Frauengesundheit in Theorie und Praxis: Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften [1. Aufl.] 9783839414613

Dieses Buch zeigt die theoretischen und praktischen Verbindungen von Frauengesundheitsforschung, Frauengesundheitspraxis

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German Pages 240 Year 2014

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
Einleitung: Frauen zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“ – wie lange noch?
GESUNDHEITSWISSEN UND ALLTAGSHANDELN VON FRAUEN
Egalitärer Feminismus und der Gesundheitsstatus von Frauen: Eine kritische Reflexion
Spaßverderberinnen: Feminismus und die Geschichte des Glücklichseins
Weiblichkeit und (Vor-)Sorge tragen: Wechselwirkungen zwischen Frauen- und Krankheitsbildern
„Sich schön machen“ im Alter: Zur Verknüpfung neoliberaler Körperbilder, weiblicher Subjektivierungsformen und Gesundheitshandeln
FEMINISTISCHE THEORIEN UND FRAUENPOLITISCHE PRAXIS
Gesundheit und Moderne Frauen. Notate zum Körperregime
Frauen(gesundheits)bewegung im Wohlfahrtsstaat: Von der Selbstbestimmung zur ,Selbstverantwortung‘ – von der Autonomie zur ,Selbststeuerung‘?
FEMINISTISCHE UND FRAUENSPEZIFISCHE BERATUNGSPRAXIS
Was Frauen gut tut: Frauenpolitische Praxis, Frauengesundheitsforschung, Feministische Theorie
Ohnmacht, Wut und (Selbst-)Ermächtigung: Erfahrungsbericht aus der Praxis
Psychotherapie im bewertungsfreien Raum
Nachwort in Gedenken an Gerburg Treusch-Dieters Studio zum ,,Drama und Trauma weiblicher Verhaltensmuster“
Autorinnen
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Frauengesundheit in Theorie und Praxis: Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften [1. Aufl.]
 9783839414613

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Gerlinde Mauerer (Hg.) Frauengesundheit in Theorie und Praxis

Gerlinde Mauerer (Hg.)

Frauengesundheit in Theorie und Praxis Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften

Druck gefördert von: BKA – Bundeskanzleramt Österreich, Bundesministerium für Frauen und Öffentlichen Dienst BMWF – Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien MA 57 – Frauenabteilung der Stadt Wien Gerda Weiler Stiftung e.V. für feministische Frauenforschung ÖH – Österreichische HochschülerInnenschaft, Sonderprojekte Frauenhetz – Feministische Bildung, Kultur und Politik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld »edition Frauenhetz – Feministische Bildung, Kultur und Politik« Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Gudrun Perko, http://www.perko-profundus.de/ Satz: Gerlinde Mauerer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1461-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I N H AL T

Vorwort von Ilona Kickbusch Einleitung: Frauen zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“ – wie lange noch? GERLINDE MAUERER

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GESUNDHEITSWISSEN UND ALLTAGSHANDELN VON FRAUEN Egalitärer Feminismus und der Gesundheitsstatus von Frauen: Eine kritische Reflexion ELLEN ANNANDALE

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Spaßverderberinnen: Feminismus und die Geschichte des Glücklichseins SARA AHMED

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Weiblichkeit und (Vor-)Sorge tragen: Wechselwirkungen zwischen Frauen- und Krankheitsbildern GERLINDE MAUERER

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„Sich schön machen“ im Alter: Zur Verknüpfung neoliberaler Körperbilder, weiblicher Subjektivierungsformen und Gesundheitshandeln GRIT HÖPPNER

113

FEMINISTISCHE THEORIEN UND FRAUENPOLITISCHE PRAXIS Gesundheit und Moderne Frauen. Notate zum Körperregime BIRGE KRONDORFER

129

Frauen(gesundheits)bewegung im Wohlfahrtsstaat: Von der Selbstbestimmung zur ,Selbstverantwortung‘ – von der Autonomie zur ,Selbststeuerung‘? REGINA-MARIA DACKWEILER

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FEMINISTISCHE UND FRAUENSPEZIFISCHE BERATUNGSPRAXIS Was Frauen gut tut: Frauenpolitische Praxis, Frauengesundheitsforschung, Feministische Theorie TRAUDE EBERMANN/BIRGE KRONDORFER/GERLINDE MAUERER/ BETTINA REINISCH/BEATE WIMMER-PUCHINGER Ohnmacht, Wut und (Selbst-)Ermächtigung: Erfahrungsbericht aus der Praxis ANDREA SCHEUTZ Psychotherapie im bewertungsfreien Raum BETTINA REINISCH

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213

Nachwort in Gedenken an Gerburg Treusch-Dieters Studio zum 219 ,,Drama und Trauma weiblicher Verhaltensmuster“ GERLINDE MAUERER

Autorinnen

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Vorw ort ILONA KICKBUSCH

Das Buch „Frauengesundheit in Theorie und Praxis. Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften“ soll wichtige Impulse für die Umsetzung und das Weiterdenken feministischer Theoriebildungen in der frauen- und gesundheitspolitischen Praxis liefern. Es zeigt auf, wie durch die Veränderung und Erweiterung starrer geschlechtsrollenkonformer Lebensmuster zahlreiche positive Effekte für Gesundheit und Wohlbefinden erreicht werden können. Damit leistet es auch einen wichtigen Beitrag zur derzeit so populären Diskussion um Wohlbefinden und Glück, der häufig die Geschlechter spezifische Dimension fehlt. Es gilt demnach einerseits einen Denk- und Lebenshorizont zu schaffen dafür, was Frauen gut tut und andererseits eine Umsetzung auf nationaler und globaler Ebene voranzutreiben. Das Buch baut auf der Veranstaltungsreihe der Frauenhetz im Jahr 2008 auf, welche den inhaltlichen Schwerpunkt „Was Frauen gut tut: Frauenpolitische Praxis, Frauengesundheitsforschung, Feministische Theorien“ hatte. Mit der Veröffentlichung wollen die Herausgeberin und die Autorinnen die Vorteile feministischer Theoriebildung in ihrer Übertragung auf das Alltagsleben von Frauen – individuell und kollektiv – aufzeigen und diese für Frauen „schmackhaft“ machen. Es verbindet die wissenschaftliche Erkenntnisbildung in den Disziplinen Gesundheits- und Medizinsoziologie, Public Health, Feministische Theorien und Gender Theorien. Die Autorinnen kommen aus verschienenden Disziplinen und sind Theoretikerinnen und Praktikerinnen. Sie schreiben in der Tradition der

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ILONA KICKBUSCH

Zweiten Frauenbewegung. Sie wollen Wissenschaftlerinnen und Praktikerinnen ansprechen. Die Beiträge bieten eine gelungene Mischung zum Status quo von Frauengesundheit in Theorie und Praxis heute. Sie beschreiben und analysieren frauenbewegte Geschichte, die Einflussnahme feministischer Theoriebildung auf die Entwicklung von Frauengesundheitsprojekten und umgekehrt, sowie ihren Einfluss auf den Bereich der Gesundheitswissenschaften allgemein. So belegt etwa der Text von Ellen Annandale die Einflussnahme Feministischer Theoriebildung auf gesundheitssoziologische Analysen der letzten Jahrzehnte. In den Disziplinen Frauen(Gesundheits)forschung, Feministische Theorien und Gender Studies werden vielfältige Veränderungspotenziale ausgelotet, erdacht und erarbeitet. Gründliche durchdachte Neubewertungen einer geschlechtsspezifisch anders verteilten und umstrukturierten gesellschaftlichen Arbeit sind vorhanden und werden von Theoretikerinnen und Praktikerinnen in diesem Buch in vielfältiger Weise skizziert. Eine inhaltliche Achse der Publikation bildet die Verbindung von Gesundheitswissen und Alltagshandeln (vgl. die Beiträge von Sara Ahmed, Gerlinde Mauerer und Grit Höppner). Die Autorinnen fokussieren auf den Bereich Weiblichkeit und Außenbild/äußeres Erscheinungsbild. Diesen Themenkomplex diskutieren sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Körpernormen, Gesundheit, Schönheit im Alter und damit einhergehenden Normierungspraxen/sozialen Zuschreibungen. Dass gerade Frauen für ein Diktat an Körpernormen und -formen empfänglich sind, nimmt nicht Wunder: Sollte doch in jahrhunderte langer Tradition in Mythen und Märchen das wunderschöne Äußere und „saubere Innere“ einen „märchenhaften Ausweg“ aus der Unbill des Alltags ermöglichen. In Zeiten von TV-Soap Operas und der Suche nach willigen „Topmodellen“ via TV als Unterhaltungsprogramm erfährt diese Vergangenheit der Reduktion von Frauen auf ihr Äußeres neue Brisanz! Das Buch bietet auch historisch fachliche Einblicke in die Arbeit frauen(gesundheits)politische Praxen (vgl. die Beiträge von Traude Ebermann, Beate Wimmer-Puchinger, Bettina Reinisch und Andrea Scheutz). An der Geschichte einzelner Frauenprojekte und -initiativen in Wien und ihrer Entstehungsgeschichte lässt sich eindrücklich zeigen, wie das Engagement von Frauen Früchte trug und zur Etablierung von Fraueninitiativen beitrug! Das Herausarbeiten eines „Status quo“ von frauengesundheitsrelevanten Institutionen und deren Etablierung ist dabei ebenso relevant wie eine Analyse derselben als „(frauen-)politische 8

VORWORT

Errungenschaft“ (vgl. die Beiträge von Regina Dackweiler und Birge Krondorfer). Es wird aber auch aufgezeigt, wie soziale und demographische Veränderungen diese Arbeit beeinflussen und verändern. Und es wird beleuchtet, welches die Auswirkungen dieser Umstrukturierungen auf jene sind, deren Einkommenssicherung und ökonomische Absicherung nach wie vor nicht ausreichend geregelt ist. Hierzu zählen nach wie vor in besonderem Maße Frauen. Dadurch gewinnt das Buch an hoher aktueller Bedeutung für die Diskussion um die Determinanten von Gesundheit. Gesundheit ist mit unserem Alltag verwoben – fast jede Handlung ist eine Gesundheitsentscheidung: essen, fortbewegen, schlafen, einkaufen etc. Neue Normen entwickeln sich um das Feld gesund/ungesund, zu denen wir Position beziehen müssen, ja fast besteht ein sozialer Zwang, sich zu deklarieren. Die Expansion der Gesundheit im Alltag wird stark vom Markt vorangetrieben, und unter dem Motiv von immer „mehr Gesundheit“, entwickelt sich ein neuer Drang zur Optimierung und zur Gesundheit als Produkt. Die Gegensteuerung ist noch nicht klar ersichtlich – weil alle wichtigen Bereiche derart nahe an der persönlichen Lebensführung und Konsumentscheidung gelagert sind, erfolgt schnell eine Diskussion über staatliche Eingriffe und ihre Berechtigung und das Recht auf persönliches Risikoverhalten. Gerade aus der Sicht von Frauen sollten wir diese Entwicklungen genau beobachten – was daran tut uns gut? Die wichtigsten Gesundheitsdeterminanten liegen weiterhin in den Strukturen unseres direkten Lebensumfeldes und nicht auf dem Markt: die Familie und Freunde, die Arbeit, das Einkommen, die Schulbildung, die Umwelt. Als Staatsbürgerinnen sollten wir sie einfordern und zu ihnen aktiv beitragen. Einige wichtige Wege sind in diesem Buch aufgezeigt, das als Lektüre allen empfohlen werden kann.

Ilona Kickbusch, April 2010

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Einleitung: Fra ue n zw isc hen „ nic ht me hr“ und „ noc h nicht“ – w ie la nge noc h? GERLINDE MAUERER

Eine Grundlage des vorliegenden Buches sind Vortragsinhalte und Diskussionen aus der Veranstaltungsreihe „Was Frauen gut tut: Frauenpolitische Praxis, Frauengesundheitsforschung, Feministische Theorien“.1 Ergänzende Beiträge wurden von Autorinnen, die zu der Frauengesundheitsforschung und Feministischen Theorien arbeiten, zur Verfügung gestellt.2 Ihnen allen sei gedankt für die Bereitschaft an dieser Publikation mitzuwirken. In der Hauptintention des Buches und der Autorinnen liegt es, wissenschaftliche Erkenntnisbildung in den Disziplinen Gesundheits- und Medizinsoziologie, Public Health, Feministische Theorien und Gender Theorien zu verbinden und ihre wechselseitigen Einflussnahmen darzustellen und zu analysieren. Dabei werden gesundheitswissenschaftliche und feministische Erkenntnisse aus der Frauengesundheitsforschung und der Feministischen Theoriebildung gebündelt. Zum Einen wird hierbei die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ihrer Bezugnahmen auf die frauen(gesundheits-)politische Praxis untersucht, zum Anderen wird 1

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Die Veranstaltungsreihe hat 2008 im Verein Frauenhetz in Wien sowie am Institut für Soziologie der Universität Wien stattgefunden. Eine gekürzte und redigierte Fassung der Eröffnungsdiskussion vom 17. April 2008 ist Teil dieses Sammelbandes. Ein Anliegen der Besucherinnen war es, die Beiträge zu veröffentlichen. Diesem Wunsch kommen wir im vorliegenden Band nach. In alphabetischer Reihung sind dies: Sara Ahmed, Ellen Annandale, Grit Höppner und Ilona Kickbusch. 11

GERLINDE MAUERER

dieselbe einer (Selbst-)Reflexion durch in diesem Bereich tätige Praktikerinnen und Theoretikerinnen unterzogen mit dem Ziel, einen sowohl historisch als auch fachlich breiten Einblick in frauen(gesundheits)-politische Praxen zu geben.3 Letztere wird vor allem im Hinblick auf die theoretische und praktische Umsetzung von Erkenntnissen und politischen Forderungen aus der Zweiten Frauenbewegung untersucht, sowohl was den „Status quo“ ihrer frauengesundheitsrelevanten Etablierung als auch ihre (Selbst-)Analyse als „(frauen-)politische Errungenschaft“ betrifft.4 Die historischen, politischen und gesellschaftlichen Analysen zu Frauengesundheit werden ergänzt um aktuelle Inputs von Praktikerinnen aus Frauengesundheitseinrichtungen mit Bezügen zu den Disziplinen Gesundheitsförderung, Public Health, Gesundheits- und Medizinsoziologie, Körpersoziologie und Gender Studies. Die theoretische Reflexion von Frauen(gesundheits-)angeboten in der Praxis – vice versa – liefert auch nicht-wissenschaftlich Tätigen, an Frauengesundheit Interessierten wichtige Grundlagen für die Denk-, Anwendungs- und Umsetzungsmöglichkeiten feministischer Theorien in der frauen- und gesundheitspolitischen Praxis5: Indem gesundheitsförderliche Auswirkungen des Aufbrechens eindimensionaler geschlechtsspezifischer Rollenbilder aufgezeigt und verdeutlicht werden. Analysen zur gesundheitsschädigenden Wirkung starrer, eindimensionaler geschlechtlicher Rollenbilder belegen, dass vielfältige positive gesundheitliche Veränderungen für Frauen und Männer durch die Umsetzung einer reichhaltigen Ausbeute in der Erkenntnisbildung erzielt werden (können): Indem starre rollenkonforme Lebensmuster erweitert werden. Was in conclusio dazu führen sollte, ihr Repertoire in weit größerem Maße als bisher zu nutzen (vgl. Hurrelmann/Kolip 2002, Altgeld 2004, Annandale 2009).

Frauengesundheitsforschung und Feministische T h e o r i e n – a lw a ys t o g e t h e r ? Im vorliegenden Band legen wir einen Fokus auf die historische Untersuchung der Bereiche Frauengesundheitsforschung und Feministische Theorien. Diese wurden in der Vergangenheit von frauenpolitisch akti3 4 5

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Vgl. insbesondere die Beiträge von Traude Ebermann, Beate WimmerPuchinger, Bettina Reinisch und Andrea Scheutz in diesem Band. Vgl. hierzu in kritischer Reflexion Regina Dackweiler in diesem Band. Siehe vor allem das Kapitel „Gesundheitswissen und Alltagshandeln von Frauen“ mit den Beiträgen von Ellen Annandale, Sara Ahmed und Gerlinde Mauerer.

EINLEITUNG

ven Theoretikerinnen als zusammengehörig gedacht und erlebt.6 An die Darstellungen von Birge Krondorfer und die Inputs der an der Eröffnungsveranstaltung beteiligten Teilnehmerinnen schließen wir die Frage an, ob und in welchen spezifischen Teilbereichen (u.a. Feministische Beratung, in Frauengesundheitsangebote, politischen Bildungsangebote) parallele Entwicklungsverläufe in Bezug auf die Erkenntnisse der Zweiten Frauenbewegung zu verzeichnen waren, oder, ob auch etwaige gegenläufige Entwicklungstendenzen zu beobachten sind? In unserem Interesse liegt es, eine frauenpolitische Retrospektive auf frauen- und gesundheitspolitische Erfolge in der Umsetzung theoretischer Ideale der Zweiten Frauenbewegung zu generieren, zu analysieren und in der Weiterentwicklung fruchtbar zu machen. Dieser „Mehrwert“ einer Fruchtbarkeitssymbolik steht in der feministischen Erkenntnisbildung völlig zu Recht unter „Verdacht“. Theoretische Untersuchungen zu weiblicher Fruchtbarkeit müssen daher zwingend die Analyse frauenpolitischer Mach(t)fragen mit beinhalten (vgl. hierzu Schaeffer-Hegel 1988 und Treusch-Dieter 1990): Ausgehend davon, dass traditionelle weibliche Rollenkonstruktionen von einer materialen und emotionalen Verfasstheit des weiblichen Körpers auf andere „hin- und zugerichtet“ ausgehen und diese Orientierung als „Grundausstattung“ v.a. in den Zusammenhalt (klein-)familiärer Konstellationen mit eingeflossen ist. Dass sie dort gekoppelt v.a. an reale Frauen im „gelebten Modell“ verbleiben und historisch zu einem vielschichtigen und wenig honorierten „Mehrwert“ beitragen konnte, verweist auf die mehrfache Absicherung patriarchal konstruierter Grundlagen gesellschaftspolitischer und sozialer Handlungsspielräume (vgl. Horkheimer/Adorno 1949). Zahlreiche familiensoziologische, gesundheitswissenschaftliche, gendertheoretische und feministische Studien belegen zudem, dass dieses „Modell“ nicht zur Gänze aus der Mode gekommen ist.7 Feministische und geschlechtspezifische Studien zu traditionell orientierten weiblichen Lebensverläufen und „Schicksalen“ machen deutlich, dass ein Rekurrieren auf mehrende Symboliken – „aus allem etwas machen“ – in Zusammenhang mit dem weiblichen Körper als reproduktionsfähigem (wenngleich Geburtenraten und Gebärwilligkeit insbesondere in der nordwestlichen Hemisphäre weitgehend sinken) für die Selbstkonstruktion und Identitätsbildung realer Frauen insbesondere als handelnde Personen fatale Folgen haben kann (vgl. Mauerer 2002, 6

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Vgl. den Beitrag von Birge Krondorfer und das überarbeitete Protokoll der Eröffnungsveranstaltung „Was Frauen gut tut. Frauenpolitische Praxis, Frauengesundheitsforschung, feministische Theorie“ in diesem Band. Vgl. u.a. Rille-Pfeiffer 2010, Löw 2009, Bauer/Gröning 2008, Bereswil/ Meuser/Scholz 2007, Kahlert/Berger 2006, Moser/Praetorius 2003. 13

GERLINDE MAUERER

Treusch-Dieter 2000, 2001). Diesem „klassischen weiblichen Schicksal“ zu entgehen, wollen die Autorinnen dieses Bandes in der feministischen (Selbst-)Analyse zum Einen anregen; zum Anderen ist genau der Faktor eines nahezu „bedingungslosen“ bzw. bedingungslos scheinenden Mehrens eine traditionell Frauen zugedachte Stärke, die zum Gelingen weiblicher Lebens(ver)läufe beigetragen hat (vgl. Moser 2003, sowie in theoretischer Reflexion Braidotti 2002). Diese in kritisch-feministischer Perspektivenbildung beleuchtete Stärke muss nicht zwingend verworfen werden. Es gilt, ihren Gehalt jenseits möglicher Funktionalisierungsstrategien für andere zu prüfen und neu zu bewerten: Mit Blick auf die Kreation von (Selbst-)Bildern, welche traditionelle weibliche Zuschreibungen überschreiten und deren Verwirklichung auch durch die gesellschaftspolitische Umsetzung veränderter struktureller Rahmenbedingungen ermöglicht wird. Im vorliegenden Band legen wir einen weiteren Fokus auf die Verbesserung sozialer, gesellschaftspolitischer, individueller und kollektiver „Lebensumstände“ von Frauen und versuchen zugleich einer „bloßen“ Wiederherstellung „gesunder“ und leistungsfähiger Frauen im Sinne der Erhaltung ihrer weiteren Funktionstüchtigkeit innerhalb einer männlich dominierten und strukturierten Umwelt (beruflich, privat, kulturell, sozial, politisch ...) zu entgehen. Wir versuchen eine Gratwanderung zu skizzieren und anzugehen, die dem „traditionellen „Spagatlebensentwürfen“ mit innerlichem „Zerreißen“ einer zeitlichen wie räumlichen Zerrissenheit von Frauen zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“ ein Gegengewicht gibt, welches in ausgezeichneter Weise geeignet ist, die Fülle individueller und kollektiver Entwürfe lebbar erscheinen und werden zu lassen. Hierzu zählt strategisch auch, schablonenartig strukturierte Familienund Individualbilder sowie Denk- und Lebensentwürfen zu verwerfen und in vielschichtigen Dimensionen zu erweitern, welche Frauen und ihre vielfältigen Lebenspotenziale reduzieren. Frida Kahlos Bild „Die gebrochene Säule“ zeigt im stützenden Korsett einen „Panzer“, der den notwendigen inneren Zusammenhalt, einen fragilen Zusammenhalt mit gebrochenem Inneren, stützen soll. Das Bild Kahlos entstand vor der ersten Operation an ihrem Rückgrat im Jahr 1944. Das säulenförmige Ende des gebrochenen Rückgrats verweist auf die Frau als Haus, als Stütze der Polis des klassischen Athens zur Zeit der Demokratie, aus der Frauen, Sklaven und Metöken (Fremde) als gleichberechtigte BürgerInnen ausgeschlossen waren. In assoziativer Interpretation zeigt es die inneren und äußeren Leiden daran, Stütze zu

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EINLEITUNG

sein, und selbst stützende Kraft aufgrund innerer Brüchigkeit zu benötigen.

Frida Kahlo: The broken column (1944). Sammlung Dolores Olmedo Patiño, Mexiko City. Verschiedene orthopädische Korsetts wurden Frida Kahlo in ihren letzten Lebensjahren angepasst, die ihre Bewegungsmöglichkeiten reduzierten und dennoch wenig gegen die Schmerzen ausrichten konnten (vgl. Herrera 1983). Ihre Bilder versinnbildlichen weit über die persönliche Darstellung ihrer Krankheitsgeschichte hinaus prägende Elemente einer Geschlechtersymbolik, die Frauen auf die Rolle als „krankes Geschlecht“ reduziert und auch dementsprechend in geschmälerter Sicht wahrnimmt.8 Davon ungeschadet bleibt ihre symbolische und auch reale Stützfunktion, ob in Organisationen, Firmen, privat, beruflich, sozial, politisch, kulturell u.a.m. Letztlich kann sogar ein Frauen zugedachter besonderer „Bezug zur Natur“ funktionalisiert werden im Sinne „heilender Kräfte“: Einer Natur jedoch, die ihrerseits ausgebeutet wird durch globale (Markt-)Kräfte und -logiken, welche wirkungsmächtig in den Vordergrund gerückt sind (vgl. Brennan 1997, Jochimsen 2003).

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Vgl. hierzu in literarischer Bearbeitung „Krankheit oder moderne Frauen“ (1987) von Elfriede Jelinek. Die „Andersartigkeit“ von Frauen wurde und wird als „krankhafte Abweichung“ wahrgenommen und registriert, wenn in erster Linie männliche Standards und Normen gelten. 15

GERLINDE MAUERER

Über individuelle Lösungsstrategien hinaus wird in den Beiträgen eine der „Gretchen-Fragen“ feministischer Theoriebildung bearbeitet: Es geht um die Fragestellung, wie unter den vorherrschenden schwierigen Bedingungen weiblicher Identitätsbildung und je individuell geforderten Herauslösungen aus patriarchalen Kontexten eine erhöhte Gemeinsamkeit von Frauen und kollektive Bewusstseinsbildung im Sinne gegenseitigen Empowerments von Frauen erzielt werden können, die auch dazu geeignet sind, in „weiblicher Tradition“ Erfahrungen und Errungenschaften weiterzugeben (vgl. Mauerer 2002): Im Sinne dessen, dass nicht jede Frau „von vorne“ anfangen muss und erreichte Ziele – u.a. der Zweiten Frauenbewegung – manifest verankert werden. In der Diskussion zu „Was Frauen gut tut. Frauenpolitische Praxis, Frauengesundheitsforschung, feministische Theorie“ sowie in der Skizzierung feministischer Beratungskontexte wird diese Frage von den Autorinnen in ihrem jeweiligen Arbeitskontext erörtert: Wie kann Gemeinsamkeit von Frauen als Empowerment genutzt werden, ohne „nur“ weibliche Funktionstüchtigkeit, welche zudem oftmals für andere genutzt wird, (wieder)herzustellen? Im Bereich der gesundheitswissenschaftlichen Weiterentwicklung bearbeitet Ellen Annandale diese Frage in ihrem Aufsatz „Egalitärer Feminismus und der Gesundheitsstatus von Frauen: Eine kritische Reflexion“. Sie führt der feministischen Theoriebildung entstammendes Differenzwissen in die gesundheitswissenschaftliche Neuorientierung betreffend Gleichheit und Differenz der Geschlechter ein und macht deutlich, dass diese bislang vorrangig in einem heterosexuellen und bipolaren Denkschema gedacht und bewertet wurden. Aus diesem bipolaren Ordnungsschema und einer abendländischen Fokussierung auf geistige Höherbewertung und körperliche Minderbewertung (u.a. auch von Arbeit) resultiert ein Modell der Platzanweisung und versuchten Fixierung, welches auch für das Verhältnis von Frauengesundheitsforschung und Feministische Theorien Gültigkeit hatte.

„Geistiger“ Feminismus – „körperorientierte“ Frauengesundheitsforschung? Dieses Spannungsfeld umreißt die Problematik frauenbewegter Geschichte(n) nicht erst seit der Französischen Revolution und Aufklärung. In der Terminologie feministischer Theoriebildungen barg der Bereich der Frauengesundheit in der Konzentration auf den weiblichen Körper und die sogenannte weibliche Psyche, immer schon die Gefahr eines la-

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EINLEITUNG

tenten oder manifesten „Essentialismusvorwurfs“.9 Folgende Dichotomie wurde als Ergebnis eines ausgrenzenden abendländischen Denkens10, welches patriarchal orientierte Strukturierungen enthält, „entlarvt“ und analysiert: hier der weibliche Körper vor dem Hintergrund historischer Objektivierung, Diskriminierung und Reduktion von Weiblichkeit auf „zugeschriebene Normen und Formen“ (mit bekannten negativen Auswirkungen und Folgewirkungen für Frauen, so sie „Normmaßen“ und vorgegebenen restriktiven Rollenbildern nicht entsprechen), dort der Bereich Feministischer Theoriebildung, der trotz seines weitreichenden gesellschaftskritischen Potentials und seiner alltagspraktischen Wirkung für Frauen dennoch zumindest vorwiegend über die „Köpfe“ von Frauen sein Veränderungspotential entfaltete. Das Ergebnis war und ist ein Spannungs- und Kraftfeld mit wechselseitiger Anziehung und Abstoßung zwischen Frauengesundheitsforschung und Feministischer Theoriebildung. Zumindest ansatzweise lässt sich eine abendländische Geist-Körper-Dichotomie auch auf eine Spaltung von „geistigem“ Feminismus versus objekthaften, patriarchal besetzten Frauenkörpern übertragen. Dass die Auslöschung dieses Frauenkörpers nach wie vor pathologisch betrieben wird (Anorexie, Bulimie, Selbstverletzungen ...), nimmt somit nicht Wunder. Dieses historische Spannungsfeld wird im vorliegenden Band in gesundheitswissenschaftlicher und gendertheoretischen Analysen beleuchtet und ausgelotet, mit dem Ziel, Zukunftsperspektiven für Frauen zu entwickeln, die ihrer „klassischen Einbettung“ einem patriarchal dominierten Setting zuwiderlaufen in der Familie, in beruflicher Konstellation, auf gesellschaftspolitischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Ebene. Wichtig ist allen Autorinnen, in ihren Analysen einen „historischen Rucksack“ nicht zu vernachlässigen, welchen die Soziologin Gerburg Treusch-Dieter als „Drama und Trauma weiblicher Verhaltensmuster“ beschrieb.11 Daran schließt auch die frauenbewegte und lebendige Diskussion von politisch aktiven Theoretikerinnen und Praktikerinnen in der dokumentieren Eröffnungsveranstaltung in diesem Band an: Wir wollten in historischer Rückblende Wissen zu Frauengeschichte und der Geschichte von Frauenprojekten in der Zweiten Frauenbewegung dokumentieren und ihre Zielsetzungen und zukünftige Aufgaben ins Zen9 Vgl. Schor 1992: „Dieser Essentialismus, der keiner ist“. 10 Vgl. Foucault 1989: „Wahnsinn und Gesellschaft“. 11 In ihren in Seminaren und Studios mit Frauen bearbeitete und „durchlebte“ sie dieses nachhaltige Muster mit dem Ziel, Veränderungspotenziale auszuloten, denkbar zu machen und zum Leben zu erwecken. Vgl. näher im Nachwort dieses Bandes. 17

GERLINDE MAUERER

trum des öffentlichen und politischen Interesse stellen. An der Geschichte einzelner Frauenprojekte und -initiativen in Wien und ihrer Entstehungsgeschichte lässt sich eindrücklich zeigen, wie das (unbezahlte) Engagement von Frauen erst nach und nach Früchte trug und zur (Teil-) Etablierung von Fraueninitiativen führte, deren finanzielle Situation in vielen Fällen bis heute immer wieder als prekär zu bezeichnen ist. Unser Fokus liegt in dieser Publikation trotz dieses auch dokumentations- und diskussionswürdigen Themas auf dem, was Frauen erreicht haben, durchsetzen konnten und wie sie es erreichen konnten: Was haben Sie bewegt, was hat sie bewegt, diese an Frauenprojekten beteiligten Frauen, was bewegt sie heute, was wollen sie weiter bewegen und bewirken?12 In der Zusammenschau aller vorliegenden Ergebnisse ist als nachhaltige Crux folgende Schwierigkeit ablesbar: Noch immer müssen Frauen individuell abarbeiten, was gesellschaftlich noch nicht vorhanden ist! Sie müssen sich daran abarbeiten, indem sie sich nach wie vor in vielerlei Hinsicht auch für andere physisch und psychisch belasten und zum Teil wahrlich „abrackern“. Hiervon ist auch der Bereich der wissenschaftlichen Perspektivenbildung, der Frauen-, Geschlechter- und Gesundheitsforschung, nicht ausgenommen. In den Disziplinen Frauen(gesundheits-) forschung, Feministische Theorien und Gender Studies wurden vielfältige Veränderungspotenziale ausgelotet, erdacht und erarbeitet. Gründliche durchdachte Neubewertungen einer geschlechtsspezifisch anders verteilten und umstrukturierten gesellschaftlicher Arbeit sind vorhanden und wurden von TheoretikerInnen und PraktikerInnen in vielfältiger Weise skizziert. Was auffällt ist die Tatsache, dass viele der aufgezeigten Potenziale und Verbesserungsmöglichkeiten, die auf harter Denk-, Planungs- und Evaluierungsarbeit beruhen, in der Praxis nicht oder noch nicht über die Zentrierung auf eine frauenspezifische Projektlandschaft hinausgekommen sind in einem breiteren allgemeinen gesellschaftspolitischen Kontext zum Tragen kommen. Es bleibt zu konstatieren, dass vielfach weiter sinnbildlich ausgedrückt „auf dem Rücken von Frauen“ abgetragen wird und verbleibt, was gesellschafts- und auch gesundheitspolitisch – betreffend unseren hier fokussierten Kontext – (noch) nicht umgesetzt wurde. 12 Vgl. v.a. Ebermann, Krondorfer und Wimmer-Puchinger in diesem Band. Dass die berichteten Frauenprojektentwicklungen auch im internationalen Vergleich durchaus ähnlich verlaufen sind, belegen internationale Recherchetätigkeiten des Vereins Frauenhetz im Jahr 2009. Diese Berichte zu Frauenprojekten wurden zum Teil in „Die Standard online“ veröffentlicht. Vgl. http://diestandard.at/1266541038605/Feministisch-verreisen-DieMaison-des-Femmes-de-Paris sowie www.frauenhetz.at (29.7.2010). 18

EINLEITUNG

Da es symbolisch keine Rückkehr zu einer „großen Mutter“ gibt, deren nährende und schützende Umhüllung einen „geordneten Kosmos“ liefern kann, bleibt an dieser Stelle in der vorliegenden feministischen und gesundheitswissenschaftlichen Betrachtungen der Blick auf Zukünftiges gerichtet, ausgehend von der Analyse dessen, was erreicht wurde und was noch zu leisten ist in Theorie und Praxis.

