frauen besondere Kompetenzen haben, die weiterentwickelt werden könnten, um sie in ihren Berufsalltag zu integrieren, wurde ebenfalls kaum in Betracht gezogen. Daher ist es wichtig zu erfahren, wie und wo sie ihre eigens entwickelten Kompetenzen einsetzen. Die Handlungsstrategien, die sie, bezogen auf Rassismuserfahrungen, sicherlich entfaltet haben, sollten Beachtung finden. All diese (öffentlich) nicht wahrgenommenen Kompetenzen geben sie an ihre Kinder und Enkel_innen weiter. Ihren alten und neuen Wünschen sollte endlich ein respektvoller Raum zugestanden werden. Denn: »Wenn ein alter Mensch stirbt, dann brennt eine ganze Bibliothek ab«, so sagt ein altes afrikanisches Sprichwort. Parallel dazu sind mit Beginn der 80er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland einige feministische Organisationen, wie z.B. ADEFRA (Schwarze Frauen in Deutschland), FEMIGRA (feministische Migrantinnen), AGISRA (Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen in Köln) entstanden. Sie schufen sich feministische Räume, in denen es möglich wurde, ihre Rassismuserfahrungen zu thematisieren und zu reflektieren. Bereits seit August 1983 besteht der BDP (Bund Deutscher Pfadfinder, Berlin) Mädchenladen Spandau mit dem Schwerpunkt der interkulturellen Mädchenarbeit und einem spezifischen Angebot nur für Mädchen und junge Frauen. Die Arbeit von Mohtaram Zaherdoust, Leiterin des Mädchenladens Spandau, ist an die Elternbildung angegliedert. Hier wird die Herkunftsfamilie nicht (nur) als Unterdrückungssystem, sondern als potenzielle Ressource verstanden. Mädchen erfahren einen vor Rassismen und Sexismen geschützten Raum. PAPATYA (Berlin) verfügt ebenfalls über ein multiprofessionelles, interkulturelles Team mit diversen Migrationserfahrungen, unterschiedlichen Berufsausbildungen und 10 Dies führte Maria do Mar Castro Varela in einem Vortrag bei dem AKE Vlotho im Oktober 2009 an.
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verschiedenen Alters. Auch der Mädchentreff Mabilda e.V. in Duisburg arbeitet transkulturell. Hatice Güler und Petra Kurek (bis 2009) leiten seit über 20 Jahren diese Arbeit von Mabilda e.V. Obschon diese Traditionen in der feministischen Arbeit bestehen, sind davon auf den etablierten Fachtagungen kaum Spuren zu vermerken. Auf der Fachtagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik (BAG Mädchenpolitik) im Dezember 2009 in Berlin gab es außer Maisha Eggers, Referentin zum Thema Diversität, und Mohtaram Zaherdoust, Vorstandsfrau der BAG Mädchenpolitik, höchstens eine Handvoll Frauen von 120 Besucher_innen, die offensichtlich Frauen of Color waren. Signifikante Wissensproduktionen, literarische und theoretische Veröffentlichungen von Frauen of Color sowie deren politische Forderungen finden kaum Zugang zu den Räumen der avantgardistischen weißen Feminist_innen. Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dawan sagen zu Räumen, Zuschreibungen und zur Partizipationsfähigkeit von Frauen of Color: »Spivak selber wird dabei nicht müde, explizit und kontinuierlich vor den Gefahren der Aneignung der Opferrolle und der Praxis der Politik der Minorisierung und Marginalisierung zu warnen, die am Ende zur Gewinnung von Privilegien für diejenigen führt, die sich zu Repräsentantinnen minorisierter Räume erheben. Minorisierung und Marginalisierung sollten nicht gefeiert werden, vielmehr sollte es darum gehen, den Dualismus zwischen den Rändern und dem hegemonialen Zentrum zu radikalisieren, mithin zu dekonstruieren« (Castro Varela/Dawan 2007: 43).
Birgit Rommelspacher kommt mit ihrem Konzept der Dominanzkultur zu dem Ergebnis, dass Zuschreibungen immer auch mit gesellschaftlichen Machtstrukturen verbunden sind, d.h. auch Normierungen produzieren. Es werden Kategorien der »Über- und Unterordnung« geschaffen, die bis hinein in die Selbst- und Fremdbilder, in Interaktionen, in gesellschaftliche Praxen und schließlich in Gefühle reichen. Sie ist eine der wenigen weiß-deutschen Feminist_innen, die sich kritisch mit eigenen Machtpositionen auseinandersetzt und Rassismus kritisch reflektiert (vgl. Rommelspacher 1995). Das wichtige Fundament für die paradigmatische Wende zu Critical Whiteness wurde aufgebaut, ohne es als solches zu benennen. Seit nunmehr fast 30 Jahren wird in der kritischen Migrationsforschung die ausländerpädagogische Praxis wegen ihres paternalistischen Charakters, ihrer »Spezialpädagogisierung« und Defizitorientierung kritisiert. Dennoch ist ihre fatale Auswirkung in fast allen Bereichen der
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Gesellschaft weiterhin zu beobachten, wie auch Anne Broden und Paul Mecheril unter dem Aspekt der Zugehörigkeiten analysiert haben: »Die Auseinandersetzungen um symbolische Grenzen natio-ethnokultureller Zugehörigkeit können als diskursive Prozesse verstanden werden. Solche Zugehörigkeitsdiskurse sind produktiv, sie sind machtvoll und komplex. Die Auseinandersetzungen um die Zugehörigkeitsgrenzen werden von Diskursen um Identität und Toleranz, um Fremdes und Eigenes, um natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit getragen« (Broden/Mecheril 2007: 11).
Das ethnifizierende Alltagswissen erlaubt die Ausbildung von Routinen, die sich als Wirklichkeit behaupten und gelebt werden. Erol Yildiz bezeichnet dies als Ethnizitätsdispositiv11, mit dem ein Komplex von Macht und Wissen geschaffen wird, der alltägliches Handeln beeinflusst. Daraus zieht er die Schlussfolgerung, dass es nicht die rassistisch denkende Person ist, die die »Anderen« erzeugt, sondern die institutionalisierten Strukturen selbst. Annita Kalpaka und Nora Räthzel erläutern dies in ihrem bahnbrechenden Buch »Die Schwierigkeit nicht rassistisch zu sein« auf verschiedenen Ebenen. Ingrid Gogolin beleuchtet die Haltung von weißdeutschen Pädagog_innen (in staatlichen Institutionen) zur Sprachkompetenz von Kindern of Color. Sie rückt nicht nur die kolonialistischen Sprachfähigkeiten in den Vordergrund, so wie es der Mainstream tut, sondern auch die Herkunftssprachen der Familien of Color (vgl. Gogolin 2007). In der Zeit des Umbruchs zum neuen Millennium entstanden einige pädagogische Projekte, die neben Geschlechterhierarchien auch verschiedene Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Hautfarbe und/ oder Zuwanderungsgeschichten berücksichtigen. Dazu zählen zum Beispiel »respect!« aus Bremen oder »girls act! – antirassistische Mädchenarbeit« in Bielefeld. Im Folgenden wird auf transkulturell orientierte Konzepte und Teams eingegangen, weil sie sich als Voraussetzung für eine gelingende Arbeit mit dem Empowerment- und Critical-WhitenessAnsatz anbieten.
11 Mit dem Ethnizitätsdispositiv meint Erol Yildiz Praktiken der Repräsentation, die an der Produktion und Reproduktion von Wirklichkeitskonstruktionen beteiligt sind. Diese teilen die Welt in abgegrenzte Einheiten ein, verwandeln Differenz in Hierarchie und naturalisieren diese. Sie sind so an der Reproduktion asymmetrischer Machtbeziehungen, und sei es auch unbewusst, beteiligt (vgl. Yildiz 2010).
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4. Empowermenträume und die Notwendigkeit der Transkulturellen Teams Mädchen_arbeit für Mädchen of Color setzt Critical Whiteness und Empowermentarbeit voraus. Sowohl die Positionierung von People of Color als auch die Implementierung des Critical Whiteness ist für sie unabdingbar, wie im theoretischen Teil erläutert wurde. Auf dieser Plattform aufbauend sind Transkulturelle Teams und Räume ein professioneller Standard, der gesetzt werden muss, um Mädchen of Color und weiß-deutsche Mädchen zusammenzubringen, sodass ein respektvolles und gleichgestelltes Zusammensein möglich ist. Auf der Basis dieser Standards kann eine tatsächlich selbstbestimmte Partizipation realisiert werden, die versucht Hierarchisierungen entgegenzuwirken. Das heißt auch, dass die Gleichstellung und Gleichberechtigung, die in Hinblick auf die Geschlechterhierarchie verlangt wird, gleichermaßen aus der People-of-Color-Position heraus gefordert wird. Das Vorhandensein eigener Räume innerhalb der feministischen Mädchenbildung ermöglicht Mädchen of Color, eigene Maßstäbe zu entwickeln und zu setzen. Transkulturelle Teams können, so Maria do Mar Castro Varela, ihre vermeintliche »Schwäche« in »Stärke« wandeln. Unter der Voraussetzung, dass sie die eigene Heterogenität als anstrengenden Vorteil begreifen und als Chance der sozialen Normalisierungsgewalt entgegensetzen. »Transkulturelle Teams haben hier den deutlichen Vorteil, dass sie auf einer symbolischen Ebene bereits eine Herausforderung gegen etablierte Normalitäten bedeuten. Dort wo das ›Mono-Prinzip‹ normal ist, bedeutet das Experiment mit möglichst hoher Heterogenität einen nicht zu unterschätzenden Angriff auf das So-wie-es-ist« (Castro Varela 2005: 6).
Maria do Mar Castro Varela betont, dass politische Aktivist_innen, die in Widerstandsstrukturen arbeiten und leben, in transkulturellen Teams eher eine Chance sehen als Menschen, die alles so lassen wollen, wie es gerade ist. »Hegemoniale Verhältnisse können nicht durch die Hintertür verlassen werden oder gar ohne eigene Involviertheit verändert werden. Alle, die daran beteiligt sind, sind betroffen« (ebd. 2005: 6).
So betont Varela weiter, dass transkulturelle Teams eine Chance und Herausforderung im Feld sozialer und pädagogischer Arbeit darstellen. Machtverhältnisse und Dominanzlinien ziehen sich durch Teams und
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Institutionen, selbst dann, wenn diese ein dominanzkritisches Leitbild für sich entwickelt haben – und solche Strukturen müssen in der Selbstreflexion bearbeitet werden. Insgesamt jedoch wird durch transkulturelle Teams eine Positionierung zu den Themen der Migrationsgesellschaft sichtbar und sie sind insofern richtungsweisend. »Für die symbolische Außenwirkung ist ein solches in jedem Falle wünschenswert, nach innen hat es aber nicht die gleichen Konsequenzen. Das Nachdenken über soziale Gerechtigkeit verlangt nach einer historischen und auch geopolitisch kontextualisierten Auseinandersetzung mit der Komplexität sozialer Ungleichheit« (ebd. 2005: 6).
Varela thematisiert verschiedene soziale Kategorisierungen wie folgt: Es bedeute sehr viel, Schwarz zu sein in einer weißen Gesellschaft. Es bedeute sehr viel, in einer »Gastarbeiterfamilie« aufgewachsen zu sein, in einem Land, in dem Klassismus zwar kein Thema der politischen Debatte mehr zu sein scheint, aber die Segregation nach sozialer Herkunft unbestreitbar und erheblich sei. Es bedeute sehr viel, eine lesbische Frau zu sein, in einer Welt, die heteronormativ strukturiert ist. Diesen Überlegungen folgend sind Prozesse der Selbststärkung der Mädchen of Color zu unterstützen und zu forcieren. Das wiederum setzt voraus, dass das Bild von der armen und unterdrückten Frau/dem armen, unterdrückten Mädchen of Color, die/das gerettet werden soll, reflektiert wird. Es setzt auch voraus zu erfassen, dass die defizit-orientierten Bilder funktionieren. So kann verstanden werden, wie diese bestimmten Bilder in der feministischen Mädchenarbeit immer wieder Hierarchien reproduzieren. Auf diese Weise können die Bedürfnisse von Mädchen of Color innerhalb der feministischen Mädchenarbeit berücksichtigt werden. Darüber hinaus benötigen wir die Akzeptanz vorhandener Feminist_innen of Color; diese müssen zunächst sichtbar gemacht werden. Der Umgang mit Zuschreibungen, Zugehörigkeiten und Zuwendungen eröffnet hier eine Dimension zur reflektierten und programmatischen Partizipation. Um die weiß-dominierten Diskurse, die im theoretischen Teil ausführlich erläutert wurden, zu umgehen, werden Räume geschaffen, die es ermöglichen, darüber aufzuklären, was die Mädchen aufgrund von Rassismuserfahrungen schwächt und was sie stärkt. Maisha Eggers übersetzt Empowerment inzwischen mit Selbststärkung und geht davon aus, dass Mädchen of Color Bedingungen brauchen, die ihnen helfen, sich selbst stärken zu können. Sie müssen dazu erst mal identifizieren, wie und wo sie (gesellschaftlich, institutionell, persönlich) kleingemacht und -gehalten werden. Sie brauchen dafür die kritische Begleitung von Pädagog_in-
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nen of Color, die ihnen Strategien der Selbststärkung vermitteln, um sie schließlich selbst auszuprobieren und zu verinnerlichen; EmpowermentForen, in denen Rassismuserfahrungen reflektiert und Zeit und Energien nicht vergeudet werden, weil Rassismuserfahrung zunächst erklärt werden muss. Gleichzeitig, so Maisha Eggers12, sind vielfältige und gegenseitige Bezüge, in denen Gesichtspunkte des Widerstandes erläutert werden, immer wichtiger, vor allem aus der kritischen Wissensproduktion von People of Color Aktivist_innen und Critical Whiteness Aktivist_innen. Der ausschlaggebende Ansatz in der Empowermentarbeit ist folgender: Selbstbestimmt die eigenen Stärken und Ressourcen definieren. Mädchen of Color entscheiden demnach selbständig, was für sie eine Stärkung und was eine Ressource ist. Wenn für sie das Tragen eines Kopftuches eine Stärkung ist, dann wird das nicht infrage gestellt, sondern akzeptiert. Wenn Mädchen of Color die Möglichkeit bekommen, sich selber auszuprobieren, sich selber zu verorten, indem sie sich selber sehen, hören, spüren und äußern, dann kann von Empowerment geredet werden. Bei der Bearbeitung von Rassismuserfahrungen ist die emotionale Arbeit von großer Bedeutung. Emotionale Stärke ist genauso wichtig wie geistige Stärke. Gefühle von Scham und Ohnmacht sollten im geschützten Raum verarbeitet werden, in dem Verletzungen mit Respekt behandelt werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Betroffenheit aufgrund der weiß-deutschen Zugehörigkeit kann in einem eigenen Raum stattfinden (Critical Whiteness).13 Die frei entfaltete kritische Reflexionsarbeit der Mädchen darf nicht unterbunden werden, auch dann nicht, wenn sie den aktuellen Feminismus kritisiert. Das muss dann von den Pädagog_innen ausgehalten werden. Wenn ein Mädchen of Color Angst hat, dass ihr das Kopftuch vom Kopf gerissen wird, dann müssen diese Ängste ernst genommen werden. Gerade diese Entmündigung findet europaweit in den öffentlichen Diskursen statt. Mädchen of Color werden in die Lage versetzt, sich selbst zu stärken. Dafür brauchen sie Empowermentforen innerhalb der Mädchenarbeit, um in einer geschützten Atmosphäre ihr ethnifiziertes Mädchengewordensein zu reflektieren. Es sollen Räume sein, denen eine schützende Funktion eigen ist, Räume, in denen Rassismuserfahrungen ohne
12 In einem Gespräch anlässlich der Empowerment-Reihe in Frille, April 2010. 13 Darauf wird am Ende des Textes mit Grada Kilomba eingegangen.
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Bewertungen geäußert werden können, Räume von Pädagog_innen of Color für Mädchen of Color.14 Mädchen of Color benötigen diese geschützten Räume, weil sie die »Nicht-Zugehörigen« sind. Ethnifizierte Mädchen sind nicht weißdeutsche Mädchen. Bei der Verteilung von Privilegien und Zuwendungen sind sie die »Nicht-Sichtbaren«, die »Nicht-Anwesenden«, obschon sie im Raum existenziell vorhanden sind. Deshalb sind diese Räume eine notwendige Voraussetzung für die Teilhabe von Mädchen of Color und Pädagog_innen of Color im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Verarbeitung des verinnerlichten Rassismus (vgl. Prasad 1994). An dieser Stelle ist eine Re-WissensBildungsarbeit (vgl. Said 1994) zu leisten. Das bedeutet, die kritischen Wissensproduktionen von People of Color mit einzubeziehen und als Instrument der Selbststärkung einzusetzen. Es gilt zu vermitteln, welche Diskurse dazu beitragen, dass ein bestimmtes Bild einer Frau of Color vorherrscht. Mit Hilfe von Texten und Erkenntnissen postkolonialer Theoretiker_innen können sich Mädchen of Color und Mädchen_arbeiter_innen kritisches Wissen aneignen. Dieses kritische und neue Wissen kann schließlich zur Stärkung der eigenen Persönlichkeit eingesetzt werden. Mit Hilfe der kritischen Wissensproduktionen von People of Color, die letztendlich ein weiteres Tool der Selbststärkung sind, kann die »Wahrheit über sich selbst« infrage gestellt werden. Schließlich kann dieses Wissen positiv eingesetzt werden, um sich selber neu zu konstruieren. Es besteht dabei die Möglichkeit, sich selber neu zu erfinden und sich selbstbestimmt zu verorten. Das Denken ändern, um damit sich selber zu ändern. Nicht zuletzt ist die Bildung von Netzwerken von großer Bedeutung. Aufbauend auf diese verknüpften Netzwerke kann Solidarität zur Macht der »Machtlosen« werden. Mit der Formierung von Netzwerken kann Lobbyarbeit anfangen und ausgearbeitet werden. Mädchen of Color und Mädchen_arbeiter_innen of Color können neue Plattformen erschaffen, von denen aus sie sich neu und weiterentwickeln können. Solche Strategien sind wohlbekannt, besonders im Management, und sollten unbedingt mit bedacht werden. Potenzielle Verbündete werden zwar in einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft oft als Konkurrent_innen eingestuft, in der feministischen Mädchen_arbeit sollte jedoch die Möglichkeit und Notwendigkeit der Solidarität eine größere 14 Es ist hier nicht von paradiesischen Zuständen die Rede. Auch in Empowermentforen sind Hierarchisierungen anzutreffen, dennoch sind die Ausgangspunkte zum Thema Rassismus anders verortet.
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Rolle spielen. Kritisch reflektierte Menschen werden sicherlich die Vorteile solidarischen Handelns in einer postkolonialen Epoche zu schätzen wissen. In diesem Sinne sind die nun folgenden Überlegungen genauso notwendig wie der Part der Empowermentbildung. Und in Anbetracht des bis hierher Gesagten liegt es nahe, dass der vor uns liegende Weg nur gemeinsam gegangen werden kann.
5 . D i e s e r W eg k a n n nu r g em e ins a m ge eg gan ng gen we err d e n Den Herausforderungen auf diesem Weg von People of Color und Weiß-Deutschen kann nur zusammen begegnet werden, um gemeinsam eine paradigmatische Wende herbeizuführen und die Implementierung von Frauen und Mädchen of Color in die feministische Mädchenarbeit zu forcieren. Wenn lediglich die Methode des Empowerments eingesetzt wird und dabei der Part der Weiß-Deutschen Pädagog_innen außer Acht gelassen wird, dann wird das sicherlich ein anstrengender und langer Weg. Um dem vorzubeugen, sollten Gleichgesinnte sich sowohl in der kritischen Weißseinsforschung als auch in der kritischen Wissensproduktion von People of Color betätigen und aufeinander Bezug nehmen. Der Weg wird wahrscheinlich einfacher zu gehen sein, wenn die Methoden, das Wissen und die Emotionen zu Critical Whiteness parallel zur Empowermentbildung ausgearbeitet werden. Es geht nicht darum, neue Hierarchien und Umkehrungen von Hierarchien zu schaffen. Sondern viel eher darum, gemeinsame und solidarische Zusammenhänge und Bezüge aufzubauen, die der Ausbeutung von Frauen und Mädchen Einhalt gebieten. Das heißt unter anderem, dass in sich verschränkte Diskurse von Macht, Herrschaft und Privilegien bearbeitet werden müssen. Auch hier gilt es, das »Wissen um« und die »Bilder von« zu reflektieren: Was macht die privilegierte Haltung in mir aus? Wo und wie setze ich meine Instrumente des Privilegiertseins ein? Fällt es mir leicht, dies zu reflektieren? Wie viel bin ich bereit abzugeben von dem, was ich habe? Wie habe ich das Recht des Privilegiertseins erlangt, was habe ich dafür getan? Wovon bin ich abhängig? Mit der Idee des Powersharings reflektiert Gabriele Rosenstreich den Zusammenhang von Zugehörigkeiten, Zwischenräumen und Macht. Auch für sie ist die Wechselbeziehung und das Aushandeln von Empowerment und Powersharing eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen eines solidarischen Handelns. Ein nahe liegender Schritt hin zum
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Empowerment ist das Powersharing mit dem Critical-Whiteness-Ansatz. Aufbauend auf die Selbststärkung der Mädchen of Color ist es z.B. nötig, dass gerade diese Mädchen endlich auch Zugehörigkeiten, Zusagen und Zuwendungen erhalten. Irgendwann sind gleiche Rechte, gleiche Chancen auf dem Bildungsmarkt und noch vieles mehr möglich. Gleichermaßen ist die emotionale Arbeit zu betrachten. Infolge der Reflexion der Emotionen kann es durchaus passieren, dass Veränderungen angesteuert werden. Es gilt zu reflektieren, welche Gefühle was in mir bewegen und wie ich bestimmte Gefühle interpretieren, annehmen oder überwinden kann. Und will ich sie überwinden und was nützt es mir, sie zu überwinden? Hier können ebenfalls Gefühle des »SichErtappt-Fühlens« oder gar Schamgefühle entstehen. Grada Kilomba spricht davon, dass das »ego defense of the white subject« in fünf Schritten »goes through in order to become aware of its own whiteness and of itself as a performer of racism: denial – guilt – shame – recognition – reparation« (vgl. Kilomba 2008: 21). Anhand dieser fünf Schritte können Machtgefühle und -positionen solidarisch durchleuchtet und verarbeitet werden. Diese fünf Schritte können als Instrumente der Reflexion dienen, damit Bezüge von People of Color und die Weiß-Deutscher in eine gemeinsame gesellschaftskritische Bewegung münden. In dieser Aufzählung wird unter anderem auch deutlich, wie stark Emotionen die Handlungen beeinflussen. Die emotionale Arbeit geht Hand in Hand mit der kognitiven und partizipatorischen Arbeit. Sowohl der Critical-Whiteness-Ansatz wie auch der Empowermentansatz enden demnach nicht mit dem Reflektieren von eigenen Haltungen und Privilegien. Weiterführend ist kritisches Wissen zu produzieren und schließlich aktivistisch zu handeln, um hierarchisierende Strukturen zu verändern. Auch auf dem gemeinsamen Weg von Gleichgesinnten können Kränkungen auf beiden Seiten vorkommen. Die notwendige Reflexion und das konstruktive Einsetzen von Critical Whiteness, Empowerment und Powersharing sind jedoch Voraussetzung, damit ein gemeinsamer Weg nicht stagniert oder gar abgebrochen wird. In diesem Sinne müssen Zugeständnisse von Schwächen ausgehalten und Verantwortungen ausgehandelt werden, um gleichberechtigt arbeiten zu können. In einem geschützten und prozessorientierten Raum können neue Ansätze und Netzwerke geschaffen werden, die schließlich etabliert werden sollen. Hierbei kann z.B. auf Methoden der gewaltfreien Kommunikation (vgl. Rosenberg 2006), Mediation, Theater der Unterdrückten (vgl. Boal 1979) etc. zurückgegriffen werden. Die Hauptsache ist, dass es geht, in gegenseitiger Anerkennung weitergeht: Für den gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, insbesondere von Mädchen und Frauen.
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Rassismuskritische Pädagogik am Beispiel der Mädchen_arbeit Molkerei e re i Frille Frille«. «. Mä dchen_a rbe it in der de r » Alten Molk Eine programmatische Positionierung FIDAN YILIGIN »Aber schon kämpfen Frauen auf der ganzen Welt zusammen mit progressiven Männern und kriegsgeschädigten Menschen und solchen, die von der Umweltverschmutzung genug haben – kämpfen für eine Änderung dieser fatalen Philosophie.« (Nawal El Saadawi, 1994)
Im Organisationsentwicklungsprozess der »Alten Molkerei Frille« wurde entschieden, das weiß-deutsche Bildungshaus für People of Color1 zu etablieren. Das Leitungsteam entschloss sich nach vielen Auseinandersetzungen und konstruktiven Diskussionen mit den pädagogischen Mitarbeiter_innen für die Aufnahme der Themen Empowerment und Critical Whiteness. Dies war einer der Gründe, mich ins Leitungsteam der Bildungsstätte aufzunehmen. Es ist uns wichtig, unsere politische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft auf den Säulen von Inklusion2, den 1
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Personen, die sowohl rassifiziert als auch ethnifiziert werden und dadurch Zugehörigkeiten, Zuschreibungen und Zuwendungen erhalten. Diese Zugehörigkeiten, Zuschreibungen und Zuwendungen sind stets in einer hierarchisierenden Form konstruiert, werden aber als »naturgegeben« verhandelt. Ich verwende den Inklusionsansatz von Martin Kronauer.
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Ansätzen der Empowermentbildung, die mehrdimensional aufgefasst wird, und der Critical-Whiteness-Bildung, die Hierarchisierungen und Vorherrschaften infrage stellt, auszubauen. Inklusion ist zu einem bedeutenden Thema im gesellschaftlichen Diskurs geworden. Der hier verwendete Begriff der Inklusion (Martin Kronauer 2010) thematisiert dabei vorrangig ein gesellschaftliches Problem. Kronauer legt dar, wie Fortbildungsreihen zur sozialen und gesellschaftlichen Inklusion ihren Beitrag leisten können. Er weist eindringlich darauf hin, dass die Identifizierung von organisationsbezogenen Maßnahmen zur Minimierung des Exklusionsrisikos und die Förderung der Inklusion auf der Basis des sozialen Rechts auf Bildung unabdingbar zusammengehören. Weiterhin geht er davon aus, dass die Optimierung der Lehr- und Beratungsangebote in mikro- und makrodidaktischer Hinsicht, auch bezüglich der Qualifizierung von Lehrenden, Beratenden und Organisationsverantwortlichen ein notwendiger Paradigmenwechsel ist, um adäquate Fortbildungen anbieten zu können. Aufbauend auf einer Selbstreflexion der Organisationen soll die Unterstützung eines wirksamen Diskurses über die Frage einer nachhaltigen Verbesserung der Inklusion für die von Exklusion bedrohten oder betroffenen Bevölkerungsgruppen angeregt werden. Demzufolge reicht der Inklusionsansatz über herkömmliche integrative Ansätze im Sinne von »Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft« hinaus. Ein inklusiver Ansatz bezweckt die Wandlung gesellschaftlicher Strukturen zu einem Zustand, in dem Beteiligungs-, Bildungs- und Lebensbedürfnisse aller Menschen befriedigt werden. Wesentliches Prinzip ist die Wertschätzung der Vielfalt, in der jede_r Einzelne mit den eigenen Fähigkeiten einen Platz hat. Eine inklusive Haltung beachtet die verschiedenen Differenzlinien und deren Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext von Zugehörigkeit, Privilegien und Benachteiligungen. Die Benachteiligungskategorien werden dabei nicht isoliert, sondern in ihrer Verschränkung und Vielschichtigkeit betrachtet. Die aktuellen Debatten zu Rassismus und Postkolonialität, die im Rahmen von aktivistischen3 Netzwerken in Deutschland geführt werden, spielen für die Entwicklung neuer Impulse in der Empowermentbildung eine wichtige Rolle. Es ist wichtig, in diesen Foren sowohl Rassismuserfahrungen als auch rassismuskritische Konzepte und Wissensproduktionen mitzuteilen und weiterzuentwickeln. Außerdem treffen sich dort mögliche Projektpartner_innen und Netzwerke können gesponnen werden, um gemeinsam weitere Entwicklungsprozesse in Gang 3
Mit aktivistisch ist hier der Prozess der kritischen sozialen Bewegungen gemeint.
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zu setzen. Die Empowermentarbeit wird nun auch in der »Alten Molkerei« angegangen. Daher sollten die Ansätze von Empowerment und Critical Whiteness in die feministische Mädchenbildung aufgenommen werden. Im ersten Teil dieses Textes wird der Empowermentansatz von Frauen of Color aus meiner persönlichen Perspektive dargelegt. Der zweite Textabschnitt beschreibt, wie das Konzept von Empowerment der »Alten Molkerei« und das Empowermentkonzept von Frauen of Color zusammengehen können. Der letzte Teil handelt von einer rassismuskritischen Projektentwicklung im Bereich der Peer-Education in Frille.
1 . P r o g r a m m a t i s c h e O r i e n t i e r u n g e n i n d er E m p o w e r m e n t a r b e it m it M ä d c h e n o f C o l o r Seit 1991 setze ich mich mit Migration, Integration, Rassismus- und Vorurteilsforschung sowie Empowerment auseinander. Die in diesen Jahren gemachten Erfahrungen und das dabei angeeignete Wissen werde ich nun in die Friller Mädchen_arbeit einbringen. Dazu gehört das ehrenamtliche Engagement in Netzwerken, aber auch die theoretische Vertiefung der Themen »Die Rolle der Frau im Islam« oder »Die Rolle der Frau in der türkischen Community in der Bundesrepublik Deutschland«. Letzteres habe ich erarbeitet, weil ich immer wieder gefragt wurde, wie traditionell diese Rollen tatsächlich sind. In der »Arbeitsgemeinschaft gegen Rassismus und Antisemitismus in der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie«, die u.a. von Birgit Rommelspacher gegründet wurde, entwickelte ich in Anlehnung an Annita Kalpakas Seminare, ein »Antirassismustraining«. 1997 besuchte ich schließlich das Seminar »Wohin geht die Reise?« bei Kalpaka. Daraufhin modifizierte ich das »Antirassismustraining« in ein Empowermenttraining. Dieser Schritt war für mich ein sehr naheliegender, weil innerhalb der oben genannten Arbeitsgemeinschaft immer klarer wurde, dass geschützte Räume benötigt werden, um Verletzungen vorzubeugen. Der Perspektivwechsel mit dem Ansatz von Empowerment und Critical Whiteness mit Mädchen of Color wurde in die Mädchenbildung aufgenommen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Frauen of Color einzustellen. Die Strategie der Konstruktion der und des »Anderen« wird in den Beiträgen »Sich selbst stärken: Mädchen of Color in der Empowermentarbeit« sowie in »Augen auf und durch!« (beides in diesem Buch) dargelegt, ebenso wie die Notwendigkeit der kritischen Wissensproduktion. Nun geht es darum, genau diese Wissensproduktionen in Form von Seminaren fruchtbar werden zu lassen. Hier werden die
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Konzepte der »Alten Molkerei« mit den Konzepten der Mädchenarbeit von Frauen of Color zusammengefügt, kombiniert und modifiziert. Die feministische Mädchen_arbeit in der »Alten Molkerei« hat mit Regina Rauws Ansatz von 2001: »Was ich will!« bereits eine Plattform geschaffen, auf der das Thema Empowerment zentral gesetzt wurde. Ich bin von diesem Programm begeistert, weil die kritische Perspektive der Frauen of Color viele Überschneidungsfelder mit diesem Konzept teilt. Hier ist ein zentraler Bezugspunkt, auf den sich weitere kritische (gesellschaftskritische, hierarchiekritische) Ansätze beziehen lassen. »Was ich will« erzeugt einen Raum, in dem Mädchen of Color sich entfalten und sich selbst in den Vordergrund stellen können und nicht vorwiegend die Bedürfnisse der Außenwelt zu erfüllen versuchen. Rauw legt ihrem Konzept vier Prämissen zugrunde, die sie wie folgt auflistet: 1. Mädchenarbeit ohne Mädchenbild, 2. das Interesse der Mädchen zum Ausgangspunkt machen, 3. größtmögliche Partizipation, 4. Kontakt zwischen Mädchen und Frauen ermöglichen (vgl. Rauw 2001). Zu 1: In dem vorangegangenen Text »Sich selbst stärken: Mädchen of Color in der Empowermentarbeit« habe ich die Macht der Bilder aufgezeigt. Mädchenarbeit ohne Mädchenbild bedeutet, dass auch Mädchen of Color die neuen Bilder mit konstruieren können, sich neu positionieren und definieren können. Zu 2: Mädchen of Color müssen sich nicht an den gegebenen und erwünschten Maßstäben orientieren, sondern setzen selber Standards. Zu 3: Empowerment in eigenen Räumen soll stärkere Partizipation ermöglichen, indem Mädchen of Color sich selbst stärken und Handlungsstrategien zu Rassismuserfahrungen und verinnerlichtem Rassismus erproben. Zu 4: Mädchen_arbeiter_innen of Color arbeiten in geschützten Räumen mit Mädchen of Color. In diesen Räumen gibt es die Möglichkeit, Pädagog_innen of Color als Vorbilder zu haben, die stärkend wirken können. Zu sehen, dass Pädagog_innen of Color bestimmte Positionen erreicht haben, kann motivierend wirken. Plakativ gesagt: Nicht jede Türk_in ist eine Putzfrau.4 Die Mädchen_of Color können sich selbst zum Ausgangspunkt nehmen. Sie produzieren ihre eigene Agency. Sie üben sich in Handlungsfähigkeit. Sie bestimmen über die eigenen Schwerpunkte. Sie setzen ihre eigenen Maßstäbe. Was ich an der Arbeit in der »Alten Molkerei« ebenfalls schätze, ist das Credo des »Sowohl-als-Auch«. Nicht nur die Eindeutigkeiten ma4
Mit diesem Beispiel möchte ich lediglich ein Stereotyp aufbrechen. Leider reproduziere ich damit zugleich die gesellschaftliche Negativpositionierung der Reinigungsfachkraft.
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chen die Arbeit aus, sondern vielmehr die Möglichkeiten und die scheinbaren, aber fruchtbaren Paradoxien. Das wiederum wird nicht als opportun festgeschrieben, sondern als Chance gesehen. So kann gesellschaftlich bestehende Zuschreibung und Zugehörigkeit aufgebrochen, infrage gestellt und verschoben werden.5 Mit ihren Lebenskonzepten, die alles andere als eindeutig sind, werden Mädchen of Color nicht problematisiert, sondern erhalten Respekt und Wertschätzung. Hier kann ich »teilnehmer_innenzentriert« arbeiten (Rogers 1992): Die Teilnehmer_in steht im Mittelpunkt, nicht das Korsett, das ich ihr (bewusst oder unbewusst) überstülpe. Ich muss das Mädchen vor mir erkennen mit all seinen Facetten, die unsere Gesellschaft ihm zur Verfügung gestellt hat, und es begleiten. Seinen Lebensweg und Lebensinhalt gestaltet es selber. Ich halte es für sinnwidrig, wenn ich von Mädchen erwarte, »sich zu emanzipieren« und gleichzeitig gekränkt bin, wenn das Mädchen sich nicht meinen Lebenswelten anpassen möchte und seine »eigenen« Wege geht. Aus meinem Erfahrungsschatz zur Implementierung von transkultureller Beratung in verschiedenen Institutionen ist mir bekannt, dass einerseits ein Bewusstsein über die Notwendigkeit hierfür da ist, das Gelingen aber mit dem Argument des »Misslingens der Integration von People of Color« verhindert wird. Die Bereitschaft, Macht zu teilen, ist nicht vorhanden. Die Hauptnahrung des Rassismus ist die Hierarchisierung von Menschengruppen. Die konstruierte Hierarchie im Geschlechterkontext ist übertragbar auf die konstruierten Hierarchien im Mensch-Sein. In diesem System der Konkurrenzen ist es naheliegender, sich mit der Konkurrenz auseinanderzusetzen, statt mit den Verantwortlichen der Diskurse der Konkurrenz. Smith beschreibt in »Heteropatriarchy and the Three Pillars of White Supremacy« die Basis der weißen Vorherrschaft (Smith 2006). Weiße Vorherrschaft funktioniere deshalb so gut, weil sie sich auf mehrere Säulen stütze, die gleichbedeutend seien mit unterschiedlichen Formen von Rassismus, die jeweils gegen unterschiedliche Gruppen von People of Color gerichtet sind. Diese drei Säulen sind: 1. Sklaverei/Kapitalismus > Schwarze Menschen, 2. Genozid/Kolonialismus > Native Americans, 3. Orientalismus/Krieg > Asiatische Menschen, Muslime. Das Dach dieser 5
Eine Feminist_in kann zugleich eine Frau of Color sein. Eine Frau kann Mutter sein und zugleich im Leitungsteam sitzen. Die Mädchen können sowohl frech sein als auch lieb. Sie können sowohl Mädchen of Color sein als auch deutsch. Sie können sowohl ein Kopftuch tragen als auch enge Jeans etc.
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drei Säulen ist die weiße Vorherrschaft. Die Struktur der weißen Vorherrschaft ist dabei so organisiert, dass People of Color gleichzeitig innerhalb einer der Säulen diskriminiert werden und an der Unterdrückung anderer Gruppen von People of Color in den anderen Säulen beteiligt sein können. Mit der Aufteilung in verschiedene Säulen und Diskurse wird sichergestellt, dass People of Color mehr mit Konkurrenzen untereinander beschäftigt sind als mit der Struktur der weißen Vorherrschaft selbst. Auf diesem Weg rückt die weiße Vorherrschaft in den Hintergrund. Der Mörtel dieser drei Säulen ist die Familie, in ihr werden die definierten Diskurse funktionalisiert und ausgelebt. In den jeweiligen Familien werden weiße Kinder für die Vorherrschaft benötigt und Schwarze Kinder für die Ausbeutung. Dieser Logik folgend ist das Weiterbestehen von Hierarchisierungen selbst in der Mädchen_arbeit naheliegend, obwohl sie es geschafft hat, die Mechanismen der Ausbeutung und Unterdrückung in der Geschlechterhierarchie zu analysieren und teilweise zu durchbrechen. Obwohl die Mechanismen von Sexismen und Rassismen synonym verlaufen, werden Rassismen oft verniedlicht, ignoriert und benutzt um »die Andere« zu etikettieren. Um diesen Hierarchisierungen entgegenzuwirken wurden in einer Arbeitsgruppe folgende Ideen gesammelt:6 • Transparente Kommunikationsstrukturen aufbauen, um Konflikte aushandeln zu können • Äußerungen stehen lassen können, um in einer entspannteren Atmosphäre an der Problematik weiterzuarbeiten • Wie hält man/frau Unterschiede aus? • Gemeinsamkeiten und Unterschiede nicht gegeneinander ausgespielen • Verinnerlichung, Zugehörigkeit und Prägung durch Diskurse und Strukturen werden aufgelistet, bewusst gemacht und durchbrochen • Verletzungen können evtl. als Kontaktstelle gesehen werden, um gemeinsam weiterzugehen. Es kann verbinden, gleiche Erfahrungen zu haben • Methoden der Mediation, Supervision und gewaltfreien Kommunikation einsetzen, um den Prozess fortführen zu können • Selbstreflexion/Selbstwahrnehmung im Hinblick auf gesellschaftliche Strukturen und Diskurse nutzen • Welche Ziele und Utopien werden angestrebt?
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Arbeitsgruppe während der Empowermentreihe in der »Alten Molkerei Frille« 2010, entwickelt von Aysun Kul, Mehtap Yilmaz und Fidan Yiligin.
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• • •
Konkurrenzen und Unsicherheiten ernst und wahrnehmen; erforschen, welche Lösungsansätze bei der Bewältigung helfen können Maßstäbe analysieren, an denen die Orientierung ansetzen kann Hierarchisierungen und Wertungen offenlegen
Anhand dieser und ähnlicher Ideen kann der Fortgang der gemeinsamen Arbeit ausgehandelt werden. Sie können helfen, produktiv und konstruktiv mit Hindernissen in der politischen Arbeit umzugehen. Im Folgenden wird die Verknüpfung von Genderkompetenz und rassismuskritischer Kompetenz dargelegt.
2 . E in Fr i l l er E m p o w er m e nt p r o j ek t f ü r M ä d c h e n Die Mädchen_arbeiter_innen der »Alten Molkerei Frille« möchten Grundlagenqualifizierungen mit den Schwerpunkten Gender- und transkulturelle Kompetenz unter Einbindung von Empowerment und Critical Whiteness etablieren. Das Peer-Education-Projekt7 setzt am Aufbau der Genderkompetenz an. Ich habe daraufhin die Genderkompetenz um den rassismuskritischen Ansatz ergänzt. Aus diesem Grund war ein transkulturelles Team8 der nächste notwendige Schritt, um den Mädchen of Color und weiß-deutschen Mädchen adäquate Räume anbieten zu können. In einer an der Peer-Education orientierten Fortbildungsreihe sollen Grundlagen für die Ausbildung von Mädchen of Color und weißdeutschen Mädchen für ein Team von geschlechter- und rassismuskritischen Ferienseminaren geschaffen werden. Ziel ist hierbei die Qualifizierung der Mädchen, um dann als Peer-Teamer_innen geschlechter- und rassismuskritische Angebote für andere Mädchen anbieten zu können und damit die Inklusion (nicht zu verwechseln mit Assimilation) der Mädchen of Color weiterzuentwickeln. Mit dieser Empowermentfortbildung soll nicht nur die Inklusionsbildung von Mädchen of Color und weiß-deutschen Mädchen stattfinden. Darüber hinaus sollen die Teilnehmer_innen so weit reflektiert und empowert sein, dass sie sich für sich selber einsetzen können: In ihrem persönlichen oder professionellen Leben und überall dort, wo sie Hierarchisierungen und Ausbeutungen unterworfen werden. 7
8
Dieses Projekt wurde – gemeinsam mit den Teilnehmer_innen eines Mädchen_arbeitsseminars – konzipiert von den pädagogischen Mitarbeiter_innen Judith Lehmann, Damaris Mühe und Jenni Vogt. Vgl. Castro Varela 2005.
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Auch die Bedeutung der Herkunftssprache ist in Fortbildungen von großer Bedeutung. Zum monolingualen Habitus in der Bundesrepublik schreibt Kalpaka: »Auch wenn wir uns auf Deutsch als gemeinsame Kommunikationssprache verständigen müssen, geschieht dies nicht unter Ausklammerung, sondern unter Einbeziehung der anderen Sprachen, die als das Normale und nicht als das Abweichende thematisiert werden« (Kalpaka 2006: 116).
Mit dieser Positionierung der Herkunftssprache wird auch auf der Ebene der Kommunikation eine wertschätzende Haltung aufgebaut. In den meisten Institutionen ist der Sprachgebrauch der Herkunftssprache negativ verortet und oder sogar verboten. Mecheril et al. stellen dazu folgende Forderung auf: »Anstelle eines Rückfalls in assimilationistische Orientierungen wären nunmehr aber differenzierte Konzepte, die sich auf die sich permanent ändernden und oft widersprüchlichen Bedeutungen gesellschaftlicher Differenzverhältnisse und Identitätspositionierungen beziehen, aber auch Rassismen in der subjektiven Erfahrungswelt der Adressatinnen und Adressaten pädagogischer Arbeit wie in der Wahrnehmung der Fachkräfte selbst thematisieren, in die weitgehend mit Fragen des Deutschspracherwerbs von ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ beschäftigten Debatten einzubringen« (Mecheril et al. 2010: 8f.).
Dirim (2010) schreibt zum »Sprachgebot«9 in den verschiedenen Institutionen, dass dies keine angemessene pädagogische Maßnahme für den Erwerb einer anderen Sprache darstelle. Im Gegenteil: das »Sprachgebot« beschneide die Mädchen of Color in ihren Kontakten zu Gleichaltrigen. In dem »Sprachgebot« sieht sie eher das Gebot zu schweigen. Die Mädchen_arbeiter_innen der »Alten Molkerei Frille« können sich bewusst für das Einsetzen der »Herkunftssprache«, wie z.B. Türkisch, entscheiden. Damit wird sowohl der monolinguale Habitus entkräftet als auch die »Herkunftssprache« einladend verortet. In der »Herkunftssprache« können sich die Teilnehmer_innen erklären, Bedürfnisse und Kompetenzen erläutern. Sowohl für die Entfaltung in geschützten Räumen als auch gegen die Angst, sich falsch auszudrücken, spielt die »Herkunftssprache« eine enorme Rolle: »Ich habe oft geschwiegen, weil ich mich nicht getraut habe, meine Gedanken auf Deutsch zu formulieren« (Kalpaka 2006: 116). 9
Das Verbot der »Herkunftssprache«, mit dem Argument, dass dadurch Kinder und Jugendliche of Color besser Deutsch lernen würden.
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Ebenso soll in unseren Seminaren an Biografien gearbeitet werden. Biografien werden getrennt aufgearbeitet, weil somit Verletzungen vorgebeugt werden kann, die durch prekäre Verhältnisse10 entstanden sind. Die Erfahrungen und Sichtweisen der Mädchen werden in Räumen des erfahrungsbezogenen Lernens erörtert. Mädchen of Color und weißdeutsche Mädchen lernen, ihre Idee von sich selbst in der professionellpädagogischen und angeleiteten Praxis zu verwirklichen. Dazu gehören: Stärkung des Selbstbewusstseins der Mädchen, Reflexion der Stärken bei gleichzeitiger Solidarität, kritische Wissensproduktion von People of Color, Verstärkung der lebensweltlich orientierten Pädagogik, Erlernen von gender- und rassismuskritischen pädagogischen Grundlagen. Die pädagogische Qualifizierungsreihe besteht aus drei zweitägigen Modulen. Diese Module werden von vier erfahrenen Mädchen_arbeiter_innen geleitet. Da Rassismus ein Schwerpunktthema ist, werden auch zwei Pädagog_innen of Color vertreten sein, um in geschützten Räumen Empowermentarbeit leisten zu können (vgl. Yigit & Can: 2006). In dieser Qualifizierungsphase sind neben den inhaltlichen Schwerpunkten auch die Inklusionskomponenten vorhanden. In Modul 1 der Qualifizierungsreihe geht es um die Themen Geschlecht/Geschlechterrollen und Empowerment/Critical Whiteness. Im Mittelpunkt steht die Betrachtung der Bedeutung von Geschlecht und Rassifizierung im Lebenskontext der Mädchen. Gerade bei dem Thema Geschlechterrollen ist die Trennung der Räume von immenser Bedeutung. Die Mädchen erhalten die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen anhand von unterschiedlichen Methoden und Wegen zu reflektieren (Biografiearbeit, Assoziationsarbeit, Rollenspiele, Theater, Bewegung). Verletzungen können im geschützten Raum thematisiert werden. Es soll auch reflektiert werden, welche Konflikte kulturalisiert werden und welche eher Generationskonflikte sind. Assimilationskonflikte können auch in Verlustängsten oder Veränderungsängsten wurzeln, ohne dass dies bewusst ist. Es werden Impulsreferate zu Geschlechtervorstellungen, zu Migrationsgeschichten und Rassismusforschung gehalten. Die kritische Wissensproduktion von People of Color wird eingesetzt. Eine »Re_Wissens-
10 Gemeint sind prekäre Verhältnisse zwischen Mädchen of Color und weißdeutschen Mädchen, da durch hierarchisierende Stigmata (z.B. der orientalische Mann ist männlicher als ein weißer Mann/die orientalische Frau weiblicher als eine weiße Frau) Verletzungen hervorgerufen werden können.
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bildung«11 (vgl. Said 1994) für das Neukonstruieren der eigenen Persönlichkeit wird angeregt. Die fatalen Bilder werden »ver_rückt«12. Dabei werden Ängste, Einschränkungen, Zugehörigkeiten, Zuschreibungen, Zuwendungen thematisiert und es gibt die Möglichkeit, verantwortungsvoll mit Identitätsrollen und »ver_rückten« Bildern zu experimentieren. Hiermit kann die Möglichkeit eröffnet werden, Räume jenseits der Geschlechter- und Ethnifizierungsnormen zu schaffen. Modul 2 der Qualifizierungsreihe thematisiert Pädagogik und Gruppendynamiken und findet mit dem Hintergrundwissen geschlechtsbezogener und rassismuskritischer Pädagogik statt. Hier können u.a. die fünf Schritte einer rassismuskritischen Kommunikationsstrategie (Kilomba 2008: 21) eingeführt werden: »denial – guilt – shame – recognition – reparation«13, und über deren Bearbeitung können sich die Mädchen bei eventuellen Verletzungen wieder annähern. Durch theoretische Impulse zu verschiedenen Pädagogikstilen soll eine pädagogische Grundlage geschaffen werden. Dabei soll nicht nur Fachwissen vermittelt, sondern es sollen vor allem die Paradigmen der Prozessorientierung und Partizipation erlernt werden. Im Mittelpunkt steht die soziale Gruppenarbeit. Die Bedeutung von Konflikten und Spannungen in der Gruppe wird herausgearbeitet, mögliche Umgangsweisen werden entwickelt und erprobt. Dieser Prozess dient der Vorbereitung der Mädchen auf ihre neue Rolle als transkulturelle Teamer_innen. Er soll ihnen ermöglichen, sich in die Rolle einzufinden, sie zu erproben und zu reflektieren. Modul 3 der Qualifizierungsreihe behandelt die Methoden. In diesem Modul werden praxisbezogene Grundlagen für eine Gruppenanleitung vermittelt und ausprobiert. Es werden Moderations- und Visualisierungstechniken sowie Strukturierungshilfen zur Planung von Einheiten erlernt. Die Teilnehmer_innen werden hier eine inhaltliche Einheit planen und exemplarisch durchführen. Zur Planung gehören die Themenwahl, die Zielsetzung und die Auswahl geeigneter Methoden.
3 . F a z it Wir hoffen, dass sich mit diesem Projekt eine gemeinsame Arbeit von Mädchen of Color und weiß-deutschen Mädchen etabliert und transkul11 Mit dem Unterstrich will ich die Arbeit, die sich hinter der »Re_Wissensbildung« verbirgt, optisch veranschaulichen. 12 S.o. 13 Die fünf Schritte sind wie folgt zu übersetzen: Verleugnung, Schuld, Scham/Schande, Anerkennung, Wiedergutmachung.
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turelle Teams entstehen, die auf den Säulen der Inklusion aufbauen und die Strukturen und Diskurse der Migrationsgesellschaft mit gestalten. Wir erhoffen uns, dass ein Schneeballeffekt eintreten wird und viele Mädchen und Frauen erreicht werden. Wir freuen uns, wenn die Migrationsgesellschaft sich einlässt auf einen Prozess, der Hierarchisierungen und Vorherrschaften in den Fokus nimmt. Wenn wir Aktivist_innen es schaffen, Hierarchisierungen und Vorherrschaften infrage zu stellen und die, die hierarchisiert und »beherrscht« werden, zu stärken, dann können dies Meilensteine in der Formierung der Migrationsgesellschaft werden. Nun, da Deutschland auch politisch (endlich, auch das war ein sehr langatmiger Kampf) zu einem Einwanderungsland zählt, können die Enkel_innen der »Gastarbeiter«, die nicht bleiben sollten und die nicht zugehörig waren, die Diskurse mit gestalten. Diese Fortbildungsreihe, die von Frauen of Color und weiß-deutschen Frauen zusammen entwickelt wurde und geleitet wird, um ein »Zusammengehörigkeitsgefühl« zu postulieren, wird, so hoffen wir, Früchte tragen und sich weiter verbreiten. Dieser Inklusionsansatz, der über herkömmliche integrative Ansätze im Sinne von »Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft« hinausreicht, bezweckt die Wandlung gesellschaftlicher Strukturen zu einem Zustand, in dem Beteiligungs-, Bildungs- und Lebensbedürfnisse aller Menschen befriedigt werden. Wesentliches Prinzip ist die Wertschätzung der Vielfalt, in der jede_r Einzelne mit den eigenen Fähigkeiten einen Platz hat. Die verschiedenen Differenzlinien und deren Bedeutungen werden im gesellschaftlichen Kontext von Zugehörigkeit, Privilegien und Benachteiligungen analysiert. Die Benachteiligungskategorien werden dabei nicht isoliert, sondern in ihrer Verschränkung und Vielschichtigkeit betrachtet. Die »Gastarbeitergeneration« hat schon immer mit der weißdeutschen Bevölkerung zusammengearbeitet, sie war ihr aber trotzdem nicht zugehörig, sondern nur »integriert«. Es muss weit mehr geschehen als zusammen zu arbeiten und Fortbildungskonzepte zu erstellen.
Literatur Castro Varela, Maria do Mar (2005): Transkulturelle Teams und Mut zum Denken. In: Arapi, Güler/Lück, Mitja Sabine: Dokumentation der Tagung – Transkulturelle Teams. Ein Qualitätsstandard in der sozialen Arbeit, Bielefeld: Eigenverlag. Dirim, Inci (2010): »Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so« Zur Frage des (Neo-)Lin-
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guizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul/Dirim, Inci/Gommolla, Mechtild/ Hornberg, Sabine/Stojanov, Krassimir (Hg.): Spannungsverhältnisse, Münster: Waxmann. Gogolin, Ingrid (2007): Institutionelle Übergänge als Schlüsselsituationen für mehrsprachige Kinder, Deutsches Jugendinstitut e.V. München. Kalpaka, Annita (2006): »Parallelgesellschaften« in der Bildungsarbeit – Möglichkeiten und Dilemmata pädagogischen Handelns in »geschützten Räumen«. In: Elverich, Gabi/Kalpaka, Annita/Reindelmeier, Karin (Hg.): »Spurensicherung: Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft«, Frankfurt/Main, London: IKOVerlag für Interkulturelle Kommunikation, 95–166. Kronauer, Martin (Hg.)(2010): Inklusion und Weiterbildung Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart. Reihe: Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bielefeld: Bertelsmann. Mecheril, Paul/Dirim, Inci/Gomolla, Mechthild/Hornberg, Sabine/Stojanov, Krassimir (2010): Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung, Münster/New York/ München/Berlin: Waxmann, 7–10. Nawal El Saadawi (1994): Der doppelte Standard. In: Batzli, Stefan/Kissling, Fridolin/Zielmann, Rudolf (Hg.): Menschenbilder Menschenrechte, Islam und Okzident: Kulturen im Konflikt, Zürich: Unionsverlag. Rauw, Regina (2001): »Was ich will!« Zur Weiterentwicklung von Mädchenarbeit. In: Rauw, Regina/Reinert, Ilka: Perspektiven der Mädchenarbeit. Partizipation, Vielfalt, Feminismus. Reihe Quersichten, Band 2, Opladen: Leske & Budrich. Rogers, Carl R. (1992): Die Kraft des Guten, Frankfurt/M.: Fischer. Said, Edward (1994): Orientalism, New York: Vintage Books Edition, A Division of Random House. Smith, Andrea (2006): Heteropatriarchy and the Three Pillars of White Supremacy. In: Incite! Women of Color Against Violence (Hg.): Color of Violence. The INCITE! Anthology, New York: South End Press, 67–73. Yigit, Nuran/Can, Halil (2006): »Politische Bildungs- und Empowerment-Arbeit gegen Rassismus in People-of-Color-Räumen – das Beispiel der Projektinitiative HAKRA. In: Elverich, Gabi/Kalpaka, Annita/Reindelmeier, Karin (Hg.): »Spurensicherung: Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft«, Frankfurt/M./ London: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 167ff.
Augen auf und durch! Rassismuskritische Mädchen_arbeit aus weiß - deutscher Perspek tive JENNIFER VOGT, SVENJA REIMANN
Als weiße1 deutsche2 Akademikerinnen3 sehen wir uns (nicht nur) in unserer Friller Mädchen_arbeit immer wieder damit konfrontiert, dass unser Erfahrungshorizont in Bezug auf unterschiedliche Formen von Dis1
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Wir schreiben Schwarz groß und beziehen uns damit auf Schwarze Empowermentbewegungen. In Anlehnung an Eggers et al. entscheiden wir uns in Bezug auf weiß »statt der Großschreibung für eine Kursivschreibung, um den Konstruktcharakter markieren zu können und diese Kategorie ganz bewusst von der Bedeutungsebene des Schwarzen Widerstandspotenzials, das von Schwarzen und People of Color dieser Kategorie eingeschrieben worden ist, abzugrenzen« (Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005: 13). Weißsein wird hier durch die Kursivsetzung des Wortes sichtbar gemacht. Als Selbstbeschreibung benutzen wir weiß-deutsch, weil wir uns auf einen weiß-deutschen Kontext beziehen, in dem wir unsere Erfahrungen machen. Hautfarbe und Kultur ebenso wie Geschlechter halten wir für Konstruktionen. Wenn wir hier binär strukturierende Begriffe verwenden, so tun wir dies, um Verhältnisse zu problematisieren, die sich aus diesen Konstruktionen ergeben (haben). Den Unterstrich benutzen wir nicht für unsere Selbstbezeichnung, weil diese Form der Benennung unsere Privilegien verschleiern würde, die sich daraus ergeben, dass wir uns in unserem Alltagsempfinden nicht zwischen den Geschlechtern verorten.
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kriminierungen und erlebten Rassismus nicht dem der Mädchen entspricht, die unsere Seminare besuchen. Wir arbeiten mit Mädchen unterschiedlicher sozialer Positionen, Migrationshintergründe, Hautfarben, Bildungsstände, sexueller Orientierungen etc., deren Erfahrungen wir als weiße Deutsche, in einer vorwiegend christlichen Gesellschaft sozialisierte, weitgehend heterosexuelle Akademikerinnen nicht machen konnten oder mussten. Viele Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund4 definieren ihre Erfahrungen nicht vornehmlich als durch geschlechtliche Zuschreibungen geprägte, sondern eher als Folgen der Zuschreibung von nicht weiß-deutscher Identität. Zudem sind Weiblichkeiten je nach (sub-)kulturellem Erfahrungshintergrund sehr unterschiedlich ausgestaltet (vgl. Gümen 1997: 127f.) und somit sehen auch Oppositionen gegen hegemoniale Weiblichkeiten sehr verschieden aus. Aus diesem Grunde ist es für eine sich als emanzipatorisch verstehende Bildungsarbeit am Standort Geschlecht unerlässlich die Normalitätskonstruktionen einer deutschen und weißen Dominanzkultur sichtbar zu machen. Als weiße Deutsche sind wir immer auch Profiteur_innen von Rassismus. Im Gegensatz zu Menschen of Color_mit Migrationshintergrund, die unfreiwillig immer wieder Erfahrungen mit Rassismus machen, können wir uns für oder gegen eine Auseinandersetzung mit Rassismus entscheiden (vgl. Sow 2008: 42f.). Wir wollen unserer Verant-
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In Übereinstimmung mit Ha finden wir es wichtig, angesichts »der Tatsache, dass rassistische Praktiken [...] nach zugeschriebenen äußerlichen Merkmalen wie auch nach der europäischen wie außereuropäischen Herkunft von Menschen unterscheiden [...], diese strukturelle Gewalt und die unterschiedlichen Betroffenheiten zum Ausgangspunkt zu nehmen und den sich daraus ergebenden Subjektpositionen und Fragen Raum zu geben« (Ha 2007: 449). Als eine Reaktion auf Rassismen, die sich auf einen vermeintlich sichtbaren Unterschied zur Dominanzgesellschaft beziehen, ist der »People of Color«-Begriff entstanden. Die Kategorie »mit Migrationshintergrund« nutzen wir, um auf Rassismus eingehen zu können, der sich darauf gründet, dass Menschen entweder keinen deutschen Pass besitzen und/oder dass sie oder manche ihrer Vorfahr_innen nach Deutschland eingewandert sind. Den Unterstrich verwenden wir zum einen für alle von Rassismus betroffenen Menschen, die sich weder der Kategorie of Color noch der Kategorie mit Migrationshintergrund zuordnen wollen oder können, bzw. für Menschen, die sich als Bezugspunkt für Rassismus nicht trennscharf der einen oder der anderen Kategorie zuordnen.
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wortung für das Aufbrechen rassistischer Strukturen nachkommen und Rassismus sichtbar machen und reflektieren.5 Mit diesem Artikel wollen wir unsere Haltung anhand unserer praktischen Arbeit in den Jugendseminaren in der »Alten Molkerei Frille« einer kritischen Reflexion unterziehen. Der Artikel soll eine Suchbewegung darstellen zwischen Möglichkeiten, Widersprüchen und Paradoxien, zwischen denen sich eine emanzipatorische Mädchen_arbeit in Deutschland bewegt, wenn sie aus einer weiß-deutschen Perspektive Weißsein und Deutschsein kritisch beleuchten und Rassismus als freiheitsbegrenzende Struktur in den Fokus rücken will.
1 . R a s s is ism us kr it isc he M ädc he n_ arb e it – W a s is t d a s ? 1.1 Weiß zur Farbe machen – Rassismus und Critical Whiteness Wie Schwarze Feminist_innen bereits in den 80er-Jahren kritisierten, kommt feministische Theorie nicht ohne den Bezug auf Race aus. Stets war feministische Theorie, auf die sich Mädchen_arbeit stützt, vom Race- und Klassenstandpunkt derjenigen geprägt, die sie formulierten. Dementsprechend klammerten Analysen weißer Feminist_innen lange Zeit auch Rassismus als ein Herrschaftsverhältnis aus, das sie als von Geschlechterverhältnissen getrenntes Phänomen wahrnahmen. »Black women have thus been positioned within several discourses that misrepresent our own reality: a debate on racism where the subject is Black male; a gendered discourse where the subject is white female; and a discourse on class, where ›race‹ has no place at all« (Kilomba 2008: 56).
Da sich die Mädchengruppen in unseren Seminaren aus Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund und weiß-deutschen Mädchen zusammensetzen, muss sich emanzipatorische Mädchen_arbeit zum einen auf feministische Theorien stützen, die verschiedene rassifizierte und unterschiedlich kulturell konzipierte Geschlechtlichkeiten in den Blick
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Wir beziehen uns bewusst überwiegend auf von Menschen Color_mit Migrationshintergrund produziertes Wissen, um die für das Verständnis von Weißsein, Deutschsein und Rassismus theoriebildenden Sichtweisen von Autor_innen of Color_mit Migrationshintergrund im Diskurs um Weißsein und Deutschsein zum Ausgangspunkt zu machen.
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nehmen. Zum anderen muss sie die Aufmerksamkeit auch auf Hierarchien richten, die rassistische Verhältnisse (re-)produzieren.6 In Anlehnung an Kilomba sprechen wir in Bezug auf Deutschland immer dann von Rassismus, wenn weiße Deutsche ihre historische, ökonomische, politische oder soziale Macht nutzen und Menschen of Color_mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer religiösen oder/und rassifizierten Zugehörigkeit zu Anderen konstruieren (vgl. Kilomba 2008: 42). Dabei wird über die Zuschreibungen an Menschen of Color_mit Migrationshintergrund eine weiß-deutsche Norm konstruiert und die Abweichung von dieser Norm als Rechtfertigung für Abwertung und Statusunterschiede benutzt. Weißsein (und Deutschsein) ist ein über Gegensätze zum rassifizierten Anderen diskursiv konstruiertes System normativer kultureller Handlungsweisen und Identitäten, das durch rassistische Dominanz geprägt ist (vgl. Frankenberg 1996: 56). Rassismus zeigt sich u.a. durch unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen und die ungleiche Verteilung von Gütern (vgl. Kilomba 2008: 42f.). Er kann deshalb auch als System zur Sicherung von weißen und deutschen Privilegien umschrieben werden. Im Gegensatz dazu, dass Menschen of Color_mit Migrationshintergrund von weißen Menschen häufig primär als rassifiziert wahrgenommen werden, sind Repräsentationen und Positionierungen von weiß-deutschen Menschen in der (Selbst-)Wahrnehmung jedoch nicht an ihre Hautfarbe und Nationalität geknüpft. Ihre Repräsentationen sind somit »individuell, vielfältig, heterogen und nicht stereotypisiert. Sie haben Namen, Berufe, politische Orientierungen« (Wachendorfer 2004: 124). Sie können ihre Identität selbst gestalten, ohne befürchten zu müssen, aufgrund ihres Weißseins und ihres Deutschseins auf Barrieren zu stoßen (vgl. ebd.: 124f.). Weiße Privilegien sind gleichzeitig von anderen Achsen der Differenz (Geschlecht, Klasse etc.) durchschnitten. Diese Definition lenkt den Blick auf weiße Deutsche als Produzent_innen und Profiteur_innen von Rassismus in Deutschland.7 Solan-
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Obwohl Projekte existieren, die neben Geschlechterhierarchien auch verschiedene Erfahrungshintergründe aufgrund von Hautfarbe und (nicht vorhandenen) Migrationshintergründen fokussieren (so z.B. »respect!« in Bremen oder »girls act!« in Bielefeld), scheint es uns, als blieben diese Ansätze im Querschnitt deutscher Mädchenarbeit eher randständig. Durch Kämpfe und Kritik von People of Color wurden entsprechend der Forderung nach der Dezentrierung des weißen Subjekts durch die Markierung der »Normalität« von Weißsein die Critical-Whiteness-Studies entwickelt, die den Fokus auf Weiße als Produzent_innen und Profiteur_innen von Rassismus legen.