Frauengesundheitsforschung, Gender-Medizin und darüber hinaus In den Gesundheitswissenschaften wurden die vielfältigen Aus- und Wechselwirkungen von sex und gender in vielfachen Facetten erforscht (Annandale 2009, Kuhlmann/Kolip 2005, Hurrelmann/Kolip 2002). Es gibt also bereits viele Erkenntnisse, was sex-spezifische, was genderspezifische Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und Männern sind.13 Immer detaillierte Ergebnisse werden u.a. aus dem Bereich der Arzneimittelforschung geliefert, betreffend die Verarbeitung von Medikamenten im Stoffwechsel bzw. die Entwicklung von Wirkstoffen, die genau bei dieser Verarbeitung ansetzen (Stoffwechselenzyme; vgl. hierzu u.a. mauerer et al 2006, Kollek et al 2004, 2002). Eingesetzt werden diese Erkenntnisse u.a. in der Krebsforschung, an besonders prominenter Stelle in der Brustkrebsforschung. Fazit: Also zum Teil sehr neues, sehr spezifisches Wissen in den einzelnen Disziplinen, und zum Teil sehr „altes“ Wissen, das fast schon „überholt“ scheint (Kollek 2004, Mauerer et al 2006, Thürmann 2002). Dass die sogenannte Halbwertszeit von Wissen insbesondere in der biotechnologischen Forschung sehr kurz ist, führt in Folge dazu, dass eine umfassende bzw. generelle Beschreibung der Forschungslandschaft zu den Auswirkungen sex und gender sich in Anbetracht dieses Detailreichtums nicht einfach gestaltet. Dass es in der deutschen Sprache für die beiden Begriffe nur die Bezeichnung „biologisches“ und „soziales Geschlecht“ gibt, macht die Forschungssituation nicht leichter. Auffallend ist, dass es Erkenntnissen aus den Sozial- und Gesundheitswissenschaften, welche auf die soziale Lage von Männern und Frauen fokussieren und damit sehr weitreichende Folgen für eine große Personengruppen haben14, im Forschungsvergleich scheinbar an Spektakularität mangelt. Dem Feld naturwissenschaftlicher Erkenntnisbildung haftet – so lässt sich ein wenig zynisch, aber auch ernst gemeint – fol13 Zur medizinischen Herstellung dieser zweigeschlechtlichen Norm vgl. u.a. Butler 2009, Richter-Appelt 2010. 14 Vgl. Wolf et al 2010, BM für Arbeit Soziales und Konsumentenschutz 2008. 19

GERLINDE MAUERER

gern, ein größerer Nimbus des „Neuen“ an. Aufgrund eines spezialisierten naturwissenschaftlichen Detailwissens bleibt „altes“ Wissen, aus dem Bereich der Geschlechter-, Frauen- und Männergesundheitsforschung, in „neuen Studien“ zuweilen außen vor bzw. wird „gesondert“ behandelt (vgl. u.a. Mauerer et al 2006). In allen Forschungsbereichen lässt sich feststellen, dass die Anerkennung von geschlechterdifferentem Wissen über einzelne Forschungsarbeiten hinaus nicht uneingeschränkt zur Wirkung kommt.15 Es existiert eine Vielzahl interessanter neuer Forschungen, aber – und hier nun zurück zu unserem Forschungsschwerpunkt Gesundheitswissenschaften – die gesundheitspolitische Anerkennung und Umsetzung fehlt in vielen Bereichen bis heute. Auf dieser Ebene gibt es einen großen Nachholbedarf: Erkenntnisse, welche auf wissenschaftlichen Tagungen, Kongressen, in Publikationen generiert und einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, bevor sie – für den hier von uns vorgestellten vor allem in Frauen(gesundheits-)projekten – erdacht und in der täglichen Praxis angewandt, stetig verbessert und evaluiert werden, treffen oft lokal oder zeitlich begrenzt auf das Interesse von politischen EntscheidungsträgerInnen. Dass geschlechtspezifisch relevantes Wissen nicht zwangsläufig dem Empowerment von Frauen dient, möchte ich anhand eines Vortragsinhalts, der auf einem Kongress zu Schönheitsnormen referiert wurde, deutlich machen: Der Referent sprach davon, dass die Schönheitschirurgie dazu beitragen würde, Frauen zu helfen, die Angst hätten, ihre Partnerschaft mit einem Mann aufgrund von „Faltenbildung“ im Laufe des Alterungsprozesses zu verlieren. Kritische Aspekte dazu, wie es zu solchen Empfindungen kommen könne, wurden ausgespart. Allein das „rettende Potential“ der Schönheitschirurgie wurde in den Vordergrund gestellt, verbunden mit direkter Werbung für seine Privatklinik, unterlegt mit „Vorher/Nachher“-Bildern von Frauen. Zuhörerinnen zeigten Protest indem sie den Saal verließen. Es bleibt die Frage, ob dieses Aufgreifen des Themas „Anerkennung von Geschlecht in der Medizin“ bedeutet? An Präsentationen wie die genannte sind zwingend sozialpolitische Fragestellungen zu knüpfen, da Fragestellungen zu Schönheitsnormen, Idealbildern von Partnerschaften etc. im naturwissenschaftlichen Feld nicht allein gelöst werden (können).16 15 Die Einführung des Fachs „Gender Medicine“ in der medizinischen Ausbildung liegt noch nicht lange zurück und beginnt, sich zu etablieren. Vgl. Hochleitner 2008, 2009, 2009. 16 Vgl. hierzu die Aufsätze von Sara Ahmed und Grit Höppner in diesem Band. Ahmed beschäftigt sich mit Idealbildern von heterosexueller Partnerschaft im Rekurrieren auf zahlreiche Literaturbeispiele zu diesem 20

EINLEITUNG

In einem größerem Rahmen betrifft diese Frage auch die Medikalisierung von Lebensphasen, sowohl jener von Frauen als auch zunehmend von Männern. Leistungseinbußen in der Produktivität durch körperliche Symptome werden durch Symptombekämpfung zum Verschwinden gebracht, einmal mehr um einem Norm-Erscheinungsbild zu entsprechen. Die physische und psychische Regulierung von Normen und Formen zeigt spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Wechselbeziehung zwischen äußeren Formen und medizinischen Normen (Normalgewicht, BMI, Ernährungskonzepte …). Was als schön galt, wurde vermittels Herstellung – auch durch die Medizin als Disziplin – „natürlich“ kreiert. Ilona Kickbusch schreibt in ihrem Buch „Die Gesundheitsgesellschaft“ vom Zwang, gesund zu leben, indem gesundes oder ungesundes Verhalten, essen, sich bewegen, der Konsum von Produkten, einer Norm unterworfen und „eingehalten“ wird oder nicht: oftmals im Sinne eines „herkömmlichen“ Ja-/Nein-Schemas.

Was Frauen gut tut Ziel des vorliegenden Bandes und seiner Autorinnen ist es, einen Horizont zu schaffen dafür, was Frauen gut tut bzw. gut tun könnte jenseits marktlogischer Verquickungen. Dies bedeutet kein einfaches Unterfangen innerhalb kapitalistischer Logiken der Unterwerfung, die auch Begehren über Konsum regeln, im Sinne von – als simples Beispiel: „Kaufe Dir diese Gesichtscreme, jenen Badezusatz und das straffende Peeling, und Du wirst glücklicher, schöner und begehrenswerter (sein)“.17 Im vorliegenden Band möchten wir auf die gesundheitsförderliche Wirkung feministischer Theorien und frauenpolitischer Praxis hinweisen, ohne „Healthismus“ zu betreiben. Kreierte Bilder sogenannter „frustrierter Emanzen“ und „einsamer Feministinnen“, die klamm an den „Frösten (imaginierter) Freiheiten“ leiden, waren immer schon und sind auch in Zukunft obsolet. Dass solche und ähnliche Bilder dennoch kreiert wurden, weist viel mehr auf das Potenzial hin, welches unabhängig lebenden Frauen innewohnt: nämlich der Freiheit zu entscheiden, wie sie leben wollen und den Maßstab für gesellschaftliche Anerkennung und „Glücklichsein“ ein Stück weiter selbst zu bestimmen ohne genormten Definitionsmächten unterworfen zu sein, woran sie in Folge nur mehr oder weniger scheitern können.

Thema, Höppner untersucht den Topos des „Sich Schön Machens“ in soziologischer Perspektive anhand von Interviews zu Alter und Schönheit. 17 Vgl. auch Mixa 2010 (im Erscheinen). 21

GERLINDE MAUERER

Dem möchten wir die lebendige Diskussion entgegensetzen, welche im April 2008 in prominenter Besetzung begonnen hat und welche wir nach Erscheinen des Buches mit vielen ExpertInnen in den Gesundheitswissenschaften und weiteren Disziplinen weiterführen wollen.18

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EINLEITUNG

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GERLINDE MAUERER

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G ESUNDHEITSWISSEN UND A LLTAGSHANDELN VON F RAUEN

Ega litärer Feminis mus und der Gesundheitsstatus von Frauen: Eine kritische Reflex ion 1 ELLEN ANNANDALE (AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON HANNAH STEINER)

In Kontexten, in denen Frauenkörper negativ definiert wurden – was den Großteil der Geschichte einschließt – war die Gleichsetzung von Männern mit dem Gesellschaftlichen und Frauen mit dem Biologischen ein grundlegendes Instrument für die Unterdrückung von Frauen. Die Unterscheidung zwischen Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (soziales Geschlecht) war ein machtvoller Gegenentwurf und eine wahre Fundgrube für die Frauengesundheitsforschung. Dieses Konzept wird von ‚egalitären Feministinnen‘ herangezogen, die biologische Unterschiede abschwächen, soziale Ähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen betonen und den Weg zur Befreiung von Frauen im gleichen Zugang zu jenen positiv bewerteten gesellschaftlichen Stellungen sehen, die traditionell Männern vorbehalten waren. Daraus entstand die Forschung zu Geschlechterungleichheit im Gesundheitsbereich, die sich in diesem Rahmen weiter entwickelt. Im Gegensatz dazu versuchte der 1

Anm. der Herausgeberin: Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Version von Kapitel drei von E. Annandale (2009) Women’s Health and Social Change, London: Routledge. Wir danken Ellen Annandale und dem Routledge Verlag für die Genehmigung des Abdrucks dieses eigens für diesen Band erstellten Textes. Durch die Übernahme der Literaturliste aus dem englischsprachigen Original weicht die Anführung der Vornamen in gekürzter Form von den anderen Beiträgen ab. 27

ELLEN ANNANDALE

‚Differenzfeminismus‘ den Unterschied zwischen Frauen und Männern zu betonen, verortete die Unterdrückung von Frauen ganz wesentlich in der Reproduktionsfähigkeit ihres Körpers und sah den Weg zur Befreiung in der weiblichen Differenz. Mit dieser Position waren Forschungstätigkeiten zu reproduktiver Gesundheit und Geburt assoziiert. Diese beiden Ansätze stehen in engem Zusammenhang mit dem weitreichenderen Schisma in der ‚Gleichheits-versus-Differenz‘-Debatte2, die den Feminismus zumindest seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert begleitet. Einfach ausgedrückt: „Soll Frauen eine Identität und soziokulturelle Stellung zugeschrieben werden, in einer Art, die es ihnen ermöglicht, als den Männern gleich gestellt verstanden zu werden? Oder sollen Identitäten von Frauen auf eine gänzlich unterschiedliche Art als jene, die mit Männern assoziiert und von ihnen vorgegeben ist, verstanden werden?“ (Grosz 1995: 49-50)

Dieser Artikel bietet eine kritische Einschätzung der von Gleichheitsfeministinnen beeinflussten Forschung zum Gesundheitsstatus von Frauen. Am Beginn steht ein kurzer Abriss zum gleichheitsfeministischen Ansatz einer Analyse der Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Im Anschluss daran wird der Einfluss des egalitären Feminismus auf die frühe wissenschaftliche Forschung zum Verhältnis von Geschlecht und Krankheit bzw. Sterblichkeit ausgelotet. Der letzte Teil des Artikels widmet sich einer kritischen Reflexion dieses Vermächtnisses mit einem Fokus auf zwei eng miteinander verwandte Probleme, nämlich 1) der Trennung des biologischen und des sozialen Geschlechts und 2) der reduktionistischen Annäherung an die sozialen Dimensionen der Kategorie Geschlecht in der Frauengesundheitsforschung. Berücksichtigt wird auch die Art und Weise, in der die jüngere Forschung beginnt, diese Einschränkungen anzusprechen.

Egalitärer Feminismus Der egalitäre oder liberale Feminismus ist so stark in der gängigen Vorstellung verankert, dass er von Feministinnen und Nicht-Feministinnen gleichermaßen für den feministischen Ansatz gehalten wird. Wie Zillah Eisenstein erklärt, ist dies nicht erstaunlich, „da der Staat letztlich diese Ausdrucksform des Feminismus als die am wenigsten bedrohliche akzeptierte und deshalb dem liberalen Teil der (Frauen)Bewegung die größte Publicity und öffentliche Anerkennung zuteil werden ließ“ 2

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Anm. der Hg.: Weiterführende Auffassungen beziehen sich auf die Debatte „Gleichheit in der Differenz und Differenz in der Gleichheit“.

EGALITÄRER FEMINISMUS UND FRAUENGESUNDHEIT

(Eisenstein 1981: 177). Dies ist sehr griffig in den Worten von Betty Friedan zusammengefasst: „In der Frauenbewegung geht es um eine Stimme in der tonangebenden Mitte der Gesellschaft, um aktive Teilnahme am System, um Gleichberechtigung“ (Friedan 1977: 307; siehe auch Friedan 1981; 1993). Das Ziel ist daher nicht, dass Frauen ‚Macht ergreifen‘, sondern dass sie darin zu gleichen Bedingungen einbezogen werden. Dass diese Vision nicht an Attraktivität verloren hat, zeigt die neue Welle feministischer Literatur, die in den 1990er Jahren entstand. So hat zum Beispiel Naomi Wolf in Weiterführung dessen, was sie als das Radikale an Friedans Position verstand, Frauen angespornt, den Feminismus als eine humanistische Bewegung zu sehen, in der Männer nicht als Feinde gedacht werden sollen, sondern als Partner in einem Kampf um Gleichstellung, wo politischer Aktivismus eine „Reise zu einem Gesellschaftsvertrag [ist], der Frauen und Männer gleichermaßen einbezieht“ (Wolf 1994: 187). Das seit Mitte der 1990er Jahre entwickelte Argument, dass ‚Männer auch ein Geschlecht haben‘, hat eine hochkarätige ‚Männergesundheits‘-Lobby auf den Plan gebracht, die die Meinung vertritt, dass Frauen und Männer zwar nicht gleich, aber doch jeweils gesellschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt sind mit gleichermaßen schwerwiegenden Konsequenzen für ihre Gesundheit (vgl. zum Beispiel Tsuchiya/Williams 2004; White/Cash 2004). In Bezug auf Gendergleichstellungs-Politiken kann dies als Einbeziehung von Männern in einen Bereich, der einst weiblich definiert war, gesehen werden und daher als eine natürliche Erweiterung der vom egalitären Feminismus erstellten Agenda. ‚Gendersensible‘ Gesundheitspolitik, die gegenwärtig auf der internationalen Politikagenda sehr weit oben rangiert (vgl. Doyal 2003; UNESCO [Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur der Vereinten Nationen] 2003; WHO [Weltgesundheitsorganisation] 2001), basiert auf der Prämisse, dass das Sichtbarmachen geschlechterbezogener Erfahrungen von Frauen als auch von Männern „das größte Potential für die Verbesserung der Gesundheit von Frauen und Männern und damit für das Erreichen von Geschlechtergleichstellung birgt“ (Khoury/Weisman 2002: 61). Dies kann jedoch auch als Versuch gesehen werden, den Geschlechterkonflikt in einen Geschlechterkonsens umzuwandeln (oder zurückzuverwandeln), also in etwas, das auf eine sehr facettenreiche Art für alle gleich von Belang ist und damit feministische Ziele schwächt. Egalitäre Feministinnen akzeptieren zwar, dass es biologische Besonderheiten gibt, ihr Argument ist jedoch, dass diese sich nicht als Unterschiede in der Lebenserfahrung auswirken dürfen. Wie Elizabeth Grosz erklärt, geht es hier um die Annahme, dass Männer und Frauen 29

ELLEN ANNANDALE

über ein „analoges biologisches oder natürliches Potential [verfügen], das ungleich entwickelt ist, weil die gesellschaftlichen Rollen, die den Geschlechtern zugeschrieben werden, nicht äquivalent sind“ (Grosz 1995: 51). Grundsätzlich sind Frauen gleichermaßen befähigt wie Männer, das zu tun, was Männer tun, und das Hauptaugenmerk gilt der „Wahlfreiheit und Chancengleichheit innerhalb der bestehenden sozialen Beziehungen“ (Weedon 1999: 15). Es ist daher nicht überraschend, dass die gesellschaftlichen Rollen von Frauen und insbesondere ‚Doppel‘oder ‚Mehrfach‘-Rollen sich zu einem wichtigen Schwerpunkt in der geschlechterdifferenzierenden Gesundheitsforschung entwickelten.

Untersuchungen zum Gesundheitsstatus Die Anfänge der Forschung zu ‚Gender und Gesundheitsstatus’ waren eher breit angelegt als einfach nur feministisch inspiriert. Das ist auch das, was wir erwarten sollten, zumal der theoretische Zugang in der Soziologie und in den Sozialwissenschaften seit den 1970er Jahren, als sich dieser Forschungszweig etablierte, allgemein eher darin bestand, Frauen in bestehende Erklärungsmodelle zu integrieren als diese radikal zu hinterfragen. Obwohl aus den später im Artikel diskutierten Gründen vieles von dieser frühen Forschung heute nur mehr eingeschränkt gültig erscheint, so war sie doch damals bahnbrechend und wurde von den Betroffenen auch so wahrgenommen. Der Spatenstich der frühen gleichheitsfeministischen Forschung war in der Tat so gründlich, dass die Fundamente bis in die Mitte der 1990er Jahre großteils intakt und unhinterfragt blieben. Einem Großteil der Forschung lag die Beobachtung zugrunde, dass Frauen in den westlichen Gesellschaften zwar länger lebten als Männer – was tatsächlich seit den späten 1880er Jahren der Fall war –, dass sie ihr ganzes Leben hindurch jedoch stärker von Krankheit betroffen waren (oder schienen). Aus unserem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts sieht es so aus, als ob zwischen Anfang und Mitte der 1970er Jahre in vielen westlichen Staaten der Höhepunkt in Bezug auf die unterschiedliche Lebenserwartung von Frauen und Männern erreicht worden wäre und sich diese Kluft danach schrittweise verkleinerte (vgl. Annandale 2009a, 2009b). Zu jener Zeit fühlte es sich jedoch so an, als ob sich der Abstand zugunsten der Frauen weiter vergrößern würde, eine Tatsache, die – zumindest oberflächlich betrachtet – im Widerspruch schien mit ihrem so offensichtlich schlechteren Gesundheitszustand, denn: Es ist doch wohl anzunehmen, dass ein enger Zusammenhang zwischen Krankheit und Sterblichkeit besteht? Der Aphorismus „Frauen werden kränker, aber Männer sterben schneller“ (Nathanson 1977: [Anm. d. Ü.: k.A.]) hat 30

EGALITÄRER FEMINISMUS UND FRAUENGESUNDHEIT

sich in der Forschungsagenda nachdrücklich verankert. In ihrem Bestreben, diese offensichtliche Anomalie zu erklären und Gründe dafür zu erkunden, warum es auch unter Frauen Unterschiede hinsichtlich der Gesundheit gibt, haben Feministinnen und ihre WeggefährtInnen versucht, zwei Dinge zu tun: erstens, zu zeigen, dass soziale Faktoren zumindest gleich wichtig – wenn nicht sogar wichtiger – sind als biologische Faktoren; und zweitens, die Beschaffenheit der Mechanismen zu ergründen, die soziale Faktoren und Gesundheit verbinden. Die Biologie wurde nicht gänzlich aus dem Spiel gelassen; tatsächlich haben Forschende seit den Anfängen über die Kluft zwischen dem „biologischen und dem sozialen Lager“ geklagt, wie Ethel Roskies es in den späten 1970er Jahren formulierte (Roskies 1978: 139; vgl. auch: Nathanson 1977). Das Argument ging eher in die Richtung, dass ‚inhärente‘ männliche oder weibliche biologische Vor- oder Nachteile von sozialen und kulturellen Faktoren überlagert werden könnten. Es wurde nachhaltig zu zeigen versucht, großteils durch quantitative Umfragenforschung, dass soziale Faktoren tatsächlich ins Gewicht fallen und dass deshalb jegliche weibliche Benachteiligung nicht angeboren und festgelegt, sondern gesellschaftlich begründet und also veränderbar ist. So stellte Ingrid Waldron bereits sehr früh in Bezug auf den Teil der Gleichung, der besagt, dass ‚Männer früher sterben‘, fest, dass „genetische Faktoren“ eine weniger starke Rolle spielten als einst angenommen. (Waldron 1976: 357) Sie wies darauf hin, dass den meisten der hauptsächlichen Todesursachen klare „Verhaltenskomponenten“ zugrunde liegen, die mit der „männlichen Rolle“ verknüpft sind, und zwar zu folgenden, „sehr grob geschätzten“ Teilen (Waldron 1976: 357): ein Drittel der Todesursachen bei Männern könnten aus dem höheren Zigarettenkonsum von Männern resultieren (vor allem durch das erhöhte Risiko für Korona Herzerkrankung [KHK], Lungenkrebs und Lungenemphyseme); ein Sechstel aus häufiger vorkommendem aggressivem, konkurrenzorientiertem‚ Herzinfarkt begünstigendem Risikoverhalten (‚TypA‘-Verhalten) unter Männern (selbst wiederum mit KHK verbunden); ein Zwölftel aus dem höheren Alkoholkonsum von Männern (verbunden mit Unfällen und Leberzirrhose); und ein Zwanzigstel aus den körperlichen Gefahren, denen Männer an ihrem Arbeitsplatz überproportional ausgesetzt sind (vgl. Waldron 1976, 1983a, 1983b)3. Auch Lois Verbrugge bewertete den Beitrag der Biologie als relativ und stellte sie an 3

Es ist interessant festzuhalten, dass Waldrons Artikel (1976) zwar den Titel trägt „Why do women live longer than men“, der Fokus jedoch stark auf das ‚negative‘ Verhalten von Männern gerichtet ist und darauf, warum sie in jüngerem Alter sterben (mehr als auf die lebensverlängernden Auswirkungen des vermuteten ‚positiveren‘ Verhaltens von Frauen). 31

ELLEN ANNANDALE

vierte Stelle hinter: „Risiken, die sich aus Rollenverhalten, Stress, Lebensstil ergeben und Langzeit-Vorbeugemaßnahmen“ (Verbrugge 1985: 173); psychosoziale Faktoren (definiert als Möglichkeit, dass Frauen gesundheitliche Probleme eher melden als Männer); und frühere Gesundheitsvorsorge (dem liegt die Annahme zugrunde, dass der bereits in jüngeren Jahren erfolgte Kontakt von Frauen mit dem Gesundheitssystem eine schützende Langzeitwirkung haben könnte). (Vgl. Verbrugge 1985) Die scheinbare Anomalie, dass Frauen häufiger krank sind, aber Männer früher sterben, wurde erklärt, indem man die Todesursachen und die Arten von Krankheiten, an denen Männer und Frauen litten, untersuchte. Die allgemeine Schlussfolgerung, die auch heute noch gern herangezogen wird, war, dass, während Männer eher an schweren Krankheiten leiden, die zum frühen Tod führen, Frauen (oft bis ins hohe Alter) mit einer Unzahl von chronischen, jedoch nicht unbedingt lebensbedrohlichen Krankheiten weiterleben. Lois Verbrugge fasste die Situation wie folgt zusammen: „Die Tage und Jahre von Frauen sind stärker durch leichte Schmerzen und krankheitsbedingte Einschränkungen beeinflusst, beinhalten jedoch weniger die Bedrohung, dass ihr Leben durch diese Krankheiten endet. Die Antwort auf die Frage ‚Welches Geschlecht ist kränker?‘ hängt also vom Zeitrahmen (auf kurze oder lange Sicht) ab und von der Art des Gesundheitsproblems (akut/chronisch, tödlich/nicht-tödlich). Ein Geschlecht, nämlich die Frauen, ist tatsächlich auf kurze Frist gesehen kränker, und das andere, nämlich die Männer, auf lange und endgültige Frist gesehen […]“ (Verbrugge 1988: 139)

Dies löste jedoch nicht die verzwickte Frage, wie genau soziale Faktoren – wenn sie denn wichtig waren – die Gesundheit beeinflussten. Die frühe Wissenschaftsdebatte fokussierte die Frage, ob die größere Erkrankungshäufigkeit von Frauen ‚real‘ – das heißt, in ihren materiellen Lebensumständen und/oder ihrem Verhalten begründet war – oder ein ‚Artefakt‘, nämlich ein Produkt dessen, wie sie über ihren Gesundheitszustand berichteten. Oder, um es anders auszudrücken: Machen soziale Rollen Frauen wirklich kränker, oder entsteht durch sie nur der Eindruck, dass Frauen kränker sind? In einem richtungsweisenden Beitrag betonte Constance Nathanson (1975) drei mögliche Gründe für die höhere Morbidität von Frauen: ihre eventuell größere Bereitschaft, über ihre Krankheit zu berichten (Kursivsetzung im Original, Anm. d. Ü.) in dem Sinn, dass Gesundheit ein Teil der männlichen Ethik und es daher bei Frauen kulturell eher akzeptiert ist, über gesundheitliche Probleme zu sprechen (ähnlich wie Verbrugges oben angeführten ‚psychosozialen Faktoren‘). Ferner mag die ‚Krankenrolle‘ eher mit weiblichen Zustän32

EGALITÄRER FEMINISMUS UND FRAUENGESUNDHEIT

digkeiten vereinbar sein, insofern als ihre ‚Rollen‘ angeblich weniger anstrengend sind und sie mehr Zeit haben, krank zu sein; schließlich kann es auch noch sein, dass Frauen krankheitsanfälliger sind als Folge von Stress, der aus ihrer gesellschaftlichen Rolle erwächst. Nathanson hielt die dritte Erklärung für die wahrscheinlichste, weil für Frauen nicht nur „ein anderer, weniger ‚erwachsener‘ Gesundheitsstandard gilt als für Männer“ (Nathanson 1975: 59) und/oder weil Frauen eher bereit sind, über gesundheitliche Probleme zu sprechen oder mehr Zeit haben, krank zu sein, sondern weil es tatsächlich ihre Rollenzuschreibungen sind, die sie krank zu machen scheinen. In Weiterführung dieser Argumentationslinie fanden Walter Gove und Michael Hughes wenige empirische Beweise für die ‚Artefakt‘-Erklärung und folgerten, dass es die „Verpflichtungen sind, die Frauen aus ihrer Rolle“ (Gove und Hughes 1979: 132) erwachsen, insbesondere die hegenden und pflegenden Rollenanforderungen, die sich störend auf ihre Fähigkeit auswirken, für sich selbst ausreichend Sorge zu tragen, was zu einer höheren Erkrankungsrate führt. Gove und Hughes und andere versuchten dies empirisch zu demonstrieren, indem sie zeigten, dass „Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Erkrankungen weitgehend verschwinden“, wenn man die „unterschiedlichen Rollen“ von Frauen und Männern statistisch betrachtet. (Gove und Hughes 1979: 132). Es ist nach wie vor eine unter ForscherInnen gern gestellte Frage, ob es überhaupt einen Unterschied im Gesundheitszustand von Männern und Frauen gäbe, wenn ihre soziale Stellung annähernd gleich wäre (vgl. z.B. Bartley 2004; Emslie u.a. 1999). Dieser Richtungsstreit verhalf der Forschung zu neuem Aufschwung, vor allem, als Studien versuchten, nicht nur auszuloten, warum ‚Frauen kränker sind, aber Männer früher sterben, sondern sich auch mit der Frage befassten, warum wiederum manche Frauen kränker sind als andere. Die Forschung widmete sich den Themen ihrer Zeit in Bezug auf den ‚Platz der Frauen‘, und es wurden Fragen gestellt wie zum Beispiel: Was würde passieren, wenn Frauen außer Haus arbeiteten? Was würde dies mit ihren Kindern machen – würde zum Beispiel ihre Erziehung darunter leiden? Und was würde es für ihre eigene Gesundheit bedeuten? Wäre es ganz einfach alles zu viel für sie? Die Antwort war ein ziemlich eindeutiges ‚Nein‘. Erinnern wir uns, dass das Thema ‚Frauen, Arbeit und Heirat‘ zu dieser Zeit bereits einer breiten Gruppe von Feministinnen nahe gebracht worden war. Kate Millet deklarierte zum Beispiel die Familie als „sowohl ein[en] Spiegel als auch [als] die Verbindung mit der Gesellschaft im großen und ganzen; sie ist eine patriarchalische Einheit innerhalb eines patriarchalischen Ganzen“ (Millet 1982: 49). Diana Leonard Barker und Sheila Allen hatten argu33

ELLEN ANNANDALE

mentiert, dass die traditionelle Aufteilung zwischen Forschung zum Haushalt und Forschung zu bezahlter Arbeit in der Soziologie neu gedacht werden muss, um die systematischen Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen zu berücksichtigen. Eine ganze Reihe bisher unerforschter Fragen wurden nun gestellt, wie zum Beispiel: „Was sind die Unterschiede zwischen der Arbeit zu Hause, den unbezahlten Dienstleistungen an Familienmitgliedern, ein von Arbeitssoziolog/innen bisher stark vernachlässigtes Thema, und der Arbeit außer Haus, die bezahlt wird und über viele Jahrzehnte hinweg von der Industriesoziologie beforscht worden ist? Wenn wir gesellschaftliche Veränderungen anstreben, an welchen Punkten der Struktur können wir dann am wirkungsvollsten ‚den Hebel ansetzen‘?“ (Barker/Allen 1976: 3)

Sheila Rowbotham schrieb über die ‚Neurose des Nichts‘, die aus der Arbeit als Hausfrau entsteht. Unter dem Titel „A woman’s work is never done” erörterte sie in ihrem Buch „Woman’s Consciousness in a Man’s World”, dass es trotz des starken Zusammenhangs zwischen ökonomischer Entbehrung und Gesundheit „Krankheiten gibt, die nichts mit Armut zu tun haben, die schlicht und einfach daher kommen, ans Haus gebunden und eine Frau in einer kapitalistischen Gesellschaft zu sein“ (Rowbotham 1973: 76). In Weiterführung der Behauptung, dass der Weg zu positiver Gesundheit über den Zugang zu bislang männlich definierten Sphären führt, begannen ForscherInnen im Gesundheitsbereich daher zu zeigen, dass es vorwiegend ‚Hausfrauen‘ waren, die unter schlechter Gesundheit litten, und nicht erwerbstätige Frauen (und das konnte man nicht der Tatsache, dass nur gesündere Frauen berufstätig sind, oder der so genannten ‚Gesundheitsselektion‘ zuschreiben). Nathanson (1975) und andere wiesen darauf hin, dass Erwerbsarbeit zwar durchaus Stress verursachen kann, dass sie aber auch gut für die Gesundheit ist, da sie „sozial integrierend” wirkt und durch das Gefühl, etwas zu leisten, das Selbstbewusstsein fördert. Im Gegensatz dazu ist Hausarbeit monoton, mühsam, und „niemals getan”, stressig und sozial isolierend (Oakley 1974a, 1974b; Rowbotham 1973). Unter Bezugnahme auf das erweiterte Theoriefeld zu sozialer Unterstützung und Gesundheit begannen ForscherInnen auch, den Zusammenhang zwischen Ehe und Gesundheit zu erkunden. Walter Gove fand zum Beispiel heraus, dass sich die „zwischenmenschlichen Bindungen” (Gove 1972: [Anm. d. Ü.: k.A.]) in der Ehe positiv auf Gesundheit auswirkten, und zwar bei Männern und Frauen (unverheirateten Menschen schien es viel schlechter zu gehen), dass Männer jedoch mehr davon profitierten als Frauen, eine Entdeckung, 34

EGALITÄRER FEMINISMUS UND FRAUENGESUNDHEIT

die, allgemein gesprochen, in der Folge bestätigt wurde (vgl. Nathanson 1977; Bird/Rieker 2008). Dies gibt die Jahrhunderte alte Sorge von Schriftstellerinnen wie Mary Astell (vgl. Perry 1979) und Charlotte Perkins Gilman (1973 [1892]) wieder, dass die Ehe die Abhängigkeit von Frauen spiegelt und nur allzu oft die Wurzel ihres körperlichen und geistigen Verfalls bildet. In dem Maß, wie sich die Forschung in den 1980er Jahren und darüber hinaus weiterentwickelte, wurde eine Reihe anderer Variablen – wie Alter und soziale Schicht, Elternschaft, die Art von Arbeit, die Menschen ausführen, ob es sich um eine Vollzeit- oder Teilzeittätigkeit handelt, die Zusammensetzung der Haushalte und die ‚Qualität‘ der Beziehungen – in die Analysen miteinbezogen. Dies gipfelte in einer Fülle von Studien zur Frage, ob die so genannten ‚Mehrfachrollen‘ eine Quelle der Überanstrengung sind, die Überbeanspruchung und gefühlten Konflikt nach sich ziehen (und daher negativ für die Gesundheit oder für Teile der Gesundheit sind), oder ob das, was verschiedentlich als Rollenausweitung, Rollenerweiterung oder Rollenkumulierung bezeichnet wurde, förderlich ist. Die allgemeine Schlussfolgerung der frühen Forschung war, dass Mehrfachrollen förderlich sind; in die ‚männliche Welt‘ einzutreten und dabei auch die traditionellen Verpflichtungen zu Hause weiterhin zu erfüllen, schien keinen größeren Schaden anzurichten, vor allem, wenn die Bedingungen für jeden der beiden Bereiche günstig waren (vgl. Verbrugge 1983). Dieses Ergebnis hält im Allgemeinen immer noch, außer wenn die Anforderungen und der Zeitdruck zu einer schwerwiegenden ‚Rollenüberlastung‘ führen (vgl. Bird/Rieker 2008; Härenstam u.a. 2001; McMunn u.a. 2006). In jüngster Zeit haben sich ForscherInnen dem Zustand des Jonglierens gewidmet, in den Frauen zwangsläufig geraten, wenn sie (soweit das überhaupt innerhalb ihrer Möglichkeiten liegt) verhandeln, was unter dem Begriff ‚Work-LifeBalance‘ ‚Work-Life-Konflikt‘ oder, negativ, als ‚Überbelastung‘ erfasst ist. Sie untersuchen die Gewichtung schädlicher und förderlicher Auswirkungen von Mehrfachrollen auf die Gesundheit in Bezug auf spezifische Rollenkombinationen, Rollencharakteristika und Arbeitsbedingungen (vgl. z.B. Bird/Rieker 2008; Doyal 1995; McMunn u.a. 2006; Waldron u.a. 1998). Die Forschung hat sich auch über das eher einfach gestrickte Konzept von ‚Rollenaneignung‘, das frühe Studien kennzeichnete, hinaus entwickelt und berücksichtigt nun Qualität und Bedeutung – oder die gelebte Erfahrung – von Haus- und Erwerbsarbeit, indem sie Begriffe wie ‚Rollen-Involvierung‘ oder ‚Rollen-Commitment‘ verwendet (vgl. u.a. Nazroo u.a. 1998).

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Eine kritische Reflexion Die konzeptuelle Kraft des egalitären Feminismus wird durch seinen nachhaltigen Einfluss auf die Forschung deutlich. Tatsächlich wurde das Konzept bis in die Mitte der 1990er Jahre kaum jemals signifikant kritisiert. Dann allerdings kam das Gefühl auf, dass die Forschung zu Gender und Gesundheitsstatus an Richtung verlor, diffus und inkonsequent wurde, ja sogar, dass sie feststeckte oder in eine konzeptuelle Sackgasse geraten war (vgl. Kandrack u.a. 1991). Es gibt zwei große Problemfelder, an die WissenschafterInnen sich nun langsam herantasten. Erstens: Obwohl eine Unterscheidung zwischen der sozialen und der biologischen Dimension von Geschlecht ein erster notwendiger Schritt sein mag, um das patriarchale Verschmelzen von Frauen mit ihrer Biologie auf den Prüfstein zu stellen, so ist die mehr oder weniger willkürliche Konstruktion dieser Beziehung doch eine zu problematische Basis, um darauf eine Analyse von Gesundheit zu begründen. Zweitens: Ein damit verbundenes Problem ist die Reduktion der sozialen Zusammenhänge von Gender und Frauengesundheit auf etwas, das mit gesellschaftlichen Rollen passiert, die als Eigenschaften von Individuen begriffen werden. Jedes dieser Probleme und die zur Heranführung an das Problem unternommenen Schritte werden hier nun kurz erörtert.

Die Trennung zwischen Sozialem und Biologischem Während Feministinnen sich ganz auf das Soziale konzentrierten, waren ihnen biologistische und medizinische WissenschaftlerInnen hart auf den Fersen. Als Veranschaulichung dafür dient die zunehmend rückwärts gewandte Spezialisierung der ‚geschlechtsspezifischen Medizin‘ (vgl. Legato 2003a, 2003b), die trotz ihres Namens und trotz des Lippenbekenntnisses zu sozialen Faktoren vor allem bestrebt ist, Unterschiede in der Gesundheit von Männern und Frauen vom biologischen Standpunkt aus zu erklären (vgl. Grace 2007). Es ist eine Illustration dessen, was die feministische Biologin Anne Fausto-Sterling als „die Ausbreitung des Ölteppichs des biologischen Geschlechts“ (FaustoSterling 2005: 1495) bezeichnet und eine ernste Warnung, dass es nicht möglich ist, dem patriarchalen Verschmelzen von Frauen mit ihrer Biologie Paroli zu bieten, indem man vorgibt, dass die Biologie nicht zählt. Stattdessen geht es darum, die Biologie wieder in feministische Hände zu legen. Wie Nancy Krieger erklärt:

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„Obwohl erhellende Analysen darüber geschrieben wurden, warum es wichtig ist, zwischen ‚Gender‘ und ‚Sex‘ zu unterscheiden, fehlen in der epidemiologischen und auch in anderen Forschungen zu Gesundheit klare konzeptuelle Modelle, um beide gleichzeitig zu betrachten und ihre Relevanz – oder Irrelevanz – für das oder die Forschungsergebnis/se zu bestimmen.“ (Krieger 2003: 653)

Die Argumentationslinie hier und auch in einem weiteren Sinn ist nicht, dass wir die Unterscheidung zwischen Sex und Gender aufgeben sollen. Tatsächlich soll dadurch im Großen und Ganzen gezeigt werden, dass eine Verschmelzung der beiden Kategorien „den irrtümlichen Glauben verstärkt, dass es bei Gender-Erfahrungen um Biologie geht“ (Krieger/ Zierler 1995: 252). Der Punkt ist eher, dass wir wissen müssen, wie Sex (also die Biologie) und Gender (also das Soziale) jeweils in Bezug auf verschiedene Krankheitsprozesse oder auf den gesamten Gesundheitszustand wirken, um dann zu beforschen, wie sie möglicherweise interagieren (vgl. auch Doyal 2003; Kandrack u.a. 1991; Payne 2006). Wie BeobachterInnen allerdings wissen, ist es eine Sache, das festzustellen und eine ganz andere, den analytischen Rahmen zu entwickeln, um diesen Prozess der Interaktion auch tatsächlich zu untersuchen. Wie die feministische Biologin Lynda Birke in einem allgemeineren Zusammenhang betont, besteht ein Gutteil des Problems darin, dass das Biologische „zu einer Art Lumpenbündel wurde, in das eine hochgradig heterogene und eklektische Mischung aus Dingen hineingeworfen werden kann“ (Birke 1999: 31). GesundheitsforscherInnen sind sich im Allgemeinen darüber einig, dass relevante biologische Unterschiede wahrscheinlich über den reproduktiven Aspekt hinausgehen und auch durch Hormone, genetische Faktoren und den Stoffwechsel beeinflusst werden (vgl. Bird/Rieker 2008; Doyal 2001; Krieger 2003; Payne 2006), aber die entscheidende Frage, was genau denn nun an der Biologie wichtig ist, bleibt bis heute weitgehend unbeantwortet. Zwei wertvolle Versuche zur Entwicklung integrativer Theoriemodelle sind Nancy Kriegers ‚ökosoziale Perspektive‘ und der von Chloe Bird und Patricia Rieker entwickelte Ansatz der ‚constrained choices‘, also der ‚eingeschränkten Wahlmöglichkeiten‘. Kriegers ‚ökosoziale Perspektive‘ ist ein sehr ehrgeiziger Versuch einer konzeptuellen Abbildung der zahllosen, miteinander verketteten sozialen und biologischen Prozesse, die auf jeder Ebene wirken – Zelle, Organ, Organismus, Individuum, Familie, Gemeinschaft, Bevölkerung, Gesellschaft, Ökosystem – und konkrete gesundheitsbezogene Ungleichheiten verursachen. Dabei betrachtet sie nicht nur Männern und Frauen, wie es hier unser Thema ist, sondern versucht noch allgemeiner soziale Schicht, Ethnizität und 37

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andere Faktoren mit einzubeziehen (vgl. Krieger 2001). Unter spezieller Bezugnahme auf Sex und Gender präsentiert sie zwölf Fallstudien, die die Umstände erkunden, unter welchen „Aspekte von Gender und die mit dem biologischen Geschlecht (Sex) verknüpfte Biologie einzeln, gar nicht oder sowohl als auch relevant sind für unabhängige oder synergetische Determinanten“ (Krieger 2003: 653) von gesundheitsbezogenen Ergebnissen. Diese Fallstudien sind sehr unterschiedlich und sehr spezifisch und umfassen zum Beispiel die Häufigkeit des Auftretens von mikrobieller Keratitis (Entzündung der Hornhaut) bei KontaktlinsenträgerInnen, das Alter, in dem sich Frauen mit HIV infizieren (im Vergleich zu heterosexuellen Männern) und gesundheitliche Auswirkungen von übermäßigem Kontakt mit Bratöl, das mit polychloriertem Biphenyl (PCB) verschmutzt ist (‚Yusho‘-Krankheit). Das Modell ‚constrained choices‘ von Bird und Rieker stellt die „persönlichen Entscheidungen“ (Bird/Rieker 2008: 183), die Frauen und Männer in Bezug auf ihre Gesundheit treffen, in den Vordergrund, da diese Entscheidungen von Sozialpolitiken im weiteren Sinn und von den Gemeinschaften, in denen sie leben, geformt werden. Sie betonen, dass die Beziehung zwischen den Ebenen von Politik, Gemeinschaft und individuellen Gesundheitsentscheidungen hoch komplex ist und dass „wenige oder gar keine ForscherInnen den Versuch unternommen haben, die Daten zu ordnen, die nötig sind, um entweder diese Verbindungen zu spezifizieren oder die Rolle von biologischen Prozessen in dieser Dynamik zu klären“ (Bird/ Rieker 2008: 183). Diese integrativen Theoriemodelle sind wertvoll, weil sie versuchen, die Beziehung zwischen dem Biologischen und dem Sozialen in eine weiter gefasste Theorie darüber, wie Gesundheit hergestellt wird, mit einzubeziehen. Jedoch, und das oben angeführte Zitat von Bird und Rieker macht das sehr klar, sind praxisbezogene Forschungsergebnisse ziemlich selten. Studien waren offensichtlich dann am erfolgreichsten, wenn sie sich auf spezifische Gesundheitsbedingungen in Bezug auf spezifische Lebensumstände bezogen. Ein gut ausgearbeitetes Beispiel ist Sarah Paynes (2004) Analyse der bislang publizierten Forschungsarbeiten zum Reizdarmsyndrom (RDS). Das RDS, unter dem zwischen 20% und 40% der Bevölkerung Großbritanniens leiden, tritt bei Frauen viel häufiger auf. Da Frauen während bestimmter Phasen ihres Zyklus anfälliger sind, dachte man, dass die biologischen Risiken mit hormonellen Faktoren zusammen hängen. Das Reizdarmsyndrom wird auch mit Stress und Angstzuständen in Verbindung gebracht, und zwar sowohl bei männlichen also auch bei weiblichen Erkrankten. Frauen, die darunter leiden, berichten jedoch eher über starke Angstzustände, Depression, Müdigkeit, Weinen und Schlaflosigkeit (die als solche häufiger bei 38

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Frauen anzutreffen sind). Payne schließt daraus, dass „es gemeinsame Gründe für Stress, schwache Gesundheit und RDS geben kann, die die Geschlechterverhältnisse widerspiegeln“ (Paynes 2004: 22); das heißt, die größere Häufigkeit von RDS bei Frauen kann aus einer Kombination von biologischen Faktoren und anstrengenden Lebensbedingungen resultieren. Obwohl diese Art von Analysen für sich betrachtet sehr nützlich sind, sind sie doch ziemlich fern von den weiter gefassten integrativen Theoriemodellen, die wir oben diskutiert haben. Momentan gibt es demnach so etwas wie eine Kluft zwischen konzeptuellen Modellen und empirischer Analyse, was bedeutet, dass wir schlecht gerüstet sind, um die Rolle des Biologischen (Sex) und des Sozialen (Gender) und ihre mögliche Interaktion in Bezug auf weitreichendere Muster von Krankheit zu verstehen.

Reduktionismus Das zweite Problem, das häufig die Forschung zu ‚Gender und Gesundheitsstatus‘ belastet, ist ihr ausgesprochen reduktionistischer Charakter. Gesundheit und Krankheit werden formuliert als etwas, das mit sozialen Rollen ‚geschieht‘. Diese werden eher als Eigenschaften von Individuen definiert und nicht so sehr als etwas, das von konkreten Individuen in einem bestimmten sozialen Umfeld erfahren wird, was angemessener wäre. Die Konzepte von ‚sozialen Rollen‘ und ‚Geschlechterrollen‘ werden nach wie vor auf sehr vielfältige Art verwendet, was fast soweit geht, dass sie sich lose auf alles beziehen, was eher soziale als biologische Konnotationen aufweist. Variablen wie Frauenarbeit, Familienstatus und Elternschaft, Haushaltsstruktur und soziale Schicht sind zum Beispiel verschiedentlich als Komponenten sozialer Rollen, sozialer Positionen oder von sozialem Status definiert, welche selbst wiederum nur selten definiert oder unterschieden werden. Wie Jenny Popay und Keleigh Groves erörtern, ist ein großer Teil der Forschung in Vergangenheit und Gegenwart „bestrebt, Muster von Krankheit bei Frauen und Männern mithilfe von Ansätzen darzustellen und zu erkunden, die zum Großteil keine theoretische Grundlage haben, und die in wesentlichen Punkten „nach Lust und Laune“ des Forschers/der Forscherin verändert werden können“ (Popay/Groves 2000: 74). Bedenkt man, dass das Theoriemodell der sozialen Rollen bereits in den späten 1970er Jahren in weiten Kreisen der Soziologie stark in Zweifel gezogen wurde, mag es erstaunlich scheinen, dass es in den Forschungen zu ‚Gender und Gesundheit‘ über so lange Zeit tonangebend blieb. Wie John Hood-Williams es ausdrückte – ohne sich dabei jedoch auf Gesundheit zu beziehen – bekamen die „vertrauten funktionalisti39

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schen Konzepte ‚Rolle‘ und ‚Sozialisation‘ [...] einen neuen, feministischen Aufwind zu einem Zeitpunkt in der Geschichte der Soziologie, als viele dachten, dass sie schon ganz verschwunden wären“ (Hood-Williams 1996: 5). Jedoch ist die relative Dauerhaftigkeit dieser Konzepte innerhalb der soziologischen Forschung, die sich speziell mit Gesundheit befasst, vielleicht leichter zu verstehen. Talcott Parsons‘ (1950) Konzept der ‚Krankenrolle‘ übte enormen Einfluss auf die neu entstehende medizinische Soziologie der 1960er und 1970er Jahre aus. Es war Teil der umfassenden Bestrebung, das Soziale als Domäne der Soziologie zu erfassen, in Unterscheidung zum Biologischen, das zur Disziplin der Medizin gehörte. Dies und die konzeptuelle Übereinstimmung mit dem egalitären Feminismus mögen erklären, warum es in der Frauengesundheitsforschung länger als in anderen Bereichen brauchte, um das Modell der sozialen Rollen in Frage zu stellen. Insbesondere in frühen Studien hatten soziale Rollen einen stark festschreibenden und binären Charakter, so sehr, dass ForscherInnen oft schon der Fragestellung Annahmen zum Unterschied zwischen den Geschlechtern zugrunde legten – was wäre für Frauen von Belang, was für Männer – was ironischerweise bedeutete, dass sie oft die sehr bipolare soziale Festschreibung replizierten, die sie doch angetreten waren zu hinterfragen. ForscherInnen sind mittlerweile sicherlich zunehmend hellhörig in Bezug auf diese Art von Problemen, und als Folge davon werden Studien nuancierter und sensibler für die Komplexitäten des Lebens von Frauen und Männern. Wie Sally Macintyre et al berichten, führte die Annahme, dass Frauen (bei einer bestimmten Intensität der Symptomatik) eher als Männer dazu neigen, Erkrankungen zu melden, ein langes Eigenleben und wurde irgendwann zu einer Art urbaner Volkslegende (vgl. Macintyre u.a. 1999). Eine wachsende Zahl von WissenschaftlerInnen äußern gegenwärtig die Meinung, dass zu viele als gegeben angenommene Vermutungen, wie die Allgemeingültigkeit der höheren Krankheitsanfälligkeit von Frauen (und der niedrigeren von Männern), zu lange unüberprüft bleiben durften (vgl. z. B. Annandale 1998; Ghorman/Ghazal Read 2006; Lahelma u.a. 2001; McDonough/Walters 2001; Macintyre u.a. 1996; Payne 2006). Aber trotz ihrer zunehmenden Aufgeschlossenheit für die Notwendigkeit, die Diversität der Erfahrungen von Frauen anzuerkennen, trotz der Suche nach Wegen, um die Interaktion zwischen biologischen und sozialen Komponenten zu erkunden und trotz Bestrebungen, die gesellschaftliche Veränderung im Leben von Frauen zu berücksichtigen, zeigen sich WissenschaftlerInnen nach wie vor zögerlich bei der Formulierung einer Theorie darüber, wie die sozialen Dimensionen von Geschlecht in der Gesellschaft tatsächlich wirksam werden und welchen 40

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Einfluss sie auf die Gesundheit haben. Allzu oft endet die Forschung immer noch an dem Punkt, wo sie sagt, die Dinge seien komplexer als bisher angenommen, ohne zu analysieren, was eigentlich genau in der Gesellschaft geschieht und wie die Geschlechterverhältnisse dafür verantwortlich sind. Wenn sich die Forschung nur auf eine Ansammlung nicht näher bestimmter Ursachen konzentriert, verlieren Gender und Gesundheit ihre soziostrukturellen Verankerungen. So bestätigt zum Beispiel ein kürzlich von Petra Klumb und Thomas Lampert (2004) erstellter Überblick zu Forschungsarbeiten, die zwischen 1950 und 2000 zum Thema ‚Frauen, Arbeit und Wohlbefinden‘ publiziert wurden, dass die Auswirkungen einer beruflichen Tätigkeit auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Frauen entweder positiv oder neutral sind und seltener negativ. Völlig richtig ziehen sie den Schluss, dass die Brauchbarkeit dieser Studien begrenzt ist, da ihnen das theoretische Unterfutter fehlt. Damit meinen sie aber scheinbar einfach das Fehlen klarer, überprüfbarer Hypothesen und ein gewisses Versäumnis in der Erfassung der psychosozialen Prozesse, die wahrscheinlich die Interaktion zwischen Berufstätigkeit und Gesundheit ausmachen, wie zum Beispiel das individuelle Gefühl, kompetent und den Dingen gewachsen zu sein und soziale Bestätigung durch soziale Interaktion. Sie vermeiden es geradezu, irgendeinen Bezug zu den umfassenderen sozialen Zusammenhängen von Gender herzustellen. Dieses Versäumnis ist dem Forschungsparadigma zu sozialen Ungleichheiten in der Gesundheit, wozu auch die Forschung zu Gender und Gesundheit zählt, inhärent. Wie Janet Shim erklärt, hat dieser Forschungsbereich eine sehr starke Tendenz, die Auswirkungen sozialer und beziehungsabhängiger Ideologien, Strukturen und Praktiken, die sich rund um Gender, Ethnizität und soziale Schicht anordnen, zu reduzieren „auf Eigenschaften für sich allein stehender und sich selbst genügender Individuen. Tatsächlich verleugnen ja die Paradigmen und Praktiken der Disziplin, dass historische Veränderungen in Sozialpolitiken, Ideologien und das vorherrschende Verständnis von Differenz ‚unter die Haut gehen‘ und das Wohlergehen grundlegend beeinflussen. Die Epidemiologie verschleiert dadurch die sozialen Machtbeziehungen, die die materiellen und psychischen Bedingungen und Lebenschancen, die zur Stratifizierung von Gesundheit beitragen, bestimmen.“ (Shim 2002: 134) Von entscheidender Bedeutung ist, dass wir uns ohne diese strukturellen Verankerungen mit Ergebnissen – Ähnlichkeiten und Unterschieden darüber, welche Maßstäbe an Gesundheit angelegt werden – wieder finden, für die wir keine wirkliche Erklärung haben. Gayle Rubins (1974) frühe Betonung des systemischen Charakters der Sex/ Gender Unterscheidung war ein frühes Warnsignal, dass wir unsere Auf41

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merksamkeit eben so sehr auf die zugrunde liegenden Prozesse lenken sollen – wie etwa auf die besondere Form des Patriarchats zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort –, was eine bestimmte Art von Wissen in Bezug auf die Analyse möglich macht, welche Bedeutung die jeweiligen ‚sozialen Rollen‘ haben oder welche Maßstäbe angelegt wurden. Wie Judith Stacey und Barrie Thorne es Mitte der 1980er Jahre ausdrückten, wird die Idee der sozialen Rollen entpolitisiert da „sie Erfahrungen von ihrem historischen und politischen Kontext loslösen und Fragen von Macht und Kontext vernachlässigen“ (Stacey/Thorne 1985: 307). Gender ist im Kern ein beziehungsorientiertes Konzept, das auf die strukturelle Ungleichheit von Beziehungen verweist, was nicht nur einfach Differenz, sondern auch Machthierarchien impliziert (vgl. Busfield 1996). Daher müssen wir „neue methodische Ansätze finden, um zu zeigen, wie Geschlechterunterdrückung – in Opposition zu einer unkomplizierten epidemiologischen Variablen von Gender – die Ergebnisse zu Frauengesundheit und Wohlbefinden beeinflusst“ (Inhorn/Whittle 2001: 564). Das macht es notwendig, die gelebten Erfahrungen von Frauen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit in Zusammenhang zu stellen mit den „vielfältigen Formen von Unterdrückung, mit denen sie konfrontiert sind, mit größeren sozialen, ökonomischen und politischen Kräften“ (Inhorn/Whittle 2001: 564). Wohl sind in letzter Zeit durch Versuche quantitativer ForscherInnen, Messgrößen für den ‚gegenderten Kontext‘ auf der Makroebene in die Forschung aufzunehmen, in dieser Hinsicht Fortschritte zu verzeichnen. Ein frühes und höchst einflussreiches Beispiel ist die Forschung von Ichiro Kawachi u.a. in den USA, die den Gesundheitsstatus von Frauen als eine „ökologische Größe“ darstellt (Kawachi u.a. 1999: 21). Indikatoren, die sich aus der politischen Partizipation von Frauen, der ökonomischen Unabhängigkeit, Beschäftigung und Einkommen und reproduktiven Rechten auf bundesstaatlicher Ebene zusammen setzen, wurden im Hinblick auf ihre Eignung beurteilt, die insgesamten Sterberaten, die ursachenspezifische Sterblichkeit und die durchschnittliche Anzahl von Tagen, an denen Frauen im vergangenen Monat in ihren Aktivitäten eingeschränkt waren, zu erklären. Sie fanden heraus, dass die Daten zur Gesundheit von Frauen „auffällig“ mit den Zahlen aus jedem dieser Bereiche auf bundesstaatlicher Ebene „korrelierten“, was sie zum Schluss führte, dass „Frauen in jenen Staaten eine höhere Sterblichkeitsund Krankheitsrate aufweisen, wo sie einen niedrigeren Grad an politischer Teilhabe und ökonomischer Unabhängigkeit haben“ (Kawachi u.a. 1999: 21). Sie sind sich dessen bewusst, dass die Darstellung des Gesundheitsstatus von Frauen als ökologische Größe das Risiko eines so genannten ‚ökologischen Trugschlusses‘ birgt, also das Risiko, davon 42

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auszugehen, dass die Gesundheit von einzelnen Frauen durch aggregierte Statistiken für den gesamten Staat erklärt werden kann. In der Folge haben ForscherInnen die statistische Technik des Mehrebenen-Modells angewandt, um zwischen so genannten kontextuellen – oder die Makroebene betreffenden – und kompositionellen – oder die individuelle Ebene betreffenden – Auswirkungen auf die Gesundheit zu unterscheiden. So stellten beispielsweise Ying-Yeh Chen et al (2005) die Beziehung zwischen dem Status von Frauen und ihrer Eigenständigkeit auf bundesstaatlicher Ebene und Symptomen von Depression dar, indem sie auch die Charakteristika von einzelnen Frauen, die in diesem Staat lebten (oder aus denen sich dieser Staat zusammensetzte), wie Alter, Ethnizität, Einkommen. Bildung und Beschäftigungsstatus, also kompositionelle Auswirkungen, berücksichtigten. Sie fanden heraus, dass Frauen mit niedrigerem sozioökonomischem Status und Angehörige ethnische Minderheiten zwar mehr Symptome aufwiesen, dass es jedoch allen Frauen besser ging, die in Bundesstaaten mit einem höheren Grad an Gleichstellung lebten. Mit anderen Worten, die kontextuellen Auswirkungen des Makro-Gender-Kontexts waren wichtige Einflussfaktoren. Nancy Ross kommt zu dem Schluss, dass „die Kontextualisierung von Studien in einem historischen und geopolitischen Rahmen ein großer nächster Schritt ist“ (Ross 2002: 659) beim Versuch, ein integratives Theoriemodell für die Forschung zum Gesundheitsstatus von Frauen zu entwickeln. Bislang gab es jedoch nur in beschränktem Maß Forschung zu kontextuellen Auswirkungen, die auf der Makroebene ausdrücklich Größen von ‚Gender-Ungleichheit‘ in eine Analyse einbezogen. Und, wie viele ForscherInnen wissen, die innerhalb dieses Rahmens arbeiten, die konzeptuelle Lücke zwischen Variablen auf der Makroebene – wie die politische Partizipation und die Beschäftigungsrate von Frauen – und Merkmalen von Frauen auf der individuellen Ebene muss mit Variablen gefüllt werden, welche die Eigenheiten lokaler Gemeinschaften oder Nachbarschaften mit einbeziehen, da die Verbindung zwischen Gesundheit und Faktoren wie die unmittelbare physische Umgebung, Zugang zu Einkaufsmöglichkeiten, Kriminalitätsrate und so weiter für Männer und Frauen unterschiedlich sein kann. So fanden zum Beispiel Kristina Sundquist et al (2006) in ihren Forschungen zu verschiedenen Stadtteilen in Stockholm heraus, dass in Gegenden mit der höchsten Zahl an Gewaltverbrechen die Wahrscheinlichkeit für koronare Herzerkrankungen für Frauen bei 1,77, für Männer hingegen nur bei 1,39 lag. In Gegenden mit den höchsten Arbeitslosenzahlen lag die entsprechende Wahrscheinlichkeit bei 2,05 bzw. 1,50 (vgl. Sundquist 2006). Dies lässt vermuten, dass Männer und Frauen den Gender-Kontext unterschiedlich erleben (vgl. Bird/Rieker 2008), etwas, das vielleicht durch qualitative 43

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Forschung, die sich damit befasst, in welcher Beziehung Menschen zu Orten stehen, besser dargestellt werden kann (vgl. Popay/Groves 2000). Darüber hinaus ist es – wie Bird und Rieker (2008) ausführen – möglich, dass Männer und Frauen unterschiedliche physiologische Reaktionen auf Stress zeigen, die unterschiedlichen ‚Umverteilungsmechanismen‘ nach sich ziehen, welche wiederum sicherheitsrelevante Verhaltensweisen wie Rauchen, Bewegung, Alkoholkonsum und Essgewohnheiten beeinflussen. Jedoch braucht es, wie sie weiter erklären, sehr viel mehr an Forschung, um die Rolle der Biologie in diesem Prozess zu untersuchen und zu beleuchten, etwas, das in diesem Forschungsbereich bislang fast gänzlich gefehlt hat.

Zusammenfassung Für Gleichheitsfeministinnen ist die Gesundheit von Frauen nicht einfach nur ein Produkt ihrer Biologie, sondern vielmehr durch ihren geschlechtsspezifischen Status und durch das Einnehmen geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Rollen sozial konstruiert. Aus dieser Perspektive tendiert das Biologische dazu, sich im Sozialen aufzulösen und dabei seine Erklärungsmacht zu verlieren. Das allein ist schon problematisch, aber es gibt auch Schwierigkeiten mit der Aktualisierung des Sozialen als solches. Während die weitreichenderen sozialen, ökonomischen und politischen Kräfte, die die Unterdrückungen von Frauen bestimmen, ganz klar den Bezugspunkt bilden, gibt es doch eine bemerkenswerte Tendenz, die gelebte Erfahrung von Frauen auf nicht näher bestimmte Ursachen zu reduzieren. In der Folge werden Individuen als TrägerInnen bestimmter sozialer Rollen und InhaberInnen eines bestimmten Status mit Erklärungsmacht ausgestattet. Als Addendum ist hervorzuheben, dass der egalitäre Feminismus – der im Fokus dieses Artikels steht – ganz offensichtlich nicht der einzige Ansatz zum Verständnis des Gesundheitsstatus von Frauen ist. Wie bereits in der Einleitung dargelegt, stellt der egalitäre Feminismus die patriarchale Gleichsetzung des biologischen und sozialen Geschlechts in Frage, indem er die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass die Unterdrückung der Frauen sozialer Natur ist. Im Vergleich dazu betont der Differenzfeminismus oder radikale Feminismus die Unterdrückung der Frauen über den Körper oder die Biologie. Aus dieser Perspektive ist es essentiell für das Wohlbefinden von Frauen, ihre biologischen Möglichkeiten – insbesondere ihre Reproduktionsfähigkeit – neu zu bewerten. Abgesehen von diesen Unterscheidungen zwischen Feministinnen und den Themen, mit denen sie sich schwerpunktmäßig befasst haben, ist es jedoch wichtig zu beachten, dass ihre Verwendung der Unter44

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scheidung von sozialem (Gender) und biologischem (Sex) Geschlecht zu einer Fokussierung auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen geführt hat. Das machte in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren durchaus Sinn, als die Unterschiede zwischen Männern und Frauen ein greifbares Muster in der Gesellschaft waren. In der Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts jedoch ist es eine fragwürdige Basis für die Analyse von Frauengesundheit und weiblichen Lebensumständen. Feministinnen, die von postmodernen und konstruktivistischen Theorien beeinflusst sind, argumentieren, dass solch dichotomes Denken genau die patriarchale Struktur stützt, der Feministinnen zu entkommen versuchen (vgl. Grosz 1990; Cixous/Clément 1986). Es ist hier nicht möglich, diesen Argumentationsstrang weiter zu verfolgen (für eine ausführliche Diskussion siehe: Annandale 2009a). In aller Kürze jedoch hier ein Vorschlag: Da binäres Denken inhärent patriarchal ist, sollte es eher das Ziel sein, seine Vormachtstellung zu brechen als sie zu stützen. So wird das soziale Geschlecht (Gender) an der Oberfläche zwar als Variable gehandelt, in Wirklichkeit führt es jedoch zurück zu einem (starren) binären biologischen Unterschied, welcher den männlichen Körper bevorzugt. Aus dieser Perspektive besteht die einzig wirksame Art, diese Bevorzugung in Frage zu stellen in der Anerkennung, dass sowohl Sex als auch Gender sozial vorgeschrieben sind. Das bedeutet auch, die Sex/Gender Unterscheidung als solche abzuschaffen – oder zumindest zu versuchen, sie abzuschaffen. Das Argument dafür ist, dass das Patriarchat seine Verankerung verliert, wenn Erfahrung nicht länger an binäre Unterschiede geknüpft werden kann, da es fortan nicht mehr so leicht möglich ist, eine Gruppe (Männer) mit allem zu verbinden was positiv ist, und eine andere Gruppe (Frauen) mit allem, was negativ ist (vgl. Annandale/Clark 1996). Dazu kann allerdings kritisch angemerkt werden, dass formbare Identitäten von Sex/Gender nicht nur Frauen tendenziell ohne offensichtliche Anknüpfungspunkte für Widerständigkeit zurücklassen, sondern dass solche Identitäten auch selbst mit der in einem weiteren Sinn verstandenen Individualisierung von sozialem Leben (vgl. Scambler 1998) verbunden sind die für die Gesundheit problematisch sein kann. Die Individualisierung, die gegenwärtig unser soziales Leben im Allgemeinen und die Erfahrung von Gesundheit und Krankheit im Besonderen kennzeichnet, klingt besonders auch in der Vision von sowohl Sex als auch Gender genau als solche formbare Einheiten an. Man könnte demnach behaupten, dass der postmoderne Feminismus die gegenwärtige soziale Welt, in der Männer und Frauen ihr Leben ausleben, angemessen widerspiegelt. Das Problem dabei ist natürlich, dass der Feminismus so eine Vision eher kritisch evaluieren als bestärken sollte, denn 45

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diese versagt nicht nur darin, die tief greifenden Schwierigkeiten, mit denen Frauen Tag für Tag konfrontiert sind, voll inhaltlich wahrzunehmen, sondern bietet Frauen auch wenig Auswege. Sie sind in Identitätspolitiken gefangen, die oft alles andere als befreiend wirken. Wie Anne Oakley, neben anderen, argumentiert: „Körper sind Formen und Produkte der kapitalistischen Industrie, geformt durch einen Prozess, der im Innersten entfremdend wirkt. Das ist der Fetischismus des makellosen jugendlichen Selbst. Desodorierte und sexualisierte körperliche Formen sind Charaktere in einem kapitalistischen Schauspiel kommerzialisierter symbolischer Bedeutungen.“ (Oakley 2007: 66)

Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des weitreichenderen ‚Körperprojekts‘ der späten Moderne – das Gefühl, besonders, aber nicht ausschließlich, unter den Jungen, dass der Körper geformt und neu geformt werden kann, um ihn den verschiedenen Erwartungen und Ausdrucksformen des Selbst anzupassen. Hybridität ist die Realität im Leben vieler Frauen, in dem Maß wie sie „sich standardisierten Weiblichkeiten unterwerfen, während sie gleichzeitig versuchen, ihre Bedeutungen neu zu definieren“ (Genz 2006: 338) – mit bisher noch weitgehend unerforschten Konsequenzen für die Gesundheit.

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Spaßve rderberinnen: Fe minis mus und die Gesc hic hte des Glücklichseins 1 SARA AHMED (AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON EVA KUNTSCHNER)

Darrin McMahons Buch Happiness: A History beginnt mit der Frage: „Wie schreibt man eine historische Abhandlung über etwas so schwer Fassbares, so Vages – über dieses ‚Ding‘, das kein Ding ist, diese Hoffnung, diese Sehnsucht, diesen Traum?“ (McMahon 2005: xi). Das ist eine gute Frage für den Anfang. Wir können sie auch so stellen: Was bedeutet es, wenn man das Glücklichsein als etwas betrachtet, das eine Geschichte hat? Wie oder warum würden wir diese Geschichte aufschreiben wollen? Wer oder was müsste Teil dieser Geschichte sein? McMahons Geschichte des Glücklichseins basiert auf dem Glauben, dass das Nachdenken über das Glücklichsein bedeutet, sich darüber Ge1

Dieser Artikel ist dem zweiten Kapitel „Feminist Killjoys“ („feministische Spaßverderberinnen“) meines Buches The Promise of Happiness entnommen das bei Duke University Press erscheinen wird. Das Kapitel bezieht sich auf eine solche Fülle feministischen Materials, dass eine vollständige Darstellung in diesem Zusammenhang nicht möglich ist. Die ausgewählten Beispiele stellen mit Sicherheit meine eigenen Lesetrajektorien als Feministin dar: Andere Leserinnen werden, wie ich hoffe, meine Auswahl um ihre eigenen Materialien ergänzen. (Anm. der Herausgeberin: Die Autorin berichtet im Text von Feministinnen. Daher wurde in der Übersetzung an einigen Stellen die weibliche Form gewählt, obwohl dieser Modus von gewählten Formen in anderen Beiträgen und dem Prinzip der Einheitlichkeit im Band abweicht.) 53

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danken zu machen, wie verschiedene Vorstellungen von Glück im Laufe der Zeit in Begriffe gefasst wurden. Er beschreibt seine Geschichte des Glücklichseins als eine „Geistesgeschichte“ (McMahon 2005: xiv). McMahon sagt von sich selbst, dass er für „methodologischen Pluralismus“ (McMahon 2005: xv) ist, womit er andeutet, dass seine Geschichte des Glücklichseins nur eine von vielen Sichtweisen ist, die nebeneinander existieren sollten: „Es gibt unendlich viele Geschichten des Glücklichseins, die geschrieben werden sollten“ (McMahon 2005: xiii). Er impliziert auch, dass diese noch zu schreibenden Geschichten von spezifischeren Gesichtspunkten ausgehen könnten, als „Geschichten, die nicht nur von den Schwierigkeiten der Bauern, Sklaven und Andersgläubigen berichten [...], sondern auch von Frauen in der frühen und Adeligen in der späten Neuzeit, von Bürgern im 19. und von Arbeitern im 20. Jahrhundert, von Konservativen und Radikalen, Konsumenten und Kreuzfahrern, Einwanderern und Einheimischen, Nichtjuden und Juden“ (McMahon 2005: xiii). All diese Gruppen haben sehr unterschiedliche Geschichten zu erzählen, wie wir uns gut vorstellen können. Ich habe nicht den Wunsch, McMahons Geschichte mit einer Darstellung aus einer bestimmten Perspektive zu ergänzen, als eine spezifische Geschichte innerhalb einer generellen geschichtlichen Darstellung. Vielmehr möchte ich stattdessen untersuchen, inwiefern diese generelle Sichtweise selbst schon ziemlich spezifisch ist. Achten Sie einfach darauf, wie Frauen in McMahons Geistesgeschichte vorkommen – oder auch nicht. Im Index gibt es einen einzigen Verweis auf ‚Frauen‘, der sich als Referenz auf John Stuart Mills Buch Die Hörigkeit der Frau entpuppt (Anm. der Hg.: ohne Jahreszahl im Original). Sogar die Kategorie ‚Frauen‘ verweist zurück auf eine männliche Genealogie, auf Philosophie als das Erbe weißer europäischer Männer. Begreift man das Glücklichsein als Teil der Geistesgeschichte, führt dies unweigerlich dazu, Unterschiede innerhalb dieser Geschichte auszublenden, Unterschiede nämlich, die die eigentliche Form ihrer Kohärenz stören. Wenn wir das Glücklichsein als Teil der Geistesgeschichte betrachten, dann ist es bemerkenswert, wie konsistent diese Geschichte an einem Punkt ist: das Glücklichsein verleiht der menschlichen Existenz Sinn, Ziel und Ordnung. Bruno S. Frey und Alois Stutzer meinen: „Jeder will glücklich sein. Es gibt wahrscheinlich kein anderes Ziel im Leben, über das es einen solch hohen Grad an Übereinstimmung gibt“ (Frey/Stutzer 2002, vii). Sogar ein Philosoph wie Immanuel Kant, der das individuelle Glücklichsein eigentlich aus dem Bereich der Ethik herausnimmt, stimmt diesem Konsens zu, wenn er argumentiert, dass „[g]lücklich zu sein, [...] notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begeh54

SPASSVERDERBERINNEN

rungsvermögens [ist]“ (Kant 1990: 28). Und dennoch meint Kant selbst, durchaus traurig: „Allein ist es ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle“ (Kant 2007: 48). Wenn Glücklichsein das ist, was wir uns wünschen, wenn Glück unser unbedingter Wunsch ist, bedeutet dies aber trotzdem nicht, dass wir wissen, was wir uns wünschen, wenn wir uns wünschen, glücklich zu sein. Glücklichsein: ein Wunsch, ein Wille, ein Wollen. Was würde es wohl heißen, einmal kurz nicht daran zu glauben, dass wir den Wunsch haben, glücklich zu sein, dass wir es wollen, dass wir den Willen dazu haben, oder sogar daran, dass Glücklichsein etwas Gutes ist? Wir müssen nicht darüber spekulieren, wie die Antwort auf diese Frage aussehen könnte: Feministische Geschichtsdarstellungen bieten uns eine alternative Geschichte des Glücklichseins, da sie eben nicht daran glauben machen, dass Glücklichsein etwas Gutes ist. Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949/1999) ist ein Beispiel dafür. Sie meint: „Dabei weiß man nicht so recht, was das Wort glücklich bedeutet, und noch weniger, welche authentischen Werte es abdeckt. Es gibt keine Möglichkeit, das Glück eines anderen zu messen, und es ist leichter, die Situation für glücklich zu erklären, die man ihm aufzwingen will [...]“ (Beauvoir 1999: 25). Beauvoir zeigt uns, wie eine Beschreibung zur Verteidigung werden kann: Man beschreibt eine Situation als glücklich, wenn man sie verteidigen will. Das Glücklichsein macht aus dem Wunsch eine Politik, eine Politik des Wunschdenkens, eine Politik, die anderen abverlangt, dass sie diesem Wunsch gemäß leben. Wenn ein Wunsch nach Glücklichsein einmal deponiert ist, wird eine soziale Norm zu einem sozialen Gut. Feministinnen haben gezeigt, wie der Wunsch nach Glücklichsein an bestimmten Orten deponiert wird. Nehmen wir zum Beispiel feministische Kritiken an der Figur der glücklichen Hausfrau. In Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau argumentiert Betty Friedan: „Das Problem ohne Namen brach plötzlich im Jahre 1960 wie eine Sturmflut los und überspülte das Bild der glücklichen amerikanischen Hausfrau. In den Werbesendungen des Fernsehens strahlte die liebreizende Hausfrau noch immer über ihren dampfenden Kochtöpfen [...]. Aber mit einemmal war in Presse und Rundfunk, daß die amerikanische Hausfrau tatsächlich unglücklich war [...]“ (Friedan 1970: 22). Die glückliche Hausfrau ist eine Phantasiegestalt, die alle Anzeichen von Arbeit unter dem Vorzeichen des Glücklichseins auslöscht. Die Behauptung, dass Frauen glücklich sind und dass dieses Glücklichsein hinter der Arbeit, die sie verrichten, 55

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steht, dient als Rechtfertigung dafür, geschlechtsspezifische Arten von Arbeit nicht als ein Produkt der Natur, der Gesetzgebung oder der Pflichterfüllung zu sehen, sondern als Ausdruck eines kollektiven Wunsches und Begehrens. Aus diesem Grund bieten feministische Geschichtsdarstellungen einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte des Glücklichseins. Oder vielleicht lehrt uns die feministische Geschichtsschreibung das Nötige, um auch dem Unglücklichsein eine Geschichte zu verleihen. Denn schon die Geschichte des Wortes ‚unglücklich‘ kann uns etwas darüber vermitteln, wie unglücklich die Geschichte des Glücklichseins ist. In seiner frühesten Verwendung bedeutete ‚unglücklich‘ soviel wie „schweres Schicksal, Pech oder Schwierigkeiten verursachen.“2 Erst später veränderte sich seine Bedeutung in „ein elendes Los haben, in elenden Umständen leben“ oder „erbärmliche oder verabscheuungswürdige Absichten haben“. Wir können etwas aus dieser Schnelligkeit lernen, mit der ‚Unglück verursachen‘ zu ‚unglücklich sein‘ wurde. Wir müssen sogar daraus lernen. Auch das Wort ‚wretched‘ (‚bemitleidenswert, elend, erbärmlich, verachtungswürdig‘) hat eine suggestive Genealogie: Es kommt von ‚wretch‘ (Schurke, Schuft, aber auch armer Kerl, armer Schlucker), was sich ursprünglich wiederum auf eine fremde, exilierte oder verbannte Person bezieht. Diese ist allerdings nicht nur eine, die aus ihrem Heimatland vertrieben wurde, sondern definiert sich auch als eine, die „tief in Leid, Sorge, Unglück oder Armut versunken ist“, bezeichnet „eine elende, unglückliche oder glücklose Person“, „ein armes oder unglückseliges Lebewesen“ und sogar „eine widerwärtige, bemitleidenswerte oder verachtenswerte Person“. Können wir die Geschichte des Glücklichseins aus der Sicht solch eines Wesens umschreiben? Wenn wir jenen Gehör schenkten, die mit der bemitleidenswerten oder verachtungswürdigen Rolle des ‚wretch‘ bedacht wurden, würde ihnen diese Zuschreibung vielleicht nicht mehr länger anhaften. Das Leid der Fremden könnte uns einen anderen Blickwinkel auf das Glücklichsein eröffnen, und zwar nicht, weil es uns lehrt, wie es ist oder wie es sein muss, eine Fremde zu sein, sondern, weil es uns vom Glück des Vertrauten entfremden könnte. Aus diesem Grund biete ich eine andere Interpretation des Glücklichseins an, und zwar nicht nur einfach dadurch, dass ich seine Geistesgeschichte anders lese. Vielmehr beziehe ich auch jene ein, die aus dieser Geschichte verbannt sind oder die darin nur als Störenfriede, Schur-

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Diese und alle weiteren Definitionen sind dem Oxford English Dictionary, 2. online-Ausgabe entnommen. [Anm. d. A.] Die deutschen Übersetzungen entstammen de.pons.eu. [Anm. d. Ü.]