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ge der Fokus einer rassismuskritischen Sichtweise nicht auf Weißsein und Deutschsein als Quelle gesellschaftlicher Hegemonie und Dominanz liegt, bleiben weiße und deutsche Privilegien unsichtbar und die rassistische Ordnung wird aufrechterhalten (vgl. Frankenberg 1996:55). Eine rassismuskritische Mädchen_arbeit muss deswegen allen Mädchen und insbesondere den Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund die Möglichkeit zu individuellen und vielfältigen Repräsentationen eröffnen. Ihnen muss der Raum gegeben werden, ihre Realität, ihre Geschichte, ihre Identität selbst definieren und entwickeln zu können (vgl. Kilomba 2008: 81). 1.2 Warum geschlechtsbezogene Pädagogik sich auf Race und Color beziehen muss Aus der Verschränkung verschiedener diskursiv erschaffener Identitätskategorien entstehen ganz eigene Unterdrückungsdiskurse, die bei der Betrachtung allein einer Kategorie nicht sichtbar werden. Vorstellungen von Geschlecht sind somit untrennbar mit Konstruktionen von Race verbunden. Wie Kilomba schreibt, basieren Geschlechterrollen auf rassistischen Konstruktionen und umgekehrt. Dadurch hängt es u.a. von der zugewiesenen Geschlechtlichkeit ab, in welcher Weise Rassismus erlebt wird (vgl. Kilomba 2008: 54). Genauso hängt es von kulturellen Prägungen und rassistischen Zuschreibungen ab, wie Geschlechterrollen konzeptualisiert werden: »The myth of the disposable Black woman, the infantilized Black man, the opressed Muslim woman, the aggressive Muslim man, as well as the myth of the emancipated white woman or the liberal white man, are examples of how gender and ›race‹ constructions interact.« (Kilomba 2008: 54).
Am Beispiel vorherrschender Bilder über Muslima in Deutschland wollen wir kurz einige Problematiken verdeutlichen, die mit Konstruktionen ethnisierter Weiblichkeit einhergehen können. In den in Deutschland vorherrschenden Bildern über Muslima werden »Tradition, Patriarchat und Islam [...] zu Synonymen für Frauenunterdrückung« (Gümen 1996: 83). Über das Konstrukt der fremden, unterdrückten, hilflosen »Muslima« wird die westlich-moderne, eigensinnige und emanzipierte weiß-deutsche Frau diskursiv produziert (vgl. Gümen 1996: 82ff.). Dabei wird die Konstruktion der weiß-deutschen Frau nicht als ethnisiert gekennzeichnet, sondern bleibt unsichtbar und damit nicht hinterfragte Norm.
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Wenn weiße, deutsche Mädchen_arbeiter_innen z.B. – vordergründig gut gemeinte – Forderungen an in Deutschland lebende Muslima stellen, sich von der patriarchalen Herrschaft durch Männer, Väter, Islam und Tradition zu befreien, birgt dies rassistische Formationen in sich: Denn erstens reproduzieren sie damit das rassistische Bild der unemanzipierten Muslima. Zweitens homogenisieren sie damit Muslima in Deutschland. Drittens universalisieren sie auf diese Weise eine weißdeutsche und christlich geprägte Vorstellung von emanzipierter Weiblichkeit. Viertens reproduzieren sie weiß-deutsche Dominanz, indem sie Ziele für Muslima definieren. Fünftens beinhaltet diese Forderung die Aufforderung sich von den nichtweiblichen muslimischen Mitstreitern im alltäglichen Umgang mit rassistischer Diskriminierung zu entsolidarisieren (vgl. Combahee River Collective 1982: 16) und somit der Emanzipation in Geschlechterverhältnissen einen höheren Rang einzuräumen als der Auseinandersetzung mit rassistischen Verhältnissen. Als weiß-deutsche Mädchen_arbeiterinnen möchten wir uns mit den Mädchen in unseren Seminaren in Gespräche begeben, in denen wir versuchen, sensibel mit unterschiedlichen gelebten und zugewiesenen Identitäten umzugehen. Denn vorherrschende Weiblichkeitsnormen sind stets rassifiziert und produzieren Ausschlüsse. Für alle, deren Aussehen, Verhalten und Bedürfnisse den jeweiligen Vorstellungen von stereotyper Weiblichkeit nicht entsprechen, produzieren enge Weiblichkeitskonzepte einen enormen Leidensdruck, der sich durch rassistisch abwertende Sichtweisen auf Weiblichkeit of Color_mit Migrationshintergrund zusätzlich verstärkt. Wir wollen allen Mädchen den Raum eröffnen, Subjekte ihrer eigenen Identitätsentwürfe zu sein, ohne durch den Fokus auf die reale Vielfältigkeit der Mädchen sexistische und rassistische Dominanzstrukturen aus dem Blick zu verlieren. Bei allen Gesprächen mit den Mädchen kann die Frage danach, warum beispielsweise Beichte, Jungfräulichkeit, Schminke, Zugehörigkeit etc. für die Einzelne wichtig sind, sehr produktive Ansatzpunkte dafür bieten, bei der Deutung der Erzählungen der Mädchen nicht eigenen Stereotypen aufzusitzen, aber auch kritisch die Kontingenz der Normalitäten, die in den Erzählungen der Mädchen u.a. zum Ausdruck kommen, sichtbar zu machen. Damit die Mädchen bereit sind, über sich zu erzählen, ist ein Rahmen gegenseitigen Respekts unerlässlich. Indem wir die Mädchen ermuntern, ihre Geschichten und Sichtweisen zu erzählen, wollen wir den Mechanismen entgegenwirken, die häufig die Kehrseite rassistischer Praxen sind: Verharmlosung, Subjektivierung, Fremddefinition oder Negierung der Rassismuserfahrungen von Menschen of Color_mit Migrationshintergrund. Auch aufseiten der weiß-deutschen Pädagog_innen wird Rassismus häufig nicht thema-
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tisiert, oder die Erfahrungen und das Wissen von Menschen of Color_mit Migrationshintergrund werden mit der Begründung, sie seien subjektiv, persönlich oder zu speziell, marginalisiert und abgewertet. Weiße Perspektiven werden durch diese Techniken diskursiv objektiviert, rationalisiert und universalisiert (vgl. Gümen 1996: 80; Kilomba 2008: 28). In unserer Arbeit mit Mädchen möchten wir den Fokus auf Strukturen und Machtverhältnisse legen, die die einzelnen Mädchen in ihren Handlungsspielräumen, Selbstkonzepten und Wünschen diskursiv beeinflussen. Unter anderem gehören dazu sowohl Machtverhältnisse aus Geschlechterverhältnissen und rassistischen Verhältnissen als auch solche, die aus der Verbindung beider Diskriminierungssysteme resultieren. Dabei achten wir darauf, keine homogenisierenden Sichtweisen zu reproduzieren, indem wir versuchen, die verschiedenen Erfahrungshintergründe und daraus resultierende Wünsche, Bedürfnisse und Handlungsstrategien aller Mädchen einzubeziehen. Den Mädchen soll die Möglichkeit eröffnet werden, über kritische Reflexionen eigene Handlungs- und Selbstkonzepte in Bezug auf Rassismus und Sexismus zu entwickeln. Diese müssen von jedem Mädchen selbst entworfen werden und können nicht durch Zielvorgaben von pädagogischer Seite gesteuert werden. Wir bieten den Mädchen unsere politische Haltung als weitere mögliche Sichtweise an, kennzeichnen sie aber als subjektive Sichtweise, die mit unserer sozialen Position in Zusammenhang steht. Dabei versuchen wir weder unsere von vielfältigen kulturellen8 Einflüssen geprägten Vorstellungen emanzipierter Weiblichkeiten zum Maßstab zu machen, noch homogenisierende Weiblichkeitsnormen zu reproduzieren. Unter anderem bedeutet das, nicht Differenzen zwischen den Mädchen zu problematisieren, sondern Hierarchien und Diskriminierungen zum Thema zu machen. Die Auseinandersetzung mit Rassismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen muss generell in die Gestaltung der Seminare einfließen. Dazu gehört, Materialien und Methoden kritisch auf die Rekonstruktion hegemonialer Identitäten gegenzulesen und darauf zu achten, 8
Kultur ist die Gesamtheit historisch entwickelter sozialer Praxen, Sprachen, Werte, Normen, Bedeutungen und Interpretationsmuster einer Gruppe. Die Kultur der Gruppe ist mit der Vielzahl der Interpretationsmuster ihrer Mitglieder stets in Veränderung. Durch die Interaktionen zwischen Menschen entstehen stets neue kulturelle Praxen und Deutungsmuster. Somit ist Kultur durchlässig, nicht naturgegeben, nicht starr und nicht an Nationalitäten geknüpft.
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dass in ihnen möglichst viele Lebensrealitäten repräsentiert werden. Bildmaterial und Filme sollten immer Identifikationsfiguren of Color_mit Migrationshintergrund aufweisen, die nicht skurril nach rassistischen Stereotypen geformt sind, sondern als eigenständig, selbstbestimmt handelnde Personen erscheinen (vgl. Sow 2008: 147ff.). Rassismuskritische Mädchen_arbeit heißt demnach nicht, nur in konkreten, rassistischen Situationen zu reagieren oder eine Auseinandersetzung mit Rassismus als einen Baustein im Seminar zu verankern, sondern die Wirkweisen von Rassismus immer mitzudenken. Rassistische Verhältnisse wirken in jeder Gruppe. Auch innerhalb von Themen, die auf den ersten Blick nichts mit Rassismus zu tun haben (Familienplanung, Schule), ist eine Auseinandersetzung erforderlich. Mädchen_arbeit muss sich auch auf Rassismus konzentrieren, nicht lediglich weil Rassismus und Sexismus miteinander ideologisch verwoben sind, sondern auch weil eine Priorisierung des Unterdrückungsverhältnisses Sexismus vor dem des Rassismus weiß-deutsche Dominanzverhältnisse fortschreibt.
2 . W id e n d G r en e n z e n a u s h a lt e n err s p r ü c h e u nd Als weiß-deutsche Pädagog_innen mit rassismuskritischem Anspruch bewegen wir uns in einer Vielzahl von Widersprüchen, Grenzen und (Un-)Möglichkeiten im Umgang mit Rassismus. Im Folgenden thematisieren wir exemplarisch an zwei Situationen aus einem unserer Seminare Grenzen, Unsicherheiten und Wege rassismuskritischer Pädagogik aus weiß-deutscher Perspektive. Die Mädchengruppe setzte sich zur einen Hälfte aus jungen Frauen of Color_mit Migrationshintergrund und zur anderen Hälfte aus weiß-deutschen jungen Frauen zusammen. Das gesamte Team war weiß-deutsch sozialisiert. 2.1 Othering – Wer spricht über wen? In der Phase des Kennenlernens zu Beginn des Seminars gaben wir den Mädchen die Aufgabe, sich in Kleingruppen von drei bis vier Mädchen zusammenzufinden. In diesen Kleingruppen sollten nun fünf Gemeinsamkeiten aller Mädchen der Kleingruppe gesammelt werden. Zusätzlich sollte eine Vorliebe/Eigenschaft für jede gefunden werden, die sie von den anderen in der Kleingruppe unterscheidet. In der Anleitung haben wir darauf hingewiesen, dass jede diese Differenz für sich selber finden sollte. Der Fokus dieser Übung liegt darauf, die Heterogenität der Mäd-
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chengruppe sichtbar zu machen, um damit aufzuzeigen, dass kulturelle Differenzen zwischen allen Mädchen bestehen. Somit können Gestaltungsfreiräume innerhalb von Kultur und Geschlechterkonzepten sichtbar gemacht werden und es kann Stereotypen entgegengewirkt werden. Eine der Kleingruppen setzte sich aus drei weiß-deutschen Mädchen und einem Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund, nach eigenen Angaben praktizierende Muslima, zusammen. Entgegen unserer Anleitung bestimmten innerhalb der Kleingruppe die weiß-deutschen Mädchen das Kopftuch als Differenzmerkmal der jungen Frau of Color_mit Migrationshintergrund durch die Aussage: »Du bist anders als wir, weil du eine andere Kultur hast.« Für die gesamte Mädchengruppe war das Kopftuch der jungen Frau of Color_mit Migrationshintergrund ein schlüssiges, offensichtliches Beispiel dafür, dass sich die junge Frau von den anderen unterscheidet. Dabei diente das Kopftuch als Zeichen für eine »andere Kultur«. Auf unsere an die junge Frau of Color_mit Migrationshintergrund gerichtete Nachfrage, ob auch sie selbst finde, sie habe eine andere Kultur, weil sie ein Kopftuch trägt, antwortete sie mit Zustimmung. Die Herstellung eigener Kulturen, eigener nationaler oder ethnischer Zugehörigkeiten hat häufig eine große Bedeutung für das Selbstverständnis von Jugendlichen. Vordergründig geht es dabei den wenigsten Jugendlichen darum, andere zu diskriminieren, sondern die eigene Identität über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe abzusichern. Kultur kann als Ressource zur Schaffung einer eigenen Identität fungieren, sodass kulturelle Differenz ein positiver Bezugspunkt auch für Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund sein kann. Jede Person gehört z.B. als Frau, Akademiker_in, Heterosexuelle etc. einer Vielzahl von Kulturen an. Der Bezug auf den Kulturbegriff wird allerdings nicht erst dann problematisch, wenn »unüberbrückbare kulturelle Differenzen« als Rechtfertigung für die Privilegierung weißer Deutscher herangezogen werden, etwa dann, wenn vor die Anerkennung gleicher Rechte für alle die Forderung nach kultureller Anpassung von Menschen of Color_mit Migrationshintergrund an eine über diese Argumentationsweise homogen konstruierte deutsche Kultur gestellt wird.9 Rassismus entsteht schon in
9
Nach Sedef Gümen »sind Plädoyers für ›die Differenzen zwischen Frauen‹ oder eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ hierzulande untauglich, [...] solange die Dimension der Differenz als strukturelle Ungleichheit und die damit implizit verbundene Forderung für gleiche Bürgerrechte nicht thematisiert werden« (Gümen 1997: 79).
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dem Moment der Differenzkonstruktion rassifizierter Anderer durch weiße Deutsche. Die weiß-deutschen Mädchen haben Weiß-deutsch-Sein als Norm reproduziert, indem sie das Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund durch die Deutung »andere Religion« gleich »andere Kultur« gleich nichtdeutsch zu einer Anderen konstruierten. Die restlichen gefundenen Differenzmerkmale in der Kleingruppe hingegen wurden nicht als Ausdruck verschiedener kultureller Zugehörigkeiten der Mädchen interpretiert. Es wurde nicht das Kopftuch als einzelnes Differenzmerkmal gesehen, sondern das Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund wurde als ganze Person zur »Fremden« gemacht. Derartige Prozesse beschreiben postkoloniale Theoretiker_innen als »Othering«: Zugehörige zur Dominanzgesellschaft konstruieren gegensätzliche Identitäten des Eigenen und Fremden, worüber »die Anderen/Fremden nicht nur geschaffen, sondern auf einer Position der Nichtzugehörigkeit festgehalten werden« (Castro Varela/Dhawan 2007: 39). Wichtig ist es uns, in diesem Setting dafür zu sorgen, dass den Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund freisteht, an welchem Punkt sie sich positiv auf Kultur beziehen und ab wann sie den Bezug auf Kultur als rassistischen Übergriff werten. Gleichzeitig wollen wir nicht die Zuständigkeit, sich gegen Rassismus zu positionieren, auf Menschen of Color_mit Migrationshintergrund abwälzen und nicht am Verdeckungszusammenhang von Rassismus mitwirken, sondern in rassistischen Situationen Position beziehen. Das heißt aus unserer Warte auch aufzuzeigen, dass Kulturalisierungen Teil rassistischer Ideologie sind, die dazu dienen, die hegemoniale Gruppe über die als fremd konstruierte Gruppe zu stellen und damit Privilegien für die hegemoniale Gruppe abzusichern. Wir befinden uns bei der Thematisierung von Rassismus auf einer Gratwanderung zwischen zu vermeidendem Paternalismus und dem Anspruch rassismuskritisch Position zu beziehen. Im weiteren Seminarverlauf haben wir mit den Mädchen eine Übung (vgl. Lück 2002: 25f.) durchgeführt, deren Ziel es ist, die Unabgeschlossenheit von weiß-deutscher sowie von »anderen« Kulturen sichtbar zu machen und damit rassistische Stereotype diffus werden zu lassen. Dabei war uns wichtig, die Hybridität von kulturellen Prägungen zu betonen, durch den Fokus auf Vielfalt aber nicht den Anschein zu erwecken, real stünden in unserer Gesellschaftsformation alle kulturellen Praxen gleichberechtigt nebeneinander. Stattdessen sollten weiß-deutsche Dominanzverhältnisse als rassismusproduzierend sichtbar gemacht werden. Denn Rassismus ist das Problem und nicht Differenz. Eine intersektionelle Perspektive erfordert also einen Blick auf die Vielfalt der Lebenssituationen und die davon abhängigen Deutungsweisen und Widerstän-
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digkeiten. Dabei muss allerdings ein klarer Blick dafür vorhanden sein, rassifizierte Machthierarchien wie die unterschiedliche Verteilung von Privilegien nicht in eine Vielfalt unter Frauen umzudeuten (vgl. Wollrad 2005: 13). Als Pädagog_innen sollten wir in vergleichbaren Situationen die Funktionsweise von »Othering«-Prozessen im Blick behalten. Der Ansatz, dass kulturelle Praxen ausschließlich von Menschen of Color_mit Migrationshintergrund erklärt werden müssten, um interkulturelle Verständigung zu fördern, ist selbst ein Prozess des Othering und verschleiert zudem den Blick auf weiß-deutsche kulturelle Hegemonien. Indem wir auch weiß-deutsche kulturelle Praxen mit Fragen belegen, also alle Mädchen fragen, was es für sie persönlich bedeutet, eine oder keine Kopfbedeckung zu tragen, heiraten zu wollen oder nicht, ob sie unterschiedliche Kleidungsregeln für Jungen und Mädchen kennen und befolgen, öffnen wir den Raum dafür, verschiedene Perspektiven sichtbar und verstehbar zu machen. Gleichzeitig richten wir den Fokus auf die Hinterfragung von Normalitäten. In diesem fragenden Dialog versuchen wir den schwierigen Akt, an Differenzen gekoppelte Diskriminierungsstrukturen sichtbar zu machen, die in den Deutungen der Anwesenden im Raum stehen, ohne dabei selbst Othering-Prozesse zu verstärken. Wir versuchen mit unserer Position bewusst umzugehen und uns klar darüber zu sein, dass wir in der Intensität der Bearbeitung bestimmter Themen, wie z.B. Rassismuserfahrungen, mangels persönlicher Erfahrungen an strukturelle Grenzen stoßen. Weißen Deutschen fehlt für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen of Color_mit Migrationshintergrund das, was Kilomba aufzählt als »ideal conditions for nonhierarchial relationships [...]: shared experiences [...] and involvement with the problematic« (Kilomba 2008: 46). Im Bewusstsein über ihr Weißsein und Deutschsein müssen Pädagog_innen die aus einer weißen, deutschen Perspektive entstehenden Begrenzungen in ihrer Arbeit aushalten, ohne in eine Schuldfalle zu tappen und in Sprachlosigkeit zu verfallen. Um Strukturen aufzubrechen ist es unerlässlich, empathisch den Dialog aufrechtzuerhalten, die Aussagen der Mädchen ernst zu nehmen und dabei ihre Sphären zu respektieren. 2.2 Teamzusammensetzungen: Weiß-deutsche Räume ... Platz da! Weiß-deutsche Teams wurden in pädagogischen Settings in Deutschland als Normalität lange nicht infrage gestellt. Auch heute sind paritätisch besetzte Teams eher Ausnahme als Alltäglichkeit. Eine Öffnung der Räume für Mädchen_arbeiter_innen of Color_mit Migrationshintergrund bedeutet eine Repräsentation von Erfahrungen jenseits der weiß-
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deutschen Mittelklasse. Paritätische Teams eröffnen neue Perspektiven, die die Seminararbeit inhaltlich, qualitativ bereichern. Die Teamzusammensetzung beeinflusst in entscheidendem Maße, wann, in welcher Weise, in welchen Situationen Herkunft, Kultur, Rassismus etc. von den Teilnehmer_innen in das Seminar eingebracht werden. Paritätische Teams sind jedoch nicht nur in Bezug auf die Bearbeitung von Rassismus wichtig. Neben den Themen Diskriminierung, Rassismus, Kultur, Religion und Migrationsgeschichte, gibt es eine Vielzahl weiterer Themen (wie Jungfräulichkeit, Respekt, Prävention von sexualisierter Gewalt und Lebensplanung)10, bei denen eine nach verschiedenen Erfahrungshintergründen differenzierte Sicht hilfreich ist. Mehrdimensionale Sichtweisen durch unterschiedliche Erfahrungshintergründe erweitern Perspektiven und Deutungen von Seminarsituationen. Von weiß-deutschen Teilen des Teams erfordert eine solche Öffnung, kritisch weiß-deutsche Normen zu reflektieren, welche bestehende Strukturen aufrechterhalten. Stets sollte erwogen werden, Empowermenträume für Pädagog_innen of Color_mit Migrationshintergrund sowie Reflexionsräume für weiß-deutsche Pädagog_innen einzurichten. Seit 2007 findet auch in der Teamstruktur der HVHS »Alte Molkerei Frille« ein Umbruch statt. Verstärkt werden Teamer_innen of Color_mit Migrationshintergrund gesucht und eingestellt: 2009 wurde Fidan Yiligin Leiterin der Friller Mädchenarbeit. Da sich weiß-deutsch zusammengesetzte Teamstrukturen im Allgemeinen nicht von einem auf den anderen Tag auflösen lassen, sollte zumindest allen bewusst sein, wenn Menschen of Color_mit Migrationshintergrund und deren Perspektive im Team fehlen. An der beschriebenen Seminarsituation lässt sich die Problematik des Fehlens von Menschen of Color_mit Migrationshintergrund im Team sehr gut nachzeichnen. Obwohl wir in unserer Planung und Reflexion der Einheit eine Trennung der Teilnehmer_innengruppe für äußerst sinnvoll erachtet hatten, waren wir nicht in der Lage, den jungen Frauen of Color_mit Migrationshintergrund ihr »Recht auf professionelle Betreuung, Beratung und Begleitung durch Pädagoginnen« (Raburu 1998: 223) zu gewährleisten, die ihre Lebensrealitäten in Form geteilter
10 Die hier genannten Themen sind Antworten, die eine Teamer_in of Color und eine weiß-deutsche Mitarbeiter_in während eines Interviews auf die Frage: »Bei welchen Themen haltet ihr transkulturelle Teams für wichtig?« gegeben haben. Die Interviews wurden 2008 im Rahmen einer internen Evaluation mit Mitarbeiter_innen des »Arbeitskreises geschlechtsbezogene Pädagogik« der HVHS »Alte Molkerei Frille« geführt.
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Rassismuserfahrungen reflektieren. Dies beschränkte unsere Möglichkeiten, die rassistischen Situationen aufzugreifen und zu bearbeiten. Über Teamzusammensetzungen sollten möglichst viele verschiedene Subjektpositionen und Erfahrungshintergründe vorhanden sein. Aber auch in paritätischen Teams können nicht alle Formen von Rassismuserfahrungen repräsentiert werden. So teilt beispielsweise eine weiße Muslima mit albanischem Hintergrund nicht alle Rassismuserfahrungen einer Schwarzen Teilnehmerin aus Ghana. In einem paritätisch besetzten Team darf die Verantwortung für die Thematisierung von Rassismus nicht den Kolleg_innen of Color_mit Migrationshintergrund zugewiesen werden. Erstens weil dies der weiß-deutschen Verantwortung in rassistischen Verhältnissen nicht gerecht würde. Zweitens weil diese unter Umständen nicht mit weiß-deutschen Mädchen zum Thema Rassismus arbeiten möchten, um sich nicht rassistischen Situationen auszusetzen. Für weiß-deutsche Pädagog_innen ist es also elementar, einen Standpunkt einnehmen zu können, der Weißsein und Deutschsein kritisch reflektiert. Damit weiße Deutsche reflektiert und sensibilisiert mit Menschen of Color_mit Migrationshintergrund in einem Team arbeiten können, und erst recht wenn dies zum Thema Rassismus geschieht, sollte die regelmäßige Teilnahme der weiß-deutschen Mitarbeiter_innen an Fortbildungen zu Rassismus und Critical Whiteness obligatorisch sein. Parallel dazu könnten für Teamer_innen of Color_mit Migrationshintergrund Empowermentseminare11 angeboten werden. Gerade weiß-deutsche Teamer_innen sollten sich ein breites Wissen über Ausschlussideologien, Normalisierungsdiskurse und Abwertung aneignen und eine hohe Sensibilität für Unterschiede entwickeln. Dazu gehört u.a. eine Auseinandersetzung mit den Konstruktionsweisen von Hautfarbe, mit Kolonialgeschichte, rassistischer Ideologiegeschichte in Europa und Deutschland, Kulturbegriffen und ihren manifesten Auswirkungen. Enorm wichtig ist dabei ein bewusster Umgang der Mehrheitsangehörigen mit ihren Privilegien. Zu den Privilegien weiß-deutscher Mädchen_arbeiter_innen zählt zum einen die Tatsache »keine existentiellen, durchgängig rassistischen Macht- und Autoritätskonflikte mit weißen Klientinnen durcharbeiten zu müssen« (Raburu 1998: 219), und zum anderen der Fakt, auf weiß-deutsche »Reflexionsinstanzen, Supervisorinnen, Schlichtungsfrauen, Vereinsfrauen zurückgreifen zu können« (Raburu 1998: 219).
11 Siehe »Sich selbst stärken« und »Rassismuskritische Pädagogik« in diesem Buch.
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Deshalb sollte sich das Team differenziert über gesellschaftliche Machtstrukturen austauschen, die in Seminaren ebenso wie im Team weiter wirksam sind. Wie werden die Teamer_innen (mutmaßlich) wahrgenommen? Welche Kompetenz wird ihnen zugeschrieben? Welche Auswirkungen hat das auf die Anerkennung der Teamer_innen durch die Mädchen? Davon sollte abhängig gemacht werden, wie die Seminarinhalte und die Redeanteile der Teamer_innen aufgeteilt sind, um gesellschaftliche Machtstrukturen nicht zu reproduzieren. Konkret bedeutet dies, darauf zu achten, wer welche Übungen und Methoden anleitet, wer die anschließende Reflexion übernimmt, wer Absprachen und Vereinbarungen trifft. Es reicht also nicht aus, Teams paritätisch zu besetzen. Zusätzlich muss ein reflektierter Dialog innerhalb dieser Teams stattfinden, um eine Basis dafür zu schaffen, Verletzungen zu vermeiden oder bei Bedarf aufzuarbeiten, auch wenn dieser Austausch sich aus unterschiedlichen Gründen für beide Seiten schwierig gestaltet. Vor Beginn eines Seminars sollte sich das Team, ebenso wie zum Umgang mit Sexismus, darüber unterhalten, wie mit Rassismus innerhalb des Seminars umgegangen werden kann und soll (vgl. Lück 2009a). Zentral bei der Umstrukturierung von Teams ist es, von weißdeutscher Seite Räume zu öffnen, Definitionsmacht abzugeben und eigene Sichtweisen kritisch zu hinterfragen. Es ist Teil kolonial-rassistischer Diskurse, dass Weiße die Definitionsmacht darüber haben, worüber wie gesprochen wird, was also universell gültiges Wissen ist. Räume schaffen, Platz machen bedeutet in diesem Zusammenhang auch, nicht aus weißer, deutscher Position zu definieren, was wichtig und richtig ist. 2.3 Unsicherheit in rassistischen Situationen Welche Unsicherheiten der Umgang mit Rassismus in aus weißen Deutschen und Menschen of Color_mit Migrationshintergrund zusammengesetzten Gruppen mit sich bringen kann, wollen wir anhand einer weiteren Situation aus dem oben beschriebenen Seminar veranschaulichen: Die jungen Frauen sollten auf einer kleinen Wandzeitung, die in Kleingruppen erarbeitet wurde, ihre Wünsche und Befürchtungen in Hinblick auf das Seminar vorstellen. Eine der weiß-deutschen jungen Frauen äußerte den Wunsch zu lernen, »wie man richtig mit Ausländern umgeht«. Auf unsere Nachfrage, was die junge Frau damit meine, antwortete sie, sie würde die Frauen of Color_mit Migrationshintergrund gerne mehr in den Klassenverband einbeziehen. Die junge Frau konstruiert mit dem Wunsch »richtig mit Ausländern« umzugehen erstens Menschen of Color_mit Migrationshinter-
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grund zu einer homogenen Gruppe, mit der zweitens ein bestimmter Umgang nötig sei. Dies kann einerseits als rassistische Konstruktion kritisiert werden. Andererseits kann es als Ausdruck des Wunsches, die notwendige Sensibilität im Umgang mit Menschen of Color_mit Migrationshintergrund zu besitzen, interpretiert werden. Gemäß der USamerikanischen Aktivistin Pat Parker, die sagte: »Erstens: vergiss, dass ich Schwarz bin. Zweitens: vergiss nie, dass ich Schwarz bin« (Parker 1999: 99). Weil wir hinter der Aussage den Wunsch vermuteten, nicht rassistisch zu sein und befürchteten, eine weitere Diskussion könnte an dieser Stelle die rassistische Situation verschärfen, entschieden wir uns dafür, die Aussage zunächst so stehen zu lassen. In einer späteren Seminareinheit zum Thema Mobbing stellten wir heraus, dass alle Menschen sehr ähnliche Wünsche in Bezug darauf haben, wie man ihnen begegnet. Wir konnten die Frage des Mädchens in einem anderen Kontext wieder aufgreifen. In der Seminarsituation hätte es ebenso produktiv sein können, mit den Jugendlichen in einen Dialog zu treten über Fragen wie z.B.: Was bedeutet der Begriff Ausländer für euch? Sind Menschen, die in Deutschland geboren sind, aufwachsen und leben Ausländer? Kennt ihr weitere Begriffe? Welcher Begriff hat für euch etwas mit Rassismus zu tun und warum? Durch solche Gespräche können bestehende rassistische Strukturen hinterfragt und dekonstruiert werden. Von unserer Seite war diese Situation von dem Wunsch nach einem sicheren Umgang mit rassistischen Seminarsituationen geprägt. Für Menschen of Color_mit Migrationshintergrund schwingt im Umgang mit weißen Deutschen stets die Unsicherheit mit, rassistisch behandelt zu werden. Der Wunsch weiß-deutscher Personen nach Sicherheit in rassistischen Situationen ist auch »Ausdruck von Dominanzgewohnheit und der lebenslangen Gewissheit, sich im Kontext von Rassismus sicher fühlen zu können. Es ist unsere Überzeugung, dass weiße Menschen wissen, dass sie bezogen auf Rassismus eine privilegierte Position einnehmen, auch wenn dies häufig verleugnet wird. Laut der Schwarzen Psychoanalytikerin Grada Kilomba geschieht diese Verleugnung, weil Rassismus und weiße Dominanz ›an unpleasant truth‹ darstellen« (Lück/Stützel 2009: 344).
Möglicherweise sprach die junge Frau in der beschriebenen Situation durch ihre Frage in uns den Wunsch an zu wissen, wie wir als weißdeutsche Pädagoginnen richtig mit Jugendlichen of Color_mit Migrationshintergrund umgehen können, um unserem eigenen politischen An-
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spruch, nicht rassistisch zu handeln, gerecht zu werden und nicht durch die eigene Hilflosigkeit handlungsunfähig zu sein. Auch bei der Planung der Seminareinheit zu Rassismus waren wir unsicher, welche thematischen Schwerpunkte wir setzen sollten. Der Planungsprozess war von unserer Angst davor geprägt, durch die Thematisierung rassistischer Strukturen in der gesamten Mädchengruppe rassistische Äußerungen zu evozieren. Gleichzeitig stellten wir uns die Frage, ob wir Themen vermeiden, die uns als weißen Deutschen unangenehm sind, weil sie unsere Beteiligung an rassistischen Verhältnissen aufdecken würden.12 In solchen Situationen versuchen wir als Pädagoginnen uns bewusst zu machen, dass – außer für rassistisch Agierende – für keine Seite Sicherheit in rassistischen Situationen existiert. Durch ein Nicht-Thematisieren wird die Verdeckung von Rassismus mitgetragen. Mecheril spricht von »selbstironischer Fehlerfreundlichkeit«, bei der es möglich ist, aus nicht geplanten Ereignissen zu lernen (2004:129 ff.). Die Vielschichtigkeit rassistischer Situationen lässt in Verbindung mit der verschiedenen Verortung der Akteur_innen immer wieder Dilemmata zutage treten, die nicht widerspruchsfrei lösbar sind. Das Bewusstsein darüber sollte allerdings nicht als Entschuldigung für rassistisches und unreflektiertes Verhalten dienen. 2.4 Zur Notwendigkeit der Gruppentrennung und zur Arbeit in weiß-deutschen Gruppen Unserer Meinung nach wäre es in dem beschriebenen Seminar sinnvoll gewesen, die Mädchen in zwei Gruppen zu unterteilen, um für die Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund einen geschützten Rahmen zu schaffen und aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlicher Weise Rassismus(-erfahrungen) zu bearbeiten.13 Die Trennung sollte der Gesamtgruppe vorher begründet werden: Mit einem weiß-
12 Als weiße Deutsche sind wir in einer Kultur aufgewachsen, die auf Rassismus fußt. Wenn unser weißes Selbstbild durch rassistische Diskurse geprägt ist und wir von den daraus resultierenden Privilegien profitieren, ist es uns schon strukturell unmöglich, nicht rassistisch zu sein (vgl. Schwarzbach-Apithi 2008). 13 Bei der Einteilung der Gruppen sollte Jugendlichen of Color_mit Migrationshintergrund freigestellt werden, welcher Gruppe sie sich zuordnen, um ihren Raum für Selbstdefinition nicht zu untergraben. Eine offene Frage bleibt, inwiefern eine aus Weißen mit Migrationshintergrund und People of Color zusammengesetzte Empowermentgruppe einen geschützten Rahmen für People of Color bieten kann.
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deutschen Setting wird ein Reflexionsrahmen geschaffen, in dem sich Weiß-Deutsche als »performer of racism« (Kilomba 2008: 21) verorten, sich offen mit ihren verinnerlichten Rassismen auseinandersetzen, kritisch ihre Privilegien reflektieren und Spielräume für nichtrassistisches Handeln ausloten können. Ideal für eine temporäre Gruppentrennung mit dem Ziel geschützte Räume zu schaffen, um zum Thema Rassismus zu arbeiten, wäre eine auf die Selbstverortung bezogene paritätische Besetzung der Gruppe und des Teams. Von den Teamer_innen verlangt eine Gruppentrennung eine hohe Reflexionsbereitschaft. Es sollte den Teamenden im Vorfeld bewusst sein, dass durch die Trennung zwei stereotypisierte, homogene Gruppen konstruiert werden. Pädagog_innen müssen sich die Frage stellen, ob sie sich kompetent genug fühlen, um zu Rassismus zu arbeiten oder ob sie sich dazu externe Unterstützung holen sollten. Da keine Kolleg_in of Color_mit Migrationshintergrund im Team war, konnten in dem beschriebenen Seminar keine Empowermenteinheiten für die Mädchen of Color_mit Migrationshintergrund angeboten werden. Menschen of Color und solche mit Migrationshintergrund müssen selbst entscheiden, ob sie mit einer weißen oder weiß-deutschen Person über Rassismus und erst recht über ihre Rassismuserfahrungen reden wollen. Gleichzeitig kann es für Jugendliche of Color_mit Migrationshintergrund ein positives Erlebnis sein, dass die weiß-deutschen Teamer_innen eindeutig Position gegen Rassismus beziehen und sich solidarisch verhalten. Eine weiß-deutsche Teamerin, die sich eindeutig gegen Rassismus positioniert, kann zudem für die weiß-deutschen Mädchen der Gruppe als Rollenvorbild fungieren. Auch hier bewegen weiße Deutsche sich in der widersprüchlichen Balance zwischen der Gefahr, weiß-deutsche Dominanz auszuüben oder durch Schweigen rassistische Verhältnisse fortzuschreiben. Produktiv für die Arbeit in weiß-deutschen Gruppen ist die Auseinandersetzung mit Privilegien. An die deutsche Staatsangehörigkeit gekoppelte Privilegien sind beispielsweise das Bleiberecht und das Wahlrecht, genauso wie der Fakt, keiner Drangsalierung durch die Ausländerbehörde ausgesetzt zu sein. Asylbewerber_innen unterliegen der Residenzpflicht und werden in Asylbewerber_innenheimen ghettoisiert.14
14 Flüchtlingen steht ein um 40% verringerter Hartz-IV-Regelsatz zu. »Dieser wird jedoch häufig nicht ausbezahlt, sondern in Form von Sachleistungen ausgegeben[…]. Durch ein faktisches Arbeitsverbot, welches mit dem ›Zuwanderungsgesetz‹ noch mal verschärft worden ist, sind Flüchtlinge der Möglichkeit beraubt, für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.
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Weiße Menschen werden im Alltag aufgrund ihres Aussehens nicht als »besonders« wahrgenommen. Von hegemonialen gesellschaftlichen Normen abweichendes Verhalten wird bei ihnen nicht auf ihre Hautfarbe oder Religion rückbezogen. Weiße Menschen können davon ausgehen, dass sie einen Job, eine Wohnung oder den Zutritt in eine Diskothek nicht deshalb nicht bekommen, weil sie weiß sind. Methodisch kann die Bewusstwerdung der eigenen Privilegierung in der weiß-deutschen Mädchengruppe beispielsweise folgendermaßen15 angeregt werden: Alle Mädchen stellen sich auf einer Linie an einem Ende des Raumes auf. Die Teamer_innen lesen nacheinander weiße und deutsche Privilegien vor (z.B. »Niemand stellt infrage, dass ich das Recht habe, in Deutschland zu leben.«, »Ich kann davon ausgehen, dass ich nicht aufgrund meiner Hautfarbe von der Polizei kontrolliert werde.«, »Ich kann davon ausgehen, dass in der Kosmetikrubrik von Zeitschriften Tipps für meinen Hauttyp und meine Haare beschrieben werden« etc.)16. Die Mädchen sind aufgefordert, bei jedem Privileg, das auf sie zutrifft, einen Schritt vorwärtszugehen. In der Auswertung können zunächst die Gefühle der Mädchen während der Übung thematisiert werden und anschließend auf die Verantwortung weiß-deutscher Menschen bei der Schaffung weiß-deutscher Räume hingewiesen werden. Dabei kann der Frage nachgegangen werden, wie angesichts unterschiedlicher Machtzugänge über Privilegien ein solidarisches Miteinander realisiert werden könnte. Die Gruppe kann gemeinsam überlegen, ob Privilegien genannt wurden, bei denen es den Mädchen möglich ist, diese nicht zu nutzen. Zudem kann sich eine Diskussion um Möglichkeiten weiß-deutschen Engagements gegen Rassismus und in rassistischen Situationen anschließen. Die Übung kann auch intersektionell gestaltet werden. Dabei muss stets konkretisiert werden, wie die verschiedenen Diskriminierungssysteme im jeweiligen Beispiel miteinander verknüpft sind. Die Pädagog_innen sollten allerdings bei Diskussionen über Privilegien »in jeder Situation genau prüfen, ob die Begeisterung einer weißen Gruppe für eine solche Diskussion auf den Wunsch nach differenzierter Durchdringung komplexer Machtverhältnisse zurückzuführen ist oder auf den Wunsch, auf der Opferseite (als Frau, als Schwuler etc.) zu stehen und
Ausnahmen von diesem Verbot gibt es nur bei Jobs, zu denen sich sonst niemand bereit erklärt« (Akpulu et al. 2007: 374). 15 Die hier beschriebene Übung ist an eine Methode aus dem »Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit« angelehnt (vgl. DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. 2008). 16 Vgl. »Deutschland Schwarz Weiß« (Sow 2008).
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die eigene Positionierung als privilegierte Person zu negieren« (Wollrad 2005: 192).
F a z it Die sehr verschiedenen Ebenen weiß-europäischer Geschichte und deren Folgen, komplizierte Machtkonstellationen, Bedürfnisse auf allen Seiten, Kompetenzen und Entscheidungsmöglichkeiten verunmöglichen häufig klare Entscheidbarkeiten eines »richtigen« oder »falschen« pädagogischen Handelns. Nichtsdestotrotz müssen weiß-deutsche Pädagog_innen ihrer Verantwortung nachkommen, Rassismus als hierarchisches System kritisch zu thematisieren und dabei in steter selbstreflexiver Auseinandersetzung zu bleiben. »In any case the general purpose of the [Racial, Anm. J.V., S.R.] Contract is always the differential privileging of the whites as a group to the nonwhites as a group, the exploitation of their bodies, land and resources, and the denial of equal socio-economic opportunities to them. All whites are beneficiaries of the Contract, though some whites are not signatories to it.« (Mills zitiert in: Eggers 2005: 59).
In diesem Sinne sollten wir als weiße Deutsche unsere Möglichkeiten nutzen, den Racial Contract aufzukündigen und in Anknüpfung an – und wo gewünscht in Kooperation – den Widerstand von Menschen of Color_mit Migrationshintergrund unsere Verantwortung in rassistischen Verhältnissen nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch anzunehmen.
Literatur Akpulu, Uche/Darwisch, Ahmad et al. (2007): Der Kampf der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten. In: Ha, Kien Nghi et al. (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster: Unrast-Verlag, 373–387. Combahee River Collective (1982): A Black feminist statement. In: Hull, Gloria T. et al. (Hg.): All the women are white, all the blacks are men, but some of us are brave: Black women’s studies, Old Westbury New York: Feminist Press, 13–22.
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Re flexive Koeduk ation revisited. Mit Geschlechterheterogenität umgehen MART BUSCHE, LAURA MAIKOWSKI »Wird die Differenz betont, um Ungleichheiten zu legitimieren, gilt es, sie zurückzuweisen und auf Gleichheit zu beharren. Und wird Gleichheit umstandslos behauptet, muss auf Differenz beharrt werden, weil sonst die realen Herrschaftsverhältnisse einschließlich ihrer historischen Konstruktionsprozesse verhüllt und verleugnet werden.« (Albrecht-Heide, zit. nach Nissen 1998: 78).
Neben der Reflexion von Mädchen- und Jungenarbeit kreisen wir in der geschlechtsbezogenen Pädagogik und Bildungsarbeit auch immer wieder konzeptionell um die Frage der reflexiven Koedukation1. Deshalb widmet sich dieser Artikel der Frage, wie in koedukativen Einheiten in der Seminararbeit in Frille geschlechterungerechte Strukturen transformiert bzw. reproduziert werden.
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Reflexive Koedukation meint die geschlechtsbezogene Förderung von Mädchen und Jungen unter Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse und ihrer Konstitutionsbedingungen mit dem Ziel des Abbaus von Geschlechterhierarchien.
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1 . R ef l ex iv e K o ed u k a t i o n i n d er a u ß e r s c hu l i s c h en g e s c h l e c ht s b e z o g e n e n B i l d u n g Neben Mädchenarbeit und Jungenarbeit bildet die geschlechterreflektierte bzw. reflexive Koedukation die dritte Säule der geschlechtsbezogenen Pädagogik (vgl. z.B. Cremers 2006: 56)2. Alle drei Ansätze haben ihre Berechtigung und ihre eigene Entstehungsgeschichte, in der Heimvolkshochschule (HVHS) »Alte Molkerei Frille« fließen sie praktisch unter einem Dach zusammen: während die Aufteilung in Mädchengruppen und Jungengruppen zu Beginn eines Seminars – auch mit dem Bewusstsein, hier eine »Geschlechtszuweisung« vorzunehmen – nach wie vor die Regel ist, gibt es seit einigen Jahren verstärkt eine Auseinandersetzung mit dem Thema reflexive Koedukation. Dies ist einerseits darin begründet, dass es unter den Teamer_innen zum Teil wenig Wissen darüber gab, was in der jeweils anderen Gruppe vor sich ging, und deshalb eine Diskussion der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Mädchen- und Jungenarbeit angestoßen wurde. Andererseits ist aber die Trennung der beiden Gruppen immer nur temporär, beim Essen und in der Freizeit treffen Mädchen und Jungen vielfach aufeinander, und es werden sowohl Seminarinhalte verglichen und bewertet als auch Gesamtgruppenaktivitäten wie Nachtwanderungen oder Partys mit selbstgestaltetem Programm (z.B. mit Tänzen oder Showeinlagen) durchgeführt. Trotz des Drei-Säulen-Konzeptes der geschlechtsbezogenen Pädagogik gibt es jedoch auch eine weitverbreitete Zurückhaltung unter Mädchenarbeiter_innen (und auch Jungenarbeiter_innen) in Bezug auf reflexive koedukative Praxis. Das ist in den meisten Fällen auf die konzeptionelle und räumliche Trennung von Mädchenarbeit und Jungenarbeit zurückzuführen: Anders als in der Schule, wo in den meisten Fällen heute unhinterfragt ein koedukatives Setting vorliegt, hat sich die außerschulische geschlechtsbezogene Bildungsarbeit in erster Linie über die 2
Claudia Wallner führt gemischtgeschlechtliche Leitung in homogenen Gruppen bzw. das Arbeiten von Frauen mit Jungen und das Arbeiten von Männern mit Mädchen (»Crosswork«) als eine vierte Säule an (Wallner 2008). Auch wenn der Begriff des »Crosswork« vermehrt Verbreitung erfährt, lässt sich hier kritisch fragen, inwieweit dieses (begriffliche) Konzept nicht wieder dazu beiträgt, »Mädchen«, »Jungen«, »Frauen« und »Männer« als abgeschlossene Kategorien und eindeutig charakterisierbare Gruppen zu konstruieren. Fraglich ist beispielsweise, wie diese Art der Bildungsarbeit heißen müsste, wenn sie von einer Transgender Person durchgeführt wird.
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Errungenschaft geschlechtshomogener Räume definiert und entwickelt. Die differenzorientierten Konzepte der 70er- und 80er-Jahre verbanden. damit auch unterschiedliche Bildungsziele für Mädchen und Jungen3 Aus dieser Tradition heraus liegt es für Pädagog_innen der Mädchenund Jungenarbeit heute nicht unbedingt nahe, sich auf koedukative Settings einzulassen. Dies gilt auch für den Friller Kontext: Neben dem Mangel an konkreten koedukativ angelegten Seminaren ist die Aneignung von Kompetenzen für die Mädchenarbeit oder die Jungenarbeit zentral. Dabei entsteht zwangsläufig der Eindruck, über »das eine Geschlecht« viel zu wissen, über »das andere« wenig, und wenn es dann auch noch zu Interaktionen zwischen beiden kommt, wird es schwierig überhaupt noch Prozesse und Dynamiken lesen und überblicken zu können. Eine gewisse Komplexität findet sich aber auch in vermeintlich »geschlechtshomogenen Räumen«, sind doch Interaktionen auch von anderen sozialen und situativen Faktoren bestimmt.4 Deshalb ist zu fragen, ob geschlechtergemischte Räume nicht unnötigerweise als potenziell komplex und unübersichtlich konstruiert werden, während geschlechtshomogene Räume in der außerschulischen Bildung als vermeintlich überschaubar idealisiert werden. Komplexitätsreduktion im Sinne ordnungsgebender Vereinheitlichung scheint besonders in der Schule ein starkes Motiv in der Bildungsarbeit zu sein (vgl. Reh 2005), auch ohne in Mädchen- und Jungengruppen zu trennen. Das durchaus nachvollziehbare Bedürfnis nach Überschaubarkeit durch Zuordenbarkeit setzt sich auch in Bezug auf verschiedene andere, nicht geschlechtsbezogene Kategorien durch (so werden bspw. häufig nur alle weißen Jugendlichen als Deutsche angesehen). Die Einsichten, die sich aus individuums- oder diversitätsbezogenen Ansätzen – wie etwa dem Intersektionalitätsansatz – ergeben, stehen diesem Bedürfnis allerdings diametral entgegen. Um diesen gerecht zu werden sind komplexe Analy-
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Damit reagierten sie vor allem auf die strukturelle Benachteiligung von Mädchen im koedukativen Setting in der Schule. Dennoch stellte sich in der Entwicklungsgeschichte der Schule das gemeinsame Unterrichten von Mädchen und Jungen als eine revolutionäre Veränderung dar (»Gleiche Bildung für alle«), ebenso wie die gemeinsame Unterrichtung von Schwarzen und weißen Schüler_innen in den USA in den 60er-Jahren. Dort kommt der Begriff »Koedukation« ursprünglich her. Zudem existiert die Norm einer gesellschaftlichen Höherbewertung des Männlichen sowie des Heterosexuellen ebenso, wenn Träger männlicher Zuschreibungen oder die potenziell heterosexuell aufgeladene Interaktion zwischen zwei Angehörigen unterschiedlicher Geschlechtsgruppen nicht anwesend sind.
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sen gefordert, die den_die Jugendlichen einerseits als Person in den Blick nehmen und Hierarchien mit stereotypen Reduzierungen abbauen. In ihrem Text über »Mädchen und Koedukation« in der Schule zeigt Hannelore Faulstich-Wieland (1997) auf, »daß geschlechtshomogene Kontexte nicht per se zu einer Veränderung des Geschlechterverhältnisses führen« und macht sich für einen umfassenden Ansatz der reflexiven Koedukation stark. Sie benennt die Problematik, dass die Vorstellungen über das jeweils andere Geschlecht in getrenntgeschlechtlichen Schulen häufig extrem stereotyp sein können. So sind bspw. Mädchen von monoedukativen Schulen der Meinung, dass männliche Schüler weiblichen Schülerinnen im naturwissenschaftlichen Unterricht überlegen seien. Die Befragungen in koedukativen Settings ergaben hingegen häufig kritische Aussagen, vor allem gegenüber den geschlechterstereotypen Einstellungen der Lehrkräfte. Es wurde bspw. konstatiert, dass die angebliche Überlegenheit von Jungen auch von der Haltung der Lehrer_innen abhänge, die z.B. Jungen im Physikunterricht bei Versuchen den Vortritt ließen (Faulstich-Wieland 1997: 8).5 Diese Forschungsarbeit von Faulstich-Wieland hat uns dazu inspiriert, die Friller Jungen_- und Mädchen_arbeit kritisch zu reflektieren und darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten sich aus den Ansätzen der reflexiven Koedukation für unsere Arbeit ergeben. Wir widmen uns hier vor allem der Frage, wie koedukative Räume aussehen müssten, um das kontra-stereotype Erleben des bzw. der Anderen zu ermöglichen. Wie kann die Konfrontation der unterschiedlichen Geschlechter – und das meinen wir hier im Sinne der Heterogenität, Widersprüchlichkeit und der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit der Kategorie Geschlecht (siehe auch »Jungenarbeit und Intersektionalität« in diesem Buch) – und die Auseinandersetzung mit geschlechterstereotypen Zuschreibungen in der koedukativen Gruppe zu einer stärkeren Handlungsfähigkeit im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit führen? Wie ist die Waage zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung – also der (Über-)Betonung und De-Thematisierung – von Geschlecht zu halten bzw. wann ist welche Strategie angebracht? Im Folgenden werden wir die Arbeit in Frille in Bezug auf diese Fragestellungen überdenken. Wir möchten zudem Kriterien vorstellen, die es erleichtern sollen zu entscheiden, wann reflexive Koedukation produktiv sein kann.
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Es ist nicht auszuschließen, dass diese Ergebnisse eng mit milieuspezifischen Einstellungen gekoppelt sind, wurden doch staatliche, koedukative Schulen mit katholischen, monoedukativen verglichen.
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Unsere eigene Motivation für diese Auseinandersetzung speist sich aus unseren unterschiedlichen Erfahrungen mit Emanzipationsprozessen und Kämpfen als weiße, deutsche Mittelstandsangehörige in koedukativen Räumen vom Kinderladen bis zur Lohnarbeit – ob es darum ging durchzusetzen, als Mädchen beim Fußballspiel mitzumachen oder bei der Vorbereitung einer politischen Kampagne die Delegierte der gemischten Aktionsgruppe zu sein. Dazu kommen die von uns immer wieder bewusst gewählten Bezugspersonen und Organisationsformen in homogenen Bezügen – von der Mädchengang im Kindergarten über die christliche Mädchengruppe bis zur ersten Band. Wir wissen, dass es nervig sein kann, wenn Gender ständig Thema ist, ebenso wie wenn es gar nicht besprochen wird. Wir wünschen uns einen wachen und wachsamen Umgang mit Geschlecht und anderen Attributierungen.
2 . A s p e k t e d e r Fr i l l e r K o e d u k a t io n s d eb a t t e 1989 schrieben pädagogische Fachkräfte aus Frille in der ersten hauseigenen Buchveröffentlichung im Kapitel »Zwei Welten – eine Normalität oder: Warum Koedukation nicht stattfinden kann«: »Die Koedukation hat ihr Versprechen, Chancengleichheit zu schaffen, für Mädchen nie eingelöst und auf Jungen bis heute nicht bezogen. Denn es wurde nie gefordert, dass Jungen die Chance erhalten, weibliche Fähigkeiten zu entfalten: z.B. die Bedürfnisse anderer wahrnehmen, Emotionalität zeigen, Ordnung und Gemütlichkeit schaffen.« (Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« 1989: 9). Weiter wird kritisiert, dass weibliche Leistungen im durch männliche Werte geprägten Bildungsalltag unsichtbar gemacht werden und dass LehrerInnen6 ihre Verantwortung an Mädchen delegieren, da Mädchen als sozialer Puffer gebraucht werden, um überhaupt unterrichten zu können (ebd. 10f.). Die »Fremdheit« von Frauen werde sowohl in Bezug auf die männliche Normalkultur thematisiert als auch – mangels Entfaltungsmöglichkeiten – für die eigene weibliche Kultur, die nur unter Bereitstellung geeigneter Frauen- und Mädchenräume realisiert werden könne (ebd. 12). Auf der Basis der differenztheoretisch hergeleiteten Annahme zweier Geschlechterkulturen und ihrer unterschiedlichen Wertigkeit werde die geschlechtergetrennte Arbeit als Entfaltungsraum für Eigenschaften begründet, »die dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden, während in koedukativen Grup-
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Schreibweise im Original.
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pen immer eine Delegation nach Geschlecht erfolgt« (ebd.) – und somit werde die Entfaltung von geschlechtsuntypischen Eigenschaften blockiert. In der späteren Publikation »Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik« von Fachkräften aus der Heimvolkshochschule »Frille« verändert sich dieser Ansatz: Interaktionen zwischen Frauen und Jungen bzw. Männern und Mädchen im pädagogischen Setting werden nun unter dem Stichwort »Koedukation«7 in den Blick genommen (Glücks/Ottemeier-Glücks 2001). Es wird der Tatsache Rechnung getragen, dass der pädagogische Alltag in der Regel gemischtgeschlechtlich stattfindet und dies hinsichtlich einer geschlechtersensiblen Perspektive einiger Reflexion der eigenen Geschlechterposition und ihrer Wirkungsweisen auf »das andere« Geschlecht bedarf (ebd.: 68). Dabei setzen die Autor_innen »die Geschlechterhierarchie« als Hintergrund jeder koedukativen Arbeit, derer mensch sich bewusst sein sollte (ebd.: 69f.). Damit schließen sie an den oben genannten Beitrag aus den 80ern an und kritisieren mit Verweis auf den Geschlechterdualismus ebenfalls die vermeintliche Neutralität des gemischten Settings: »Die proklamierte Normalität in der Form, vermeintlich geschlechtsneutrale Sicht- und Handlungsweisen zu praktizieren, wird im Rahmen der Koedukation zur Falle« (ebd.). Um dies zu verhindern ist die Reflexion der eigenen Biografie und der jeweiligen pädagogischen Praxis vonnöten. Unter der Überschrift »Strukturelles Denken üben und praktizieren« beschreiben Glücks/Ottemeier-Glücks das Bestreben »Koedukation vom Grundsatz her geschlechtsspezifisch zu qualifizieren, d.h. diese Sichtweise einzufordern, und pädagogische Konzepte entsprechend neu zu schreiben« als einen zentralen Ansatzpunkt zur Einflussnahme auf die Veränderung von Rahmenbedingungen. In den über zehn Jahren, die zwischen dem Erscheinen der beiden genannten Texte liegen, ist ein Wechsel in der Sicht auf reflexive Koedukation zu verzeichnen, der sich von ihrer Ablehnung aufgrund mädchenbenachteiligender Strukturen zur bedingten Forderung nach qualifizierter Professionalisierung unter Analyse der Geschlechterhierarchie gewandelt hat. Dies spiegelt auch den Weg der Mädchenarbeit wider: Zuerst wurde der Koeduaktion misstraut, es wurde ein eigener Weg eingeschlagen, dann – als die Mädchenarbeit einigermaßen etabliert war – begannen die Mädchenarbeiterinnen sich ins Verhältnis zu reflexiver Koedukation und Crosswork zu setzen und vorsichtig über die Umset7
Diese Form der »gemischtgeschlechtlichen« Arbeit wird heute eher als »Crosswork« bezeichnet. Zur Begriffsklärung vgl. Wallner 2008: 16, zur Begriffskritik vgl. »It’s a men’s world« in diesem Buch.
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zung gemischter Settings, vor allem auf der Ebene der Seminarleitung, nachzudenken. Heute, noch einmal knapp zehn Jahre später, haben die Debatten um Dekonstruktion, Queer, doing gender und andere Konzepte, die das differenztheoretische Paradigma infrage gestellt haben, unsere Auseinandersetzung mit der reflexiven Koedukation verstärkt. Für die Arbeit in Frille möchten wir als Zwischenfazit festhalten: Wir erachten es für sinnvoll, die geschlechtshomogene Arbeit fortzuführen und zugleich die Chancen der reflexiven Koedukation verstärkt auszuloten, um – auch im Sinne einer Selbstsozialisation – die oben genannten Möglichkeiten zu erweitern! In einem internen Thesenpapier von 2007 haben wir versucht, eine gemeinsame Diskussion zwischen Friller Mädchenarbeitskreis und Jungenarbeitskreis wieder in Gang zu setzen. Dies war u.a. unserer Beobachtung geschuldet, dass die Jungen- und Mädchenarbeit außer in kurzen koedukativen Seminareinheiten am Seminaranfang (Namensspiel, Einführung ins Seminar und Hausführung, Regeln des Zusammenlebens) in den letzten Jahren recht geschlechtergetrennt ablief. Das bedeutete unter anderem, dass unseres Erachtens nicht genug reflektiert wurde, welches genderbezogene Gesamtbild die unterschiedlichen Erfahrungen der Jugendlichen in den homogenen Gruppen jeweils produzieren (siehe auch »Bilder von Mädchen« in diesem Buch). Beispielsweise kann es geschlechterstereotype-reproduzierend wirken, wenn in einem Seminar zu Berufsorientierung die Jungengruppe ein Bewerbungstraining durchführt und die Mädchengruppe zu Konflikten untereinander arbeitet. Wenn dies vor dem Hintergrund der gleichen normativen Bewertungskriterien von den Jugendlichen interpretiert wird, kann es dafür sorgen, dass − obwohl beide Gruppen eine produktive Seminareinheit erlebten − das Bewerbungstraining als »etwas Richtiges lernen« bewertet wird, während auf Mädchenseite das Gefühl entsteht, »nur sozialen Ringelpiez« durchgeführt zu haben. Ebenso kritisch sehen wir die Rollenaufteilung bei der Zwischenund Endauswertung der Seminare in einigen Teams. Die Reflexion für das gesamte Team und das Seminar wurde häufig von Mädchen_arbeiter_innen übernommen, während die Jungen_arbeiter_innen eher mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt waren.8 In Diskussionen hat sich 8
Natürlich gibt es auch ganz andere Erfahrungen und diese Dynamiken sind sehr vom jeweiligen Team abhängig. Da in der HVHS sehr viele freie Mitarbeiter_innen in unterschiedlichsten und manchmal auch in immer denselben Konstellationen arbeiten, ist es schwer, eine wirklich allgemeingültige Tendenz zu eruieren.
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herausgestellt, dass es hier u.a. eine falsch verstandene Rücksichtnahme in Bezug auf den Schutzraum Mädchen_arbeit gibt – einige Jungen_arbeiter meinten, es stünde ihnen nicht zu, als Männer die Arbeit der Mädchen_arbeiter_innen zu kommentieren oder zu kritisieren – was dazu führte, dass diese kaum kritisch-solidarisches Feedback bekamen. Diese Kommunikationslosigkeit verhinderte eine verbesserte geschlechterreflektierende Handlungsfähigkeit in den Teams. Die Frage an die Jungen_arbeit »Was macht ihr da eigentlich?« bzw. umgekehrt die Frage an die Mädchen_arbeit: »Was machen wir da eigentlich?« hat also eine relevante Rolle bei der neuen Auseinandersetzung mit reflexiver Koedukation gespielt. Nicht zuletzt war die Unzufriedenheit über unsere eigene dichotome und dramatisierende Einteilung der Gruppen in Mädchen und Jungen ein Motiv für die weitergehende Beschäftigung mit diesem Thema9. Dieses Motiv ging einher mit dem Ziel, einen Raum für Tomboys10, Intersexen, MädchenMädchen, Jungen_, Mädchen_, Transgendern u.a. (siehe auch »Jungenarbeit und Intersektionalität« in diesem Buch) bieten zu können, und der Frage, wie wir die Arbeit verändern können, wenn Geschlecht zugunsten anderer Kategorien keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt.
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Dabei war zum Beispiel die individuelle, freie Wahl von Seminargruppen (»Mädchen«, »Jungen«, »gemischt«) seitens der Teilnehmenden ein Versuch, die institutionelle geschlechtliche Einteilung von »außen« zu umgehen. Dies führte allerdings ebenfalls zu einer geschlechtsbezogenen Dramatisierung, die vom Team nicht intendiert war. Obwohl die freie Wahl als Möglichkeit der Umsetzung der eigenen (Zugehörigkeits-)Wünsche und Selbstbezeichnungen der Teilnehmenden gedacht war, baute sich vor allem für einige männliche Teilnehmende ein großer Druck auf, sich »richtig« zu entscheiden. »Richtig« hieß hier, für seine Wahl nicht ausgelacht zu werden und sich bei der geheimen Wahl für die gemischte Gruppe zu entscheiden. Nach der Wahl zeichnete sich die gemischte Gruppe durch eine große Mehrheit an Jungen aus, was wiederum die anwesenden Mädchen veranlasste, ihre Wahl rückgängig zu machen und in die Mädchengruppe zu wechseln. Diese Situation zeigte uns sehr klar, dass wir vor allem die gruppendynamischen und männlichkeitsbezogenen Faktoren, die zur Dramatisierung von Geschlecht bei (12-Jährigen) führen können, nicht genügend in unsere Seminarplanung einbezogen hatten. 10 Tomboys meint Mädchen (und Frauen), die sich entsprechend den gängigen Geschlechterrollen von Jungen verhalten.
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3 . T r a ns n s f o r m a t io n o d er e r R e p r o d u k t io n? n? Reflexive Koedukation bedeutet unter anderem eine Gratwanderung zwischen der Herstellung von Differenz und Gleichheit: »Differenz ohne Gleichheit bedeutet gesellschaftlich Hierarchie, kulturell Entwertung, ökonomisch Ausbeutung. Gleichheit ohne Differenz bedeutet Assimilation, Anpassung, Gleichschaltung, Ausgrenzung von ›Anderen‹« (Prengel 1993: 182).