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kInnen, Fremde, Andersdenkende und SpaßverderberInnen vorkommen. Die Archive, auf die ich zurückgreife, nenne ich „Archive des Unglücklichseins“. Es geht nicht nur darum, Unglück in solchen Archiven zu finden. Vielmehr nehmen diese Archive durch die Zirkulation kultureller Objekte Gestalt an, welche die Unzufriedenheit, das Unglücklichsein mit der Geschichte des Glücks zum Ausdruck bringen. Ein Archiv des Unglücks ist eines, das sich um den Kampf gegen das Glücklichsein herum angesammelt hat. Wir können verschiedenen Strängen des Unglücklichseins nachgehen – als eine Art Entflechtung des Glücklichseins – und den Spuren seiner Anziehungskraft.

Glückbringende Objekte Ich gehe nicht von der Annahme aus, dass es etwas namens ‚Glück‘ gibt, das abseits steht oder über Autonomie verfügt, als würde es einem Objekt in der Welt entsprechen. Stattdessen beginne ich mit der Unordnung des Experimentellen, mit Körpern, die sich zu Welten entfalten und mit dem, was ich in Queer Phenomenology „das Drama der Kontingenz“ (Ahmed 2006: 124) nenne, also das, wie wir von dem, was in unsere Nähe kommt, berührt werden. Es ist nützlich anzumerken, dass sich die Etymologie des englischen Wortes ‚happiness‘, also ‚Glück‘ oder ‚Glücklichsein‘, genau auf diese Frage der Kontingenz, des Zufalls bezieht: Es kommt vom mittelenglischen Wort ‚hap‘, was Zufall bedeutet. Das Wort ‚happy‘, glücklich, bedeutete ursprünglich, dass man ‚good hap‘, also ‚guten Zufall‘, hatte. Diese Bedeutung mag mittlerweile archaisch erscheinen: Wir sind eher daran gewöhnt, Glücklichsein als Effekt unserer Handlungen zu verstehen, als eine Belohnung für harte Arbeit, und nicht als etwas, das einer „einfach so“ passiert. Mihály Csíkszentmihályi meint: „Glücklichsein ist nicht einfach etwas, das passiert. Es ist nicht das Ergebnis von Glück oder einer zufälligen Entscheidung, es ist nicht etwas, das man mit Geld kaufen oder mit Macht erzwingen kann. Es hängt nicht von äußeren Ereignissen ab, sondern vielmehr davon, wie wir diese interpretieren. Tatsächlich ist Glücklichsein ein Zustand, auf den man sich vorbereiten muss, der kultiviert werden muss und der von jeder Person individuell verteidigt werden muss“ (Csíkszentmihályi 1992: 2). In solcher Definition verliert ‚happiness‘ nicht nur das ‚hap‘, also das Element des glücklichen Zufalls, sondern wird vielmehr entgegengesetzt definiert.

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Ich möchte darüber nachdenken, was passiert, nachdem ‚hap‘, das zufällige Glück, aus ‚happiness‘, dem Glücklichsein, entfernt wurde.3 Wie sieht die Beziehung zwischen dem ,Was‘ in „Was passiert“ und dem ,Was‘ in „Was macht uns glücklich“ aus? Durch sein großes Interesse daran, „was Was ist“, bietet uns der Empirismus eine nützliche Herangehensweise an diese Frage. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeiten von John Locke, dem empirischen Philosophen aus dem 17. Jahrhundert. Er argumentiert, dass gut ist, „was in uns die Freude zu wecken oder zu steigern oder den Schmerz zu lindern vermag“ (Locke 2006: 271). Wir beurteilen etwas als gut oder schlecht, je nachdem, wie es sich auf uns auswirkt, ob es uns freut oder schmerzt. Locke bringt das Beispiel des Mannes, der Weintrauben liebt. Er meint, dass „wenn jemand im Herbst, während er Weintrauben verzehrt, oder im Frühjahr, wenn es keine gibt, erklärt, er liebe die Weintrauben, so heißt das nichts weiter, als daß ihn der Geschmack erfreut“ (Locke 2006: 272). Man könnte glückbringende Objekte also als solche beschreiben, die sich auf die bestmögliche Art auf uns auswirken. Beachten Sie die Verdopplung des positiven Affekts in Lockes Beispiel: Wir lieben, was wunderbar schmeckt. Damit sich etwas gut auf uns auswirken kann, müssen wir es zuerst für gut befinden. Im phänomenologischen Sinne kann Glücklichsein also sowohl als intentional (es ist auf Objekte ausgerichtet) als auch als affektiv (es involviert Kontakt mit Objekten) beschrieben werden. Führt man diese Argumente zusammen, so könnte man sagen, dass Glücklichsein eine Ausrichtung auf die Objekte hin ist, mit denen wir in Kontakt kommen. Dies bedeutet nicht, dass es immer einen Zusammenhang zwischen Objekten und Gefühlen gibt. Wir haben alle schon einmal eine Erfahrung 3

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Ich konzentriere mich aus zwei zusammenhängenden Gründen auf Objekte. Erstens möchte ich untersuchen, wie Glücklichsein als Gefühl Objekten zugeordnet wird. Im Zuge dieser Argumentation möchte ich Glücklichsein allerdings keinesfalls auf ein Gefühl reduzieren. Wie McMahon (2005) in seiner eigenen Geschichte des Glücks verdeutlicht, ist die Assoziation von Glücklichsein und Gefühl eine moderne, die seit dem 18. Jahrhundert in Umlauf ist. Mittlerweile fällt es schwer, über das Glücklichsein nachzudenken, ohne dabei an ein Gefühl zu denken. Meine Aufgabe ist es daher, die Beziehung zwischen Sich-gut-Fühlen und anderen sozialen Gütern zu betrachten bzw. zu untersuchen, welche Rolle Gefühle dabei spielen, dass manche Dinge ‚gut’ sind oder zu sozialen Gütern werden. Zweitens ist es mein Ziel, durch die Konzentration auf mit Gefühlen besetzte Objekte ein Modell des Fühlens zu entwerfen, das nicht subjektzentriert ist, das nicht davon ausgeht, dass Gefühle beim Subjekt beginnen und sich dann auf andere ausbreiten (vgl. auch Ahmed 2004). Für andere feministische, nicht subjektzentrierte Modelle des Fühlens siehe Sedgwick (2003) und Brennan (2004).

SPASSVERDERBERINNEN

mit einem Gefühl gemacht, das ich ‚unzuordenbares Glücklichsein‘ nennen würde: man fühlt sich glücklich, ohne wirklich zu wissen, warum. Dieses Gefühl kann auch ansteckend sein, wie ein Überschäumen, welches über das Erlebte hinausgeht. Dieses Gefühl kann jegliches sich in der Nähe befindende Objekt erhöhen, was aber nicht heißt, dass es jede Begegnung überstehen wird. Ich fand es schon immer interessant, dass das Gefühl des Glücklichseins sich oft zurückzieht oder in sorgenvolle Unruhe umschlägt, sobald wir uns bewusst werden, dass wir uns glücklich fühlen (wenn das Gefühl ein Objekt des Denkens wird). Das Gefühl des Glücklichseins kann ganz plötzlich eintreten und gleich wieder verloren gehen, nur, weil es als solches erkannt wurde. Das Gefühl des Glücklichsein scheint sehr instabil zu sein, leicht ersetzbar nicht nur durch andere Gefühle, sondern sogar durch das Glücklichsein selbst beim ‚Wie‘ seines Eintretens. Ich behaupte, dass Glücklichsein eine spezifische Art der Intentionalität mit sich bringt, welche ich als zielorientiert beschreiben würde. Es ist nämlich so, dass wir Glücklichsein nicht nur als gegenwärtiges Gefühl empfinden können, sondern dass uns auch Dinge beglücken können, von denen wir meinen, dass sie uns erst in Zukunft glücklich machen werden. Glücklichsein wird oft beschrieben als das, worauf wir abzielen, als Endpunkt oder sogar als Selbstzweck. Klassischerweise wird Glücklichsein eher als Ziel denn als Mittel zum Zweck angesehen. In der Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles das Glücklichsein als das höchste Gut, „als dasjenige [...], wonach alles strebt“ (Aristoteles 1985: 1). Glücklichsein ist etwas, das „für sich allein erstrebt wird“ (Aristoteles 1985: 8).4

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Ich bin mir dessen bewusst, dass Aristoteles Glücklichsein oder Eudämonie (was manchmal als ‚das Aufblühen, das Gedeihen‘ übersetzt wird, was wahrscheinlich präziser ist) nicht im Sinne eines Gefühls beschreibt, sondern vielmehr im Sinne von ‚gut gehen, gut leben’. Ich beziehe mich hier auf dieses Modell, weil ich daran interessiert bin, was es bedeutet, wenn Glücklichsein als ein Telos oder Ziel angesehen wird und wie dies andere Dinge (inklusive anderer Werte) zu Mitteln zum Zweck machen kann. In diesem Sinne spielt Gefühl sehr wohl eine Rolle in der Aristotelischen Ethik, und zwar in seinem Modell der Habituation: Man ist dann ein guter Mensch, wenn man lernt, von den richtigen Dingen auf die richtige Art bewegt zu werden; „ein Mann ist unter keinen Umständen ein guter Mann, welcher keine Freude bei der Vollbringung nobler Taten verspürt; genausowenig, wie keiner diesen Mann gerecht nennen würde, welcher keine Freude im gerechten Handeln verspürt“ (Aristoteles 1985: 10-11). Julia Annas beschreibt, wie das tugendhafte Subjekt „richtig handeln wird und dabei die dafür angemessenen Gefühle im richtigen, moderaten Maß verspüren wird“ (Annas 1993: 61). 59

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Wir müssen der Behauptung, Glücklichsein sei das perfekte Ziel, nicht zustimmen, um die Implikationen dessen zu verstehen, was es für das Glücklichsein bedeutet, wenn man so darüber denkt. Wenn das Glücklichsein das höchste aller Ziele ist, dann werden andere Dinge (also auch andere Güter) die Mittel zum Zweck, um glücklich zu sein. Genau wie Aristoteles beschreibt, wählen wir andere Dinge „in Hinblick auf die Glückseligkeit, weil wir meinen, dass wir mit deren Hilfe glücklich werden“ (Aristoteles 1985: 8). Aristoteles bezieht sich hier nicht auf materielle Dinge oder physische Objekte; er differenziert zwischen verschiedenen Gütern, zwischen instrumentellen Gütern und unabhängigen Gütern. Also wählen wir Ehre, Vergnügen oder Intellekt „in Hinblick auf die Glückseligkeit“, als Instrument zum Glücklichsein und um ein gutes oder tugendhaftes Leben zu führen. Wenn wir instrumentelle Güter als Objekte des Glücklichseins ansehen, ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen. Einige Dinge werden gut oder erwerben einen Wert als Güter, insofern als sie auf das Glücklichsein verweisen. Sie werden zu Wegweisern zum Glücklichsein, so, als würde man das Glück finden, wenn man der Richtung folgt, die sie anzeigen. Oder wir könnten sagen, dass Objekte zu „Mitteln zum Glücklichsein“ werden. Wenn Objekte ein Mittel zum Glücklich-Werden darstellen, dann zielen wir in der Hinwendung auf dieses oder jenes Objekt auf etwas anderes ab: nämlich auf das Glücklichsein, von dem wir annehmen, dass es in Folge eintreten wird. Der zeitliche Rahmen für dieses Eintreten ist wichtig. Glücklichsein ist das, was danach kommen soll. Das Glücklichsein befindet sich nicht in Objekten; es wird vielmehr durch die Nähe zu bestimmten Objekten versprochen. Das Glücksversprechen nimmt folgende Form an: Wenn du dies tust oder jenes hast, dann wird das Glücklichsein folgen. Allein die Möglichkeit, dass uns der Weg zum Glücklichseins gewiesen werden kann, legt nahe, dass Objekte schon mit Affekten assoziiert werden können, bevor wir überhaupt mit ihnen in Berührung kommen. Ein Objekt kann uns in Richtung des Glücklichseins weisen, ohne uns notwendigerweise auf gute Art berührt zu haben. Glückbringende Objekte müssen daher jenseits einer sequenziellen Logik der Kausalität überdacht werden. In Der Wille zur Macht meint Friedrich Nietzsche, dass die Zuordnung von Kausalität retrospektiv sei (1964). Wir könnten infolgedessen davon ausgehen, dass das Erleben von Schmerz vom Nagel in der Nähe unseres Fußes verursacht wird. Aber wir bemerken den Nagel nur, wenn wir einen Affekt erfahren. Das Objekt des Fühlens hinkt dem Gefühl hinterher. Der Rückstand ist nicht einfach zeitlich, sondern involviert aktive Formen der Mediation. Wir suchen das Objekt oder, wie Nietzsche es nennt: „[E]in Grund [wird] gesucht, um sich so 60

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oder so zu fühlen, in Personen, Erlebnissen usw.“ (Nietzsche 1964: 448). Das Objekt wird in Retrospekt als Grund für das Gefühl verstanden. Nachdem ich es auf diese Art verstanden habe, kann ich den Nagel begreifen, und ich werde einen Schmerzaffekt erfahren. Sobald ein Objekt ein Gefühls-Grund ist, kann es Gefühle hervorrufen. Dies geschieht, damit wir Bestätigung erfahren, wenn wir das Gefühl empfinden, das wir erwartet haben. Die retrospektive Kausalität des Affekts, die Nietzsche beschreibt, wandelt sich rasch zu dem, was wir antizipatorische Kausalität nennen. Wir können einen Affekt sogar antizipieren, ohne retrospektiv zu sein, insofern als Objekte eine Wertigkeit der Nähe erwerben können, die sich nicht aus unserer eigenen Erfahrung ableitet. Im Falle von Angstgründen kann einem Kind zum Beispiel gesagt werden, dass es sich einem Objekt nicht nähern soll, schon bevor dieses Objekt überhaupt erscheint. Manche Dinge werden mehr als andere im Falle von Nähe als furchteinflößend erfahren, ein Vorgang, der exakt die antizipatorische Logik des Fremdlings-Gefahr-Diskurses (vgl. Ahmed 2000) erklärt. Genauso können wir schon vor seinem Erscheinen antizipieren, dass ein Objekt Glücklichsein hervorrufen kann; das Objekt tritt in unsere Nahesphäre ein, während sein positiv-affektiver Wert schon etabliert ist. Objekte können zu Glücks-Gründen werden, ohne Glück hervorzurufen. Diese Argumentation unterscheidet sich von Lockes Erzählung darüber, dass man Trauben liebt, weil sie wunderbar schmecken. Ich behaupte nämlich, dass manche Dinge schon als glückbringend beurteilt wurden, bevor wir überhaupt auf sie treffen. Solche Beurteilungen gehen unserem Zusammentreffen mit Dingen nicht nur voraus; sie können uns auch den Weg zu bestimmten Dingen weisen. Ein Kind kann zum Beispiel aufgefordert werden, sich das Glücklichsein vorzustellen, indem es sich schöne Ereignisse in der Zukunft vorstellt, wie zum Beispiel den eigenen Hochzeitstag, „den glücklichsten Tag deines Lebens“. Allein schon die Erwartung des Glücklichseins kann uns ein spezifisches Bild von der Zukunft vermitteln. Wir werden von einem Glücksversprechen gelenkt, das manche Dinge erst vielversprechend macht. Beachten Sie, dass „promise“, das englische Wort für „versprechen“, vom lateinischen Verb „promittere“ kommt, das neben „versprechen, geloben oder verheißen“ auch „loslassen, verbreiten“ bedeuten kann. Wenn Objekte vielversprechend sind, werden sie verbreitet; etwas zu versprechen kann bedeuten, ein Versprechen zu verbreiten. Glückbringende Objekte werden also verbreitet. Es ist nicht notwendigerweise das Gefühl, das sich verbreitet. Solche Objekte zu teilen (oder an solchen Objekten teilzuhaben) bedeutet einfach, mit anderen darin übereinzustimmen, dass solche Objekte als gut zu be61

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werten sind. So kann zum Beispiel die Familie glückbringend sein, und zwar nicht, weil sie Glücklichsein verursacht oder uns auf gute Weise bewegt, sondern weil wir die Familie für etwas Gutes halten, für etwas, „Was“ Glück verspricht. Dieses Versprechen hat bestimmte Bedingungen: Die eigenen Hoffnungen in die Familie zu legen kann bedeuten, dass man ihrer Form nachempfindet. Wir müssen die Familie aufbauen und aufrechterhalten. Dies wiederum bestimmt, wie wir unsere Zeit verbringen und unsere Energie und Ressourcen einsetzen. Wenn das Teilen von glückbringenden Objekten nicht unbedingt auch gleichzeitig das Teilen von Gefühlen bedeutet, was teilen wir dann? Um diese Frage zu beantworten möchte ich das Beispiel von Jean-Jacques Rousseaus Buch Emil oder Über die Erziehung heranziehen, das 1762 zum ersten Mal publiziert wurde und eine Schlüsselrolle in der Redefinition von Erziehung und in der Bewertung von Glücklichsein spielte. In Emil spricht ein Ich-Erzähler, dessen Aufgabe es ist, einen Waisenjungen namens Emil zu unterrichten, damit dieser seinen Platz in der Welt einnehmen kann. In der Unterweisung Emils geht es darum, wie man ein guter Mensch wird. In diesem Buch spielt das Glücklichsein eine zentrale Rolle: Der gute Mensch sucht nicht nach dem Glück, sondern erlangt es als Konsequenz seines tugendhaften Handelns. Dieses Buch hatte beträchtlichen Einfluss auf die europäische Gedankenwelt und wurde zu einem zentralen Bezugspunkt feministischer Debatten. Rousseau bietet ein Modell dafür, was gute Erziehung nicht nur für seinen Emil bewirken kann, sondern auch für dessen zukünftige Ehefrau Sophie, die er im fünften Buch vorstellt. Rousseau argumentiert, dass Frauen und Männer auf unterschiedliche Arten erzogen werden sollten, die sie dazu befähigen, entsprechend ihrem Geschlecht ihre spezifischen Pflichten zu erfüllen. In diesem Buch geht es in der Erziehung Sophies darum, wie sie werden muss, um eine gute Ehefrau für Emil zu sein. Das Konzept ‚Glücklichsein‘ bietet die Vorlage für ihr Werden. Rousseau meint: „Sie liebt [die Tugend], weil es nichts Schöneres gibt als [sie]. Sie liebt sie, weil die Tugend den Ruhm einer Frau ausmacht, und weil eine tugendhafte Frau einem Engel gleichzukommen scheint. Sie liebt sie als den einzigen Pfad des wahren Glücks und weil sie im Leben einer ehrlosen Frau nur Elend, Verlassenheit, Unglück, Schimpf und Schande sieht. Sie liebt sie, weil sie ihr geachteter Vater und ihre zärtliche und würdige Mutter lieben: sie wollen nicht nur durch ihre eigene Tugend glücklich sein, sie wollen es auch durch die ihrer Tochter sein. Deren höchstes Glück aber ist die Hoffnung, sie glücklich zu machen.“ (Rousseau 1998: 433)

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Die Komplexität dieser Äußerung ist nicht zu unterschätzen. Sie liebt die Tugend, weil sie der Weg zum Glücklichsein ist; Unglück und Schande sind das Resultat ehrlosen Benehmens. Die tugendhafte Frau liebt das Gute, weil es das ist, was ihre Eltern lieben. Die Eltern wollen nicht nur das Gute; sie wollen, dass ihre Tochter gut ist. Wenn also die Tochter glücklich sein will, muss sie gut sein, da dies ihre Eltern glücklich macht, und sie kann nur glücklich sein, wenn sie glücklich sind. Es mag nun so scheinen, als würde das, was wir als „konditionales Glücklichsein“ bezeichnen könnten, mit einer Beziehung voller Rücksicht und Gegenseitigkeit einhergeht, so, als würde man sagen: Ich will nicht an einer Art von Glücklichsein teilhaben, die nicht geteilt werden kann. Und dennoch sind die Bedingungen dieser Konditionalität ungleich. Wenn bestimmte Menschen, also jene, die schon etabliert sind (wie zum Beispiel Eltern, Gastgeberinnen oder Bürgerinnen), bereits an erster Stelle kommen, dann kommt auch deren Glücklichsein zuerst.5 Für die Nachkommenden bedeutet Glücklichsein, sich nach Werten zu richten, die von anderen vorgegeben wurden. Das Konzept des konditionalen Glücklichseins ermöglicht mir, auf präzisere Art darüber nachzudenken, was wir teilen, wenn wir glückbringende Objekte teilen. Wenn mein Glücklichsein von deinem Glücklichsein abhängt, und zwar so, dass dein Glücklichsein an erster Stelle kommt, dann wird dein Glücklichsein zu einem Objekt, das wir teilen. Max Schelers Unterscheidung zwischen Miteinanderfühlen und Mitgefühl kann vielleicht helfen, die Wichtigkeit dieses Arguments zu erklären. Beim Miteinanderfühlen teilen wir Gefühle, weil wir das Objekt des Fühlens teilen (so können wir zum Beispiel Trauer für eine Person, die wir beide geliebt haben, fühlen; unsere Trauer wäre auf ein Objekt gerichtet, das wir beide teilen). Mitgefühl wäre dann also, wenn ich traurig bin, weil du trauerst, obwohl ich das Objekt deiner Trauer nicht teile: „Alles Mitgefühl enthält die Intention des Fühlens von Leid und Freude am Erlebnis des andern“ (Scheler 1999: 24). Ich würde mutmaßen, dass diese verschiedenen Arten von geteilten Gefühlen im täglichen Leben

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In Kapitel 4 meines im Erscheinen begriffenen Buches The Promise of Happiness beschreibe ich unter dem Titel „Melancholic Migrants“, wie StaatsbürgerInnenschaft als Technologie genutzt wird, um zu entscheiden, wessen Glück an erster Stelle kommt. Diese Vorgehensweise, das BürgerInnenrecht mithilfe des Glücklichseins zu bestimmen, beruht auf einer längeren historischen Tradition. Hierbei wird das Prinzip der imperialen Mission [der britischen KolonialherrInnen, Anm. d. Ü.] durch den utilitaristischen Denkansatz der Maximierung des Glücks gerechtfertigt. Lehnt eine Migrantin diese Bedingungen für das Glücklichsein ab, wird sie zur Bedrohung für den Nationalstaat. 63

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vermischt werden können, da das Objekt unseres Fühlens manchmal, aber nicht immer, außerhalb des Gefühls ist, das wir teilen. Sagen wir, ich bin glücklich darüber, dass du glücklich bist, und dein Glücklichsein ist aufgrund von x. Wenn ich x teile, dann teilen wir nicht nur das Glücklichsein, sondern vergrößern es, indem wir es einander zurückgeben. Oder ich kann x einfach ignorieren: Wenn mein Glücklichsein auf dein Glücklichsein ausgerichtet ist, und du glücklich aufgrund von x bist, kann die Exteriorität von x verschwinden oder seine Wichtigkeit verlieren (obwohl es auch wieder wichtig werden kann). In Fällen, wo ich auch von x betroffen bin und dein Glücklichsein aufgrund von x nicht teile, kann es sein, dass ich mich unwohl fühle und ambivalent werde, da mich zwar dein Glücklichsein glücklich macht, nicht aber das, was dich glücklich macht. Die Exteriorität von x könnte dann zum kritischen Punkt werden: Ich will, dass mich dein Glücklichsein glücklich macht, aber ich muss immer daran denken, dass, selbst wenn mein Glücklichsein von deinem abhängt, dein Glücklichsein von x bedingt ist und ich nicht glücklich mit x bin. Um also das Glücklichsein aller zu erhalten kann es vorkommen, dass wir sogar vor uns selbst verbergen, dass wir mit x nicht glücklich sind oder dass wir versuchen, uns selbst davon zu überzeugen, dass x weniger wichtig ist als das Glücklichsein der anderen Person, die wegen x glücklich ist. Emil gibt uns einen Eindruck von dieser ziemlich unbehaglichen Dynamik des konditionalen Glücklichseins. Sophies Bedürfnis, ihre Eltern glücklich zu machen, verpflichtet sie, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Wenn sie nur glücklich sein kann, wenn jene glücklich sind, dann muss sie tun, was jene glücklich macht. In einem Abschnitt des Buches spricht der Vater mit seiner Tochter über das Frau-Werden. Er sagt: „Sophie, du bist nun ein erwachsenes Mädchen, aber man wird es nicht, um es zu bleiben. Wir wollen, daß du glücklich wirst. Wir wollen es um unsretwillen, denn unser Glück hängt von deinem ab. Das Glück eines ehrbaren Mädchens besteht darin, einen rechtschaffenen Mann glücklich zu machen“ (Rousseau 1998: 436). Sollte die Tochter sich dem elterlichen Wunsch nach Heirat nicht fügen, würde das nicht nur ihre Eltern unglücklich machen, sondern den Fortbestand des sozialen Gefüges an sich gefährden. Es ist die Pflicht der Tochter, die Struktur der Familie zu reproduzieren, was bedeutet, dass sie das, was ihre Eltern glücklich macht, für sich selbst übernehmen muss. Es ist nicht überraschend, dass Rousseaus Umgang mit Sophie ein Angelpunkt für feministische Kritik war. In ihrem Buch Ein Plädoyer für die Rechte der Frau sprach sich Mary Wollstonecraft gegen Rousseaus Vision darüber aus, was Frauen glücklich macht. Ironisch kommentiert sie seinen Umgang mit Sophie: „Ich habe wohl mehr Mädchen 64

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im Kindesalter beobachten können als J.-J. Rousseau [...]“ (Wollstonecraft 1999: 53). An einer früheren Stelle6 bezieht sie ihren Appell für Frauenrechte direkt auf die Frage nach dem Glücklichsein: „Bedenken Sie, und ich spreche Sie in Ihrer Eigenschaft als Gesetzgeber an, ob es nicht widersprüchlich und ungerecht ist, Frauen zu unterjochen, während Männer für ihre Freiheit kämpfen und es für sie statthaft ist, bezüglich ihrer eigenen Glückseligkeit selbständig zu entscheiden – mögen Sie auch der festen Überzeugung sein, dass diese Vorgehensweise am besten geeignet sei, ihre [der Frauen, Anm. d. Ü.] Glückseligkeit zu fördern“ (Wollstonecraft 1999: 5). Indem Feministinnen immer wieder Vorstellungen über Geschlechterrollen infrage stellten, hinterfragten sie auch schon, wie und von wem ‚Glücklichsein‘ definiert wird. Dieser Kampf ums Glücklichsein bildet den politischen Horizont, vor dem feministische Forderungen entstehen. Meine Argumentation ist einfach: Wir erben diesen Horizont.

Gefühlte Fremde, fremde Gefühle Wenn wir Bücher wie Emil noch einmal neu lesen, erfahren wir, wie das Glücklichsein instrumentalisiert werden kann, um das Begehren auf ein gemeinsames Gut hin auszurichten. Solche Bücher können uns zeigen, dass Glücklichsein nicht einfach nur als Instrument dazu verwendet wird, soziale Beziehungen abzusichern, sondern wie es als Idee oder Streben im täglichen Leben wirkt, welches sogar die Art und Weise formt, in der Individuen ihre Welt mit anderen teilen. Das Glücklichsein involviert sowohl reziproke Arten des Strebens (ich freue mich für dich, ich will, dass du glücklich bist, ich bin glücklich, wenn du glücklich bist) als auch Formen des Zwangs. Diese werden durch eben jene Sprache der Reziprozität ausgeübt und auch verschleiert, und zwar so, dass das Glücklichsein einer Person nicht nur vom Glücklichsein einer anderen Person abhängt, sondern auch von ihrem Willen dazu, von den gleichen Dingen glücklich gemacht zu werden. Das Glücklichsein kann einen immanenten Zwang mit sich bringen, eine Forderung nach Zustimmung. Gemeinhin versteht man unter Zwang eine äußere Kraft, die durch Drohungen, Einschüchterung oder die Ausübung von Druck den Gehorsam von Unterworfenen einfordert. Wenn wir an Zwang denken, denken wir möglicherweise daran, dass wir gezwungen werden, etwas 6

Anm. d. Ü.: Die im Folgenden zitierte Passage stammt aus der in der englischen Ausgabe von 1796 inkludierten Widmung für „M. Tallyrand Perigord, Late Bishop of Autun“. In der deutschen Übersetzung von Irmgard Hölscher von 1999 ist diese Widmung nicht enthalten; ergänzte Übersetzung von E.K. 65

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„gegen unseren Willen“ zu tun. Aber Zwang kann die Ausrichtung dieses Willens selbst formen, kann ihn zu einem Willen machen, der etwas auf die richtige Art will. Zwang kann die Bestätigung oder Ermutigung eines „Ja“ enthalten: „Ja, tu das“; „Ja, das ist eine gute Sache“; „Ja, das ist eine gute Art zu sein“; „Ja, das wird dich glücklich machen.“ Man wird bestätigt, weil man die richtigen Dinge ansprechend findet. Wenn uns Objekte gefallen, die glücklich machen sollen, werden wir dadurch auf Linie gebracht. Wir schauen in die richtige Richtung. Wenn uns allerdings die Nähe zu Objekten, denen zugeschrieben wird, dass sie gut sind, nicht gefällt, werden wir entfremdet. Die Lücke zwischen der affektiven Wertigkeit eines Objekts und dem, wie wir ein Objekt erfahren, kann eine Reihe von Affekten beinhalten. Diese werden wiederum von den Erklärungsmodi bestimmt, mit denen wir diese Lücke zu füllen suchen. Kommen wir wieder zum Beispiel vom Hochzeitstag, den wir schon als „den glücklichsten Tag unseres Lebens“ imaginieren, bevor er überhaupt stattfindet. Möglicherweise treffen wir sogar auf das, von dem antizipiert wird, dass es uns glücklich machen wird. Allerdings kann das „möglicherweise“ ein „Müssen“ verbergen: Um das Glück aller zu wahren, muss man auf die richtige Weise auf die richtigen Dinge stoßen. So funktioniert die Logik des Glücksversprechens: Sie tut mehr, als einfach nur zu versprechen. Dem vorgegebenen Pfad zum Glücklichsein zu folgen bedeutet, das Erbe zu übernehmen, das mit der Eliminierung des ‚hap‘, des Zufalls, einhergeht. Was passiert eigentlich, wenn das, was „geschehen muss“, auch wirklich geschieht? Können glückbringende Objekte halten, was sie versprechen? In Das gekaufte Herz untersucht Arlie Russell Hochschild die Gefühle der Braut am Tag ihrer Hochzeit: Wenn sie an diesem Tag nicht glücklich ist oder sich sogar „deprimiert und durcheinander“ fühlt, dann erlebt sie einen „unpassenden Affekt“ (Hochschild 2003: 59) oder wird unangemessen beeinflusst. Sie muss die Situation retten, indem sie die passenden Gefühle empfindet: „Trotz der Lücke zwischen dem idealen Gefühl und dem tatsächlichen Gefühl, das sie erduldet, zwingt die Braut sich selbst dazu, glücklich zu sein.“ (Hochschild 2003: 61) Es liegt an der Braut, die Situation zu retten, an ihrer Fähigkeit, einen angemessenen Affekt zu erleben oder zumindest andere davon zu überzeugen, dass sie diesen erlebt. Indem wir unsere Gefühle korrigieren, entfremden wir uns von einem anderen, zuvor erlebten Affekt: Die Braut macht sich selbst glücklich, indem sie sich vom Unglücklichsein abhält. Selbstverständlich lernen wir aus diesem Beispiel, dass es möglich ist, nicht vollständig im eigenen Glück aufzugehen oder sich sogar vom eigenen Glücklichsein zu entfremden. Dies geschieht, wenn das zuvor erlebte Gefühl noch lebendig ist oder wenn man sich unwohl fühlt, weil man 66