Die individuelle Unterschiedlichkeit muss also beachtet werden, ohne daraus einen Benachteiligungs- oder Bevorzugungsfaktor werden zu lassen. (Strukturelle) Gleichbehandlungen müssen auf ihre Möglichkeiten für Unterschiede überprüft werden. In Bezug auf reflexive Koedukation geht es für Hannelore Faulstich-Wieland und Marianne Horstkemper darum, »dass wir alle pädagogischen Gestaltungen daraufhin durchleuchten wollen, ob sie die bestehenden Geschlechterverhältnisse eher stabilisieren oder ob sie eine kritische Auseinandersetzung und damit ihre Veränderung fördern« (Faulstich-Wieland/Horstkemper 1996: 583). Hierbei sind Gleichheit und Differenz zwei wichtige Konzepte, denn das Ziel in der Auseinandersetzung mit dem sozialen Geschlecht bzw. Gender ist also nicht, »geschlechtsspezifische« Verhaltensweisen und damit Differenz nachzuweisen, sondern die alltägliche Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zu beschreiben, sichtbar zu machen und auf ihre Einschränkungen und Ausschlussmechanismen hin zu analysieren. Dabei wird nicht bei der Darstellung des Offensichtlichen stehen geblieben, sondern der Frage nachgegangen, wie die Beteiligten – Schüler_innen, Lehrer_innen, Teamer_innen – sowie die Strukturen und Rahmenbedingungen Reproduktion von und Ignoranz gegenüber hierarchischen Unterschieden unterstützen und was sie zu ihrer Auflösung beitragen (können). Wie kann also verhindert werden, dass wir durch Konzentration auf das soziale Geschlecht nicht genau wieder, in einem essentialistischen Sinn, ebendies konstruieren: »Mädchen/Frauen sind ...«, »Jungen/Männer sind ...«? Ein möglicher Ansatz in diesem Dilemma kann sein, allen Teilnehmer_innen zu ermöglichen, für sie neue, ungewohnte Erfahrungen zu machen – Raum einzunehmen, sich und die eigenen Leistungen, Erfahrungen und Kenntnisse positiv darzustellen, für ein gutes Gesprächsklima sorgen zu können etc. Entscheidend dabei ist, die neuen Erfahrungen nicht zu vergeschlechtlichen im Sinne einer Konkurrenzlogik (»Bei dem Spiel habt ihr es den Jungen aber gezeigt!«) oder einer Konstruktion von Normalität (»Jetzt hast du dich im Seilparcours für ein
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Mädchen aber viel getraut!«). Dies entspräche einer unnötigen Dramatisierung, die auf herkömmliche Geschlechterklischees verweist, auch wenn sie vermeintlich am Gegenteil ansetzt. Häufig werden homogene und heterogene Geschlechtergruppen als grundsätzlich unterschiedliche Settings in der geschlechtsbezogenen Pädagogik verhandelt. Dabei ermöglicht die homogene Arbeit eine Konzentration auf die Binnendifferenzen der jeweiligen Gruppen, wobei vermeintliche, über Gegensatzpaare strukturierte Geschlechtsmarker eliminiert scheinen. Andere Zuschreibungen (z.B. Ethnizität) scheinen dann leichter in den Vordergrund zu treten, weil Geschlecht als Differenzmerkmal vermeintlich wegfällt. In der geschlechterheterogenen Arbeit dagegen scheint einerseits Komplexität die Interaktion (im positiven Sinne der Vielfältigkeit und Möglichkeiten) zu dynamisieren; auf der anderen Seite kann diese auch zu Pauschalisierungen und normierenden Vereindeutigungen führen. In unserer Arbeit gehen wir davon aus, dass Geschlecht (wie auch jede andere soziale Kategorie) potenziell immer vorhanden ist, lediglich seine Wirkweisen sind unterschiedlich. So kann die Neugier auf verschiedene geschlechtliche Seinsweisen auch für Erkenntnisprozesse genutzt werden, ebenso eine Reflexion der Begrenzungen und Erwartungen, die sich vor allem Jungen und Mädchen in ihrem jugendlichen Sozialisationsprozess gegenseitig, aber auch sich selbst auferlegen. Angemessen wäre es, zukünftig in anerkennender Weise Komplexität insgesamt einen größeren Stellenwert beizumessen – und zwar in geschlechtshomogenen wie in -heterogenen Zusammensetzungen – und sich zu befähigen, prozesshaft auf die jeweilig relevante Kategorie reagieren zu können.
4 . R ef l e x i v e K o e d u k a t i o n k o n k r e t : P r a x i s b e i s p i e le Anhand einiger Praxisbeispiele betrachten wir die Begrenzungen und Erweiterungen der Handlungsspielräume im koedukativen Setting. Ziele sind unter anderem der Erfahrungs- und Wissensgewinn aller Beteiligten und das Erleben von Selbstwirksamkeit. Die Schwierigkeit des koedukativen Settings liegt darin, geschlechtsstereotype Verhaltensweisen nicht zu wiederholen. Berichte aus dem Schulalltag verweisen darauf, dass Jungen oft unter Überlegenheits- und Durchsetzungsdruck stehen, während Mädchen eher befürchten, dass ihre vermeintliche Inkompetenz aufgedeckt wird und sie eventuell ausgelacht werden. Ihrem vorhandenen Selbstbewusstsein wird damit eventuell geschadet (vgl. Faul-
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stich-Wieland 1997: 6f.). Dieses Gegensatzpaar von Dominanz und Zurückhaltung findet sich auch oft in koedukativen Settings, auch wenn dies selbstverständlich nicht für das Verhalten aller Kinder und Jugendlichen gilt. Daraus leitet sich für das koedukative Setting die Frage ab, welche Art von Interventionen, Setzungen oder Fragestellungen die Norm hinterfragen. Die Kunst der reflexiven Koedukation liegt darin, Gruppen sensibel und offen zu machen für Reflexion gegenüber Alltagshandeln, das sie zuvor nicht als problematisch oder einengend angesehen haben. Das alltägliche vergeschlechtlichte Handeln muss aus der Unsichtbarkeit der Norm geholt werden. 4.1 Strukturelle Ermächtigung durch Entdramatisierung von Geschlecht Wenn nach Faulstich-Wieland »Ansatzpunkte für Lernprozesse, die auf Abbau von Ungleichheit zielen, [...] eher in gemeinsamen sozialen Erfahrungen von Mädchen und Jungen zu suchen [sind]« (ebd.: 11), dann kann die Entdramatisierung von Geschlecht im koedukativen Setting als Strategie der Befähigung zum Handeln hilfreich sein. Am Beispiel der Übung »Flussüberquerung«, die in Frille sehr oft im Rahmen von Kooperationsübungen zur Stärkung der Klassengemeinschaft praktiziert wird, lässt sich dies exemplarisch diskutieren. Die »Flussüberquerung« hat zum Ziel, gemeinsam einen imaginären gefährlichen ca. 20 Meter breiten Fluss zu überqueren – unter Zuhilfenahme von drei leeren Sprudelkisten und vier Holzbohlen (je nach Gruppengröße). Dabei werden die Kisten als »Pfeiler« im Fluss platziert und mit den Bohlen quasi zur Brücke verbunden. Die Jugendlichen balancieren dann in einer Reihe hintereinander auf den Bohlen und müssen von dort aus die Brücke hinten wieder abbauen, um vorne weiteranzubauen, – ohne ins »Wasser« zu fallen, in dem »gefährliche Krokodile« lauern – sprich: sie dürfen also nicht den Boden berühren. Das Seminarsetting ist in diesem Beispiel eine Gruppe von fünf Mädchen und zwei Jungen, die zum ersten Mal auf Klassenfahrt ist. Gestartet wird mit dem Sammeln von Lösungsideen, wobei zwei Mädchen praktizierbare Vorschläge einbringen. Bei der Umsetzung platzieren sich die beiden Jungen an den Anfang und das Ende der Gruppe und besetzen hiermit die beiden aktivsten Rollen bei der Aufgabe. Es werden Kommentare geäußert, dass die Mädchen »so was« nicht könnten. Die Mädchen nehmen die weniger aktiven und weniger Geschicklichkeit erfordernden Rollen an.
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Die Gruppe hat anfangs Schwierigkeiten, einen Weg nach vorne zu finden, die beiden Jungen fallen mehrmals runter, dürfen aber wieder aufs Brett steigen und weitermachen. Nach Abschluss der Übung ergibt die Auswertung, dass alle sehr zufrieden und begeistert sind, weil sie gemeinsam etwas bewältigt haben und Spaß hatten. Es wird deutlich, dass beide Geschlechter ihren Teil zur geschlechterstereotypen Handlung beitragen. Ihre Vorteile dadurch sind auf Jungenseite Erfolg, das Erleben von Risiko und Aktivität sowie das Aufmerksamkeit-auf-sich-Ziehen; die Mädchen sind hingegen relativ frei von Verantwortung, können sich in die Gruppe zurückziehen, exponieren sich nicht und machen sich somit nicht angreifbar. Die oben erwähnten männlichen Kompetenzbeweise sowie die weibliche Angst vor der Aufdeckung von Inkompetenz finden sich hier also wieder, das bekannte, Sicherheit gebende Verhalten wird reproduziert. Doch wie lassen sich solche komplementären Erfahrungsgefüge im koedukativen Setting aufbrechen? Aufgrund der gemachten Beobachtungen entscheidet sich das Team für eine strukturelle Intervention: Auf dem Rückweg muss die vorne stehende Person ausgewechselt werden, d.h. jede Person muss einmal vorne stehen, die Kiste und das Brett richtig platzieren und die Brücke für die anderen bauen. Die Gruppe kommt allmählich in Fahrt und entwickelt einen Teamgeist. Die Begeisterung hält an, alle wollen es noch einmal spielen. Auf diese Art und Weise werden insbesondere die Mädchen ermutigt und strukturell in die Lage gebracht, Fähigkeiten zu beweisen, die ihnen sonst häufig nicht zugetraut oder zugestanden werden bzw. die sie sich selber nicht zutrauen oder wo sie sich aufgrund der Gruppenkonstellation vornehm zurückhalten. Die strukturelle Begrenzung ihrer vergeschlechtlichten Rolle, die durch die Handlungen der Jungen und ihre eigenen Verhaltensweisen zuerst einmal erneuert wird, wird infrage gestellt und ihr Handlungsspielraum erweitert. Auch zwischen den Jungen können die Rollen gewechselt werden, der aktivste muss/kann sich in beratender und unterstützender Rolle zurechtfinden, der andere kann auch mal Erster sein. Außerdem müssen sie sich auf die gesamte Gruppe beziehen und sind vom Druck des »Machenmüssens« entlastet. Im Prinzip setzen sich so alle mit allen auseinander. Durch die gemeinsame Erfahrung wird auch ein Bezugspunkt in der gesamten Gruppe geschaffen, der mit einer positiven Erinnerung belegt ist: wir haben etwas zusammen geschafft (und alle sind Teil davon). Anschließend stellte sich in der Reflexion heraus, dass eine Person aus dem Team anders interveniert hätte: Er hätte die Jungen, die von den Bohlen heruntergefallen sind, zurück »ans Ufer« geschickt und da-
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mit nicht weiter mitmachen lassen. Hintergrund hiervon war, die Selbsteinschätzung der Jungen – »wir können das« – infrage zu stellen und für sie Konsequenzen von Handeln bzw. Regelverletzungen spürbar zu machen. Interessant ist hierbei die Frage, welche Bewertungskriterien die Teamer_innen für ihre Entscheidungen anlegen. Wir haben häufig die Beobachtung gemacht, dass es sich lohnt, den teaminternen Vergleich in Bezug auf gender-stereotypes Handeln immer mal wieder zu machen (z.B. anhand der Frage, ob Jungen mehr Regeln brauchen und warum dies angenommen wird); allerdings wird dies kaum praktiziert bzw. aus unserer Erfahrung von der Seite der männlichen Kollegen selten initiiert. Implizite Botschaften sind im Seminar oft sehr wirkmächtig und die Jugendlichen häufig sehr sensibel dafür: Wenn zum Beispiel davon ausgegangen wird, dass Mädchen eher kooperativ lernen, unterstützend sind und gerne gemeinsam etwas machen, wohingegen Jungen parallel darauf geeicht werden (müssen), die Spielregeln einzuhalten, da sie »im Zaum gehalten werden müssen«. Grund dafür können unterschiedliche »geheime Lehrpläne« sein, dass etwa Mädchen angehalten werden, sich über Grenzen hinwegzusetzen und ihr eher devotes Verhalten abzulegen, während Jungen in ihrem raumgreifenden und Grenzen verletzenden Verhalten eher beschränkt werden. Auf der anderen Seite verhalten sich die Jugendlichen natürlich auch nicht immer geschlechterstereotyp und der »geheime Lehrplan« bedarf fortwährend der Differenzierung. Im genannten Beispiel wurde dafür eine für die Gruppe passende Lösung »in der Mitte« gefunden, die Beteiligten konnten über ihre gewohnten Verhaltensweisen hinaus agieren. Für die Entscheidung, welche Art der Auflösung für eine Situation gewählt werden könnte, kommt es natürlich sehr auf die Zusammensetzung der Gruppe an. In diesem Fall z.B. stellte sich vorweg die Frage, ob die Mädchen der Herausforderung gewachsen sind. Hieran anschließend ist zu überlegen, ob strukturelle Rahmenbedingungen für vielfältige und gleichberechtigte Handlungsspielräume – mit dem Wissen um die Ungleichheiten in der spezifischen Situation – gesetzt werden können oder ob normatives geschlechtsbezogenes Handeln (zunächst) unhinterfragt akzeptiert wird. Wird nach einer reproduzierenden Situation verbal ausgewertet und gelingt es damit, aus dem Scheitern zu lernen? Oder wird eine neue Situation – zum Beispiel durch veränderte Spielregeln – geschaffen? Erfolgt eine mündliche Auswertung, birgt dies manchmal die Gefahr des moralischen Zeigefingers in sich, wodurch die Jugendlichen in einer ohnmächtigen Situation belassen werden (Mädchen werden als nicht Handelnde markiert, Jungen als die sich dominant in den Vordergrund Spielenden).
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Abschließend lässt sich sagen, dass die Anwesenheit der unterschiedlichen Geschlechter in der heterogenen Gruppe in der Praxis erst einmal stärkere Stereotypisierungen zur Folge haben kann, aber auch verschiedene Möglichkeiten der Intervention und die Chance zu einer neuen Erfahrung bietet, die allen als Bezugspunkt dienen kann. Dies erfordert aber mitunter ein aktives Eingreifen der Teamenden und ein Herstellen angemessener Rahmenbedingungen. Es wurden in dem Praxisbeispiel anfangs Geschlechterstereotype reproduziert und in einem zweiten Schritt ein Stück weit transformiert. Welche Erkenntnisse lassen sich in Bezug auf Differenz und Gleichheit aus diesem Beispiel gewinnen? Die Differenz in der vergeschlechtlichten Handlungsweise in der Gruppe wird analysiert und eine Intervention unternommen, um strukturelle Gleichheit zu ermöglichen. Doch verleitet das koedukative Setting auch dazu, die Differenzen innerhalb der homogenen Gruppe zu negieren11 – vielleicht wollen gar nicht alle mal aktiv sein? Die Möglichkeit des Neinsagens und Ablehnens einer pädagogischen Intervention als Möglichkeit in den Raum zu stellen, kann hier wichtig werden. 4.2 Mit der Dramatisierung von Geschlecht arbeiten In dem Wissen um den geschlechtsbezogenen Ansatz, wie er in Frille praktiziert wird, ist der pädagogische Raum oftmals bereits vorstrukturiert. Alle wissen durch die Vorabinformationen in der Schule, dass Geschlecht irgendwie eine Rolle spielen wird. Die Dramatisierung von Geschlecht in Bezug auf Seminare beginnt oft schon lange vor der Ankunft der Seminarteilnehmenden in Frille. So schickte einmal eine Schule ausgewählte als besonders nervig charakterisierte Jungen (mit der Zuschreibung »Macker«) bzw. als besonders still charakterisierte Mädchen (»Mäuschen«) für eineinhalb Tage nach Frille. Sie sollten dort etwas über ihre geschlechtlichen Verhaltensweisen lernen. Für uns war es komisch, es von vornherein mit einer Gruppe zu tun zu haben, in der der eine Teil wissend als »laute Macker« abgestempelt war, der andere als »graue Mäuschen«. In der Regel teilen wir ja die Gruppen in Mädchen und Jungen ein, hier war uns die Institution Schule zuvorgekommen und hatte außerdem neben dem Geschlecht durch die Titulierung als »Macker und Mäuschen« auch gleich noch zwei geschlechtsbezogene Bilder mitgeliefert, wie die Kinder sind, aber nicht sein sollen. Die Lehr-
11 Eine Möglichkeit wäre ja auch die Gruppe in eine »leise« und eine »laute« Gruppe zu teilen.
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pläne für das jeweilige Geschlecht folgten dann auch klassischen zweigeschlechtlichen Anordnungen, die Jungen sollten »befriedet« werden, die Mädchen in ihrem Selbstbewusstsein unterstützt. Trotz dieser durch solche Markierungen ungünstigen und unserem eigentlichen Konzept des prozessorientierten »Schauens, was da ist« widersprechenden Anfangsbedingungen haben wir uns darauf eingelassen, mit diesen Siebtklässler_innen eine Art »koedukatives Gendertraining« durchzuführen. Es war insgesamt ein gutes Seminar, das sei hier vorweggenommen, mit einer kleinen Gruppe von zehn Teilnehmenden, zwei verschiedengeschlechtlichen Teamenden und einem abwechslungsreichen Programm mit Klein- und Großgruppen-Einheiten. Folgende Übung ist für die Auseinandersetzung mit einem reflexiv koedukativen Setting interessant: In geschlechtshomogenen Gruppen wurden auf einer Flipchart Statements gesammelt zu den Fragen: »Was mag ich an Jungen«, »Was mag ich an Jungen nicht«, »Was mag ich an Mädchen«, »Was mag ich an Mädchen nicht«. Hier wird also der Blick in dramatisierender Weise auf zwei zentrale Geschlechterkategorien gelenkt. Diese Übung dient einerseits dazu, die Fantasien über die Gedanken der jeweils anderen Geschlechtsgruppe über die eigene zu entmystifizieren, indem sie besprechbar gemacht werden. Zum anderen ergibt sich oft ein differenziertes Bild über die eigene und die andere Geschlechtsgruppe, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmungen zusammengeworfen werden und vor allem auch die darin enthaltenen Wünsche und Erwartungen an sich selbst und die anderen thematisiert werden können.12 Zurück in der Großgruppe wurden die beiden Gruppenergebnisse vorgestellt. Zuerst einmal waren die Jungen erstaunt über die positiven und differenzierten Jungenbilder bei den Mädchen, während die Mädchen von den Sexualisierungen und den eher auf körperliche Attribute beschränkten Beschreibungen bei den Jungen betroffen waren. Es gab 12 Diese Übung ist exemplarisch für andere Übungen, in denen zwei Geschlechter selbstverständlich gesetzt bzw. in ihrer Gegensätzlichkeit wiederum hervorgebracht werden. Deshalb ist sie unter heteronormativitätskritischen Gesichtspunkten als fragwürdig zu betrachten, denn zuerst muss mit den beiden gesetzten Geschlechterkategorien unhinterfragt operiert werden, sie werden quasi aufs Neue hervorgebracht und gesetzt, um potenziell daran geknüpfte Emotionen besprechen zu können. Im nächsten Schritt ist es dann schwierig, die eben auf der Wahrnehmungsebene produzierten Attribuierungen als gesellschaftlich konstruierte sichtbar zu machen und Geschlecht in seiner dichotomen Ausprägung wiederum zu entdramatisieren. Dies gelingt möglicherweise nur über das Querlesen der getätigten Äußerungen, dies war aber nicht Ziel der dargestellten Übung.
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im Folgenden viel Raum, die jeweiligen Betroffenheiten mit Unterstützung der Teamenden zu benennen, bei den Mädchen waren das vor allem Bestürzung, Verletzung und Kontaktabbruchswünsche, später Traurigkeit und Wut. Bei den Jungen gab es Betroffenheit über das Missverhältnis, wie jeweils über das andere Geschlecht gesprochen und gedacht wird, Scham und Selbstkritik (»Wieso sind die so nett zu uns, wir sind doch voll scheiße ...!?«). Für uns Teamende war es angesichts der Ergebnisse heikel, die Mädchen dieser Situation auszusetzen und wir haben uns darum bemüht, dass sie genug Raum für ihre Emotionen und das Bewältigen des Reduziert- und Sexualisiertwerdens bekamen. Gleichzeitig haben wir den Raum für die unterschiedlichen emotionalen Prozesse bei den Jungen offengehalten. Beides geschah vor allem durch intensive Moderation, das wiederholte Thematisieren von durch die Mädchen benannten Gefühlen, das Vermitteln dieser Gefühle an einzelne Jungen durch beständige Nachfragen wie »Kannst du verstehen, wieso Sarah jetzt enttäuscht ist?«, »Wie würdest du dich fühlen, wenn du als Mädchen so etwas gesagt bekämst?«. Es war schnell klar, dass es für einzelne Jungen nicht um rasche Entschuldigungen ging, vielmehr wurde vor allem durch die Begleitung des männlichen Teamers eine Konfrontation mit individuellen und gesellschaftlichen Weiblichkeitklischees gesucht. Es wurde die Möglichkeit zum Nachspüren der eigenen – auch widersprüchlichen – Emotionen gegeben, reale Erfahrungen, die sich jenseits der sexistischen Mädchenbilder bewegten, konnten das anfängliche Bild ergänzen. Für die Mädchen ging es nach Benennen und Bewältigen ihrer Gefühle vor allem um das Revidieren ihres Jungenbildes im Sinne einer realistischeren Einschätzung, die auch das eben Erlebte, Verletzende einbezog und nach der Ursache für die im Abgleich auffallend positiven eigenen Einschätzungen forschte. Auch hier konnte die Orientierung an einem Klischee, gepaart mit der Gewohnheit, das Kritikwürdige, Problematische nicht auszusprechen, reflektiert werden. Im Grunde genommen sind beide Gruppen zuerst einmal den gesellschaftlichen Erwartungen an ihr jeweils zugeschriebenes Geschlecht gefolgt: Einige Jungen taten sich auf Kosten von Mädchen mit grenzverletzendem Verhalten hervor, die meisten Mädchen harmonisierten ihrerseits und blendeten alles Kritikwürdige, dessen Benennung einem gängigen Weiblichkeitsideal (»lieb und nett«) widersprochen hätte, aus. Aus dem weiteren Verlauf des Seminars schließen wir, dass sich diese Konfrontation mit den Bildern der jeweils anderen, aber auch mit dem Zustandekommen der eigenen Fantasien über sie, auf das Verhältnis zueinander zuträglich ausgewirkt hat. Es war wichtig, mit beiden Gruppen in Anwesenheit der jeweils anderen zu arbeiten, ohne sie zu
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diffamieren, sondern eher mit ihnen nach den Ursprüngen für die Bilder in ihrem Kopf zu suchen.
5 . F a z it : K e i n ne e Angst vor de err r e eff le x iv e n K o e d u k a t io n ! Anhand der beiden Beispiele wurden zwei reflexiv koedukative Settings beschrieben, die auf unterschiedliche Weise den Umgang mit Geschlechterheterogenität auf der gesellschaftlichen Folie von Zweigeschlechtlichkeit aufzeigen. Beide Settings eröffnen auf ihre Weise Möglichkeitsräume für Neues: erstens auf der Ebene von veränderten Regeln, die allen eine gleichberechtigte Aktionspartizipation ermöglicht, zweitens anhand einer intensiven Prozessbegleitung, die zwischen gesellschaftlichen Stereotypen und Persönlichkeiten vermittelt, ohne einen Defizitblick – der lediglich persönliche Unzulänglichkeiten offenbart und damit Beschämungssituationen produziert – anzuwenden. Eine Gefahr der herkömmlichen koedukativen Arbeit besteht darin, Mädchen als sozialen Puffer in der gemischten Gruppe zu benutzen bzw. das raumgreifende oder verletzende Verhalten einiger Jungen nur zu begrenzen, ohne diese Begrenzung durch Prozesse des Verstehens oder alternative Handlungswege produktiv werden zu lassen. Diese Gefahr kann sich auch in einem reflexiven Setting wiederholen. Deshalb ist einerseits zu fragen, wie ein defizitärer oder reduzierender Blick auf Jungen oder Mädchen die Arbeit mit strukturiert, und andererseits, welche Möglichkeiten den Kindern und Jugendlichen durch reflexive Koedukation eröffnet werden können. Wenn ein einschränkender Blick vorliegt oder die letzte Frage nicht eindeutig produktiv zu beantworten ist, dann ist Koedukation möglicherweise nicht das richtige Konzept. Hilfreich zur Bewertung von Situationen kann die Frage sein: »Hätte ich genauso gehandelt, wenn die andere(n) Person(en) ein anderes Geschlecht gehabt hätte(n)?« Andere Kategorien als Geschlecht können mitunter viel wichtiger sein und den Prozess der Gruppe bedeutend mehr beeinflussen. Diesem muss Rechnung getragen werden, auch wenn es sich vordergründig um geschlechtsbezogene Pädagogik handelt. Vor dem Hintergrund von Intersektionalität bzw. Diversität muss Koedukation vielleicht noch einmal ganz anders diskutiert werden, da ja oft die als »die Einen« (Jungen, Weiße, Taube etc.) Markierten mit den als »die Anderen« (Mädchen, Nicht-Weiße, Hörende) Markierten gemeinsam lernen und sich diese multiplen Zugehörigkeitsattribute durchkreuzen und dynamisieren. Re-
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flexive Koedukation nur auf Geschlecht zu beziehen, ist vielleicht heute ein zu kleiner Fokus, der im Zuge der Debatten um Vielfältigkeit und Diversität um andere reflexionswürdige Kategorien erweitert werden kann. Das Konzept der Intersektionalität kann hierbei helfen, den Blick auf die relevanten Differenzen in der Gruppe zu lenken. Reflexive Koedukation trägt zur Transformation der Geschlechterverhältnisse bei, • wenn gemischte Teams gleichberechtigt miteinander arbeiten (Arbeitsteilung, Zuständigkeit für bestimmte Themen etc.): Der egalitäre Umgang miteinander kann inspirierend wirken, d.h. durch einen Umgang, der keine traditionellen Hierarchisierungen kennt, können Jugendliche sich mit »anderen« Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit und anderen geschlechtlichen Seinsweisen auseinandersetzen; • wenn nicht nur das eigene Geschlecht und die eigene erlebte Sozialisation eingebracht werden, sondern auch Erkenntnisse über andere (geschlechtliche) Sozialisationen aus der Forschung und durch Austausch mit Freunden und Kolleg_innen in die Arbeit einbezogen werden; • wenn strukturell gefördert wird, nicht geschlechterstereotype Erfahrungen zu machen, d.h. das Ausüben von Kompetenzen, die der eigenen Geschlechtsgruppe sonst nicht zugeschrieben werden, und diese mit Anerkennung versehen werden; • wenn geschlechtsbezogene Blamagen verhindert werden; • wenn die vorhandenen Differenzen und Vielfältigkeiten möglichst konkret bearbeitet werden, anstatt sie zu kategorisieren und zu stereotypisieren (z.B. durch Naturalisierungen oder Kulturalisierungen), indem bspw. biografische Übungen durchgeführt werden, in denen die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und -geschichten einen Raum finden. Homogene Räume können nach wie vor sehr angemessen und produktiv sein, allerdings kann die fehlende Konfrontation mit Ungleichheit auch die Befähigung zum Handeln dagegen verhindern. Individuelle Unterschiedlichkeiten und partielle Unübersichtlichkeit sind ständige Begleiterinnen in pädagogischen Gruppenprozessen, in diesem Sinne gilt es, die Komplexität zu entdramatisieren und in jedem Setting mit Heterogenität umgehen zu lernen. Reflexive Koedukation, Mädchen_arbeit und Jungen_arbeit ergänzen sich als unterschiedliche Wege hin zu dem Ziel der Geschlechtergerechtigkeit – es hängt von der eigenen Lust, der ge-
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schulten Analyse und den Rahmenbedingungen ab, welcher Weg der produktivste ist.
L i t er a t u r Cremers, Michael (2006): Neue Wege für Jungs?! Ein geschlechtsbezogener Blick auf die Situation von Jungen im Übergang Schule–Beruf, Bielefeld: Kompetenzzentrum Technik–Diversity–Chancengleichheit e.V. Faulstich-Wieland, Hannelore (1997): Mädchen und Koedukation. Manuskript des Vortrages vom 17. Februar 1997 an der Fern-Universität – Gesamthochschule in Hagen, unter: www.vings.de/kurse/ wissensnetz/frauen/pdf/faulstich.pdf [Abruf: 17.04.2010]. Faulstich-Wieland, Hannelore/Horstkemper, Marianne (1996): Ein Problem, das den argumentativen Konflikt lohnt. In: Erwägen– Wissen–Ethik 7/4, 578–584. Glücks, Elisabeth/Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (2001): Was Frauen Jungen erlauben können. Was Männer Mädchen anzubieten haben. Chancen und Grenzen der pädagogischen Arbeit mit dem anderen Geschlecht. In: Rauw, Regina/Jantz, Olaf et al. (Hg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik, Opladen: Leske & Budrich, 68–87. Heimvolksschule »Alte Molkerei Frille« (1989): Parteiliche Mädchenarbeit & antisexistische Jungenarbeit. Abschlussbericht des Modellprojekts »Was Hänschen nicht lernt, ... verändert Clara nimmermehr!«, Petershagen-Frille: Selbstverlag. Nissen, Ursula (1998): Kindheit, Geschlecht und Raum, Weinheim/München: Juventa Verlag. Prengel, Annedore (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Opladen: Leske & Budrich. Reh, Sabine (2005): Warum fällt es Lehrerinnen und Lehrern so schwer, mit Heterogenität umzugehen? Historische und empirische Deutungen. In: Die Deutsche Schule 97/1, 76–86. Wallner, Claudia (2008): Von der Mädchenarbeit zum Gender? Aktuelle Aufgaben und Ziele von Mädchenarbeit in Zeiten von GenderMainstreaming, Berlin: Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg.
»Das ist wirk lich e in ha rte r Kampf!« Interview mit Sabine Pacalon zu gendersensibler Bild ungsarbe ungsarbeit it mit Tauben Jugendlichen LAURA MAIKOWSKI
»In pädagogischen, karitativen und medizinischen Einrichtungen regiert der Paternalismus und das audistische Establishment.« (Harlan Lane 1994: 67)
1 . D a s P r o j e k t »J e d er M e n s c h i s t e in z ig a r t ig « »Jeder Mensch ist einzigartig« ist seit 2008 ein Modellprojekt der HVHS »Alte Molkerei Frille«. Im Mittelpunkt des Projektes steht die Erfahrung der Unterschiedlichkeit und der Gleichwertigkeit im Sinne des Projekttitels. Aufgrund der langjährigen Zusammenarbeit mit Förderschulen gründete sich eine Gruppe der Mädchen_- und Jungen_arbeiter_innen, die das Thema außerschulische gendersensible Bildungsarbeit für andersbefähigte1 Kinder und Jugendliche konzeptionell bearbeiten wollte. 1
Der Begriff »Andersbefähigte« will zum Ausdruck bringen, dass Menschen mit Behinderung von der gesellschaftlich gesetzten Norm der Fähigkeiten – wie Kommunikation beispielsweise – abweichen und somit als defizitär markiert werden, statt die Behinderung durch die Gesellschaft zu thematisieren. Taube Menschen sehen sich als sprachlich-kulturelle Minderheit und nicht als Menschen mit Behinderung (vgl. Lane 1994: 40). Begriffe wie Menschen mit Behinderung oder Andersbefähigte wollen häufig eine
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In der ersten Phase entwickelten wir Konzepte für verschiedene Gruppen mit besonderem Förderbedarf. Hospitationen2 in Förderschulklassen verdeutlichten, dass es vielen Jugendlichen schwerfällt, ihre Interessen deutlich zu machen, sich durchzusetzen, sich abzugrenzen, ihre Gefühle mitzuteilen, Wünsche zu äußern, Konflikte auszutragen sowie zu den Bedürfnissen und Meinungen anderer Position zu beziehen. Themen unserer Konzeption waren demnach Kommunikation und Konfliktlösung, Umgang mit Ausgrenzungserfahrungen, Gemeinschaft und Selbstbehauptung. Als sich herausstellte, dass außerschulische Bildungsangebote für Taube3 Kinder und Jugendliche besonders jenseits von Großstädten kaum existieren und es an sozialen Orten des Austausches fehlt, fokussierten wir unsere weitere Konzeptentwicklung auf diese Gruppe. In der Arbeitsgruppe waren wir zunächst sehr unerfahren, am Anfang der Auseinandersetzung, sowohl was das Thema gender and disability angeht als auch in Bezug auf die hörende und Taube Welt. Nach dem ersten Semi-
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Gruppe von Menschen beschreiben, die sehr heterogen ist und für sich selbst verschiedene Bezeichnungen verwendet. Im Projekt hatten wir überwiegend mit Kindern und Jugendlichen aus Förderschulen mit dem Schwerpunkt »Hören und Kommunikation« zu tun, die aus unterschiedlichen Gründen einen besonderen Förderbedarf zugesprochen bekommen haben, weil es bei ihnen durch das Aufwachsen in einem anderssprachigen Umfeld – sei es, dass sie als schwerhörige Person Lautsprache erlernen mussten oder in einer nicht-deutschsprachigen Familie aufwuchsen – zu einer Sprachentwicklungsverzögerung kam. Im Vorfeld des Projektes wurden verschiedene Schulen besucht und die dort praktizierten Unterrichts- und Kommunikationsformen beobachtet. Taub – statt »taub« markiert eine kulturelle Identität statt einer biologischen Eigenschaft. Seit den 50er-Jahren wird in Deutschland der Begriff »gehörlos« statt »taub« verwendet. In jüngster Zeit gibt es eine Bewegung in der Taubengemeinschaft, die den Begriff »Taub« bevorzugt. Taubstumm wird dagegen als abwertender Begriff gesehen, der suggeriert, dass gehörlose Menschen stumm (und dumm) seien. Zur Zeit gibt es eine Diskussion innerhalb der Gemeinschaften, ob Taube und Schwerhörige sich unter dem Oberbegriff Taub zusammenfassen wollen, um sich gegenseitig zu stärken, denn die Communities sind stark voneinander getrennt. Manche Schwerhörige möchten sich jedoch nicht als Taub bezeichnet sehen und manche Gehörlose ebenfalls nicht. Aus dem Team bezeichnet sich beispielsweise eine Person als biologisch schwerhörig, aber identitär als Taub. Ich habe in diesem Artikel die Begrifflichkeit der Interviewten, Sabine Pacalon, übernommen, um eine gewisse Einheitlichkeit zu gewährleisten und der Diskussion im Team Rechnung zu tragen.
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nar verschob sich die inhaltliche Ausrichtung zugunsten folgender thematischer Schwerpunkte: deaf empowerment4, Sensibilisierung für Audismus5, Kooperation und Kommunikation sowie berufliche Vorbilder und Zukunftsmöglichkeiten. Es wurde deutlich, dass das Thema Diskriminierung seitens der hörenden Welt bei den Jugendlichen (und auch im Team) im Vordergrund stand. Aus diesem Grund und weil die Klassen sehr klein waren, wurden die Seminare reflexiv koedukativ (zur Reflexion dieses Ansatzes siehe auch folgenden Artikel: »Reflexive Koedukation revisited«) durchgeführt und der Fokus auf die Weiterentwicklung eines intersektionalen Ansatzes gerichtet, der prozesshaft auf die jeweiligen Ermächtigungspotenziale und Diskriminierungen reagieren kann.6 Zielsetzung ist, die Seminare in Zukunft in einem heterogenen Team bezüglich der Kategorien Gender und Taub/hörend (mit Deutscher Gebärdensprachkompetenz7) anzuleiten. Da die notwendigen Qualifizierungen noch nicht existierten, wurde im ersten Seminar mit einer Dolmetscher_in und einer Relais-Dolmetscher_in8 gearbeitet. Dabei verbes4 5
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Deaf empowerment meint die Ermächtigung Tauber Menschen innerhalb der dominanten hörenden Gesellschaft (Jankowski 1997). Audismus bezeichnet Diskriminierung gegen oder Stigmatisierung von Tauben und schwerhörigen Menschen. Diese Haltung beinhaltet die Höherstellung der hörenden Kultur im Gegensatz zur Gebärdensprachgemeinschaft sowie ein defizitäres Bild von Tauben und schwerhörigen Menschen. Eine audistische Einstellung ist nicht vom eigenen Hörstatus abhängig (Lane 1994: 67f.). Der Begriff wurde 1975 erstmals von Tom Humphries (USA) in seiner nicht veröffentlichten Doktorarbeit »Audism: The Creation of a Word« eingeführt. Siehe auch »Reflexive Koedukation revisited« in diesem Buch. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist seit 2002 als eigenständige Sprache anerkannt (§6 BGG). Gebärdensprachen sind vollständige, gewachsene, visuell-gestische Sprachsysteme, die in den unterschiedlichen Ländern entstanden sind, somit gibt es Amerikanische Gebärdensprache (ASL), Französische Gebärdensprache (LSF) etc. sowie viele Dialekte (Sacks 1992: 39f.). »Die differenzierte Grammatik unterscheidet sich grundsätzlich von der deutschen Lautsprache. Die DGS ist ein komplexes System, das meist zeitgleich die Inhalte auf verschiedenen Ebenen vermittelt. So werden nicht nur mit den Händen Gebärden ausgeführt, sondern auch Mimik, Körperhaltung und Mundbilder eingesetzt, um konkrete Inhalte auszudrücken.« (Kampagne »Wir können alles, nur nicht hören.« 2009) Normalerweise funktioniert Relais-Dolmetschen über eine Zwischensprache, d.h. aus einer kleineren, wenig verbreiteten Sprache (bspw. Maltesisch) wird in eine weiter verbreitete Arbeitssprache (bspw. Englisch oder
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serte die Relais-Dolmetscher_in die Übersetzung der hörenden Dolmetscher_in, indem sie insbesondere kulturelle Besonderheiten der Taubenkultur berücksichtigte und damit den Jugendlichen verständlicher machte. Beispielsweise übersetzte die Dolmetscher_in unsere Frage: »Wollt ihr mit der anderen Gruppe im Tagungshaus eine Abschiedsparty machen?« Dies führte zu wiederholtem irritiertem Nachfragen: »Mit wem?«, bis die Relais-Dolmetscherin gebärdetete »mit den Hörenden«. Die eine Dolmetscher_in ging also davon aus, dass es klar wäre, wer mit »die anderen« gemeint ist, während die andere wusste, dass das nicht klar ist. Hier wird die andere Wahrnehmung und Markierung aus Perspektive der Taubenkultur deutlich. Darüber hinaus leiteten die hörenden Teamer_innen kleine Übungen in DGS (Deutsche Gebärdensprache) an. Im zweiten Seminar bestand das Team aus zwei Tauben Teamer_innen und zwei Hörenden (mit sehr geringen DGS-Kenntnissen) sowie ebenfalls einer Dolmetscher_in. In den Probeseminaren unseres Modellprojektes hat sich gezeigt, dass in Bezug auf die Persönlichkeitsbildung von andersbefähigten Jugendlichen hoher Handlungsbedarf besteht. In dafür geschaffenen Räumen besteht die Chance auf einen Austausch unter Gleichen sowie zwischen Tauben und hörenden Erwachsenen. Aus der anfänglichen Motivation, die außerschulische geschlechtergerechte Bildungsarbeit von ihrer Exklusivität für Hörende zu befreien – bzw. für Andersbefähigte zugänglich zu machen –, sind die Fragen entstanden: Was ist Taube Mädchenarbeit? Ist »unser« Feminismusverständnis nicht nur weiß-bürgerlich geprägt (gewesen), sondern auch hörend geprägt? Wir stehen mit der konzeptionellen Entwicklung außerschulischer politischer Bildung für Taube Kinder und Jugendliche also noch ganz am Anfang. Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, ob ein reflexiv-koedukativer Ansatz mit starker intersektionaler Perspektive und einem Schwerpunkt auf Audismus und deaf empowerment richtungsweisend ist oder die Arbeit in geschlechtshomogenen Gruppen auch eine ausbaufähige Variante sein könnte. Allerdings ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass die Klassen aus Förderschulen meist sehr viel kleiner sind und es somit vorkommen kann, dass beispielsweise nur zwei Jungen in einer Klasse sind.
Französisch) gedolmetscht, und zwar nicht nur für die Zuhörer_innen, sondern auch als Ausgangstext für die weiteren Übersetzungen in andere Sprachen.
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2 . Z u r S it u a t i o n T a u b er K i n d e r u n d Ju g e nd l ic h er Taube Kinder und Jugendliche besuchen häufig spezielle Schulen, zum Beispiel mit dem Förderschwerpunkt »Hören und Kommunikation«. Förderschulen haben häufig einen großen Einzugsbereich, d.h. aus dem gesamten Landkreis kommen Taube Kinder an der jeweiligen Schule zusammen. Somit gehen Taube Kinder und Jugendliche oftmals nicht ortsnah zu ihrem alltäglichen sozialen Kontext zur Schule. Dadurch entsteht eine Situation der Isolation. Es gibt kaum Raum, sich nach der Schule zu treffen, Freundschaften zu pflegen etc. Eine weitere Schwierigkeit ist die sehr heterogene Zusammensetzung in den Klassen – bezüglich der Gebärdensprachkompetenz, Hörfähigkeit, Lautsprachenkompetenz sowie der gewählten Kommunikationsformen: DGS, (LBG9)oder Lautsprache).10 Dadurch muss viel Arbeit in die Schaffung einer gemeinsamen Kommunikationsgrundlage investiert werden. Andererseits ermöglichen diese Schulen den Kontakt zu anderen Tauben11 – im Gegensatz zum integrativen bzw. inklusivem Konzept12, in dem häufig ein bis zwei Taube Jugendliche in eine Regelschulklasse kommen und damit zwangsläufig eine Minderheitenposition13 einnehmen. Auch durch die späte Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als eigenständige Sprache14 im Jahr 2002 gibt es großen Nachholbedarf 9
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Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) und Lautsprachunterstützende Gebärden (LUG) sind keine eigenständige Sprache, sondern werden zur Unterstützung der Lautsprache verwendet, d.h. sie folgen der lautsprachlichen Grammatik, zeigen einzelne Wörter in Gebärden und bilden somit keine vollständigen Sätze. Sie sind ein Hilfsmittel in der Kommunikation zwischen hörender und Tauber Welt. Das ist eine Entwicklung der letzten fünf Jahre, die auch durch die technischen Verbesserungen der Hörhilfen geprägt ist; früher gab es eher strikt getrennte Schulen und Internate für einerseits Taube und andererseits Schwerhörige. Die Frage nach der Herkunft wird von Tauben häufig mit dem Namen der früheren Schule beantwortet, was die starke Bindung an Internate und Schulen als Ort der Zugehörigkeit verdeutlicht (Lane 1994: 36). Diskussion zu Inklusion und Integration siehe »Inklusion – Chancen und Risiken« vom Deutschen Gehörlosenbund (DGB 2009). Der Deutsche Gehörlosenbund bspw. fordert mindestens vier Taube Personen pro Klasse. Es leben ca. 80.000 Gehörlose und ca. 16 Mio. Schwerhörige in Deutschland (DGB 2009). Auf dem Mailänder Kongress 1880 – dem Zweiten internationalen Taubstummen-Lehrer-Kongress – wurden Beschlüsse zugunsten des Oralismus und zur Verbannung der Gebärdensprache und Tauber Pädagog_innen
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bei Bildungsangeboten unter dem Aspekt der Barrierefreiheit15. Auch in den Schulen ist die Quote der Lehrer_innen, deren Muttersprache DGS ist, sehr gering, auch weil durch die Nichtanerkennung der Sprache der notwendige Bildungsweg (z.B. zum Lehramtsstudium) versperrt war. Solche Kommunikationsbarrieren gehören zum Alltag von Tauben und schwerhörigen Kindern und Jugendlichen – sowohl was ihre Ausbildungschancen als auch was ihr soziales Leben und ihre Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Humphries/Padden 1991: 108) angeht. Sprache – besonders das Formulieren von Gedanken und Gefühlen – ist ein wichtiges Mittel in der Persönlichkeitsbildung, doch wenn die Lehrer_innen weder qualitativ hochwertige Gebärdensprache noch LUG bzw. LBG sprechen, gibt es diesbezüglich viele Hürden. Außerdem wird im Unterricht häufig mehr Wert auf die Vermittlung der Lautsprache gelegt als auf die Vermittlung von Wissen. Und in Deutschland gibt es nur wenige Einrichtungen, an denen bilingualer Unterricht, gleichwertig in Lautsprache und in Gebärdensprache, angeboten wird. Hinzu kommt, dass auch die Eltern oder das soziale Nahumfeld selten ausreichend Sprachkompetenz besitzen: Nur fünf bis zehn Prozent der Tauben Kinder haben Taube Eltern16 und erwerben die Gebärdensprache selbstverständlich in der Familie.
3 . I nt n t er e r v i ew e w m it S a b i n e P a c a l o n In der Nachbereitung der Seminare des Modellprojektes »Jeder Mensch ist einzigartig« hatten wir intensive Auswertungssgespräche. Einen Einblick in unsere Reflexion gibt folgendes Interview mit Sabine Pacalon aus dem Team.
aus dem Bildungssystem gefällt. Diese hatten nahezu ein Jahrhundert lang weltweite und weitreichende Auswirkungen. Es begann eine Zeit der Unterdrückung der Gebärdensprache. 15 Barrierefreiheit bedeutet, freie Zugänglichkeit zu Medien, Einrichtungen und Bildung unabhängig von einer eventuell vorhandenen Behinderung bzw. Andersbefähigung. 16 Vgl. (http://wir-sind-nicht-dumm.de), Kampagne »Wir können alles, nur nicht hören« (2009).
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Laura Maikowski: Wie bist du dazu gekommen, in Frille zu arbeiten? Sabine Pacalon: LenA Brückmann17 hat durch Malgorzata Soluch18 von dem neuen Projekt für Taube Jugendliche erfahren und mir davon berichtet. LenA war der Ansicht, es sei wichtig für die Jugendlichen, dass nicht nur hörende Erwachsene in diesem Projekt arbeiten, sondern auch Taube. Eine hörende Dolmetscher_in sei da nicht ausreichend, dagegen könne eine Taube Relais-Dolmetscher_in, die beide Kulturen19 kennt und zur Taubenkultur einen gefühlsmäßigen Bezug hat, im Seminar eine wichtige Mittler_innenrolle einnehmen. Dieses Konzept ist total neu für mich, ich habe das erste Mal von einer solchen Arbeit erfahren. Trotz meiner Unsicherheit, die damit zusammenhing, dass ich bisher keine Erfahrungen in diesem Bereich hatte, habe ich mich entschieden einzusteigen. Laura Maikowski: Woran erinnerst du dich aus deinem ersten Seminar? Sabine Pacalon: Mir fallen als Erstes die Methoden ein, die für mich neu, spannend und sehr interessant waren. Ich hatte mir diese ganz anders vorgestellt. Ich dachte, dass sie dem Unterricht in der Schule ähneln würden und war dann positiv überrascht, dass sie sehr praktisch ausgerichtet waren. Meiner Ansicht nach sind das sowohl für Taube als auch für hörende Jugendliche sehr geeignete Methoden. Ich glaube, dass es für die Tauben Jugendlichen gut und wichtig war, sich mit einer Tauben Erwachsenen aus dem Team, sprich mit mir, kulturell identifizieren zu können. Auch bezüglich Zusammenhalt und Solidarität untereinander war die hier praktizierte Arbeitsweise sehr wichtig. Jugendlichen eine Alternative zum Konkurrenzdenken anzubieten, welches ihnen ja häufig nicht bewusst ist, erachte ich als absolut notwendig. Die Jugendlichen haben mir durch ihre Erzählungen einen Spiegel vorgehalten, in dem ich mich in meiner eigenen Schulzeit sah. Wie die Jugendlichen hier habe auch ich das System und das Verhalten der Lehrer_innen als normal angesehen. Mir wurde klar, dass es wichtig ist, den Jugendlichen einen sensiblen Impuls zu geben – ohne sie unter Druck zu setzen –, dass sie ihr Schulsystem und die Lehrer_innen nicht einfach hinnehmen und akzeptieren müssen, dass sie sich ihrer Situation und ihrer eignen Bedürfnisse bewusster werden und sich emanzipieren können. Das ist für mich ein wichtiger Bestandteil des Konzepts.
17 Sie war als Dolmetscherin für das Projekt engagiert. 18 Mädchen_arbeiter_in in Frille. 19 Taubenkultur und Kultur der Hörenden.
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Laura Maikowski: Was ist aus deiner heutigen Perspektive deine Kritik an diesem Schulsystem? Sabine Pacalon: Ich könnte unendlich viele Beispiele nennen. Wenn jemand etwas falsch geschrieben hat, wurde sein Blatt von dem_der_ Lehrer_in zerrissen und in den Müll geworfen. Damals habe ich mich nicht gewehrt, heute sehe ich das anders: Ich finde es unmöglich. Oder ein anderes Beispiel: Wenn wir uns nicht angemessen verhalten haben, uns zum Beispiel während des Unterrichts unterhalten oder gegenseitig geärgert haben, wurden wir teilweise an den Haaren gezogen oder in den Hintern getreten und mussten uns in die Ecke stellen. Ich habe das Verhalten der Lehrer_innen als normal hingenommen und dachte, dass dies an hörenden Schulen genauso sei. Da ich selbst nie an einer hörenden Schule gewesen bin, hatte ich keinen Einblick. Meine Vorstellung war, dass im Grundschulbereich körperliche Übergriffe, sprich Anfassen seitens der Lehrer_innen, normal wären. Auch in der Oberstufe und bis zur Universität gibt es solche Grenzüberschreitungen. Ich habe selbst eine Gehörlosenschule besucht, in der hauptsächlich frontal unterrichtet wurde. Diskussionen, wo unsere Meinung gefragt gewesen wäre, gab es nicht. Später habe ich eine Ausbildung angefangen, die für Hörende konzipiert war. Dort wurde ich auch nach meiner Meinung gefragt, was mich komplett überfordert hat, weil ich es ja nicht kannte und Angst hatte, meine Meinung vor der Gruppe zu vertreten, auch weil ich nicht einschätzen konnte, ob meine Antwort korrekt sein würde. Ich habe mich dann sehr zurückgenommen, weil ich Angst hatte, auf eine Frage antworten zu müssen. Ich konnte auch bei den Tauben Jugendlichen beobachten, dass sie Diskussionen, wo sie sich mit ihrer Meinung einbringen können, nicht kennen. In der Schule wird dies nicht praktiziert. Klar gibt es Gespräche untereinander, aber das ist etwas anders. In Diskussionen, wo sie gefordert sind, sich selbst zu reflektieren und zum Beispiel über ihre Gefühle oder Bedürfnisse zu sprechen, halten sie sich komplett zurück. Eine Ursache dafür ist das Schulsystem, in dem Meinungsbildung sowie Eintreten für die eigenen Rechte bewusst nicht gefördert wird. Die Schüler_innen sollen daran gewöhnt werden, sich gesellschaftlich anzupassen. Laura Maikowski: In unserem ersten gemeinsamen Seminar in Frille gab es parallel Mädchen_- und Jungen_arbeit mit hörenden Jugendlichen, die in etwa so alt waren wie unsere Teilnehmer_innen. Wie war da der Kontakt? Was hast du zwischen den Klassen beobachtet? Sabine Pacalon: Ich glaube, die Tauben Jugendlichen waren nicht darauf eingestellt, dass hörende Schüler_innen da sind. Als wir ihnen
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gesagt haben, dass noch eine andere Klasse im Haus ist, dachten sie automatisch an Taube Jugendliche. Als sie dann erfuhren, dass diese hörend sind, konnte man die Enttäuschung ihren Gesichtern ablesen. Das liegt daran, dass sie zu Hörenden nur Kontakt im familiären und privaten Bereich haben. In der Schule haben sie meistens Kontakt zu anderen Tauben und Schwerhörigen, nicht zu Hörenden. In den Pausen und in der Freizeit war die hörende Gruppe sehr neugierig auf die Tauben – aufgrund der visuellen Kommunikationsform. Die Tauben Jugendlichen haben sich begafft und als behindert wahrgenommen gefühlt. Die Hörenden fanden die Sprache vielleicht schön und meinten das gar nicht so. Später konnten die Tauben Jugendlichen damit auch besser umgehen und sind von sich aus mit der hörenden Gruppe in Kontakt getreten. Ich habe ein bisschen beobachtet, wie sie das gemacht haben. Interessant war, dass sie sich nicht mit Zettel und Papier – wie es zu meiner Schulzeit üblich war –, sondern mit dem Handy gegenseitig schriftlich etwas mitgeteilt haben. Durch die technischen Erneuerungen sieht Kommunikation heute ganz anders aus. Das finde ich echt gut. Manchmal war den Tauben Jugendlichen das auch ein bisschen zu viel, weil sie sehr oft von den Hörenden angesprochen wurden, und nicht genau wussten, wie sie ihre Grenzen aufzeigen können. Im Seminar haben sie uns davon erzählt und das Team hat sie ermutigt, ihre Grenzen deutlich zu ziehen. Sie haben ihnen vorgeschlagen, dass sie beispielsweise einen Zettel mit dem Verweis »Bitte nicht stören« an die Tür hängen können. Das haben sie dann auch gemacht und das hat gut funktioniert. Laura Maikowski: Wie hat sich die Konzeption des Projekts im Laufe der Zeit durch die Praxis geändert? Sabine Pacalon: Wenn ich das erste mit dem zweiten Seminar vergleiche, werden deutliche Unterschiede klar. Das Ziel, das wir mit unserem Konzept verfolgen, hat sich verändert. Das Konzept hat sich geöffnet, um den Bedürfnissen von Tauben Jugendlichen gerechter zu werden. Das ist für die Vorbereitung der Seminare selbstverständlich eine ziemliche Herausforderung. In der ersten Schüler_innengruppe waren alle DGS kompetent, auch die zwei Schwerhörigen konnten sich flüssig in Gebärdensprache unterhalten. Das erleichterte für mich natürlich die Kommunikation. Inhaltlich haben wir die Themen aufgegriffen, zu denen in Frille hauptsächlich gearbeitet wird, also Selbstbehauptung, Sexismus, die Gleichstellung von Mädchen und Jungen. Audismus kam nur minimal vor, weil es ja auch unser erstes Seminar war. Das zweite Seminar unterschied sich thematisch gesehen enorm. Uns ist aufgefallen, dass die Jugendlichen noch nie zum Thema Identität
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bezüglich Taubsein gearbeitet haben, und wir konnten da große Unsicherheiten feststellen. Außerdem waren in der Klasse die unterschiedlichsten Kommunikationsformen vorhanden, DGS, LBG und deutsche Lautsprache, was uns als Team sehr herausforderte. Trotzdem haben wir uns entschieden, eine Einheit nur mit gehörlosen Teamer_innen durchzuführen, um auszuprobieren, auch um zu sehen, was passiert, wenn es einen hörendenfreien Raum gibt. Ich glaube, wenn Hörende da sind, passen sich die Jugendlichen automatisch an – zum Beispiel setzen sie ihre Stimme ein, um sich zu profilieren. Wir haben dann im Seminar einen Weg gefunden, wie wir alle miteinander kommunizieren können. Wir haben sehr langsam gebärdet, allerdings ohne Stimme, und ein deutliches Mundbild benutzt. Die gegenseitige Unterstützung in der Klasse war für mich eine total schöne Erfahrung. Für sie war eine rein visuelle Kommunikation natürlich anstrengend, weil das neu war. Neu war auch, dass ein Seminar nur von Tauben Erwachsenen angeleitet wurde, normalerweise ist immer eine hörende Person dabei. Laura Maikowski: Hat sich die Identität der Jugendlichen durch den Raum, den ihr aufgemacht habt, verändert? Sabine Pacalon: Ja, das ist mir deutlich aufgefallen. Am Anfang gab es einige, die sich als eindeutig hörend identifiziert haben und sich nicht eingestehen konnten, dass ihr Hörvermögen eingeschränkt ist. Wir hatten sie auch gefragt, ob sie »Taub« und »hörend« unterschiedlich bewerten. Einige bewerteten »hörend« als sehr positiv und »Taub« als negativ, das war ziemlich extrem. Andere sahen eher Vor- und Nachteile bei beiden und stellten damit die beiden Identitäten als gleichwertig dar. Später haben wir versucht, zu verdeutlichen, dass es bei Identität nicht um Bewertung gehen soll, sondern dass man sich mit ihr wohlfühlt. Im Verlauf der Einheit haben wir auch die Unterschiede zwischen DGS, LBG und deutscher Lautsprache aufgezeigt. Drei Schülerinnen, die stark lautsprachlich orientiert waren, haben sich bei einer Methode auf visuell orientierte Kommunikationsbedürfnisse eingestellt und bei einer anderen einige Wörter mit Gebärden begleitet. Das war am vorherigen Tag noch nicht der Fall. Eine Situation war sehr lustig. Donnerstagabend hat eine eher lautsprachliche Schülerin eine der Teamer_innen angesprochen. Sie wusste, dass diese hörend ist und nicht sehr gut gebärden kann. Trotzdem hat sie konsequent mit ihr gebärdet, sodass die Teamerin nichts verstanden hat. Das hat mir gezeigt, dass sie einfordert, dass auch Hörende sich an Taube Menschen anpassen sollen. Am ersten Tag habe ich solch eine Situation nicht beobachten können. Ich bin dann dazu gekommen und
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habe der Teamerin geholfen, die Schülerin zu verstehen. Solche Situationen zeigen mir, dass sich bei den Jugendlichen etwas verändert. Laura Maikowski: Welche Themen wurden in den Seminaren noch aufgegriffen? Um was ging es beispielsweise in der Selbstbehauptung? Sabine Pacalon: Für die Jugendlichen war das Thema Selbstbehauptung total neu. Wir haben zum Beispiel im ersten Seminar am Anfang etwas zum Kennenlernen spielen wollen, wozu Zettel mit vielen Fragen ausgeteilt wurden. Als die Jugendlichen das Papier mit den endlosen Formulierungen in die Hand bekommen haben, mussten sie erst einmal ganz schön schlucken. Das ist uns gleich aufgefallen. Zuerst haben wir gefragt, ob es Verständnisschwierigkeiten gibt und wir einige Worte erklären sollen, bis eine Teamerin fragte, ob sie auf das Spiel überhaupt Lust haben und sie ermunterte, uns das offen mitzuteilen. Alle waren sichtlich erleichtert und haben sich sofort gegen das Spiel entschieden und schon flogen die ganzen Zettel in den Müll. Das war meiner Meinung nach wirklich gut, denn so haben sie vielleicht einen kleinen Impuls bekommen, dass sie natürlich das Recht haben, zu sagen, wenn sie mit etwas nicht einverstanden sind. Weil die Methode wirklich nicht an ihre Bedürfnisse angepasst war, wurde durch sie letztlich etwas angeregt. Laura Maikowski: Was möchtest du den Jugendlichen im Seminar (mit-)geben? Sabine Pacalon: Auf jeden Fall möchte ich ihnen aufzeigen, dass es eine Taubenkultur gibt. Sie wissen meist nichts davon. Auch Schwerhörige, die lautsprachlich kommunizieren, können Teil dieser Kultur sein, weil die Erfahrung, auf welche Barrieren man warum stößt, die gleichen sind. Aus diesem Grund können wir uns miteinander identifizieren. Das gibt uns auch Zusammenhalt, der wichtig ist. Ich möchte ihnen das Thema Taubenkultur aber nicht vor den Latz knallen, sondern sie sensibel heranführen. Schon Taube Erwachsene im Seminar stellen einen bedeutenden Unterschied dar. Auf Menschen aus der sprachlich-kulturellen Minderheit zu stoßen, ist für sie sehr angenehm. Das hängt mit einem instinktiven Gefühl zusammen: Dieses Bauchgefühl brauche ich gar nicht zu vermitteln, das ist automatisch da. Wenn ich beispielsweise auf der Straße einer fremden Tauben Person begegne, sprechen wir uns meist kurz an und das fühlt sich sehr gut an. Laura Maikowski: Was für Formen habt ihr denn gefunden, mit den Jugendlichen zu Gehörlosenkultur zu arbeiten? Gab es da konkrete Methoden, Spiele oder Gespräche?
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Sabine Pacalon: Bei einem Seminar haben wir die Methode »Der Große Preis«20 gespielt. Eine Frage war, ob es die Olympischen Spiele auch für Taube gibt. In den Gesichtern der Jugendlichen gab es nur große Fragezeichen. Dann haben wir ihnen von den »Deaflympics«21 erzählt. Von Hörenden wird Taubenkultur nicht weitergetragen, weil es nicht ihre Kultur ist. Sie eignen sich aus diesem Grund auch nicht dafür, Taubenkultur zu vermitteln, weil sie dann ja über eine – ihnen – fremde Kultur erzählen würden. Der Taubenkultur wird man sich erst bewusst, wenn man auf andere Taube Menschen trifft. Bei den meisten wird die Kultur nicht durch die Familie weitergeben. Eine Ausnahme bilden hier natürlich die Deaf CODAs – die »Deaf Children of Deaf Adults«. Das bedeutet, dass das Taube Kind auch Taube Eltern hat. Diesen Begriff benutzt man allerdings auch, wenn andere Verwandte Taub sind. Wenn die Eltern Taub sind, wächst das Kind natürlich viel stärker in der Taubengemeinschaft auf, als wenn es Taube Angehörige hat, zu denen es weniger Kontakt hat. Nur »CODA« bedeutet, dass das Kind hörend ist und die Eltern Taub sind. Diese Kinder wachsen bilingual auf, mit Lautund Gebärdensprache. Viele von denen arbeiten später als Dolmetscher_innen. Die Deaf CODAS haben einen starken Einfluss in der Taubenkultur. Andere Taube kommen meist erst in der Gehörlosenschule miteinander in Kontakt. Laura Maikowski: Gibt es da Unterschiede im Selbstbewusstsein und der Identität? Sabine Pacalon: Da gibt es große Unterschiede. Die Deaf CODAs verfügen meist über mehr Wissen, weil ihnen Informationen zugänglicher sind. Im zweiten Seminar gab es eine Deaf CODA, die wusste, was Dolmetschen bedeutet, was die Deaflympics sind. Die anderen Kinder hatten ein großes Wissensdefizit, weil sie in der Familie sprachlich ständig auf Barrieren stoßen. An denen gehen viele Informationen einfach vorbei. Es macht allerdings einen Unterschied, wenn die hörenden Eltern gebärdensprachkompetent sind und ihren Kindern auch einen Zugang zur Taubenkultur verschaffen. Meine Eltern sind hörend und haben mir das Gehörlosenzentrum gezeigt oder mich zu Veranstaltungen, Fasching, etc. mitgenommen. Dort habe ich andere Taube Erwachsene
20 »Der große Preis« ist eine Methode u.a. zum intensiveren Kennenlernen, bei der spielerisch verschiedene Themenfelder angesprochen werden. Unter einer Oberkategorie wie »Familie«, »Liebe« oder »Gerechtigkeit« müssen in Teams Fragen zum jeweiligen Thema beantwortet werden. 21 Die Deaflympics finden seit 1924 statt.