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sich anstrengen muss, um sich selbst in eine gewisse Stimmung zu versetzen. Das Unwohlsein kann selbst im Gefühl des Glücklichseins fortbestehen, als ein Unbehagen in Bezug auf das Glücksgefühl, das man empfindet. Es ist nicht immer möglich, die Lücke zu schließen zwischen dem Gefühl, das wir tatsächlich empfinden, und der Vorstellung, wie wir uns fühlen sollten. Die Wahrnehmung dieser Lücke kann ein Gefühl der Enttäuschung mit sich bringen, welche wiederum ein ängstliches Narrativ des Selbstzweifels (Warum macht mich das nicht glücklich? Was stimmt nicht mit mir?) oder der Wut nach sich ziehen kann, in dem wir dann das Objekt, das uns glücklich machen „sollte“ als Grund für diese Enttäuschung heranziehen. Unsere Wut richtet sich möglicherweise gegen das Objekt, dem es nicht gelungen ist zu halten, was es versprochen hat, oder sie schwappt vielleicht in Richtung derer über, die uns das Glück versprochen haben, indem sie manche Dinge zum ‚Guten‘ erhoben haben. In solchen Momenten werden wir zu Fremden, zu gefühlten Fremden. Die Feministin ist eine gefühlte Fremde, entfremdet vom Glücklichsein. Wir werden viel besser verstehen, wie negativ die Figur der feministischen Spaßverderberin gesehen wird, wenn wir sie durch die Linse der Geschichte des Glücklichseins betrachten, welche gleichzeitig auch die Geschichte der Assoziationen ist. Schon allein dadurch, dass sie sich als solche bezeichnen, werden Feministinnen als Zerstörerinnen von etwas angesehen, das andere nicht nur für ‚gut‘, sondern auch für den Grund zum Glücklichsein halten. Die spaßverderbende Feministin verdirbt anderen das Glücklichsein; sie ist eine Spaßverderberin, weil sie jegliches Konvenieren, Versammeln oder Treffen zum Thema ‚Glücklichsein‘ verweigert. Im sozialen Dickicht von Alltagsräumen gelten Feministinnen daher als diejenigen, die negative Gefühle hervorrufen, als diejenigen, die die Stimmung ruinieren, wodurch diese Stimmung (in Retrospekt) als etwas Gemeinsames imaginiert wird. Eine feministische Kollegin hat mir erzählt, dass sie in Besprechungen nur den Mund aufmachen muss, damit das Augenrollen losgeht, das besagt: „Und jetzt legt sie wieder los!“ Als feministische Tochter einer konventionellen Familie habe ich viel über Augenrollen gelernt. Ich kann mich daran erinnern, dass mir bei verschiedenen Gelegenheiten bei der Performanz der ‚guten Stimmung‘ unwohl war. Sagen wir zum Beispiel, wir sitzen beim Abendessen. Hier versammelt sich die Familie, macht höfliche Konversation, im Rahmen derer nur bestimmte Dinge zur Sprache gebracht werden dürfen. Jemand sagt etwas, das du problematisch findest. Du antwortest darauf, unter 67

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Umständen mit Vorsicht. Vielleicht sprichst du leise, vielleicht „regst du dich auf“, erkennst voller Frustration, dass du dich über jemanden aufregst, der oder die dich aufzieht. Die Gewalttätigkeit des Gesagten, die Gewalttätigkeit der Provokation bleibt unbemerkt. Lasst uns diese Figur der feministischen Spaßverderberin ernst nehmen. Verdirbt die Feministin anderen Leuten den Spaß, indem sie auf Sexismen hinweist? Oder enthüllt sie die negativen Gefühle, die hinter der öffentlichen Zurschaustellung von Spaß verborgen, von ihr verdrängt oder verleugnet werden? Dringen negative Gefühle in den Raum ein, sobald sie ihrem Ärger über gewisse Dinge Ausdruck verleiht? Oder bedeutet das Eindringen von Ärger einfach, dass die negativen Gefühle, die durch Objekte in Umlauf gebracht werden, auf bestimmte Weise zutage treten? Das anwesende feministische Subjekt verdirbt den anderen also die Stimmung, und zwar nicht nur deshalb, weil sie über unerfreuliche Themen wie Sexismus spricht, sondern auch, weil sie enthüllt, wie das Gefühl des Glücklichseins aufrechterhalten wird, nämlich durch die Auslöschung aller Anzeichen von Unstimmigkeiten. Feministinnen sind in einem bestimmten Sinn tatsächlich Spaßverderberinnen: Sie stören grundlegend die Phantasie, dass man das Glück an bestimmten Orten finden kann. Und eine Phantasie zu zerstören kann nach wie vor ein Gefühl zerstören. Es ist nicht nur so, dass Feministinnen möglicherweise von Objekten, die Glück verursachen sollen, einfach nicht positiv berührt werden, sondern dass dieses Nicht-Glücklichsein zudem als Sabotage des Glücks anderer verstanden wird. Feministinnen sind vielleicht die Fremden in der Tischgesellschaft des Glücks. Wir können uns nun der Beziehung zwischen der Negativität der Figur der feministischen Spaßverderberin und der Art, wie bestimmte Gruppen als negativ wahrgenommen werden, widmen. Marilyn Frye meint, dass von Unterdrückten oft zusätzlich verlangt wird, sich glücklich zu zeigen: „Eine Anforderung, die oft an unterdrückte Menschen gestellt wird, ist, dass wir lächeln und fröhlich sein sollen. Wenn wir sie erfüllen, geben wir zu erkennen, dass wir uns fügen und unsere Situation hinnehmen“ (Frye 1983: 2) Unterdrückt zu sein verpflichtet dazu, sich glücklich zu zeigen. Dies dient als Zeichen dafür, dass man sich angepasst hat oder angepasst wurde. Daraus resultiert für Frye, dass „uns nur die sonnigste Miene davor bewahrt, als gemein, bitter, wütend oder gefährlich wahrgenommen zu werden“ (Frye 1983: 2). Als Feministin erkannt zu werden bedeutet, einer schwierigen Kategorie und einer Kategorie der Schwierigkeit zugeordnet zu werden. Schon allein sich als Feministin zu bezeichnen heißt, als schwierig im Umgang wahrgenommen zu werden. Daher gilt es zu zeigen, dass eine nicht schwierig ist, und zwar, indem sie Zeichen des guten Willens und des Glücklichseins zur 68

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Schau trägt. Auf solche Erfahrungen spielt Frye an, wenn sie beschreibt, dass „dies im besten Fall bedeutet, dass es vorkommen kann, dass uns andere für ‚schwierig‘ halten oder befinden, dass die Zusammenarbeit mit uns nicht angenehm ist. Das wiederum kann uns unseren Lebensunterhalt kosten“ (Frye 1983: 2f.). Wir können auch beobachten, dass in das Unglücklichsein von Feministinnen ‚investiert‘ wird (der Mythos, dass Feministinnen Spaßverderberinnen sind, weil sie selber keinen Spaß haben und auch keinen verstehen). Viele sind versucht zu glauben, dass Frauen zu Feministinnen werden, weil sie unglücklich sind und sie versuchen, ihren Neid auf jene zu verdrängen, die das Glück erlangt haben, das sie selbst nicht erreichen konnten.7 Dadurch wird das Glücklichsein gegen feministische Kritik verteidigt. Dies soll nicht bedeuten, dass Feministinnen nicht unglücklich sind (was sie möglicherweise sind – oder auch nicht). Worauf ich hinaus will ist, dass Feministinnen als unglücklich wahrgenommen werden, und zwar so, dass Situationen, in denen es um Konflikte, Gewalt oder Macht geht, als Ausdruck des Unglücklichseins von Feministinnen gelesen werden anstatt als Ausdruck dessen, worüber sie unglücklich sind. Natürlich gelten manche Feministinnen mehr, manche weniger als solche, die Unglück verursachen. So können wir die Figur der spaßverderbenden Feministin neben die Figur der wütenden Schwarzen Frau stellen, welche Schriftstellerinnen wie Audre Lorde (1984b) und bell hooks (2000) so umfassend erforscht haben. Die wütende Schwarze Frau kann auch als Spaßverderberin beschrieben werden; sie kann sogar Feministinnen den Spaß verderben, indem sie zum Beispiel auf Rassismen innerhalb des feministischen Politikbegriffs hinweist. Manchmal muss sie nicht einmal das tun. Man kann schon dann zur gefühlten Fremden werden, wenn man auf die falsche Art von den richtigen Dingen berührt wird. So beschreibt zum Beispiel bell hooks: „So kann es etwa sein, dass eine Gruppe weißer Feministinnen, die sich vorher nicht gekannt haben, zusammenkommt, um über feministische Theorie zu diskutieren. Es kann sein, dass sie sich einander zugehörig fühlen, weil sie alle Frauen sind, aber die Stimmung ändert sich merklich, sobald

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Mit schöner Regelmäßigkeit diagnostiziert die Mainstream-Kultur, dass Feministinnen ihre Enttäuschung durch Politik sublimieren. Aus diesem Grund gibt es eine Verwandtschaft zwischen der Feministin und anderen Figuren (wie zum Beispiel der alten Jungfer oder der Lesbe), welche gleichsam die Gefahr der Enttäuschung verkörpern (von der angenommen wird, sie sei die angemessene affektive Konsequenz der Nicht-Erreichung heterosexuellen Glücks). Es ist absolut notwendig, dass wir die Diskussion über den Sexismus solcher Annahmen fortführen. 69

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eine Woman of Color8 den Raum betritt. Die weißen Frauen verkrampfen sich, sind nicht länger entspannt, nicht länger in Feierlaune“ (hooks 2000: 56). Es ist nicht nur so, dass alle angespannt sind. Vielmehr ist diese Anspannung an einer bestimmten Stelle verortet: Indem sie von manchen wahrgenommen wird, wird sie einer Verursacherin zugeschrieben, welche dadurch wiederum als abseits der Gruppe stehend gesehen wird, als Hindernis auf dem Weg zu organischem Vergnügen und Solidarität. Die Schwarze Frau gilt als Verursacherin der Anspannung, was wiederum bedeutet, dass das Gefühl der Gemeinsamkeit verloren geht. Dieses Gefühl kann entstehen, wenn es ein Einverständnis darüber gibt, wo die Anspannung zu lokalisieren ist. Als Feministin of Color muss man nicht einmal etwas sagen, um Anspannung hervorzurufen. Schon allein die Nähe zu manch anderen bringt eine affektive Konversion mit sich. Aus diesem Beispiel lernen wir, wie sich die Geschichte in dieser Nichtgreifbarkeit einer Stimmung verdichtet, beziehungsweise in der Greifbarkeit derer, die scheinbar im Weg stehen. Man wird zur gefühlten Fremden, weil man andere auf die falsche Art bewegt: Es genügt, in der Nähe zu sein, um den anderen bei ihrer Freude an den richtigen Dingen im Weg zu stehen, da man als Verkörperung einer unwillkommenen Erinnerung an verstörende Geschichte/n die Stimmung stört. Wenn man als Woman of Color über die eigene Wut spricht, so bestätigt man dadurch, dass man selbst diese Spannung verursacht hat. Lorde führt aus: „Wenn Women of Color über die Wut sprechen, die so viele unserer Kontakte mit weißen Frauen verbrämt, wird uns oft gesagt, dass wir ein ‚Gefühl von Hilflosigkeit erzeugen‘, ‚weiße Frauen daran hindern, über die Schuld hinwegzukommen‘, oder ‚vertrauensvoller Kommunikation und Aktion im Wege stehen‘“ (Lorde 1984b: 131). Die Woman of Color muss auf ihre Wut verzichten, damit die weiße Frau sich weiterentwickeln kann. Manche werden selbst zu Hindernissen, die keine reibungslose Kommunikation mehr zulassen; sie stören das Glücksversprechen, welches ich als den sozialen Druck beschreiben möchte, weiter so zu tun, als würden alle gut miteinander auskommen. Wenn das Aufzeigen von Gewalt zum Ursprung für Gewalt wird, dann wird die aufgezeigte Gewalt nicht offengelegt.

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Anm. d. Ü.: Die Formulierung „of Color“ (wie in „Feminist/Woman/ People of Color“; hier wurde analog zum Ausgangstext die amerikanische Schreibweise beibehalten) wird im Deutschen nicht übersetzt, weil eine Übersetzung den gemeinten Inhalten nicht entsprechen würde, die sich nicht nur auf Hautfarben beziehen, sondern auch auf andere, vielschichtigere Diskriminierungsmerkmale.

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Bewusstsein und Unglücklichsein Man könnte Bewusstseinsbildung als die Bildung eines Bewusstseins über das Unglücklichsein beschreiben. Gayle Green meint: „Denn obwohl Bildung bei Frauen höhere Erwartungen hervorrief, machte sie auch viele von ihnen unglücklich. Sie nährte Ambitionen, die von der rigiden Ideologie des ‚Trauten Heims‘, welche die Frauen wieder an den Herd zurückdrängte, enttäuscht wurden“ (Green 1991: 9). Tatsächlich kann es sein, dass uns durch das Wahrnehmen von Einschränkungen das eigene Leben viel enger erscheint. Wenn uns die Außenwelt nicht erlaubt, von den Möglichkeiten zu profitieren, die sich durch Bildung eröffnen, werden wir uns der Ungerechtigkeit solcher Einschränkungen nur noch stärker bewusst. Die eigene Welt zu vergrößern oder den eigenen Horizont zu erweitern kann daher auch bedeuten, sich immer mehr darüber bewusst zu werden, wie viel es gibt, worüber man unglücklich sein kann. Bewusstseinsbildung verwandelt unglückliche Hausfrauen nicht in glückliche Feministinnen, obwohl wir uns manchmal wünschen, dass genau dies der Fall wäre! Womit ich wieder zu Emil zurückkehren möchte: Es ist interessant, dass die Gefahr des Unglücklichseins mit einem Übermaß an weiblicher Neugierde assoziiert wird. An einer Stelle der Erzählung – den man als durchaus queer bezeichnen könnte – wird Sophie fehlgeleitet. Sie liest zu viele Bücher, wodurch ihre Vorstellungskraft und ihr Verlangen aktiviert werden, was dazu führt, dass sie „zerstreut, ungeduldig, traurig und verträumt“ wird und sich versteckt, „um zu weinen“ (Rouessau 1998: 440). Denn würde Sophies Phantasie zu sehr angeregt, würden wir unser Happy End nicht bekommen, das Sophies Heirat mit Emil zur Voraussetzung hat. Als Reaktion auf diese Bedrohung mit solch einem Unhappy End meint der Erzähler: „Geben wir also unserem Emil seine Sophie. Rufen wir also dieses liebenswürdige Mädchen wieder ins Leben zurück und geben wir ihm eine weniger lebhafte Phantasie und ein glücklicheres Los“ (Rousseau 1998: 443). Ins Leben zurückgerufen zu werden bedeutet in diesem Fall, auf den rechten Weg zurückzukehren. Vorstellungskraft ist das, was Frauen über die engen gesellschaftlichen Vorgaben für das Glücklichsein hinausschauen lässt, in Richtung eines anderen Schicksals. Indem es Sophie zu einer liebenswürdigen Frau ohne Vorstellungskraft macht, kann das Buch gut ausgehen. Feministische Leserinnen werden vielleicht diese Assoziation von Unglücklichsein mit der weiblichen Vorstellungskraft infrage stellen, weil dadurch Sophies Phantasie in der moralischen Ökonomie des Glücklichseins zu etwas Schlechtem wird. Wenn wir allerdings nicht innerhalb dieser Ökonomie operieren – soll heißen, wenn wir nicht davon 71

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ausgehen, dass Glücklichsein das ist, was gut ist – dann können wir diesen Zusammenhang zwischen weiblicher Vorstellungskraft und dem Unglücklichsein anders lesen. Wir können untersuchen, wie diese Vorstellungskraft es Frauen erlaubt, vom Glücklichsein und seinen engen Horizonten befreit zu werden. Wir sind in der Lage, Mädchen die Bücher lesen zu lassen, die sie befähigen, von Trauer überwältigt zu werden. Der Feminismus bringt politisches Bewusstsein darüber mit sich, was Frauen aufgeben sollen, um glücklich zu sein. Tatsächlich weigern sich Feministinnen bereits dadurch, dass sie sich des Glücklichseins als Verlust bewusst werden, Begehren, Vorstellungskraft und die Neugierde auf das Glück aufzugeben. Schon allein die Einsicht, was eine aufgegeben hat, kann traurig machen. Deshalb sind auch feministische Archive voll mit Hausfrauen, die sich bewusst werden, dass sie vom Gefühl des Unglücklichseins umgeben sind: Denken Sie an Virginia Woolfs Mrs. Dalloway. In der Welt des Romans herrscht mit Sicherheit dieses Gefühl, fast wie eine Verdichtung der Luft. Wir können fühlen, wie das Unglücklichsein alle alltäglichen Aufgaben förmlich durchdringt. Da ist sie, gerade dabei, Blumen zu kaufen, wie sie ihren Spaziergang durch London genießt. Im Zuge dieses Spaziergangs verschwindet sie: „Doch öfters kam ihr jetzt dieser Körper, mit dem sie umherging (sie blieb stehn, um ein Bild anzusehn, einen Niederländer), dieser Körper mit all seinen Fähigkeiten kam ihr vor wie nichts, überhaupt nichts. Sie hatte die ganz sonderbare Empfindung, unsichtbar zu sein; ungesehen; unerkannt; als gäbe es, da das Heiraten hinter ihr lag, und das Kinderkriegen, nur dieses erstaunliche und fast feierliche Weiterziehen mit allen den anderen, die Bond Street entlang; nur dieses Mrs. Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; nur dieses Mrs. Richard Dalloway-Sein.9“ (Woolf 1986: 14)

Dadurch, dass sie zu Mrs. Dalloway wird, verschwindet sie selbst; sie folgt den vorgegebenen Lebenspfaden (Heirat, Reproduktion) auf eine feierliche Art – so, als lebte sie das Leben einer anderen, den gleichen Weg gehend wie alle anderen. Auch wenn Glücklichsein bedeutet, dass wir im Leben bestimmte Stationen erreichen können, fühlen wir uns nicht notwendigerweise glücklich, wenn wir dort ankommen. Diese Stationen zu erreichen bedeutet für Mrs. Dalloway gleichzeitig zu verschwinden. Hinter dem Erreichen dieser Stationen scheint eine gewisse 9

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Anm. d. Ü.: Im englischen Sprachraum war (und ist es teilweise heute noch) traditionellerweise üblich, dass die Frau nach der Heirat auch mit dem Vornamen ihres Mannes angesprochen wurde und sich auch selbst damit bezeichnete.

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Art des Verschwindens zu stehen, ein Verlust von Möglichkeiten, ein gewisses Scheitern daran, die Kapazitäten des eigenen Körpers auszunützen, herauszufinden, wozu ihr Körper alles imstande ist. Sich darüber bewusst zu werden, welche Möglichkeiten es gibt, kann gleichzeitig dazu führen, dass man deren Verlust betrauert. Im Falle von Clarissa dringt allerdings dieses ziemlich unheimliche Gefühl, dass die Mrs.-Dalloway-Werdung gleichzeitig den Verlust von Möglichkeiten, die Umkehrung von Werden, das „überhaupt nichts“Sein bedeutet, nicht als Gefühl von Traurigkeit über etwas in ihr Bewusstsein ein.10 Das Traurige an dem Buch – und es ist ein trauriges Buch – wird nicht aus der Sicht von Clarissa ausgedrückt. Stattdessen nimmt jeder Satz des Buches Gedanken und Gefühle auf, als wären sie Objekte in einer gemeinsamen Welt: die Straßen Londons, die schiere Seltsamkeit dessen, an anderen vorbeizugehen, ein Gefühl für diese Seltsamkeit. Ungeplant mit anderen Menschen zusammenzutreffen kann ein Gefühl der Zufälligkeit mit sich bringen, als würde das ‚ZusammenFallen‘ zur selben Zeit am selben Ort bedeuten, dass man auch eine Verbindung zu diesen Menschen hat. Als Clarissa mit ihrem Vorhaben das Haus verlässt (sie muss für ihre Party Blumen kaufen), betritt sie eine Welt voll mit anderen Menschen. Diese sind zwar möglicherweise alle in ihrer eigenen Welt (mit ihren eigenen Vorhaben und Aufgaben, mit ihren eigenen Erinnerungen), teilen aber trotzdem die Welt der Straße, wenn auch nur für einen Moment, einen flüchtigen Moment, einen Moment, der flieht. Wenn das Unglücklichsein einen kollektiven Eindruck hervorbringt, dann besteht es selbst auch aus Fragmenten, die nur lose mit verschiedenen Sichtweisen verbunden sind. Besonders die Nähe zwischen Mrs. Dalloway und einer Figur namens Septimus erlaubt es den beiden, zwar nicht ihre Gefühle, aber das Unglücklichsein miteinander zu teilen. Dies sind zwei Charaktere, die sich zwar nicht kennen, aber aneinander vor-

10 Mrs. Dalloways Stream of Consciousness [„Bewusstseinsstrom“, Erzähltechnik des modernen Romans, Anm. d. Ü.] tritt als Bewusstsein über den Tod zutage: „Machte es dann etwas aus, fragte sie sich, zur Bond Street gehend, machte es etwas aus, daß sie einmal unaufhörlich aufhören würde zu sein? Daß dies alles ohne sie weiterginge; bedauerte sie das? Oder war es nicht eher ein tröstlicher Gedanke zu glauben, daß der Tod das absolute Ende bedeutete?“ (Woolf 1989: 12). Hier biete ich meinen eigenen Blickwinkel an, indem ich das Bewusstsein über den Tod mit dem Bewusstsein über Gender assoziiere: deshalb muss Clarissa, indem sie zu Mrs. Dalloway und zu Mrs. Richard Dalloway wird, „einmal unaufhörlich aufhören zu sein“. Feministische Geschichtsdarstellungen zeigen uns, dass die Einhaltung der vorgegebenen Lebenspfade für Frauen ein Ende voraussetzt. 73

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beigehen, deren Welten aber dennoch durch genau denselben Ruck des Unglücklichseins miteinander verbunden sind. Wir bekommen einen unmittelbaren, schockierenden Eindruck davon, wie das Leid einer Person in den Lebenswelten anderer Wellen schlagen kann. Septimus leidet an einer Kriegsneurose, und wir fühlen seine Gefühle, die Panik und die Traurigkeit, wenn der Schrecken des Krieges ihn in seiner Erinnerung wieder einholt. Sein Leid überführt die Vergangenheit in die Gegenwart, die lange Zeit des Krieges, wie sie in den Körpern der Betroffenen fortwirkt, wie sie sich weigert, ein Danach zuzulassen. Und dann beobachten wir Septimus aus der Ferne, von wo er wie ein Verrückter wirkt, am Rande des sozial Akzeptablen, ein unangenehmer Anblick. Wenn man ihn auf der Straße trifft, kennt man seine Leidensgeschichte nicht. Dem Leiden nahe zu sein bringt uns das Leiden nicht notwendigerweise näher. Obwohl sie sich nie kennenlernen, erlangen Clarissa und Septimus eine eigenartige Vertrautheit: das nicht-nur-private Leid der Hausfrau, und das nicht-ganz-öffentliche Leid des Kriegsveteranen sind miteinander verwoben. Wichtig ist, dass ihre Traurigkeit zwar unmittelbar, aber nicht ansteckend ist. Sie stecken sich nicht an der Traurigkeit der/des anderen an; durch ihre Traurigkeit bleiben Geschichten am Leben, die nicht geteilt werden, nicht geteilt werden können, sogar, wenn sie einander auf der Straße begegnen. Und trotzdem wird etwas geteilt, vielleicht das, was nicht einfach so offengelegt werden kann. Als sie im Bus sitzt, denkt Clarissa über ihre „sonderbaren Verwandtschaften“ mit Fremden nach, „mit denen sie nie gesprochen“, und darüber, ob der „unsichtbare Teil von uns“ ein Anknüpfungspunkt zu anderen sein könnte oder gar das, wie wir durch andere überleben, oder, wie sie sinniert, „vielleicht – vielleicht“ (Woolf 1986, 187-188). Zum Großteil handelt das Buch von einem Ereignis, das erst passieren wird. Denn Mrs. Dalloway plant eine Party. Manche feministische Leserinnen finden das Buch genau deshalb enttäuschend, weil sie sich so intensiv mit dem Fest beschäftigt und sich so sehr in dessen Planung vertieft. Für Simone de Beauvoir ist Mrs. Dalloways Freude an Partys ein Zeichen, dass diese versucht, ihr „Gefängnis in ein Königreich“ (Beauvoir 1999: 551) zu verwandeln, so, als wäre sie als Gastgeberin fähig, „für das Glück [aller] zu sorgen“ (Beauvoir 1999: 550). Für Beauvoir wird das Geschenk solch eines Festes schnell zur Pflicht, durch die sich Mrs. Dalloways „überströmende Lebensenergie“, von der sie angetrieben wird, „mangels Objekt leerläuft“ (Beauvoir 1999: 559). Für Kate Millett ist Mrs. Dalloway eine ziemlich enttäuschende Figur; sie kritisiert, dass Woolf ihr eigenes Unglücklichsein nie in Politik verwandelte: „Virginia Woolf verherrlichte zwei Hausfrauen, Mrs. Dallo74

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way und Mrs. Ramsay; sie schrieb in The Waves über das selbstmörderische Elend von Rhoda, ohne je die Ursachen dafür zu erklären“ (Millett 1982: 189). Wenn das Fest Mrs. Dalloway von den Gründen für ihr Unglücklichsein ablenkt (und wir können der Notwendigkeit, sich abzulenken, durchaus etwas Verständnis entgegenbringen), dann ist es auch das Ereignis, wo das Unglücklichsein zum Leben erwacht. Für Mrs. Dalloway ist ihre Party das Leben; so bringt sie Dinge zustande; es ist ein Geschenk, ein Ereignis (Woolf 1986: 151). Was ereignet sich? Dass diese Frage eine Frage ist stellt eine Wahrung dieses Geschenks dar. Und tatsächlich passiert etwas. Denn im Zuge der Party berührt Septimus’ Leben Mrs. Dalloway am direktesten. Es berührt sie durch den Tod: „Was fiel den Bradshaws nur ein, vom Tod zu reden auf ihrer Gesellschaft? Ein junger Mann hatte sich umgebracht [...]. Er hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Der Boden war heraufgerast gekommen; in ihn, den jungen Mann, bohrten sich blindlings, brutal die rostigen Geländerspitzen. Da lag er, ein dumpfes Hämmern im Hirn, und ein Ersticken in Schwärze. So sah sie es. Aber warum hatte er es getan? Und die Bradshaws redeten davon auf ihrer Gesellschaft! Sie hatte einmal einen Schilling in den Serpentine-Teich geworfen; nie mehr als das. Aber er hatte es weggeworfen. Sie alle lebten weiter (sie würde zurückgehn müssen; die Zimmer waren noch immer gedrängt voll; noch immer kamen Leute). Sie alle (den ganzen Tag hatte sie an Burton gedacht, an Peter, an Sally) würden alt werden. Es gab etwas, worauf es ankam; etwas in ihrem eigenen Leben von Geschwätz Umwuchertes, Entstelltes, Verdunkeltes, täglich in Verderbtheit, Lügen, Fallengelassenes.“ (Woolf 1986: 226-227) Der Tod von Septimus wird zu einer Frage, die Mrs. Dalloway von der Party wegführt; sie beachtet seinen Tod, denkt darüber nach; sie wird zu einer Zeugin in Retrospekt, obwohl sie nicht dabei war und auch gar nicht dabei sein hätte können. Sein Tod wird gegenständlich, wird durch ihre Gedanken zu Fleisch. Sein Tod verkündet nicht nur, dass Traurigkeit unerträglich sein kann, sondern auch, dass wir sie nicht ertragen müssen, dass wir sie wegwerfen können. An dem Moment, wo der Tod in das Leben der Party eindringt, wird das Leben zu Geschwätz, zu dem, was weitergeht – „sie lebten weiter“ – was kommt und geht – „noch immer kamen Leute“. Genau an diesem Moment, dem Moment des Nachdenkens über das Schicksal eines Fremden, von jemandem, den sie nicht kennt und niemals kennen wird, wird sich Mrs. Dalloway eines Verlusts bewusst, wird sich bewusst, etwas verloren zu haben. Der Verlust ist nicht unbedingt ihrer, sondern das, was verloren geht, wenn das Leben zu Geschwätz wird. 75

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Was an Mrs. Dalloway auffällt ist, dass das Leid von den Rändern her in ihr Bewusstsein eindringen muss, durch die Ankunft eines anderen, eines Eindringlings, der eigentlich gar nicht eingeladen war. Es ist das Leid eines Eindringlings, das zeigt, wie leer dieses Geschwätz im Leben ist. Das Leid kommt nicht als Selbst-Bewusstsein – als Bewusstsein über das eigene Leid – sondern als eine Erhöhung des Bewusstseins, eines Welt-Bewusstseins, in dem das Leid derer, die nicht dazugehören, die Stimmung stören darf. Sogar wenn Unglücklichsein ein bekanntes Gefühl ist, kommt es wie ein Fremder, der das Bekannte stört beziehungsweise der aufzeigt, was am Bekannten verstörend ist. Das Leid, das vom Rand des sozialen Bewusstseins her eindringt, lehrt uns, wie schwierig es ist, sich des Leidens bewusst zu werden. Es kann uns auch zeigen, wie wir uns dagegen wehren, diese scheinbar kleinen, unangenehmen Gefühle wie Verlust oder Unzufriedenheit aufzunehmen und dadurch den Zustand des Unglücklichseins zu erkennen. Mrs. Dalloways Party zeigt das Bedürfnis, sich zu beschäftigen, weiterzumachen im Angesicht des eigenen Verschwindens. So viel Traurigkeit, die in diesem Bedürfnis nach Beschäftigung steckt! So viel Trauer, die sich in der Notwenigkeit ausdrückt, sich nicht von der Trauer überwältigen zu lassen! Es ist schon harte Arbeit, Traurigkeit und Enttäuschung nur zu erkennen, wenn man ein Leben lebt, das glücklich sein sollte, es aber einfach nicht ist, das erfüllt sein sollte, sich aber leer anfühlt. Es ist schwierig, die Vorstellung über das eigene Leben aufzugeben, wenn man ein Leben lebt, das dieser Vorstellung entspricht. Wir können sagen, dass der Feminismus das Erbe der Traurigkeit darstellt, die entsteht, wenn man sich nicht nur über die geschlechtsspezifischen Einschränkungen der Möglichkeiten bewusst wird, sondern auch darüber, dass diese Einschränkungen nicht nötig waren. Der Feminismus bringt eine Vergesellschaftung des Unglücklichseins mit sich, und zwar nicht nur deswegen, weil er die kollektive Natur des Leids ins Gespräch bringt, das sich hinter der Figur der glücklichen Hausfrau verbirgt und von ihr reproduziert wird (was vielleicht eine Beschreibung von Bewusstseinsbildung sein könnte), sondern auch, weil er Bücher in Umlauf bringt. Der Feminismus stellt nicht einfach nur Zusammenhänge aus dem Vermächtnis von Büchern wie Mrs. Dalloway her, welche durch ihre Erforschung des Themas ‚Geschlecht als Verlust‘ neue Sichtweisen auf die Welt anbieten. Denn durch die Annahme, feministisches Bewusstsein bedeute, Geschlecht einzig als Einschränkung von Möglichkeiten wahrzunehmen, würden wir andere Arten politischen Bewusstseins von unserer Vorstellung von Feminismus ausschließen.

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Ich möchte mir Bewusstsein als das ‚Un‘ in Unglück denken, als Bewusst-Sein über das Nicht-Sein. Dieses Bewusst-Sein über das ‚Un‘ oder das Nicht-Sein kann auch ein Bewusstsein darüber sein, dass man bereits vom Glücklichsein entfremdet ist, weil einer die zum Glücklichsein erforderlichen Eigenschaften oder Attribute fehlen. Nicht glücklich zu sein bedeutet, in den Augen der anderen nicht zu sein, in dieser Welt der Weißen, die Zusammenhänge rund um die richtigen Körper, nämlich um weiße Körper, herstellt. Bewusstsein über das Nicht-Sein geht mit der Entfremdung von sich selbst einher; man erkennt sich selbst als die Fremde. Beachten Sie hier, dass diese Selbstentfremdung bereits existiert, wenn Sie die Person sind, deren Ankunft die Stimmung stört. Lorde zeigt auf dramatische Art, wie diese Bewusstwerdung über das eigene Fremdsein dazu führt, dass scheinbar zufällige Vorfälle in Retrospekt als Rassismen erkannt und auch so benannt werden: „Die Stimmung auf der Straße war sehr angespannt, wie immer in ethnisch gemischten Übergangsgebieten. Ich kann mich erinnern, dass ich als sehr kleines Mädchen vor einem bestimmten Geräusch zurückgeschreckt bin: vor einem heiseren, scharfen, kehligen Räuspern. Denn dies bedeutete oft, dass nur einen Moment später ein ekliger Batzen grauer Spucke auf meinem Mantel oder meinem Schuh landen würde. Meine Mutter wischte ihn dann sofort mit den kleinen Stücken Zeitungspapier weg, die sie immer in ihrer Handtasche hatte. Manchmal regte sie sich über diese Proleten auf, die aus Mangel an Verstand oder Kinderstube in den Wind spuckten, egal, wo sie waren. Dies gab mir damals den Eindruck, dass diese Erniedrigung komplett zufällig war. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, an dem, was sie sagte, zu zweifeln. Erst Jahre später meinte ich einmal in einen Gespräch zu ihr: ‚Ist dir aufgefallen, dass die Leute heutzutage nicht mehr so oft in den Wind spucken wie früher?‘ Und der Gesichtsausdruck meiner Mutter verriet mir, dass ich in einen von diesen geheimen Orten voller Schmerz hineingetappt war, über die man niemals wieder sprechen darf. Aber es war so typisch für meine Mutter, früher, als ich noch klein war: Wenn sie schon die Weißen nicht davon abhalten konnte, ihre Kinder zu bespucken, weil sie Schwarz waren, so würde sie einfach drauf bestehen, dass es etwas ganz anderes war.“ (Lorde 1984a: 17–18)

Etwas passiert. Und es passiert wieder. Die Gewalt geht von weißen Körpern aus und richtet sich gegen das Schwarze Kind, das vor der Gewalt zurückschreckt, zurückschreckt vor ihrem Klang. Aber die Mutter erträgt es nicht, von Rassismus zu sprechen und erweckt den Eindruck, dass die Erniedrigung zufällig geschieht. Rassismus ist ein Schmerz, der schwer zu ertragen ist. Bewusstsein über Rassismus wird retrospektiv, und die Frage nach dem Zeitpunkt ist wichtig. Man lernt, Rassismus 77

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nicht als eine Art zu sehen, den Schmerz zu ertragen. Um Rassismus zu sehen, muss man aufhören, die Welt so zu sehen, wie man es gelernt hat, die Welt, die das Unglücklichsein zudeckt, indem sie den Grund dafür zudeckt. Man muss gewillt sein, sich an geheime Orte des Schmerzes vorzuwagen. Manche versuchen, vor dem Schmerz in Deckung zu gehen, die Ursachen für den Schmerz nicht zu benennen, in der Hoffnung, dass er vorübergehen wird. Dies soll die Menschen, die man liebt, und sogar eine selbst davor bewahren, verletzt zu werden – oder es ist zumindest so gedacht. Das Glücklichsein kann genauso dazu dienen, die Ursachen für Verletzungen zu verdecken – oder sogar dazu, Menschen zum Grund für ihre eigene Verletzung zu machen. In ihrem Krebstagebuch Auf Leben und Tod kritisiert Lorde die Politik des Glücklichseins aufs heftigste. Sie schreibt als Schwarze lesbische Feministin, die Brustkrebs hat. Lorde lehnt niemals die Macht ab, „als“ zu schreiben, und nimmt auch nicht an, dass dies eine Erfahrung verkürzen könnte. Angesichts eines medizinisches Diskurses, der Krebs dem Unglücklichsein zuschreibt und das Überleben oder Damit-Zurechtkommen dem Glücklich- oder Optimistisch-Sein, meint sie, dass „‚[d]ie Sonnenseite des Lebens sehen‘ ein Euphemismus [ist], der genauso wie oberflächliche Spiritualität dazu dient, gewisse Realitäten zu verschleiern, deren unverhohlene Betrachtung sich als bedrohlich oder gefährlich für den Status quo erweisen könnte“ (Lorde 1984: 95). Die Freiheit zum Glücklichsein kann als Freiheit zur Vermeidung von Nähe zu allem, was dem eigenen Glück schadet, verstanden werden. Allein schon die Idee, dass wir zuallererst für unser eigenes Glück verantwortlich sind, erlaubt uns, wegzuschauen: „Habe ich wirklich die Ausbreitung [von, sic] radioaktiver Energie, Rassismus, Frauenschlächterei, chemischer Nahrungsvergiftung, Umweltverschmutzung, Mißbrauch und seelischer Zerstörung unserer Kinder bekämpft, nur um meiner dringendsten und vornehmsten Verantwortung auszuweichen: glücklich zu sein?“ (Lorde 1984: 96). Ich denke, dass Lorde uns die Antwort auf ihre eigene Frage schon gegeben hat. Indem wir Glücksbehauptungen kritisieren, können wir ein Modell falschen Bewusstseins aufspüren. Man würde nicht sagen: „Du hast unrecht; du bist nicht glücklich; du denkst nur, dass du es bist, weil du etwas Falsches glaubst.“ Vielmehr würde man sagen, dass etwas an unserem Bewusstsein über die Welt nicht stimmt: Wir lernen, nicht bewusst zu sein; wir lernen, nicht zu sehen, was direkt vor unserer Nase passiert. Es ist nicht so, dass eine einzelne Person an falschem Bewusstsein leidet, sondern wir erben ein gewisses falsches Bewusstsein, wenn wir ler-

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nen, Dinge auf gewisse Art und Weise zu sehen – oder auch nicht zu sehen. Diversity11 kann zum Beispiel so eine glückbringende Form falschen Bewusstseins sein. Einer meiner Beweggründe, warum ich mich entschieden habe, über das Glücklichsein zu schreiben, entstand aus einem Projekt über Diversity, das ich durchführte und im Zuge dessen ich Diversity Workers an zwanzig Universitäten in Australien und Großbritannien interviewte. Ich befragte sie zu ihrem Umgang mit den Diktionen von Diversity. Viele PraktikerInnen waren skeptisch, was die Anziehungskraft dieses Begriffes anbelangte, wie das folgende Zitat zeigt: „Jetzt reden wir also über Diversity, und das bedeutet, dass alle unterschiedlich, aber gleich sind, und das ist alles nett und kuschelig, und wir können uns gut dabei fühlen und meinen, dass wir es gelöst haben, obwohl wir eigentlich total weit davon entfernt sind, es zu lösen, und ich denke, dass Diversity als Konzept viel besser zur Vorstellung der Universität darüber passt, was sie als große Wohltäterin nicht alles tut.“12 Der Stolz auf Diversity wird zu einem Ausdruck des Stolzes auf die eigene Organisation. Zu sagen „wir sind divers“ erlaubt es, Rassismus und Ungleichheiten innerhalb der Organisation zu verbergen. Eine andere Praktikerin beschreibt dies so: „Diversity verschleiert die Probleme. [...] Es ist wie ein glänzender roter Apfel, ok, und alles sieht wunderbar aus [...] [aber] wenn man den Apfel anschneidet, sieht man, dass er im Inneren faul ist, und man weiß, dass alles eigentlich vor sich hin fault und nichts wirklich angesprochen wird. Es sieht alles wunderbar aus, aber die Ungleichheiten werden nicht angesprochen.“ Das Auftauchen von People of Color in weißen Organisationen schließt also auch eine Verpflichtung zum Glücklichsein ein: Wir müssen ihr Engagement für Diversity verkörpern, indem wir aus ihren Broschüren herauslächeln.