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getroffen, was meine Identität gestärkt hat. Daher konnte ich die hörende und die Taube Welt kennenlernen und mich in beiden bewegen. Laura Maikowski: Gab es Momente der Selbstermächtigung für dich oder für andere in dem Seminar: Teamer_innen, Jugendliche, Kinder? Sabine Pacalon: Ich kann nur eine vage Antwort geben, weil ich die Jugendlichen nach dem Seminar nicht mehr treffe und nicht weiß, was sie mitnehmen oder möglicherweise verändern. Meiner Meinung nach gab es kleine Momente des Empowerments für die Jugendlichen, aber auch im Team. Beispielsweise wurde im Team verstanden, dass Gebärdensprache für die Kommunikation wichtig ist. Für die Jugendlichen war es ein Moment des Empowerments mit starken Tauben Erwachsenen in Kontakt zu treten und von Taubenkultur zu erfahren. Laura Maikowski: Was ist deine Definition von Empowerment? Sabine Pacalon: Meiner Meinung nach geht es bei Empowerment nicht darum, dass eine Person, die talentiert und kompetent genug ist, um politisch für die Taubengemeinschaft zu kämpfen, die Position eines Leaders einnimmt. Die Kräfte würden so ziemlich schnell aufgebraucht sein. Vielmehr sollen die Mitglieder der Taubengemeinschaft durch Informationen und Aufklärung ermächtigt werden, selbst aktiv zu werden. Der Leader tritt in den Hintergrund und es geht vielmehr um Solidarität und Zusammenarbeit innerhalb der Taubengemeinschaft. Laura Maikowski: Hattest du eine Idee dazu, wie du den Jugendlichen den Begriff Audismus vermitteln kannst? Und gab es Momente, in denen ihnen eine Idee davon aufgeblitzt ist, dass sie vielleicht nicht defizitär sind, sondern dass es andere Ursachen dafür gibt, dass ihnen Barrieren in den Weg gelegt werden? Sabine Pacalon: Einer der Tauben Teamer hat aus seinem Leben erzählt, auch davon, welche Diskriminierungen er erlebt hat. In der Taubenkultur ist es sehr charakteristisch, Sachverhalte anhand von Beispielen zu erklären. Meiner Meinung nach muss man zuerst zu Identität arbeiten, damit die Jugendlichen erfahren, wie sie sich identifizieren und ein positives Selbstbild gewinnen können. Erst dann können sie begreifen, was Audismus ist, wo sie gesellschaftlich benachteiligt und diskriminiert werden und wie sie sich dem zur Wehr setzen können. Später kann man Audismus einbringen. Bestehen in der Gruppe keine Identifikationsprobleme, kann man natürlich gleich mit Audismus beginnen. Dabei sollte diese Diskriminierungsform nicht nur begrifflich
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benannt werden, sondern indem man sich über Lebenserfahrungen austauscht und darüber offen diskutiert. Laura Maikowski: Was für Schwierigkeiten und Konflikte gab es im Team? Was hat sich durch unsere gemeinsame Praxis verändert? Sabine Pacalon: Zwischen unserem ersten und zweiten Seminar gibt es große Unterschiede – in Bezug auf die Aspekte »Methoden und Freizeit«. Im ersten Seminar habe ich nur eine kleine Rolle gespielt, da ich als Relais-Dolmetscher_in dabei war. Da das Konzept für mich sehr neu war und ich die Methoden erst kennengelernt habe, konnte ich mich nur begrenzt einbringen. In der Freizeit war die Kommunikation beim ersten Seminar sehr schwierig, da alle nur über sehr wenig DGS-Kenntnisse verfügten. So stellte sich das Kennenlernen als Herausforderung dar. Beim zweiten Seminar hat sich die Arbeit und die Vorbereitung für das Seminar verbessert. Die Vorschläge der gehörlosen Teamer_innen wurden gut angenommen, das Team hat uns vertraut und uns selbständig arbeiten lassen. Das enorm große Vertrauen, das uns entgegengebracht wurde, hat mich stark berührt. In den Pausen, die auch für die Dolmetscherin eingehalten wurden, wurde im Vergleich zum ersten Seminar, wo alle eher zurückhaltend waren, versucht Kommunikationsformen zu finden. Da haben die Teamer_innen einen Schritt in Richtung Selbstbehauptung gemacht (lacht). Dadurch, dass wir uns schon ein wenig kannten und uns ein bisschen aufeinander eingespielt hatten, war die Kommunikation in den Pausen viel flüssiger. Dem Team ist aber auch deutlich geworden, dass es für dieses Projekt wichtig ist, selbst gebärdensprachkompetent zu sein und weitere Taube Personen einzustellen. Das ist für mich eine sehr positive Entwicklung. Laura Maikowski: Wie stellst du dir die Zusammenarbeit zwischen gehörlosen und hörenden Teamer_innen in Zukunft vor? Was wünscht du dir für ein Konzept? Sabine Pacalon: Ich wünsche mir, dass das Team gebärdensprachkompetent ist. Das allein reicht aber nicht. Es ist außerdem wichtig, dass sich alle mit Taubenkultur auseinandersetzen. Das ist enorm relevant, da eine Sprache ohne Kultur nicht existiert, sondern beides eng miteinander verbunden ist. Wenn nur ein Taubes Team die Seminare geben würde, wäre das auch gut, aber es ist auch wichtig, den Tauben Jugendlichen zu zeigen, dass es auch Hörende gibt, die gebärdensprachkompetent sind, weil sie diese Erfahrung meist noch nicht gemacht haben – in Schule oder Familie wird meistens gesprochen oder LBG gebärdet. Dies ist insofern wich-
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tig, als dem negativen Bild, dass Hörende kein Interesse an DGS haben, ein positives gegenübergestellt wird: Es gibt Hörende, die Gebärdensprache aus eigener Motivation lernen. Dies vermittelt außerdem, dass man mit Hörenden auch direkt in eine Kommunikation eintreten kann. Die Art des Austauschs und die Gruppenkonstellation hängt selbstverständlich immer vom Thema ab. Laura Maikowski: Wie gehen Lehrer_innen mit ihrer eigenen (Un-) Fähigkeit, sich auszudrücken – gebärdensprachlich, lautsprachlich oder mit LBG – um? Wie treten sie den Kindern mit ihrer Kommunikationsschwierigkeit entgegen? Sabine Pacalon: Die meisten Lehrer_innen benutzen vorwiegend LBG und Lautsprache. DGS beherrscht eigentlich kaum jemand. Das konnte ich auch in Frille beobachten. Die Lehrer_innen passen sich manchmal minimal den kommunikativen Bedürfnissen der Schüler_innen, die lautsprachliche Äußerungen nicht verstehen, an, indem sie LBG gebärden. Das ist natürlich keine barrierefreie Kommunikation, sondern bestenfalls eine Art Unterstützung. Bei unserem Seminar ist mir aufgefallen, wie sich das Denken und die Einstellungen der Lehrer_innen langsam veränderten. Wie es dann in der Praxis aussieht, kann ich nicht sagen, aber einen Anstoß zur Auseinandersetzung haben wir gegeben. Schon zwischen dem ersten und zweiten Tag wurden Unterschiede deutlich. Beispielsweise kamen sie {die Lehrerinnen} auf mich zu, um nach Gebärden zu fragen oder erweiterten ihren Gebärdenwortschatz mit Hilfe der Jugendlichen, die ihnen bereitwillig Auskunft gaben. Dies zeigte, dass die Lehrer_innen die Gebärdensprache respektieren und anerkennen. Das war total schön. Laura Maikowski: In Deutschland wurde Gebärdensprache erst 2002 als eigenständige Sprache anerkannt. Eigentlich ist es eine absurde Situation, wenn ich mir vorstelle, meine Lehrer_in spricht die Sprache, die ich spreche, nur sehr gebrochen und will mir damit Mathe beibringen. Welche Rolle spielt Gebärdensprache an Schulen? Sabine Pacalon: Das ist auf jeden Fall ein großes Problem. Die Anerkennung der Sprache müsste eigentlich zur Folge haben, dass sich an den Schulen auch etwas verändert. Das heißt Gebärdensprache muss Einzug in die Gehörlosenschulen finden, die Lehrer_innen müssen Gebärdensprachkompetenz erwerben. Der Staat könnte beispielsweise eine Taube Person beauftragen, die DGS-Kompetenz zu überprüfen. Eine Missachtung dieses Gesetzes sollte rechtliche Konsequenzen haben. Real vollzieht sich diese Entwicklung nicht, weil das Personal nicht überprüft
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wird. Da kein Druck ausgeübt wird, passiert nichts. Da sie Beamte sind, machen die Lehrer_innen weiter wie gewohnt bis zur Pensionierung. Laura Maikowski: Wann hast du das erste Mal einen Begriff davon bekommen, was Taubenkultur ist? Sabine Pacalon: Gefühlsmäßig hatte ich sehr früh einen Bezug zur Taubenkultur, aber den Begriff habe ich sehr spät kennengelernt. Ich wusste, dass ich gebärdensprachlich kommuniziere, gerne andere Taube Menschen treffe, um mich mit ihnen auszutauschen und zu gebärden, dass ich gerne ins Gehörlosenzentrum gehe und so weiter. Als ich den Begriff Taubenkultur mit ungefähr zwanzig zum ersten Mal hörte, war ich auf einem internationalen Taubenkongress in Montreal. Dort gab es sehr viele Vorträge zu den Rechten von Tauben Menschen, der Anerkennung der Gebärdensprache etc. Ein Vortrag über Taubenkultur hat mir gezeigt, dass diese etwas mit mir zu tun hat und der Grund ist, warum ich gerne andere Taube Menschen treffe: weil ich mich mit denen identifizieren kann. Dies war der Beginn davon, dass ich Taubenkultur theoretisch begriff. Dieses Verständnis hat sich im Laufe der Zeit vertieft. Laura Maikowski: Wenn du einen Wunsch hättest, was wünscht du der Klasse, die du in Frille kennengelernt hast? Sabine Pacalon: Ich wünsche ihnen zwei Sachen. Bezogen auf die Gegenwart wünsche ich ihnen, dass sie gegenüber ihren Lehrer_innen oder Betreuer_innen selbstbewusster auftreten können und ihre Bedürfnisse einfordern, statt deren Verhalten stillschweigend zu akzeptieren. Wichtig dafür ist natürlich ein starker Zusammenhalt, alleine kann das niemand schaffen. Wenn die gesamte Gruppe sich widersetzt, werden sich die Lehrer_innen nicht so einfach über sie hinwegsetzen können und möglicherweise ändert sich auch ihr Verhalten dadurch. Dies würde die Jugendlichen auch für die Zukunft stärken, sodass sie sich nicht einfach unterkriegen lassen, sondern Gleichberechtigung einfordern. Das ist enorm wichtig. Für die Zukunft wünsche ich ihnen, dass sie in der Gesellschaft gleichberechtigt sind. Das ist natürlich ein Ideal, aber man kann daran arbeiten. Vielleicht wird es erst in 100 Jahren der Fall sein. Aber wenn wir dafür nicht kämpfen, werden wir dieses Ziel nie erreichen. Ich hoffe wirklich, dass Taube Menschen Hörenden gleichgestellt sind. Dass es mehr Respekt gegenüber Tauben Menschen gibt, dass ihnen mehr anerkannt und dies gesetzlich verankert wird.
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Beispielsweise übernimmt die Krankenkasse heute vollständig die Kosten für eine CI-Operation22, aber Eltern, die Gebärdensprache lernen wollen, müssen die Kosten für die Kurse selbst tragen. Gebärdensprachkurse sind sehr teuer, deshalb entscheiden sich Eltern oft dagegen. Ich wünsche mir auch, dass es gesetzlich vorgeschrieben sein sollte, dass Eltern Tauber Kinder Gebärdensprache erlernen müssen. In Schweden und Finnland ist dies der Fall. Die Eltern können sich zusätzlich für eine CI-Implantation bei ihrem Kind entscheiden, aber sie müssen trotzdem Gebärdensprachkurse besuchen. Laura Maikowski: Ab wann kann ein Kind entscheiden, ob es das CI tragen will? Sabine Pacalon: Die Kinder entscheiden nicht über eine Operation, sondern die Eltern, die natürlich stark von der Meinung der Ärzt_innen beeinflusst werden. Dieses ist wiederum wirtschaftlich begründet, weil mit CI-Implantationen unglaublich viel Geld zu machen ist. Und ein großes Problem ist, dass CI-Implantationen sehr schnell bewilligt und durchgeführt werden. Da wird gar nicht lange diskutiert. Den Eltern wird vorgegaukelt, dass die Kinder mit Hilfe des CIs besser in die Gesellschaft integriert sind, was ist natürlich nicht der Fall ist. Wenn sich Jugendliche oder junge Erwachsene entscheiden, nur noch gebärdensprachlich zu kommunizieren, liegt das meistens darin begründet, dass sie auf andere Taube Menschen getroffen sind und visuelle Kommunikation kennengelernt haben, die ihnen entspricht. Wenn sie das CI operativ entfernen möchten, müssen sie bis zu zwei Jahre regelmäßig Psycholog_en/Psycholog_innen treffen, die sie immer wieder fragen, ob sie sich dieser Entscheidung wirklich sicher sind, und es werden ihnen die möglichen Konsequenzen aufgezeigt. Das ist wirklich ein harter Kampf. Die Kosten für diese Operation werden auch nicht von der Krankenkasse bezahlt.
22 Das Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese. Seit Beginn der 80er-Jahre werden verstärkt Cochlea-Implantationen durchgeführt. Deutschland steht mit der Zahl implantierter Prothesen weltweit mit an vorderster Stelle. Die Meinungen zum CI gehen weit auseinander und Auswirkungen auf die familiäre, schulische und berufliche Entwicklung sind nicht ausreichend bekannt. Kritisiert wird die ungenügende Beratung hinsichtlich der Alternativen zum CI sowie die damit häufig verbundene reine lautsprachliche Orientierung (siehe Stellungnahme zum Cochlea-Implantat (CI) vom DGB 2009).
198 | Mädchenarbeit weiterdenken Übersetzung und Transkription des Interviews von DGS in Laut- und Schriftsprache: LenA Kristina Brückmann. Zwecks Autorisierung durch Sabine Pacalon wurde das Interview von Gerlinde Maikowski ins Französische übersetzt.
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It ’ s a men ’ s world? Jungen_ arbeit aus nichtmännlicher Perspektive MART BURSCHE Vor zwei Jahren habe ich das Geschlecht gewechselt. Nicht mein eigenes, das wechsele ich eigentlich stündlich oder zumindest mehrmals täglich. Nein, ich habe das Geschlecht meiner pädagogischen Zielgruppe gewechselt. Nach über zehn Jahren Mädchen_arbeit bin ich ins Lager der Jungen_arbeit gewechselt. Ich kann selber wenig mit den Zuschreibungen Frau oder Mädchen anfangen, kenne aber ihre Effekte, weil ich selber in einem mehr oder weniger weiblichen Körper stecke. So habe ich dann auch nicht darüber nachgedacht, ob ich etwas anderes als Mädchen_arbeit machen wollte. Hin und wieder hab ich auch Seminare mit Jungen geteamt (nicht zuletzt als Ersatz aufgrund fehlender männlicherer Kollegen), das kam mir ebenfalls sinnvoll und interessant vor. Hauptberuflich habe ich mich immer mehr in Richtung kritische Männlichkeitenforschung bewegt und diese Wahl nicht als Widerspruch zu meiner eigenen leidenschaftlich gelebten und geforderten feministischen Perspektive empfunden. 2007 erfolgte meine Aufnahme in den Jungenarbeitskreis1 in der HVHS 1
In der HVHS Frille existieren verschiedene Arbeitskreise, so ist z.B. die geschlechtsbezogene Jugendarbeit untergliedert in einen Mädchenarbeitskreis und einen Jungenarbeitskreis, die sich zuweilen unabhängig voneinander treffen, Seminare reflektieren und Konzepte entwickeln. Die offizielle Schreibweise ist ohne Unterstrich, dies gilt auch, wenn ich mich auf historische Konzepte der Jungenarbeit beziehe. Wenn ich mich auf die in der Einleitung dieses Buches beschriebenen queer-feministischen Erweiterungen von Jungen- und Mädchenarbeit beziehe, findet der Unterstrich Verwendung.
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»Alte Molkerei Frille«. Es mag ein Ergebnis der Debatte um Dekonstruktion sein, dass hier ein oft hochgehaltener Organisationsmodus der Jungenarbeit – nur Männer können (»echte«) Jungenarbeit machen – ohne eingehende Diskussion gekippt wurde. Das Bedürfnis, den Essentialisierungen des Männlichen etwas entgegenzusetzen, mag eine Rolle gespielt haben, ebenso die Verortung in einer feministischen Tradition.2 Vielleicht hatte es auch etwas mit meiner Fachkenntnis aus unterschiedlichen Forschungs- und Entwicklungsprojekten über Jungen, Männlichkeiten und Gewalt zu tun. Nicht zuletzt spielte sicherlich die »Alte Molkerei Frille« als ein Ort des Wagens neuer Schritte, der Lust an neuen Erfahrungen und das Vertrauen der Beteiligten zueinander eine große Rolle in diesem Prozess. Kaum war ich Jungen_arbeiter_in, hatte ich auch schon verschiedene Anfragen für Fortbildungen, Vorträge und Beratungen in der Mailbox. Ich will deshalb diesen Artikel dazu nutzen, die unterschiedlichen Erfahrungen und Fragen strukturiert zusammenzuführen und zu reflektieren und den Kolleg_innen und Teilnehmer_innen so ein Feedback sowie Inspiration für ihre Arbeit zukommen zu lassen.
1. Verortung In der Fachzeitschrift für Jungen- und Männerarbeit »Switchboard« beschreibt Walter Hollstein die Männerbewegung als Antwort auf die Frauenbewegung (Hollstein 2009: 13). Oft sind Antworten ja Erwiderungen auf Fragen, also vollendete Sätze. Nun hatte die Frauenbewegung zu Beginn der Männerbewegung weder ihren Fragenkatalog vollendet,
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Das Feld der Jungenarbeit bzw. Jungen_arbeit hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr ausdifferenziert, Debatten über Jungenarbeitsansätze sind häufig durchzogen von Distinktionsaussagen. Dabei ist u. a. die Haltung zu Feminismus die Gretchenfrage (Busche/Cremers 2009: 14), z.B. durch die Kritik an männerbündischen Strukturen. Auch die Kritik an unhinterfragter Heterosexualität als Norm und an der Setzung von zwei Geschlechtern sowie ihrer unbedingten und natürlichen Unterschiedlichkeit zeigt, wie ein Ansatz grundsätzlich einzuordnen ist, ob er z.B. Mann und Frau als zwei natürlich differente Geschlechter begreift oder ob diese als relationale kulturelle Konstruktionen angesehen werden. In Frille sind Impulse aus dekonstruktiven und queeren Denkansätzen aufgegriffen worden, was sich in Inhalten, Umgehensweisen und eben auch in Teamzusammensetzungen zeigt, die eine eindeutig männliche oder weibliche Geschlechtsidentität kontinuierlich infrage stellen.
It’ It’s a men’ men’s world? | 203
noch erscheint das Sprechen im Singular hier sinnvoll: Weder den Frauenbewegungen noch den Männerbewegungen noch den Fragen und Antworten kann mensch im Singular gerecht werden. Zudem reproduziert sich hier ein fataler Antagonismus, der Männer und Frauen nur in einem gegenseitigen Kampfverhältnis denkt und der heute die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes – unter Einbeziehung aller geschlechtlichen Unterschiede – durch das Festhalten an alten Antagonismen verschleiert, mindestens jedoch aufgrund des binären Denkens in nur zwei eindeutigen Geschlechtern große Reduktionen vornimmt. Zumindest im Bereich der Mädchen- und Jungenarbeit in Frille lässt sich über weite Strecken von einer geschwisterlichen Entwicklung über 30 Jahre sprechen – große Schwester, kleiner Bruder –, mit ihren unterschiedlichen Abgrenzungsbedürfnissen, Entwicklungsschüben und Entwicklungshemmnissen.3 Jungenarbeit wurde zu Anfang vor allem von Mädchenarbeiter_innen und Feminist_innen gefordert, als eine pädagogisch sinnvolle Beschäftigung von Männern mit ihren jungen Geschlechtsgenossen zu Geschlechterthemen, Sexualität, Gewalt und was sonst noch auf der Seele brannte. Es war lange Zeit eine feststehende Wahrheit in der Pädagogik, dass diese Brände besser von Männern gelöscht werden könnten und sollten, nicht zuletzt aufgrund der politischen Forderung, dass Männer ihre gesellschaftliche Verantwortung im Bildungs- und Erziehungsbereich endlich angemessen übernehmen sollten und Frauen nicht alleine für die Veränderung der Geschlechterverhältnisse zuständig seien, sowie aufgrund der Notwendigkeit der Reflexion der eigenen Geschlechtlichkeit bei Jungen und Männern mit dem Ziel, Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu beenden (vgl. Savier/Wild 1979). Letzteres ist im Laufe der Jahre fast verloren gegangen, vor allem weil Jungen zunehmend als Opfer und Mädchen zunehmend als selbstbewusster und gewalttätiger wahrgenommen werden.4 3
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Siehe auch Gruppendiskussion »Mit Wertschätzung und Hartnäckigkeit« in diesem Buch. Wer einen Blick in die Kinderschuhe der Mädchen_- und Jungen_arbeit werfen will, der_dem sei der Abschlussbericht des Modellprojekts »Was Hänschen nicht lernt … verändert Clara nimmermehr« von 1987 empfohlen (HVHS Frille, Selbstverlag). Die Logik des »Nullsummenspiels« (Mehlmann 2009: 9) lässt sich in Bezug auf »Geschlechtergerechtigkeit« recht häufig beobachten – es scheint nicht möglich zu sein, dass beide Geschlechter (oder Untergruppen) Opfer von etwas sind oder dass es beiden mit etwas schlecht oder gut geht. Was dem einen widerfährt, kann dem anderen nicht widerfahren, was der eine bekommt, fehlt dem anderen. Damit einher geht eine »Versämtlichung« aller Jungen und Mädchen.
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Im Gegensatz zur inhaltlichen Schwerpunktsetzung eigneten sich die Akteure der Jungenarbeit die Geschlechterkonstellation dieser Anfänge leidenschaftlich an, sie gilt heute als quasi unumgängliches Prinzip der Jungenarbeit: »Jungenarbeit bedeutet die fachkundige Begegnung erwachsener Männer mit Jungen in pädagogischen Handlungsfeldern« (Forum Jungenarbeit, Bielefeld 2009)5 oder – etwas ausführlicher: »Jungenarbeit muss von männlichen Fachkräften durchgeführt werden. Jungenarbeit hat zum Ziel, Jungen darin zu unterstützen, eine autonome Geschlechtsidentität zu entwickeln. Sie will den Jungen Orientierung geben bei der Auseinandersetzung mit den Fragen rund um das ›Jungesein‹ und ›Mannwerden‹. […] Jungenarbeit benötigt den erwachsenen Mann, der als greifbares reales Vorbild und Beispiel bereit ist, zu den Jungen eine professionelle Beziehung aufzunehmen und diese zu gestalten. Jungen brauchen für ihre Entwicklung Männer, die sich mit ihren Stärken, Talenten und Kompetenzen, aber auch Schwächen, Unzulänglichkeiten und Mängeln zeigen« (Reuter 2007/ 2008: 2).
Ungeachtet der Frage, ob eine »autonome Geschlechtsidentität« möglich oder wünschenswert ist und ob Vorbildlernen – also die Identifikation und das Nachahmen eines Modells – anhand von Sozialpädagogen funktionieren kann, zeigt sich hier Männlichkeit (in Form von Junge- oder Mann-Sein) als Eintrittskarte in den exklusiven Klub der Jungenarbeit. Ohne en detail auf die Bandbreite verschiedener Jungenarbeitsansätze eingehen zu wollen, fallen doch zwei sich wiederholende Argumente auf, die implizit den Ausschluss des Nichtmännlichen aus der professionellen Jungenarbeit legitimieren sollen: 1. Jungen können mit Männern besser über sich selbst sprechen, z.B. über ihre Ängste, über Sexualität, über (erlittene und ausgeübte) Gewalt. 2. Jungen können von Nicht-Männern keine Hilfe bei ihrer Mannwerdung bekommen, da diese sich nicht in sie hineinversetzen können bzw. weil die Jungen sich nicht mit ihnen identifizieren können. Wenig überraschend basieren diese (meines Wissens unbewiesenen) Annahmen auf der Setzung von zwei eindeutigen Geschlechtsidentitä5
»Ebenso wie geschlechtsspezifische Arbeit mit Mädchen von Pädagoginnen durchgeführt wird, sind für die Jungenarbeit männliche Pädagogen erforderlich. Jungen brauchen ›(an-)greifbare‹ Vorbilder als Reibungsfläche, ggf. zur Abgrenzung. Das können nur Männer sein.« (Forum Jungenarbeit, Bielefeld 2009).
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ten, denken nicht über die Potenziale von Nicht-Männern und Frauen für die Jungenarbeit nach und gehen davon aus, dass alle Jungen es super finden, mit Männern zu tun zu haben und mit ihnen über persönliche Dinge zu sprechen. Jungen, die z.B. lieber mit Frauen über ihre Gewalterfahrungen sprechen oder für die es die Hölle ist, mit ihren sie peinigenden Klassenkameraden ohne den Schutz ihrer Freund_innen allein zu sein, werden hier ausgeblendet bzw. (wohl nicht zum ersten Mal in ihrem Leben) als zu vernachlässigende und abweichende Minderheit gekennzeichnet. Nichtmännliche Personen werden in der Regel nicht in den »Jungenarbeiter-Adel« aufgenommen (Fortbildungen oder Fachkreise werden z.B. lediglich für Männer angeboten)6. Vielen Mädchenarbeiter_innen ist dies auch ganz recht, was sollen sie sich auch noch mit den Jungen beschäftigen? Sollen die Männer doch auch mal ran. Was ist aber mit den vielen Frauen oder Nicht-Männern, die mit Jungen arbeiten, weil z.B. keine Männer da sind, weil diese die Jungenarbeit nicht attraktiv finden und weil mit den Jungen etwas geschehen soll, während die Mädchen ein mädchenbezogenes Angebot wahrnehmen (z.B. am Girls’ Day, während der Durchführung von Selbstverteidigungstrainings für Mädchen etc.)? Oder auch mit denen, die explizit Jungenarbeit bzw. Jungen_arbeit machen wollen? Was ist mit den Frauen oder Nicht-Männern, die mit Jungen arbeiten und das Gefühl haben, von der Spezialwissenschaft »Jungenarbeit« keine Ahnung zu haben und qua Geschlecht dafür offenbar nicht geeignet zu sein, schlicht weil das männliche Geschlecht im Laufe der Zeit zu einer Art Qualitätsmerkmal für die pädagogische Arbeit mit Jungen geworden zu sein scheint?7 Was ist mit denen, die mit Jungen geschlechterreflektie6
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Zum Beispiel können in der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit in Niedersachsen nur Männer Mitglied werden. Juristische Personen und Organisationen werden aufgefordert, männliches Fachpersonal zu Veranstaltungen zu schicken (Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit Niedersachsen, 2002). In diesem Fall haben Frauen nicht nur nicht Jungenarbeit zu machen, sondern haben dazu auch nichts zu sagen. Falls Sie jetzt fragen: »Soll Mädchenarbeit dann auch von Männern gemacht werden?«, kann ich nur sagen: Ich weiß es nicht. Aber ich finde es eine berechtigte Frage, warum nicht auch qualifizierte Männer in der Lage sein sollten, Mädchen einen Raum zum Ausprobieren, Selbstermächtigen, Nachdenken etc. zu geben. Auch Mädchen fehlen die für Jungen so oft reklamierten konkreten männlichen Vorbilder, wenn mensch der »Vorbild«-Debatte folgen will, die davon ausgeht, dass ein Kind ein (u.a. gleichgeschlechtliches) Vorbild braucht. Beachtet man jedoch den Aspekt der Geschlechterhierarchie, stellen sich Probleme ein: An männliche Werte sind Mädchen ebenso gewöhnt wie Jungen und für Männer können die
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rende Arbeit machen, deren Qualität ihnen aber von jedem weniger qualifizierten Mann unter Hinweis auf sein Mann-Sein und ihr NichtMann-Sein abgesprochen werden kann? Und schlussendlich: Verstellt nicht die der geschlechtsbezogenen Pädagogik inhärente Dramatisierung von Geschlecht den Blick auf andere wirkmächtige Kategorien (Migrationserfahrung, Klassenzugehörigkeit etc.), die den Kontakt und die Qualität im Seminar beeinflussen?
2 . K o nk r et e Fe ld er d er A u s e i na n d er s e t z u ng Meiner Erfahrung nach sind Jungen in der Regel selten irritiert, wenn eine (nach ihren Maßstäben klassifizierte) Frau vor ihnen steht. Das sind sie aus pädagogischen Settings einerseits oft gewohnt, andererseits wissen sie ja nichts von den ausgefeilten Definitionen der identitären Jungenarbeit, die ein rein männlicher Ort sein will. Dennoch wird oft als Begründung für die notwendige männliche Seminarleitung angeführt, dass Jungen über Themen wie Sexualität anders sprächen, wenn eine wahrgenommene Frau statt eines wahrgenommenen Mannes anwesend ist. Aber was bedeutet das: »anders«? Damit ist zumeist gemeint, dass Jungen sich Männern eher anvertrauen. Vergleichswerte dazu gibt es meines Wissens wenige, schlicht weil es kaum ausgewertete Sexualitätsseminare mit Frauen oder Nicht-Männern gibt, die verglichen werden könnten.8 Die Möglichkeit, dass Jungen von Frauen oder NichtMännern vielleicht auch hilfreiches Wissen vermittelt bekommen oder ihnen heikle Fragen stellen können, wird in dieser Debatte selten beachtet. Manche Jungen haben Fragen, die den weiblichen Körper betreffen, die Menschen mit einem nichtweiblichen Körper nicht zwingend beantworten können. Das können aber auch nicht alle mit einem solchen, denn weibliche Körper sind unterschiedlich. Manche Jungen vertrauen sich tatsächlich lieber Frauen an, z.B. bei Gewalt (vgl. Bunjes 1998). Dies ist vor dem Hintergrund, dass Jungen zumeist Gewaltopfer ihrer eigenen
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Fallen der Hetero-Matrix eventuell größer sein, da sie von Mädchen in ihrer Funktion als Wertegeber angesprochen werden und sich das Missverhältnis von männlichem Subjekt und weiblichem Objekt reproduziert. Bei Frauen und Nicht-Männern in der Jungen_arbeit funktioniert das nicht so leicht. Dies trifft nicht für den Themenbereich der Sexualität zu, sondern betrifft im Prinzip alle Seminare. Für tief gehende Evaluationen oder gar Wirksamkeitsstudien fehlen in der Kurzzeitpädagogik zumeist die finanziellen Mittel.
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Geschlechtsgenossen werden, auch nicht unbedingt verwunderlich9. Außerdem erleben Jungen häufig Männer als diejenigen, die traditionelle Männlichkeitsanforderungen durchsetzen (vgl. Martino/Rezai-Rashti 2009). Vor diesem Hintergrund können auch gerade Nicht-Männer besonders gut dazu geeignet sein, einen Raum zu schaffen, in dem Jungen sich nicht ständig dazu aufgefordert fühlen, sich männlich zu verhalten. Wie Jungen das Geschlecht der pädagogischen Fachkraft lesen, kann sich also – je nach der konkreten Jungengruppe und den einzelnen Jungen – pädagogisch vorteilhaft und/oder nachteilig auswirken. Richtig ist jedoch nach wie vor, dass Jungen (und Mädchen) im Bereich der Erziehung und Bildung nur wenige genderkompetente Männer zur Verfügung stehen, die sich mit den Fallen und Funktionsweisen von Geschlechterkonstruktionen auskennen. Ob der Ausschluss von Frauen und Nicht-Männern aus dem Feld der Jungen_arbeit diese Situation verbessert, möchte ich hier anzweifeln.10 Es ist in Anbetracht der Vielfalt der Individuen müßig und in Bezug auf Gruppendynamik in Jungengruppen unmöglich, Aussagen darüber 9
Die Arbeit in (mehr oder weniger) geschlechtshomogenen Gruppen wurde für die Mädchenarbeit lange Zeit nicht zuletzt damit begründet, dass Mädchen mehrheitlich gegenüber Jungen und Männern Opfererfahrungen machen und durch die Geschlechtertrennung eine zumindest geschütztere Situation geschaffen werden kann, auch wenn dies nicht für alle Mädchen zutrifft und Mädchen sehr wohl auch (körperliche und psychische) Gewalt durch Frauen und andere Mädchen erfahren, der Schutz daher nur partiell ist. Diese Begründung gilt interessanterweise nicht für Jungengruppen, obwohl hier die Gewaltausübenden ebenfalls mehrheitlich Jungen und Männer sind. 10 Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Beruf des Pädagogen bzw. Jungen_arbeiters für Männer attraktiver wird, wenn es im eher weiblich konnotierten Feld der Pädagogik einen klar abgegrenzten männlichen Bereich gibt, in dem mann nicht der Entmännlichung anheimfallen kann. Des Weiteren liegt so die vermeintliche Deutungshoheit in der Hand von Männern, ebenso scheint es von Bedeutung zu sein, sich in der Begründung für Jungenarbeit eher auf die »Benachteiligung von Jungen« zu beziehen bzw. diese »Benachteiligung« pauschal Feministinnen und weiblichen Fachkräften anzulasten. Hierbei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die eigenen, in jungen Jahren im Zuge der Befreiungsbewegungen von Frauen erlebten geschlechtsbezogenen Verletzungen (Ausschluss, Mackervorwürfe etc.) auf Jungen projiziert und diese stellvertretend »geheilt« und unterstützt werden sollen (vgl. hierzu die interessante Debatte zum Thema »Geschlechterdialog« zwischen Thomas Gesterkamp und Beate Vinke in Switchboard 2008/184 und 2008/187).
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zu treffen, wie Jungen sind und was sie wollen, und ob für die Arbeit mit ihnen das Geschlecht der Fachkraft eine Rolle spielt. Es ist möglicherweise ebenso müßig, darüber zu spekulieren, welches Geschlecht für welches Lernziel das richtige ist. Wichtiger erscheint mir, sich darüber auszutauschen, wie mit Jungen sinnvoll geschlechtsbezogen gearbeitet werden kann und welche Rolle den Effekten der wahrgenommenen Geschlechter zukommt: Was passiert, wenn eine Gruppe irgendwie gearteter Jungen auf irgendwie geartete Pädagoginnen trifft bzw. auf gemischtgeschlechtliche Teams? 2.1 Selbstreflexion In der geschlechtsbezogenen Arbeit ist es – unabhängig davon, ob mensch Jungenarbeit, Mädchenarbeit oder Koedukation macht – unerlässlich, darüber nachzudenken, welche geschlechtlichen Handlungsweisen im eigenen Alltag bestimmend sind und welche Geschlechterbilder bzw. -stereotype sich im eigenen Kopf befinden. In der Arbeit von Frauen und Nicht-Männern mit Jungen können die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit und heteronormative Deutungsmuster anders zum Tragen kommen als in der sogenannten Monoedukation11 – mal verschleierter, mal direkter. Es ist unerlässlich, sich die Frage zu stellen, welche erlernten geschlechtlichen Handlungsweisen potenziell zu eigener Handlungsunfähigkeit oder Lähmung führen können. Dazu gehören der eigene Umgang mit Konflikten oder mit Aggressionen, die in weiblichen Sozialisationen in der Tendenz abgewehrt, als Kontrollverlust erlebt oder auf die Beziehungsebene verlagert werden, ohne Sachebenen in die Konfliktanalyse einzubeziehen (Voigt-Kehlenbeck 2008: 161f.). Auch das eigene Harmoniebedürfnis bedarf einer kritischen Revision, wenn das Streben nach Harmonie in der Gruppe zum alles überlagernden Fokus wird. Die in vielen weiblichen Sozialisationen angeeignete Kompetenz in Fürsorge und Beziehungsgestaltung wirkt sich dann als kontraproduktiv aus, wenn sie einerseits in Selbstüberforderung bei der Übernahme der Verantwortung für das gesamte Gruppenklima mündet. Andererseits wird so eine nicht gleichberechtigungsorientierte Arbeitsteilung beibehalten: »Egalität kann nicht ausgehandelt werden, solange hegemonial
11 »Monoedukation« ist ebenso wie »Crosswork« ein schwieriger Begriff, der von einer zweigeschlechtlichen Welt, einer geschlechtlichen Einheitlichkeit pro Geschlechtsgruppe und der klaren Abgrenzung zum jeweils anderen Geschlecht ausgeht.
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weibliche Gesten nicht variiert und zur Disposition gestellt werden« (ebd.: 164).12 Als Transgender muss mensch sich zudem darüber klar werden, dass es vielfältige Versuche geben wird, auf der Folie von Männlichkeit und Weiblichkeit einsortiert zu werden. Je nach Setting und Persönlichkeit lässt sich dies aushalten, mensch entwickelt einen pragmatischen Umgang damit – oder auch nicht. Es kann auch fruchtbringend sein, diese Vereindeutigungsversuche aufzugreifen, unterschiedliche Seinsweisen zu benennen und den zweigeschlechtlichen Blick immer wieder zu irritieren. Das können aber auch Männer und Frauen. So kann etwa am Anfang eines Seminars gefragt werden, mit welchem Personalpronomen die Teilnehmenden bezeichnet werden wollen. Das mag für Irritation sorgen und sollte in einem Klima mit Potenzial zum Sich-lächerlichMachen unterlassen werden, hat aber den Vorteil, das der Raum für die Thematisierung geschlechtlicher Zuordnung und ihrer Effekte gleich zu Beginn geöffnet ist.13 Bei Transgendern können zudem noch explizit angeeignete Verhinderungs- oder Schutzverhaltensweisen existieren, um mit dem Körper, dem sexuellen Selbstkonzept und mit den eigenen geschlechtlichen Unsicherheiten nicht im Zentrum zu stehen, wenn die Atmosphäre nicht von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt geprägt ist. Dies ist nichts Transgender-Typisches – niemand zeigt sich gern, wenn potenziell Sanktionen drohen. Aber es macht Sinn, sich verschiedene Selbsterklärungen zu überlegen, die einerseits die geschlechtliche Lebensweise verständlich machen und andererseits gegebenenfalls die Thematisierungsgrenzen transparent machen (z.B. »Ich kann mich unheimlich schlecht auf ein Geschlecht festlegen, ich hab so viele unterschiedliche geschlechtliche Verhaltensweisen gelernt, deshalb fühle ich mich meistens weder männlich noch weiblich. Wenn ihr dazu noch Fragen habt, könnt ihr mich ja in der Seminarpause gerne noch mal ansprechen.«).
12 Das meint vor allem, dass Frauen ein Einflussfeld weiblicher Sorge schaffen (Böhnisch/Funk 2002: 126), aber auch, dass sie dafür keine Anerkennung einfordern und in einer abgewerteten Position bleiben (vgl. VoigtKehlenbeck 2009: 163f.). 13 Ich danke Jules für diesen Hinweis.
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2.2 Reproduktion von gesellschaftlich dominanten Jungen- und Frauenbildern In den Bereich der Jungenarbeit hat zunehmend der Gedanke der Jungenförderung Einzug gehalten. Oft ist daran leider der Gedanke der strukturellen Benachteiligung aller Jungen gekoppelt. Es ist deshalb schwierig, über Abwertungen von Jungen und Männern zu sprechen, ohne auf der Seite antifeministischer Männerrechtsaktivist_innen zu stehen, die Misandrie (»Männerhass« bzw. »Männerverachtung«) als eine quasi-gesellschaftsstrukturierende Verschwörung zusammenfantasieren, oder ohne andererseits Abwehrreaktionen bei denen hervorzurufen, die das Ausmaß struktureller Frauenfeindlichkeit kennen und eine weitere Entwertung dieses Themas bzw. eine Gleichsetzung befürchten. In der Jungenarbeit bzw. Jungen_arbeit als einem politisch aufgeladenen und umkämpften Feld ist für dieses Thema deshalb große Nüchternheit geboten, zumal es kaum gesicherte Forschungsergebnisse über die Auswirkungen von männlichkeitsbezogener Verachtung gibt. Solche Verachtung, geäußert durch Frauen, kann einen Jungen aufgrund der Überkreuzhierarchien14 mitunter hart treffen, vor allem wenn die Peergroup anwesend ist. Und es ist schwer, zu einem Jungen, der einmal der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, wieder eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen. Dies soll aber nicht dazu führen, Jungen das Erleben starker Frauen mit klaren Worten vorzuenthalten. Ganz im Gegenteil – neben vermeintlicher Emanze, Mutti und Sexobjekt gibt es viele andere Weiblichkeitsinszenierungen, die für Jungen ebenfalls spannend und inspirierend sind. Trotzdem sind es oft diese Bilder, die die Interaktionen zwischen Jungen und Frauen strukturieren. Das kann bedeuten, dass ein Junge versucht, über die Seminarzeiten hinaus Zugriff auf die Fürsorge- oder Wissensressourcen der Seminarleiterin zu nehmen, weil er gelernt hat, dass Frauen als Mütter oder Schwestern dafür unbeschränkt zur Verfügung stehen. Hier helfen Abgrenzung, eine gute Arbeitsteilung mit den männlichen Kollegen und klare Regeln (»Wir können das morgen im Seminar besprechen, ich hab jetzt Feierabend.«). Etwas heikler sind Flirtversuche und Sexualisierungen, weil sie manchmal uneindeutig verpackt sind (»Schickes Shirt!«) und dadurch potenziell verunsichern. Die Funktionen hiervon können unterschiedliche sein: Es kann um das Ein14 Der Faktor Männlichkeit ist symbolisch höherwertig als der Faktor Weiblichkeit. Dieser kreuzt z.B. in der Interaktion zwischen Junge und weiblicher Fachkraft die Faktoren Alter und Profession, mit denen sie in der Hierarchie weiter oben steht (siehe unten).
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üben, Ausprobieren und Absichern der eigenen für normal gehaltenen Heterosexualität gehen, um das Abchecken der eigenen Attraktivität und die Darstellung männlicher Potenz, um das Austesten der Grenzen im zwischenmenschlichen Kontakt oder einfach um den Versuch einer freundlichen Kontaktaufnahme vor dem Hintergrund einer heterosexualisierten Sozialisation. Wenn eine Frau oder ein Nicht-Mann darauf nicht einsteigt, kann dies allerdings die Gefahr beinhalten, weitere Abwertungen (»Spaßbremse«) oder Stereotypen (»Lesbe«) zu triggern. Diese können direkt oder indirekt in einer anderen Situation wieder aufgerufen, bearbeitet oder entkräftet werden. Männliche Jungen_arbeiter kennen es ebenfalls, auf ihre Autorität und ihr Durchsetzungsvermögen getestet zu werden – dabei werden sie jedoch selten als Sexualobjekt angesprochen. Frauen und Nicht-Männer sprechen Jungen auch in stereotyper Weise an, z.B. entlang gesellschaftlicher Verkürzungen auf (gewalttätige) Problemjungen oder als Aufrechterhalter einer patriarchalen Ordnung. Dadurch wird die Sicht auf vorhandene Kompetenzen möglicherweise verstellt oder subjektspezifische Unterstützungsbedürfnisse bleiben unerkannt. Ebenfalls problematisch sind Sichtweisen auf Jungen, die traditionelle Männlichkeiten restrukturieren (»Ich brauch hier mal einen starken Mann«) oder sie in heteronormativer Weise ansprechen, z.B. als Kavaliere. Mitunter üben bestimmte Jungen – oft die, die in einer Gruppe den Ton angeben – eine (auch erotische) Anziehungskraft auf weiblich sozialisierte Menschen aus, weil sie den erlernten Bildern hegemonialer, heterosexueller Männlichkeit am meisten entsprechen. Ihnen wird dann beispielsweise besonders viel Raum zugestanden oder sie dürfen sich eher als andere im Flirten erproben. Sie können auch Gefühle von Neid oder Konkurrenz auslösen. Es ist in Seminarsituationen zuweilen schwierig, ihrer Männlichkeitsinszenierung, die ihnen allgemein Anerkennung einbringt, etwas entgegenzusetzen. Aber auch die Unterstützung des schwächsten Jungen aus einem Moment der unbedachten Abwehr des »Allzu-Männlichen« heraus, schränkt die eigene Handlungsfähigkeit ein und verfestigt ein Bild der »Kooperation der Machtlosen«15. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit den eigenen geschlechtlichen »Reizfaktoren« unerlässlich, um eine unbedachte Unterstützung von bzw. ein unreflektiertes Trotzverhalten gegenüber männlichen Herrschaftspraktiken zu verhindern.
15 Wenn diese allerdings zu einer gegenseitigen Unterstützung der Ohnmächtigen und einer Verbesserung ihrer Position führt, ist sie mehr als wünschenswert. In der Kurzzeitpädagogik ist dies jedoch kaum möglich.
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2.3 Hierarchien und Aggressionsdynamiken Einen definitiven Unterschied beobachte ich bei Mädchengruppen und Jungengruppen im Umgang mit Hierarchien und Aggressionen, wobei dies mit zunehmendem Alter abnimmt. Während ich in der Mädchengruppe oft erst am zweiten oder dritten Tag herausbekomme, wer wen nicht leiden kann, wer mit wem gerade nicht spricht und welche Cliquen zusammengehören, weil sie möglichst lange versuchen mir ein harmonisches Bild zu präsentieren, ist dies in den meisten Jungengruppen bereits nach der ersten halben Stunde klar. Hierarchiekonflikte werden zumeist mehr oder minder offen ausgetragen, sie sind durch den Einsatz leichter körperlicher Gewalt (Boxhiebe, Tritte etc.) und Beleidigungen auch schwieriger zu verstecken als die eher psychisch geartete Gewalt zwischen Mädchen (ignorieren, verunsichern etc.; vgl. Peter/Spiekermann 2004). Neben der Aushandlung von Gruppenpositionen fällt auf, dass insbesondere bei den jüngeren Jungen aus mit sozialen Problemen belasteten Stadtteilen und großen Klassen oft ein großes Defizit an Aufmerksamkeit zu beobachten ist. Doch nicht die Aufmerksamkeitsfähigkeit der Jungen ist defizitär, sondern die Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wird. Dies ist ein strukturelles Problem, das sich in Seminaren nicht lösen lässt, auch wenn in den Seminaren der »Alten Molkerei Frille« ein im Vergleich zur Schule hoher Betreuungsschlüssel (eine pädagogischen Fachkraft für sieben Jungen) angelegt wird. Der Bedarf an persönlichem Kontakt zu Erwachsenen ist bei vielen Jungen immens, der Gebrauch von aggressiven Handlungen gegen die anderen Jungen, sobald mensch einmal wegschaut, ebenso. Vor dem Hintergrund, dass die Abwehr von Hilflosigkeit eine große Rolle im Heranwachsen von Jungen spielt (Böhnisch/Funk 2002: 125) und dass eine Orientierung an hegemonialen Formen von Männlichkeit solche Gesten der Dominanz nach sich zieht, aber nicht alle in der Jungengruppe dominieren können, sind hier krisen- und konflikthafte Situationen vorprogrammiert. Begünstigend wirkt, dass ein bestimmtes Maß an Gewalt zwischen Jungen oft als normal angesehen wird. Insbesondere die Jungen_arbeit, in der der Umgang mit Verletzungen und Hilflosigkeit thematisiert werden kann, muss sich fragen, wie das Recht auf Unversehrtheit des Körpers strukturell, aber auch als Handlungsmaxime im Jungenraum umgesetzt werden kann. Als Nicht-Mann muss mensch sich auf jeden Fall davor hüten, einer Konkurrenzlogik folgend »der härtere Jungenarbeiter« sein zu wollen und damit Verrat an der Sache zu betreiben, z.B. indem mensch Jungengewalt als natürlich oder gar notwendig akzeptiert oder sogar affirmiert.
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2.4 Körper Welche Rolle spielt der nichtmännliche Körper in der Jungen_arbeit? Welche Zuschreibungen erfährt er (falls er welche erfährt)? Welche Handlungen sind möglich, welche nicht? Als gefühlter Transgender in weiblichem Körper kann ich sagen, dass Innen- und Außenwahrnehmung fast immer auseinanderklaffen, weil mensch das Transgender-Sein meistens nicht sehen kann. Das bedeutet, dass ich mich gegebenenfalls erklären muss, dass ich vor allen Dingen mit den jeweiligen Kolleg_innen Klarheit über Bezeichnungsweisen, Grenzen und Möglichkeiten sprechen muss. Das bedeutet vor allem auch, dass ich mir über meine eigenen Grenzen und Möglichkeiten klar werden muss, über Reaktionsweisen bezüglich Homo- oder Transphobie, Sexismus und der körperlichen Grenzen beim Anfassen und Angefasstwerden. Als Frau angesprochen zu werden finde ich nicht schlimm, es ist erwartungsgemäß. (Es sei denn, Menschen wissen es eigentlich besser oder wollen mich abwerten.) Aufgrund meines vermeintlich eindeutigen Aussehens sind meine Erfahrungen möglicherweise andere als die von Personen, die gerade einen Sexchange machen, im Stimmbruch sind, sich Brüste an- oder wegoperieren lassen etc. Daran wird deutlich, dass der Umgang mit dem eigenen Körper ein höchst individueller ist, der sich aus unterschiedlichen Komponenten zusammensetzt (Tagesform, Größe, Fitness, geschlechtliche Attribute, Erfahrungen etc.). Meine Erfahrungen bezüglich der Rolle, die mein Körper im Kontakt spielt, beschränken sich auf die Entscheidung, mir die Brüste abzubinden, bevor ich beim Stage-Diving, einer Vertrauensübung, in die ausgebreiteten Arme der Jungengruppe springe, um nicht ungeschützt dort berührt zu werden. Ich kann mich auch entscheiden, nicht zu springen oder rückwärts zu springen. Um unangenehme Überraschungen zu vermeiden sind bei Übungen mit Körperkontakt die Partizipation der Seminarleiter_innen sowie die jeweils eigenen Grenzen im Team vorab zu besprechen, nicht zuletzt auch um herauszufinden, welche Normen hier implizit vorherrschen (»Wer leitet wie am sinnvollsten eine Massageübung an? Was ist dabei zu beachten, was kann passieren?«). 2.5 Gemischtgeschlechtliches Team Unabhängig vom Geschlecht kann ein transparent und reflektiert handelndes Team großen Beispielcharakter haben. Kommt der Faktor Geschlecht dazu, werden Entscheidungs- oder Aushandlungsprozesse mitunter zusätzlich durch geschlechtsbezogene strukturelle Hierarchisierungen, Verhaltenserwartungen, Handlungseinschränkungen etc. aufge-
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laden. Es gilt, dem bewusst zu begegnen und entgegenzuwirken, etwa durch gleichberechtigtes Leiten, das Wissen um geschlechtsbezogene Fallen (siehe »Instrumentalisierung« und »Über-Kreuz-Hierarchien«) und untypisches Verhalten. Letzteres meint vor allem ein kontrastereotypes Verhalten, bei dem gesellschaftlichen Klischees nicht entsprochen wird, um mit eindimensionalen Geschlechterbildern zu brechen. Dies kann bedeuten, dass ein männlicher Kollege sich eher um die Gefühlsangelegenheiten der Jungen kümmert, während eine weibliche Kollegin die Sachangelegenheiten regelt. Wichtig dabei ist, sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Aufgrund von gesellschaftlichen Hierarchien haben Frauen es mitunter etwas schwerer, sich durchzusetzen, als fachkompetente Expertinnen anerkannt zu werden (vgl. Enders-Dragässer 2005: 87 ff.) und nicht z.B. auf ihr Frausein reduziert zu werden. Das kann dazu führen, dass sie z. T. andere Durchsetzungsstrategien anwenden als ihre männlichen Kollegen. Wenn sie beispielsweise für Ruhe sorgen wollen, greifen sie eher als Männer auf festgelegte Regeln und Zeichen zurück oder warten geduldig, aber hartnäckig darauf, dass Ruhe eintritt.16 Für einige männliche Kollegen ist dies eine Herausforderung, weil sie nicht pragmatisch erscheint. Dass Jungen vielfältige Leitungsweisen kennenlernen, bedeutet aber auch, den unterschiedlichen Bedürfnissen von Jungen im Umgang mit ihnen gerecht zu werden sowie die Möglichkeit, ihnen verschiedene Handlungsmöglichkeiten anzubieten. Hier gilt es auch, den Fokus auf die Leitungsweisen unterschiedlicher Männer zu richten und den Blick für ihre unterschiedlichen Durchetzungsstrategien zu schärfen (z.B. mit der Frage, wie Autorität erlangt wird, welche Rolle spielen Körpergröße, Stimmgewalt, versteckte Drohgebärden, Verhandlungsangebote etc.). Es ist schwierig, die öffentliche Rückendeckung meines männlichen Kollegen zu haben, ohne dass dies gleichzeitig nach einer Legitimierung der männlichen Ordnungsmacht aussieht. Zwischen Männern und Nicht-Männern scheint das der Fall zu sein, wenn es immer das zuletzt gesprochene Wort des männlichen Kollegen ist, das gilt. Das ist etwas, das im Zusammenspiel geübt werden muss, das hierarchisch organisierte Geschlechterverhältnis wirkt hier ganz unmittelbar. Anders wirkt ein durch die Gruppe hergestellter Spannungsherd zwischen zwei gleich16 In einer Fortbildung für Lehrer_innen und pädagogische Fachkräfte erzählte eine Lehrerin, dass sie einmal ein Handy eingesammelt hat, indem sie zehn Minuten mit ausgestreckter Hand vor dem betreffenden Jungen stand, der sein Telefon nicht herausrücken wollte. Sie war damit erfolgreich.
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oder andersgeschlechtlichen Seminarleiter_innen, die z.B. über situativ hergestellte Hierarchisierungen gegeneinander ausgespielt werden (beispielsweise wenn nur ein Seminarleiter von der Jungengruppe aufgefordert wird, am Fußballspiel oder anderen Aktivitäten in der Pause teilzunehmen oder wenn der eine immer wieder als »viel cooler« betitelt wird). Wünschenswert und entlastend sind gemeinsame Bestrebungen, geschlechtshierarchische oder stereotypisierende Praktiken umzudeuten, beispielsweise sagte einmal ein Junge unbedarft »Ladies first« zu mir – diese Höflichkeitsfloskel verweist auf den Wunsch nach männlicher Kontrolle über weibliche Handlungen unter dem Deckmantel einer in der Zweigeschlechtlichkeit verankerten Gentleman-Inszenierung, auch wenn sie vom entsprechenden Jungen einfach als Akt der Höflichkeit und Zurschaustellung »guter Erziehung« gemeint sein konnte. Da stand mein männlicher Kollege freudig auf und wackelte hüftschwingend mit den Worten »Also ich!« zur Tür. Diese kurze, erwartungsvereitelnde Performanz von Weiblichkeit hat der Jungengruppe einen kurzen Eindruck von gelebter Unmännlichkeit gegeben (der übrigens keine Sanktionen zur Folge hatte) und mich davon entlastet, mich problematisierend, ironisierend oder anders zu dem Erwarteten zu verhalten. 2.6 Spannungen und Instrumentalisierungen Die Dynamiken innerhalb der Jungengruppe schließen ein beständiges Aushandeln von Positionen über Männlichkeitsfeatures und –darstellungen ein. Hierbei kann es zu Instrumentalisierungen weiblicher und nichtmännlicher Fachkräfte kommen, die mit der eigenen Person wenig zu tun haben. Deshalb ist ein bewusster Umgang mit Machtspielen in Jungengruppen notwendig, deren Wirkungsweisen sich vor dem Hintergrund einer erlebten weiblichen Sozialisation nicht zwangsläufig leicht erschließen (Voigt-Kehlenbeck 2009: 125). Voigt-Kehlenbeck sieht Machtverhältnisse und Spannungen innerhalb der Jungengruppe in Bezug auf das männliche Gebot des Dominierens in der Orientierung an hegemonialer Männlichkeit (ebd.: 127). Im Bestreben »das Losergefilde zu vermeiden« müssen z.B. bestimmte fehlende sportliche Kompetenzen oder materielle Grundlagen (Spielkonsole, Markenkleidung etc.) durch andere Aufwertungen kompensiert werden.17 Positionen in der Jungen-
17 So sind gewaltbejahende Männlichkeitsnormen unter Umständen für männliche Jugendliche und junge Männer so etwas wie die letzte Ressource im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Es handelt sich bei gewalttä-
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gruppe können sein: der Ansager, sein Komplize, der Loser, der partiell diffamierte Junge (das Weichei), der Grenzgänger, der Schwule bzw. als schwul Betitelte etc. Fachkräfte werden unausweichlich Teil dieses Spiels, deshalb hat es Sinn, sich über die in der Jungengruppe gesetzten Normen und die Art ihrer Setzung im Team zu unterhalten. Auch Seminarleiter_innen verkörpern (geschlechtsbezogene, klassenbezogene, körperbezogene etc.) Normen. Hiermit können sie auf unterschiedliche Weisen instrumentalisiert werden (z.B. wenn nach Offenlegung der sexuellen Orientierung der heterosexuelle Kollege als Norm und Vorbild angesprochen wird, der schwule Kollege eher gemieden oder nicht ernst genommen wird). Des Weiteren setzen sie Normen bzw. performen Normalitätsvorstellungen, indem sie beispielsweise höfliches Verhalten honorieren, milde Gewalt zwischen Jungen ignorieren oder explizit die deutsche Sprache als höherwertig gegenüber anderen Sprachen behandeln. Es ist davon auszugehen, dass diese Handlungen auf ein individuelles Anerkennungsdefizit verweisen. Das heißt allerdings nicht, als Jungenarbeiter_in eventuelle gewalttätige Männlichkeitsgesten stillschweigend zu akzeptieren, sondern zu versuchen die einzelnen Jungen in ihren Bedürftigkeiten und Verstrickungen zu sehen und auch die eigenen Aktien in diesem männlichen Aushandlungsprozess zu überprüfen. 2.7 Überkreuzung der Hierarchien Profession/Geschlecht und Wechselwirkungen mit anderen Kategorien In der Jungen_arbeit wie auch in der koedukativen Seminararbeit, die von weiblichen oder nicht-männlichen Fachkräften durchgeführt wird, kann es zu Spannungen kommen, wenn die verschiedenen strukturellen und konkreten Statusungleichheiten wirkmächtig werden (vgl. Glücks/Ottemeier-Glücks 2001). Wie oben bereits angemerkt, ist Männlichkeit symbolisch (z.B. im Sprachgebrauch wie bei »Familie Hans Meier«) und oft auch konkret (z.B. bei Lohnzahlungen) höherwertig zu Weiblichkeit. Dies darf aber nicht dazu führen, alles auf der Folie von geschlechtlichen Identifikationsangeboten zu lesen und davon auszugehen, dass Frauen und Nicht-Männer als im Status niedere Geschlechter Jungen nichts anzubieten haben. Durch Alter, Lebenserfahrung und Berufsauftrag fungieren die pädagogischen Fachkräfte als Unterstützungsund Ordnungsautorität. Diese Hierarchieüberkreuzung kann zu Spantiger Männlichkeit in diesem Sinne um eine letzte Machtinstanz, die mobilisiert werden kann (vgl. Bereswill 2007).
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nungen führen, wenn Jungen die Kompetenz der nicht-männlichen Fachkräfte mittels ihrer potenziellen männlichen Höherwertigkeit infrage stellen. Dieses Verhältnis kann noch zusätzlich torpediert werden, indem weitere soziale Kategorien ins Spiel kommen, z.B. Ethnizität. Weiße deutsche Pädagoginnen sagen oft, dass Jungen mit Migrationshintergrund ihre Autorität als Lehrerin nicht anerkennen würden. Sie benennen dabei die Art des Hintergrundes selten, meinen aber in der Regel vor allem muslimische Jungen, wie einerseits die Bezeichnung »Pascha« vermuten lässt und andererseits eben die Nicht-Benennung, die quasi automatisch das gesellschaftliche Klischee der muslimischen Migrantenjungen als patriarchal geprägte Problemkinder aufruft. Die Infragestellung von Autorität trifft aber offenbar nicht auf alle Lehrer_innen zu: In einer Befragung im Rahmen der Entwicklung eines Basistrainings »Geschlechtsbezogene Arbeit mit Jungen« (Projektgruppe Fo(u)r Jungs: 2009) für weibliche Fachkräfte machte eine Pädagogin deutlich, dass sie zu Jungen aufgrund ihres türkischen Hintergrundes einen guten Draht habe, sie fügt an: »insbesondere zu Jungen mit Migrationshintergrund« (ebd.: 7). Die sich auf Frauen oft negativ auswirkende Hierarchisierung zwischen den Geschlechtern scheint sich hier nicht nur aufzuheben: Durch die türkische Zugehörigkeit der Pädagogin wird die Geschlechtszugehörigkeit dynamisiert und wirkt sich begünstigend auf das Verhältnis Junge–Pädagogin aus. Der Impuls, sich selbst über eine Gruppenzugehörigkeit identitär zu vereinheitlichen, kommt oft dann zum Zuge, wenn er eine Position der Selbstermächtigung anstrebt, wie es bei jugendlichen Selbstethnisierungen häufig der Fall ist. Bei dieser Form von Dramatisierung können und müssen Angebote der Bildungs- und Sozialarbeit wahrscheinlich erst einmal mitgehen, wenn an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen angeknüpft werden soll.18 Diese sollten aber immer wieder mit einer entdramatisierenden und komplexen Analyse rückgekoppelt werden, die auseinanderhält, ob es sich dabei um selbstempowernde Äußerungen
18 Damit ist allerdings nicht gemeint, einzelne Jungen immer mit »Koray, mein muslimischer Freund« anzusprechen. Das mag nett gemeint sein, bleibt aber ein dramatisierender und unnötiger Verweis auf eine ethnische Zugehörigkeit von außen. Ebenso gibt es oft Situationen, wo in Übungen oder Diskussionen »deutsch sein« und »muslimisch sein« gegeneinandergesetzt wird, z.B. beim Thema Beschneidung (»Bei Deutschen ist das soundso, bei Muslimen ist das soundso.«). Damit werden viele der muslimischen Jungen schlicht ausgebürgert. Ich danke Viola für diese Anmerkungen.
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einer marginalisierten Person handelt oder ob ein Machtspiel verschleiert wird.19 Daraus sollte eine professionelle Selbstentlastung folgen: Ich bin mitunter nicht als Person gemeint, sondern etwas, das ich verkörpere (mein Alter, mein Kleidungsstil, meine Erfahrung, auch einmal auf einer Hauptschule gewesen zu sein), wird benutzt, um die eigene Position abzusichern.
3 . F a z it Es kann Spaß machen mit Jungen zu arbeiten, und das sollte NichtMännern nicht vorenthalten bleiben. Was den pädagogischen Gehalt angeht, darf auf eine entsprechende Qualifizierung nicht verzichtet werden, die das Wissen um männliche Sozialisationsbedingungen und verschiedene Männlichkeitskonstruktionen einschließt.20 Neben Reflexionsfähigkeit ist ein eingespieltes, diskussionsfreudiges Team extrem hilfreich. Die Forderung nach nichtmännlichen Fachkräften und ihrer Qualifizierung in der Jungen_arbeit meint übrigens nicht, Männer aus ihrer Verantwortung für Erziehungs- und Sorgearbeit zu entlassen. Zum Abschluss noch eine Beobachtung zum Verhältnis Jungen_und Mädchen_arbeit: Ein männlicher Jungen_arbeitskollege bemerkte, als ich ausnahmsweise mal ein Mädchenseminar durchgeführt hatte: »Wie kannst du nach all den Jungenseminaren denn jetzt wieder mit Mädchen arbeiten, das ist doch total langweilig ...« Das war ironisch gemeint, berührt aber im Kern ein Vorurteil, mit dem sich Mädchen_arbeiter_innen zuweilen herumschlagen müssen: Mädchen(-seminare) sind langweilig, bei Jungen ist im Vergleich immer was los. Diese Hierarchisierung entspricht der des Geschlechterverhältnisses. Darüber hinaus klingt hier auch der Vorwurf des Verrats an, schon wieder die 19 So ist auch zu berücksichtigen, dass gesellschaftliche Institutionen auf Einheitlichkeit angelegt sind und die Produktion von vermeintlich (geschlechts-)homogenen Gruppen nicht zuletzt aus Gründen der Überschaubarkeit immer wieder vornehmen. So entsprechen Jugendliche dieser Anforderung oft, wenn sie dem Wunsch nach der Zusammenkunft mit »ihresgleichen« nachkommen (Hagemann-White 2009: 58). 20 Anders als bei Mertol (2009) kann es dabei aber nicht um Tipps allein für weibliche Fachkräfte gehen, sie sind für alle hilfreich. Sonst wird suggeriert, dass Männer bereits alles wissen, und dass Menschen, die keine männliche Sozialisation durchlebt haben, nicht »richtig« mit Jungen arbeiten können.
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Seite gewechselt zu haben. Es schwingt die Drohung mit, die vermeintliche und faktische Aufwertung, die Personen, die mit Jungen arbeiten, oft erfahren, wieder zu entziehen. Dabei schärft dieser Wechsel wiederum meinen Blick für die Mädchen(_arbeit), für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gruppen und versetzt mich in die Lage, den jeweiligen Kolleg_innen ein bisschen besser vermitteln zu können, was hinter der geschlossenen Tür geschieht. Es ist also noch viel Austausch und Übersetzungsleistung notwendig. Ich denke, dazu können Fachkräfte beitragen, wenn sie das Geschlecht ihrer Zielgruppe wechseln.
L i t er a t u r Bereswill, Mechthild (2007): Undurchsichtige Verhältnisse: Marginalisierung und Geschlecht im Kontext der Männlichkeitsforschung. In: Klinger, Cornelia et al. (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt: Campus Verlag, 84–99. Böhnisch, Lothar/Funk, Heide (2002): Soziale Arbeit und Geschlecht. Theoretische und praktische Orientierungen, Weinheim: Juventa Verlag. Bunjes, Christine (1998): Als Frau in der Arbeit mit Jungen. In: Switchboard – Informationsdienst für Männer, 1998/10–11, 14. Busche, Mart/Cremers, Michael (2009): Jungenarbeit und Intersektionalität. In: Pech, Detlef (Hg.): Jungen und Jungenarbeit. Eine Bestandsaufnahme des aktuellen Forschungs- und Diskussionstands, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 13–30. Enders-Dragässer, Uta (2005): Jungenarbeit aus Frauensicht – am Beispiel Schule. In: Kaiser, Astrid (Hg.): Koedukation und Jungen, 2.Auflage Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 94–96. Forum Jungenarbeit Bielefeld (o. J.): www.forum-jungenarbeit-biele feld.de [Abruf 27.02.2010]. Gesterkamp, Thomas (2008): Der Mann – Sozial und sexuell ein Idiot? In: Switchboard. Zeitschrift für Jungen- und Männerarbeit, 20/184, 15–19. Glücks, Elisabeth/Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (2001): Was Frauen Jungen erlauben können. Was Männer Mädchen anzubieten haben. Chancen und Grenzen der pädagogischen Arbeit mit dem anderen Geschlecht. In: Rauw, Regina/Jantz, Olaf et al. (Hg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen
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Gender, Politik und Bildungsarbeit, Opladen: Leske und Budrich Verlag, 68–87. Hagemann-White, Carol (2010): Sozialisationstheoretische Perspektiven auf die Mädchenpädagogik. In: Matzner, Michael/Wyrobnik, Irit (Hg.): Handbuch Mädchenpädagogik, Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 45–61. Hollstein, Walter (2009): Männerbewegung wohin? Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Switchboard. Zeitschrift für Jungen- und Männerarbeit, 21/ 4, 13–15. Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit NRW (2002): Grundsatzpapier. www.lag-juni.de/Grundsatz.htm [Abruf 28.02.2010]. Martino, Wayne/Rezai-Rashti, Goli (2009): Relationships between Boys, Teachers and Education. In: Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hg.): Jungenforschung empirisch. Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur, Wiesbaden. VS-Verlag, 191–204. Mehlmann, Sabine (2009): Von Alphamädchen und Schulversagern – geschlechterpolitische Implikationen der Debatte über die ›Feminisierung der Bildung‹. Vortrag im Frauenkulturzentrum Gießen im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Frauenbeauftragten der JLU am 25. Juni 2009, www.uni-giessen.de/genderstudies/projekte_ar beitsgruppen.htm [Abruf: 04.04.2010]. Mertol, Birol (2009): Männlichkeitsbilder von Jungen mit türkischem Migrationshintergrund. »Crosswork« als ein pädagogischer Ansatz zum geschlechtsreflektierten Arbeiten von Fachfrauen mit Jungen oder Fachmännern mit Mädchen. In: Gazelle – das multikulturelle Frauenmagazin, 2009/5, 39–43. Peter, Astrid/Spiekermann, Carola (2004): Daraus wird ein Riesending, wenn ich das sage. Die verborgene Aggressionskultur zwischen Mädchen. In: Prävention 3/2004, 30–35. Projektgruppe »Fo(u)r Jungs!« (2009): Basistraining – Geschlechtsbezogene Arbeit mit Jungen, Duisburg/Arnheim (unveröffentl. Abschlussarbeit). Reuter, Lothar (2008): Modellprojekt ›Geschlechtsbewusste Jungenarbeit‹, Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Vinke, Beate (2008): Wie geht eigentlich Geschlechterdialog? In: Switchboard. Zeitschrift für Jungen- und Männerabeit 20/187, 28– 29. Voigt-Kehlenbeck, Corinna (2009): Gender-Crossing – Nachdenken über die Implikationen der gleich- bzw. gegengeschlechtlichen Beziehung. In: Pech, Detlef (Hg.): Jungen und Jungenarbeit. Eine Be-
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standsaufnahme des aktuellen Forschungs- und Diskussionstands, Hohengehren: Schneider Verlag, 121–139. Voigt-Kehlenbeck, Corinna (2008): Flankieren und Begleiten. Geschlechterreflexive Perspektiven in einer diversitätsbewussten Sozialarbeit, Wiesbaden: VS-Verlag.
Jungenarbeit und Intersektionalität 1 – und was dieses Thema in einem Mä dchenarbeitsbuch zu suchen hat MART BUSCHE, MICHAEL CREMERS
Die Debatten zum Thema Jungen- und Mädchenarbeit bzw. um die Belange von Mädchen und Jungen sind im deutschsprachigen Raum in der Regel voneinander abgekoppelt oder werden gegeneinander diskutiert. Da in den Seminaren der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« bereits seit Mitte der 80er-Jahre Mädchen- und Jungenarbeit durchgeführt wird – z.T. in enger Kooperation –, ist es für uns selbstverständlich und Ergebnis praktischer Erfahrungen, dass viele Fragen, die Jungen betreffen, verknüpft sind mit Fragen, die Mädchen betreffen, und viele Themen in Wechselwirkung stehen. Wir verstehen unseren Beitrag in diesem Buch zum Thema Mädchenarbeit als Aufforderung, diesen integrierenden Blick auf Jungen- und Mädchenarbeit zu schärfen und die Kooperation zwischen den beiden Bereichen zu stärken. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der geschlechterbezogenen Pädagogik mit der Fragestellung, wie eine intersektionale Perspektive, also eine Blickrichtung, die die Verschränkung von sozialen Ungleichheitskategorien wie Klasse oder Geschlecht berücksichtigt und thematisiert, in der Jungenarbeit aussehen kann. Dabei wird deutlich, dass Geschlecht zwar einen 1
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version des Artikels »Jungenarbeit und Intersektionalität«, der 2009 im Sammelband »Jungen und Jungenarbeit« von Detlef Pech im Schneider Verlag herausgegeben wurde.
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guten Anker für diese Perspektive darstellt, für eine nichtstereotypisierende Betrachtung von Jungen und auch Mädchen, die trotz allem die strukturellen Verhältnisse im Blick behält, jedoch nicht ausreicht. Die praktische und theoretische Grundlage dieses Artikels resultiert aus verschiedenen intersektionalitätsorientierten Prozessen und inhaltlichen Projekten in unserem (Arbeits-)Umfeld, d.h. der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« und Dissens e.V. in Berlin. So finden in der Heimvolkshochschule Weiterbildungen zu Critical Whiteness und zu geschlechterbezogener Pädagogik, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft statt. Dissens e.V. führt(e) drei Forschungsprojekte durch, die sich mit einer intersektionalen Perspektive auf Gewaltprävention beschäftigen.2 An beiden Orten werden zudem konkrete personale Veränderungen hinsichtlich mehrfacher Zugehörigkeiten und Repräsentationen diskutiert und durchgeführt. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Intersektionalität und den personalen Veränderungsprozessen speist sich einerseits aus der Frage nach Handlungsmöglichkeiten von weißen, deutschen, akademisch gebildeten Pädagog_innen und Wissenschaftler_innen wie uns, die mit einer wenig privilegierten Klientel arbeiten und andererseits aus einer eigenen, nicht immer durchgängig privilegierten Herkunft (z.B. materiell prekäres und bildungsfernes Elternhaus sowie ein damit verknüpfter mühsamer Bildungsweg) bzw. einer Verortung, die oft konträr zur mehrheitsgesellschaftlichen NORMalität liegt (z.B. nicht immer eindeutiger geschlechtlicher Phänotyp, nichthegemoniale Geschlechter- und Beziehungspraxen oder Widerstand gegen eine ökonomistische Verwertungslogik, die vor allem Leistung und Profit in den Vordergrund menschlichen Handelns und Arbeitens stellt). Mit dem Artikel verfolgen wir das Ziel, Anknüpfungspunkte für die Umsetzung einer intersektionalen Perspektive in der geschlechterbezogenen Pädagogik aufzuzeigen. Dazu stellen wir den feministischen Kontext bei der Entwicklung von Konzepten der Jungenarbeit sowie von Intersektionalität kurz dar, betrachten wertschätzend, aber kritisch die gleichstellungspolitische Richtlinie des Gender-Mainstreamings und plädieren für eine grundlegend andere Analyse der aktuellen Debatte um
2
Diese Projekte sind: »Intersektionale Gewaltprävention« (2007–2009), von Aktion Mensch gefördert, das EU-Projekt »PeerThink« (2007–2009), welches im Rahmen des Daphne-Programms gefördert wurde, sowie das aktuell durchgeführte EU-Projekt »Implementation Guidelines for Intersectional Peer Violence Preventive Work« (IGIV), welches im Rahmen des Grundtvig-Programms gefördert wird (2010–2012).
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die Benachteiligung von Jungen und der damit einhergehenden Geringschätzung von Mädchenbelangen und Mädchenarbeit.
1 . M ä nn l i c h e E r z i e h u ng s p r a x e n: D i e » er n s t e n S p i e l e d e s W et t b ew e r b s « Ein Blick auf die aktuelle Debatte um geschlechterbezogene Pädagogik bzw. geschlechterbezogene Förderbelange suggeriert, dass einerseits nur noch die Belange von Jungen von gesellschaftlicher Relevanz zu sein scheinen und andererseits eine von Männern durchgeführte Jungenförderung allenthalben zur pädagogischen »Wunderwaffe« auserkoren wird. Aber: Pädagogische Arbeit mit Jungen ist nicht neu. Schon vor Jahrhunderten wurden erzieherische Energien in Jungen und männliche Jugendliche investiert. So im Falle der Knabenführung des »antiken Griechenland« wie Astrid Kaiser ausführt: Es habe »Jahrhunderte – genauer mehr als zwei Jahrtausende – gedauert, bis überhaupt die primär gemeinten Jungen in pädagogischen Bemühungen verallgemeinert gesehen wurden und auch Mädchen prinzipiell mit gemeint waren« (Kaiser 2009: 31). Auch die von David D. Gilmore in seinem sehr populären Buch »Mythos Mann« (1991) beschriebenen Initiationsrituale lassen sich als Beispiele einer Pädagogik mit Jungen unter Ausschluss und in expliziter Abgrenzung zu Mädchen fassen. Bei diesen Ritualen werden heranwachsende Jungen von Männern in die Erwachsenenwelt eingeführt. Dabei folgen die männlichen Initiationen oft einem ähnlichen Grundmuster wie Rolf Pohl (2004) kritisch anmerkt: »Nach einer radikalen, häufig gewaltsamen Trennung von der weiblichen Welt, werden die Initianden komplizierten, mythologisch begründeten, symbolischen und realen Inszenierungen und Prüfungen unterworfen, um alle Spuren des Weiblichen aus Geist und Körper auszutreiben. Erst nach der Inszenierung des symbolischen Todes und einer anschließenden ›zweiten‹ Geburt, einer sozialen Wiedergeburt in der exklusiven Gruppe erwachsener Männer, ist eine Rückkehr in die weibliche Welt, nun als Mann und (meistens) auch als Krieger, möglich« (ebd.: 20).
Beide Beispiele zeigen, dass Maßnahmen bzw. pädagogische Bemühungen, die sich konkret und explizit auf Jungen beziehen, natürlich auch Auswirkungen auf Mädchen und entsprechende Geschlechterbilder haben bzw. in Relation zueinander stehen. Mädchen sind als pädagogische Zielgruppe vergleichsweise spät wahrgenommen worden, zudem dienten
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die hier beschriebenen Formen der geschlechtshomogenen »Initiationsräume« traditionell also in erster Linie der »Einführung« und »Einübung« in die männliche Welt, und das insbesondere durch die Abgrenzung von der weiblichen Welt. Mit Pierre Bourdieu (1997) lässt sich von einer extremen Form der »ernsten Spiele des Wettbewerbs« sprechen. Bourdieu spricht von gesellschaftlichen Feldern, in denen Männer unter sich sind und ernste Spiele abhalten, aus denen Frauen qua Geschlecht faktisch oder rechtlich ausgeschlossen sind. Diese männerbündischen Herrschaftsspiele finden nach Bourdieu aber nicht nur bei den männlichen Initiationsritualen statt, sondern reichen von der ökonomischen Konkurrenz über den wissenschaftlichen Wettstreit bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen. Michael Meuser (2005) betont, dass es sich hierbei um die »Aneignung und Darstellung von Männlichkeit« handelt (ebd.: 285), mit der Funktion, den männlichen Habitus in Abgrenzung vom weiblichen Habitus herauszubilden bzw. zu vollenden. Eine Analyse und Kritik dieser männerbündischen Praxen hat auch in der Geschichte der Mädchen- und Jungenarbeit eine große Rolle gespielt, wobei insbesondere eine geschlechterreflexive Verantwortung von Männern für die Erziehung und der (selbst-)kritische Umgang mit (patriarchaler) Männlichkeit einen zentralen Ausgangspunkt insbesondere der Jungenarbeit in der »Alten Molkerei Frille« bildet(e). Galt und gilt nun dieser (selbst-)kritische Blick auf Männer, Jungen und Männlichkeiten nur für die antisexistische Jungenarbeit in der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille«?
2 . E in k u r z e r B l i c k i n d i e G e s c h ic ht e d e r J u n g e na r b e i t : F e m i n is m u s a ls G r e t c h e n f r a g e Im Hinblick auf die Geschichte der Jungenarbeit beschreibt Connell (2000: 3) feministische Bewegungen als zentrale Antriebskraft für die weltweite Herausbildung von Jungenarbeit. Auch in Deutschland entwickelten Feminist_innen Mitte der 80er-Jahre eine parteiliche Mädchenarbeit und ebenso erste Konzepte der Jungenarbeit (Kaiser 1999; Prengel 1994). Dabei wurde auch eine Jungenarbeit gefordert, die von Männern praktisch umgesetzt werden sollte (vgl. HVHS »Alte Molkerei Frille« 1989: 60). Edgar Forster (2004) sieht die gemeinsame Ausgangslage der verschiedenen Jungenarbeitsansätze in der Erfahrung, »dass männliche Lebensrealitäten und tradierte Männlichkeitsbilder zunehmend auseinanderklaffen und männliche Vorbilder fehlen bzw. keine Männlichkeitsmodelle zur Verfügung stehen, die lebbar erscheinen. Hier setzt Jungen-
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und Männerarbeit mit unterschiedlichen Zielen, Methoden, Themen und ideologischen Positionierungen an« (ebd.: 477). Für den deutschsprachigen Raum konstatiert er, dass sich mit dem 1990 von Dieter Schnack und Rainer Neutzling veröffentlichten Buch »Kleine Helden in Not« ein neuer Blick auf Jungen ergeben habe und sich die neue Jungenarbeit aus der Tradition des Feminismus löse. Das schwierige Verhältnis zu feministischen Theorien und Praxen wird nunmehr als ständige Quelle der Unruhe wahrgenommen (vgl. Forster 2004: 478). So kritisiert Forster die Entwicklung einer Jungenarbeit, »die Autonomie gegenüber feministischen Ansprüchen bewahren oder gewinnen will« (Forster 2002: 7), eine Autonomie, die zuweilen auch ins Männerbündische abdriftet. »Wir Männer, so ist zu hören, entscheiden selbst, ob, wann und in welcher Form wir feministische Anliegen fördern« (ebd.).3 Dass der Feminismus als polarisierendes Moment seine Kraft weiterhin entfaltet, zeigt sich aus unserer Sicht nicht nur in vielen ähnlich lautenden Aussagen zur Jungenarbeit, wie sie Forster beschreibt, sondern auch in medial geführten Diskussionen, z.B. der Debatte über die Bildungsbenachteiligung von Jungen durch die sogenannte Feminisierung der Schule. Unseres Erachtens ist Jungenarbeit jedoch nur dann emanzipatorisch und kann zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen, wenn sie erstens auf die Kritik von feministischer Theorie und Praxis an sozialen und geschlechterbezogenen Verhältnissen zurückgreift und sich darüber hinaus zweitens gemeinsam mit Feminist_innen, Fachkräften der Mädchenarbeit und Gleichstellungsbeauftragten in Netzwerken organisiert. Dieser Prozess ist sicher nicht konfliktfrei, aber gerade deshalb lohnt er sich. Ausgefochtene Konflikte tragen nicht nur zur Vermittlung unterschiedlicher Positionen bei, sondern verdeutlichen oft auch unterschiedliche Motivationen und Betroffenheiten. Aus unserer Sicht und Erfahrung ist dies ein notwendiger und hilfreicher Reflexionsprozess, damit politische Bildung einerseits der Komplexität gesellschaftlicher Strukturen und andererseits den Kindern und Jugendlichen gerecht werden kann. Jungenarbeit sollte also ihr Erbe annehmen und vor dem Hintergrund der sich ausdifferenzierenden Lebenslagen von Jungen und Mäd3
»Mit der Kritik der Political Correctness formieren sich Männer gegen Frauen. Was sie eint, ist die vehemente Zurückweisung, sich von Frauen Jungenarbeit vorschreiben zu lassen. Darin besteht das Männerbündische. (…) Wenn es Männern aber mit Geschlechterdemokratie ernst ist, dann haben wir Männer uns damit zu konfrontieren, warum wir auf nur allzu berechtigte Forderungen von Frauen nach Gleichheit mit derartiger Aversion reagieren« (Forster 2002: 7).
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chen in eine neue Auseinandersetzung mit feministischen Ansätzen treten, zu denen auch der Intersektionalitätsansatz zu zählen ist. Mit der sich zunehmend verbreitenden Einsicht, »dass die Verhältnisse der Einwanderungsgesellschaft und die Geschlechterverhältnisse in ihrem Zusammenhang gedacht werden müssen« (Leiprecht 2008: 95), gilt es ebenfalls, Ansätze der antirassistischen und interkulturellen bzw. diversitätsbewussten4 Pädagogik einzubeziehen. »Dabei sind die Voraussetzungen für eine inhaltliche Zusammenarbeit von Geschlechterpädagogik und Interkultureller Pädagogik nicht schlecht: Beide Teildisziplinen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft haben für ihre zentralen Kategorien – Geschlecht, Kultur, Ethnizität – das Prinzip der Konstruktion in den Mittelpunkt gestellt und sich damit gegen Biologisierungen bzw. Naturalisierungen gewandt; und beide Teildisziplinen streben nach einem Subjektbegriff, bei dem das Individuum weder als vollständig determiniert noch als völlig losgelöst von den sozialen Bedingungen betrachtet wird« (ebd.). Begriffe wie doing gender, doing culture oder doing ethnicity beschreiben diese unterschiedlichen Konstruktionsprozesse, die in der Regel verdeckt und naturalisiert auftreten und entlang von Gegensatzpaaren funktionieren (Jungen sind laut, also sind Mädchen eher leise). Sie zeigen die Handlungsfähigkeit des Subjekts – auch im Sinne von inkorporierten Bewältigungsstrategien – und verdeutlichen gleichzeitig die alltägliche Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse (ebd.; vgl. auch Weber 2008). Die Diskussion der Reproduktion dichotomer Verweisstrukturen in der Mädchen- und Jungenarbeit kann dazu beitragen, Kindern und Jugendlichen alternative Konzepte anbieten zu können und ihnen Wege aufzuzeigen, um sich von den naturalisierten Stereotypen zu entfernen oder sich ihnen gar zu verweigern. Niedrigschwellig kann in der Mädchen- und Jungenarbeit vermittelt werden, dass es völlig in Ordnung ist, wenn Jungen tanzen oder weinen und Mädchen sportlich oder muskulös sind. In einem Seminar zur Zukunftsplanung ist es für viele Jugendliche hilfreich und entlastend, wenn sie darüber sprechen und reflektieren, ob Männer immer Allein- oder Haupternährer sein müssen oder Frauen grundsätzlich Kinder bekommen sollten, bzw. wenn sie Kinder bekom4
Da in dem Begriff der »interkulturellen Pädagogik« häufig eine Konzeption von irgendwie manifesten »Kulturen«und daran anhängigen Vorstellungen von Integration derselben in eine »Mehrheitsgesellschaft« mitschwingen, bevorzugen wird den Begriff der »diversitätsbewussten Pädagogik«, der auch von Leiprecht in einer späteren Publikation als Erweiterung und Kritik interkultureller Ansätze vorgeschlagen wird (Leiprecht 2009: 215f.).
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men, ob sie dann hauptverantwortlich für deren Erziehung zuständig sein müssen.
3 . H e t e r o g e n i t ä t d er e r JJu ungenarbeit Wenn heute von Jungenarbeit gesprochen wird, sollte unserer Meinung nach etwas anderes als die eingangs beschriebene Herrschaft absichernde und ritualisierte Erziehungspraxis von erwachsenen Männern mit Jungen und männlichen Jugendlichen durch die Einübung der »ernsten Spiele des Wettbewerbs« gemeint sein. Jungenarbeit sollte vielmehr die soziale (und biologische) Kategorie Geschlecht zum Ausgangspunkt theoretischer und pädagogischer Überlegungen nehmen, ohne sie als Ungleichheitskategorie zu reproduzieren. Der nach Geschlechtern segregierte Arbeitsmarkt, ausgedrückt in der Bewertung der jeweiligen Tätigkeiten (horizontale Segregation) und den Zugangsmöglichkeiten zu Führungspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen (vertikale Segregation), die ungleiche Einkommenssituation von Männern und Frauen sowie die ungleiche Verteilung von Teilzeitarbeit, Elternzeit, Haus- und Familienarbeit sind nach wie vor strukturelle Kennzeichen sexistischer und patriarchaler Dominanzverhältnisse, von denen Jungen/Männer und Mädchen/Frauen in unterschiedlicher Weise betroffen sind. Diese patriarchale Struktur zeigt sich aber auch in den Peergroups, so ist z.B. »du Mädchen« ebenso ein Schimpfwort wie »du Opfer«, das wir in unserer Praxis der geschlechterbezogenen Pädagogik in der »Alten Molkerei Frille« schon häufig gehört haben, dagegen »du Junge« noch nie. Der einfache Grund ist der, dass es als Abwertung nicht funktioniert. In Abgrenzung zu anderen pädagogischen Zielsetzungen und Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit, sollte Geschlechtergerechtigkeit ein zentrales Anliegen von geschlechterbezogener Pädagogik und damit auch von Jungenarbeit sein. Auf Grund der relationalen Geschlechterverhältnisse ist die Aneignung von theoretischem Wissen zu den pluralen Lebenslagen und heterogenen Geschlechterkonstruktionen von Jungen für eine reflektierte und professionelle Umsetzung von Jungenarbeit ebenso unerlässlich wie die inhaltliche Beschäftigung mit den pluralen Lebenswirklichkeiten und heterogenen Geschlechterkonstruktionen von Mädchen: Es gibt weder die Mädchen noch die Jungen. Diese plurale Heterogenität beruht unter anderem auf Verschränkungen der Kategorie Geschlecht mit anderen Kategorien wie Alter, Klasse und Ethnizität, deren Komplexität und vor allem auch Widersprüchlichkeit eine der größeren Herausforderungen für die Umsetzung von Jungenarbeit und
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geschlechterbezogener Pädagogik überhaupt darstellt. Theoretische Überlegungen und Analysen der Verschränkungen können zwar Produktionsweisen und Erscheinungsformen von sozialer Ungleichheit sichtbar machen, für die oft »nichtkategoriale«, d.h. der Kategorisierbarkeit widerständige Realität der Bildungspraxis steht eine kritische Konzeptionalisierung des Intersektionalitätsansatzes noch aus. Deshalb nähern wir uns dem Ansatz zunächst affirmativ und loten auf der Basis der bestehenden Konzepte die Möglichkeiten von Intersektionalität für eine differenziertere Jungenarbeit aus. Die Kompetenz, Geschlechterinszenierungen – auch in ihrer Widersprüchlichkeit – zu erkennen und die Fähigkeit, Jungen (und Mädchen) möglichst schon in der Früh- und Elementarpädagogik (vgl. Krabel/Cremers 2008) darin zu fördern, ihre geschlechterbezogenen Handlungskompetenzen zu erweitern und stereotypes Verhalten zu hinterfragen, verschafft den Fachkräften eine vielversprechende Grundlage für die Berücksichtigung weiterer Kategorien.
4. In ntt e err s e k t io n a l i t ä t – E n t w ic k l u n g e n i n n e r h a lb d e r G e s c h l e c ht e r f o r s c h u n g In den Debatten »innerhalb« feministischer Theorie und Praxis hatte die Verschränkung verschiedener Kategorien bereits seit den 70er-Jahren eine besondere Bedeutung. So kritisierten schwarze Frauen den universalisierenden Anspruch der weißen, bürgerlichen amerikanischen Frauenbewegungen und beschrieben Herrschaftssysteme als miteinander verschränkt (Combahee River Collective 1981: 210). Die Kritik an der Ausgrenzung weiterer marginalisierter Frauen (z.B. Frauen mit Behinderung, proletarische Frauen, Migrantinnen, Jüdinnen, Lesben, intersexuelle Frauen) fand auch in anderen Ländern, wie z.B. Deutschland5, ihren Ausdruck.6 Mit etwas zeitlichem Abstand wurden dann komplexe Analysemodelle erstellt, mit denen die unterschiedlichen Systeme von Ungleichheit zu fassen sind, wobei der Intersektionalistätsansatz momentan der prominenteste ist (vgl. z.B. McCall 2005; Winker/Degele 2009). 5 6
Vgl. hierzu ausführlich Walgenbach 2007. In der Männerforschung weisen z.B. Haywood und Mac an Ghaill (2003: 136ff.) auf die zunehmende Bedeutung von »dissident masculinities« hin. Vor allem Schwulenbewegungen, schwarze Aktivisten, Initiativen von Transsexuellen und »queer activists« greifen die bestehende Geschlechterordnung an, indem sie ebenso wie die verschiedenen Frauenbewegungen Homophobie, Rassismus und Zwangsheterosexualität als Machtverhältnisse und Herrschaftskonstruktionen thematisieren (vgl. Forster 2004: 479).
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Das Konzept der Intersektionalität versucht unterschiedliche Kategorien und Strukturen der Ungleichheit als Überlappung sozialer »simultaner Prozesse« (Fenstermaker/West 2001) zu beschreiben. Dadurch gelangt in den Blick, »dass je nach Interaktionskontext die Relevanz dieser Kategorien bzw. Ordnungsmuster variieren kann« (Herwartz-Emden 2008: 110), wobei die unterschiedlichen Kategorien je nach Kontext in den Vorder- bzw. den Hintergrund treten, aber weiterhin existent sind und nicht einfach ›verschwinden‹ (Rendtorff 2005; nach HerwartzEmden 2008: 110). Nach Nina Degele und Gabriele Winker (2007) sollte die Relevanz der Kategorien vom Untersuchungsgegenstand und von der jeweiligen Untersuchungsebene abhängen. Ihnen erscheint es deswegen sinnvoll, »soziale Praxen, d.h. Prozesse in Form von Interaktionen und Handlungen in den Blick zu nehmen und die dort vorfindbaren Differenzierungskategorien vor allem in ihren Wechselwirkungen zu untersuchen. Auf dieser Grundlage können wir analysieren, in welche Strukturen (inkl. Institutionen) und symbolischen Kontexte die sozialen Praxen eingebunden sind, wie sie Identitäten hervorbringen und verändern. Genau das soll eine Intersektionalitätsanalyse leisten« (Degele/Winker 2007: 3). Kritiker_innen des Intersektionalitätsansatzes gebieten jedoch auch eine gewisse Wachsamkeit: Einerseits liegt es dem Intersektionalitätsansatz nahe, die Vorstellung eines genuinen Kerns einer Kategorie zu transportieren, wenn nur die Verschränkungen von Kategorien betrachtet werden (Walgenbach 2007: 23)7. Andererseits bedeuten die Einordnung in Kategorien und die Produktion von Kategorien als solche schon einen herrschaftlichen Akt der Beurteilung und normativen Begrenzungen, die das Potenzial des Uneindeutigen oder der Verweigerung der Einordnung als kritische Praxis verschenkt (Lorey 2008).8 In der deutschsprachigen sozialen Arbeit, Pädagogik und politischen Bildung wird eine intersektionale Perspektive bisher erst vereinzelt eingenommen bzw. eingefordert (vgl. Leiprecht/Lutz 2005; Mecheril 2003; Weber 2008; Herwartz-Emden 2008). Im Folgenden möchten wir des7 8
Weshalb Katharina Walgenbach den Vorschlag macht, von interdependenten Kategorien zu sprechen (ebd.). Dies gilt zum Beispiel, wenn offensichtlich benachteiligte Hauptschüler mit Migrationshintergrund auf die Frage, ob sie in Deutschland gleichberechtigt sind, im Brustton der Überzeugung antworten: »Ja, natürlich!« Damit verweigern sie in dem Moment die ihnen eigentlich gesellschaftlich zugedachte soziale Einordnung und entziehen sich dem NORMalisierenden Diskurs, der sie als die aus der bürgerlichen Mehrheitsperspektive »Anderen« konstruiert, auch wenn ihre Selbstkonstruktion potenziell darauf verweist.
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halb drei Dimensionen einer intersektionalen Perspektive für die Jungenarbeit aufzeigen: Erstens Intersektionalität als Analysefolie für öffentlich geführte Debatten, zweitens Intersektionalität als pädagogische Haltung sowie abschließend Intersektionalität als Analysefolie für Jungengruppen.
5 . E in i n t e r s e k t io n a le r B l ic k a u f d a s (A u s - )B il d u ng s s y s t e em m Die folgenden Ausführungen zur Ungleichheit im deutschen (Aus-)Bildungssystem wählen wir zum einen auf Grund der immensen Öffentlichkeit dieser Debatte, die unter anderem auch dazu führt, dass allenthalben nur noch von Jungenförderung, aber nicht mehr von Mädchenförderung die Rede ist. Des Weiteren deshalb, weil gerade diese Debatte die Notwendigkeit einer multidimensionalen Analyse und entsprechenden multidimensionalen Strategien zur Behebung dieser Situation offenbart. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das Bildungsniveau insgesamt im Vergleich zu den vorherigen Generationen in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist (vgl. Stürzer 2005: 20). Trotzdem lässt sich – besonders nach den Veröffentlichungen der PISA-Studien – eine dramatisierende und leistungsbezogene Debatte beobachten, die vor allen Dingen Jungen als die »neuen« Verlierer des Bildungssystems ausmacht.9 Eine intersektionale Perspektive könnte hier entscheidend zur Entdramatisierung beitragen und auf institutioneller wie auch struktureller Ebene gezielte Vorschläge zur Behebung des Problems machen. Wichtig ist dabei eine Analyse, die sich nicht nur auf die Kategorie Geschlecht bezieht. Denn Bildungskarrieren korrelieren immer auch mit weiteren sozialen Merkmalen: »Soziale Merkmale der jungen Menschen – ihre soziale, ethnische und regionale Herkunft, ihr Geschlecht – beeinflussen ihre Bildungskarrieren, entweder unabhängig von ihrer Leistung oder auch, weil Leistungen zum Teil mit Lebensbedingungen zusammenhängen, die wiederum mit den genannten sozialen Merkmalen verknüpft sind« (Geißler 2002: 333).10
9
Die Angst um den Wettbewerbsstandort Deutschland ist ein entscheidender Faktor dieser Debatte. 10 Zudem sind berufsbiografische Lebensläufe an die Entwicklung von Arbeitsmarkt und Sozialstaat, bzw. an politische Entscheidungen diese gesellschaftlichen Felder betreffend, gebunden.
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Entgegen der jungenfokussierten Benachteiligungsdiskussion lassen sich Privilegien und Benachteiligungen in erster Linie nach wie vor am klassenspezifischen Zugang zu Bildung festmachen. Eine differenzierte Betrachtung der vorliegenden Daten belegt, dass die Bildungschancen vor allem von den sozioökonomischen Bedingungen und Bildungshintergründen der Eltern beeinflusst werden (vgl. Deutsches PISA Konsortium 2004; Geißler 2005; Alt 2006; Weber 2008; Andresen 2008; HerwartzEmden 2008). Je höher der Schulabschluss der Eltern, desto häufiger besuchen die Söhne und Töchter das Gymnasium und desto eher entscheiden sie sich für ein Studium (vgl. Stürzer 2005: 33). Wird die staatliche oder ethnische Zugehörigkeit mit einbezogen, werden die Qualifikationspotenziale von Schüler_innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit am wenigsten angemessen entwickelt. Sie stehen nach dem Beenden ihrer regulären Schullaufbahn insgesamt am häufigsten ohne jeden Schulabschluss da und stellen überdies die größte Gruppe der Schüler_innen mit Hauptschulabschluss und die kleinste Gruppe derjenigen mit Realschulabschluss bzw. Hochschulreife. Dies gilt in besonderem Maße für Schüler_innen mit türkischem Migrationshintergrund (MAGS 2007: 294; Prenzel et al. 2004: 264) und liegt nicht im Status der Migration begründet, sondern in den sozioökonomischen Verhältnissen. Die Ergebnisse der DJI-Kinderpanel-Daten stellen die enge Verbindung zwischen sozialer und ethnischer Herkunft dar. »Kinder aus allen sozioökonomisch schlechter gestellten Familien haben schlechtere Noten. Zusätzliche migrationsbedingte Unterschiede gibt es nicht. […] Bemisst man die soziale Herkunft eines Kindes am Haushaltseinkommen und am Schul- und Ausbildungsniveau seines Elternhauses, so gehören 31% der deutschen, […] aber 87% der türkischen Kinder zur Gruppe mit der geringsten Ausstattung« (Alt 2006: 17).11
Eine differenziertere Untergliederung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigt zudem, dass hier große Unterschiede bestehen. »Familien mit Migrationshintergrund sowie all diejenigen Familien, in denen kulturelle Differenzerfahrungen vorliegen, unterscheiden sich natürlich deutlich nach ihrer Herkunft, den Migrationsgeschichten und -motiven, ihrem Alter, dem sozialen Status der Familie und dem Bildungshintergrund, ihrem Aufenthaltsstatus sowie ihren Sprachge11 Erklärungsansätze zu den Ursachen von Bildungsungleichheit und Interventionsmöglichkeiten werden in der Expertise von Leonie HerwartzEmden »Interkulturelle und geschlechtergerechte Pädagogik für Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren« (2008) ausführlich diskutiert und dargelegt.
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wohnheiten […]« (Herwartz-Emden 2008: 4). Migrationshintergrund erhöht die Chancenungleichheit im Bildungssystem dann, wenn sich fehlende Bildung mit Perspektivlosigkeit und erlebter Ausgrenzung paart, wobei Armut meist auf unzureichender Bildung und Arbeitslosigkeit basiert (vgl. Andresen 2008: 44). Für Akteur_innen einer intersektionalen Jungenarbeit liegt es also nahe, bei Analysen, die nur eine Kategorie (»Jungen«) kennen, misstrauisch nach weiteren Zusammenhängen zu fragen und sich somit den aktuellen Dramatisierungen entgegenzustellen. Die spätestens seit PISA 2003 festzustellende Diskussion um die angebliche Bildungsmisere von Jungen, die mit Bezeichnungen wie »Bildungsbenachteiligung«, »Jungenkatastrophe« oder »Krise der Jungen« einherging, platziert zwar das längst überfällige Thema »Jungenförderung« in der öffentlichen Debatte, blendet aber gleichzeitig die weiterhin bestehende Notwendigkeit von Mädchenförderung und die Unterschiede in der Gruppe der Jungen aus. Es gibt neben den schlechten ebenso durchschnittliche, erfolgreiche und sehr erfolgreiche Schüler. So waren Jungen beispielsweise in den Ergebnissen der ersten PISA-Studie nicht nur bei den Risikoschüler_innen zahlenmäßig häufiger vertreten als Mädchen, sondern auch in der Gruppe der sehr erfolgreichen Schüler_innen (vgl. Deutsches PISA Konsortium 2004). Jungenarbeit hat unseres Erachtens in diesem Zusammenhang ebenfalls die Aufgabe, sich den Beiträgen in den Auseinandersetzungen um die sogenannte »Feminisierung in KiTas und Schulen« inhaltlich entgegenzustellen, die die Professionalität und Kompetenz von weiblichen Erzieherinnen und Lehrerinnen infrage stellen und pauschal mehr »Männer in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen« fordern. Akteur_innen der Jungenarbeit müssen immer wieder aufs Neue darauf hinweisen, dass ein geschlechterbezogener Blick in der pädagogischen Arbeit (auch in der Schule) gut und notwendig ist. Gleichzeitig muss aber immer wieder betont werden, dass strukturelle Ungleichheiten, von denen auch und vor allem bestimmte Jungen betroffen sind, nicht durch ein männliches Identifikationsangebot gelöst werden können. So erscheint es fragwürdig, dass in den Mediendebatten und Fachdiskussionen zwar »die mütterlichen Erziehungsleistungen, die Leistungen weiblicher Lehrkräfte, die Berufsorientierung von Männern in den Blick [geraten; d. A.], wohingegen die sozialen Rahmenbedingungen wie sozialer Status, die Arbeitsverhältnisse, das Verhältnis von Schule und Familie, das familiäre Zeitbudget, die materielle Situation der Familie und eine Unterfinanzierung der pädagogischen Institutionen als gegeben hingenommen werden« (Andresen 2008: 37).
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Die Zentralität der Forderung nach männlichen Fachkräften und die Infragestellung der vor allem (jungen-)pädagogischen Kompetenzen von Erzieherinnen und Lehrerinnen scheinen zwei Seiten derselben und häufig antifeministischen Medaille zu sein. Vorausgesetzt wird die Annahme, Jungen bräuchten mehr Identitäts- und Identifikationsangebote, die ihnen – nur oder besser – von Männern angeboten werden können. Dabei wird der Mann in der medialen und pädagogischen Debatte zum strahlenden Retter erklärt, der die (ebenfalls vorausgesetzten sowie dramatisierten) Probleme der Jungen nur aufgrund seines biologischen Geschlechts lösen kann. Eine solche Herangehensweise hat wenig mit den vorliegenden Daten zur Beliebtheit von z.B. männlichen Lehrkräften bei Jungen (vgl. Zimmermann 2006)12 oder den Auswirkungen männlicher Lehrkräfte auf die Schulnoten von Jungen zu tun (vgl. Klein 2004) und lässt sich noch weniger mit der Idee von Geschlechtergerechtigkeit vereinbaren. Vielmehr wird dadurch die patriarchale Hierarchie zwischen Männern und Frauen am Beispiel pädagogischer Fachkräfte reproduziert. Zudem unterlässt es die schlichte Forderung nach mehr Männern z.B. in der Grundschule, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass diese von den Männern seit den 60er-Jahren »scharenweise verlassen« wird (Neutzling 2005: 61), unter anderem deshalb, weil sich dort im Vergleich zu den weiterführenden Schulen »keine Karriere machen ließ« (ebd.). Anhand dieses Beispiels soll deutlich werden, wie eine intersektionale Perspektive öffentliche Debatten kritisch hinterfragt und der Jungenarbeit dazu verhilft, den Fokus einerseits auf Strukturen (klassenbezogene Bildungsselektion) und andererseits auf bestimmte, u.a. auch geschlechtlich markierte Untergruppen (Jungen aus sozioökonomisch schwachen Familien mit einer bestimmten Migrationsgeschichte) zu richten, und damit Jungenarbeit ausdifferenziert und politisiert. Im Folgenden wollen wir eine Dimension erörtern, die sich als unterstützend in dem vorher beschriebenen Prozess der Politisierung erweist bzw. potenziell erweisen kann: Denn auf der strukturellen Ebene bietet GenderMainstreaming eine mögliche Perspektive, die die ausdifferenzierte intersektionale Analyse und die Verantwortung für die Gestaltung des institutionellen Handlungsrahmens nicht allein einzelnen pädagogischen Fachkräften überlässt. 12 In einer Befragung von Schülern zwischen 13 und 17 Jahren äußerte deutlich mehr als die Hälfte der Schüler, es sei ihnen egal, ob sie von einem Mann oder einer Frau unterrichtet werden. Die zweitgrößte Gruppe findet mit 18%, dass die Antwort vom Fach abhängt. 17% möchten generell lieber von Frauen und 6% lieber von Männern unterrichtet werden (vgl. Zimmermann 2006).
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6 . G e n d e r - M a i n s t r e a m i n g a l s A nk n ü p f u n g s p u n k t f ü r I nt er s ek t io na l i t ä t Durch Gender-Mainstreaming13 wird die Förderung von Gleichberechtigung vermehrt auf die Ebene von Organisationen, Institutionen und Verwaltungen verlagert. Diese sollen in alle Entscheidungsprozesse die Perspektive auf Geschlechterverhältnisse mit einbeziehen und die Ergebnisse dieses Prozesses für die Gleichberechtigung der Geschlechter nutzbar machen (vgl. Stiegler 2000). Mithilfe von Gender-Analysen wird überprüft, ob und inwiefern politisch-administrative Entscheidungen sich jeweils unterschiedlich auf Lebenslagen und Lebensverhältnisse von Jungen und Mädchen sowie Frauen und Männern auswirken und nimmt die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Bedingungen, in denen Jungen/Männer und Mädchen/Frauen leben, in den Blick. Eine Analyse von Organisationen, mit dem Ziel, Gender als Querschnittsaufgabe zu implementieren, erscheint uns sinnvoll und hilfreich, weil damit Abstand genommen wird von einer individualisierenden Sichtweise, in der die alleinige Verantwortung für pädagogische Prozesse den Eltern, pädagogischen Fachkräften und ihrem pädagogischen Handeln zugeschrieben wird (vgl. Leiprecht 2008: 96). Kritisch sehen wir, dass beim Gender-Mainstreaming allerdings meist der Blick nur auf Jungen/Mädchen und Frauen/Männer bzw. deren Relationen gerichtet wird. Der Fokus gleichstellungspolitischer Strategien sollte sich vielmehr auf alle Geschlechterverhältnisse beziehen, um erstens die hierarchischen Verhältnisse innerhalb der Genusgruppen thematisieren zu können und zweitens zu verhindern, dass alle diejenigen aus dem Blick geraten, die sich zwischen den Geschlechtern bewegen oder sich weder als männlich noch weiblich definieren (lassen), und damit eine ausschließlich zweigeschlechtliche Perspektive überwinden wollen. Wenn Gender-Mainstreaming um diese Kritik und die Analyse weiterer Hierarchien und Ungleichheiten ergänzt wird, bietet es als entindividualisierende Top-Down-Strategie brauchbare Anknüpfungspunkte für eine intersektionale Perspektive.
13 Gender-Mainstreaming ist eine politische Gleichstellungsstrategie, die im Anschluss an die Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking von der Europäischen Union aufgegriffen und seit 1999 auch von der Bundesregierung zu einem Leitprinzip für das Regierungshandeln erhoben wurde. Laut den Beschlüssen der Europäischen Union ist Gender-Mainstreaming eine Strategie, mit der eine tatsächliche Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Männern erreicht werden soll.
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7 . E in e i nt er s e k t i o n a l e H a l t u ng i n d er Ju ng en arb e it Neben den diskursiven und strukturellen Dimensionen möchten wir zum Schluss noch einen Blick in die Praxis der Jungenarbeit werfen. Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei Jungenarbeit nicht um eine Methode, sondern um eine Sichtweise und Haltung handele (vgl. hierzu z.B. Forster 2002). Ähnlich verhält es sich mit der Intersektionalität, die auf der Ebene der Umsetzung durch die Jungenarbeiter_innen einer Haltung gleichkommt, die strukturelle und individuelle Ungleichheiten im Blick hat und zugleich versucht, einen kritischen Blick auf potenzielle »neue Exklusionen« zu werfen, um diese immer wieder aufs Neue zu dekonstruieren. So gibt es im pädagogischen Alltag immer wieder Situationen, wo es zu einer Konstruktion von »den Anderen« und einem »Wir« kommt, wobei das »Wir« i.d.R. die Position der Dazugehörenden und damit die höherwertige Position markiert. In Deutschland wird dieses »Othering«14 (»Veranderung«) aktuell in erster Linie auf Menschen, die von der Hartz-IV-Gesetzgebung betroffen sind, auf Menschen mit bestimmten Migrationshintergründen, homosexueller Orientierung sowie auf als »behindert« bezeichnete Menschen angewendet. Diese »Othering-Prozesse« finden sich grundsätzlich auch in den öffentlichen »Jungendiskursen« wieder. So gelten im öffentlichen Diskurs sogenannte bildungsferne Jungen/Männer und Männer mit muslimischem Hintergrund als weniger gleichstellungsorientiert als weiße, deutsche Mittelschichtsmänner und -jungen. Auch der Gewaltdiskurs wird meist auf junge Männer mit bestimmtem Migrationshintergrund begrenzt (vor allem mit türkischem, arabischem und russischem Hintergrund). Aber nicht nur in den Diskursen über Jungen finden sich durch Hierarchisierung gekennzeichnete Ausschlüsse und Zuschreibungen. Auch die Beziehungen innerhalb der »Genusgruppe Jungen« sind durch Dominanz und Unterordnung strukturiert, die sich oftmals über Ausschlussprozesse generieren (vgl. z.B. Connell 2000; Phoenix 2008) und zu beengenden Homogenisierungen führen. So kommen Jungen in der Peergroup unterschiedlich gut an. Eine hegemoniale bzw. vorherrschende Position innerhalb der Jungengruppe haben Jungen (im Sinne von als männlich anerkannt), denen die Attribute Heterosexualität, Härte, Macht, Autorität, Konkurrenzorientierung, Unabhängigkeit, Sportlichkeit, psychische und körperliche Stärke zugeschrieben werden und die 14 Zu »Othering« siehe auch »Augen auf und durch!« in diesem Buch.
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sich mit Mutproben behaupten (können). Jungen, die eine Brille tragen (»Missgeburt«) und ebenso dicke Jungen (»Fettsack«) haben entsprechend häufig einen schweren Stand in den Peergroups. Ebenfalls werden Jungen und männliche Jugendliche, die sexuelle Anzüglichkeiten von Klassenkameraden gegenüber Mädchen tadeln, Jungen, die Röcke tragen und/oder sich schminken, homophile und dem eigenem Geschlecht fürsorglich und zärtlich zugewandte Jungen sowie Jungen, die sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekennen, für den Verstoß gegen die »Männlichkeitsnormen und -hierarchien« mit Irritation, Verachtung, Ausgrenzung bis hin zu Gewalt bestraft, auch wenn diese Gefahr milieuspezifisch unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Infolgedessen stehen die meisten Jungen gerade in der Peergroup unter dem NORMalitätsdruck, von anderen nicht für schwul, weiblich und kindlich gehalten zu werden. »Wer vom ›Männlichkeitskodex‹ abweicht, wird ›schwul‹ genannt und verliert den Anspruch ein Mann [bzw. männlich; d. A.] zu sein. Die Angst vor Ausgrenzung zwingt zu einem konformen Verhalten« (Timmermanns 2008: 18). Gerade der enge Zusammenhang zwischen Homophobie, Männlichkeitsdruck und Weiblichkeitsabwehr sowie die Bedeutung dieses Zusammenhangs für das soziale Verhalten von vielen Jungen, den Darstellungen des eigenen Körperhabitus bis hin zur Abwehr weiblich konnotierter Tätigkeitsbereiche und Berufe, verdeutlicht die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den komplexen Lebenswirklichkeiten von Jungen. Das gilt aber auch im Hinblick auf Jungen, die trotz der NORMalisierenden Zuschreibungen unbehelligt »unmännliche« Geschlechterinszenierungen ausleben. So legen beispielsweise die Ergebnisse der Studien zu »Hegemonialität in Jungengruppen« zwar nahe, dass sich in der männlichen Sozialisation kulturübergreifende Gemeinsamkeiten finden, in denen körperliche Kraft und Auseinandersetzungen einen hohen Stellenwert haben (vgl. Herwartz-Emden 2008: 38). In diesem Zusammenhang lässt sich auch das körperliche Gewaltverhalten unter jungen Männern interpretieren, welches sich zumindest statistisch meist gegen andere junge Männer richtet. Denn Gewalt lässt sich mit Michael Meuser (2005) als eine männliche Strategie des körperlichen Riskierens begreifen (vgl. ebd.: 281). Aber es verbietet sich, männliches jugendliches Gewaltverhalten »einzig im ethnisch-kulturellen Herkunftskontext« (Herwartz-Emden 2008: 38) zu verorten und zu dramatisieren, wie es immer wieder in Medienberichten und auf Fachtagungen zu Jungen und Jungenarbeit geschieht.15 Ebenso fatal ist es andererseits, wenn auf denselben Fachta15 Ganz zu schweigen von einer tendenziell rassistischen Justiz, die nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland (vgl. Mansel/Albrecht 2003) da-
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gungen und in den öffentlich medialen Debatten die friedfertigen Jungen – und das ist die Mehrheit – völlig vergessen bzw. von der Berichterstattung verdeckt werden.16 Mit einer intersektionalen Perspektive können solche Stereotypen und Leerstellen sichtbar gemacht werden, da der Blick nicht nur auf Prozesse der Hegemonialisierung, sondern auch auf das Ungesagte gerichtet wird.17
8 . F a c e t t e n e i ner i nt er s e k t io n a le n J u ng e na r b e it Eine geschlechteremanzipatorische, intersektionale Perspektive, die die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und auch innerhalb der Geschlechtergruppen betrachtet, muss den Blick verstärkt auf die verschiedenen gesellschaftlichen Partizipationschancen und Lebenslagen von Jungen richten, um angemessene Angebote für alle Jungen und jungen Männer entwickeln zu können. Dies gilt auch für die Mädchenarbeit. Die Pädagog_innen in der Jungenarbeit sollten Jungen und jungen Männern durch eine wertschätzende, aber auch kritische Haltung die Möglichkeit bieten, sich mit den Auswirkungen des Männlichkeits- und Coolnessdrucks auseinanderzusetzen, um sich von einengenden und zunehmend dysfunktionalen traditionellen Männlichkeitsmustern und -zwängen emanzipieren zu können. Dies schließt eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Verweisen auf Weiblichkeitsbilder mit ein (siehe auch »Bilder von Mädchen« in diesem Buch). Wie bereits weiter
für sorgt, dass die Gefängnisse voll sind mit jungen Männern, die nicht der weißen, bildungsnahen Mittel- und Oberschicht angehören. 16 Friedfertigkeit (und nicht nur die von Jungen und Männern) lässt sich scheinbar medial nur schlecht vermarkten. Dabei ist die Frage danach, wie man(n) trotz der vielen gewalttätigen Strukturen und den medial durchaus häufig präsentierten gewalttätigen männlichen Vorbildern friedfertig wird, mindestens genauso spannend wie die Frage danach, wie man(n) gewalttätig wird. Die Präventionsforschung setzt sich zunehmend mit der Frage nach den Voraussetzungen von Friedfertigkeit auseinander. So wird beispielsweise in dem EU-Projekt STAMINA jugendliches Resilienzverhalten mittels intersektionaler Analyse beforscht und für die Präventionsarbeit fruchtbar gemacht (www.stamina-project.eu). 17 So zeigt Huxel (2008) auf, wie Ethnisierung in der medialen Berichterstattung über jugendliche Gewalttäter dazu führt, dass die Kategorie Männlichkeit generell als potenziell gewaltbegünstigendes Moment wieder ausgeblendet wird und Gewalt zu einem Problem von bestimmten Migranten wird (vgl. ebd.).
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oben für die Jungenarbeit ausgeführt, sollten Mädchenarbeiter_innen ebenfalls die unterschiedlichen Männlichkeitskonstruktionen und ihre Wechselwirkungen mit Weiblichkeitskonstruktionen kennen, die von Mädchen affirmiert und eingeübt werden. Ebenso sollten sie gegen die Verwendung stereotyper Männlichkeitsbilder intervenieren, die in Mädchengruppen zuweilen abgerufen werden und die die Marginalisierung bestimmter Jungen durch die Überschneidung verschiedener deprivilegisierender Zugehörigkeiten oder Merkmale übersieht. Vor dem Hintergrund struktureller De-Thematisierungen von Mädchenbelangen, ist das zwar viel verlangt, kann aber auch ein Ansatzpunkt für eine gemeinsame differenziertere geschlechterbezogene Pädagogik sein. Denn mit einer intersektionalen Perspektive können differenziertere und komplexere Analysen erstellt werden, die Jungen und Mädchen nicht zu einer homogenen Masse machen und deshalb auch bessere Unterstützungsleistungen in der Bewältigung der Herausforderungen des Lebens bieten können. Es passt daher gut zu einer intersektionalen Perspektive, dass schon seit einiger Zeit die Defizitorientierung in der Jungen- und Mädchenarbeit verstärkt kritisiert wird, da mit ihr immer schon die NORMsetzung des zu Erreichenden vorausgesetzt ist. Darüber hinaus wird mit dieser Orientierung die Veränderungsleistung einzig und allein dem Individuum zugeschrieben. Strukturelle Ursachen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Umgang mit Unterschiedlichkeit bleiben von der Analyse und damit für die Praxis ausgeblendet. Intersektionale Jungen- und Mädchenarbeit könnte versuchen, die unterschiedlichen Biografien stärker zu berücksichtigen und mit Hilfe der Bearbeitung individueller Geschichten an den jeweiligen Ressourcen anzuknüpfen, um somit eine eigenständige Entwicklung zu initiieren. Wobei Biografien wie Schnittstellen gesellschaftlicher Differenzierungen und Hierarchien anzusehen sind. Deswegen braucht eine intersektionale Perspektive in der Jungenund Mädchenarbeit einen reflexiven und historisierenden Umgang mit den Kategorien, die verwendet werden und stellt eine Verbindung zwischen Strukturen und den subjektiven Lebenslagen her: Einerseits können so die realen Bedeutungen der Kategorien im Alltag deutlich werden, andererseits können mit Blick auf die historischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse das Gewordensein bestimmter Kategorien und die damit verbundenen Ausschlüsse, Entindividualisierungsmechanismen oder Homogenisierungstendenzen aufgezeigt werden.18 Dies gilt auch für die Reflexion der von der Jungenarbeit benutzten Kategorien
18 Vgl. hierzu ausführlich Degele/Winker (2007) und Winker/Degele (2009).
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(z.B. »Junge«), auch diese müssen auf ihre Herrschaftsproduktion befragt werden. So sollte sich Jungenarbeit von der Existenz nur einer Männlichkeit konzeptionell verabschieden. Mit der Benutzung von »Männlichkeiten« im Plural wird auf die Verbindung von Männlichkeit mit anderen gesellschaftlichen Differenzierungen wie soziale Klasse, Sexualität, Nationalität usw. verwiesen. Um der ebenfalls offenen Kategorie des »JungeSeins« Rechnung zu tragen und die Relationalität und Interdependenz dieser Kategorie mit anderen Kategorien, die ebenfalls nicht als abgeschlossen betrachtet werden können, deutlich zu machen, könnte eine andere Schreibweise gewählt werden, wie es in diesem Buch mehrfach angewendet wird: Um sich auf »Jungen« und »Mädchen« zu beziehen und gleichzeitig das Nichtsagbare, Nichtdefinierte, Widersprüchliche und über die Zweigeschlechtlichkeit Hinausweisende deutlich zu machen, könnte der dafür gebräuchliche Unterstrich am Ende der Bezeichnung stehen: Jungen_, Mädchen_. Mit diesem Zeichen können die Irritationen und Ent-Selbstverständlichungen vorangetrieben werden und Sätze wie »Jungen brauchen ...«, »Mädchen sind immer ...«, die Jungen_arbeit, Mädchen_arbeit bzw. eine gemischte pädagogische Arbeit u.a. mit Jungen_ eindimensional und stereotyp werden lassen, vielleicht etwas seltener werden.19 Wir möchten das Denken von Jungen_ und Mädchen_ als offenen und vielschichtigen Kategorien, die sich letztendlich ihrer einengenden Kategorisierung in der Praxis auch widersetzen und sich nicht fassen lassen, üben und etablieren.20 19 Intendiert ist dabei eine deutliche Bezeichnung der Begrenzheit, die sich aus zweigeschlechtlichem Denken ergibt. Es geht darum, die dichotome Verweisstruktur insgesamt infrage zu stellen und im Sinne der Dekonstruktion eine Verschiebung der Bedeutungsgrenzen von Begriffen zu ermöglichen. In den Worten Derridas: »Man gesteht ihnen [den alten Begriffen; d.A.] keinen Wahrheitswert und keine strenge Bedeutung mehr zu, man wäre sogar bereit, sie bei Gelegenheit ganz aufzugeben, für den Fall, das passendere Werkzeuge zur Hand sind. Bis dahin wird ihre relative Wirksamkeit ausgebeutet und benutzt, um die alte Maschine, der sie angehören und deren Versatzstücke sie sind, zu zerstören« (Derrida 1967: 430). 20 Dabei haben wir über unterschiedliche Möglichkeiten der Schreibweise nachgedacht: »_Jungen_« ist eine weitere Variante, die uns gefallen hat, die eventuell für die Beschreibung von Prozesshaftigkeit genutzt werden kann. Auch »Junge+« ist eine Möglichkeit, die Verwobenheit und das Sein mit weiteren bedeutungsgebenden Kategorien zu betonen, birgt aber wiederum die Gefahr der dichotomisierenden Abwertung mit der Möglichkeit des negativen Gegenpols »Junge–« in sich und legt ein additives Verständnis nahe, nachdem nur manche Jungen_ durch weitere Kategorien gekenn-
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Dahinter steht der Wunsch, Verschiedenheit für den einzelnen Jungen_, das einzelne Mädchen_ lebbar zu machen und mit einer Diskussion um strukturelle Ungerechtigkeit in der Jungen_arbeit zu verbinden. Denn es gilt »Verhältnisse zu schaffen, die jedem Kind und Jugendlichen, auf dem Hintergrund jedweder Herkunftsbedingung, jeden Geschlechts und Alters, Chancengleichheit im Bildungssystem [und überhaupt; d. A.] gewährleisten« (Herwartz-Emden 2008: 3).
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zeichnet sind. Ebenfalls möglich wäre eine Verwendung des Unterstrichs innerhalb des Wortes »Jun_ge«, was zwar den Vorteil der sprechbaren »Lücke« beinhaltet, aber dennoch die symbolische Abgeschlossenheit des Wortes nicht aufbricht.
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Bilder von Mädchen 1. Zur P roduktion roduk tion von Weiblichkeit in der Jungen _ arbeit arbe it BJÖRN NAGEL
In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle Mädchenbilder in der Jungenarbeit in Bezug auf den Ansatz der geschlechtsbezogenen Pädagogik und die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse spielen. Dazu werde ich zunächst Theorieansätze skizzieren, die mir für eine geschlechterkritische Gesellschaftsanalyse geeignet scheinen. Dann will ich die Erfahrungen und Beobachtungen aus meiner pädagogischen Praxis, der Jungen_arbeit in der »Alten Molkerei Frille«, und meiner Tätigkeit für andere Träger reflektieren und schließlich Impulse für eine Weiterentwicklung geschlechtsbezogener Pädagogik erarbeiten. Meine These ist, dass geschlechtsbezogene Pädagogik in erster Linie eine Arbeit an Geschlechterverhältnissen sein muss, und dass geschlechterstereotype Mädchen- und Jungenbilder, in ihrer Allgegenwart und ihrer Reflexion, dieser Zielrichtung nicht zuträglich sind.
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Ich hätte gerne in dem gesamten Artikel mit einer Unterscheidung zwischen Mädchen und Mädchen_ beziehungsweise Junge und Junge_ gearbeitet. Ich werde diese Differenzierung im Fazit erläutern. Aufgrund der redaktionellen Bedenken wird allerdings der Unterschied zwischen meiner queer-intersektionalen Perspektive auf vergeschlechtlichte Menschen und geschlechterstereotypen Bilder nicht mehr sichtbar.
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Dabei möchte ich folgenden Fragen nachgehen: Welche Bedeutung haben die gesellschaftsanalytischen Erkenntnisse und theoretischen Bemühungen für einen politischen Bildungsansatz wie den der geschlechtsbezogenen Pädagogik? Wie ist das Verhältnis von Theorie und Erkenntnis und einer daraus resultierenden Haltung? Welche Rolle sollte die Haltung der Pädagog_innen2 in der pädagogischen Arbeit spielen? Inwiefern sollten Pädagog_innen ihre Bilder von Mädchen und Jungen sowie ihre Methoden überdenken?
1 . S o z i a l e K a t e g o r i e n u n d i hr e R e l e v a n z f ü r d i e P ä d a g o g ik Spätestens bei der Geburt wird jedes Baby einer der beiden Geschlechterkategorien zugeordnet. So sieht es die gesellschaftliche Praxis vor. Diese Zuordnung wird durch verschiedene Diskurse naturalisiert. Ein Beispiel dafür sind evolutionstheoretische Diskurse, in denen geschlechtsbezogene Unterschiede mit der menschlichen Evolution erklärt werden und die in Bücher vorkommen, wie »Warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können«. Sie zielen auf die Herstellung einer vermeintlichen Essentialität von Geschlecht ab und verdecken gleichzeitig ihre biologistische Argumentation. Dadurch erscheint vielen Menschen die Geschlechtsidentität als natürlich, unveränderlich und für ein Leben lang geltend.3 In performativer Weise werden Körper vergeschlechtlicht, was bedeutet, Geschlecht »[…] als Aktivität zu begreifen, die hervorbringt, was sie lediglich auszudrücken scheint. Die Konstruk-
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Auf Wunsch der Herausgeber_innen schreibe ich mit kleinem »i« weiter. Eine Kombination aus Unterstrich und Binnen-I hätte ich vorgezogen, weil sie meines Erachtens eine feministische Intervention in die Sprache sichtbar macht (Englert et al. 2009: 10). In der BRD gibt es zwar das Transsexuellengesetz (TSG), das einen Geschlechterwechsel rechtlich ermöglicht. Aber diese Möglichkeit ist mit einer langen Prozedur, bestehend aus psychosozialer Begleitung und medizinischer Behandlung, verbunden. Durch die notwendige medizinische Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung und den Zwang, sich eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, werden die Betroffenen pathologisiert. Die Norm einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit wird per Gesetz, unterstützt durch die Krankenkassen, aufrechterhalten. Zur Position der Transsexuellen in der deutschen Gesellschaft siehe auch »TransRäume« in diesem Buch.
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tion von Geschlecht erfolgt diesem Verständnis nach durch ein Zitieren vorhandener Geschlechterdiskurse« (Hartmann 2004: 258). Durch eine solche Vergeschlechtlichung wird den Körpern ein Platz in der hierarchisch strukturierten Gesellschaft zugewiesen. Wo dieser Platz genau ist, welche Möglichkeiten und Chancen sich bieten, aber auch mit welcher Wahrscheinlichkeit Diskriminierungserfahrungen gemacht werden, hängt nicht nur von der Frage ab, ob der jeweilige Körper als männlich oder weiblich kategorisiert wurde, sondern auch von einer Vielzahl anderer, meist miteinander verschränkter Kategorien, wie zum Beispiel Schwarz/weiß4, migrantisch/nichtmigrantisch, homosexuell/heterosexuell, behindert/nichtbehindert, religiös/nichtreligiös, jung /alt, um nur einige zu nennen (Busche/Cremers 2009: 17f.). Diese Kategorien werden zwar der gesellschaftlichen Realität mit ihrer Vielzahl an Subjektpositionen nicht gerecht, bilden jedoch die normative Grundlage der Vergesellschaftlichung und Hierarchisierung von Körpern. Auch wenn es bezüglich der Frage, welche Eigenschaften und Merkmale für die Zuordnung in eine dieser Kategorien ausschlaggebend sind, in den vergangenen Jahrhunderten diskursive Umdeutungen und Verschiebungen gegeben hat, erweist sich diese gewaltsame Einteilung5 als äußerst funktional und stabil. Funktional in dem Sinne, dass sie einzelnen Interessengruppen den Zugang zu Privilegien sichert, und stabil, weil sie trotz diverser gegenläufiger Bemühungen weiterhin erfolgt. Früher gab es zum Beispiel in Deutschland für Mädchen keine Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen. Heute haben Mädchen im Schnitt zwar bessere Schulnoten als die Jungen (BMBF 2008: 16ff.), sind aber später unterproportional in den Führungspositionen vertreten (BMFSFJ 2009: 29). Gemein ist all diesen Ordnungskategorien, dass sie dichotom gedacht werden. Intersexuelle, Trans- und Queer-Identitäten werden in den Diskursen um Geschlecht unsichtbar gemacht oder es wird versucht, sie in den jeweiligen Dualismus einzuordnen. Im Fall von Intersexuellen geschieht dies zum Beispiel durch operative Anpassungen. Verbunden mit diesen Dualismen sind verschiedene Vorstellungen und Bilder. In Bezug auf die Kategorie Geschlecht gibt es eine Vielzahl 4
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»Schwarz« schreibe ich groß, um auf die angeeignete Identität hinzuweisen, »weiß« klein, um die Problematik und Konstruiertheit dieser Kategorie zu verdeutlichen. Sie dazu auch »Augen auf und durch« in diesem Buch. Dass diese Einteilung gewaltsam ist, wird deutlich, wenn Menschen sich dieser widersetzen und nicht der Norm entsprechen können oder wollen (vgl. Presse-AG des Drag-Festivals 2008).