11 Anm. d. Ü.: Da sich „Diversity“ in diesem Zusammenhang auf das Konzept des Diversity Management bezieht, welches über „Diversität“ hinausgeht, wurde in diesem Zusammenhang der englische Begriff beibehalten. 12 Die Interviews fanden im Zeitraum zwischen 2003 und 2005 an australischen und britischen Universitäten statt. Sie waren Teil eines größeren Projekts, welches die Einbeziehung des Diversity-Prinzips in den Bildungs- und Skills-Sektor (inklusive der Bereiche Erwachsenenbildung, soziales Lernen und Weiterbildung) sowie in der Hochschulbildung beurteilte. Die Befragten wollten anonym bleiben; aus diesem Grund werden ihre Namen hier nicht angeführt. Ich leitete dieses Projekt zusammen mit Elaine Swan; das ForscherInnenteam bestand aus Shona Hunter, Sevgi Kilic und Lewis Turner. Für einen Artikel über die detaillierten Ergebnisse siehe Ahmed (2007). 79

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Doch diese Verpflichtung zum Glücklichsein verpflichtet gleichzeitig, quasi im Negativ, dazu, im Moment nicht über Rassismus zu sprechen. Aus diesem Projekt habe ich gelernt, dass die Organisationen, die stolz auf ihre Diversity-Politik sind, oft auch jene sind, die sich am stärksten dagegen wehren, Rassismus wahrzunehmen. Es ist so, als würden negative Gefühle in die Organisationen hineintragen, wenn über Rassismus gesprochen wird; so, als würde dadurch die Idealvorstellung der Organisation von sich selbst als ‚Diversity-Champion‘ verletzt. Wir machen sie unglücklich, indem wir die Gründe für das Unglücklichsein offenlegen. Und möglicherweise werden wir zum Grund für das Unglücklichsein, das wir enthüllen. Und dies kann sicherlich auch uns selbst unangenehm berühren. Es heißt oft, gegen Rassismus zu kämpfen sei wie mit dem Kopf gegen eine Wand zu rennen. Die Wand bleibt, wo und wie sie ist, und die einzigen, die wund werden, sind wir selbst. Gegen Rassismus anzukämpfen bedeutet die Bereitschaft, den Finger immer wieder auf die Wunde zu legen. Wir müssen uns nicht nur immer wieder mit diesen Themen abmühen, die wunde Punkte berühren, sondern es kann sogar sein, dass wir selbst so wund bleiben müssen wie die Punkte, um die es geht. Damit ist es natürlich nicht gesagt oder getan. Zusätzlich können wir sowohl unsere Schuldlosigkeit an dem uns zugeschriebenen Unglück erkennen als auch die Auswirkungen, die diese Schuldzuweisungen auf uns haben. Wir können darüber reden, dass wir wütende Schwarze Frauen oder feministische Spaßverderberinnen sind; wir können uns diese Figuren wieder zu eigen machen; wir können uns über die Gespräche austauschen, die wir beim Abendessen oder in Seminaren oder in Besprechungen geführt haben; wir können lachen, wenn wir erkennen, wie vertraut dies alles ist. Das Erkennen unserer Entfremdung vom Glücklichsein erzeugt Solidarität, sogar, wenn wir nicht alle in der selben Situation sind (was wir nicht sind). Es kann Spaß machen, anderen den Spaß zu verderben. Und wir müssen ihnen den Spaß verderben, und wir tun es auch. Indem wir unsere Entfremdung vom Glücklichsein miteinander teilen, haben wir auch die Möglichkeit zu akzeptieren, dass wir über die Freiheit verfügen, unglücklich zu sein. Wir können sogar bis zu einem gewissen Grad „wretches“, „elende, unglückliche oder glücklose Personen“, sein. Ich meine damit nicht, dass Feministinnen sich elend fühlen sollten oder müssen. Es ist wichtig zu vermeiden, dass Gefühle, die unerträglich werden können, zur Verpflichtung werden. Wir können vielleicht sogar in Retrospekt die Freiheit, unglücklich zu sein, für uns in Anspruch nehmen als die Freiheit, von den Wegen zum Glücklichsein abzuweichen, welche Shulamith Firestone in The Dialectic of Sex so hervorragend als „die enge, schwerzufindende Gasse menschlicher Er80

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fahrung“ (Firestone 1970: 155) beschreibt. Wir können die Freiheit zum Unglücklichsein als jene Freiheit für uns beanspruchen, durch Akte der Deviation Unglück zu verursachen. Firestone selbst stellte sich ein „Lächel-Embargo“ als „Traumaktion“ zur Befreiung der Frauen vor (Firestone 1970: 20): Sie wollte, dass wir aufhören zu lächeln, weil sie hoffte, dass dies uns ermöglichen würde, ein Leben zu führen, für das es wert wäre zu lächeln. Wie viele Feministinnen der Zweiten Frauenbewegung weigerte sie sich, angepasst zu sein, sich um der Bequemlichkeit willen an die Welt anzupassen. Vielleicht haben wir einige jener Möglichkeiten geerbt, die diese Frauen dafür aufgegeben haben. Ich sage nicht, dass es nötig ist, unglücklich zu sein. Vielmehr meine ich, dass Unglücklichsein immer eine Möglichkeit darstellt. Dadurch werden sowohl das Unglücklichsein als auch sich bietende Möglichkeiten aus der Notwendigkeit, glücklich zu sein, ausgeschlossen. Wenn wir das Glücklichsein als Möglichkeit neu überdenken, wenn wir die Last, die Glücklichsein darstellt, leichter machen, dann können wir die Dinge neu erschließen. Im Film The Hours (2002) beschreibt dies Clarissa, die Figur, die sowohl die Traurigkeit als auch den Namen von Mrs. Dalloway geerbt hat, so: „Ich erinnere mich an einen bestimmten Morgen. Ich war schon früh wach. Und es war so ungeheuer Vieles möglich. Kennst du dieses Gefühl? Und ich weiß noch, ich dachte so bei mir: ‚Also so ist es, wenn das Glücklichsein beginnt. So fängt es an. Und natürlich kommt noch viel mehr.‘ Eins hätt’ ich niemals gedacht. Das war nicht der Anfang. Es war das wahre Glück. Das war der Moment. Dieser eine.“ Glücklichsein wird hier als Wahrnehmen von Möglichkeiten dargestellt. Wird das Glücklichsein aber zu etwas, das erwartet wird, wird dieses Gefühl, dass Vieles möglich ist, ausgelöscht. Wenn Glücklichsein nicht etwas ist, das wir uns gegenseitig versprechen, nicht etwas ist, von dem wir meinen, dass es uns zusteht oder dass wir verpflichtet sind, es zu sein, nicht etwas ist, von dem wir annehmen, dass es sich anhäufen wird, wenn wir alles richtig machen, dann können andere Dinge geschehen. Zufälle werden möglich. Politische Bewegungen sind für mich mittlerweile weniger „happiness movements“, Bewegungen zum Glücklichsein, als vielmehr „hap movements“, Zufalls-Bewegungen. Es geht nicht darum, dass die Unglücklichen glücklich werden. Wie ich schon angedeutet habe, bringen revolutionäre Formen des politischen Bewusstseins auch die Bildung eines Bewusstseins darüber mit sich, worüber wir unglücklich sein können. Dies bedeutet aber nicht, dass das Unglücklichsein zur Hauptsache unserer Politik wird. Indem wir uns weigern, uns vom Glücklichsein ein81

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schränken zu lassen, können wir andere Möglichkeiten, wie wir sein können, wie wir möglicherweise sein könnten, erschließen. Das englische Wort ‚perhaps‘ (vielleicht) teilt sein ‚hap‘ (Zufall) mit ‚happiness‘. Der Weg führt von ‚perhaps‘ zu ‚wretch‘, wenn wir an einem bestimmten Punkt abzweigen. Eine mögliche Definition von „wretch“ ist „eine arme, glücklose Person“. Ich würde sagen, dass jene, die als „wretches“ in die Geschichte des Glücklichseins eindringen, viel eher „hapful“ als „hapless“ sind, also eher voll des glücklichen Zufalls als unglücklich oder unglückselig. Von den Pfaden des Glücklichseins abzuweichen bedeutet auch, sich zu weigern, die Auslöschung des „hap“, des Zufalls, von anderen zu übernehmen. Gefühlte Fremde, also jene, die vom Glücklichsein entfremdet sind, sind kreativ: Wir wollen nicht nur die falschen Dinge und begrüßen Möglichkeiten, die wir gebeten wurden aufzugeben, sondern wir erschaffen auch noch Lebenswelten rund um dieses Wollen. Denn obwohl wir vielleicht auf der Freiheit zum Unglücklichsein bestehen, wollen wir das Glücklichsein trotzdem nicht hinter uns lassen. Unser Ziel ist es, ‚hap‘ wieder zu einem Teil von ‚happiness‘ werden zu lassen.

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In der Übersetzung zitierte Literatur [Alle hier nicht angeführten Quellen übersetzt von E.K.] Aristoteles (1985): Nicomachische Ethik. Günther Bien (Hg.). Philosophische Bibliothek Band 5. Übersetzung von Eugen Rolfes, Hamburg. Beauvoir, Simone de (1999): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (orig. 1949). Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Reinbeck bei Hamburg. Friedan, Betty (1970): Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau. Ein Emanzipationskonzept (orig. 1965). Übersetzung von Margaret Carroux, Reinbeck bei Hamburg. Kant, Immanuel (1990): Kritik der praktischen Vernunft (orig. 1788). Hg. von Karl Vorländer, Hamburg. Kant, Immanuel (2007): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (orig. 1786). Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano, Frankfurt/Main. Locke, John (2006): Ein Versuch über den menschlichen Verstand (1894). Philosophische Bibliothek Band 75. Übersetzung von Carl Winckler, Hamburg. Lorde, Audre (1984): Auf Leben und Tod. Krebstagebuch (1980). Übersetzung von Renate Stendhal, Berlin. Millett, Kate (1982): Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft (orig. 1969). Übersetzung von Ernestine Schlant, Köln. Nietzsche, Friedrich (1964): Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche (Hg.). Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Band IX, Stuttgart. Rousseau, Jean-Jacques (1998): Emil oder Über die Erziehung (orig. 1762). Übersetzung von L.S. Paderborn, München. Scheler, Max (1999): Wesen und Formen der Sympathie (orig. 1912). Manfred S. Frings (Hg.), Bonn. Woolf, Virginia (1986): Mrs. Dalloway (orig. 1925). Übersetzung von Herbert E. und Marlys Herlitschka, Frankfurt/Main.

Zusätzliche Quellen The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit (2002): Film, Regie von Stephen Daldry. Übersetzung von VICOMEDIA, Fuldatal. Hollywood, CA: Paramount. 84

Weiblic hk eit und (Vor-)Sorge tra ge n: Wechse lw irkunge n zw ischen Frauen- und Krankheitsbildern GERLINDE MAUERER „Your silence will not protect you.“ Audre Lorde (1984)

(Vor-)Sorge zu tragen für Nahrung, Kleidung und Schutz korrespondiert in besonderer Weise mit dem weiblichen Rollenbild. Selbst in einer Epoche, in der ein Gebundensein an zyklische jahreszeitliche Verläufe für produktive Vorgänge und Tätigkeiten nicht mehr wesentlich und prägend ist, zählt es in hohem Maße zur Aufgabe von Frauen, zu nähren, zu bekleiden, zu schützen und zu behüten (vgl. Ehrenreich/English 1980). Zugleich fallen diese Aufgaben im Zeitalter industrieller Fertigungen einer Abwertung anheim. Im Hinblick darauf, dass Frauen in einem hohen Prozentsatz in den Bereichen Kinderversorgung, Pflege, Gesundheit, in der Textilbranche sowie generell im Handel tätig sind, trifft sie ein dadurch ausgelöstes „weibliches Schicksal“ in doppelter Weise: Sowohl reproduktive Tätigkeiten als auch die Tätigkeit in industriellen Branchen, welche traditionelle weibliche Fertigkeiten und Fähigkeiten übernehmen, sind ökonomisch nicht einträglich genug, werden abgewertet, und/oder der Sphäre des Privatraums zugeordnet.1 Dies wird in rationale Kalkulationen aufgenommen, wie folgendes Zitat historisch drastisch belegt:

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Eine Vielzahl weiblicher Heim-, Teilzeitarbeitsplätze und prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist die Folge dieser Verschränkungen (vgl. Stelzer-Orthofer et al 2008). 85

GERLINDE MAUERER

„Für viele Frauen war die einzige Möglichkeit, sich das lebensnotwendige Existenzminimum zu verschaffen, Prostitution, die vor allem in größeren Städten blühte und als Nebenerwerbstätigkeit bei der Kalkulation weiblicher Industrielöhne sogar explizit mitberechnet wurde. Beispielhaft sind die Ausführungen eines Berliner Fabrikanten, der die Vorzüge seines Industriestandortes Berlin damit begründete, daß er ,auf dem platten Lande, oder in einer Provinzstadt sein Gewerbe unmöglich so gut und vorteilhaft als in der Residenz betreiben könne, weil er zum Bandmachen junge Mädchen brauche, die so wenig erhielten, daß sie davon nicht zu leben fähig wären. Sie wüßten sich aber hier zu helfen, indem sie bey Tage Band machten, und des Abends oder während der Nacht Dienerinnen der Wollust wären, und sich dadurch das übrige verdienten.“ (Michalik 1997: 82).

Die ökonomische Schlechterstellung von Frauen führt einerseits zu individuellen Abhängigkeiten innerhalb einer Familienökonomie, in der das Einkommen von Frauen einen „Zuverdienst“ ausmacht(e) und nicht dazu dient(e), ihre Lebensgrundlage zu garantieren (vgl. hierzu Ehrenreich 1996; in literarischer Bearbeitung Jelinek 1975).2 Dass die Dichotomie „ehrbare Frau“/„gefallenes Mädchen“ zudem sowohl dem kapitalträchtigen Aufstieg des Bürgertums als auch der Aufrechterhaltung von Familienökonomien in der ArbeiterInnenklasse dienlich war, weise ich in meinen Untersuchungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Kindstötung in Verbindung mit der Analyse der Konstruktion von Weiblichkeit und Mütterlichkeit nach (vgl. Mauerer 2002). Wiewohl ökonomische Unterschiede auch geschlechtsunspezifisch existier(t)en, unterliegen Frauen besonderen (Miss-)Bedingungen: erstens aufgrund biologischer Zuschreibungen und der Funktionalisierung ihrer Gebärfähigkeit, sowie zweitens – nach wie vor – aufgrund herrschender Moralvorstellungen und struktureller ökonomischer Einschränkungen.3 In conclusio zeigt sich ein Modell weiblicher Für- und Vorsorgepraxis bis dato sowohl in der Sphäre des Privaten als auch des Öffentlichen sowie in berufs- und geschlechtspezifischer Segregation (vgl. Gildemeister/Robert 2009, Ehrenreich/English 1980).

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Vgl. in aktueller Analyse zur Situation wohnungsloser Frauen Kern/Karinkada 2009. Sie beziehen sich darin auf eine deutsche Studie von Greifenhagen/Fichter (1997), wonach 56% der wohnungslosen Frauen ausgeraubt, 34% körperlich angegriffen, zwei Drittel sexuell missbraucht sowie ein Drittel vergewaltigt worden sind. Die (Fremd-)Aneignung von künstlerisch-handwerklichen Arbeiten, die der Gestaltungskraft von Frauen entsprangen und als individuelle Ausdruckformen durch traditionelle weibliche Fertigkeiten dienten, weist Ankele (2009) in ihrer Analyse des Arbeitsalltags von Frauen in Psychiatrien um 1900 eindrucksvoll nach.

WEIBLICHKEIT UND (VOR-)SORGE TRAGEN

Bezogen auf Strategien gesundheitlicher (und auch ökonomischer) Vorsorge hat dies folgende Auswirkungen: Dem Weiblichen zugeschriebene Eigenschaften und in Folge von vielen Frauen übernommene Aufgaben sind in besonderer Weise dazu geeignet, persönliche Empfänglichkeiten von Frauen für „klassisch weibliche“ Domänen wie Fürsorge und Vorsorge zu erhöhen. Diese greifen und wirken auch, wenn keine „lebensbedrohlichen“ Mangelverhältnisse herrschen. Die schlecht dotierte Fürsorge- und Vorsorgearbeit wird zudem über einen dem Weiblichen zugeordneten „Gefühlshaushalt“ reguliert und nicht als Arbeit, sondern vielmehr als „Liebesdienst“ betrachtet, der qua Gefühlszuschreibungen für andere erbracht wird (vgl. Trenkwalder-Egger 2003). Zugleich bindet diese Arbeit enorm viele Emotionen vorwiegend von Frauen. Der Wegfall dieser Energie- und Ressourceneinbringung in der Sphäre des Privaten stellt einen klassischen Generationenvertrag in Frage, der von diesen weiblichen Liebesmühen ausgehend freiwillige und/oder pflichtbewusst erledigte Versorgungsarbeit garantierte. Wie schwierig sich die ökonomische Verankerung dieses Bereichs gestaltet, zeigen Arbeiten zur sogenannten Care-Ökonomie mit Fokus auf ihre kritische Reflexion (vgl. Haug 2008, Jochimsen 2003). Hierin wird kenntlich gemacht, dass Ressourcen für so genannte produktive Werktätigkeiten durch die Zugehörigkeit von reproduktiven Arbeiten zum Arbeitsalltag aller, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit der Ausübenden, ein anderes Volumen bekommen. In dem Maße, in dem Frauen „funktionieren müssen“, um emotional besetzte reproduktive Arbeiten – oftmals ohne „Ersatz“ oder Vertretung – leisten zu können, in dem Maße wird auch ihre eigene gesundheitliche Vorsorge zu einem „Auftrag“, der zu erfüllen ist. Aufgrund der beschriebenen Weiblichkeitskonstruktion und daran geknüpfte reale Fürsorgeleistungen von Frauen ergeben sich individuell schwierig zu meisternde Dilemmata (vgl. Danneberg 2008, Flieder 2008, Brückner 2008). Werden reproduktive Arbeiten an die Emotionalität und (Selbst-)„Hingabe“ bestimmter Betreuungspersonen gebunden, fällt es in mehrfacher Hinsicht schwer, Ersatz zu akzeptieren und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Demgegenüber ist „auf sich selbst zu schauen“ als gesundheitlicher Auftrag oder gar als Gebot kaum zu schaffen, wenn Zeit und Muße fehlen. Darüber hinaus entzieht sich eine Vorsorgeleistung der Selbstbeachtung und -wahrnehmung – zumindest partiell – sowohl einer zeitlichen Optimierung als auch Effizienzsteigerung.

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(Selbst-)Beobachtung – Vorsorge – Früherkennung Vorausschauenden, prospektiven Beobachtungen kommt insgesamt ein wachsender Stellenwert in der gesundheitlichen Fürsorge zu, wobei im Bereich der Vorsorge der Versuch unternommen wird, über das Spüren eigener körperlicher Symptome hinaus Veränderungsmerkmale im kleinsten Detail messbar und belegbar zu machen. Genaugenommen bedeutet Vorsorge – wie es sich mittlerweile auch in der Bezeichnung durchgesetzt hat – medizinisch-apparative Früherkennung von Veränderungen aufgrund spezifischen Hin- und Nachschauens. Wenngleich Tastbefunde eine gute Möglichkeit sind, körperliche Veränderungen zu bemerken, so liegt in der medizinischen Befunderstellung ein Schwergewicht auf apparativ-medizinischer Diagnostik und bildgebenden Verfahren. (Selbst-)Beobachtungen der jeweils eigenen physischen und psychischen Verfassung werden im Bereich Gesundheit durch regelmäßige (an-)gebotene Untersuchungen zum Teil übernommen, zum Teil findet auch ein Verdrängungsmechanismus statt. Die Gesundheitswissenschaftlerinnen Ingrid Mühlhauser und Birgitt Höldke weisen in ihrem Buch „Mammographie. Brustkrebs – Früherkennung – Untersuchung“ (2000) auf die Gefahr hin, dass Symptome und körperliche Signale „überhört“ bzw. übersehen werden können, nachdem unauffällige Untersuchungsbefunde einen guten Gesundheitsstatus bescheinigt haben. Studien im Fachbereich Evidenzbasierte Prävention belegen eine sehr hohe Versorgungsdichte und -frequenz von Früherkennungsmaßnahmen, die ohne begründeten Verdacht routinemäßig bei Frauen auch in jungen Jahren angewandt werden. Gesundheitliche Schädigungen aufgrund „falsch positiver“ Untersuchungsergebnisse von Früherkennungsmaßnahmen (u.a. PAP-Abstrich, Mammographie) werden in diesen Studien dem Nutzen derselben Maßnahmen gegenübergestellt. Auf internationaler Ebene bestätigten Ole Ohlsen und Peter Gøtsche vom Nordic Cochrane Center in Kopenhagen in ihren Metaanalysen zu Brustkrebs-Screenings die Kritik nationaler MedizinerInnen und GesundheitswissenschafterInnen zu den Parametern der Durchführung von Mammographie-Screenings und der Qualität ihrer Ausführung (vgl. Ohlsen/Gøtsche 2000, 2001). Früherkennungsmaßnahmen für Frauen sind in besonderer Weise am weiblichen Geschlechtskörper orientiert. Nach Bourdieu (1997) sind „der männliche und der weibliche Körper“, und ganz speziell die Geschlechtsorgane“ dazu „prädestiniert“, „den Geschlechtsunterschied zu symbolisieren, weil sie ihn verdichten“ (Bourdieu 1997: 174). Diese Verdichtung wird auch in die gesundheitliche Wahrnehmung und medi88

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zinische Fokusbildung aufgenommen. Eine hohe Konzentration auf Untersuchungen der weiblichen Geschlechtsorgane Uterus, Cervix, Eierstöcke und Brust auch bei Frauen jungen Alters zeigen diese „Verdichtungen“ deutlich. Kritisch reflektiert und diskutiert wird die hohe Frequenz an (Routine-)Untersuchungen fachspezifisch und fachübergreifend: bezüglich der Häufigkeit ihrer Durchführung, der Qualität ihrer Ausführung sowie der Zielgruppenfestlegung (vgl. Frauengesundheitszentrum Graz 2006). Die WHO empfiehlt Mammographie-ScreeningProgramme für Frauen in der Altersgruppe von 50-69 Jahre basierend auf internationalen Studienergebnissen: „Mammography screening is the only screening method that has proven to be effective. It can reduce breast cancer mortality by 20 to 30% in women over 50 years old in high-income countries when the screening coverage is over 70%. Mammography screening is very complex and resource intensive and no research of its effectiveness has been conducted in low resource settings.“ (WHO, IARC 2008).

An diese Empfehlung anschließend wurde von Frauengesundheitsexpertinnen in Österreich und auf internationaler Ebene sowohl die Durchführung „grauer Mammographien“ (das sind Untersuchungen, die ohne ein begleitendes, breit angelegtes Screening stattfinden) als auch an den erforderlichen Qualitätssicherungsmaßnahmen der erstellten Programme Kritik geäußert. Eva Ràsky, Sozialmedizinerin an der Medizinischen Universität Graz, wies in einer Diskussion zum „Mythos Vorsorge“4 (2009) darauf hin, dass eine Teilnahmerate von 70 Prozent aller Frauen einer bestimmten Altergruppe, welche die WHO als Grundlage für den Erfolgsnachweis von Screening-Programmen vorgibt (IACR 2008), derzeit nicht erreicht werde und somit die Qualitätssicherung auf Basis internationaler Ergebnisse nicht gegeben sei (vgl. auch Mauerer et al 2006a). Darüber hinaus ist die Notwendigkeit einer so hohen Teilnehmerinnenrate für die Sicherung eines Ergebnisses eine Anforderung, welche die Anwendung der Maßnahme insgesamt in Frage stellt.5

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Diskussionsbeitrag nach einem Vortrag von Eva Schindele zum „Mythos Vorsorge – statt Angstmache fundierte Aufklärung über die Früherkennung von Brustkrebs und Gebärmutterhalskrebs sowie der HPV-Impfung“, am 29. April 2009 im Verein Frauen beraten Frauen in Wien. Spezielle Zertifikate für auf Brustkrebs spezialisierte Einrichtungen werden aufgrund der Anzahl der gelesenen Mammogramme und Zahl der behandelten Frauen vergeben. Diese Vorgehensweise ist einerseits nachvollziehbar, andererseits zeigt sie, wie Frauen zur Spezialisierung von ExpertInnen über ihre Erkrankungen beitragen. Dieses einseitige Vorgehen 89

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Ähnlich unsicher ist nach Ràsky die Versorgungslage bei PAPAbstrichen.6 Der PAP-Abstrich, eine international anerkannte Methode zur Krebsfrüherkennung, wird in Österreich in gynäkologischen Praxen oftmals auch bei sehr jungen Frauen in jährlichem Abstand durchgeführt, obwohl es hierfür auf Basis internationaler Standards keine medizinische Begründung gibt. Bei Verdacht auf Zellveränderungen wird die Frequenz auf halb- bis vierteljährliche Untersuchungen erhöht. Eva Ràsky, Frauengesundheitsexpertin und Mitglied im Europäischen Forum für Evidenzbasierte Prävention (EUFEP), weist in ihrer Expertise darauf hin, dass die Qualität des routinemäßig durchgeführten Abstrichs nicht ausreichend gesichert sei. Frauen, so Ràsky in der erwähnten Diskussion zum „Mythos Vorsorge“ sollten dazu übergehen, die Qualität routinemäßig durchgeführter Untersuchungen in Frage zu stellen und in der gynäkologischen Praxis Qualitätsnachweise zu verlangen. Neben Qualitätsmängeln wird eine Überversorgung in Österreich konstatiert. Im internationalen Vergleich liefern PAP-Abstriche in der Analyse der Gesundheitsdaten von Frauen die gleichen Ergebnisse, wenn sie nicht jährlich, sondern in dreijährigen Abständen durchgeführt werden. In die „Vorsorgeuntersuchung Neu“ in Österreich (2005) sind diese Ergebnisse nicht eingeflossen. MedizinerInnen im Bereich Evidenzbasierte Prävention vermuten, Lobbyismus innerhalb der Ärztekammer könne dazu geführt haben, dass die Durchführung eines PAP-Abstrichs in Österreich auch in der „Vorsorguntersuchung Neu“ weiter routinemäßig einmal jährlich empfohlen wird. Ungeachtet dieser Kritik im einzelnen wird in conclusio von Frauengesundheitsexpertinnen und Evidenzbasierten MedizinerInnen die Sicherung der Datenlage auf internationaler Ebene gefordert, die es bislang trotz einer Fülle von Einzeldaten nicht gibt: Erstens um einen gesicherten Datenvergleich überhaupt zu ermöglichen, zweitens um Schlüsse auf Basis der Datenlage zu ziehen und Qualitätsverbesserungen treffen zu können. Evident ist eine hohe Konzentration auf weibliche Organe in der gesundheitlichen Vorsorge die nicht mit einem Fokus auf den Bereich der Reproduktion allein zu erklären ist. Dass es diesen Fokus medizinhistorisch gab und gibt, ist wissenschaftlich belegt (u.a. Fischer-Homberger 1979, Ehrenreich/English 1979, Honegger 1991). Rudolf von Virchow, ein früher Sozialmediziner, der die Typhusepidemien in Oberschlesien in den Jahren 1846-1848 als soziales Problem beschrieb und nachfolgend als Gesundheitspolitiker tätig war, schrieb 1848:

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wurde und wird von Frauengesundheitsexpertinnen kritisiert (vgl. u.a. Weed 2005). PAP-Abstrich ist nach dem griechischen Pathologen George Nicolas Papanicolaou benannt.

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„Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks.“ (Rudolf von Virchow, 1848 (1856), zit. nach Fischer-Homberger 1979: 132f)

Im Bereich der Früherkennung von Krankheiten hat sich dieser Fokus in der Datenlage bis dato gehalten. Margarethe Hochleitner (1999) weist in ihren Herz-Kreislaufstudien für Österreich 1995 und 1998 nach, dass der Herztod nach wie vor als „männlich“ gilt, obwohl mehr Frauen an HerzKreislauferkrankungen sterben. Da Frauen im Durchschnitt eine statistisch höhere Lebenserwartung als Männer haben, versterben sie an diesen Erkrankungen wiederum durchschnittlich in einem höheren Lebensalter. Betreffend die Medienwirksamkeit und -konkurrenz von Erkrankungen, so makaber das auch klingen mag, haben jene Erkrankungen in der (medialen) Rezeption und öffentlichen Aufmerksamkeit einen höheren Stellenwert und höhere „Auflagen“, die in jungen Jahren zum Tod führen. Brustkrebs steht hier als Todesursache von Frauen an vorderer Stelle. Regine Stolzenberg kommt in ihrer Analyse aus dem Jahr 1999 zu folgender Schlussfolgerung, die bis heute Gültigkeit hat: Weil die Therapieerfolge bei besonders aggressiven Brustkrebsarten, die vor allem jüngere Frauen betreffen, gering sind, kommt es zu einer „Verjüngung“ im medialen Aufruf, Früherkennungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Ärzte und Ärztinnen leisten diesem Anspruch zum Teil auch Folge, weil der öffentliche Druck, „nichts zu übersehen“ hoch ist. In conclusio führt dies jedoch zu einer Überversorgung, aus der so genannte „falsch-positive Befunde“ und in Folge auch psychische und physische Schädigungen von Frauen resultieren (vgl. Mühlhauser/Höldke 2000, Schindele 1993). Eine generell hohe Rate an empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen für Frauen verhilft einer „normativen Kraft des Faktischen“ zum Durchbruch bzw. bestätigt rückwirkend die Annahme, dass „Frauen das kränkere Geschlecht“ seien.7 Das alte medizinische Sprichwort, „Wer gesund ist, wurde nur nicht ausreichend untersucht“, hat für Frauen in medizinhistorischer Hinsicht besondere Wirkungskraft. Hierfür ist sowohl ein Fokus auf den Bereich der Reproduktion verantwortlich, als auch insgesamt eine spezifisch weibliche Rollenkonstruk8

Camenzind/Meier (2004) und Zoike/König (2004) untersuchen, ob dies auch der Fall ist, wenn Gesundheitskosten, die durch Reproduktion und Gewalt gegen Frauen anfallen, „geschlechtsneutral“ aufgeteilt werden bzw. Gesundheitskosten und Leistungseinbußen aufgrund männlicher Gewaltausübung gegenüber Frauen den Krankenversicherungen der Männer angelastet werden. Amann (2004) bezieht den Bereich der informellen Pflegeleistungen zusätzlich auf einer „Habenseite“ von Frauen in die Kalkulation mit ein, da diese Leistungen vorrangig von Frauen erbracht werden. 91

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tion, die Frauen zur „Anderen“ in Abweichung von männlichen Normierungen auch in medizinischen Standardisierungen werden ließ (vgl. de Beauvoir 1951; Maschewsky-Schneider 1996). Eine Fülle von Studien im Bereich Frauengesundheitsforschung, Männergesundheitsforschung und Gender Medizin bearbeiten dieses historische Ungleichgewicht in Analysen zu den Auswirkungen und Wechselwirkungen von sex und gender, dem biologischen und dem sozialen Geschlecht (vgl. Annandale in diesem Band).