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von Diskursen, die versuchen zu vermitteln, wie ein Mädchen oder ein Junge zu sein hat.6 Trotz gewisser Überschneidungen und Widersprüche von Verhaltensweisen und Merkmalen entstehen in jedem Individuum Bilder dessen, was als weiblich und was als männlich angesehen wird. Jedes Individuum wird von der Gesellschaft vor die Aufgabe gestellt, eine Geschlechtsidentität zu konstruieren, die dem bei der Geburt verordneten Geschlecht entspricht. Andernfalls drohen gesellschaftliche Sanktionen, wie Ausschluss, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Benachteiligung am Arbeitsplatz (vgl. Lombardi et al. 2001). Die Konstruktion der jeweils »richtigen« Geschlechtsidentität erfolgt in einem komplexen Wechselspiel aus einer Konfrontation mit den geschlechtlichen Zuschreibungen des sozialen Umfeldes und einer individuellen Positionierung zu eben diesen gesellschaftlichen Normen. Praxen müssen erlernt und zum Bestandteil der eigenen geschlechtlichen Performanz gemacht werden, die gesellschaftlich als geeignet angesehen werden, um eine Zugehörigkeit zu dem verordneten Geschlecht herzustellen. Aus der möglichen Vielfalt geschlechtlichen Seins muss eine Auswahl getroffen werden, die den gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen entspricht und somit eine möglichst »authentische« geschlechtliche Inszenierung im Gegenüber hervorruft.7 Gelingt eine solche Inszenierung, wird der Teil nicht geschlechterkonformen Seins durch das soziale Umfeld nicht problematisiert, ja überhaupt nicht wahrgenommen und gesellschaftliche Sanktionen bleiben aus. Zahlreiche Arbeiten dekonstruktivistischer Theoretiker_innen haben dazu geführt, dass die Idee einer natürlichen zweigeschlechtlichen Ordnung als dekonstruiert angesehen werden kann. Mädchen und Jungen sind demnach nicht an sich unterschiedlich, sondern sie machen täglich unterschiedliche Erfahrungen, weil (beziehungsweise auch gleiche Erfahrungen obwohl) sie diskursbedingt mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollenerwartungen konfrontiert werden und unterschiedliche Räume und Möglichkeiten zugestanden bekommen. In diesem zugestandenen Rahmen wird Geschlecht performativ erzeugt. Mit
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Ein aktuelles Beispiel sind die Lernbücher des Verlags Pons, dessen Lehrbuch speziell für Mädchen heißt: »Weil Mädchen anders lernen« (vgl. Janz 2009). Am Beispiel von Transsexuellen kann die Notwendigkeit einer adäquaten Auswahl deutlich werden: Einige TransFrauen »überspitzen« ihre geschlechtliche Inszenierung zum Beispiel durch Make-up oder Hüftschwung dermaßen, dass sie wiederum als »Fälschung« wahrgenommen werden.
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der queer theory8 gibt es ein Analyseinstrument, das den Fokus der Frage nach der geschlechtlichen (Re-)Produktion von dem »Wie« des Konzeptes des doing gender (vgl. Faulstich-Wieland 2004) auf das »Warum« verschiebt und dadurch bestehende Machtverhältnisse sichtbar macht: »Queer Theory erkennt eine wesentliche Dimension von Machtverhältnissen im gesellschaftlichen Hervorbringungsprozess von geschlechtlichen und sexuellen Subjekten, die der Gesellschaft so nicht als ›Andere‹ gegenüberzutreten vermögen. Subjekte gelten als gleichursprünglich mit Diskursen. Sie können nicht unabhängig von diesen wahrnehmen, denken und fühlen, finden Diskurse immer schon vor und haben innerhalb von deren Horizont die Möglichkeit, sich alltäglich zu verhalten und verändernd zu wirken« (Hartmann 2004: 259).
Wird nun noch eine intersektionale Perspektive auf die Subjekte der pädagogischen Arbeit eingenommen, wird also mitgedacht, ob die Personen als Schwarz/weiß, migrantisch/nichtmigrantisch oder anderen Kategorien zugeordnet werden, ist es wenig sinnvoll, von einer homogenen Zielgruppe der eigenen pädagogischen Arbeit auszugehen. Die von dem (medialen) Mainstream der Gesellschaft als außerhalb der Norm stehend bezeichneten Lebensrealitäten von trans- und intersexuellen Menschen und die daraus resultierenden, täglich für diese Menschen erfahrbaren Diskriminierungen bis hin zu Übergriffen, die ihr Leben gefährden (Haritaworn 2009: 51f.), wären eigentlich schon Grund genug, die zweigeschlechtliche Ordnung unserer Gesellschaft in ihrer (Re-)Produktion zu hinterfragen, Alternativen aufzuzeigen und andere Räume zu öffnen. Wird die zweigeschlechtliche Ordnung erst einmal als soziale Leistung und nicht mehr als naturgegeben verstanden und wird darüber hinaus die eigene Biografie vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen reflektiert, die durch den normativen Druck der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Gesellschaftsordnung gemacht wurden, kann festgestellt werden, dass gewaltvolle Situationen erlebt wurden. Die heteronormative Matrix wirkt auf alle Menschen in Bezug auf die Vielfalt der Identitätsfindungsmöglichkeiten einschränkend. Lediglich das Maß, in dem die Einzelnen unter dieser Matrix leiden, variiert mit dem Maß der Nichterfüllung dieser Norm. Eine Aufweichung der Matrix käme demnach einem Freiheitsgewinn für alle, nicht nur für trans- und intersexuelle Menschen, gleich. Eine solche Aufweichung kann jedoch nur erfolgen, wenn die der pädagogischen Arbeit zugrunde liegenden Geschlech-
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Zur Einführung empfehle ich »Queer Theory« von Annamarie Jagose (2001).
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terbilder reflektiert und hinterfragt werden. Eine solche Reflexion und Hinterfragung soll nun exemplarisch vorgestellt werden.
2. Mädchenbilder in der Jungenarbeit Sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in den Massenmedien gibt es ein bis heute anhaltendes Interesse an der Frage, welches Jungenbild der Jungenarbeit und einer geschlechtergerechten Koedukation zugrunde liegen soll.9 Dass auch Mädchenbilder der Jungenarbeit zugrunde liegen, und wie diese aussehen, findet meist keine Berücksichtigung. Nur wenige Jungenarbeiter_innen haben in diesem Kontext eine Sensibilität für das Thema entwickelt. Stuve führt bereits 2001 aus, dass bei der (Re-)Produktion einer Geschlechtsidentität gegenwärtig fast immer ein Bild von dem »anderen«, vermeintlich komplementären Geschlecht erzeugt und eine Aussage über das »Nichtbezeichnete« gemacht wird: »Die Dichotomie stellt ein Werkzeug zur Organisierung von Wahrnehmung und Erfahrung dar, mit dessen Hilfe das Eigene und das Andere mit den je spezifischen Eigenschaftsmustern konstituiert wird« (Stuve 2001: 287).
In der pädagogischen Praxis können dafür leicht Bespiele gefunden werden, wenn der Kontakt zu Jungen beziehungsweise Mädchen mit einem sensibilisierten Blick erfolgt und kritisch reflektiert wird. Im Folgenden möchte ich Beispiele aus meiner Arbeit in Frille rekonstruieren und analysieren. Dabei bediene ich mich der fiktiven Figur von Mert, wenn ich nicht selber gehandelt, sondern die Arbeit eines Kollegen beobachtet habe. In der Jungenwoche, einer Ferienfreizeit, die gewöhnlich in den Herbstferien angeboten wird, gingen wir mit den Jungen in die Sporthalle. Beim »Völkerball«10, ein Spiel, welches die Jungen sich gewünscht hatten, hörte Mert, dass ein Junge einen anderen mit »Du Mädchen!«
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Gegenwärtig wird im Diskurs von einem defizitären Blick auf Jungen und einer Feminisierung von Jungen durch die Überrepräsentation von Frauen im Bildungswesen ausgegangen (vgl. Spiegel Special 2004). 10 In Ermangelung eines besseren Begriffs verwende ich hier das Wort »Völkerball«, welches die Idee von verschiedenen, miteinander konkurrierenden Völkern (re-)produziert und damit dem Ansatz einer transkulturellen Pädagogik entgegensteht.
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beleidigte.11 Mert machte dem Jungen deutlich, dass er so etwas hier nicht hören wolle. Auf dem Rückweg fragte Mert den Jungen, warum dieser »Du Mädchen!« zu dem anderen gesagt habe. Der Junge antwortete, dass die Mädchen in seiner Klasse, genau wie der beschimpfte Junge, beim Völkerball nur herumständen und abgeworfen werden. Hier wird nicht nur ein Bild davon (re-)produziert, was ein Mädchen ist, sondern im Vordergrund steht die Abwertung von Weiblichkeiten.12 Ein Junge wird durch eine Beschimpfung dafür sanktioniert, dass er sich nicht so verhält, wie ein anderer Junge es von ihm erwartet: Er soll sich aktiv verhalten und versuchen, dass Spielgeschehen zu beeinflussen. Da er diesem Bild in den Augen des anderen Jungen nicht gerecht wird, wird er mit einer geschlechtlichen Zuweisung diffamiert und als Mädchen beleidigt. Auf dem Rückweg gerät der Junge, der die Beschimpfung ausgesprochen und gemerkt hat, dass dieses Verhalten von Mert nicht gutgeheißen wird, durch Merts Frage in Rechtfertigungsdruck. Er begründet sein Verhalten mit der Passivität des beschimpften Jungen im Spiel, der sich in seiner Logik wie ein Mädchen aus seiner Schulklasse verhalten hat. In dieser Situation (re-)produziert der Junge ein klares Bild von dem, was ein Mädchen ist: ein Mädchen steht passiv in der Gegend herum, behindert den in der Jungensozialisation wichtigen Wettkampf und ist dadurch eine »Spaßbremse«, während andere das Geschehen bestimmen. Dass es sich hier nicht um eine Beschreibung des Verhaltens der Mädchen in der Klasse des Jungen handelt, sondern um Geschlechterstereotypen, die zur Festigung von Hierarchien beitragen, ist offensichtlich. Darüber hinaus spricht er dem anderen Jungen seine »Männlichkeit« ab, welche ein zentraler Baustein von dessen Identität ist, und verleiht dem »Schimpfwort« dadurch noch mehr Wirkungsmacht. Der Junge entwirft ein generalisiertes Bild von Mädchen, das der sozialen Wirklichkeit mit seinen verschiedenen Subjekten nicht gerecht wird. Andere Identitäten, wie zum Beispiel das laute, aktive, sportlichehrgeizige Mädchen, finden hier keine Berücksichtigung beziehungsweise keine positive Anerkennung. Auch die Tatsache, dass es andere Gründe für passives Verhalten im Sport gibt, wird ausgeblendet. Das Mädchen, das, ebenso wie der nicht an Sport interessierte Junge, keine
11 Dass »Du Mädchen!« eine Beleidigung ist, zeigt, wie viel Abwertung in der Sprache steckt. 12 Ich schreibe an dieser Stelle bewusst im Plural, um erneut darauf hinzuweisen, dass es nicht die Frau oder den Mann gibt. Es gibt so viele Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit, wie es Menschen gibt.
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Motivation für diesen Wettkampf aufbringen kann, wird mit seinen Bedürfnissen und Interessen nicht gesehen. Der Junge bezeichnet ein bestimmtes Verhalten mit der Kategorie weiblich, naturalisiert es und schreibt es damit fest. Er schreibt den Mädchen, die er dem einen Pol der Zweigeschlechtlichkeit zuordnet, eine bestimmte Art und Weise zu, sich zu verhalten und erklärt dieses Verhalten durch seine Zuordnung: Mädchen stehen herum und werden abgeworfen, weil sie Mädchen sind. Und sie sind Mädchen, weil sie herumstehen und abgeworfen werden. Einer solchen Vorstellung liegt ein komplementäres Verständnis von Jungen zugrunde. Ein Junge ist anders: Er ist aktiv, kann handeln, muss sich nicht seinem Schicksal ergeben, sondern kann das Spielgeschehen entscheidend mit beeinflussen. Nur vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von Jungen konnte der andere Junge beschimpft und für sein Verhalten verurteilt werden. Seine Passivität kommt vor dem Hintergrund solcher Geschlechterbilder einem schuldhaften Verhalten gleich: Er ist doch anders und könnte sich deshalb auch anders verhalten, er will nur nicht und wird deshalb abgewertet und als Mädchen beschimpft. Eine solche Beschimpfung ist in der Nähe zu homophoben Äußerungen angesiedelt, denn meistens wird ein Schwuler als verweiblichter Mann verstanden (vgl. Connell 2006: 183). Aber nicht nur zwischen Jungen beziehungsweise Mädchen spielen Bilder von dem, was männlich oder weiblich ist, eine Rolle. Auch in der Interaktion zwischen Teilnehmer_innen und Pädagog_innen sind Geschlechterstereotype bei der Bewertung von Handlungen und Positionierungen von Gewicht. Auch hier werden Bilder davon erzeugt, was »männlich« und was »weiblich« ist. Im folgenden Fall war ich direkt involviert. Ich war mit einer Jungengruppe in der Schwimmhalle und achtete bei einem circa zehnjährigen Jungen nach dem Umziehen darauf, dass seine Haare beim Föhnen wirklich trocken wurden, als dieser ganz erstaunt, aber nicht abwertend, zu mir sagte: »Du bist ja wie meine Mutter.« An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Junge ein klares Bild davon hat, wie sich seine Mutter verhält und welche Aufgaben sie hat. Dass es sich hierbei nicht nur um ein Bild handelt, das er von seiner Mutter, sondern von Müttern beziehungsweise von Frauen allgemein hat, zeigt sich in seiner Verwunderung. Das fürsorgliche Verhalten, das er bei mir entdeckt, ist für ihn klar einem der beiden ihm bekannten Geschlechterpole zuzuordnen. Wenn nun ein Mensch vom »anderen« Geschlecht sich genauso verhält, sorgt dies für Irritation. Der Junge ist verwundert und erfreut. Ich erfahre in
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diesem Moment Dankbarkeit und Anerkennung,13 und denke, dass der Junge möglicherweise gerade sein Bild von meiner Männlichkeit erweitert: Das, was Frauen können, kann ich in seinen Augen auch. Die Idee von zwei unterschiedlichen, natürlichen Geschlechtern, die sich in ihrem Aussehen und Verhalten, ihren Ansichten und Aussagen verschieden und somit »geschlechtertypisch« verhalten, ist bei Pädagog_innen untereinander ebenso zu finden wie im Blick der Pädagog_innen auf die Teilnehmer_innen. Das möchte ich am folgenden Beispiel verdeutlichen: Auf einem Treffen von Pädagogen, die verschiedene Männergruppen leiten, hörte ich als Antwort auf die Frage, welche Bedeutung die Situation einer reinen Männergruppe für die teilnehmenden Männer habe, dass die Männer direkt zum Punkt kommen könnten und sich nicht verstellen bräuchten. Hier wird ebenfalls deutlich, dass ein naturalisiertes Verständnis von Männlichkeit zugrunde liegt. Demnach gibt es eine natürliche Wesenhaftigkeit des Mannes, die Bezugspunkt ist und das hier angesprochene »Nicht-Verstellen« erst ermöglicht. Das dahinter stehende Bild ist, dass Menschen mit weiblichem Sozialisationshintergrund einfach anders seien. Sie kämen mit dem, wie Männer seien, nicht klar und würden deshalb fordern, dass Menschen mit männlichem Sozialisationshintergrund sich verstellen sollen. Auch die Ebene der Beziehungsarbeit kann durch die eigene Haltung neu gestaltet werden, zum Beispiel in folgender Situation: Auf einer von den Schüler_innen organisierten Party (außerhalb der Seminareinheit) gab es verschiedene Aufführungen, unter anderem eine BreakdancePerformance. Ein Junge, der das gesamte Seminar über versucht hatte, seine Stellung als Klassenchef beizubehalten und auszubauen, tanzte im Vordergrund, während vier im Hintergrund tanzende Mädchen versuchten, möglichst sexy im Sinne der in Musik-Videoclips vermittelten Bilder zu wirken.14 Dieses Verhalten deute ich als Reproduktion von Geschlechterverhältnissen und entscheide mich bewusst für eine der möglichen pä13 Das gilt jedoch nur für die eine Seite: Wenn sich Menschen mit männlichem Sozialisationshintergrund sogenannte »Frauendomänen« aneignen, erhalten sie in der Regel Anerkennung und werden aufgewertet. Umgekehrt stoßen Menschen mit weiblichem Sozialisationshintergrund meist auf Ablehnung, wenn sie sich »männlich dominierte« Bereiche aneignen. 14 Hierbei handelt es sich natürlich um meine Interpretation der Situation. Durch meinen Fokus auf die Kategorie Geschlecht blende ich an dieser Stelle aus, dass ein solches Verhalten vor dem Hintergrund anderer Trennlinien wie Klasse oder Religion durchaus eine emanzipatorische Rollenerweiterung sein kann.
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dagogischen Interventionen, die am wenigsten den Reproduktionscharakter der Situation stärken. Dabei kann ich zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen, wie zum Beispiel: Gehe ich einfach weg, um ihm zu zeigen, dass ich sein Verhalten gerade nicht gut finde? Oder frage ich ihn anschließend, wie sich das wohl für die Mädchen angefühlt haben muss, als er so im Mittelpunkt stand? Oder sage ich hinterher zu ihm, dass ich es besser gefunden hätte, wenn alle zusammen getanzt hätten? In diesem Fall entschied ich mich dazu, sein Verhalten zu ignorieren, indem ich demonstrativ wegsah. Diese Reaktion halte ich allerdings im Nachhinein nicht mehr für die beste Lösung. Sicherlich war es in dieser Situation für mich das Einfachste, mich so zu verhalten, und es stellt sich auch die Frage, bei welcher Intensität von geschlechterstereotypem Verhalten auch außerhalb von pädagogischen Einheiten interveniert werden sollte. Aber für den Jungen wurden die Zusammenhänge, die mein Verhalten bedingten, nicht sichtbar. Aus meiner jetzigen Sicht wäre ein Kommentar wie »Cool getanzt, aber ich hätte es besser gefunden, wenn ihr was zusammen gemacht hättet« besser gewesen. Diese Beispiele zeigen, wie in »männlichen« Zusammenhängen ein stereotypes Bild von Weiblichkeit erzeugt wird, und dabei die Abwertung von Weiblichkeiten ein integraler Bestandteil »männlicher« Selbstdefinition ist.15 Die Protagonisten (re-)produzieren die Idee genereller, meist als natürlich verstandener Unterschiede zwischen Menschen mit weiblichem und männlichem Sozialisationshintergrund. Anhand einer selektiven Wahrnehmung, die von erlernten Geschlechterstereotypen geleitet wird, sehen sie ihre Vorurteile immer wieder aufs Neue bestätigt. Dabei (re-)produzieren sie eine diskriminierende und sexistische Gesellschaftsordnung. Pädagog_innen sind hier vor die Aufgabe gestellt, sich dazu zu verhalten.
15 Die Abwertung von Weiblichkeiten ist sehr weitreichend. Ein weiteres Beispiel ist die Spiegel-Special-Ausgabe »Das starke Geschlecht. Was Frauen erfolgreich macht«. Bereits der Erscheinungsart liegt ein abwertendes Verständnis von Weiblichkeiten zugrunde: Männer sind qua Geschlecht erfolgreich, bei Frauen ist es eine Sonderausgabe wert, um zu zeigen, dass sie erfolgreich gemacht werden können. Spannend ist an dieser Stelle auch das Passiv – wer oder was ist es, was Frauen erfolgreich macht?
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3 . G e s c h l e c h t s b e z o g e n e P ä d a g o g i k u n d H a lt u n g In einer zweigeschlechtlich normierenden Gesellschaft setzt eine Arbeit an Geschlechterverhältnissen bei Menschen an, die gelernt haben, sich als Jungen oder als Mädchen zu verstehen, da das Gesetz kein »Dazwischen« zulässt. Die geschlechtsbezogene Pädagogik bezieht sich auf diese Kategorien, kann jedoch die mit diesen Kategorien verbundenen Normen infrage stellen und mit anderen Geschlechtern beziehungsweise Geschlechterentwürfen arbeiten. Sie muss sich bewusst sein, dass auch sie Geschlecht und Geschlechterverhältnisse reproduziert. Jedoch kann sie Räume jenseits dieser (Re-)Produktionspraxen eröffnen. Ein Beispiel dafür sind Jungen, die in der Freizeit gemeinsam mit Mädchen den Verkleidungskeller nutzen, ausgelassen viel Spaß am Ausprobieren haben und durch »weibliche« Kostümierung Gender-Crossing betreiben. Wenn die heteronormative Matrix nun als historisch gewachsene und kulturell (re-)produzierte Ordnung verstanden wird, darf dies nicht dazu führen, dass die Hierarchien, die mit dieser Struktur einhergehen, außer Acht gelassen werden. Es darf sich keine Beliebigkeit nach dem Motto »alle sind ja gleich« einschleichen, sondern es muss immer wieder aufs Neue der Blick für die an die verschiedenen Kategorien gekoppelten Diskriminierungen geschärft werden. Denn die oben angeführten Überlegungen zeigen nur, dass es keine natürliche, biologische oder essentialistische Grundlage für die verschiedenen sozialen Kategorien gibt. Das heißt nicht, dass sie nicht die Grundlage für die gegenwärtige soziale Ordnung bilden und zugleich der Absicherung von Privilegien dienen. Dieses, sowie das oben skizzierte Wissen um die Konstruiertheit von Geschlecht und anderen sozialen Kategorien, bildet die Grundlage für die pädagogische Haltung. Diese Haltung kann als eine kritische Reflexion des Prozesses der eigenen Vergeschlechtlichung sowie als Erarbeitung und Vertretung einer eigenen, kritischen Position zu gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen, insbesondere bezogen auf die Kategorie Geschlecht, definiert werden. Eine solche Haltung stellt eine größere pädagogische Ressource dar als bloßes Methodenwissen. Mehr noch: Jede Methode ist abhängig von der jeweiligen Haltung. Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, dass Homophobie in meiner Jungengruppe einer der Hauptfaktoren dafür ist, dass von der Norm abweichendes Verhalten sanktioniert wird, kann ich meine Methoden in diese Richtung variieren. Ich kann zum Beispiel in die Methode »Mannopolis« (Neue Wege für Jungs 2005) Fragen zum Thema Homosexualität aufnehmen und auf homophobe Äußerungen reagieren, indem ich sie hinterfrage, mich positioniere und andere Mei-
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nungen mit der Gruppe herausarbeite. Dabei ist es natürlich wichtig, das Interesse der Teilnehmer_innen im Blick zu behalten, ein Thema nicht überzustrapazieren, sondern kurze, prägnante Impulse, Signale und Denkanstöße zu setzen. Schon allein eine Positionierung der Teamer_in kann andere Räume öffnen und eine Erlaubnis sein, andere Erfahrungen zu machen oder sich selber anders zu positionieren. Eine Pädagogik, die einen dekonstruktivistischen Ansatz hat, darf nicht nur die Dekonstruktion der Bilder, die mit einer der Geschlechterkategorien einhergehen, zum Ziel haben, sondern die Dekonstruktion der zugrunde liegenden Kategorien an sich sowie der Geschlechterverhältnisse selbst. Ansonsten ist keine nachhaltige Veränderung von Geschlechterverhältnissen möglich und es kann kein Raum entstehen, welcher der real existierenden Geschlechtervielfalt gerecht wird. Deshalb muss geschlechtsbezogene Pädagogik immer die soziale Konstruiertheit der Zweigeschlechtlichkeit mitdenken und sich auf die Kategorien Mann und Frau als Ordnungskategorien beziehen, die bestimmte Geschlechterverhältnisse (re-)produzieren und gewisse Privilegien sichern. Ihr Ziel muss es sein, den Raum für die Veränderung dieser Verhältnisse zu öffnen, um den einzelnen Körpern mehr Spielräume zu ermöglichen. Dabei muss immer mit gedacht werden, dass wir es nicht mit statischen Verhältnissen zu tun haben und dass es keine festen Bezugsgrößen gibt, zu denen wir uns verhalten können. Wir haben es nicht mit den Mädchen oder den Jungen zu tun, die bestimmte Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Probleme haben. Stattdessen ist davon auszugehen, dass in jedem Seminar, vielleicht sogar in jeder Seminareinheit, eine andere, neue Gruppe vorgefunden wird und die eigene Kreativität gefragt ist, um Methoden zu entwickeln oder angemessen zu variieren. Dazu darf nicht starr an (manchmal mühsam) erarbeiteten und erlernten Methoden festgehalten werden, sondern es muss die Bereitschaft geben, sich und sein Handeln kritisch zu hinterfragen beziehungsweise von Kolleg_innen hinterfragen zu lassen. Will die pädagogische Arbeit alternative Angebote machen und Räume für gesellschaftliche Veränderungen öffnen, handelt es sich um »Jungen_-« und »Mädchen_arbeit«, eine Arbeit an gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen und Machtachsen. Damit der Ansatz der geschlechtsbezogenen Pädagogik diesem Anspruch gerecht werden kann, muss er die Vielfalt der Lebensrealitäten von als weiblich und männlich kategorisierten Menschen als Ausgangspunkte pädagogischer Handlungen nehmen, um der Reproduktion von diskriminierenden Machtstrukturen – nicht nur verbunden mit der Kategorie Geschlecht – entgegenzuwirken.
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4 . F a z it Geschlechtsbezogene Pädagogik ist eine Arbeit an Geschlechterverhältnissen und erfolgt mit einer kritischen Haltung. Sie bezieht sich auf das soziale Konstrukt Geschlecht und ist sich dessen bewusst, beziehungsweise versucht sich die Bedeutung der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht und anderen Kategorien und den daraus resultierenden Folgen für gesellschaftliche Verhältnisse immer wieder aufs Neue zu vergegenwärtigen. Zudem versucht sie stets ihr eigenes Handeln in Bezug auf eine solche Reproduktion zu reflektieren. Deshalb ist sie eine Pädagogik, die in Bewegung ist und immer wieder ihre eigenen Vorannahmen und Methoden dahingehend hinterfragt, inwiefern sie bestehende Diskriminierungsstrukturen (re-)produzieren beziehungsweise, ob sie geeignet sind, Diskriminierungen und Benachteiligungen abzubauen, Räume zu öffnen, Hierarchien einzuebnen und ein gleichberechtigtes Miteinander als Zielsetzung zu verfolgen. Für das Anliegen der geschlechtsbezogenen Arbeit, die Geschlechterverhältnisse zu dekonstruieren und die Zweigeschlechtlichkeit perspektivisch überflüssig zu machen, ist eine Reflexion aller Geschlechterbilder eine notwendige Voraussetzung. Wenn in der Jungenarbeit die Mädchenbilder vergessen werden, reproduziert sie nicht nur Jungen-, sondern auch Mädchenbilder und damit die Geschlechterverhältnisse. Um das zu verhindern, muss immer im Hinterkopf behalten werden, dass es weder das Mädchen noch den Jungen gibt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass wir es mit Mädchen_ und Jungen_ mit individuellen Erfahrungshintergründen zu tun haben (vgl. Busche/Cremers 2009). Die Kategorien »Mädchen« und »Junge« können demnach nur noch dazu dienen, Geschlechterstereotype zu bezeichnen, die uns als soziale Konstrukte im Rahmen der performativen Herstellung der zweigeschlechtlichen Ordnung begegnen. Diese Konstrukte gilt es in der pädagogischen Arbeit zu erweitern, um somit einen Beitrag zum Abbau geschlechtsbezogener Benachteiligung zu leisten. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, bei der Beschreibung von Menschen eine Differenz aufzumachen: Die Schreib- und Denkweisen »Mädchen« und »Jungen« beziehungsweise »Männer« und »Frauen«, können verwendet werden, wenn benannt und herausgearbeitet werden soll, dass Menschen in Äußerungen, Texten, Bildern, Untersuchungen, Zitaten etc. die soziale Konstruktion, die Diskursivität und Performativität von Geschlecht nicht mitdenken beziehungsweise nicht mitsprechen. Im Gegensatz dazu liegt der Schreib- und Denkweise »Mädchen_« und »Jungen_« beziehungsweise »Männer_« und »Frauen_« neben dem Anliegen einer Dekonstruktion von Geschlecht eine intersektionale Per-
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spektive auf Menschen zugrunde, welche die Zugehörigkeit selbiger zu verschiedenen sozialen Kategorien deutlich macht. Mit einer solchen Schreib- und Denkweise kann nicht nur die soziale Konstruiertheit dieser Kategorien sichtbar gemacht, sondern die Perspektive der Pädagog_innen erweitert werden, um die Heterogenität der bezeichneten Gruppen handlungsleitend zu machen. Nur so kann die Qualität und der Gehalt von politischer Bildung aufrechterhalten und verbessert werden. Darüber hinaus müssen Mädchen- und Jungenarbeiter_innen viel enger kooperieren. Sie müssen gegenseitige Produktionsprozesse von geschlechtlichen, rassistischen, sexistischen, xenophoben, antisemitischen Bildern reflektieren, die in ihrer Arbeit in Interaktionen, Inhalten, Methodik/Didaktik und Strukturen vorkommen. Nur so können gesellschaftsverändernde Handlungspositionen erlangt werden.
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20 Jahre, se chs Bausteine, mehr als zwei Geschlechter und mindestens ein Pa ra dox. V e rä nde rung und Kontinuitä t in de r Verä g eschlechter bezogene bezogenen n We ite iterbi rbi l dungsreihe der » Alte n Molke re i Fr ille« ille REGINA RAUW, MICHAEL DROGAND-STRUD »Hast du auch die GSWB gemacht?« GSWB – mit diesem Zauberkürzel ist für alle ehemals Teilnehmenden sofort deutlich, worum es geht: Um die Weiterbildungsreihe für geschlechtsbezogene Pädagogik in der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei« in Frille. Die eine beginnt, in nostalgischen Tönen zu schwärmen, ein anderer bekommt feuchte Augen, noch jemand bereitet sich auf Argumentationen rund um »Wenn-und-aber« vor. »In welchem Jahr? Mit wem? Bei wem?«
Heute lautet der offizielle Name dieser Weiterbildungsreihe »geschlechtsbezogene Pädagogik, Bildung und Beratung: Mädchenarbeit, Jungenarbeit, reflexive Koedukation, genderkompetente Erwachsenenbildung« – dieser Titel erfordert tatsächlich eine Kurzversion. Aber GSWB? Hinter diesen Buchstaben verbirgt sich Geschichte: Diese begann 1989 unter dem Titel: geschlechtsspezifische Weiterbildung – parteiliche Mädchenarbeit und antisexistische Jungenarbeit. Hier passte die Buchstabenkombination GSWB noch eindeutig zum Namen.
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Mit diesem Modellprojekt begann eine Tradition, die bis heute kontinuierlich fortgeführt wird: eine berufsbegleitende Fortbildung bestehend aus sechs dreitägigen Veranstaltungen (Bausteinen), die sich mit Geschlechterfragen befasst und Menschen für die Umsetzung einer geschlechtsbezogenen Haltung in der pädagogischen Praxis qualifiziert.1 Bald nach Beendigung einer jeden Reihe, die jeweils von einem Team aus zwei bis vier Referent_innen kontinuierlich geleitet wird, startet eine neue Serie, bei starker Nachfrage sogar zwei und damit insgesamt bis zum heutigen Zeitpunkt (Frühjahr 2010) 21-mal! Aus »geschlechtsspezifisch« wurde schon bald (1991) »geschlechtsbezogen«, ein Begriff, der durch die Alte Molkerei Frille in den geschlechterpädagogischen Diskurs eingebracht wurde (vgl. Glücks/Ottemeier-Glücks 1994). Es galt, eine Perspektive auf Geschlecht einzunehmen, in der gerade nicht die vermeintlichen Spezifika der beiden Geschlechter im Fokus standen, sondern eine, mit der Geschlecht als soziale Kategorie angesehen wird. Das Bewusstsein darum – sowie die kritische Haltung gegenüber Geschlechterhierarchien und -dualismen – galt es, in alle pädagogischen Prozesse aktiv einzubeziehen. Dem Zeitgeist entsprechend wurde die Weiterbildung ab 2004 wieder neu tituliert: »Gender-Kompetenz in Pädagogik und Bildung«. Hiermit wurden einerseits zwar neue Zielgruppen erreicht (z.B. GenderBeauftragte), allerdings reduzierte sich der Anteil männlicher Teilnehmer signifikant. Fühlten sich Männer von »Gender« nicht angesprochen? Fehlte der direkte Bezug zur Praxis der Jungenarbeit bzw. zur Reflexion von Männlichkeit? Mit der Rückkehr zum Titel »geschlechtsbezogene Pädagogik, Bildung und Beratung« vergrößerte sich zum einen die Anzahl männlicher Teilnehmer, zum anderen war die Alte Molkerei Frille wieder mit ihrem eigenen Profil als Einrichtung für »geschlechtsbezogene Pädagogik« erkennbar. Doch viel mehr noch als der Name haben sich die Inhalte entwickelt: neue Geschlechtertheorien sind eingeflossen, die Relation zwischen den Geschlechtern hat sich verändert, und nicht zuletzt zeigt sich auch ein veränderter Bedarf bei den Teilnehmenden selbst. Erstaunlicherweise ist diese Weiterbildung aber im Grundsatz des konzeptionell-didaktischen Aufbaus weitestgehend erhalten geblieben. Viele Herangehensweisen und Inhalte halten der ständigen Reflexion und Überprüfung durch immer neue Teilnehmende und wechselnde 1
Das Konzept der ersten Jahre wurde ausführlich dokumentiert durch Elisabeth Glücks und Franz-Gerd Ottemeier-Glücks in ihrem Beitrag »EinGänge. Geschlechtsbezogene Pädagogik – ein Weiterbildungskonzept für soziale Fachkräfte.« (Vgl. Glücks/Ottemeier-Glücks 1994).
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Teams stand. Es scheint einen Kern dieser Fortbildung zu geben, der sie über all die Jahre trägt und der auch einen Teil des emotionalen Wertes ausmacht. Mit diesem Beitrag wollen wir zum einen versuchen, diesen Kern in Worte zu fassen und zu würdigen, der die GSWB zu dem macht, was sie ist. Zum anderen wollen wir den Wandel beschreiben, wie die Weiterbildung aktuelle Erkenntnisse der Geschlechterforschung integriert und diese mit den heutigen Notwendigkeiten und Herausforderungen von pädagogischer Praxis verbindet. Der Artikel folgt in seiner Struktur dem Aufbau der Weiterbildungsreihe. Diese basiert ebenso wie das Konzept geschlechtsbezogener Pädagogik als solches auf drei Säulen: einer politischen, einer persönlichen und einer professionellen Durchdringung der Thematik. Dazwischen finden zwei Exkurse statt: zur Frage nach der Zweigeschlechtlichkeit und zur Bedeutung der »Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille«. Wir als Autorin bzw. Autor2 dieses Artikels haben selbst in den frühen 90er-Jahren an der GSWB teilgenommen und unsere erkenntnisreichen Erfahrungen dort gesammelt, die uns mit der »Alten Molkerei Frille« verbunden haben.
1 . W i es o ? W es ha l b ? W a r u m ? W e r n ic ht f r a g t . . . ! Die gesellschaftspolitische Perspektive als erste Säule konkretisiert sich in einer Analyse der Geschlechterverhältnisse und im Finden einer eigenen Motivation zur Thematik (erster Baustein). Hierfür ist es zunächst zentral zu klären, welcher Geschlechterbegriff überhaupt zugrunde gelegt wird. Diese Frage stellt eines der Kerndilemmata der geschlechtsbezogenen Pädagogik dar. Alltagsbezogenes Verständnis repräsentiert meistens eine Kultur der Zweigeschlechtlichkeit, in der es eindeutig Frauen und Männer gibt – und sonst nichts. Dringen wir tiefer in die Thematik ein, so stellt sich die Notwendigkeit einer Differenzierung in Bezug auf das biologische Geschlecht (sex) oder das soziale Geschlecht (gender), welches nicht zwangsläufig miteinander übereinstimmen 2
Regina Rauw war seit 1996 insgesamt dreizehn Mal als Teamerin der Weiterbildungsreihe aktiv, Michael Drogand-Strud war seit 2001 sechs Mal als Teamer beteiligt. Beide sind/waren im Leitungsteam der »Alten Molkerei Frille« für die inhaltliche Ausrichtung und personelle Besetzung verantwortlich. Im Frühjahr 2010 hat Regina Rauw ihre Tätigkeit als Teamerin der GSWB beendet. Michael Drogand-Strud arbeitet in einem neuen Team weiter.
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muss. Doch auch diese Betrachtungsweise unterliegt unserer kulturell bedingten dualistischen »Beschränktheit«, die es zu erweitern gilt um den Blick auf die Herstellungsmodi von Geschlecht im Sinne des doing gender – und zwar sowohl in Hinblick auf die Betrachteten als auch auf die Betrachtenden. Diese verschiedenen Optionen des Geschlechterbegriffs sorgen zu Beginn der Weiterbildungsreihe für reichliche Verwirrung, wenn nicht gar für Irritation; zumal wir den Teilnehmenden nicht nur Wissen vermitteln wollen, sondern eine kritische Haltung, mit der sie die verschiedenen Geschlechterbegriffe reflexiv erkennen und anwenden können. Anstelle von Antworten werden ihnen hier zunächst »Verunsicherungen« geboten. Hier gibt es nicht nur eine Wahrheit, sondern ein ganzes Bündel von Denk-Weisen, die nach kontextbezogener Anwendung fragen. Zentral in der Vermittlung dieser Perspektiven ist in den letzten Jahren das Benennen des Gender-Paradox (vgl. Lorber 2004) geworden, welches deutlich macht, dass Gender zum einen als Analysekategorie benannt werden muss – durchaus auch in seiner zweigeschlechtlichen Ausgestaltung, um die gesellschaftliche Ungleichheit, die durch Geschlecht produziert wird, aufzudecken. Zum anderen gilt es, als Zielperspektive »Gender« im Sinne der existierenden Geschlechterordnung zu demontieren und damit zum Abbau von Herrschaft beizutragen. Die Erkenntnis des Gender-Paradox zieht sich als ein Leitthema durch die Bausteinreihe und erfordert immer wieder neu eine Reflexion und Klärung der Perspektiven im Gender-Begriff, um zu vermeiden, dass sich durch die geschlechtsbezogene Sichtweise erneut Geschlechterhierarchien und -dichotomien manifestieren. 1.1 Apropos Geschlechterhierarchien An dieser Stelle scheint es bereits selbstverständlich, dass die Überwindung von Geschlechterhierarchien als Zielperspektive anvisiert wird. In der aktuellen Ausschreibung klingt das so: »Geschlechtsbezogene Pädagogik basiert auf der kritischen Analyse von patriarchalen Geschlechterverhältnissen und stereotypen Geschlechterbildern«. Dieses Ziel basierte von Anbeginn der Weiterbildungsreihe an auf der Analyse, dass das derzeitige Geschlechterverhältnis – in patriarchaler Tradition – Frauen und alles, was weiblich konnotiert ist oder einem dominanten Männerbild nicht entspricht, abwertet und ausgrenzt. In den ersten Jahren waren in dieser Analyse die Stichworte Gleichheit, Gleichwertigkeit und Differenz der Geschlechter zentral, ebenso wurden zur Analyse von Machtverhält-
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nissen bereits Begriffe wie der der hegemonialen Männlichkeit (vgl. Connell 1999) zugrunde gelegt. Unter Einbeziehung aktueller Geschlechtertheorien hat sich auch die Analyse der Geschlechterordnung weiterentwickelt. Darüber hinaus, dass Hierarchien zwischen »Männlichkeiten« und »Weiblichkeiten« entlarvt werden, wird eine dekonstruktivistische Analyseperspektive erschlossen, die aufdeckt, wie Geschlecht selbst als Kategorie genutzt wird, um Herrschaft herzustellen: indem Menschen im binären Geschlechtermodell als »weiblich« oder »männlich« vereindeutigt werden und ihre sexuelle Identität hieran ausgerichtet wird. Doch sind die handelnden Subjekte in diesem Geschehen nicht bei einer spezifischen Machtinstanz zu identifizieren, sondern es sind die Individuen selbst, die sich in diesem System anpassen und die Geschlechterordnung (re-)produzieren. Geschlecht ist aber nicht die einzige Kategorie, die Differenzen produziert und hierarchisiert. Gerade in den letzten ein bis zwei Jahren haben wir in die gesellschaftliche Analyse immer stärker die Perspektive der Intersektionalität einbezogen, d.h. es wird der Vielfalt der Kategorien und ihrer Verwobenheit Rechnung getragen. Nicht nur Geschlecht, sondern auch die Hautfarbe, die Religion, die soziale Schicht, die Sprachkompetenz, die körperliche Verfasstheit, das Alter, die Zuwanderungsgeschichte, die Nationalität, die sexuelle Orientierung etc. sind Kategorien, die hierarchisch aufgeladen sind und In- bzw. Exklusion transportieren. Für jedes Individuum lässt sich eine persönliche Landkarte der Kategorien erstellen, die in Privilegien und Verletzlichkeiten zum Ausdruck kommen. Die Relevanz der Verletzlichkeiten zeigt sich letztlich für jedes Subjekt unterschiedlich. Wurde in früheren Jahren manches Mal behauptet, Geschlecht sei der relevante Faktor zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen, so werden heute die diversen Kategorien als gleichwertig anerkannt. Immer stärker werden die Schnittstellen der für die Subjekte bedeutsamen Kategorien herausgearbeitet. 1.2 Motivation: wogegen ist einfacher! Aber Begehren? Doch wohin soll die Reise ausgehend von dieser Analyse gehen? Überwindung von Dualismus und Hierarchie – Gleichwertigkeit und Differenz, so lauten die Perspektiven, die sich aus diesen Analysen ableiteten: Überwindung von Machtverhältnissen und Diskriminierung, damit die Individuen ihre Potenziale aufdecken und frei entfalten können, jenseits der (zweigeschlechtlichen) Normierungen.
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Aber wie kann eine vorantreibende persönliche Motivation tatsächlich gefunden werden, wenn sie mehr darstellen soll als einen theoretisch abgeleiteten Anspruch? Motivation zum Handeln entsteht oft aus dem Drang zu Veränderung einer Situation, die Leid oder Schmerz mit sich bringt. Doch selbst dieser Leidensdruck, zunächst ein individuelles Gefühl und selbstverständlich eine Frage persönlicher Erfahrungen und Verletzungen, ist gefärbt durch gesellschaftliches Bewusstsein. Hier zeigt sich innerhalb der Tradition der GSWB der Wandel der Zeit: Waren es in den 90erJahren eindeutig die Frauen, die einen Leidensdruck mit sich gebracht haben und aus dieser feministischen Motivation heraus der Geschlechterhierarchie den Kampf ansagten, so werden diese Benachteiligungen in den letzten Jahren immer weniger benannt, sie fallen mehr und mehr einem Verdeckungszusammenhang anheim (vgl. Funk, Schwarz 1999). Allerdings wächst – in manchen Kreisen – das Bewusstsein um die Diskriminierung durch die Geschlechterdichotomie. Die (Menschenrechts)Verletzungen gegenüber Menschen, die zwischen den zwei definierten Geschlechtern leben (wollen) und sich in der Eindeutigkeit der Zweigeschlechtlichkeit nicht wiederfinden, wird mehr und mehr eine Quelle von geschlechterpolitischer Motivation. Doch lange nicht jede_r empfindet sich selbst als diskriminiert im Geschlechterverhältnis – sei es, weil die Privilegien überwiegen, weil die Verletzungen nicht am eigenen Leib erfahren werden, weil die Erlebnisse von Ausgrenzung oder Gewalt nicht mit der Kategorie Geschlecht in Verbindung gebracht oder weil die Abwertungen in der eigenen Wahrnehmung nicht zugelassen werden. Woher können sich dann aber die Visionen zur Veränderung der Geschlechterverhältnisse nähren, wenn sie nicht nur aus der Umkehrung der Verhältnisse aufgrund einer theoretischen Analyse entstehen sollen? Wie kann der – durchaus sehr unterschiedlich geartete – Leidensdruck sich in einen positiven Drang zur kreativen Gestaltung von Lebensbedingungen wandeln? Hier haben wir in den letzten Jahren immer stärker den Begriff des »Begehrens« eingebracht (vgl. Günter 1996). Mit dem »Begehren« meinen wir, entsprechend der Philosophie der Mailänderinnen3, das tiefe
3
Seit 1975 existiert der Mailänder Frauenbuchladen, politisches Zentrum und frauenbewegter Arbeitsort. Eng verbunden mit diesen Mailänderinnen sind die Frauen von DIOTIMA, einer Philosophinnengemeinschaft an der Universität von Verona, die 1983 von Luisa Muraro und Chiara Zamboni gegründet wurde.
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Verlangen, das Wünschen, das Wollen in der ersten Person (vgl. Mackert 2002 ). »Wenn das Begehren einer Frau Ausgangspunkt ihres Tuns werden soll, dann beinhaltet dies für eine Frau die Notwendigkeit, von sich selbst auszugehen und sich mit ihren Wünschen und Vorstellungen ins politische Zentrum der Welt zu stellen. Von sich selbst ausgehen und sich ins Zentrum stellen im Wissen darum, dass eine jede sich immer in einem Beziehungsgeflecht mit anderen bewegt.« (Günter 1996: 19).
Mit allem Respekt vor den Frauenbezügen der Mailänderinnen haben wir uns erlaubt, diese Denkweise nicht nur für Frauen, sondern auch für Menschen anderer Geschlechter zu erschließen. Wir eröffnen auf dem Hintergrund dieser Philosophie die Frage danach: Was will ich eigentlich? Was begehre ich? Was bedeutet für mich 100 % Wohlbefinden? Was macht mich glücklich? Auch hier sind die Fragestellung und die darin enthaltenen Möglichkeiten elementarer und konfrontierender als die Antworten. Damit betreiben wir nicht, wie manche befürchten, eine individualistische Selbstbeschauung, sondern wir wollen ermöglichen, sich selbst in Richtung auf etwas zu denken. Eine jede Person kann sich erlauben, sich selbst zum Zentrum des Geschehens zu machen und von dort aus die Welt/die Gesellschaft/das Leben zu entwerfen und zu gestalten, entsprechend dem eigenen Begehren. Gesellschaftspolitische Motivation entsteht dann aus dem Wünschen und Wollen, oder vielmehr noch aus der inneren Zustimmung, dass das eigene Wohlergehen ein absolut berechtigter Zustand ist. Das Besondere am »Begehren« in dieser Weiterbildung ist, dass es die gängigen geschlechtertheoretischen und -politischen Konzepte um eine völlig andere Sichtweise bereichert: Es eröffnet einen Zugang zu sich selbst, der erlaubt, die eigenen Bedürfnisse ins politische Zentrum zu rücken (Was will ich?), und es bedeutet gleichzeitig Bezugnahme aufeinander über die gängige Identitätslogik (Wer bin ich? Wer bist du?) hinaus. Das »Begehren« schafft eine Verbindung zwischen politischen, persönlichen und pädagogischen Aspekten. Es rührt eine andere Ebene an, die sich gerade im emotionalen Bezug zum Thema ausdrückt und manchen Menschen ermöglicht, mit »leuchtenden Augen« von ihren Anliegen zu sprechen, weil es subjektive Wünsche und Verlangen im Kontext gesellschaftlicher und geschlechterpolitischer Notwendigkeiten zugesteht.
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2 . D a s S u b j e k t is t s ic h s e lb s t Fo r s c h u n g s o b j e k t Als zweite Säule wird die persönliche Eingebundenheit in das bestehende Geschlechterverhältnis reflektiert. Die Teilnehmenden werden sich bewusster, wie sie selbst als Akteur_innen im System der Zweigeschlechtlichkeit und Hierarchie eingebunden sind. Dabei wird zum einen der Prozess der Vergeschlechtlichung und zum anderen die geschlechtliche Inszenierung zum Forschungsgegenstand. Forschungsobjekte sind in erster Linie die Teilnehmenden selbst, die ihre eigene Biografie bzw. Inszenierung und Wahrnehmungsfolie reflektieren und daraus in einem Selbsterkenntnisprozess Schlussfolgerungen ziehen, die sie zu wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in Beziehung setzen können. 2.1 »Was wir mitbringen ...« »Geschlechtsbezogene Sozialisation« lautet der Titel des zweiten Bausteins, der den Vergeschlechtlichungsprozessen gewidmet ist. Über all die Jahre ist die Erarbeitung einer eigenen Biografie mithilfe einer Erinnerungsreise und mitgebrachter Fotos aus der Kindheit und Jugend das zentrale Element dieses Seminars. Auch werden bis heute diese Biografien in geschlechtshomogenen (Klein-)Gruppen4 ausgetauscht. Trotz gleicher Methode ist aber an den Inhalten ein Wandel zu erkennen: Die Benachteiligung von Mädchen ist mittlerweile als Debatte schon ein ziemlich »alter Hut«, sie gilt sogar zum Teil mit Verweis auf Jungen als Verlierer als überholt. Dieser gesellschaftliche Mainstream beeinflusst auch das Bewusstsein der Teilnehmer_innen. Die Reflexion der Biografien der Frauen ist wesentlich weniger emotional erschütternd als noch vor zehn Jahren. Eine Begründung dafür ist sicherlich, dass viele Elemente weiblicher Sozialisation (wie sexuelle Gewalt, Sexualisierung des Körpers, antizipierte Mutterschaft) allgemein bekannt sind. Doch gab es Jahre, in denen diese auf den weiblichen Körper bezogenen Diskriminierungen zentral durch die Teilnehmenden herausgearbeitet wurden, verbunden mit dem Teilen der schmerzhaften Erinnerungen in der Frauengruppe. Diese Themen werden heute seltener artikuliert, weil sie der Wahrnehmung noch weniger zugänglich sind, so normal geworden sind, dass sie nicht mehr realisiert werden oder weil die Teilnehmer_innen sich oder andere vor dem eigenen Schmerz schützen wollen. Auch wer4
Der Frage von geschlechtshomogenen und geschlechtsgemischten Gruppen widmet sich ausführlich der folgende erste Exkurs.
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den die Differenzen unter Frauen heute berechtigterweise viel stärker thematisiert als vor zehn bis 20 Jahren. Möglicherweise hat auch das Vertrauen in die Frauengruppe als solche abgenommen, denn im Gegensatz zu den 90er-Jahren verfügt heute nur noch eine kleine Minderheit von Teilnehmer_innen vor der GSWB über Erfahrungen in einer feministischen Frauengruppe. Die kognitive Bearbeitung von Vergeschlechtlichung ist den Teilnehmenden heute in jedem Fall vertrauter. Das Einbeziehen von Emotionen und Körper in einen Bildungsprozess ist für viele Neuland, da sich ganzheitliche Bildungskonzepte in Schulen und Universitäten nicht etabliert haben. Eine weitere Veränderung der Perspektive auf weibliche Biografie liegt sicherlich in der Erweiterung durch die intersektionale Sichtweise. Der Großteil der Teilnehmer_innen kam bis heute aus dem Bildungsbürgertum, hatte familiäre Wurzeln in Westdeutschland, eine weiße Hautfarbe, war körperlich ohne Beeinträchtigungen und im Alter zwischen 25 und 40 Jahren.5 Die Lebenslage Geschlecht ist für Mädchen und Frauen ein Verletzungsrisiko, gleichzeitig lassen andere Kategorien, in denen jemand der privilegierten Norm entspricht, dieses Risiko in den Hintergrund treten. Etwa in den letzten fünf Jahren (erst) vergrößert sich langsam die Diversität unter den Teilnehmenden in Hinblick darauf, dass auch People of Color oder Menschen mit Migrationserfahrung an der Weiterbildung beteiligt sind. Aktuell ist der Anteil der Menschen mit einer Migrationserfahrung auf die Hälfte aller Teilnehmenden angestiegen6. Damit erweitert sich, wenn es um die biografischen Vergeschlechtlichungsprozesse geht, die Vielfalt an Erfahrungen enorm. 5
6
Auf die Kategorie der sexuellen Orientierung bezogen fällt auf, dass sich in der GSWB die gesellschaftliche Heteronormativität nicht gleichermaßen abbildet. Relativ mehr lesbische, bisexuelle oder queere Frauen nehmen an der Weiterbildung teil und veröffentlichen ihre sexuelle Orientierung. Die heterosexuelle Norm wird demontiert, auch wenn viele Teilnehmer_innen ein heterosexuelles Lebenskonzept haben. Dies hat sicher damit zu tun, dass in der geschlechtsbezogenen Theorie und Pädagogik Heteronormativität als Ausdruck der Kultur der binären Zweigeschlechtlichkeit analysiert und kritisiert wird. Außerdem wird eine Rolle spielen, dass die nichtheterosexuelle Lebensform auch bei den Teamer_innen repräsentiert wird (siehe auch »Mit Lust und Beunruhigung« in diesem Buch). Hierin schlagen sich die Entwicklungen der HVHS »Alte Molkerei Frille« nieder, die in ihrem Leitbild beschreibt: »Langfristig wollen wir unser weiß-deutsches Bildungshaus Menschen öffnen, die sich als People of Color bezeichnen bzw. Migrationserfahrungen mitbringen.« HVHS Alte Molkerei Frille: www.hvhs-frille.de [Abruf: 13.04.2010].
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Da die Austauschprozesse innerhalb der GSWB (leider) nicht im machtfreien Raum stattfinden, bergen sie immer auch das Risiko für Diskriminierungen in sich. Diese tauchen vor allem dann auf, wenn die Normalitäten nicht benannt werden, wohl aber die Abweichungen. Ebenso wie die Frauenbewegung in den 80er-Jahren die Diskriminierung aufgedeckt hat, dass Frauen »ein Geschlecht haben« und Männer als die normalen Menschen gelten, so gilt es innerhalb der GSWB (und sicher auch darüber hinaus) heute zu erkennen, dass jede_r eine Hautfarbe, einen kulturellen Hintergrund, eine soziale Schicht, eine sexuelle Orientierung oder eine ökonomische Ressource hat, nicht nur diejenigen, die nicht der Norm entsprechen. So haben selbstverständlich alle Teilnehmenden Erfahrungen mit Rassismus gemacht, allerdings werden diese selten thematisiert, solange sie nicht aus der diskriminierten Perspektive erlebt wurden. Zu diesem Bewusstseinsprozess trägt die GSWB bereits in Ansätzen bei – es besteht die Absicht, dies in Zukunft konzeptionell weiter auszuarbeiten. Für die Reflexion von Biografien bedeutet das, dass viel mehr Kategorien zu berücksichtigen sind als Geschlecht, und dass der Austausch darüber, wie unterschiedlich die Kategorien miteinander wirken, zur Komplexität des Wissensbereichs Geschlecht beiträgt. Bei der Reflexion der Biografien in der Männergruppe gibt es einige Themen, die über all die Jahre konstant geblieben sind: zentral dabei ist die (körperliche/emotionale) Abwesenheit der Väter und der subjektive Umgang damit als Junge. Hierin bildet sich ab, was sich in Bezug auf die Männerrolle in der Familie generell in den letzten 30 Jahren verändert hat: erschreckend wenig. Des Weiteren ist ein stetiges Thema der Männergruppe, wie ein Bewusstsein über die eigene geschlechtliche Sozialisation bzw. das geschlechtsbezogene Sein entwickelt werden kann in einer Kultur, in der Männlichkeit der Norm entspricht. Insofern spielt Männlichkeit zunächst und offensichtlich in der Sozialisation von Jungen keine Rolle, da es um das Aufwachsen als »normaler Mensch« geht. Erst im bewussten Suchprozess werden die Momente erkennbar, in denen Jungen aufgrund ihrer Geschlechtlichkeit zugerichtet, eingegrenzt, überlastet, vernachlässigt oder missbraucht wurden und diese Erfahrungen als Bestandteile in ihr Selbstkonzept integriert haben. Unter anderem durch die gesellschaftliche Debatte ist es mittlerweile leichter geworden, über Erfahrungen des Verlierens oder des Opferseins in den Austausch mit anderen Männern zu treten. Innerhalb der GSWB wird durch die Teamer_innen viel Wert darauf gelegt, hier eine angemessene Balance zu finden zwischen dem Fokus auf Jungen/Männer als Opfer einerseits und auf ihre Verantwortung und ihre Privilegien innerhalb der Geschlechterhierarchie andererseits. Der Einbezug des
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Konzeptes der hegemonialen Männlichkeit ermöglicht hier über all die Jahre einen Blick auf die verschiedenen Männlichkeiten und Machtverhältnisse, denen Männer sich gegenseitig aussetzen. Exkurs: Zum Gender-Paradox innerhalb der Weiterbildungsreihe Wie kann eine Weiterbildung sich dem Ziel verpflichten, die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit zu überwinden, und dennoch die Gruppe der Teilnehmenden in eine Frauen- und eine Männergruppe aufteilen? Diese Frage beschäftigt uns je mehr wir selbstreflexiv unser eigenes doing gender betrachten. Einer der größten Veränderungsprozesse der Weiterbildung spiegelt sich daher auch im Umgang mit der Trennung in geschlechtshomogene Gruppen wider. Bis einige Jahre ins neue Jahrtausend hinein fand die GSWB fast nur in geschlechtsgetrennten Gruppen statt. Männer und Frauen lernten sich am ersten Tag ein bisschen kennen und wurden anschließend zur geschlechterpolitischen Analyse getrennt. Erst beim fünften Baustein zum Thema Koedukation trafen sie wieder zusammen (abgesehen von informellen Begegnungen). Das Aufeinandertreffen bestand dann meistens aus einem spannungsreichen Auseinandersetzen und dem Erkenntnisgewinn, dass die Zusammenarbeit zwischen Frauen und Männern in der Koedukation extrem schwierig ist. Einhellig war mensch wieder glücklich mit der Geschlechtertrennung beim sechsten Baustein. Der »2Welten-Ansatz« wurde praktisch erfahren. Die Frauen- und Männergruppen hatten (und haben) trotzdem einen ungeheuren Wert als Gegenwelt zum geschlechtsgemischten Alltag. Für die Frauen ermöglichten sie einen Freiraum jenseits männlicher Dominanz und Bewertung, wodurch sie ihre eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gedanken wertschätzend austauschen und als Realitäten anerkennen konnten. Für Männer eröffneten sie die Möglichkeit, sich positiv auf andere Männer zu beziehen, die Angst vor Nähe zu anderen Männern abzubauen, sich in ihrer Beschränktheit als Männer zu erfahren und sich emotionale Ressourcen anzueignen. Doch sind diese Erfahrungen bei Weitem nicht so eindeutig, wie sie hier beschrieben werden. Viele Vorannahmen über Frauen- und Männergruppen realisieren sich eben nicht. Allerdings ist hier ausdrücklich die Rede von »Möglichkeiten« des geschlechtshomogenen Setting. Es ermöglicht einen intensiven und bestärkenden Austausch mit Menschen des gleichen (biologischen) Geschlechts. Gerade aufgrund der vermeintlichen »Gleichheit« werden hier Unterschiede innerhalb einer Geschlechtergruppe deutlich, womit sich Geschlechterkonstruktionen relativieren.
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Doch kommt die Zielperspektive des Abbaus von Geschlechterdualitäten nicht in der Arbeitsweise zum Ausdruck, es gibt keinen Raum für Uneindeutigkeiten zwischen den Geschlechtern, intersexuelle Menschen werden ausgegrenzt, es gibt keine gemeinsame Debatte über die Wirkungsmacht der Kategorie Geschlecht und anderer Kategorien, die Bilder über das »andere« Geschlecht können nicht überprüft werden und ein gemeinsames Erarbeiten einer inhaltlichen Plattform für geschlechtsbezogene Pädagogik findet nicht statt. Mit diesem Mangel wurden wir zum einen von außen konfrontiert, wenn andere Fachleute die Frage stellten, ob diese Art des geschlechtergetrennten Ansatzes nicht letztlich die Zweigeschlechtlichkeit reproduziere, die sie theoretisch überwinden will (vgl. Voigt-Kehlenbeck 2001). Zum anderen machten uns auch einige Teilnehmenden auf die Grenzen unserer Herangehensweise aufmerksam, indem sie sich z.B. weigerten, sich der Frauen- oder Männergruppe zuzuordnen oder indem z.B. Frauen ihr Interesse an männlicher Sozialisation äußerten, weil sie selbst diese auch kennen wollen oder weil sie über mehr Erfahrungen verfügen als solche, die als »weiblich« angesehen werden, und sie sich darüber mit Männern austauschen wollten. Mit der Namensänderung »Gender-Kompetenz« hat sich ab 2004 das didaktische Konzept verändert in Hinblick darauf, dass die Geschlechtertrennung immer mehr aufgehoben wurde. Männer und Frauen kamen miteinander in einen konstruktiven Austausch über ihre Biografien, ihre Inszenierungen und über die Ziele von Mädchen- und Jungenarbeit. Gender-Kompetenz zeigt sich neben dem geschlechterpolitischen Bewusstsein vor allem in der Fähigkeit zur Mehrperspektivität. Das heißt auch, dass Teilnehmende jenseits des Reflektierens der eigenen Vergeschlechtlichung auch um die Prozesse anderer Geschlechter wissen sollen, und somit ein umfassenderes Verständnis davon entwickeln, wie unterschiedlich »gender« »getan« wird, wie es funktioniert und warum es nicht nicht getan werden kann. Mittlerweile, im Jahr 2010, sind wir an einem Punkt angekommen, an dem die geschlechtshomogenen Gruppen die Ausnahmeform darstellen. Lediglich bei der Reflexion der eigenen Biografie werden ausschließlich geschlechtshomogene Gruppen angeboten. Weiterhin wird beim vierten Baustein, wenn es um geschlechtshomogene Arbeit geht, auch in dieser Gruppenzusammensetzung gearbeitet. Ansonsten gibt es des Öfteren bei Gruppenbildungen den Hinweis, sich bewusst für eine homogene oder eine koedukative Gruppenzusammensetzung zu entscheiden. Geschlechtshomogene Gruppen sind also gelebtes Gender-Paradox, denn sie engen ein und vereindeutigen Menschen in zwei Gruppen einerseits, andererseits ermöglichen sie damit eine Untersuchung der Un-
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gleichheit, die anhand der Kategorie Geschlecht entsteht. Doch für diese Untersuchung ist die Bezugnahme der beiden Gruppen aufeinander (im anschließenden Austausch) unerlässlich, denn erst hier offenbart sich oft, dass das scheinbar Selbstverständliche der einen für »die anderen« eine unbekannte Thematik sein kann. Manchmal wird aber im Austausch deutlich, dass ein Phänomen, das in einer Gruppe herausgearbeitet wurde (z.B. die Unsicherheit im eigenen Körper bei Mädchen in der Pubertät) für die andere Gruppe auch seine Gültigkeit hat, allerdings aufgrund der verinnerlichten Geschlechterbilder nie zur Sprache gekommen ist (»Jungs haben mit ihrem Körper keine Probleme«). Dekonstruieren heißt für uns in puncto Gruppenzusammensetzung nun, dass es keine Automatismen und Selbstverständlichkeiten mehr gibt. Warum sollen nicht auch zwei Frauen bzw. zwei Männer aus dem Team eine Halbgruppe anleiten – oder muss es immer ein geschlechtsgemischtes Team sein? Worin besteht in geschlechtshomogenen Gruppen eigentlich das homogene Element? Wie kommt Anderssein zum Ausdruck? Was ist der Wert von geschlechtsgemischtem Austausch? Ist die gleiche Fragestellung für Männer und Frauen wirklich dasselbe? Warum inszenieren sich Menschen unterschiedlich, abhängig davon, ob sie mit Menschen desselben oder eines anderen Geschlechts zusammen sind? Welche Rolle spielt Körperlichkeit? Inwieweit wirken sich geschlechterhierarchische Machtverhältnisse auch in der GSWB aus? Braucht es auch hier manchmal Schutz, Freiraum, Solidarität und Empowerment? 2.2 »Was wir verkörpern ...« Der dritte Baustein der Weiterbildungsreihe beschäftigt sich mit geschlechtlichen Inszenierungen, d.h. mit der Frage, wie sich Menschen durch ihre Art der Darstellung zu Geschlechterkonstrukten in Beziehung setzen und wie diese Inszenierungen wahrgenommen werden. Hierbei spielen Phänomene von Körpersprache und -haltung, über Stimme, Sprache, Mimik, Gestik und Kleidung bis hin zu Kommunikation und Habitus eine Rolle. Auf dem Hintergrund der leitenden Fragestellung, wie Menschen – und besonders die Teilnehmenden – in das Geschlechterverhältnis eingebunden sind, geht es bei diesem Baustein um eine Bewusstseinsentwicklung darüber, was alles zur Inszenierung dazugehört, wie geschlechtliche Inszenierungen gelernt werden und welche Einschränkungen einerseits und Orientierungen andererseits die zweigeschlechtliche Matrix diesbezüglich bietet.