„Frauen – das kranke Geschlecht“? Ausgehend von Beschreibungen einer schwächeren weiblichen Physiologie und spezifisch weiblichen psychischen Dispositionen kann zusammenfassend die Psychopathologisierung von Weiblichkeit in der Medizingeschichte konstatiert werden (vgl. Honegger 1991, FischerHomberger 1979, von Braun 1985). Eine zusätzlich geschlechtsspezifisch relevante Dimension erfährt diese Pathologisierung durch das Faktum, dass die Beschreibenden im klassischen medizinhistorischen Setting vorrangig Männer waren. Hieraus resultiert eine weitere historische Altlast: Die Etablierung geschlechtsspezifisch dichotomer Verhältnisse zuungunsten von Frauen und zum Vorteil der Durchsetzung männlicher Definitionsmacht über Weiblichkeit, deren Facettenreichtum bis heute nicht gänzlich aufgearbeitet ist (vgl. auch Wimmer-Puchinger et al in diesem Band). In der Geschichte der Gynäkologie und der gynäkologischen Behandlung von Frauen zeigt sich dieses Missverhältnis in besonderer Weise, da die Beschäftigung mit dem weiblichen Geschlecht und den reproduktiven Fähigkeiten von Frauen lange Zeit an einen bestimmten gesellschaftlichen Moralkodex gebunden war. Diese Betrachtungsweise und Praxis ist noch immer nicht völlig „außer Mode“ gekommen. Die Naturalisierung von Weiblichkeit durch die Verlagerung spezifisch weiblicher Zuschreibungen ins „Innere von Frauen“ führt zu inneren Widersprüchen bei Nicht-Entsprechung, die in Folge individuell aufgearbeitet werden müssen, da Gemeinsamkeiten „aller Frauen“ naturalisiert vorgegeben werden (vgl. Gildemeister/Robert 2008). Die Objektivierung des Frauenkörpers führte in Selbstübernahme eines SubjektObjekt-Denkens und eines so gestalteten Selbsterleben hin zur Selbstobjektivierung von Frauen. Sowohl die Physiologie des weiblichen Körpers als auch die psychische Verfasstheit waren starren Regelmustern unterworfen, deren Abweichung pathologisiert, dämonisiert oder kriminalisiert wurde. Nicht-Entsprechungen werden als „Ausnahme von der Norm“ definiert und bestätigen somit eine Norm(definition), die ihrerseits weniger in Frage steht (vgl. Foucault 1989, Mauerer 2002, 2006b). 92

WEIBLICHKEIT UND (VOR-)SORGE TRAGEN

Übertragen wurde die zugeschriebene weibliche Empfindsamkeit in die spezifische Empfindlichkeit und Krankheitsanfälligkeit weiblicher Organe und ihrer Funktionen, was nicht zufällig dazu führte, dass Mutterschaft und Mütterlichkeit als weibliche „Erfüllung“ angesehen wurden (vgl. Badinter 1981). Im Hinblick auf dieses Zweckdenken und diese Funktionalisierung wurde weibliche Sexualität von Frauen in Folge auch daraufhin ge- und erlebt. Für den Gesundheitsbereich heute bedeutet dies die Notwendigkeit der Aufarbeitung eines historischen „Gepäcks“, an dem Frauen individuell zu tragen haben. Ein „Sich-wohl-fühlen“ in einem Körper, dessen Geschichte von der Denunziation als Simulantin (von Braun 1985), der zur Untätigkeit verdammten, auf „schwache Weiblichkeit“ und ein dementsprechendes fahles Äußeres reduzierten Angehörigen wohlhabender Bevölkerungsgruppen insbesondere im 19. Jahrhundert (vgl. Ehrenreich/English 1980), bis zur verdächtigen „Seuchenträgerin“ im ärmlichen Milieu (vgl. Ehrenreich/English 1980) reichte, ist nicht uneingeschränkt möglich. Gesundheitsförderung und gesundheitliche Vorsorge heißt daher auch, sich dieser Vergangenheit der Psychopathologisierung von Weiblichkeit bewusst zu werden und zu stellen. Krankheitsproduktionen, die ein mehr oder weniger an Körper bedeuten (vgl. von Braun 1985), verweisen auf die Komplexität der Verbindung zwischen weiblichem Körper und Psyche. Rückblickende Analysen zur weiblichen Körpergeschichte und bestimmenden und bestimmten Normen und Moden münden in aktuellen Betrachtungen in eine „Kultur der Selbstthematisierung“ (vgl. Burkart 2006), die auch geschlechtsunspezifisch betrieben wird. Historisch war diese Selbstthematisierung lange Zeit mit so genannter „weiblicher Empfindsamkeit“ verbunden, wenngleich romantische Männer versuchten, dieser Empfindsamkeit nahe zu kommen (vgl. u.a. Meyer-Schubert 1992). Die Kultur der Selbstthematisierung erhöht bezogen auf den Bereich der gesundheitlichen Vorsorge auch die Selbstbeobachtung. Was als „crucial point“ bezeichnet werden muss, ist die Tatsache, dass der Moment der „SelbstGewissheit“ und auch der gesundheitlichen Selbstversicherung nur zeitlich begrenzt eintreten kann. Allgemeine Verunsicherung ist daher auch eine Folge „vergänglicher“ Beobachtungen. Eine Fülle an gesundheitlichen Früherkennungsmaßnahmen bietet – in fataler Wechselwirkung – vermeintliche gesundheitliche Sicherheit an. Unsicherheiten werden aufgenommen, im Gegenzug jedoch wenige „Gewissheiten“ angeboten: „Besser mehr schauen als weniger“ stimmt nur eingeschränkt was individuelle Empfehlungen zur Durchführung von Früherkennungsmaßnahmen betrifft. Es ist nachgewiesen, dass Frauen in höherem Maße an Präventivmaßnahmen teilnehmen (vgl. BM für soziale Sicherheit, Generationen 93

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und Konsumentenschutz 2006). Warum sind Frauen dafür empfänglicher? Um dies zu klären, ist die Einbeziehung der medizinhistorischen Vergangenheit von Weiblichkeit enorm wichtig. Frauen sind im Allgemeinen einem überlieferten weiblichen Rollenbild zufolge auf Selbstbeobachtung hin trainiert und geschult. Zyklische, regelmäßige wiederkehrende Untersuchungen entsprechen ebenfalls ihrem zugeschriebenen, biologisierten und naturalisierten Rollenbild, im Gegensatz zu einem mechanistischen Körperbild, welches für männliches Gesundheitshandeln entsprechend traditionellen männlichen Klischeebildern prägend war (vgl. Altgeld 2004). Salopp formuliert: Funktioniert die „Maschine“ männlicher Körper nicht, wird „Reparaturmedizin“ in Anspruch genommen. Wenngleich starre Rollenbilder und Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Wandel sind, verbleiben bislang zumindest rudimentäre Spuren traditioneller Bilder in einzelnen gesundheitlichen Handlungen und Entscheidungen, die in Summe noch immer darin münden, dass Frauen größeres „Gesundheitsbewusstsein“ nachgesagt wird. Etwas „für sich tun“ verschwimmt daher in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung mit medizinischer Beobachtung. Tun Frauen „etwas für sich“, wenn sie zur Vorsorgeuntersuchung gehen? Ja und nein. Ja: Sie nehmen sich Zeit für die Untersuchung ihres Körpers. Nein: Etwas „für sich tun“ bedeutet nicht, einer potenziellen Medikalisierung des eigenen Körpers anheim zu fallen. Dass diese Ambivalenz der Entwicklung und Erhaltung einer „gesunden Selbstempfindung“ nicht förderlich ist, belastet mit dem erwähnten historischen „Gepäck“ zur Geschichte des weiblichen Körpers, steht außer Frage.

Phallozentrische Sichtbarkeit der Brust Die weibliche Brust eignet sich aufgrund ihrer „herausragenden“ Eigenschaft – im wahrsten Sinne des Wortes – für Früherkennungsmaßnahmen in der Krebsprävention. Auch in Bezug auf die Eigenschaften, die Frauen qua weiblichem Rollenbild zugeschrieben werden, fallen der weiblichen Brust als Organ diese Aufgaben in „verkörperter Form“ zu: zu nähren, zu schützen, zu behüten. „Jemanden an die Brust nehmen“, die schützende, nährende Brust der Mutter oder in Erweiterung auch Darstellungen der „Mutter Erde“8, vielfältige Konnotationen verweisen auf ein Wechselspiel zwischen Funktionalisierung der weiblichen Brust und Erwartungen an Frauen, ihre „Trägerinnen“. In ihrem Aufsatz „Breasted Experience: The Look and the Feeling“ beschreibt die Philosophin 9 94

Vgl. u.a. Dech 1984 und Perko 1998 (Abbild.„Atalanta fugiens“, S. 28).

WEIBLICHKEIT UND (VOR-)SORGE TRAGEN

Iris Marion Young aus feministischer und kulturphilosophischer Perspektive jene Einflüsse, die sich aus der Reduktion von Frauen auf die Brust und darauf basierenden optischen Bewertungen ergeben (vgl. Young 2005). Als „Statussymbol“ in der äußerlichen Angelegenheit der Brustform gelten harte, feste, ballähnliche Brüste mit spitzen, hervorstechenden Brustwarzen. Dass diese Brustform vergänglich ist und zudem in der Pubertät, im Prozess der Frauwerdung nicht von allen Frauen „erreicht“ wird, nimmt Einfluss auf das Erleben der eigenen Brust und das Erleben des jugendlichen und erwachsenen Frauenkörpers.9 Wenngleich die äußere Reduktion nicht mit dem inneren Erleben korrespondiert („chest“, „myself“, worauf gedeutet wird, wenn Frauen und auch Männer „ich“ sagen, vgl. Young 2005), prägen in der Adoleszenz wachsende äußere Umstände die Wahrnehmung als Frau. Die Brust ist jenes Organ, welches die Objektivierung von Frauen und ihre nachfolgende Selbstobjektivierung am eindrucksvollsten sichtbar werden lässt und verdeutlicht. „Breasts are the symbol of feminine sexuality, so the „best“ breasts are like the phallus: high, hard, und pointy. Thirty years ago it was de rigueur to encase them in wire, rubber, and elastic armor that lifted them and pointed them straight out. Today fashion has loosened up a bit, but the foundational contours remain; some figures are better than others, and the ideal breasts look like Barbie’s.“ (Young 2005: 77).

Ob im „Pin-Up-Girl“, dem „Mädchen“ bzw. der jungen Frau als „Dekorationsobjekt“ mit der „A plus-Brustform“ oder mütterlich-nährenden Konnotationen und Erwartungen an die weibliche Brust: Dieser Körperteil, der noch dazu aus zwei Teilen besteht, die symmetrisch wohlgeformt sein sollen, auch das ist eine der Erwartungen an die „A-Klasse“, versinnbildlicht wie kein anderer die Ambivalenz zwischen weiblicher Sexualität und Mutterschaft, die sich zudem auszuschließen scheinen (vgl. Sichtermann 1986).

10 Ähnlich verhält es sich mit Schönheitsidealen insgesamt. Im Film „America the Beautyful“ (2007) von Darryl Roberts wird gezeigt, dass die Körpermaße von Models an den Idealmaßen 11-14jähriger Mädchen ausgerichtet sind. In dieser Altersgruppe geht das Längenwachstum insgesamt dem Hüftwachstum voraus – was gravierende Folgen für erwachsene junge Frauen im Modelgeschäft hat. Sie müssen sich die Idealmaße der jüngeren Altersgruppe „erhungern“. Die Folgen dieser unerreichbaren Körperproportionen wurden in den letzten Jahren medial und (frauen-)gesundheitspolitisch aufgezeigt. Vgl. u.a. http://www.essstoerungshotline.at/ allgemeines/Studien/ (10.6.2010) 95

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Diese Geschichte und Vergangenheit bestimmter Zuschreibungen an die weibliche Brust wird in der Brustkrebsforschung wenig bedacht, es sei denn in Brustrekonstruktionsangeboten, welche traditionelle Zuschreibungen um ein weiteres bestätigen (vgl. Haug 2004, Lorde 1980).10 Lorde macht in ihren Erfahrungen deutlich, dass die Unsichtbarkeit von Brustkrebserkrankungen durch Rekonstruktionsangebote der plastischen Chirurgie Solidarisierungen zwischen Brustkrebserkrankten erschweren. Sie macht in ihren Krebstagebüchern (1980) ihr Krankheitserleben öffentlich und spricht sich dafür aus, ein öffentliches Schweigen zum Umgang mit der Krebserkrankung zu brechen. Eine Möglichkeit, ein optisches Erkennen zu erzielen und damit potenziell auch einen öffentlichen Erfahrungsaustausch unter Frauen potenziell zu ermöglichen, wäre nach Lorde durch den Verzicht auf die Rekonstruktion der entfernten Brüste gegeben. Auch Iris Marion Young (2005) betont die Fokussierung auf die (wieder)hergestellte Optik der weiblichen Brust unter Vernachlässigung ihrer sensorischen Qualitäten, die durch den Einsatz von Brustimplantaten beeinträchtigt sind (vgl. Young 2005). Ohne medizinische Indikation sind Brustvergrößerungen demzufolge mehr als in Frage zustellen, Brustverkleinerungen wären eher verständlich, erscheinen jedoch in phallo-zentrischer Logik weniger naheliegend, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Eine Studentin berichtete in meiner Lehrveranstaltung „Gesundheit und Gender – Fokus Psyche und Geschlecht“ im Wintersemester 2009 von folgender Erfahrung im Rahmen ihrer Krankenhaustätigkeit: Einer Frau wurden detaillierte Brustrekonstruktionsvorschläge nach der Entfernung einer Brust gemacht. Da sie große Brüste hatte, war die Herstellung der Symmetrie beider Brüste chirurgisch komplex. Erst nachdem der Arzt seine Vorschläge unterbreitet hatte, merkte die Frau fast schüchtern an, dass sie keinen Aufbau der entfernten Brust, sondern eine Verkleinerung der verbliebenen Brust wünschte. Daran hatte außer ihr niemand gedacht und sie war nicht danach gefragt worden. Gleichwohl Früherkennungsmaßnamen in der Brustkrebsforschung medial laut und breit publiziert werden, gibt es wenig Öffentlichkeit für Frauen, die keine Brustrekonstruktion wünschen (vgl. Haug 2004: 158f). Auch über ein Unverständnis, keine Brustrekonstruktion haben zu wol11 Ausgehend von ihren Arbeiten zur Brustrekonstruktion in der plastischen Chirurgie“ plädiert die Soziologin Christina Lammer für einen „soziosomatischer Ansatz […], in dem die weibliche Brust buchstäblich als Organ des Kontakts und der emotionalen Bindungen begreifbar wird. vgl. Lammer 2010; sowie http://www.meduniwien.ac.at/files/15/8/sex.handout.pdf. [Zugangsdaten] 96

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len und die Blicke anderer „absichtlich“ verstören zu wollen, wird berichtet (vgl. Haug 2004). Eine medizinhistorische Schwächung von Weiblichkeit wird in der Brust als „Empfindungsorgan“ symbolisiert. Dass dieses Organ „krankt“, nimmt somit nicht Wunder, auch wenn diese Schlussfolgerung naturwissenschaftlich so nicht belegt ist.11 In der Konzentration sowohl auf Krankheitsfrüherkennung als auch auf Rekonstruktionsangebote wird ein (weiterer) Deckmantel des Schweigens auf Subjektivierungs- und Bearbeitungsprozesse von Frauen in ihrem Erleben der Erkrankung gelegt. Die Rekonstruktion der Brust als „Objekt“ ersetzt nicht die Brust als Empfindungsorgan, deren Verlust von vielen Frauen be- und verarbeitet wurde und wird (vgl. Young 2005). Ihre Leistungen verschwinden (einmal mehr) hinter den Meriten von ProponentInnen der plastischen Chirurgie. Wobei an dieser Stelle keineswegs die Leistungen von SpezialistInnen dieses Fachs geschmälert werden sollen. sondern viel mehr das Ziel verfolgt wird, einseitig konzipierte Lösungsangebote aufzuzeigen, die (weiter) den Fokus auf den Frauenköper als Objekt mit Normmaßen und genormten Körperteilen richten. Diese Stille gilt öffentlich auch für das nährende Stillen. Auch hierzu ein Erfahrungsbericht: Eine Bekannte von mir stillte in einem Londoner Museum ihr Baby auf einer Sitzbank und betrachtete dabei ein Gemälde. Ein Museumsangestellter sprach sie an und bot ihr an, sie an einen „schönen, geräumigen Platz“ zu bringen. Sie folgte ihm – wohl aus vermeintlich gebotener Höflichkeit – und wurde zur Behindertentoilette des Museums gebracht. Sie wurde als stillende Mutter behindert in ihrem nährenden und betrachtenden Sein und auf die Funktion der nährenden Quelle „ohne Ausblick“ reduziert. Wenngleich der angebotene Platz im Museum nicht alltäglich ist, zweitere Reduktion und Behinderung in ihrer eigenen kreativen Neugier erfahren (stillende) Frauen leider öfters. Eine aberwitzige Konstruktion der Mutterfigur, die sie zum Nähren und Sorge tragen hin- und verführt sowie darüber hinaus diese Funktionen in Übereinstimmung optisch auf die Behaglichkeit anderer „einstellt“ (wie auch das vorgängige Beispiel in Bezug auf erwartete Zustimmungen zu Brustrekonstruktionen zeigt), macht deutlich, dass die Mutterfigur einem „anderem“ (Zu-)Ordnungsmechanismus (als dem heutigen weiblich sexualisierten Idealbild) unterliegt und einer anderen, „alten“ Ordnung zu entstammen scheint:

12 U.a. Stolzenberg (1999) und Carson (1962) thematisieren Umweltfaktoren als erkrankungsauslösende Einflüsse. 97

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„[A]lle stereotypen Fragmente dieser Beziehung [der Mutterbeziehung, Anm. G. M.] [verweisen] auf das ,Gesetz des Vaters‘ […], das die Weiblichkeitskonstruktion der Mutter mit ihren tragikomischen (sic) Effekten produziert. Sie resultieren daraus, daß die Mutter in ihrer nichtigen Bedeutung zugleich von bedeutender Nichtigkeit ist. Deshalb hat sie ihre Existenz permanent unter Beweis zu stellen, da alles, was sie ist und tut, nichts ist, selbst wenn sie sich die Füße, die Hände, die Haare ausreißt, selbst wenn sie sich zum Verschwinden bringt, um vorhanden zu sein.“ (Treusch-Dieter 1998: 321)12

Auch in Brustkrebsfrüherkennungsangeboten wird auf ein weibliches Idealbild des Sorgetragens für sich und andere rekurriert. In der Darstellung und Empfindung spiegelt sich eine zugeschriebene weibliche Lebensbiographie wider, welche die Brust zu einem Organ macht, das Energien zugleich bündelt und spaltet („zwei Seelen, die in einer Brust wohnen“). (Fremd-)Bestimmte Wünsche an ihre nährende Verfügbarkeit (vgl. Dinnerstein 1976) bei gleichzeitig geforderter Abtrennung („mentale Abnabelung“) von der Mutter verweisen auf Regulative im Namen einer vaterrechtlichen Gesetzgebung und phallischen Logik (vgl. Kristeva 1989, Schmitz 1999). Bezogen auf die Brust bedeutet dies einen dichotomen Umgang, wie er auch mit Weiblichkeit schlechthin und sterblicher Geschlechtlichkeit betrieben wird (vgl. von Braun 1985, Soiland 2010): Überhöhung und Verdammung, Ablehnung und Abwertung auf der einen Seite, übertriebenes, nicht reales Idealbild in phallischer Symbolik auf der anderen Seite.13 Frauen haben bis heute auch daran zu tragen, dass ihre Brust hervor und ins Auge sticht in einer Bildkultur, die den Phallus verehrt.

„Genea-Logik“ 14 Ein weiteres kulturelles Hauptaugenmerk liegt auf generativer Weitergabe. Diese wurde ebenfalls vorrangig Frauen qua definierter reproduktiver Eigenschaften zugeschrieben und angelastet. Dass die Freude und der Stolz und auch die anerkennende Einträglichkeit dieser Eigenschaf-

13 Zur Bedeutung der Mutter als Gestaltung zwischen Ohnmacht und Macht, siehe auch Perko 1998. 14 Umgangssprachliche Begrifflichkeiten wie „Holz vor der Hütte haben“ für einen großen Busen verweisen auf den wärmenden Charakter eines großen „Vorbaus“. Dass gerade dieser gesundheitliche Beschwerden auslösen kann, bleibt hierbei außen vor. Im Kurzfilm „Unique“ zu Schönheitsoperationen in Österreich weist das Frauengesundheitszentrum Graz auf die Gefahr der Verharmlosung operativer Eingriffe aus kosmetischen Gründen hin; vgl. http://www.fgz.co.at/Broschueren.51.0.html (10.6.2010). 15 Vgl. Weigel 2006. 98

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ten nur reduziert wahrnehmbar sind, ist ein Folge dieser kulturellen Ausund Zurichtungen (vgl. Dech 1984, Irigaray 1989).15 Maßnahmen zur genetischen Detektion von Erkrankungen haben sich im Bereich der Reproduktionsmedizin sowie im Bereich der Prävention etabliert. In ihrem Buch „Genea-Logik“ beschreibt Sigrid Weigel die sozial- und naturwissenschaftliche Implikationen von Genealogie: im Sinne von Evolution und Vererbung auf der einen sowie von Tradition, Überlieferung und Erbe auf der anderen Seite (Weigel 2006: 9). In der Erforschung der psychischen und sozialen Folgen der Möglichkeiten von und im Umgang mit der genetischen Detektion von Erkrankungen kam der Huntington-Forschung wissenschaftsgeschichtlich eine Vorreiterrolle und besondere Bedeutung zu.16 Durch das Erkennen einer „genetischen Aberration“ war es bei dieser Erkrankung medizinhistorisch schon früh möglich, ein genetisch bedingtes Erkrankungsrisiko festzustellen. Dies hatte u.a. zufolge, dass in beruflichen Einstellungsverfahren genetische Befunde angefordert wurden (vgl. Lemke/Lohkamp 2005). In ihren wissenschaftlichen Arbeiten und ihrer persönlichen Bearbeitung dieses Themas beschrieben die Psychologin Nancy Wexler und die Historikerin Alice Wexler den psychosozialen Umgang mit den Folgen allein schon der Möglichkeit, das eigene Erkrankungsrisiko testen zu lassen (vgl. Nancy Wexler 1979, 1992, Alice Wexler 1995). Insbesondere im Bereich der vorgeburtlichen Diagnostik führte die Erforschung spezifischer Erkennbarkeiten von genetischen Abweichungen dazu, dass neue Untersuchungsmöglichkeiten sehr schnell routinemäßig durchgeführt und in die Leistungskataloge von Versicherungsträgern aufgenommen wurden (vgl. Feuerstein et al 2002).

16 Durch die Verwendung des Begriffs „Prokreativität“ wurde in der feministischen Theoriebildung versucht, diese reduzierte Betrachtung von „Reproduktion“ aufzuwerten: Im Versuch, der kreativen Seite und dem schaffenden Potenzial von Frauen auch begrifflich Raum zu geben. 17 In ihren Arbeiten zur Huntington Forschung wies Nancy Wexler auf folgendes Missverhältnis in den Anfängen der genetischen Forschung hin: jene Familien in Venezuela, die aufgrund weitverzweigter Verwandtschaftsverhältnisse viel zur Stammbaumforschung von ForscherInnen beitragen konnten, waren nicht diejenigen, welchen die Ergebnisse dieser Forschung zunächst zur Verfügung standen (vgl. http://www.hd foundation.org/bios/nancyw.php) (8.6.2010). Ähnliche Missverhältnisse gilt es bis heute auszuloten. Auf Gender Aspekte in der Forschung als weiteres bestehendes Missverhältnis wies Kristina Fister (UK) in ihrem Vortrag zur Gender Perspektive in wissenschaftlichen, medizinischen Journals hin (vgl. Konferenz „Bioethics and Women Revisited: Clinical Trials” am 31. Mai 2010, vgl. Bioethikkommission des Bundeskanzlers, Wien, http://www.bundeskanzleramt.at/site/4927/default.aspx) (8.10.2010) 99

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„Unabhängig von den jeweiligen Erfolgsaussichten einer Prävention und frühzeitigen Intervention kann davon ausgegangen werden, dass diese Testangebote (in der genetischen Diagnostik Anm. G. M.) auf eine relativ große gesellschaftliche Unterstützung treffen. Sie harmonieren: auf der politischen Ebene mit der an Bedeutung gewinnende Idee einer individuellen Vorsorge und Eigenverantwortung der Versicherten, im medizinischen Bereich mit der Tendenz zur Medikalisierung von Risiken (Prävention) und insofern mit der Erweiterung des professionellen Zugriffs durch die Transformation von Gesunden in „Noch-nicht-Kranke“, auf Seiten potentieller Nachfrager mit der Idee der Machbarkeit von Gesundheit, Fitness und Wellness (sowie von Fortpflanzung, Anm. G.M.).“ (Feuerstein et al 2002: 96).

Der Aspekt der Machbarkeit von Fortpflanzung ist besonders wichtig im Anwendungsbereich dieser Forschung, da er auch zur Begründung ihrer Etablierung dient: aufgrund der Tatsache, dass die Geburtenraten in nordwestlichen Industrienationen im Durchschnitt sinken (vgl. Dackweiler 2006, Berger/Kahlert 2006). Dieser „Mythos der Machbarkeit“ wird Frauen in weiteren Vorsorgeangeboten „angelastet“ respektive zur persönlichen Durchführung aufgetragen. Dieser Anspruch wird auch gesundheitspolitisch und und moralisch umgesetzt. Wobei der Kurzschluss „Welche Früherkennungsmaßnahmen nicht in Anspruch nimmt, ist selber schuld“ sowohl wissenschaftlicher Grundlagen entbehrt, als auch dem Solidarprinzip und Risikostrukturausgleich im allgemeinen Krankenversicherungssystem widerspricht.17 Hierzu lässt sich (zynisch) folgern, dass Vorsorge und die Etablierung und Durchführung von genetischen Früherkennungsmaßnahmen letztlich auch ein Geschäft bedeuten, von dem die Untersuchten wenig „haben“, es sei denn in Folge an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen individuell zu tragen (vgl. van den Daehle 2005). Auf die Wechselwirkung insbesondere zwischen vorgeburtlicher Diagnostik, der Befundübermittlung und dem individuellem Erleben (einer Schwangerschaft) weisen die Wissenschaftlerinnen Barbara Katz-Rothmann (1993), Anne Waldschmidt (2001) und Barbara Duden (1991) in ihren Arbeiten hin. Im Zusammenspiel von Vorsorge(n) als Frauenrolle, der Kontrolle der Fortpflanzung und der Medikalisierung von Schwangerschaft sowie von weiblicher Körperlichkeit allgemein wirken Einflüsse auf das individuelle Körpererleben, die in Folge durchaus auch als zivilisationsbedingt zu beurteilen sind (und nicht ausschließlich dem 18 Dass dieses zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer liberalen Wirtschaftsauffassung des Gesundheitsbereichs auch in Frage steht, sei an dieser Stelle außen vor gelassen. Vgl. hierzu Krondorfer in diesem Band. 100

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weiblichen Körper ursächlich zugeschrieben werden können). Betrachtet werden psychische Komponenten der Befundübermittlung im Bereich genetische Diagnostik zwar als Begleitfaktoren, ursächlich sind sie jedoch noch nicht hinlänglich erforscht und erkannt (z.B. was jeweils individuelle Motivationen betrifft, einen Gentest machen zu wollen). Jonas, Schamberger und Wild machen in ihrer Arbeit (2002) auf die Gefahr einer potenziellen Nachreihung „traditioneller“ Methoden in Diagnostik und Heilung von Krankheiten hinter die mit hohen finanziellen Mitteln und Ressourcen betriebene Erforschung von hereditären, genetisch bedingten Erkrankungen aufmerksam. In der Brustkrebsfrüherkennung wurde in der Vergangenheit dennoch ein Paradoxon deutlich: Es wird von „Heilung“ gesprochen, wenn nach der Detektion eines positiven hereditären Brustkrebsfaktors (vgl. Jonas et al 2002, Kollek et al 2004) in so genannten „Hochrisikofamilien“ eine präventive Brustentfernung durchgeführt wird. In Arbeiten zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Folgen von Genomforschung wird deutlich, dass zwischen sozialwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher „Auffassung“ von Krankheitsempfinden und -erleben eine Kluft besteht. Eine Bearbeitung dieser Kluft wurde und wird in der wissenschaftlichen Forschung u.a. im Rekurs auf Mythologie und Kunst Erkenntnis gewinnend betrieben, jedoch in naturwissenschaftlich orientierter Wissensgenerierung insgesamt wenig berücksichtigt (vgl. Treusch-Dieter 2001, Lammer et al 2010). Insbesondere in den (Neu)Interpretationen der griechischen Mythologie von Gerburg Treusch-Dieter werden sowohl wissenschaftshistorische Hintergründe (post)moderner Erkenntnisbildung als auch gezielte Forschungsinteressen im Bereich Fortpflanzungstechnologie und Lebensverlängerung in Korrelation auf „Machbarkeitsmythen“ der Moderne untersucht (vgl. Treusch-Dieter 1990, 2002). Die Einbeziehung der sozialhistorischen und -wissenschaftlichen Forschungsperspektiven auch in naturwissenschaftliche Erkenntnisbildungen ist im Hinblick auf die erwähnte bestehende Kluft ein Desiderat an – aus eben diesem Grund – notwendige transdisziplinäre Forschungsansätze und -arbeiten.

Conclusio und Ausblick Unabhängig von der zu überwindenden Kluft zwischen natur- und sozialwissenschaftlicher Forschung besteht auch in der naturwissenschaftlich orientierten Forschungslandschaft selbst eine Lücke im Hinblick auf gendersensitive Themen. Insbesondere im Bereich der Endokrinologie (Funktion von Schilddrüse, Brustdrüse, u.a.m.) gibt es beispielsweise über die Fortpflanzungsfunktion hinaus geschlechtsspezifische Unter101

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schiede. Öffentlich thematisiert werden diese im Hinblick auf genetische Diagnostik (Testung von Erwachsenen, vgl. van den Daehle 2005, Deutscher Ethikrat 2009) und deren soziale Folgewirkungen, sowie im Hinblick auf generative Weitergabe (vgl. u.a. Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 2004). Angesichts der bestehenden Möglichkeiten, genetische Vererbbarkeit zu testen, bewahrheitet sich folgende sozialwissenschaftliche Analyse der Soziologin Gerburg Treusch-Dieter (vgl. auch das Nachwort in diesem Band): „[I]n der gegenwärtigen Revolution werden nicht mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die Körper umstrukturiert. […] Dabei (werden) alle Körper (erfasst), noch bevor sie geboren sind.“ (Treusch-Dieter 1997: 242)

Diese Umstrukturierung korrespondiert mit einer körperlicher „Abschaffung“ (Anerkennung von Symptomen noch bevor diese körperlich geäußert werden) auf der einen sowie von körperlicher Hervorbringung auf der anderen Seite: Diese zeigt sich u.a. in den erwähnten Selbstbeobachtungen, in individueller „Arbeit am Körper“, welche an vorgegeben Normen orientiert ist (vgl. auch den Beitrag von Höppner in diesem Band). Damit in Zusammenhang möchte ich auf die vorgängig gestellte Frage zurückkommen, ob Vorsorge „etwas für sich tun“ beinhalte? Eine Bejahung dieser Frage ist nur eingeschränkt und unter Mitberücksichtigung dessen möglich, dass individuell betriebene Vorsorge nicht das einzige ist, das Frauen, die dies wie vorgängig dargestellt wurde in geschlechtsspezifischer Zuschreibung in besonderer Weise – je individuell – trifft, für sich tun. Zudem sind sie auf gute BeraterInnen angewiesen, welchen die geschlechtsspezifische Dimension der Thematik bewusst ist. Insofern, als das „Normmaß“ der medizinischen Diagnostik und Therapie männlich ist (vgl. u.a. Hochleitner 2008, 2009, 2010) und Frauen die „Abweichung“ von dieser Norm darstellen, ist es kein Zufall, dass ÄrztInnen bei Frauen länger für Diagnosestellungen und Therapien brauchen. Dass die pharmazeutische Forschung ebenfalls lange Zeit großteils unter völligem Frauenausschluss am männlichen Normmaß orientiert war und männliche Probanden z.B. auch Medikamente für „morgendliche Übelkeit“ in der Schwangerschaft testeten, erhöht die Relevanz der Thematik um bedeutsame Aspekte.18 So genanntes „Doktor Shopping“, welches als Phänomen im Hinblick auf die psychische Disposition der NutzerInnen oder „KundInnen“ des medizinischen Sys19 Diese Information beziehe ich aus dem in Fn. 17 zitierten Vortrag von Kristina Fister auf der Konferenz „Bioethics and Women Revisited: Clinical Trials“ (31.5.2010). 102

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tems beschrieben wird, zeigt so gesehen in gewendeter Interpretation die Unzulänglichkeit eines Systems, in dem geschlechtsspezifisch in ungleichen Verhältnissen geforscht wird und auch die Karriereplanung der MitarbeiterInnen zur Erhöhung dieser geschlechtsspezifischen Dimension respektive dieses Missverhältnisses weiter beiträgt (vgl. Hochleitner 2002, Volmar-Hesse 1999). Frauen wurden medizinhistorisch als „krankes Geschlecht“ im Vergleich zur männlichen Norm beschrieben. Zugleich wurden sie durch dieses Prozedere auch tatsächlich geschwächt sowie persönlich gekränkt in einem System, welches die sozialen und medizinhistorischen Faktoren des Gemachtwerdens von Frauenkrankheiten ausblendet und deren „Für-Wahrnehmung“ und „Empfindung“ aufs Neue pathologisiert (vgl. auch den Beitrag von Ahmed zur Nicht-Anerkennung weiblicher Perspektivenbildungen in diesem Band, sowie zur Nicht-Anerkennung von Differenz: Soiland 2010 und Frauen beraten Frauen 2010). In ihrer erhellenden soziologischen Interpretation von Apuleius’ Märchen „Amor und Psyche“ – „Die Ordnung der Wunden“ – beschreibt Gerburg Treusch-Dieter die Umwandlung eines weiblichen Opfers in Schuld. Diese Umwandlung wirkt bis heute in mythologischen und mytho-psychologischen Bildern mit geschlechtsspezifischen Prägungen nach, welche sich auch in zugeschriebener, vor-genormter Weiblichkeit und Mutterschaft zeigen. Die Auswirkungen derselben als je individuell wirksam werdenden Kränkung und Verwundung, werden in ihrer geschlechtsspezifischen Komplexität bis dato nicht in einer Weise zur Kenntnis genommen, in welcher der Hauptfokus auf die Beseitigung eines Machtungleichgewichts zwischen Männern und Frauen in der bestehenden symbolischen Ordnung gesetzt wird (vgl. Treusch-Dieter 2000, Ossege/Mörth 1992, Irigaray 1989). Die Tatsache, dass „Frau“ nicht dem Bild entspricht, das andere sich von ihr machen (vgl. Irigaray 1979) wird in sozialwissenschaftlicher Interpretation dieser Prägungen, die aus der Vergangenheit resultieren, erschlossen. Demgegenüber werden in naturwissenschaftliche Forschung bio-logische Parameter vordergründig rein „objektiv“ analysiert, in Bezugnahme auf Messfaktoren, die diagnostisch belegbar sind bzw. (gemacht) werden. Ihren Ergebnissen werden zwar soziale Parameter beigemessen, eine sozialhistorische Fokusbildung im Hinblick auf den eigenen maßgeblichen Kanon wird hierbei jedoch nicht ursächlich bedacht, bzw. wird in parallelen Analysen befördert. In der feministischen Wissenschaftskritik und Theoriebildung wurde viel Arbeit geleistet, um dieses Forschungsmissverhältnis zu analysieren und einen traditionellen geschlechtspezifischen Fokus in der wissenschaftlichen Perspektivenbildung mitzubedenken (vgl. u.a. de Lauretis 1987, Harding 1990, Hara103

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way 1995, Braidotti 2002, Soiland 2010). Bezogen auf eine vordergründig naturwissenschaftliche Interpretation weiblicher Körperfunktionen: wurden von Frauen(gesundheits)forscherinnen und Feministischen Theoretikerinnen weitere Erkenntnisse in der Wechselbeziehung zwischen feministischer Theorie und Praxis basierend auf den vorgängigen Grundlagen gewonnen. Aktuelle Arbeiten belegen, wie schwerfällig sich diese Erkenntnisse in der gesundheitspolitischen Praxis durchsetzen konnten und können: Im Hinblick auf die Beseitigung und das „nichtmehr Rekurrieren“ auf antiquierte, traditionelle Rollenbilder, die – je individuell – in Erwartungshaltungen an Frauen münde(te)n. Im Bereich der Vorsorge zeigt sich, dass sowohl traditionelle als auch moderne geschlechtsspezifische Rollenbilder für das Angebot und in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen von Bedeutung sind. Gezeigt wurde auf Basis (inter-)nationaler Erkenntnisse, dass diese Bedeutungen nicht immer evidenzbasierten Kriterien entsprechen, jedoch dennoch „bedient“ werden, was insbesondere häufige Routineuntersuchungen bei jungen Frauen zeigen. Im Vordergrund stehen hierbei (junge) Frauen in der Rolle als Lebenserhalterinnen. Genau diese Rolle ist es, die in Frage steht. Diese Infragestellung kann nicht mit einem Mehr an Früherkennungsmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen gelöst werden: Weder in Bezug auf die Erhaltung des eigenen Lebens noch bezogen auf das Leben von „Schutzbefohlenen“, womit in der Vergangenheit die gesamte Familie gemeint war (vgl. Flieder 2008). Aktuelle Diskussionen rund um Kinderbetreuung und Pflege verweisen auf diesen Wandel und eine aktuelle Umbruchsituation mit unklarem Ausgang: U.a. im Hinblick auf nicht gelöste Fragestellungen, wie mit vormals traditionell dem Weiblichen zugeschriebenen Aufgaben in Zukunft umgegangen wird, wem sie überantwortet werden (können). Solange diese Fragestellungen, die vor allem im reproduktiven Bereich als ehedem unbezahlte von nachhaltiger Persistenz sind, sich als nicht gelöst erweisen und die Übergabe der Verantwortung je individuell von Frauen geleistet werden muss, fordert dieses Prozedere einen hohen Tribut von Frauen, der sich in der Einschränkung ihrer Lebensperspektiven zeigt und die Freude an der eigenen (Pro)Kreativität trübt. Dieses sozial- und gesundheitspolitische Problem wird durch ein Mehr an (Vorsorge)Untersuchungen nicht beseitigt.