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Über die Jahre haben die Methoden sich bei keinem Baustein so stark verändert wie bei diesem, wenn es darum geht, wie Inszenierungen »am eigenen Leib« erforscht werden können. Wahrnehmungsübungen, Gestaltung von Körperumrissen (individuelle oder männlich/weibliche), Verkleidungsaktionen, Fotostudios, Stimmübungen, Feed-back-Methoden etc. wurden angewandt. All diesen Methoden gemeinsam ist das Kennenlernen der eigenen Selbstinszenierung durch das Moment der Entfremdung. Dadurch dass Alternativen zum gewöhnlichen Habitus ausprobiert werden, kann das »Eigene« bewusst erfahren und neu bewertet werden. Im Experimentieren mit Ungewohntem steckt eine reiche Palette an Gefühlen, die so manch eine_n während dieses Bausteins irritiert hat: So kann z.B. das »Spielen« mit neuen Kleidungsstücken einen großen Spaßeffekt haben, es kann aber auch schmerzhafte Erinnerungen an einschränkende Kleiderordnungen mit sich bringen oder die Angst ans Tageslicht bringen, den eigenen eng gesteckten Kleidungs- oder Bewegungsradius zu verlassen. Auch kommen die äußerst unterschiedlichen Bewertungen der Teilnehmenden bei diesem Baustein besonders zum Tragen, wenn es darum geht, woran sich der persönliche Habitus auszurichten habe. Ist es eine »bessere« Strategie, sich möglichst wenig entsprechend geschlechtlicher Bilder zu inszenieren, oder liegt der größere Effekt gerade darin, die »weiblich konnotierte« Inszenierung neu mit positivem Wert zu belegen? Ist der Körper überhaupt der Ort, an dem sich politische Strategien manifestieren sollten? Gibt es so etwas wie »sich schön finden« als autonomes Wesen jenseits gesellschaftlicher Beeinflussung? Welche Rolle spielt die erlebte Geschichte für die eigene Körperwahrnehmung? Warum wirkt eine männlichen Zuschreibungen entsprechende Inszenierung anders, wenn sie von einem Mann oder von einer Frau ausgeführt wird? Die Schwierigkeit dieses Bausteins liegt darin, eine gute Balance zu finden, sodass die Teilnehmenden zum einen zu größerer Selbstreflexion gelangen, zum anderen sich aber nicht in diesem Selbsterkenntnisprozess so emotional verstricken, dass ihnen die Distanz zur Analysetätigkeit verloren geht. Aus diesem Grund haben wir uns zuletzt für eine Herangehensweise entschieden, die vor allem die Wahrnehmungskompetenz in puncto »Inszenierungen« steigert und damit auch Grundsteine für einen professionellen Umgang im doing gender legt. Basis dafür sind Beobachtungen von Alltagssituationen durch die Teilnehmenden. Diese kurzen Texte werden im Sinne einer ethnografischen Studie durchforstet, sodass habituelles Handeln und dessen Bewertung ergründet werden kann. Zu Hilfe genommen wird bei dieser Textarbeit das Herstellen einer »künstlichen Dummheit«, bei der die beschriebene Situation be-
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trachtet wird wie »von einem anderen Stern«7. Im Zentrum steht der Aspekt der »Ent-Selbstverständlichung des Selbstverständlichen« (Rose/Schulz 2008: 533). Durch diese Methode begreifen die Teilnehmenden Gender als interaktive, konstruktivistische und bewegliche Kategorie; sie erfahren, wie stark der Geschlechteraspekt und dessen Bewertung in der Perspektive des/der Betrachtenden liegt; sie werden sich bewusst, wie stark geschlechtsbezogene Inszenierungen den Alltag und dessen Wahrnehmung durchdringen. Zugleich erarbeiten sie anhand der Szenen auch die Relevanz anderer Kategorien, die möglicherweise in der Beschreibung benannt sind oder eben gerade nicht benannt sind, und erweitern damit ihr intersektionales Verständnis. Mit dem Ende dieses dritten Bausteins kommt die Weiterbildung an einen Wendepunkt: Bisher ging es um die Erarbeitung einer gender-bewussten Haltung und Motivation, in die eine kritische Analyse der Geschlechterverhältnisse, das Wissen um geschlechterbezogene Sozialisation und Inszenierungen sowie die eigene »Zurechnungsfähigkeit« integriert wurden. Diese Gender-Kompetenz gilt es nun im weiteren Verlauf der Fortbildung auf die pädagogische Praxis hin zu übertragen und anzuwenden. Doch auch wenn das professionelle Betätigungsfeld primär in der zweiten Hälfte betrachtet wird, ist der Anwendungskontext in der politischen Ebene und die Selbstreflexion auch hier schon mit im Blick: sei es, dass Situationen aus dem beruflichen Alltag als Forschungsbeobachtungen eingebracht werden, dass Vergeschlechtlichungsprozesse auch in Hinblick auf die pädagogische Klientel reflektiert werden (insbesondere für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen) oder sei es, dass die politischen Analysen auch in Hinblick auf ihren Niederschlag und ihre Relevanz für das pädagogische Feld betrachtet werden (z.B. die Entwicklung von Geschlechteraspekten in der Kinder- und Jugendhilfe). Nicht zuletzt spielt der professionelle Kontext eine wichtige Rolle bei der Motivation der Teilnehmenden für diese Weiterbildung: Sie wollen ihre Kompetenz ausbauen und unter Einbezug der Gender-Perspektive
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Die Anregung zu dieser Herangehensweise haben wir entnommen aus einem Beitrag von Lotte Rose und Marc Schulz, in dem sie ein ähnliches Feldforschungsprojekt während eines Seminars zum Thema »doing gender im Jugendhaus« mit Studierenden der Fachhochschule Frankfurt durchführten. Inspiriert durch diesen Bericht haben wir eine Methode der Textarbeit in Kleingruppen entwickelt, bei der die Teilnehmenden mit dem Text ins Gespräch kommen (Rose/Schulz 2008: 530ff.).
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Konflikte besser analysieren und lösen sowie Interaktion und Kommunikation besser begreifen. Ein mehr − als − räumlicher Exkurs: die Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« Die GSWB wäre nicht die GSWB, wenn sie nicht in Frille stattfinden würde. Ähnliche Weiterbildungen, die wir für andere Träger außer Haus durchgeführt haben, sind einfach anders. Doch wie kommt das? Das Flair der Bildungsstätte – zwischen rustikal-alt, jugendlich-improvisiert, gutem Handwerk und professionalisiert – macht den einzigartigen Charakter dieses Hauses aus, in dem die Teilnehmenden immerhin 19 Tage ihres Lebens miteinander verbringen. Frille ist keine hochmoderne Bildungsstätte, es gibt weder Telefon noch Fernsehen auf den Zimmern, keine Getränkeautomaten und keinen Computerraum. Im großen Naturraum (dem größten Seminarraum) wird es schon bei einer Gruppe von 20 Teilnehmer_innen kuschelig eng. Immerhin fährt eine Leinwand (seit 30 Jahren) auf Knopfdruck von der Decke, funktioniert der Beamer, kann jede_r sich ins WLan einloggen und hat mit etwas Glück ein mobiles Telefonnetz. Die Umgebung lädt zum Spazierengehen ein und im Sommer lockt sogar ein Badesee. Die Mitarbeiter_innen aus Hauswirtschaft und Verwaltung werden stets bekannter, nicht alles ist perfekt und es gibt viel Raum für eigene Ideen – auch was die Freizeitgestaltungen rund um die Seminareinheiten angeht. All das trägt dazu bei, dass die Teilnehmenden sich als Person wohlfühlen können und Frille im Laufe der Zeit wie ein Stück Zuhause wird. Die GSWB spielt auch innerhalb der »Alten Molkerei Frille« eine besondere Rolle. In der Wahrnehmung von außen bzw. innerhalb der geschlechterpädagogischen Szene ist sie eine Veranstaltung mit Renommee. Viele Fachkräfte und Dozent_innen in diesem Themenfeld haben irgendwann in ihrer Laufbahn einmal daran teilgenommen, fühlen sich dadurch Frille verbunden und tragen zur Bekanntheit der Weiterbildung teil. Die Veröffentlichungen aus der HVHS Frille sowie die Referent_innentätigkeiten der zuständigen Personen im Gender-Bereich weit über die »Alte Molkerei« hinaus tragen zu diesem Image bei, sodass manche denken, Frille und die geschlechtsbezogene Pädagogik seien synonym. Frille ist schlicht der Name des Dorfes, aber abgesehen davon finden in der »Alten Molkerei« noch viele andere Seminare statt, die nach innen
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viel mehr den Alltag und die strukturelle Basis der Heimvolkshochschule darstellen. So gibt es ein reichhaltiges Angebot an Seminaren für Menschen in sozialen Berufen, insbesondere für Erzieher_innen und Pflegekräfte. Aktuell finden inhaltliche und strukturelle Veränderungen statt, damit das Bildungsangebot der HVHS Frille der Migrationsgesellschaft besser Rechnung tragen kann. Dennoch ist die GSWB etwas Besonderes, u.a. aufgrund des Images und der langen Tradition, aber insbesondere weil sich hierin ein Teil der Verankerung der Geschlechterperspektive als Querschnittsthema realisiert: Alle pädagogischen Mitarbeiter_innen der Alten Molkerei sind verpflichtet, an der Weiterbildung teilzunehmen und damit GenderKompetenz zu erwerben, die sie in ihrer Seminararbeit in allen Bildungsbereichen zur Anwendung bringen. Hierdurch ist die geschlechtsbezogene Bildung nicht nur ein Bereich (neben anderen), sondern eine inhaltliche und personelle Qualität in allen Bereichen. Konzeptionelle Debatten aus der HVHS Frille wirken in die GSWB hinein ebenso wie umgekehrt inhaltliche Debatten aus der GSWB sich auf die Konzepte und Arbeitsweisen in der HVHS niederschlagen. Diese Wechselwirkung sorgt dafür, dass Inhalte und Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden, dass neu gedacht wird und dadurch Frille ein äußerst dynamischer »Mehr-als-ein-Ort« ist.
3 . G es c h l ec h t s b e z o g e n e P ä d a g o g i k i s t m e hr a l s … Wenn sich nun das Problem der Umsetzung von Gender-Kompetenz in die Praxis stellt, ist für viele die Frage zentral, welcher Weg denn nun der bessere sei: geschlechtshomogene oder geschlechtsgemischte Gruppenzusammenstellungen? Unsere Antwort darauf, die wir im Laufe des vierten und fünften Bausteins mit den Teilnehmenden erarbeiten, ist »sowohl als auch, kommt darauf an«: auf die Zielsetzung, die Thematik, die Rahmenbedingungen, die Personen und die pädagogische Umgangsweise mit der Geschlechterfrage. Im Alltag von Erziehung, Pädagogik und Bildung stellt die Koedukation nach wie vor das gängige Organisationsprinzip dar. Es ist uns ein Anliegen, diese Normalität zu durchbrechen, weil die Pädagogik mit einem scheinbar geschlechtsneutralen Anspruch für alle Geschlechter Geschlechterbenachteiligungen mit sich bringt und Geschlechterdualismen unreflektiert reproduziert. Die zeitweise Trennung der Geschlechter galt und gilt seit dem Bestehen der Weiterbildung als eine Möglichkeit, der koedukativen Normalität etwas entgegenzustellen (Glücks/OttemeierGlücks 1994: 114f.). In den 90er-Jahren war diese geschlechtshomogene
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Pädagogik in Form von Mädchen- und Jungenarbeit die einzige Form, in der geschlechtsbezogene Pädagogik wirklich stattgefunden hat.8 Auch die GSWB vermittelte in ihrer hauptsächlich geschlechtshomogenen Arbeitsweise ebenso wie in der entsprechenden Veröffentlichung diesen Ansatz (vgl. Glücks/Ottemeier-Glücks 1994). Die Thematisierung von Koedukation bestand vor allem darin, auf ihre Begrenztheit für eine geschlechtergerechte Arbeit (mit der Klientel und innerhalb des Teams) hinzuweisen. Koedukatives Alltagsgeschehen wurde mithilfe von (Rollen-)Spielen oder Kooperationsübungen reproduziert und analysiert, allerdings schien im koedukativen Setting keine Lösung denkbar zu sein. Doch dies hat sich mittlerweile dahingehend verändert, dass sowohl auf der Ebene der Zusammenarbeit zwischen Frauen und Männern, auf der konzeptionellen Ebene wie auch im pädagogischen Alltagsgeschehen Möglichkeiten der reflexiven Koedukation erarbeitet werden. »Reflexive Koedukation heißt für uns, dass wir alle pädagogischen Gestaltungen daraufhin durchleuchten wollen, ob sie das bestehende Geschlechterverhältnis eher stabilisieren oder ob sie eine kritische Auseinandersetzung und damit ihre Veränderung fördern« (Faulstich-Wieland/Horstkemper 1996). 3.1 … mehr als Mädchen- und Jungenarbeit Geschlechtsbezogene Pädagogik ist also mehr als geschlechtshomogene Arbeit, wie wohl die geschlechtshomogene Arbeit ein elementarer Bestandteil ist. Diese wird im vierten Baustein für die Teilnehmenden erfahrbar, konzeptioniert und reflektiert, wobei der jeweilige Praxisbezug der Teilnehmenden aktiv einbezogen wird.
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Was hier beschrieben wird als eine Begrenzung ist selbstverständlich aus anderer Perspektive gesehen eine große Innovation: In der HVHS Frille wurden bereits in den 80er-Jahren parteiliche Mädchenarbeit und antisexistische Jungenarbeit als zwei sich ergänzende Ansätze entwickelt. Damit war die HVHS Frille einer der ersten Orte von Jungenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt und einer der ersten Orte, wo die Mädchen- und Jungenarbeit aufeinander bezogen und in einen koedukativen Rahmen und ein gemeinsames Konzept eingebunden waren (vgl. HVHS Frille 1986). An den meisten anderen Orten entwickelten Frauen aus der Kritik an Koedukation eine feministische bzw. parteiliche Mädchenarbeit, die die Forderung nach einer Jungenarbeit durch Männer enthielt. Jahre später entstanden hieraus Ansätze von Jungenarbeit und erst nach weiteren Jahren entwickelte sich eine Kooperation zwischen Mädchenarbeit und Jungenarbeit (vgl. Rauw/Ottemeier-Glücks 2010).
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Mädchen- bzw. Frauenarbeit ist für uns vorrangig die pädagogische Arbeit von Frauen mit Mädchen bzw. Frauen; Jungen- bzw. Männerarbeit die pädagogische Arbeit von Männern mit Jungen bzw. Männern. Nach wie vor halten wir weitestgehend an diesem Konzept fest, obwohl das Bewusstsein für die Beschränkungen in der Zweigeschlechtlichkeit wächst. Auch in der geschlechtshomogenen Arbeit steht die Fachkraft mit ihrem personalen Angebot im Mittelpunkt. An ihr/ihm wird die Qualität geschlechtsbezogener Pädagogik deutlich: Weder die Geschlechtshomogenität der Gruppe noch die Methoden sind ein Garant für das Erreichen der Ziele, sondern die pädagogisch agierende Person mit ihren Handlungen, Interventionen, Infragestellungen, Grenzsetzungen und Inhalten. Diese Klärung ist um so wichtiger, als sich Mädchen- und Jungenarbeit mittlerweile immer mehr als (wenn auch randständiger) Bestandteil von Jugendhilfe etabliert hat. Eine Konsequenz dieser grundsätzlich äußerst positiven Etablierung ist, dass nicht wenige Jugendarbeiter_innen für Mädchen- bzw. Jungenarbeit zuständig sind, ohne zu wissen, was sie inhaltlich eigentlich wollen. Über die Klärung der Zielsetzung hinaus stellt sich allerdings die Frage, wie sich diese Ziele im pädagogischen Kontakt mit der Klientel vermitteln lassen, sodass sie auch an deren Bedürfnissen und Lebenswelten anschließen. Dies erfordert von den Fachkräften eine Haltung, die Partizipation und Prozessorientierung eröffnet und somit für die jeweilige Zielgruppe Selbstbestimmung und Verantwortung als Erfahrung vermittelt. Außerdem konkretisiert sich auch hier eine intersektionale Perspektiverweiterung, in der über die Kategorie Geschlecht hinaus diverse weitere Kategorien, die in der Lebensbewältigung der einzelnen Personen eine Rolle spielen können, einbezogen werden und die Differenziertheit in der »Homogenität« als bereichernde Qualität in Augenschein genommen wird. Immer weniger Teilnehmer_innen verfügen heute über die Erfahrung in einer Frauengruppe (feministische Selbsterfahrungsgruppe), bei Männern war der Anteil derer, die in einer Männergruppe (implizierend die Kritik an hegemonialer Männlichkeit) waren, niemals erheblich. Daher dient dieser Baustein auch dem Vermitteln eines Erlebnisses. Dies gestaltet sich konkret so, dass in der Frauengruppe eine umfangreiche Seminareinheit mit Wahrnehmungsübungen zum Thema »Selbstbehauptung« durchgeführt wird, bei den Männern geht es oft um das Thema »Raumaneignung und Kontakt«. Beide Themen schließen an verschiedene Gewinn- und Verlustseiten der jeweiligen Vergeschlechtlichungsprozesse an und vermitteln einen inhaltlichen Kern der Mädchen_- bzw. Jungen_arbeit. Damit wird in diesem Seminar auch »ein
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Gefühl« für diese Arbeit vermittelt, welches neben den Begrifflichkeiten und der Reflexion des personalen Angebots zu einem tieferen Verständnis beiträgt. 3.2 … mehr als die Grenzen der Koedukation Immer mehr Teilnehmende wollen die Geschlechterfrage in ihre eine koedukative Alltagspraxis einbeziehen. Der fünfte Baustein hat sich dementsprechend in den letzten Jahren stark gewandelt, weil er neben der Reflexion der »unreflektierten« Koedukation den Blick auf die geschlechterbezogene Koedukation eröffnen will. Neben den Notwendigkeiten aus der Alltagspraxis heraus gibt es noch einen anderen wichtigen Grund, geschlechtsbezogene Pädagogik über die geschlechtshomogene Gruppenzusammensetzung hinaus zu denken: Menschen, die sich zwischen den dualistischen Geschlechterzuordnungen befinden oder sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen können oder wollen, haben darin keinen Ort. Diesem Dilemma kann mit reflexiver Koedukation begegnet werden, wenn sie tatsächlich einen Raum darstellt, indem die dualistische Ordnung dekonstruiert wird. Allerdings weist dieser Aspekt über den Begriff der reflexiven Koedukation hinaus, denn die Koedukation thematisiert ja gerade das gemeinsame »Erziehen« von Mädchen und Jungen – bleibt also innerhalb der dualistischen Ordnung, auch wenn sie sich darin reflektiert. Konsequent wäre hier, eine neue Bezeichnung für diese Form der Pädagogik zu finden, die aktiv die Kultur der Zweigeschlechlichkeit übersteigt. Fundamental für die geschlechtsgemischte pädagogische Arbeit ist eine inhaltliche Basis im Team, vor allem zwischen den verschiedenen Geschlechtern. Aus diesem Grund wird bei diesem (fünften) Baustein viel Wert auf die Kommunikation zwischen den Geschlechtern gelegt, um mit Präzision zu klären, ob eine gemeinsame inhaltliche Verständigungsmöglichkeit besteht und wie diese erarbeitet werden kann. Hier zeigt sich immer wieder, wie schwer es ist, hinter den Worthülsen und Plattitüden wirklich nach der Motivation, der Bereitschaft und dem Reflexionsvermögen zu fragen: Wie kann die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung im Team reflektiert und damit experimentiert werden? Gibt es eine Sensibilität für Hierarchien innerhalb des Teams und wie wird damit umgegangen? Welche Normalitäten werden als solche erkannt und werden ihre diskriminierenden Faktoren aufgedeckt? Welche Offenheit gibt es, die gemeinsame Pädagogik immer wieder aufs Neue zu reflektieren in Hinblick auf ihren Beitrag zur Veränderung des Geschlechterverhältnisses?
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Ein weiteres wichtiges Thema, welches wir dem Bereich Koedukation zuordnen, ist die pädagogische Arbeit von Frauen mit Jungen bzw. von Männern mit Mädchen. Dieser Aspekt bekommt in den letzten Jahren einen immer größeren Stellenwert und ist unter dem Stichwort »Cross-work« derzeit schon fast ein Modethema. Tatsächlich ist das Thema von großer Relevanz, da in dem überwiegend mit Frauen besetzten pädagogischen Bereich die Begegnung von Frauen mit Jungen Alltag ist, und hier nach Antworten gesucht wird. Im Vergleich zu früheren Jahren (vgl. Glücks, Ottemeier-Glücks 2001) wächst auch das Interesse bei Männern, ihre pädagogische Beziehung zu Mädchen geschlechtergerecht zu gestalten Zur Klärung dieser »gegengeschlechtlichen« Beziehungsdynamik in der pädagogischen Begegnung nutzen wir die Methode des Standbildtheaters. Hier begegnet eine inszenierte Gruppe von Fachkräften des einen Geschlechts der inszenierten Gruppe von Jugendlichen des »anderen« Geschlechts. Die Teilnehmenden entwickeln diese Standbilder auf dem Hintergrund der Wahrnehmungen und Interpretationen aus ihrer beruflichen Praxis. Durch diese Bilder und durch die methodische Herangehensweise findet eine Dramatisierung von eindeutigen Geschlechtern statt. Auch wenn wir dieser Vereindeutigung einerseits kritisch gegenüberstehen, sehen wir andererseits den großen Nutzen dieser Inszenierung im Seminar darin, die zweigeschlechtliche Wahrnehmung und die an der Zweigeschlechtlichkeit orientierten Alltagserfahrungen offenzulegen: Bedürfnisse, Ängste, Grenzen und Wünsche werden in der Identifikation mit einer der Rollen erfahrbar und in die Reflexion eingebracht. Es ist immer wieder frappant, wie viel Aufschluss über diese pädagogische Beziehung der Perspektivwechsel in die Rolle der Jugendlichen bringt: Themen wie Erotisierung der pädagogischen Beziehung, Überhöhung einer männlichen Autorität durch die Mädchen, emotionale Bedürftigkeit der Jungen gegenüber einer weiblichen Pädagogin, Grenzüberschreitungen und Bedürfnisse nach Abgrenzung kommen auf den Tisch, werden ins Bewusstsein gerückt und in die geschlechtersensible Haltung integriert. 3.3 … mehr als Jugendarbeit Die Weiterbildung hat sich entwickelt aus den Kompetenzen und Erfahrungen in der Jugendbildungsarbeit in der HVHS Frille, sie richtete sich lange Zeit an Fachkräfte aus dem Bereich Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Doch auch in der Erwachsenenbildung und der Beratungsarbeit gibt es eine Notwendigkeit, Geschlechterfragen immer mehr einzubeziehen. Aus diesem Bedürfnis heraus und aus dem erweiterten Er-
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fahrungsschatz der Teamer_innen hat sich das Bild der GSWB seit 2005 verändert, sodass neben Jugendlichen auch der Blick auf eine Erwachsenenklientel einbezogen wird. Doch zeigen sich darin mehrere Schwierigkeiten: erstens führt die lange Tradition und das Image der GSWB mit den entsprechenden Teilnehmenden doch zu einer Dominanz der Zielgruppe »Jugend«, zweitens ist die Trennung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen nicht eindeutig zu ziehen, wenn z.B. Teilnehmende der GSWB mit erwachsenen Multiplikator_innen aus der Jugendarbeit tätig sind oder mit jungen Auszubildenden. Drittens gibt es neben dem Alter noch diverse Kategorien, die selbstverständlich auch eine gezielte Annäherung wert wären, allen voran die transkulturelle Pädagogik. So umfangreich die Weiterbildungsreihe zum einen ist, so begrenzt ist sie dann auch wieder und muss sich auf ihren eigenen Kern, die Vermittlung der Geschlechterkompetenz als Qualitätsbereicherung für die pädagogische Arbeit fokussieren. Der sechste Baustein erschließt Einblicke und Handlungskompetenzen für die strukturelle Absicherung geschlechtsbezogener Pädagogik und weist damit über den direkten pädagogischen Alltag hinaus. Hier werden verschiedene politische Strategien zur Verankerung der Geschlechterthematik benannt und es wird vertiefend auf Gender-Mainstreaming als aktuellste Maßnahme eingegangen. Sowohl auf der Ebene überzeugender Argumentationen als auch auf der Ebene der politischen Strategieentwicklung und praktischen Anwendung können die Teilnehmenden sich mit ihrem Praxisbereich erproben.
4. Zum guten Schluss Der Abschied wird in der GSWB zum Anlass genommen, sich nochmals miteinander in Verbindung zu bringen: Jede Gruppe gestaltet ihr eigenes Abschlussfest, welches selbstverständlich die Bezogenheit und Kreativität der Seminargruppe zum Ausdruck bringt. Über skurrile Verkleidungspartys mit reichlichen Überschreitungen der Geschlechterzuordnungen, mittelalterliche Gelage, Discos mit kabarettistischen Einlagen, Hexenabende bis hin zu Lagerfeuerromantik und Karaoke-ohne-Ende – hier haben wir schon viel erlebt. Dieser Abschlussabend, der mittlerweile den letzten Baustein um einen weiteren Abend verlängert, macht den Raum noch einmal weit auf für die (zwischen-)menschliche Dimension der GSWB, in der Freund_innenschaften und Verliebtheiten wachsen können, Kreativität zum Ausdruck kommen kann, Menschen ihre Gren-
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zen fühlen und sich in neuen Erfahrungen ausprobieren, in der Wertschätzung stattfindet, auf der sich Vielfalt entfalten kann. Den inhaltlichen »guten Schluss« der Weiterbildungsreihe bildet die Abschlusszeremonie. Dies ist einer der berührendsten Momente einer jeden GSWB: immer anders – immer besonders – immer erstaunend. In einem Prozess über einen ganzen Tag erarbeitet jede_r das eigene Fazit aus der Weiterbildungsreihe und klärt seinen_ihren Standpunkt zur Geschlechtsbezogenen Pädagogik und Gender-Kompetenz. In kleinen Gruppen unterstützen sich die Teilnehmenden darin, die eigene Position verständlich zu machen, sie zu präzisieren und ihr in einer eigenen Präsentation Form zu geben. Mit reichlich Aufregung treffen sich alle Teilnehmer_innen und Teamer_innen, um die eigene Momentaufnahme in puncto Gender-Kompetenz ins Rampenlicht zu setzen und anschließend das Zertifikat über die erfolgreiche Teilnahme in Empfang zu nehmen.9 Hier kann es sein, dass jemand etwas aus dem eigenen Tagebuch vorliest oder eine flammende Rede hält; einer bringt sein Begehren in Worte, sich an keine Konventionen halten zu wollen; eine andere singt ein Lied, wie sehr die Wertschätzung der eigenen Geschlechtlichkeit für sie gewachsen ist; jemand präsentiert eine Installation zur erfahrenen Nähe oder hängt ein Selbstportrait auf – ohne Worte – so scheint der Variantenreichtum grenzenlos. Was uns als Teamer_innen so anrührt in diesen Präsentationen geht weit über die inhaltliche Komponente hinaus: Es ist das Vertrauen einer Person in sich selbst und in die Gruppe, um sich in diesem Moment mit dem zu zeigen, was ist und was sie_ihn berührt. Es ist das Über-sich-selbst-Hinauswachsen und zugleich ein In-sich-hinein. Es ist die Achtung und Wertschätzung untereinander. Es ist der Blick auf die Befreiung, die in solchen Momenten stattfindet, und die möglich macht, dass Menschen sich mit ihren Potenzialen in die Welt einbringen und die Welt gestalten.
Literatur Connell, Robert W. (1999): Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen: Leske & Budrich. Funk, Heide/Schwarz, Anne (1999): Bedürfnisse und Konfliktlagen von Mädchen. In: Sozial-pädagogisches Institut Berlin, Bundesmodell »Mädchen in der Jugendhilfe« (Hg.) in Kooperation mit dem Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung e. V., Bitzan, 9
Voraussetzung dafür ist, dass jemand an mindestens fünf der sechs Bausteine teilgenommen hat.
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Maria/Daigler, Claudia/Rosenfeld, Edda: Neue Maßstäbe − Mädchen in der Jugendhilfeplanung, Berlin: Fata Morgana Verlag, 88– 102. Faulstich-Wieland, Hannelore/Horstkemper, Marianne (1996): 100 Jahre Koedukationsdebatte − und kein Ende. In: Ethik und Sozialwissenschaften, 7.Jg., Nr.4, 509−520. Glücks, Elisabeth/Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (1994): Geschlechtsbezogene Pädagogik. Ein Bildungskonzept zur Qualifizierung koedukativer Praxis durch parteiliche Mädchenarbeit und antisexistische Jungenarbeit, Münster: Votum Verlag. Glücks, Elisabeth/Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (2001). Was Frauen Jungen erlauben können, Was Männer Mädchen anzubieten haben. Chancen und Grenzen der pädagogischen Arbeit mit dem anderen Geschlecht. In: Rauw, Regina/Jantz, Olaf/Reinert, Ilka/OttemeierGlücks, Franz Gerd (Hg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit, Quersichten Band 1, Opladen. Leske & Budrich, 67−88. Günter, Andrea (1996): Weibliche Autorität, Freiheit und Geschlechterdifferenz, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag. Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« (1988): Parteiliche Mädchenarbeit & Antisexistische Jungenarbeit. Abschlußbericht des Modellprojekts »Was Hänschen nicht lernt, ... verändert Clara nimmermehr!« Geschlechtsspezifische Bildungsarbeit für Jungen und Mädchen. Frille (Eigenherausgabe). Lorber, Judith (2004): Man muss bei Gender ansetzen, um Gender zu demontieren; Feministische Theorie und Degendering. In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, Heft 1/2004. Jg. 22, 9ff. Mackert, Dorothee (2002): »Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn«. Wie Frauen ihr Wünschen, Wollen und Begehren in die Welt bringen können. In: Mackert, Dorothee: Wachsen am Mehr anderer Frauen, Rüsselsheim: Christel Göttert Verlag, 18−35. Rauw, Regina/Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (2010): … erlebte Geschichte − gewonnene Erkenntnisse. Reflexionen aus der Praxis. Kooperation als Fachmänner und Fachfrauen. Dokumentation eines Vortrags am 23.09.2009. In: Dokumentation der Fachtagung: Müssen, Können, Dürfen. Gelingende Kooperation von Mädchen- und Jungenarbeit. LAG Mädchenarbeit in NRW e.V. und LAG Jungenarbeit in NRW e.V. Wuppertal, Dortmund: 25−29.
20 Jahre | 287
Rose, Lotte/Schultz, Marc (2008): Doing Gender im Jugendhaus. Erfahrungen eines Seminars zur Genderethnographie in der Jugendarbeit. In: deutsche jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit. 56. Jg, Heft 12, 530−539. Voigt-Kehlenbeck, Corinna (2001): … und was heißt das für die Praxis? Über den Übergang von einer geschlechterdifferenzierenden zu einer geschlechterreflektierenden Pädagogik. In: Fritsche, Bettina/ Hartmann, Jutta/Schmidt, Andrea/Tervooren, Anja (Hg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten und poststrukturalistische Perspektiven, Opladen: Leske & Budrich, 237−254.
Mit We rtschä tzung und Ha rtnäck igk e it. Eine Gruppendiskussio Gruppendiskussion n Friller Mädchen_ - und Jungen_ a rbe iter_ innen LAURA MAIKOWSKI, ELLEN WESEMÜLLER
Die Idee, eine Gruppendiskussion zu führen, entstand aus dem Wunsch, die verschiedenen Generationen der geschlechtsbezogenen Pädagogik in Frille an einen Tisch zu bringen, um von den unterschiedlichen Konzepten und Themen der Mädchen_arbeit1, ihren politischen Bedingtheiten zu der jeweiligen Zeit und der Zusammenarbeit mit den Jungen_arbeiter_innen zu erzählen, nachzufragen und zu diskutieren. Die Teilnehmer_innen trafen sich am 29. November 2009 im Teamer_innen-Zimmer der »Alten Molkerei Frille«. Herausgekommen ist ein Gespräch mit acht Mädchen_- und Jungen_arbeiter_innen aus zwei Generationen, die von ihren Eindrücken berichten, sich in die Erzählungen anderer einmischen, widersprechen oder zustimmen, viel lachen mussten und zum Ende ein paar Tränen wegwischten. Laura Maikowski: Was war das Motto der Mädchen_arbeit, als ihr angefangen habt, in Frille zu arbeiten? Ines Pohlkamp: Ich habe 1999 hier angefangen. Es gab damals ein neues Konzept für die Mädchenarbeit, das die Mädchenarbeiterinnen drei Jahre lang entwickelt hatten. Darin steht ein Satz, der mir gleich bei 1
Wir schreiben hier »Mädchen_arbeit«, wenn wir geschlechtsbezogene Pädagogik meinen, die Ansätze der »Queer Theory« mitdenkt. Ansonsten schreiben wir »Mädchenarbeit«. Dasselbe gilt für »Jungen_arbeit« bzw. »Jungenarbeit«.
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meinem ersten Arbeitskreis der Jungen- und Mädchenarbeiterinnen begegnet ist: »Was ich will!« Die Kernaussage war, das Interesse der Mädchen zum Ausgangspunkt der eigenen Arbeit zu machen. Das heißt: mehr Spaß zuzulassen in der Mädchenarbeit, mehr Lust und Freude dran zu haben und auch mehr Methoden auszuprobieren. Malgorzata Soluch: Als ich 2003 hierhergekommen bin, habe ich zwei Generationen vorgefunden. Die ältere Generation vertrat das Konzept »Was ich will!« oder »Mädchenarbeit ohne Mädchenbild«. Das bedeutete, dass in der Begegnung mit den Mädchen das wertgeschätzt und wahrgenommen werden soll, was sie als Darstellung ihrer Persönlichkeit mitbringen und zeigen wollen. Dass die Mädchen da abgeholt werden sollen, wo sie stehen. Die jüngere Generation dagegen hat sich damit beschäftigt, Mädchenarbeit und den Begriff »Mädchen« zu dekonstruieren – dies theoretisch zu bereden, aber auch praktisch und methodisch in die Seminare mit einzubeziehen. Dekonstruktion heißt für mich, das Konzept der Weiblichkeit zu erweitern. Das heißt, ich biete den Mädchen etwa durch moderierte Gespräche die Möglichkeit an, darüber zu reden, welche alternativen Geschlechterkonzepte möglich sind. Wenn ich sage, ich hole die Mädchen da ab, wo sie stehen, dann kann es passieren, dass sie viele Alternativen oder Möglichkeiten gar nicht kennen. Meine Rolle ist es dann, ihnen per Fragen und Darstellungen – wir als Teamer_innen sind ja mit unseren unterschiedlichen Geschlechterkonzepten im Raum – die Chance zu geben, sich andere Konzepte anzusehen. Fidan Yiligin: Als ich 2009 hier angefangen habe, habe ich das »orange Buch«2 gelesen. Dass Regina Rauw schreibt, wir holen die Mädchen dort ab, wo sie stehen, hat mir sehr gut gefallen. Für mich ist es wichtig, dass wir die Mädchen auch mit ihrer migrantischen Herkunft abholen – dass diese nicht ignoriert wird, sondern einen Raum hat. Ich konnte darauf sehr gut aufbauen. Laura Maikowski: Welche Auswirkungen hatte das Motto der Mädchen_arbeit auf die Jungen_arbeit? Volker Mörchen: Das Motto »Mädchenarbeit ohne Mädchenbild«, »Jungenarbeit ohne Jungenbild« war ein Gegenmodell zu dem Gedanken: »Jungen und Mädchen haben Defizite – deshalb müssen wir sie stärken, begrenzen, weiterbilden, ihnen auf die Sprünge helfen.« Nach 2
Rauw, Regina/Jantz, Olaf/Reinert, Ilka/Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (Hg.) (2001): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit, Quersichten Band 1, Opladen: Leske & Budrich.
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diesem Modell hatten wir konzeptionell kein Bild davon, wie Mädchen und Jungen sind. Ohne vorgefertigtes Bild in die Arbeit zu gehen, hieß, die Jugendlichen viel individueller, konkreter anzuschauen: Was ist das jetzt für eine Gruppe? Wir haben deshalb nur eine Methode für den Einstieg in das Seminar geplant, alles Weitere musste sich entwickeln. Ich würde das aber nicht als Konzept begreifen, sondern eher als Leitgedanken, an dem wir uns orientiert haben. Und ich würde sagen, dass wir trotzdem immer Bilder im Kopf hatten. Von einer BVJ3-Klasse hat man ein Bild. Auch, wenn man noch so ein schönes Konzept hat, dass man sich keins machen will. Michael Drogand-Strud: Das »Was ich will!«-Konzept war die Erweiterung eines feministischen Ansatzes von Mädchenarbeit, der lautete: »Mädchen stärken«. Die Erweiterung bedeutete, dass die Mädchen mit ihren Wünschen, Utopien und Standpunkten ernst genommen werden sollten. Das Konzept der Mädchenarbeiterinnen, ihre Sicht auf Mädchen und Gesellschaft, trat in den Hintergrund. Es war der Versuch, den Mädchen nicht zu oktroyieren, wie sie sein sollten und es war das Eingeständnis, dass wir gar nicht wissen, wie Mädchen sein sollen. Es war der Versuch dafür zu sorgen, dass sie den Weg gehen können, den sie selbst bestimmen. Da konnten sich Mädchen- und Jungenarbeit ergänzen. Das »Was ich will!«-Konzept stellte die Zweigeschlechtlichkeit aber überhaupt noch nicht infrage. Mit dem Aufgreifen des Gedankens der Dekonstruktion haben wir uns zum ersten Mal gefragt: Dürfen wir überhaupt von »den Mädchen«, »dem Mädchenbild« und »der Mädchenarbeit« sprechen? Wie lösen wir Zweigeschlechtlichkeit auf? Fragen, mit denen wir uns heute noch beschäftigen. Dabei haben wir es mit einem Gender-Paradox zu tun: Wenn wir Geschlecht betonen, rücken wir es ganz klar in den Vordergrund. Wir arbeiten dabei oft mit Setzungen, gerade auch in der konkreten Seminararbeit, wo wir von vornherein Mädchen- und Jungengruppen bilden. Diese Setzungen holen uns dann andererseits immer wieder ein. Björn Nagel: Als ich 2006 hier angefangen habe, war ich gerade mit der Uni fertig. Ich hatte mich mit vielen Theorien auseinandergesetzt und wollte nun wissen, wie man in der Praxis Geschlecht dekonstruieren kann. Ich hatte damals das Gefühl, dass hier zu diesem Thema nicht viel lief. Es ging eher darum, wie Bilder und Rollen zum Thema Geschlecht 3
BVJ: Ein Berufsvorbereitungsjahr für Schüler_innen, die nach dem Abschluss oder dem Abbruch der Schule weder einen Ausbildungsplatz finden noch weiterführende Schulen besuchen, jedoch weiterhin der Schulpflicht unterliegen.
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dekonstruiert werden können, nicht aber die Kategorie Geschlecht selbst. Das Verhaftetsein in der Zweigeschlechtlichkeit wurde nicht infrage gestellt. Laura Maikowski: Was waren Kritikpunkte an dem »Was ich will!«-Konzept aufseiten der Mädchen_arbeit? Ines Pohlkamp: Zunächst fand ich das ein sehr schönes, befreiendes Konzept. Es führte im Arbeitskreis zu einer Art Aufbruchstimmung, weil wir Mädchenarbeiterinnen uns sehr ausprobieren konnten. Wir mussten nicht mehr streng Methoden verfolgen, sondern konnten in den Kontakt gehen – das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Doch bald hatten wir Diskussionen, weil die Mädchen beispielsweise vier Tage Seidenmalerei machen wollten. Dann haben einzelne Teamerinnen wirklich vier Tage Seidenmalerei gemacht, sich aber auch gefragt: »Was hat das noch mit emanzipatorischer Pädagogik zu tun?« Daran anschließend stellte sich die Frage: Wie kann man die eigenen Ansprüche und die Interessen der Mädchen in eine Balance bringen? Meine größte Kritik an diesem Konzept ist, dass der politische Gedanke von Mädchen- und Jungenarbeit dabei verloren gegangen ist. Es wurde hier im Haus auch »Spaßkonzept« genannt. Verloren gegangen ist die Kritik am Geschlechterverhältnis, das gewaltsam ist, also die Kritik der Gewalt. Im Zuge dieses Ansatzes sind auch die klassischen Themen der Mädchenarbeit verloren gegangen, wie zum Beispiel sexuelle Gewalt und Selbstbehauptung. Und leider auch die Idee, dass Mädchenarbeit nicht nur die konkrete Arbeit mit Mädchen ist, sondern auch Netzwerk- und Lobbyarbeit für Mädchen. Es ist eine politische Arbeit und eine Pädagogik, die gesellschaftsverändernd sein will. Laura Maikowski: Was sind heute aktuelle Themen der Mädchen_arbeit? Und was sind Themen, bei denen ihr lieber davonlaufen möchtet? Malgorzata Soluch: Ich finde es immer wieder eine Herausforderung, in einem Raum voller Jugendlicher meine Weiblichkeit zu dekonstruieren. Wie ich das, was ich ihnen über mich erzählen möchte, verständlich mache. Ich finde ihre Fragen zu meiner Person wie: »Bist du verheiratet?« manchmal viel greifbarer als meine Ideen. Sie führen zu einer besseren Auseinandersetzung, auch, wenn sie mich überhaupt nicht da abholen, wo ich in meinem Leben stehe. Ich habe keine speziellen Lieblingsthemen. Meine Lieblingsmädchen_arbeit ist prozessorientiert. Wenn ich eine richtige Entscheidung getroffen habe, und der Prozess die Mädchen da abholt, wo sie gerade
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stehen, habe ich eine gute Pädagogik gemacht. Der Prozess ist meine Methode. Ich mag es, wenn die Mädchen locker sind. Wenn sie sich zeigen. Wenn sie meine Botschaft, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, schnell verstehen und Vertrauen zu mir gewinnen, um mit mir in diesem Raum authentisch zu sein. Aber ich mag es auch, wenn sie rebellieren, wenn anstrengende Dynamiken entstehen. Das heißt auch: Ich biete etwas so an, dass sie sich trauen, sich mit mir auseinanderzusetzen. Laura Maikowski: Als Pädagog_in bringt man immer einen bestimmten Blick, eine bestimmte Perspektive ein. Manche Themen deckt man dabei nicht ab. Ich kenne das zum Beispiel mit dem Thema Schönheit – da könnte ich wegrennen! Ich weiß einfach nicht, wie ich mit Mädchen dazu arbeiten soll. Kennt ihr das auch? Ines Pohlkamp: Das Thema Schönheit ist auf jeden Fall schwierig, genauso wie alles, was mit dem Körper zu tun hat. Da gibt es bislang keine Konzepte für die Mädchen_arbeit, die überzeugend wären – weder hier noch anderswo. Das Gleiche gilt für das Thema Selbstbewusstsein. Die Mädchen von heute sind selbstbewusst. Die sagen: »Ich habe überhaupt kein Problem.« Und dann komme ich und sage: »Wir machen jetzt aber Selbstbehauptung.« Dann lachen sie mich natürlich aus. Wie gehe ich also mit Mädchen um, die selbstbewusst sind? Ich vermute natürlich mit meinem pädagogischen Blick, dass sie es irgendwo auch nicht sind. Zugleich will ich ihnen ihr Selbstbewusstsein aber lassen – das ist ein Dilemma! Mein Ziel wäre es, Normalitäten infrage zu stellen, um das Repertoire der Mädchen ein Stück zu erweitern. Das ist auch mein Begriff von Dekonstruktion. Und dann – und das finde ich die Kunst – die Themen so zu besprechen, dass ich Aussagen nicht werte. Dass ich als Mädchen_arbeiter_in nicht sage: »Das ist der normale Weg, den finde ich gut«. Oder: »Das ist der nichtnormale Weg, den finde ich gut.« Ich will ihnen neue Möglichkeiten anbieten. Meine Lieblingsthemen sind Liebe, Sexualität und alles, was mit Gefühlen zu tun hat: Gefühle ausprobieren, Gefühle zulassen, Gefühle überhaupt erst erkennen. Oft sind Wut und Aggressionen die schwierigeren Gefühle, zu denen man länger arbeiten muss. Michael Drogand-Strud: Das Thema Körper führt auch in der Jungen_arbeit aufseiten der Pädagog_innen zu einer großen Vorsicht. Ich glaube, das hat in erster Linie mit unseren eigenen, nicht diskutierten Körperbildern zu tun. Es zeigt sich aber auch wieder das Dilemma der Dramatisierung: In dem Moment, wo ich Schönheit betone, stellt sich
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die Frage, ob ich sie wieder dekonstruieren kann. Aber: Wie dekonstruiere ich sie, wenn ich sie nicht zum Thema mache? Das ist tatsächlich ungelöst. Von daher gebe ich dir recht, es gibt dazu kein befriedigendes Konzept. Laura Maikowski: Die Prozessorientierung wirft auch die Frage auf, welche Themen im Prozess hochkommen und welche man überhaupt sieht. Fidan, würdest du sagen, dass das Thema Migration in den Seminaren, die du leitest, mehr zutage tritt? Fidan Yiligin: Ja, Migration wird zum Thema, wenn ich da bin. Wenn Frauen sehen, dass da eine andere ist, die Rassismuserfahrungen mitbringt, dann ist es einfacher, über die eigenen Rassismuserfahrungen zu reden. Es ist dann generell leichter, über Probleme, die die Migration mit sich bringt, zu sprechen. Allein schon dadurch, dass ich da stehe, ist es für die migrantischen Frauen im Raum einfacher, sich einzubringen. Wenn ich Empowerment-Arbeit mache, gibt es mir Kraft zu beobachten, dass die Mädchen mich als Vorbild nehmen und sich verändern, stärker werden. Es reicht schon, dass ich da bin. Dann verändern sich die Bilder, die Zukunftsvorstellungen, die Berufswünsche, die Motivation, sich um sich selbst zu kümmern, für sich und die eigene Vision stark zu sein. So habe ich ja auch gelernt. Mein großes Vorbild ist Annita Kalpa4 ka . Als ich gesehen habe, wie sie Seminare geleitet hat, habe ich mich auch verändert. Das, was ich an den anderen Mädchen und jungen Frauen beobachte, habe ich selber durchgemacht. Deswegen kann ich das so gut verstehen. Ellen Wesemüller: Du sprichst von »Empowerment« und »Mädchen stärken«. Vorhin wurde gesagt, dass das ein altes Konzept ist, das in Frille weiterentwickelt wurde. Ist das Konzept jetzt über die Migrationsfrage wieder ins Boot geholt worden? Oder ist es in diesem Kontext ein völlig anderes Konzept? Ines Pohlkamp: Ein Teil der Mädchen_arbeit war und ist, bestimmte Mädchen zu ermutigen und zu empowern – wie in der nichtrassistischen Bildungsarbeit. Insofern finde ich nicht, dass das ein Widerspruch ist. Aber die »Entdeckung« migrantischer Mädchen als eine besondere 4
Annita Kalpaka, Jg. 1955, Erziehungswissenschaftlerin und Diplom-Volkswirtin, Supervisorin, Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Rhein-Main. Arbeitsschwerpunkte: Rassismustheorien, rassismuskritische Bildungsarbeit, Subjekttheorien, Lernen vom Subjektstandpunkt
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Gruppe ist – in diesem klassischen pädagogischen Diskurs – leider relativ jung. Fidan Yiligin: Schon als ich Mädchen war, gab es Mädchenarbeit, aber es gab keine migrantische Pädagogin. Die Pädagogin, die es gab, hat meine Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen. In den Achtzigern gab es dann den Ansatz, Mädchen migrantischer Herkunft aus ihren Familien zu »retten« und in Mädchenhäuser zu bringen. Ich bin nicht in ein Mädchenhaus geflüchtet, um mich vor den sexistischen und patriarchalen Übergriffen meiner Herkunftsfamilie zu schützen. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, in den patriarchalen Strukturen zu bleiben. Für mich war es einfacher, gegen die patriarchalen Strukturen zu kämpfen als gegen den alltäglichen Rassismus. Und im Nachhinein weiß ich auch, warum: Es gab keinen Raum, wo meine Bedürfnisse berücksichtigt worden wären. Mittlerweile gibt es solche Räume, in denen migrantische Mädchen von migrantischen Pädagog_innen gestärkt werden. Aber der Weg dahin musste erst geebnet werden. Früher sollten wir gerettet werden, jetzt sagen wir: »Ich will gar nicht gerettet werden, ich gehe meinen eigenen Weg. Und für diesen Weg brauche ich meinen eigenen Raum.« Weil Deutschland nun mal ein weißer Raum ist. Ellen Wesemüller: Wie war die Zusammenarbeit zwischen Mädchen_und Jungen_arbeit in eurer Generation in Frille? Michael Drogand-Strud: Das Ursprungsbild zu meiner Anfangszeit: Es gibt zwei Gruppen, die in sich rund sind und auf die jeweils andere Gruppe losgelassen werden. Mit der klaren Ansage, wer die Definitionsmacht hat. Ich habe da ein ganz klares Bild vor Augen, als wir anhand der Methode »Fishbowl«5 über ein Thema diskutieren sollten: die Mädchenarbeiterinnen und Jungenarbeiter saßen einander gegenüber und beide Seiten wurden von der Moderation verbal aufeinander losgelassen. Das ist die pure Dramatisierung von Geschlecht, die mich fast rückwärts aus dem Raum rausgetrieben hat, weil ich es kaum ausgehalten habe, dass die Kollegin, mit der ich so wunderbar zusammenarbeiten könnte, plötzlich meine inszenierte Feindin wurde.
5
Eine alternative Methode der Diskussionsführung. Eine kleine Gruppe aus dem Kreis der Teilnehmer_innen diskutiert im Innenkreis (»GoldfischGlas«), während die Übrigen in einem Außenkreis die Diskussion beobachten. Möchte ein_e Teilnehmer_in aus dem Außenkreis zur Diskussion beitragen, kann sie/er mit einem Menschen des Innenkreises den Platz tauschen.
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Volker Mörchen: Ich fand die Zusammenarbeit sehr kooperativ. Ich weiß, es gab immer mal wieder Vorwürfe von Mädchenarbeiterinnen an bestimmte Jungenarbeiter, die Jungen zu defizit-orientiert zu betrachten. Umgekehrt habe ich nicht mitbekommen, dass der Jungenarbeitskreis den Mädchenarbeiterinnen gesagt hätte: Moment mal, seid ihr nicht mehr ganz bei Trost? Dabei war immer klar, dass unsere Arbeit eng zusammenhängt: Die Arbeit der einen hat Auswirkungen auf die Arbeit der anderen. Interne Konflikte gab es schon eher. Ich kann mich an Diskussionen aus dem Jungenarbeitskreis erinnern, wer eigentlich Jungenarbeit machen darf, was ein Mann mitbringen muss. Das gab es in Bezug auf die Mädchenarbeit weniger. Ines Pohlkamp: Als ich hier angefangen habe, gab es ganz klar getrennte Seminare: ein Jungen- und ein Mädchenseminar. Wir haben uns nicht stark aufeinander bezogen, außer bei der Begrüßung. Das hat sich aber ziemlich schnell gewandelt. Viele Jungenarbeiter und Mädchenarbeiterinnen hatten ein großes Interesse an den jeweils anderen Arbeitsweisen, Inhalten und Methoden. Es kam immer mehr zum Austausch. Trotzdem würde ich sagen, dass es heute immer noch zwei Seminarverläufe gibt. Es gibt noch zu wenig reflexive Koedukation (vgl. »Reflexive Koedukation revisited« in diesem Buch). Interessant ist, dass es auch bei den Mädchenarbeiterinnen eher Konflikte innerhalb der Gruppe gab. Die Linien waren damals noch andere, beispielsweise die zwischen heterosexuellen und lesbischen Mädchenarbeiterinnen. Es gab wenige, die in gemischten Teams gearbeitet haben. Das war natürlich auch interessant für die Jungenarbeiter, weil es hier und anderswo nur wenige schwule oder bisexuelle Jungenarbeiter gibt. Malgorzata Soluch: Es gab eine Phase, in der Mädchen_arbeiter_innen die Jungen_arbeiter_innen zu einem Dialog eingeladen und offene Fragen gestellt haben: Warum gibt es eigentlich kein Interesse an unserer Arbeit? Warum findet kein Austausch statt? Gibt es bestimmte Ängste vor unseren Inhalten? Das waren Momente, die ich als sehr schwierig empfunden habe, weil die Männer von der Diskussion total angegriffen waren und mit der Anforderung wenig anzufangen wussten, zumindest im direkten Dialog. Der Dialog hat aber für eine Sensibilisierung gesorgt: Ab dem Moment habe ich immer wieder die Bemühungen von beiden Seiten wahrgenommen, in Diskussionen und in den Austausch zu gehen. Björn Nagel: Ich empfinde die Zusammenarbeit als sehr konstruktiv. Ich bin auch mit dem Bild hierhergekommen, dass es ein gemeinsames Konzept, eine gemeinsame Idee gibt, die verfolgt wird: Die Abschaffung
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patriarchaler Strukturen, der Umgang mit Sexismus und Rassismus. Ich habe aber das Gefühl, dass sehr wenig Raum da ist, um da gemeinschaftlich drüber zu sprechen. Wir könnten uns mehr austauschen, Feedback geben oder reflektieren. Ellen Wesemüller: Was waren die zentralen Konflikte zwischen Jungen_und Mädchen_arbeit? Ines Pohlkamp: Ein zentraler Konflikt ist immer wieder, dass die Mädchen_arbeiter_innen hauptsächlich für die Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen und dem Lehrpersonal zuständig sind. Vieles, was atmosphärisch hier stattfindet, also dass die Stimmung stimmt, leisten die Mädchen_arbeiter_innen. Die Jungen_arbeiter_innenseite ruft hier die klassischen weiblichen Eigenschaften ab. Björn Nagel: Ich erinnere mich, dass es Konflikte um die Raumnahme gab: Im Gespräch mit dem Lehrpersonal zeigten diese oft mehr Interesse an der Jungen_arbeit. Auch Jungen_arbeiter_innen selbst haben mehr Gewicht darauf gelegt und mehr Raum eingenommen, ohne sich das bewusst zu machen. Und ich erinnere mich auch, dass es die These gab, wir Jungen_arbeiter_innen seien zu wenig patriarchatskritisch. Malgorzata Soluch: Eine Zuspitzung, die ich immer wieder wahrgenommen habe, war, dass die Jungen_arbeiter_innen einem das Gefühl vermittelt haben: »Ihr habt es mit den Mädchen so leicht, ihr massiert euch die ganze Zeit gegenseitig und macht entspannte Seminare. Und wir machen harte Arbeit.« Das war immer nur zwischen den Zeilen zu lesen, das heißt, es gab nie eine Grundlage, sich daran zu reiben. Die Mädchen_arbeiter_innen haben keine Wertschätzung bekommen und sich gedacht: »Wie sehen die eigentlich meine Arbeit? Irgendwie denken die, dass ich wirklich die ganze Zeit Massagen anleite. Oder dass ich nach Frille komme, um hier fünf nette Tage zu haben.« Die von Mädchen_arbeiter_innen angestoßene Diskussion hat dafür gesorgt, dass wir langsam gelernt haben, unsere Fragen laut zu stellen. Das war auch eine Einladung für mich, mal zu fragen: »Björn, du siehst müde aus – wie war eigentlich dein Tag?« Oder: »Ich habe eine Unruhe wahrgenommen. Was ist los?« Es ist interessant, dass wir in den Seminaren alles dekonstruieren wollen und manchmal untereinander Geschlechter verfestigen. Ines Pohlkamp: Nicht immer gibt es eine Weiterentwicklung, eher unterschiedliche Phasen. Es gab immer wieder Momente toller Zusammenarbeit, die mich an Intensität und Solidarität sehr beeindruckt haben. Aber Zusammenarbeit bedarf einer permanenten Pflege.
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Fidan Yiligin: Ich will das unterstreichen. Die Reproduktion von Machtverhältnissen in Bezug auf Mann und Frau geht nahtlos über in die Reproduktion von Machtverhältnissen zwischen weiß und nichtweiß. Und die Zusammenarbeit ist immer wieder zu pflegen. Laura Maikowski: Medial und auch im wissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs gab es zuletzt eine starke Diskussion um die »armen Jungen«. Wie positioniert ihr euch dazu? Was hat dieser Diskurs mit der Rolle der Mädchen_arbeit gemacht? Michael Drogand-Strud: In Gesprächen mit Lehrer_innen, aber auch im Kollegium und auf Fortbildungen, begegnet mir momentan ständig die Aussage: »Wir haben jetzt verstanden, dass wir die ganze Zeit die Jungs vernachlässigt haben.« Unterschwellig heißt das: »Wir haben die Mädchen so weit gefördert, dass sie jetzt sogar die Jungs überholt haben.« Da muss man gegensteuern. Das heißt, meine Aufgabe ist es zu sagen: »Es gibt ganz viele Strukturen, wo die Jungen schlechter abschneiden als die Mädchen. Aber wenn ihr euch jetzt nur um Jungen kümmert, habt ihr nichts verstanden und nichts gewonnen.« Interessanterweise wird das gehört, wenn ich das sage. Wenn die Kollegin, die dort seit Jahren die Mädchen_arbeit macht, das sagt, wird das überhaupt nicht gehört. Da kann man jetzt natürlich positiv sagen: Man kann die Machtverhältnisse nutzen. Aber es ist auch ganz klar eine Reproduktion von Machtverhältnissen. Volker Mörchen: Das ist eine sehr ambivalente Geschichte. Als Jungeneinrichtung6 fangen wir an dieser Stelle viel patriarchale Dividende ein. Als wir gesagt haben, dass wir etwas für Jungen machen wollen, wurden wir parteiübergreifend bejubelt. Als wir dann sagen wollten, was wir konkret mit den Jungen oder für die Jungen machen wollen, war die Reaktion: »Ja, ja, ist uns egal! Hauptsache, jemand macht mal was mit denen.« Einerseits bringt uns das in Lohn und Brot, andererseits ist das aber eine permanente Kränkung, weil es eigentlich egal ist, was du machst. Uns begegnet auch oft, dass weiß-deutsche Pädagoginnen immer zu wissen glauben, was Mädchenarbeit ist, weil sie selbst bestimmte Erfahrungen als Mädchen gemacht haben und schon immer mit Mädchen arbeiten. Bei Jungen gibt es die Gegenbewegung: »Von Jungen habe ich keine Ahnung. Also, erklären Sie mir mal, warum die so komisch sind.« Ich kann die Statements von den »armen Jungen« auf der einen Seite und »Mädchen – na ja, das kennen wir ja alles« auf der anderen auf jeder 6
Bremer JungenBüro, Informations- und Beratungsstelle für Jungen, die Gewalt erleben.
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Ebene in meiner Tätigkeit feststellen. Mein Lieblingszitat in diesem Zusammenhang kommt von einem Politiker, der, als es gerade um sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen ging, sich mir in aller Vertraulichkeit zuwandte und sagte: »Wissen Sie was? Die Mädchen kriegen es seit Jahren hinten reingeschoben. Wir machen jetzt eine Mädcheneinrichtung dicht, und das Geld bekommen Sie. Was halten Sie davon?« Ich finde, das bringt ziemlich genau auf den Punkt, welcher Diskurs da am Wirken ist. Wenn du Mädchen_- und Jungen_arbeit als Kooperationsprojekt verstehst, dann verbietet sich dieser Weg. Ich muss dann auch deutlich sagen, dass ich so ein Angebot widerlich finde. Björn Nagel: Dieser Arme-Jungen-Diskurs ist auch sehr pseudowissenschaftlich, weil es erst seit zehn Jahren genaue Zahlen gibt. Ich glaube, da sind ganz handfeste Interessen dahinter. Dass die Jungen in der Schule nicht so gut abschneiden, ist schon immer so. Ich finde es wichtig, darauf zu verweisen, dass trotzdem immer noch überwiegend Männer in den Führungspositionen sind – weil die Gesellschaft männerbündisch strukturiert ist. Laura Maikowski: »Gender« und »Gender-Mainstreaming« sind Begriffe, die man als Vorläufer des Arme-Jungen-Diskurses verstehen könnte. Vorher ging es stärker um Feminismus und Mädchenarbeit. Wie beurteilt ihr das? Was haben uns diese Konzepte gebracht? Michael Drogand-Strud: Betrachtet man Gender und GenderMainstreaming so, wie die Vorgabe ist, dann werden Köpfe gezählt. Dann geht es darum, dass alles gleich sein muss – und wenn formal alles gleich ist, alles okay ist. Das kann Ansätze, die Feminismus und Antisexismus mit sich bringen, zum Erliegen bringen. Es geht nicht mehr um emanzipatorische Fragestellungen und schon gar nicht um Hierarchiekritik, sondern um formale Gleichheit. Das bringt de facto Änderungen mit sich: Aus dem Mädchen- und Jungenarbeitskreis wurde der Arbeitskreis Gender. Und der ist dazu da zu gucken, ob alles gleich ist. Die Frage ist auch: Bekomme ich eine Finanzierung dafür, dass jemand hierarchie-kritisch ist? Oder bekomme ich eine Finanzierung dafür, dass alles schön gleichgemacht wird? Bei mir überwiegt aber die Feststellung, dass der Gender-Diskurs die Frage nach Geschlecht ungeheuer gefördert hat. Ich stelle fest, dass sich dadurch Menschen in vielen Bereichen der Jugendhilfe, sogar in der Schule, überhaupt erst mit dieser Kategorie auseinandersetzen. Malgorzata Soluch: Der Begriff »Gender« hat auch dafür gesorgt, dass auf andere Kategorien und damit auf Lücken beim Denken verwiesen wird. Was ist mit Klasse, was ist mit Herkunft? Kann ich über Ge-
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schlecht reden und ausblenden, dass ich eine Migrantin bin? Und ist das die Hauptkategorie, über die ich in bestimmten Zusammenhängen reden soll? Oder ist das eher ein Gerüst? Ist der Begriff austauschbar, und wenn ja, wie? Laura Maikowski: Hat der Begriff »Gender« auch einen Raum geöffnet? Volker Mörchen: Es hat sich ein langsamer Schildkrötengang in Gang setzt, der die Genderfrage reflektiert, auch durch die Top-downStrategie des Gender-Mainstreaming, durch Zwangsfortbildungen etc. Das finde ich produktiv. Ein Mensch von der Bremer Verwaltung hat mich zum Beispiel vor ein paar Jahren gefragt: »Sie kennen doch diesen ›Gänder‹.« Er wollte unser Faltblatt finanzieren, weil er Gender-Gelder ausgeben musste. Wenn diese Lücke gefüllt wird von denen, die früher schon feministische und pro-feministische Bildung gemacht haben, dann haben wir etwas davon. Wenn zum Beispiel viele von den antisexistischen, antipatriarchalen Bildungsarbeiter_innen jetzt Gender-Trainer_innen werden, dann hat das einen positiven Effekt. Es gibt aber auch ganz andere Effekte: Verflüssigung, größere Unübersichtlichkeit, Verunsicherung. Wer bin ich eigentlich? Oder: Was darf ich heutzutage noch? Das stelle ich fest, wenn ich Studierende der Gender-Studies in Fortbildungen habe. Die erklären sich selbst als praxisunfähig. Laura Maikowski: Hat der Begriff »Gender« den hier in Deutschland sehr eurozentristischen, von weißen Frauen geprägten Feminismusbegriff erweitert? Fidan Yiligin: Die Einführung der Gender-Perspektive hat auch die migrantische Perspektive beeinflusst. In den Kreisen, die antirassistische Arbeit gemacht haben, haben sich naheliegenderweise viele auf die emanzipatorische, feministische Arbeit berufen. Wir konnten in der Antirassismusbewegung auch an dieser Strukturkritik, an den Mechanismen von Macht und Differenz anknüpfen – das sind ja dieselben Mechanismen. Wir konnten sie dadurch erklären. Es gibt auch den Begriff doing gender, der wird jetzt analog als doing ethnicity verwendet – du ethnifizierst mich gerade. Die Parallelen waren schon immer da. Ellen Wesemüller: Wir möchten ein paar provokante Thesen in den Raum stellen: Die erste These behandelt das Thema Bildungsarbeit und Klasse. Am Anfang stand in der Alten Molkerei Frille die Arbeit mit arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten Jugendlichen im Vordergrund. Wäh-
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rend in damals Klasse oder soziale Herkunft als zentrales Herrschaftsverhältnis Thema der Projekte war, das auch in der Arbeit besprochen und bearbeitet wurde, sind im Laufe der Zeit andere Herrschaftsverhältnisse wahrgenommen und thematisiert worden. Zuletzt wurde die ursprüngliche sozialpolitische Thematik jedoch immer mehr vernachlässigt. Kurz gesagt: Klasse spielt in der Friller Mädchen_- und Jungen_arbeit keine Rolle mehr. Fidan Yiligin: Das würde ich so nicht sehen. Viele Jugendliche, die hierherkommen, sind aus Förder- und Hauptschulen. Und ich glaube nicht, dass da die Kinder der Bildungselite landen. Sie werden vielleicht heute nicht mehr unter dem Begriff »Klasse« gefasst, jetzt wird es »Hartz IV« genannt. Aber die strukturelle Betroffenheit im Teilnehmer_innenkreis besteht nach wie vor. Ellen Wesemüller: Es ging uns auch eher darum zu fragen: Greift unser pädagogischer Ansatz die Frage von »Klasse« auf oder nicht? Arbeiten wir konzeptionell dazu? Michael Drogand-Strud: Ich gebe Fidan vollkommen recht. Ich würde sagen, dieser Ansatz ist immanent, weil sich unsere Arbeitsansätze genau auf diese Jugendlichen beziehen. Ellen Wesemüller: Aber es sind ja auch schon immer Kinder mit Migrationshintergrund gekommen. Und es sind auch schon immer Kinder gekommen, die sich vielleicht nicht in die vorgegebenen männlichen, weiblichen oder sexuellen Identitäten einordnen konnten. Oder deren LesbischSein und Schwul-Sein vorhanden war, aber nicht thematisiert wurde. Und Frille hat sich im Laufe der Jahre neue Konzepte angeschaut und in sie eingearbeitet, sodass diese Perspektiven hervorgeholt und angesprochen werden konnten. Michael Drogand-Strud: Aber wir arbeiten zu Klasse! Wir arbeiten nicht mit Gymnasialklassen dazu, wie sie künftig ihr Studium geregelt kriegen, sondern wir arbeiten mit Berufsschüler_innen, die keinen Ausbildungsplatz haben, dazu, wie ihre Lebens- und Berufsorientierung aussehen kann. Ich finde, dass Klasse da immanent ist, allein schon über die Themen und die Art und Weise, wie wir sie angehen. Man müsste vielleicht überprüfen, wo das Thema bei einer 6. Klasse der Gesamtschule auftaucht, in der die Schüler_innen ja rein theoretisch alle dieselben Möglichkeiten haben. Es ist uns ist die Zielgruppe derjenigen Jugendlichen verloren gegangen, die in Maßnahmen der Jugendsozialarbeit sind.
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Das hat aber nichts mit den strukturellen Bedingungen unseres Arbeitsansatzes zu tun. Fidan Yiligin: Ist der Begriff »Klasse« politisch gemeint? Ellen Wesemüller: Als Herrschaftsverhältnis, ja. Und deshalb möchte ich infrage stellen, ob es reicht zu sagen: Hier kommen bildungsbenachteiligte Jugendliche her, deshalb kümmern wir uns natürlich automatisch um die Kategorie Klasse. Es geht meines Erachtens auch darum, wie diejenigen, die hier arbeiten, sich mit ihren eigenen Herkunfts- und Milieuverhältnissen auseinandersetzen. Machen wir das in genau dem gleichen Maß, wie wir uns mit sexueller Identität, Migration etc. beschäftigen? Ines Pohlkamp: Ich finde, dass das im Team und in der Weiterbildung, die wir machen, wenig thematisiert wird. Soziale Herkunft ist nicht der Reflektionsgegenstand. Oft ist es mir auch nicht so wichtig. Aber manchmal ist es mir auch zu wenig, weil ich glaube, Klasse sagt viel über die Arbeit aus, die wir machen, und wie wir die machen. Wir unterhalten uns über viele Dinge: wie wir groß geworden sind, wo wir groß geworden sind. Und Klasse spielt da oft keine Rolle. Alle ahnen irgendwie, wer aus welchem Milieu oder welcher Klasse kommt. Da gibt es, wenn man sich unterhält, relativ schnell Hinweise drauf. Aber relativ selten wird damit offensiv umgegangen oder das reflektiert. Klasse spielt in den Seminaren eine Rolle, weil wir eben politische Bildung für sozial benachteiligte Gruppen machen. Klasse taucht in jedem Seminar auf: von Hartz IV leben, stigmatisiert werden. Ich finde aber auch, dass es in Frille konzeptionell nicht verankert ist, und das finde ich schade. Fidan Yiligin: Ich spüre ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Themen Klasse, Migration und Gender. Mit der Mauer ist auch Klasse als politisches Konzept gefallen. Die ganzen antikapitalistischen und sozialistischen Ideen wurden von heute auf morgen für nichtig, für ungelungen erklärt. In dem Augenblick, wo der Sozialismus als Feindbild gefallen ist, sind neue Feindbilder entstanden. Das war die Geburtsstunde der Islamophobie. Ich möchte nicht, dass Migration und Klasse in Konkurrenz stehen. Wenn ich politische Bildung für die Arbeiterklasse machen will, und dann kommen migrantische Kinder, deren Eltern Hartz IV bekommen, die aber Anhänger_innen der Grauen Wölfe7 sind – Wie gehe ich dann 7
Mitglieder der rechts-nationalen türkischen »Partei der Nationalistischen Bewegung« (»Milliyetçi Hareket Partisi«, MHP), die 1961 von Alparslan Türkeş gegründet wurde. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
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damit um? Das sind total komplexe Systeme. Darüber müssen wir uns länger unterhalten als eine halbe Stunde. Malgorzata Soluch: Bei der These habe ich zwei Bilder. Zum einen würde ich zustimmen, dass wir aufgrund der Entscheidung, mit welcher Zielgruppe wir arbeiten, mit der Klasse der Teilnehmer_innen zumindest konfrontiert sind und uns damit auseinandersetzen müssen. Zum anderen ist da der Umgang mit dem Begriff Klasse innerhalb des Teams. Ich erlebe das selten, dass weiß-deutsche Mittelklasseleute sich gerne zu dem Thema positionieren. Da möchte ich fragen: Wer hat eigentlich die Verantwortung, das anzusprechen? Wer hat die Verantwortung, sich mit Klasse auseinanderzusetzen? Die Leute, die privilegiert sind? Oder die Leute, die nicht privilegiert sind? Wenn ich mit Jugendlichen arbeite, die nicht privilegiert sind, aber den Begriff Klasse nicht benutzen, dann muss ich mich entscheiden, inwieweit ich den Begriff überhaupt in den Vordergrund stelle. Ist mein Auftrag, ihre Unterprivilegierung noch mal anzusprechen? Oder stärke ich sie in dem, was sie mir erzählen, worin ich sie als Expert_in wahrnehme, und gehe mit ihnen in einen Dialog? Ich bin in der »Alten Molkerei Frille« in Bezug auf mehrere gesellschaftliche Kategorien nicht privilegiert, und ich erlebe hier selten, dass Leute, die eine starke Position haben, selbstbewusst sagen: »Ich will dir von meiner Privilegierung erzählen. Ich möchte mit dir in einen Dialog treten.« Was ich hier – auch in Bezug auf Migration – erlebe, ist, dass ein schweigsames »Ich will am besten nichts sagen, sonst sage ich was Falsches« herrscht. Fidan hat durch ihre Person den Begriff Migration in den Raum gestellt, und weil ich das erste Mal seit Jahren nicht mehr die einzige Migrantin im Raum bin, erlaube ich mir jetzt, Migrantin in Frille zu sein. Jahrelang habe ich als einzige weiße Migrantin angestrebt, mich den Kategorien der überwiegend weiß-deutschen Mittelklasseleute hier anzupassen. Das ist jetzt im Umbruch. Volker Mörchen: Als ich hier als weiß-deutscher Bildungsbürger angefing, habe ich ein paar meiner Kollegen beneidet, die erst auf dem zweiten Bildungsweg Sozialpädagogen wurden, weil ich dachte, die haben mehr Streetcredibility8, die sind ein besseres Vorbild für die Jungen und ich sollte mich zurückhalten, damit am besten niemand merkt, wo
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werden der Gruppierung oft faschistische (striktes Führerprinzip), rassistische (Überlegenheit einer türkischen Rasse) und antisemitische Elemente attestiert. Glaubwürdigkeit (im Sinne von Anerkennung), die jemand auf der Straße, im Viertel etc. erhält, weil die Person selbst von dort kommt und die Gegebenheiten kennt.
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ich herkomme. Aber da hatte ich die Rechnung nicht mit den Jugendlichen gemacht. Die haben mich gefragt: »Wie war es denn bei dir?« Und ich habe gesagt: »Na ja, äh… Gymnasium.« Ein Junge, zu dem ich einen sehr netten Kontakt hatte, hat dann immer »Streber« zu mir gesagt, ganz freundlich. Er kam aus dem Förderzentrum, ohne Aussicht auf einen Hauptschulabschluss. Das war für mich eine sehr schöne Erfahrung, weil ich gemerkt habe, dass ich meinen Klassenhintergrund auch benennen kann. Und dass das auch was mit den Jungen macht. Es macht auch was mit migrantischen Jungen, wenn ein weiß-deutscher Bildungsbürger sagt: »Du hast hier Rechte. Alles, was du an kleinen Alltagsstrategien hast, um deine Rechte durchzusetzen, kann ich politisch unterstützen.« Das muss nicht nur der türkische Kollege sagen. Ich darf mich da einmischen, obwohl meine Eltern hier geboren sind. Eine Critical-Upperclass-Theorie gibt es kaum. Dabei hat das eine große Auswirkung darauf, wie wir uns in dieser Gesellschaft positionieren: War es sowieso klar, dass ich da lande, wo ich gelandet bin, oder war das eine Errungenschaft für mich? Das kann ich auf jeden Machtaspekt ummünzen. Laura Maikowski: Das bringt mich zu unserer zweiten These: In Frille gibt es seit vielen Jahren eine Diskussion zum Thema Gender und Migration. Unterschiedliche Konzepte wurden angeguckt: interkulturelle Pädagogik, antirassistische Pädagogik, transkulturelle Pädagogik, Anti-Bias etc. Die haben zum Teil heftige Debatten ausgelöst, manche freien Mitarbeiter_innen sind sogar gegangen, weil ihnen das Thema nicht genügend behandelt wurde. Es gab eine interne Studie zum Thema Rassismus im Team und im Seminar, die zunächst in der Schublade verschwunden ist. Wird Antirassismus in Frille an die Betroffenen delegiert? Fidan Yiligan: Wir haben das aufgeteilt: Michael macht Critical Whiteness und ich mache Empowerment. Michael Drogand-Strud: Ich sehe dahinter den Widerspruch zwischen politischer Arbeit und individueller Subjektförderung. Die Frage ist also: Mit wem arbeite ich wozu? Wenn du Empowerment machst, ist das dann nicht mehr antirassistisch, weil es Subjektförderung ist? Und wenn ich Critical Whiteness mache, ist es dann antirassistisch, weil es sich gegen den Rassismus von Weißen wendet? Oder geht es da auch um die Frage, wie ich mich verorte, wie ich mich bezeichne? Ich fange dann an, mich als Weißen zu bezeichnen, weil ich mitbekommen habe, dass nicht nur die anderen eine Hautfarbe haben, sondern ich auch. Fidan Yiligin: Antirassismus ist in den 80ern entstanden. Es ging darum, Schwarze, weiße und People of Color antirassistisch zu motivie-
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ren und Demonstrationen zu organisieren. Damals war das Motto: Friede, Freude, Eierkuchen. So ist es aber nicht. Wenn ich mich mit dem Thema Rassismus auseinandersetze, bedeutet das vor allem Schmerz und das Aushalten von Differenz. Als ich noch Antirassismus-Workshops geleitet habe, haben weiße Mittelschichtsfrauen und -männer nach Methoden verlangt, wie sie mit ihren türkischen Macho-Schülern umgehen können. Solange sie aber nicht einsehen, welch privilegierte Position sie haben und nur die Macho-Jungs umerziehen wollen, ist das keine antirassistische Arbeit. Ich habe ihnen erklärt, dass ein migrantischer Junge gar nicht rassistisch handeln kann, dass er gar nicht in dieser Position ist. Sie haben sich daraufhin beschwert und mir jegliche Professionalität abgesprochen. Mir hat das viel Energie und Motivation genommen, überhaupt in diesem Bereich Wege zu ebnen. Das hat mich ausgesaugt, ohne dass ich etwas von der anderen Seite bekommen hätte. Da habe ich beschlossen, keine Antirassismus-Arbeit mehr zu machen. Wir haben dann die Räume getrennt, und ich habe sie sehr gerne getrennt. Ich habe angefangen, nur noch mit migrantischen Jugendlichen zu arbeiten. Da bin ich aufgeblüht. Von ihnen habe ich Anerkennung bekommen: »Du machst die Arbeit super. Wir freuen uns, dass du uns die Möglichkeit gibst, uns auszuprobieren. Ich kann mit dir meine Sprache sprechen, ohne dass du sie mir verbietest.« Das müsste eigentlich selbstverständlich sein – ist es aber nicht. Und wenn die erzählen: »Die Lehrerin hat mich rassistisch behandelt«, dann sage ich nicht: »Nee, das war nicht rassistisch, dem Heinz passiert das auch.« Sondern ich sage: »Ja, du hast recht. Die hat rassistisch gehandelt.« Ich mache Empowerment-Arbeit, weil ich die Rassismuserfahrungen von migrantischen Jugendlichen ernst nehme und sie nicht verneine, weil ich weiß, wie sich das anfühlt. Wie es sich anfühlt, wenn mich die Bäckereifachfrau jeden Tag übersieht, und die blonde Frau, die definitiv hinter mir steht, drannimmt, obwohl ich vorne stehe. Und ich dann brüllen muss: »Ey! Ich bin dran!« Und die dann auch noch unfreundlich wird und sagt: »Du hast ja nichts gesagt!« Und mich dann auch noch duzt. Ich muss die Bäckereifachfrau erst mal erziehen, damit sie mich sieht. Ich gehe immer zu derselben, damit sie sich an mich erinnert und mich dann auch drannimmt. Für mich ist das eine emotional sehr aufgeladene Situation und für die migrantischen Jugendlichen auch. Dabei habe ich gar keine Lust, weiße Deutsche zu erziehen. Ich sage: »Schau dir deine Position an – oder auch nicht. Aber tu das ohne mich. Ohne mich zu verletzen, ohne mich zu funktionalisieren, ohne mich dazu zu benutzen.« Annita Kalpaka hat gesagt: »Diese ganzen interkultu-
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rellen Workshops bringen den Weißen mehr als uns. In diesen Workshops werden wir benutzt, damit sie sich reflektieren können.« Deswegen trenne ich die Räume. Und wahrscheinlich werde ich sie die nächsten zehn Jahre trennen. Aber mit der Hoffnung, dass wir irgendwann zusammenkommen. Laura Maikowski: Was nehmt ihr aus Frille mit – persönlich oder in andere Arbeitszusammenhänge? Was habt ihr hier vorgefunden oder gelernt? Fidan Yiligin: Ich habe hier vorgefunden, dass Critical Whiteness Thema ist. Mit interkultureller Pädagogik oder mit kulturalisierenden, ethnifizierenden und rassifizierenden Ansätzen kann eine gelungene Zusammenarbeit nicht funktionieren. Ich gehe davon aus, dass wir mit der Perspektive von Critical Whiteness und Empowerment in die Zukunft schauen. Ich finde super, dass wir diesen Weg gehen. Malgorzata Soluch: Ich habe hier ganz viel Wertschätzung und Lob auf eine Art und Weise bekommen, die ich genießen konnte und die mich aufpoliert hat, die mich aber auch gelehrt hat, diese Wertschätzung an andere Menschen weiterzugeben. Wenn wir miteinander reden geht es darum, sich Zeit zu nehmen, die Person anzuschauen und zu sagen: »Das hat uns weitergebracht.« So entsteht Wertschätzung. Das habe ich hier gelernt. Als Pädagogin hatte ich das große Glück, hier die Freiheit zu haben, mich zu entwickeln, ohne dass jemand mir Regeln vorgeschrieben hat. Ohne, dass ich infrage gestellt worden bin mit meinen Ideen und damit, was ich hier ausprobieren will. Ich habe teilweise mit Leuten gearbeitet, die 15 Jahre mehr Berufserfahrung hatten, und mir ist nie gesagt worden, dass ich etwas falsch mache. Es ist mit mir reflektiert worden, aber ich habe keine Hierarchie gespürt. Das hat mich total groß gemacht. Ich bin hier sehr gewachsen. Björn Nagel: Ich nehme hier immer wieder neue Fragen mit, sogar mehr als Antworten. Beim Projekt »Jeder Mensch ist einzigartig« beschäftigt mich die Frage von Audismus9, nach diesem Gespräch die Frage von Critical Whiteness oder nichtrassistischer Bildungsarbeit. Man ist immer zu vielen Themen in spannendem Austausch und bewegt sich ganz viel. Hier ist ein Ort kreativer Auseinandersetzung.
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Audismus bezeichnet die Herabsetzung der Taubenkultur gegenüber der lautsprachlichen Kommunikation durch Hörende (vgl. Maikowski »Das ist wirklich ein harter Kampf« in diesem Buch).
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Ines Pohlkamp: Ich hab hier viel Wertschätzung erfahren, von den unterschiedlichsten Leuten. Ich bin sehr oft gesehen worden und hatte die Möglichkeit, andere Leute zu sehen. 90 Prozent meines pädagogischen Handwerkszeugs stammen aus Frille. Alles, was ich an Konzepten an anderen Orten entwickelt habe, konnte ich durch die Ideen und Fragen hier vor Ort entwickeln. Ich kann daran super anknüpfen. Volker Mörchen: Auch mein pädagogisches Handwerkszeug ist zu großen Teilen mit Frille verknüpft. Ich treffe auch immer wieder in Arbeitskreisen oder auf Tagungen Leute, die hier ihre Ausbildung10 gemacht haben. Das sind dann auch oft diejenigen, die ich in einer Gesprächsrunde am nettesten finde. So eine Tradition finde ich abgefahren. Das ist eine wichtige Basis, auf der wir unsere Arbeit machen. Michael Drogand-Strud: Ich merke, dass dieser Ort etwas verbindet, was ich nur ganz selten finde: Diese fast bedingungslose Wertschätzung mit einer Hartnäckigkeit in den richtigen Fragen. Ganz oft geht das eine nicht ohne das andere. Es gibt hier auch ein Ringen darum, immer wieder anzusetzen und weiterzumachen, noch einmal einen Schritt zu gehen, noch einmal zurückzugehen. Es gibt eine große Offenheit, miteinander Konzepte, Ideen und Methoden auszutauschen, sich gegenseitig zur Verfügung zu stellen, miteinander etwas zu entwickeln und weiterzutreiben. Das ist toll. Wir sind mutig.
10 Die Weiterbildungsreihe »Geschlechtsbezogene Pädagogik, Bildung und Beratung«, die Gender-Kompetenz für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vermittelt.
Mit W idersprüchen für neue Wirklichkeiten. Ein Manifest für Mä d chen_a chen_arbeit rbe it MART BUSCHE, ELLEN WESEMÜLLER »Wir alle sind zutiefst verletzt worden. Wir brauchen Regeneration, nicht Wiedergeburt, und die Möglichkeiten unserer Rekonstitution schließen den utopischen Traum, die Hoffnung auf eine monströse Welt ohne Gender, ein.« (Donna Haraway, Ein Manifest für Cyborgs, 1995)
Wir haben ein Manifest für Mädchen_arbeit geschrieben. Anmaßend, oder? Wo doch so viele vor uns Manifeste geschrieben haben, mit teils einschlagender Wirkung: ein Kommunistisches Manifest (Marx/Engels 1848), eins von Riot Grrrls (Bikini Kill 1991), eins für Cyborgs (Haraway 1985), ein fem(me)inistisches1 (Duggan/McHugh 1996), ein kontrasexuelles (Preciado 2000), ein Gender-Manifest (Frey et al. 2006)2. Anmaßend auch, weil Manifeste Grundsätze und Absichtserklärungen sind, die sagen: »So sieht es aus«, »So soll es werden« und: »Wir wissen, wo es langgeht.« Nicht zuletzt anmaßend, weil Manifeste suggerieren, wir sprächen für alle und mit einer Stimme. Von den vielen Mädchen_arbeiter_innen, die es gibt, sind wir jedoch nur zwei. Wir haben dieses Manifest zwar zur Diskussion gestellt, im Arbeitskreis Gender in der Alten Molkerei Frille, bei unseren Freund_innen und Mitherausge1 2
Eine Wortkreuzung aus »feministisch« und »Femme«, also der »femininen« Performanz einer Person mit queerem/lesbischem Begehren. Die Jahresangaben beziehen sich auf die Erstveröffentlichungen.
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ber_innen. Dabei ist jedoch herausgekommen, dass wir uns vor allem in einem einig sind: Dass wir uns nicht immer einig sind. Herausgekommen ist auch, dass wir uns in und mit unseren Widersprüchen weiterentwickeln wollen. Dass wir Feminist_innen sind, die sich in guter alter Tradition weigern sollten, die Klappe zu halten. Anmaßend haben wir das Manifest trotzdem geschrieben. Um einen weniger der Wissenschaftlichkeit oder der Praxisrelevanz, sondern der politischen Sprache verpflichteten Text zu schreiben. In der Hoffnung auf eine monströse Welt ohne Gender.
Warum noch Mädchenarbeit? Wir wollen eine Welt mit frei verfügbaren Geschlechtern als jederzeit variable Ausdrucksmöglichkeit, deren Zugang strukturell nicht eingeschränkt ist. Eine Welt ohne gesellschaftlich erdachte und eingeübte Geschlechterrollen also, die uns und unsere Freund_innen in Männer und Frauen einteilt, unsere Kinder und Seminarteilnehmer_innen in Jungen und Mädchen; und ihnen dann bestimmte Eigenschaften zuschreibt – Mädchen schlagen nicht, Jungen weinen nicht. Wenn wir all das wollen, warum, um alles in der Welt, machen wir dann Mädchenarbeit? Weil Mädchen (noch) nicht verschwunden sind. Im Gegenteil. Mädchen sind heute überall. Fast überall. Vielleicht nicht beim Militär – obwohl, erinnern wir uns an das herzzerreißende Zeitungsbild, auf dem ein Soldat in Tarnfleck ein kleines, ängstlich aussehendes Mädchen auf dem Arm trug... oder war das der Arm einer Soldatin? Vielleicht sind Mädchen auch nicht in Chefetagen großer Wirtschaftsbetriebe – wobei, selbst dort wird Papa seinen Spross mal vorzeigen, im Zweifelsfall am Girls’ Day. Oder war es sogar die Mutter, die ihrer Tochter vorführte, wie sie hier das Kapital anderer akkumuliert? Vielleicht auch nicht in Jungengruppen – und doch sagte neulich ein Junge zum anderen »Du Mädchen!« Nicht zuletzt sind Mädchen als vorgestelltes, bedrohliches Gegenüber überall dort, wo »arme Jungen« sind. Seit der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 – und trotz ihres eigentlich skandalösen Befunds, dass die Leistungen in deutschen Klassenzimmern stärker als anderswo vom Einkommen der Eltern abhängig sind und Kinder mit bestimmten Migrationshintergründen am stärksten benachteiligt werden – rückten in der öffentlichen Debatte die Geschlechterdifferenzen in den Vordergrund.
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Mädchen sind also sehr präsent, werden sie doch gerne zur Legitimierung von Kriegen, als Beweise männlicher Potenz oder als Beleidigung instrumentalisiert. Mädchen sind auch präsent, wenn es darum geht, die Benachteiligung von Jungen darzustellen. Macht aber nichts, Mädchensein kann ja trotzdem spaßig und granatenstark sein. Zumal Mädchen ja heute die Welt offensteht, sie können alles tun, Kinder kriegen und Karriere machen, schlau sein und Spaß beim Sex haben, gut aussehen und Dieter Bohlen in die Pfanne hauen. Also alles gut mit den Mädchen. Oder? Manche Wirklichkeiten sehen anders aus. In der aktuellen Debatte um die »armen Jungen« geht unter, dass Mädchen in der Schule nur im Fach Lesen besser abschnitten als die Jungen – und auch hier nur vermittelt über ihre höhere Motivation –, und dass schulische Leistungen nicht direkt in gesellschaftliche Positionen übersetzbar sind. So finden junge Frauen in bestimmten Bereichen immer noch schwerer als ihre männlichen Kollegen einen Ausbildungsstelle oder einen Job, und bei ihrer Suche sind Noten entscheidender als für Jungen. Sie werden bei gleicher Leistung immer noch schlechter bezahlt, werden während Schwangerschaft und Kindererziehung vor die Tür gesetzt und steigen seltener in Führungspositionen auf. Jedes sechste Kind in Deutschland ist arm, jedes siebte muss von den Hartz-IV-Regelsätzen leben – von 215 Euro im Monat, einem Betrag, den das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 als verfassungswidrig verurteilte. Die Weltwirtschaftskrise hat die Tendenz verstärkt, immer mehr Arme zu produzieren, und von den Konjunkturpaketen der Regierung haben Familien mit geringem oder keinem Einkommen gar nichts. Von Armut sind Jungen und Mädchen gleichermaßen betroffen. Untersuchungen zeigen, dass Mädchen anders von den Ungleichheit produzierenden Strukturen des Kapitalismus betroffen sind als Jungen. Allerdings spiegeln sich hier manchmal eher die klassischen Vorurteile der studienerstellenden Bildungselite als die Realität der Kinder wider (vgl. Beisenherz 2002; Holz 2006). Auch Mittelstandsfamilien erarbeiten und vertiefen Geschlechterrollen weiter, teilweise nur subtiler: Mädchen können hier zum Beispiel für die emotionale Arbeit in der Familie zuständig sein, sollen aber natürlich gleichzeitig Abitur machen und später Bundeskanzlerin werden. Auch das weiße Mittelstandsmädchen ist mit vielen Anforderungen konfrontiert, die schon allein zeitmäßig in einem Mädchenleben nicht zu schaffen sind: gut aussehen, leistungswillig und fähig sein, selbstbestimmt handeln, nicht aus der Rolle fallen, sich auf Kinder und Karriere vorbereiten. Diese gewaltvollen Verhältnisse schlagen sich auch auf die Körper nieder. Von körperlicher Gewalt sind Jungen und Mädchen ebenso glei-
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chermaßen betroffen. Bei sexualisierter Gewalt und mit zunehmendem Alter jedoch wendet sich das Blatt: Ab dem siebten Lebensjahr sind eher Mädchen betroffen (vgl. Romih 2009), je nach Definition und Schätzung wurde jedes vierte bis fünfte Mädchen vor dem 16. Lebensjahr vergewaltigt, angefasst, ausgezogen, angestarrt (im Vergleich dazu jeder zwölfte bis vierzehnte Junge, vgl. BMFSFJ 2005). Die Akteure der Gewalt (Achtung, jetzt kommt keine Überraschung!): zumeist Männer. Dabei sind es nicht immer Männer, die Gewalt ausüben,3 aber Männlichkeit4 und Gewalt sind kausal miteinander verknüpft – Männlichkeit ist das Geschlecht der Gewalt.5 Eine mögliche Auswirkung dieser Gewalterfahrungen sind Essstörungen: Bei etwa einem Fünftel aller 11- bis 17-Jährigen liegt ein solcher Verdacht vor. Bei Kindern ist der Anteil von auffälligen Jungen und Mädchen etwa gleich hoch. Mit zunehmendem Alter nimmt jedoch der Anteil der auffälligen Mädchen zu. Bei jedem dritten Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren gibt es Hinweise auf eine Essstörung, bei den Jungen sind es 13,5 Prozent (KiGGS 2007).6 3
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Frauen sind nicht frei von Gewalt- und Hassbereitschaft, die Zahl der Täterinnen steht jedoch in keinem Verhältnis zum Ausmaß männlicher Gewalt. Auch ist ihre Gewalt weniger mit sexuellen Handlungen verknüpft und gehört nicht zum gesellschaftlich vorherrschenden Bild einer »Normalweiblichkeit«, die den Täterinnen eine patriarchale Dividende bescheren würde. Wir sprechen von Männlichkeit, um zu kennzeichnen, dass es uns nicht um den biologischen Zustand »Mann« geht, sondern um ein kulturell, sozial und historisch sehr ausdifferenziertes Konstrukt. Wir gehen von einer »hegemonialen Männlichkeit« aus (vgl. Connell 1999), die in westlichen Gesellschaften als Orientierungsmuster dient. Männlichkeit ist eine (selbst-)zerstörerische, feindliche Abwehr von Weiblichkeit, die nicht selten im Töten oder in der Vernichtungsabsicht durch Vergewaltigung gegenüber Frauen endet. Wie unter dem Druck vorherrschender Männlichkeitsbilder die Verbindung von Sexualität und Aggressivität durch Initiationsriten in das Unbewusste und die Körper von Jungen eingeschrieben werden, beschreibt Pohl in »Feindbild Frau« (vgl. Pohl 2005). Dabei ist eins zu beachten: Wer nach »Jungen« und »Mädchen« forscht, wird »Jungen« und »Mädchen« finden. Bewiesen sind meist somit nicht die Unterschiede der biologischen Geschlechter, sondern die geringe Komplexität der Untersuchungen von Sozialforscher_innen. Wir brauchen deshalb neben den geschlechterdifferenzierenden Studien auch solche, die nach geschlechtlichen Gemeinsamkeiten schauen und gesellschaftliche Bedingungen für (Auto-)Aggression und Bewältigungsschwierigkeiten in der Adoleszenz aufdecken.
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Und doch ist das Gejammer groß: Mädchen seien in den vergangenen 30 Jahren zu viel gefördert worden und buttern jetzt alle die kleinen Jungs unter! Dem müsse doch jetzt bitte schnell mal mit Boys’ Days, männlichen Lerninhalten, männlichen Pädagogen und Streichung möglichst vieler Mädchenförderprojekte Einhalt geboten werden! Der Diskurs um »arme Jungen« hat dazu beigetragen, dass Mädchenarbeit ihre Legitimation scheinbar verloren hat, und dass viele Männer, ohne je ihre Herrschaftsposition aufgegeben zu haben, mit neuem Schwung patriarchale Strukturen verfestigen können. Frauen und schlechte Jobs, Mädchen und Essstörungen ... alles schon mal gehört, oder? Langweilig, nicht? Ja, finden wir auch. »One day I’ll grow up/I’ll be a beautiful girl«
(Antony and the Johnsons, For today I am a boy, 2005)
( K ) E i n G e s c h l e c h t , d a s r e ic h t . Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir zwar immer noch Körper, die geschlechtlich zugeordnet werden, die uns damit gesellschaftliche Vorund Nachteile einbringen, aber wir üben Praxen unterschiedlicher Geschlechtszuschreibungen aus. Nicht umsonst sind Frauen hierzulande aufgebrochen und haben angefangen, die ihnen auferlegten Grenzen zu sprengen, Hosen zu tragen, sich die Haare abzuschneiden, sich neue Namen zu geben und sich selbst zu verwirklichen, andere Frauen zu lieben, trans oder queer zu werden. Die erste, zweite und dritte Frauenbewegung, die als Third-Wave-Feminism in Deutschland nie so richtig zum Tragen kam (außer als subkulturelle Bewegung der Riot Grrrls und ihrer Nachfolger_in, der Ladyfestbewegung – vielleicht sind wir aber auch erst kurz vor der Welle oder noch mittendrin), können wir gar nicht hoch genug bewerten. Unsere Vorgänger_innen haben gekämpft, haben Widerstände gespürt, Niederlagen erlitten und Siege errungen. Wir stehen auf den Schultern von Ries_innen. Und trotzdem fragen wir uns manchmal, wie es der Kapitalismus schaffen konnte, viele dieser Kämpfe zu absorbieren und aus Freiheitsträumen kapitalistische Möglichkeitsräume zu machen. Denn an der strukturellen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen hat sich wenig geändert, auch nicht an den strukturellen Ungleichheiten zwischen verschiedenen Frauen, zwischen verschiedenen Männern. Unser Geschlecht ist gleichzeitig Möglichkeitsraum und Ge-
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fängniszelle, ein Fantasiegebilde und eine materielle Realität, Quelle von Solidarität und Konkurrenz, von Lust, Frustration, Resignation, Kreativität, Zorn und Widerstand. In Zeiten des Kapitalismus, der die unschönen Eigenschaften männlich-dominiert, sexistisch, heteronormativ, westlich, postkolonial, körperlich leistungsfähig, rassistisch und antisemitisch wie einen Rattenschwanz hinter sich herschleift, der Reproduktionskräfte aneignet, ausbeutet und zum ständigen »Fortschritt« und zur »Selbstverwirklichung« zwingt, in diesen Zeiten gleicht das Verhältnis zwischen dem Konzept der Männlichkeit und dem der Weiblichkeit weiterhin einem Kriegsschauplatz: Gekämpft wird mit Waffen, wie in Afghanistan, wo auch deutsche Soldatinnen7 für die »Rechte der Frauen« morden dürfen – aber auch symbolisch, wie auf den Wissenschaftsseiten von Zeitungen, auf denen Artikel zum tausendsten Mal die Unterlegenheit der Frauen mit Genetik oder Urinstinkten beweisen wollen. An dem Fakt des permanenten Kriegszustandes ändern auch die kapitalistischen Strategien der Vervielfältigung nichts: Weder die Diversity-Seminare für Unternehmen, die ihre Manager anleiten, doch flexible Bürozeiten einzurichten, sodass Frauen nach dem Zubettbringen ihrer Kinder noch mal ins Büro kommen können, noch der Fakt, dass die deutsche Bundeskanzlerin eine Frau und ihr Außenminister schwul ist, der Gesundheitsminister in Vietnam geboren wurde und der Finanzminister im Rollstuhl fährt. Differenz ist geduldet oder gewollt, wenn sie der Ordnungspolitik und der Marktlogik nützt. Und trotzdem: Ist es nicht so, dass die weibliche Erscheinungsform »Mädchen«, der geschlechtliche und altersmäßige Aggregatszustand, heutzutage auch transzendiert, die Übereinstimmung von Geschlechtskörper, Alter und Verhalten überschreitet? (»Mein Bruder ist das größte Mädchen in unserer Familie«, »Sie ist trotz ihrer 60 Jahre immer noch sehr mädchenhaft.«). Der Begriff »Mädchen« bezeichnet allem Anschein nach nicht nur die Unter-18-Jährigen, sondern einen Zustand des »Weder-Mann-noch-Frau-Seins«. Das mag zwar oft abwertend gemeint sein, als Markierung einer Abweichung von der Norm (»Mein Bruder ist unmännlich.«, »Die alte Dame ist etwas naiv und kleidet sich unangemessen«), im Umkehrschluss heißt es jedoch, dass alle, die keine Frauen 7
In der Bundeswehr müssen bzw. wollen Frauen sich mit dem Prinzip Männlichkeit unterordnen, seitdem der Europäische Gerichtshof ihnen im Jahr 2000 den Eintritt ermöglichte. Wir halten es für keinen feministischen Akt, dass nun auch Frauen mitmorden dürfen bzw. wollen, um deutsche Interessen am Hindukusch zu verteidigen. Feminismus und Gleichstellung sind manchmal zwei unterschiedliche Paar Pumps.
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oder Männer sind und sich nicht sonderlich »vernünftig« entsprechend der Marktlogik verhalten, auch Mädchen sein können. Diese Aneignung gäbe uns die Möglichkeit, unser eigenes weibliches Geschlecht, das es nicht gibt, das nur in Abgrenzung zu oder durch die Definition des Männlichen existiert, aufzugeben, auszufüllen, weiterzutreiben, zu vervielfältigen, zu hysterisieren, zu kopieren, zu ironisieren, zu lieben, zu hassen, zu hasslieben. Sind wir nicht alle auch ein bisschen Mädchen, unabhängig von unserem Alter, unserem Körper und unserem zugeordneten Geschlecht? Zugegeben: Das könnte schwierig werden, besonders für die männlich Infizierten. Denn auf der symbolischen, bedeutungsgebenden Ebene gibt es nur ein Geschlecht: das männliche. Im Patriarchat ist die Verbundenheit mit dem Weiblichen ein soziales Problem, eine Identifikation, die auf jeden Fall und mit allen Mitteln unterdrückt werden muss (»Muttersöhnchen« ist kein Adelstitel). Männer, die sich mit dem »Prinzip des Weiblichen« identifizieren (das ist wohl so etwas wie Fürsorge, Zärtlichkeit, Kommunikation etc.), werden oft als »schwul« abgewertet. Ihnen wird ein fehlender Vater als Problem attestiert wie auch den Jungen, die an Männlichkeitswerten scheitern oder es mit ihnen auf gewalttätige Weise etwas übertreiben. Wenn uns deshalb jetzt die »neuen Männer«, »aktiven Väter« und männlichen Pädagogen als Retter des Abendlandes verkauft werden, dann wird das grundlegende Problem, die Konzepte von Männlichkeit/Weiblichkeit, verschleiert. Wir können unseren Vorschlag aber auch umdrehen und streng biologisch bzw. sexuell behaupten: Es gibt sowieso nur ein Geschlecht: Frauen, mit endlosen Variationsmöglichkeiten, anatomische und sexuelle Differenzen eingeschlossen. Warum träumen wir nicht den queeren Traum eines postpatriarchalen Regimes, in dem der »Phallus als Verteilungsinstanz der Identität« (Hocquenghem 1974: 82) aufgehoben ist, in dem wir alle Frauen sind, wenngleich einige Penis tragen (Penis, nicht Phallus!)? Wir sind doch alle mit Öffnungen ausgestattet, um einzutreten, psychologisch wie auch physisch, wir sind eigentlich ziemlich gleich. Wieso nicht einfach über das Zweigeschlecht lachen und laut ausrufen: »Ein Geschlecht, das reicht!« »Für den Feminismus ist es unbedingt notwendig, über ernste Kategorien zu lachen.« (Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991)
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E i n M ä d c h e n is t k e i n M ä d c he n i s t e in M ä d c h e n _ Wir befinden uns also in einer Zwickmühle. Einerseits wollen wir Mädchen als Zuordnung abschaffen, andererseits sind sie so verdammt da. Wir denken, dass Sprache unsere Wirklichkeit mitkonstruiert. Im Sprechen über Mädchen stellen wir Mädchen her. Umfragen finden Mädchen dort, wo sie sie suchen. Im Reden über Mädchen bestätigt sich die Identität des Jungen, der erwachsenen Frau, des starken Kollegen. Wir denken nicht, dass sich die Welt ändert, wenn sich das Reden über die Welt ändert. Aber es ist einer von vielen Anfängen. Sofern Mädchenarbeit je von der Existenz nur einer Kategorie »Mädchen« ausgegangen sein sollte, ist es nun an der Zeit, sich konzeptionell davon zu verabschieden. Der Begriff »Mädchen« ist anders als der Begriff »Junge« gleichzeitig Einzahl und Mehrzahl. Um sich auf »Mädchen« zu beziehen und gleichzeitig das Nichtsagbare, Nichtdefinierte, Widersprüchliche und über die Zweigeschlechtlichkeit Hinausweisende deutlich zu machen, schlagen wir die Einführung der Kategorie »Mädchen_« vor. Mit dem Unterstrich wollen wir einen – wenn schon nicht hörbaren dann zumindest sichtbaren – Plural ausdrücken, nicht im grammatikalischen Sinne der »mehreren gleichartigen Dinge«, sondern im Sinne einer Vielfalt, Heterogenität und Unabgeschlossenheit der Kategorie. Mit dieser Heterogenität meinen wir auch die Verbindung von Weiblichkeit mit anderen gesellschaftlichen Differenzierungen wie Klasse, Sexualität, »Race« usw. So wollen wir sowohl der offenen Kategorie des »Mädchen-Seins« Rechnung tragen, als auch die Relationalität und Interdependenz dieser Kategorie mit anderen Kategorien, die ebenfalls nicht abgeschlossen sind, deutlich machen (vgl. auch Busche Cremers in diesem Band). Wir wollen damit auch die Irritationen und Entselbstverständlichungen vorantreiben und Sätze wie »Mädchen brauchen...«, »Mädchen sind...« etwas weniger logisch oder natürlich erscheinen lassen. Wir möchten das Denken von »Mädchen_« als offener und vielschichtiger Kategorie, die sich letztendlich ihrer einengenden Kategorisierung in der Praxis auch widersetzt und sich nicht fassen lässt, üben und etablieren. Doch alle (Sprach-)Theorie ist bunt, wenn doch die Praxis oft nicht so grau wäre. »… gender is not sane. It's not sane to call a rainbow black and white.« (Kate Bornstein, Gender Outlaw. On men, women, and the rest of us, 1985)
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Den Überblick verlieren ... Wir verstehen die Mädchen_ nicht: Woher haben sie, dass sie gleichberechtigt wären? Und doch dürfen wir ihnen nicht einreden, dass sie es nicht sind. Wie kommen sie darauf, dass ihre zukünftigen Beziehungspartner8 sich genauso wie sie um die Kinder kümmern werden? Die aktuellen Zahlen sagen etwas anderes.9 In diesem Sinne haben Mädchen_ ein schlechtes Erinnerungsvermögen, wie auch die Gesellschaft ein schlechtes Gedächtnis hat. Und doch müssen wir der Versuchung widerstehen, ihnen ihre Lebensplanung in selbstgerecht-paternalistischer Manier auszureden. Wir wollen nicht altklug sein und schlechte Laune verbreiten, auch wenn wir es oft genug tun. Mädchen sind heute virtuellere Wesen, als die meisten von uns es je waren. Unsichere Zustände und Flexibilität sind für sie keine neuen Entwicklungen, sondern Teil ihrer Normalität, in der sie sich einrichten. Sie sind mit Internet, Handy, Chat, Videospielen, Facebook und Twitter groß geworden. Zum großen Teil benutzen sie diese Applikationen besser als wir. Sie sind größere Cyborgs als wir es je waren. Konsum, Styling und Credibility sind Attribute ihrer Sicherheit, die uns oft fremd sind, die uns manchmal Angst machen und manchmal neidisch. »The master’s tools will never dismantle the master’s house.« (Audre Lorde, Sister Outsider, 1984)
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Auch wenn die Mädchen_ in unseren Seminaren mehrheitlich von heterosexuellen Zukunftsträumen sprechen, so steht doch ebenso die Möglichkeit im Raum, dass ihre Zukünftigen Beziehungspartner_innen sein werden. Kindererziehung gibt es in vielen anderen Beziehungsformen: in lesbischen, queeren und Trans-Beziehungen sowie zwischen Freund_innen. Immer geht es um die Frage der Verantwortung – Geschlecht ist da nur eine Kategorie, eine statistische, und immer ist die Antwort nur ungenau vorherzusagen. So wenden Frauen weiterhin deutlich mehr Zeit für die Betreuung des Kindes auf als Männer. In drei Viertel der Familien übernimmt die Mutter im ersten Lebensjahr des Kindes über 75 Prozent der Betreuung, in jeder zweiten Familie sind es sogar über 95 Prozent. Der durchschnittliche Betreuungsanteil der Männer, die Elterngeld bekommen, liegt im ersten Lebensjahr des Kindes bei 22 Prozent, in Familien ohne Elterngeldbezug des Mannes bei acht Prozent (BMFSFJ 2009: 23).
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. . . u n d ha n d lu n g s f ä h ig b le i b e n Wir müssen lernen, unsere Angst und unseren Neid zu betrachten mit den Augen der Unvoreingenommenheit, des Muts und der Vorfreude auf neue Wirklichkeiten. Wir gehen in den Kontakt mit den Mädchen_ und stehen mit ihnen in einer wechselseitigen Beziehung. Wir haben Erfahrungen, die wir ihnen mitteilen und an denen sie sich reiben können. Sie haben Erfahrungen, die sie uns mitteilen, von denen wir über sie und uns lernen. Wir haben ein anderes Wissen als die Mädchen_, wir haben ein anderes Wissen untereinander. Diese Unterschiede machen wir in unseren Begegnungen transparent. Wir bringen den Mädchen_ bei, Worte zu sprechen, die sie noch nie gesprochen haben. Erfahrungen zu benennen, die zu normal sind, um aufzufallen. Oder die als geheimes, uncooles Wissen um die eigene Verletzbarkeit in die hinterste Ecke der Festplatte geschoben werden müssen, um in dieser Welt überleben zu können. Wir wollen ihnen sagen, dass unsere Welt falsch ist. Und dass es keine richtige gibt, sehr wohl aber eine bessere. Wir lehren sie, in unsicheren Zeiten Halt zu finden, ohne sich darin einzurichten. Wir fordern sie trotzdem auf, nach ihrem Glück zu suchen, ihrem Begehren zu folgen, für sich zu sorgen. Wir bringen ihnen bei, dass es ihnen gut gehen darf, dass sie ihre Bedürfnisse befriedigen und Orte finden sollen, an denen sie sein wollen und leben können. Wir lassen uns von ihnen kritisieren für unsere eigenen Aktien an der patriarchalen Börse, für unsere Teilhabe an den Boni unserer Klasse und Hautfarbe. Wenn Mädchen_ Wirklichkeit werden – Individuen mit eigenen Handlungen und Plänen und der Fähigkeit, das Affentheater zu durchschauen, das die herrschende Vorstellung von Männlichkeit darstellt, sowie ihre eigenen Beteiligung daran – dann bekommen sie vielleicht Probleme. Dann werden sie unbequem, ausgegrenzt, fühlen sich unpassend. Aber dann ist etwas richtig: Sie sind unpassend, weil nichts passt. Sie durchschauen die karnevaleske Herstellung von Geschlecht. Sie erkennen ihre eigene Verstricktheit. Sie können auch gefesselt ihren Handlungsspielraum ausloten, auf der Suche nach geeigneten Mitteln, die eigenen Fesseln und die der anderen zu lösen. Dabei stehen wir ihnen zur Seite. »Nicht nur das Private ist politisch« (Slogan)
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E i n e M ä d c h e n a r b e it e r i n i s t e i n e M ä d c h e n _ a r b e it e r _ i n . . . Wir sind die dazwischen Geborenen, zwischen denen, die an den Feminismus als Lebens- und Gesellschaftsutopie geglaubt haben und denen, die glauben, daran nicht mehr glauben zu brauchen. Wir haben uns selber einmal »Mädchen« genannt, Girlies oder Riot Grrrls. Wir haben uns den Mädchenbegriff zu eigen gemacht, um eine kollektive Identität zu stärken, die vor den Schmerzen und Normierungen der Pubertät und des Geschlechts lag. Mit der sprachlichen Aneignung und Umdeutung des Wortes »grrrl« (statt »girl«) galt es, die Kategorie ad absurdum zu führen und kollektive Wut auszudrücken. Doch auch die riot grrrls sind zu einem Phänomen der Popkultur geworden, in der der Underground nur ein verkaufsträchtigerer Aufkleber des Mainstreams ist. Wir sind von diesen Widersprüchen überfordert, zwischen unserem Anspruch und der Wirklichkeit, zwischen Träumen und Realität, zwischen Arbeit und Prekarität einerseits, die die Honorartätigkeit als Mädchen_arbeiter_in mit sich bringt, und dem Wunsch nach einem schönen Leben für alle andererseits, überfordert auch von der allgemeinen Utopie- und Bewegungslosigkeit, vom Krieg und von unseren eigenen Psychos. We are under control – unsere eigene Kontrolle ist immer noch die effektivste. Wir sind gleichzeitig Opfer und Erfinder_innen des BeautyFashion-Komplexes, wir kompensieren den Stress der Mädchen_arbeit mit shoppen, die Erschöpfung mit Konsum, die Selbstzweifel mit Fressen oder Hungern. Wir schweigen über unsere Arbeitsbedingungen, aus Angst vor noch weniger Geld, vor fehlender Solidarität. Unsere Heterogenität ist auch für uns ein Tauschobjekt geworden, manchmal kommt es uns so vor, als sei unsere Körper- und Kopfarbeit nur ein Teil eines schickeren Lebensstils. »We seek not rest but transformation. We are dancing through each other as doorway.« (Marge Piercy, Circling, 1973)
. . . u n d m a c h t M ä d c he n _ a r b e it Wir stehen nicht über den Dingen, den Mädchen_, den Widersprüchen – wir sind die Dinge, die Mädchen_, die Widersprüche. Wir müssen in unserer Arbeit über diese Widersprüche sprechen, über unsere Erfahrungen mit Begrenztheit. Wir müssen das Überleben in menschenverachtenden Strukturen lehren, als diejenigen, die älter sind, und die neue
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Zeiten durch die Jüngeren kennenlernen können. Wir müssen die Ungewissheit des Prekären in Freiheit umwandeln. Die Begrenztheit ist unser Ausgangspunkt. Um handlungsfähig zu sein, stellen wir Autoritäten und Normen (auch unsere eigenen) infrage, um sie zu dekonstruieren und so Bedingungen der Unmöglichkeit in Bedingungen der Möglichkeiten umzuwandeln. Dafür brauchen wir unsere gegenseitige Solidarität, die wir auch an die Mädchen_ weitergeben. Solidarität zwischen irgendwie mit Weiblichkeit assoziierten Wesen (sei es nun körperlich, rollentechnisch, sozialisatorisch oder diskursiv) ist ein politischer Luxus, den wir uns immer noch leisten wollen. Dabei bewegen wir uns zwischen der Unmöglichkeit, uns und andere auf nur den einen Begriff (»Frau«) zu reduzieren und der Notwendigkeit, dies hin und wieder bewusst zu tun, um hör- oder sichtbar zu sein. Kollektives Handeln soll auch in der Postmoderne unser Freund_ sein. Wir als (aus-)gebildete Mädchen_arbeiter_innen werden uns immer wieder über unsere Privilegien klar sowie über Orte, an denen uns unser Recht verwehrt wird – wir kennen unterschiedliche, widersprüchliche Seiten der Herrschaftsmedaille. Wir müssen darüber mit den Mädchen_ in einen Austausch gehen, streitbar und sichtbar werden – und uns nicht hinter Begriffen und Konzepten verstecken. Unsere unterschiedlichen Betroffenheiten und gewählten Lebenskonzepte schärfen unsere pädagogische und politische Praxis. Unsere Positionen im sozialen Feld führen zu unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, zu unterschiedlichen Befähigungen. Wir müssen uns Räume des Austauschs untereinander schaffen und voneinander lernen, damit wir in der Pluralität der »repressiven Toleranz« (vgl. Marcuse 1965) nicht untergehen, die im Gegensatz zu einer befreienden, parteiischen Toleranz die etablierte Herrschaft der Diskriminierung schützt, stärkt und legitimiert statt sie zu stürzen. Mit unseren Privilegien als Bildungsarbeiter_innen müssen wir uns auch fragen lassen, wie wir zu den marginalisierten Perspektiven und Menschen dieser Welt stehen. Wie erzählen wir von ihnen, wenn sie abwesend sind, ohne paternalistisch zu repräsentieren? Sind wir uns unserer Lücken und blinden Flecken dabei bewusst? Wenn diese Perspektiven anwesend sind, lassen wir dann nur sie sprechen? Sicher ist: Wir sind angewiesen auf die Wahrheiten der Arbeitenden und Arbeitslosen, der Feminist_innen, der Streikenden, der Transsexuellen, der Ermordeten, der von der Gesellschaft behinderten, der Allein- oder Anderserziehenden, der Flüchtenden, der Kranken, der Intersexuellen, der Homosexuellen, der Missbrauchten, der Kolonialisierten, derer ohne Papiere, der Obdachlosen, der Widerständigen, der Überlebenden, der Kings,
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Queens und Criminal Queers, der Anderen, derjenigen, die wir nicht sehen, die wir vergessen, die wir uns nicht vorstellen können. Und wir können uns viel(e)(s) nicht vorstellen. So müssen wir auch in der Mädchen_arbeit immer auf Überraschungen gefasst sein, wir müssen mit der Leerstelle arbeiten, sie erwarten, sie hegen und pflegen. Die Wahrheiten gesellschaftlich marginalisierter Gruppen und Personen zeigen uns die Begrenztheit unseres Wissens, zwingen uns zur Reflexion. Weil wir Mädchen_arbeiter_innen sind, halten wir die Arbeit mit jungen Menschen auch für den richtigen Ort, über Verhältnisse gemeinsam nachzudenken, zu sprechen und soziales Miteinander zu üben. Wir sammeln Erfahrungen und geben sie weiter: zwischen erwachsenen Kindern, kindlichen Kindern und kindlichen Erwachsenen. Sich ins Verhältnis zu setzen beinhaltet auch die Verantwortung, von der Begrenztheit unserer Kraft auszugehen und diese zur Sprache zu bringen. Wir machen Fehler und haben Grenzen, aber wir können weiterlernen, Erfahrungen machen und neue Kraft schöpfen. Wir behalten unsere Erfahrungen mit Mädchen_ im Sinn, auch wenn wir mit Jungen_ arbeiten, weil wir das Geschlechterverhältnis als ein relationales begreifen. Wir kämpfen damit gegen militär-ähnliche Trainingslager und eine Jungenarbeit, die nach dem originär Männlichen sucht. Wir streiten damit für die Entlastung von Geschlechternormen. Und wir haben Freund_innen, die uns dabei helfen, mit denen wir diskutieren, uns austauschen und streiten: die Jungen_arbeiter_innen. Die neuen Feminismen werden keine Männer, wohl aber Männer_ als Verbündete einschließen. Dabei geht es uns nicht nur um Selbstreflexion und neue Identitäten, sondern um Regeländerungen zur Erlangung und Aufrechterhaltung von Männlichkeit, den »ernsten Spielen des Wettbewerbs« (Bourdieu 1997: 203). Definitionsmacht der Opfer von AntiHomosexualität, Homophobie und Sexismus sowie entsprechende Sanktionen wie den Schutz ihrer Räume – auch in der Mädchen_arbeit – wären dabei ein Anfang. Und dann: Aktion, Aktion, Aktion! Hito Steyerl schreibt über den Umgang mit Rassismus: »Es nutzt überhaupt nichts, dem Rassisten geduldig auseinanderzusetzen, dass es weder Rassen noch Identitäten gibt. Der Punkt ist nämlich keineswegs, dass Rassismus theoretisch falsch oder irrational sei. Der Punkt ist: Rassismus wirkt. Genau wie Murphys Law. Anstatt altklug die Irrationalität rassistischer Ideologie zu bemängeln, muss also die rassistische Praxis angegriffen werden« (Steyerl 2003: 4).
Dieses Zitat lässt sich auf Sexismus übertragen, ist er doch eine irrationale Annahme von (geschlechtlicher) Unterschiedlichkeit, bei gleichzeiti-
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ger Wirkmächtigkeit (auch als rassifizierter Sexismus oder sexualisierter Rassismus). Ob männlich, weiblich, trans, poly oder sonst welches Geschlecht – wir alle müssen sexistische Praktiken angreifen! Wie die Frauenhäuser werden auch wir Mädchen_arbeiter_innen gerne mal weggespart, wir sind ohnehin nie gut bezahlt gewesen und wir müssen unsere Arbeit seit Anbeginn immer wieder aufs Neue legitimieren. Das tun wir hiermit gerne, laut, widersprüchlich und kritisch. In Zukunft wollen wir noch viele unterschiedliche Mädchen_ treffen, mit und von ihnen lernen, wenn wir mit ihnen arbeiten. Was wir nicht wollen, ist, die Geschichte von Zweigeschlechtlichkeit fortschreiben. Die Zeit der historischen Männer und Frauen ist vorbei, die der Eindeutigkeit ebenso.10 Wir sind mittendrin im Kampf für soziale Gerechtigkeit. Mit den Mädchen_ ist zu rechnen. Mit den Mädchen_arbeiter_innen auch.
L i t er a t u r Antony and the Johnsons (2005): For today I am a boy. Album: I am a bird Now. Label: Secretely Canadian. Beisenherz, Heinz Gerhard (2002): Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft, Leverkusen: Leske & Budrich. Bikini Kill (1998): A Riot Grrrl Manifesto. In: Baldauf, Anette/Weingartner, Katharina (Hg.): Lips, Hits, Tits, Power? Popkultur und Feminismus, Wien/Bozen: folio, 26–27. Bornstein, Kate (1985): Gender Outlaw. On Men, Women, and the Rest of Us, New York: Vintage Books. Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 153–217. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2005): 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Campus. Dies. (2009): Evaluationsbericht Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz 2009.
10 In Australien wurde im März 2010 das erste eindeutige Neutrum gesetzlich anerkannt (vgl. Rötzer 2010), inzwischen wurde diese Entscheidung allerdings von einem höheren Gericht revidiert. Der Kommissar für Menschenrechte des Europarats weist auf die mangelnde Beachtung der Rechte von »transgender Menschen« in der EU hin (vgl. Hammarberg 2010).
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Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Connell, Raewyn (1999): Der gemachte Mann. Konstitution und Krise von Männlichkeiten, Opladen: Leske & Budrich. Duggan, Lisa/McHugh, Kathleen (2009): A Fem(me)inist Manifesto. In: Fuchs, Sabine (Hg.): Femme! Radikal–queer–feminin, Berlin: Querverlag, 47–55. Genderbüro Berlin/Genderforum Berlin (2006): Das Gender Manifest. www.gender.de/mainstreaming/GenderManifest01_2006.pdf [Abruf: 24.02.2010]. Hammarberg, Thomas (2010): Human rights and Gender Identity. Issue Paper 2009/2. Strasbourg. Haraway, Donna (2010): Ein Manifest für Cyborgs. In: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M.: Campus, 33–72. www.queeramnesty.ch/berichte/37-publikationen/352-hammarberg-ver langt-volle-respektierung-der-menschenrechte-von-transgender [Abruf: 12.04.2010]. Hocquenghem, Guy (1974): Das homosexuelle Verlangen. Nicht das homosexuelle Verlangen ist problematisch, sondern die Angst vor der Homosexualität, München: Hanser Verlag. Holz, Gerda (2006): Armut bei Kindern. Unterschiedliche Lebenslagen und Bewältigungsmuster bei Mädchen und Jungen. In: Betrifft Mädchen, 19. Jahrgang, Heft 1, 15–20. Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 2007: Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. www.bzga-essstoerugen.de/fileadmin/user_upload/medien/PDFs/Hoelling_Essstoerungen.pdf [Abruf: 07.04.10]. Lorde, Audre (1984): The master’s tools will never dismantle the master’s house. In: dies., Sister Outsider, Freedom: The Crossing Press, 110. Marcuse, Herbert (1965): Repressive Toleranz. In: Wolff, Robert Paul/Moore, Barrington/Marcuse, Herbert (1966): Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848): Manifest der kommunistischen Partei, Berlin: Dietz Verlag, 40. Auflage. Piercy, Marge (1973): Circling, in: Best Friends, 1973/No. 3. Pohl, Rolf (2005): Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen, Hannover: Offizin Verlag. Preciado, Beatriz (2003): Kontrasexuelles Manifest, Berlin: B-books.
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Rötzer, Florian (2010): Geschlecht: unbestimmt. In: Telepolis, 16.03.2010, www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32268/1.html [Abruf: 06.04.10] Romih, Tina (2009): Children and Youth Victims of Violence in the Family. In: Gaber, Milica Antić (Hg.) (2009): Violence in the EU examined. Policies on Violence against Women, Children and Youth in 2004 EU Accession Countries, Ljubljana: Faculty of arts, 85–101. Steyerl, Hito (2003): Murphy’s Law. Politik statt Ontologie. In: BUM – Büro für ungewöhnliche Maßnahmen (Hg.): Politischer Antirassismus. Erfahrungen und Perspektiven, Wien: Antirassistisches Archiv, 4–7.
Autor_ innen Mart Busche, 1975, Politikwissenschaftler_in (Dipl.), wissenschaftliche Mitarbeiter_in bei Dissens e.V., Mitarbeiter_in in der Mädchen_ und Jungen_arbeit in der HVHS »Alte Molkerei Frille«. Schwerpunkte: Gewalt, Männlichkeiten, Intersektionalität. ([email protected]) Michael Cremers, 1966, Sozialwissenschaftler (Dipl.): Koordination und fachliche Leitung der Koordinationsstelle Männer in KiTas an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen, Berlin. Freier Mitarbeiter bei Dissens e.V. Berlin und in der HVHS »Alte Molkerei Frille«. ([email protected]) Michael Drogand-Strud, 1959, Sozialwissenschaftler (Dipl.) und Gestaltberater, seit 2000 Pädagogischer Mitarbeiter im Leitungsteam der HVHS »Alte Molkerei Frille«, Themen: Geschlechtsbezogene Pädagogik, Jungen_arbeit, Gender & Migration, Inklusive Pädagogik, Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit NRW ([email protected]) Laura Maikowski, 1976, Kommunikations-Designerin (Dipl.), Freie Grafikerin, Lehrbeauftragte an der HBK-Braunschweig und Freie Bildungsreferentin, Mitarbeiterin seit 2001 in der Mädchen_arbeit und Reflexiven Koedukation in der HVHS »Alte Molkerei Frille«. Schwerpunkte: Gender, Andersbefähigung, Familienbiografisches Arbeiten in Bezug auf Nationalsozialismus und Shoa. (www.bildargumente.de) Björn Nagel, 1979, Soziologe_ (MA), Bildungsreferent_ des Lübecker Jugendringes, Jungen_arbeiter_ der HVHS »Alte Molkerei Frille«,
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Schwerpunkte: Gender, Queer Theory, Disability, Intersektionalität. ([email protected]) Ines Pohlkamp, 1974, Sozialpädagogin (Dipl.), Kriminologin (MA), Leitung der Mädchen_arbeit in der HVHS »Alte Molkerei Frille« 2007– 2009. Schwerpunkte: Gender, Feminismus, nichtrassistische Bildung, Gewalt und Queer Theory. ([email protected]) Regina Rauw, 1968, Dozentin für geschlechtsbezogene Pädagogik und Psychotherapeutin (in Ausbildung).Hauptberuflich im Leitungsteam der HVHS »Alte Molkerei Frille« von 1997 bis 2007 tätig, inhaltliche Verantwortlichkeit für die Bereiche Mädchenarbeit, Gender-Kompetenz und geschlechtsbezogene Pädagogik. Aktuelle Schwerpunkte: Kooperation zwischen Frauen und Männern, das europäische Netzwerk „Empowerment in the work with girls“, Körperarbeit in Pädagogik und Therapie. (www.reginarauw.eu, [email protected]) Svenja Reimann, 1979, Pädagogin (Dipl.), Leitung WiWa – Mädchentreff Hagen, Mitarbeiterin in der Mädchen_arbeit in der HVHS »Alte Molkerei Frille«. Schwerpunkte: Gender, nichtrassistische Bildung, sexualisierte Gewalt. ([email protected]) Malgorzata Soluch, 1979, Sozialwissenschaftlerin (Dipl.), ist Mitarbeiterin in der Mädchenarbeit in der HVHS »Alte Molkerei Frille«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender, nichtrassistische Bildung und Andersbefähigung. ([email protected]) Jennifer Vogt, 1975, Pädadagogin (Dipl.), Mitarbeiterin in der geschlechterkritischen Mädchenarbeit der HVHS »Alte Molkerei Frille« und Freiberufliche in der politischen Bildung. Schwerpunkte: Gender, Rassismuskritik, Intersektionalität und Poststrukturalismus. ([email protected]) Ellen Wesemüller, 1980, Politikwissenschaftlerin (MA, M.A.) und Journalistin, Mitarbeiterin in der Mädchen_arbeit in der HVHS »Alte Molkerei Frille« 2005–2009. Schwerpunkte: Feminismus, Gender, Körper, Klassengesellschaft. ([email protected]) Fidan Yiligin, 1969, Sozialpädagogin (Dipl.), Beraterin zu den Themen: Berufliche und Betriebliche Bildung (insbesondere der Transkulturellen-
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Kompetenz), Empowermenttrainerin (insbesondere für People of Color), Trainerin mit dem Ansatz des rassismuskritischen und geschlechterreflektierten Perspektivwechsels in der politischen Bildung, im Leitungsteam der HVHS »Alte Molkerei Frille«. ([email protected])
Gender Studies Rita Casale, Barbara Rendtorff (Hg.) Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung 2008, 266 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-748-6
Rainer Fretschner, Katharina Knüttel, Martin Seeliger (Hg.) Intersektionalität und Kulturindustrie Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen November 2010, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1494-7
Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform November 2010, ca. 486 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4
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Gender Studies Gerlinde Mauerer (Hg.) Frauengesundheit in Theorie und Praxis Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften Oktober 2010, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1461-9
Hanna Meissner Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx August 2010, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1381-0
Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit Dezember 2010, ca. 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2
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Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.) Emotionen in Geschlechterverhältnissen Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel 2009, 184 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1210-3
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Barbara Schütze Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung April 2010, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1276-9
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