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„Sich schön machen“ im Alter: Zur Verknüpfung neoliberaler Körperbilder, w eiblicher Subjektivierungsformen und Ges undheits ha nde ln GRIT HÖPPNER

„Denn die Schönen wirken sympathischer, ziehen an und in den Bann. Schöne Menschen haben größere Chancen bei der Partner/innenwahl, größere Aufstiegschancen im Job und verdienen mehr. Schönheit befähigt zu sozialer Macht, dient ihrer Inszenierung und verkörpert Status.“ (Nina Degele 2008: 68)

„Entdecken Sie die jugendliche Ausstrahlung ihrer Haut an nur einem Tag“ (Shiseido) oder „Zum Verstecken viel zu schade. Glatte Haut in nur zwei Wochen“ (L’Oréal) lauten derzeit medial vermittelte Parolen zweier bekannter KörperpflegeherstellerInnen. Mit solchen Botschaften werden nicht nur neoliberale Körpernormen präsentiert und deren Erreichbarkeit unterstellt, sondern ebenso Ratschläge eines schönheitsbezogenen Selbstmanagements formuliert und die Gestaltbarkeit von Körpern hervorgehoben. Das verschönernde Bodystyling gilt gegenwärtig für viele Menschen als relevanter Bestandteil der Lebensführung. Dieses umfasst Praktiken, mittels derer Körper allein oder mit Hilfe anderer entsprechend gängiger Ideale geformt werden können. In unserer Gesellschaft stehen für diese Form der Körperarbeit eine ganze Reihe unterschiedlicher Strategien zur Verfügung, die nach Degele (2004) im Folgenden als „Schönheitshandeln“ (Degele 2004: 11) bezeichnet werden. Verschönernde Körperstrategien reichen Villa (2008) entsprechend von selbstverständlichen Pra113

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xen (wie Kleidung, Ernährung) und bewussten Projekten (wie Diäten, sportlichen Aktivitäten) über verschiedene Wellness- und/oder Gesundheitstherapien (wie Massagen, Fastenkuren) bis hin zu Manipulationen am Körper (wie plastische Chirurgie). Mit dem Begriff des Schönheitshandelns fasst Degele eine dauerhafte körperliche Verfügbarkeit, die im neoliberalen Kontext als rationaler Versuch der Selbstregulierung gedeutet werden kann. Im Anschluss an Foucault (1993) bestimmt dieser sowohl das Denken als auch das Verhalten von Menschen mit dem Ziel, Wohlbefinden und persönliches Glück zu erfahren. Schönheitshandeln konstituiert sich dabei auf der Grundlage von normativen Vorgaben bestimmter Bezugsgruppen und körperbezogenem Selbstbild. Körper fungieren beim Schönheitshandeln als Medium der Selbstdarstellung, als Projektionsfläche im Rahmen sozialer Inszenierungen und Positionierungen. Doch welche Einstellungen haben ältere1 Frauen zum gegenwärtigen Schönheitskult, vor allem unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Köpernormen sowie bevorzugter Formen des Schönheits- und Gesundheitshandelns? Eine Annährung an diese Fragestellung erfolgt auf der Grundlage einer Verknüpfung theoretischer Ausführungen zum Schönheitshandeln mit Ergebnissen von Interviews, die ich im Rahmen meiner Masterarbeit2 geführt habe. Zunächst werde ich einen kurzen Überblick zum neoliberalen Schönheitskult geben, der in unserer Gesellschaft auf konkret bestimmbaren Körperidealen beruht. Ausgehend von theoretischen Ausführungen zum Schönheitshandeln im Alter werde ich einen Bogen zu weiblichen Subjektivierungsformen ziehen, um diese letztlich im Hinblick auf derzeitige Schönheitsideale und damit verknüpften gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien zu analysieren. Daneben sollen Formen der Körpergestaltung und des Gesundheitshandelns nachgezeichnet werden.

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In diesem Zusammenhang wird auf die Begriffsbestimmung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen. Diese definiert Frauen und Männer mit einem kalendarischen Alter zwischen 60 und 75 Jahren als älter (vgl. Kolland 2000). An dieser Stelle möchte ich meiner Betreuerin MMag.a Dr.in Gabriele Michalitsch für ihre Unterstützung und anregenden Hinweise danken, welche meinen Blick auf die Masterarbeit „Sich schön machen im Alter. Eine kritische Analyse von Geschlecht und Körperbildern im Kontext neoliberaler Gesellschaften“ immer wieder auf konstruktive Weise geschärft haben.

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„SICH SCHÖN MACHEN“ IM ALTER

Neoliberaler Schönheitskult Jugendliches Aussehen inklusive einer straffen Haut und einem schlanken, gesund aussehenden Körper: Derzeit geltende Schönheitsideale in unserer Gesellschaft können durch konkrete, physische Merkmale definiert werden. Diesem Schönheitsideal liegt die Idee zu Grunde, Jugendlichkeit, Schlankheit und Gesundheit nicht als biologische Schicksale zu verstehen, sondern diese als individuelle Aufgabenbereiche, als persönliche Leistungsanforderungen zu (re-)formulieren. Im Neoliberalismus werden Menschen nicht nur zu UnternehmerInnen des eigenen Selbst, sondern auch zu UnternehmerInnen ihrer Körper. Damit einhergehende, dauerhafte Optimierungsbestrebungen zielen vor allem auf eine körperbezogene Selbstmaximierung3. Unter dieser Perspektive haben Menschen ununterbrochen Entscheidungen im Rahmen ihrer Wahlfreiheit zu treffen, die letztlich (scheinbare) Rückschlüsse auf ihre Charaktereigenschaften liefern: Denn nur die Personen, die ihre Körper gängigen Vorstellungen folgend formen, können sich auf dem neoliberalen Markt durchsetzen. Das eigene Leben wird damit zum privaten Kapital, das es in individueller Verantwortung zu verwalten gilt, ebenso wie den eigenen Körper, der gehütet und gepflegt werden sollte. (Vgl. Kreisky 2008) Damit scheint ein schönes, äußeres Erscheindungsbild als Garant für ein attraktives Leben inklusive beruflichem und privatem Erfolg zu stehen. Die Formel des schönen Körpers avanciert zum kategorischen Imperativ und zum Bestandteil des Selbst: Freiheit und Zwang zur Selbstregulierung schreiben sich nach Schroeter (2008) in die Körper der Menschen ein und spiegeln sehr anschaulich die von Foucault (1993) beschriebene Form neoliberaler Gouvernementalität wider, die auf einer Verknüpfung von Selbst- und Herrschaftstechniken beruht. In neoliberalen Gesellschaften wird mittels dieses Körperideals eine Differenzierung von Menschen vorgenommen: Die Gruppe derer, die ihren Körper „managen“ und entsprechend gängigen Vorstellungen zum Schönheitsideal selbst regulieren kann, gilt dabei als „normal“, ist diese doch in der Lage, sich bestimmten Körpernormen zu fügen. Im Kontrast dazu wird im neoliberalen Kontext die Gruppe von Menschen gedacht, die dazu nicht in der Lage ist und daher als Abweichung, als „das Anormale“ verstanden wird (vgl. Foucault 2004). Diese Klassifizierung in 3

Dass zur Erreichung dieser Zielsetzungen gesicherte Einkommensverhältnisse notwendig sind und der Körper damit zur „Arena sozialer und ökonomischer Kämpfe erkoren“ (Kreisky 2008: 148) wird, verstärkt letztlich gesellschaftliche Differenzierungen: Wellness-Oasen, Fitness-Studios oder der Markt rund um eine gesunde Ernährung sind aufgrund ökonomischer Bedingungen für viele Menschen nicht zugänglich. 115

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Anlehnung an normative Vorgaben in geeignet/ungeeignet, normal/anormal ist insofern kritisch zu bewerten, als dass „unvollkommene“ Körper eine schwindende soziale Akzeptanz erfahren. Kreisky (2008) spricht in diesem Zusammenhang gar von der Entstehung „neue[r] Körperklassen“ (Kreisky 2008: 155). Dabei wird zwischen jenen differenziert, die sich neoliberalen Körperidealen annähern können und denen, die daran scheitern: „Alle vom kapitalistischen Körper-Phantasma abweichenden, etwa alternden, überforderten, abgekämpften, übergewichtigen, kranken oder bloß dem allseits indoktrinierten Schönheits- und Schlankheitsideal nicht (mehr) entsprechenden Körper(-Bilder) [werden] entwertet und mehr oder minder gesellschaftlich ausgegrenzt“ (Kreisky 2008: 156). Der schöne, makellose, gesunde Körper wird damit als gesellschaftliches Ideal im Gegensatz zum unansehnlichen, schwachen, kranken, alten Körper gedacht, der in einer neoliberalen Gesellschaft als normative Abweichung verstanden wird. Mit diesen binären Konstruktionen gehen gesellschaftliche Bewertungen und nicht zuletzt soziale Ausgrenzungen „unerwünschter“ Körper einher.

„ S c h ö n s e i n “ i m Al t e r Ältere Menschen gelten gegenwärtig als bedeutender wirtschaftlicher Faktor. Dementsprechend suggerieren mediale Botschaften die Möglichkeit, fern jeglicher Resignation aufgrund körperlicher Alterungsprozesse die Phase der Jugend zu verlängern: Damit tragen besonders ältere Menschen die von der Körper-, Kosmetik- und Nahrungsindustrie initiierten Wellness- und Gesundheitstrends sowie damit einhergehende Versprechungen der Gestalt- und Modellierbarkeit älter werdender Körper entsprechend gesellschaftlicher Schönheitsideale (vgl. Schroeter 2007). Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang allerdings die gegenwärtige Darstellungspraxis älterer Menschen im medialen Kontext, die sich laut Schroeter (2008) auf die in der Öffentlichkeit sichtbaren Körperteile konzentriert, wie das Gesicht und die Haare. Während also öffentlich wahrnehmbare Körperbereiche durchaus das Ziel von Werbekampagnen sind, erfährt der restliche Körper älterer Menschen wenig Aufmerksamkeit und wird in Werbedarstellungen mitunter manipuliert, perfektioniert oder schlicht nicht gezeigt: Ältere Körper werden auf diese Weise unsichtbar gemacht. Rücken sie dennoch ins Zentrum medialer Diskurse, dann vor allem unter der Prämisse der ewigen Jugend und dem damit suggerierten Aufruf zur Korrektur des alternden Körpers. Nicht zuletzt wird dadurch die gesellschaftliche Norm vermittelt, Zeichen des Alters als abweichende Makel zu verstehen, die es zu bekämpfen gilt (vgl. Gildemeister/Robert 2008). 116

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Eng mit diesen Botschaften ist die Aufforderung verbunden, eine entsprechende Selbstverantwortung für den Körper zu übernehmen, um den Alterungsprozess in Eigenregie zu lenken. Weil damit sowohl körperliche Optimierungs- und Selbstregulierungsprozesse angestoßen werden als auch individuelle Selbstbestimmung im Sinne von Wahlfreiheit unterstellt wird, scheinen neoliberale Denkmuster auch für die Gruppe älterer Menschen relevant: Das Schönheitsideal des „dynamische[n] Self made-Körper[s]“ (Fleig 2008: 90) bleibt begehrenswert. Schroeter (2008) weist in diesem Zusammenhang auf die lange Zeit der jüngeren Generation vorbehaltenen, schönheitsbezogenen Imperative hin, die nun ebenso auf ältere Menschen übergreifen. Backes (2008b) folgend kristallisiert sich auf der Grundlage einer Entpluralisierung der Lebensphasen die Entwicklung heraus, dass nun das mittlere Lebensalter als „altersübergreifender Vergleichmaßstab für körperbezogene Leistungs- und Schönheitsnormen“ (Backes 2008b: 192) eingeordnet wird. Körperliche Veränderungen aufgrund von Alterungsprozessen werden dementsprechend nicht länger als naturgegeben akzeptiert, sondern als eine „Art pathologische Abweichung von einem quasi alterslosen Funktions- und Leistungsideal“ (Backes 2008b: 193) gedeutet. Diese Ideale beziehen sich neben körperlichen Attributen auch auf Charaktereigenschaften älterer Menschen, wie Spontaneität und Flexibilität. Für ältere Menschen gilt darüber hinaus die Forderung eines verantwortungsbewussten Umgangs im Rahmen der eigenen Lebensgestaltung, der „Körper wird zum sichtbaren Ausdruck einer gesunden Lebensweise“ (Schroeter 2008: 253). Dieser Aspekt erfährt vor dem Hintergrund der steigenden Krankheitshäufigkeit mit zunehmendem Alter eine widersprüchliche Bedeutung. Backes (2008a) bewertet den Körper gar als „Ungleichheitsdimension“ (Backes 2008: 68), denn trotz ausgewogener Ernährung, dauerhafter, sportlicher Aktivität und individueller Prävention kann der körperliche Alterungsprozess nur begrenzt beeinflusst werden.

„Schön sein“ als ältere Frau Gildemeister und Robert (2008) vertreten die Auffassung, dass insbesondere Frauen vom gesellschaftlich konstruierten Körperideal des jugendlichen Aussehens inklusive einer faltenarmen Haut und einer schlanken Figur angesprochen werden. Makellosigkeit und Reinheit unterstützen Degele (2004) folgend dabei aber auch die Uniformität weiblicher Körper, während das Schönheitsideal für Männer – trainiert, athletisch, muskulös – deren Individualität betont. Mit diesen geschlechtsbezogenen Schönheitsidealen scheint eine unterschiedliche Gewichtung hinsichtlich normierender Zuschreibungen einherzugehen: So 117

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kritisiert Degele den „Schönheitskult [..], der vor allem Frauen in ein enges Korsett von Schlankheit, Jugend, Attraktivität, Sportlichkeit, Gesundheit und Leistungsfähigkeit schnürt“ (Degele 2004: 29). Damit verweist die Autorin auf eine stärkere, kulturelle Normierung weiblicher Schönheitsideale im Vergleich zu männlichen. Diese These steht in enger Verbindung zu einer von Öberg und Tornstam (1999) im Jahr 1995 in Schweden durchgeführten Studie. In der Untersuchung konnte gezeigt werden, dass das äußere Erscheinungsbild für Frauen im Alter zwischen 20 und 85 Jahren stets eine höhere Relevanz einnimmt als für gleichaltrige männliche Befragte. Unter dieser Perspektive kann Schönheitshandeln auch als Strategie der Geschlechterdifferenzierung entschlüsselt werden. Diese ist hinsichtlich der heterosexuellen Norm in unserer Gesellschaft bedeutend, wird weibliche Attraktivität doch immer auch mit männlichem sexuellem Begehren verknüpft. Solche binären Positionierungen basieren auf patriarchalen Machtstrukturen, die unserer Gesellschaft inhärent sind. Bereits Mitte der 1970er Jahre hat Susan Sontag (1975) sehr eindrücklich auf die Schnittpunkte von Geschlecht und Alter hingewiesen. Obwohl Frauen und Männer von körperlichen Alterungsprozessen betroffen sind, gehen mit diesen unterschiedliche soziale Bewertungen einher: So erreichen Männer in unserem Sprachgebrauch ein hohes Alter, während Frauen älter werden. Alter wird unter Berücksichtigung traditioneller Geschlechterrollen bei Frauen eher als Defizit, bei Männern jedoch durchaus als Prestigezuwachs definiert. (Vgl. Sontag 1975; Maierhofer 2007) Eine geschlechtsbezogene Diskrepanz in Bezug auf den Alterungsprozess wird auch mittels der Überlegungen von Gildemeister und Robert (2008) deutlich: Während Frauen lange Zeit als alt bezeichnet wurden, wenn ihre Reproduktionsfähigkeit endete, galten Männer als alt, wenn sie ein kalendarisches Alter ab dem 60. Lebensjahr erreichten, also einige Jahre später. Indem der Phase der Jugend Eigenschaften wie Energie und Aktivität – Assoziationen des Männlichen – zugeschrieben werden, gilt die Zeitspanne des Alters als Metapher für Hilflosigkeit und Passivität, also mit dem Weiblichen verknüpfte Merkmale. Insofern werden Maskulinität und Jugendlichkeit im Gegensatz zu Weiblichkeit und Alter positioniert und gängige binäre Vorstellungen unserer Gesellschaft (re-)präsentiert (vl. Maierhofer 2007). Die These des „double-standard-of-aging“ von Sontag (1975), die besagt, dass Frauen ihre äußere Erscheinung wichtiger ist als Männern und sie sich mit zunehmendem Alter mehr um diese sorgen, konnte auch im Rahmen der Untersuchung von Öberg und Tornstam (1999) bestätigt werden. Frauen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren scheinen besonders bewusst mit ihrem Körper und ihrer Gesundheit umzugehen, insbeson118

„SICH SCHÖN MACHEN“ IM ALTER

dere im Hinblick auf bevorstehende, altersbedingte Veränderungen der äußeren Erscheinung und mögliche körperliche Einschränkungen. Auf der Basis von Falldarstellungen4 zweier österreichischer Frauen im Alter von 68 und 70 Jahren sollen im Folgenden weibliche Subjektivierungsformen hinsichtlich der gesellschaftlichen Schönheitsideale Schlankheit und Gesundheit analysiert, sowie Formen der Körpergestaltung herausgearbeitet werden.

„Schön sein“ als ältere Frau am Beispiel des neoliberalen Körperideals Schlankheit Schlanksein verweist in Anlehnung an Schroeter (2008) auf eine derzeitige Lesart des schönen Körpers, die ebenso als Metapher neoliberaler Transformationsprozesse gedeutet werden kann. So lassen sich laut Kreisky der Abbau sozialstaatlicher Leistungen und die damit einhergehende „Verschlankung“ (Metzen 1994 zitiert nach Kreisky 2008: 149) des neoliberalen Staates auf semantischer Ebene als Anforderungen an den einzelnen Menschen lesen: Die „Kultur der Schlankheit“ (Kreisky 2008: 146) fungiert damit als konkrete körperbezogene Handlungsanforderung an Menschen; die staatliche Verschlankung begründet zugleich eine gesellschaftlich anerkannte Körpernorm. Schlankheit wird damit als Zeichen für Wohlstand und „luxuriöses Lebensgut Reicher und Mächtiger“ (Kreisky 2008: 156) (re-)formuliert. Demgegenüber wird Übergewicht im neoliberalen Kontext als Schwäche der Selbstregulierung gedeutet: Ein dicker Körper fungiert in dieser Lesart als Symbol für Trägheit, Zügellosigkeit, Undiszipliniertheit und für minderwertige Ernährung. Die folgende Interviewanalyse reiht sich in diese theoretische Kontrastierung ein. Frau S ist zum Zeitpunkt des Interviews 70 Jahre alt und verheiratet. Bis 1991 hat Frau S in Vollzeit bei einer österreichischen Bank gearbeitet, aufgrund körperlicher Beeinträchtigungen ist sie vorzeitig in Pension gegangen. Ihr Leben lang hat Frau S sehr großen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild und einen schlanken Körper gelegt. Mit zunehmendem Alter bemerkt sie physische Veränderungen, die sich vor allem auf ihre Figur nachteilig auswirken: „[D]ie Figur verändert [sich], das komischerweise. Zum Beispiel bei mir nicht das Gewicht aber die Figur wird 4

Die problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 1982) habe ich Mitte Dezember 2009 und Anfang Januar 2010 im Rahmen meiner Masterarbeit durchgeführt, diese mittels des Verfahrens des Thematischen Kodierens ausgewertet und die Ergebnisse zu Falldarstellungen verdichtet. Die kursiv hervorgehobenen Wörter verweisen auf eine besondere akustische Betonung. 119

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nachteiliger. [...] [D]as ist halt der normale biologische Prozess, den man in einer Weise zwar akzeptieren muss aber in anderer Weise doch versucht, so gut als möglich damit umzugehen.“ (I 2, S:5, Z.223-227)5. Eine Möglichkeit, auf körperliche Veränderungen zu reagieren, sieht Frau S in einer neuen Art des Kleidens, die ihre Figur mehr verdeckt: „[B]ei der Kleidung, [...] dass das nicht mehr so tailliert geht oder wo immer man halt Schwachstellen hat, die man eben ein bisschen kaschieren muss.“ (I 2, S:8, Z.368-370). Frau S hält heute mehr Diäten als früher, vor allem aus gesundheitlichen Gründen. Eine Veränderung der Ernährung hat sie dahingehend festgestellt, dass sie heute mehr auf diese achtet. Den Grund hierfür sieht Frau S jedoch nicht in einer veränderten Einstellung zu gesundem Essen, sondern in einer Zunahme von freier Zeit während des Pensionsalltags. Heute nutzt sie verstärkt Nahrungsergänzungsmittel, da diese angeblich gut für die Gesundheit sind: „[J]a diese Nahrungsergänzungsmittel. Die sind vielleicht mehr geworden [...]. Aber auf das hab ich immer geschaut. Soweit es damals schon vorhanden war“ (I 2, S:9, Z.392-394). An dieser Stelle wird die enge Verbindung von Ernährungsstrategien deutlich, die zwar auch auf eine schlanke Figur zielen, vor allem aber auf einen gesundheitsbewussten Umgang mit dem Körper. Während Frau S darüber hinaus bemüht ist, sich dem neoliberalen Schönheitsideal Schlankheit anzunähern, indem sie altersbedingte Veränderungen ihres Körpers mittels Kleidung zu verbergen versucht, fühlt sich Frau M als zu dick und spürt dies im Alltag leibhaftig. Die befragte Wienerin ist zum Zeitpunkt des Interviews 68 Jahre alt, Mutter, Großmutter und seit einigen Jahren verwitwet. Ihrer Aussage nach hat sie sich selten schön gemacht, auch während ihrer Ehejahre spielte das Schönheitshandeln eine untergeordnete Rolle. Frau M erwähnt wiederholt finanzielle Aspekte, die ihr Schönheitshandeln beeinflussen. „Mir gefallen schlanke Frauen extrem gut, aber ich schaffe es halt nicht. [...] [F]ür mein Gewicht bin ich sicher viel zu stark, ich merke es beim Stiegensteigen bei allem, ich tue mir schon schwer beim Schuhe zubinden“ (I 1, S:4, Z.206f, S:5, Z.209-211). Bei ihrer Hochzeit wog Frau M weniger, sie hat erst im Laufe der Zeit zugenommen. Abnehmen ist für sie ein schwieriger, langwieriger Prozess: „[I]ch war schon auf Kuren. Ja, ich nehme vielleicht in 3 Wochen 2 Kilo ab, das Höchste war mal glaub ich 3 Kilo“ (I 1, S:4, Z.205f). Als Gründe für ihr Übergewicht gibt Frau M körperbezogene Ursachen an, darüber hinaus aber auch die Art ihrer Ernährung. Diese ist wiederum mit dem Gefühl des eigenen Wohlbefin-

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Die Quellen entstammen meiner Masterarbeit und beziehen sich auf die Nummer des Interviews, die Seite/n und die Zeile/n des jeweiligen Zitats (vgl. Höppner 2010).

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dens eng verbunden. Auf die Frage, was sie für ihr Wohlbefinden tut, antwortet Frau M: „Für mein Wohlbefinden? [...] Nicht viel, ein bisschen ungesund essen“ (I 1, S:10, Z.496f). Mit dieser Einstellung reiht sich Frau M in Beschreibungen zum postmodernen Körper ein, der Genuss üben „darf“, jedoch in kalkulierten Maßen. An dieser Stelle wird das Spannungsfeld zwischen individueller Wahlfreiheit und Eigenverantwortung von Menschen deutlich, das für neoliberale Gesellschaften charakteristisch ist und mit einem Zwang zur „richtigen“ Entscheidung bei einer Vielzahl von Körpergestaltungsmöglichkeiten verbunden ist. (Vgl. Gugutzer 2004) Wie gezeigt, grenzt sich Frau M vom ungeschriebenen Gesetz der Schlankheit von Frauen ab. Und obwohl sie aufgrund ihrer Figur Nachteile im Alltag verspürt, wiegen der Genuss kalorienhaltiger Lebensmittel und das dabei empfundene Wohlbefinden für sie höher. Mittels dieser Betrachtung können sowohl zwei unterschiedliche Strategien bezüglich des neoliberalen Körperideals Schlankheit im Alter entschlüsselt als auch eine Verbindung zwischen dem Umgang mit altersbedingten, körperlichen Veränderungen und biografischen Aspekten gezogen werden. Die von den beiden Frauen beschriebenen Formen des Schönheitshandelns spiegeln dabei mögliche Dimensionen weiblicher Subjektivierungsprozesse wider. Diese sind eng mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit verknüpft und verweisen nicht zuletzt auf soziale Konstruktionen zum (a-)normalen Körper.

„Schön sein“ als ältere Frau am Beispiel des neoliberalen Körperideals Gesundheit Lemke (2007) folgend sind verantwortungsbewusste Menschen „objektive Zeugen für seine oder ihre (Un-)Fähigkeit, freie, und rationale Subjekte zu sein“ (Lemke 2007: 56). Gesundheit in einem neoliberalen Verständnis muss dementsprechend als deutliches Zeichen von Initiative gedeutet werden: Was aus medizinischer Sicht als Risikofaktor für eine Krankheit eingeordnet wird, ist aus neoliberaler Perspektive korrekturbedürftig: „Da Selbstbeherrschung und Autonomie fundamentale Vorraussetzungen der Gesundheit bilden, sind ein mangelnder Wille und eine unzureichende Selbstführung erste Symptome einer Krankheit, deren Ursache letztlich im Inneren des Subjekts liegt – und die nicht auf ,äußere Faktoren‘[...] zurückgeführt werden kann“ (Lemke 2007: 56). Unter neoliberaler Perspektive erscheint die Optimierung des eigenen Gesundheitszustands als Ausdruck einer souveränen Selbstregulierung. Begleitet wird das damit einhergehende Leitmotiv der Selbstverantwortung auch mittels Diskursen rund um die Themenbereiche Gesundheits121

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erziehung und -prävention. Gesundheitsfördernde Strategien werden von einer zunehmenden Anzahl von Menschen im Sinne einer Selbstermächtigung freiwillig, und Foucault (1993) entsprechend als Selbsttechnik verinnerlicht. Doch welche Einstellungen haben ältere Frauen zu gesundheitsfördernden Praktiken? Auf die Frage, welche Rolle ihr Gesundheitszustand im Rahmen gegenwärtiger Aktivitäten spielt, weist Frau M auf die ihr verbleibende Zeit hin, die sie intensiv nutzen möchte: „[W]ir sagen eh, wir wollen jetzt so viel als möglich unternehmen und reisen, weil man weiß ja nicht, in einigen Jahren kann dann schnell irgendwas sein“ (I 1, S:6, Z.282284). Damit deutet Frau M auf mögliche Krankheiten hin, die ihr bevorstehen und bisher gern ausgeübte Aktivitäten beschränken könnten. Um ihr Wohlbefinden zu verbessern, verfolgt Frau M verschiedene Rituale: So fährt sie ein Mal pro Jahr nach Ungarn in ein Thermalbad und treibt regelmäßig Sport. Neben der Teilnahme an einer wöchentlichen Gymnastikgruppe für die Wirbelsäule geht sie auch Nordic Walking nach. Externe Faktoren, wie Freundinnen, verstärken dabei ihr Interesse an sportlichen Aktivitäten: „[A]llein macht’s keinen Spaß [...] [und] alleine rummarschieren [...] da komm ich mir komisch vor.“ (I 1, S:11f, Z.569f, 574f). Frau M bemerkt einen Anstieg von Ängstlichkeit in Bezug auf bestimmte Sportarten mit zunehmendem Alter, welche die Auswahl sportlicher Aktivitäten beschränkt: „Ich schwimm nicht sehr gut und nicht sehr weit raus. Ängstlicher bin ich geworden auf jeden Fall gegen früher. [...] Skifahren war ich früher auch [...] oder Eislaufen, da bin ich jetzt ängstlich.“ (I 1, S:11, Z.551f, 558f). Gefühle, wie das eigene Wohlbefinden beim Thermenbesuch, die wachsende Motivation bei sportlichen Betätigungen in der Gruppe sowie die Angst vor bestimmten Sportarten, beeinflussen derzeitige Freizeitaktivitäten von Frau M. Diese begrenzen letztlich die Auswahl der Strategien, die sie im Rahmen gesundheitlicher Prävention in Anspruch nehmen kann. Daneben veranlassen körperliche Veränderungen Frau M zu einem anderen Umgang in Bezug auf ihr Schönheitshandeln: So findet die Befragte beispielsweise längere Haare schön. Aufgrund von Kopfbedeckungen, die für sie wegen wiederkehrender Kopfschmerzen notwendig sind, bewertet sie diese jedoch eher als störend und unpraktisch. Wegen ihrer Augenkrankheit ist die Verwendung von Augen-Make-up heute nicht mehr möglich. Ihre Haut reagiert nun sensibler, beizeiten mit Hautausschlägen auf Duschgel und bestimmte Creme. Wegen ihrer Hautsensibilität verwendet Frau M keine Haartönungen mehr: „Früher so eine Tönung, die hab ich schon machen lassen. Aber dann hab ich so Ekzeme gekriegt und da habe ich gesagt: Nie mehr färben! Jetzt bin ich halt ein Grauschimmel“ (I 1, S:15, Z.778-780). Dieses Zitat spiegelt sehr anschaulich ihre Motivation zum 122

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Schönheitshandeln wider: Das Berücksichtigen ihres Gesundheitszustands wiegt für Frau M mehr als das Ausüben verschönernder Körperstrategien, die auf eine (Re-)Produktion von Vorstellungen „normaler“ Weiblichkeit zielen. Frau S verfolgt diesbezüglich eine differierende Strategie: Für sie spielt die Pflege im Rahmen des Schönheitshandelns auch gegenwärtig eine wichtige Rolle, ebenso im Falle einer Krankheit. Auch dann ist die Erhaltung des äußeren Erscheindungsbildes relevant, obwohl dies beizeiten persönliche Stärke, Ausdauer und Beherrschung erfordert: „Na ja, da bin ich natürlich schon der Meinung, dass man so lang es geht eben durchhält und nicht unbedingt alles zeigt [...] Und, dass es kein Hindernis sein darf, um sich nicht zu pflegen [...]. Wobei es natürlich schwierig wird, wenn man zum Beispiel eine Krebserkrankung hat. Dann wird’s sicher sehr schwer und gehört sicher sehr viel Stärke dazu, sich weiter zu pflegen. [...] Ich hab auch einige schwere Krankheiten gehabt, die aber nicht so, also ich mein, zumindest hat man’s nicht äußerlich gesehen. Da bin ich der Meinung, das so gut als möglich zu beherrschen“ (I 2, S:7, Z.300-310). Obwohl ihre sportlichen Fähigkeiten eingeschränkt sind, bringt sie die nötige Motivation zur Ausübung eben dieser auf. Als Grund benennt Frau S die Steigerung ihres Wohlbefindens durch körperliche Bewegung: „[J]e mehr ich die Möglichkeit hab, mich zu bewegen [...] Ob des jetzt Gymnastik in der Früh ist oder dann eine Stunde herumlaufen [...]. Ich sag, so, jetzt muss ich eine halbe Stunde gehen. Na, das ist wichtig. [...] Oder im Sommer mit dem Rad fahren, nicht in Wien aber draußen eben. [...] Die Bewegung, Bewegung, ja.“ (I 2, S:10, Z.422-428). Auch mittels Nordic Walking steigert Frau S ihr Wohlbefinden. Sie benennt diese neue Sportart, die ihrer Meinung nach gut für die Gesundheit ist: „[Es] haben sich ja auch einige Sportarten geändert [...]. Eben, das Nordic Walking ist ja ganz beliebt geworden und das hat es damals nicht gegeben. [...] Aber vielleicht hätte es mich nicht so interessiert.“ (I 2, S:9, Z.394-398). Frau S weist verschiedene Merkmale neoliberal motivierter Körperarbeit auf: Unabhängig von externen Faktoren bringt sie die nötige Motivation zur Ausübung sportlicher Aktivitäten auf, steigert mit eben diesen ihr persönliches Wohlbefinden und versucht krankheitsbedingte, körperbezogene Veränderungen mit Hilfe persönlicher Stärke und Beherrschung nach außen hin zu kaschieren. Die von den beiden Frauen beschriebenen Formen des Gesundheitshandelns eröffnen auch an dieser Stelle mögliche Perspektiven weiblicher Subjektivierungsprozesse, welche ihre Individualität betonen. Doch trotz unterschiedlicher Einstellungen zum Schönheitshandeln und differierender Strategien verschönernder Körperarbeit wirken die „Funktionalisierung und Kommerzialisierung von Gesundheitsbewusstsein und 123

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neuer Gesundheitsbewegungen“ (Kreisky 2008: 154) im Rahmen neoliberaler Politiken auf beide Frauen. „Schönheit, mein Gott, Schönheit vergeht.“ (I 2, S:4, Z.184f), lautet die Antwort von Frau S auf die Frage, wann eine gleichaltrige Person für sie schön ist. Schönheitshandeln im Alter bedeutet nicht länger das Festhalten am Glauben an eine grenzenlos erscheinende Gestaltbarkeit von Körpern oder die Sorge um eine stetige Optimierung von Äußerlichkeiten. Damit erfolgt eine Abgrenzung von gesellschaftlichen Vorstellungen „normaler“ Weiblichkeit, die auf neoliberalen Schönheitsmerkmalen basieren und soziale Machtstrukturen (re-)produzieren. Gängige Körpernormen sind zugleich aber auch Teil weiblicher Identitätsentwürfe, konstituiert sich das körperbezogene Selbstbild doch auf der Grundlage von vergeschlechtlichten Subjektivierungsprozessen und normativen Vorgaben. Die Anforderung älterer Frauen besteht sicher nicht nur in der Artikulierung dieser Diskrepanz, sondern auch im Praktizieren einer geeigneten Umgehensweise mit dieser. Theoretische Auseinandersetzungen in der Literatur belichten solche individuellen Bewältigungsstrategien bislang nur marginal. In unserer Gesellschaft jedoch, in der sich gängige Körpernomen und soziale Ordnungsprinzipien wechselseitig hervorbringen, erscheint eine weiterführende Diskussion dieser Thematik dringend angeraten.

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F EMINISTISCHE T HEORIEN UND FRAUENPOLITISCHE P RAXIS

Ges undheit und Moderne Fra ue n. Notate zum Körperregime BIRGE KRONDORFER „Wir sind ein Blutbefund.“ Elfriede Jelinek

Als vor knapp fünfundzwanzig Jahren Elfriede Jelineks Theaterstück „Krankheit oder Moderne Frauen“ uraufgeführt wurde, ergingen sich die feuilletonistischen Meinungsmacher in Empörung. „Da ist die Rede von ‚Abnormität‘ [...] [von einem; Anm. B.K.] ‚erstaunlich simplen Weltbild‘ [...] von ‚einer Mischung aus Blut und Boden, Bauch und Kopf, Kino und Klischee‘“ [Friedrich 1987: 89]. Die Kritiker demaskierten sich selbst, indem sie dem Erfolg des Stückes internationale feministische Drahtzieherinnen unterstellten. „Humor, etwas Selbstironie würden die Kampfeskraft untergraben. Schließlich geht es um die Erhaltung scheinbar bedrohter Machtpositionen. [..] Nicht anders als im Stück. [...] Elfriede Jelinek hat sich diese Angriffslust auch redlich verdient: [...] Unnachsichtig schreibt sie an gegen das allgemeine gentlemanagreement unserer Verdrängungskultur [...] auf der Suche nach den Untoten.“ (Friedrich 1987: 91) Die Hauptprotagonistinnen sind zwei Vampirinnen: eine Hausfrau und Mutter, die bei der Geburt des sechsten Kindes stirbt und eine lesbische Krankenschwester. Die Krankheit ist schön. Sie ist mir unentbehrlich. Ich bin krank, daher bin ich. [...] Ich bin krank und daher berechtigt. Ohne Krankheit wäre ich nichts. (44).1 Metapho-

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Im Text werden die Zitate aus dem Theaterstück kursiv gehalten und – bis auf die Seitenangabe – nicht dem Zitierkodex unterzogen. Sie gehören zum Gefüge der Argumentation. Anm. der Herausgeberin: Diese Abweichung von den Zitierregeln basiert auf dem ausdrücklichen Wunsch der 129

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risch steht hier Krankheit für die weibliche Existenz und Elfriede Jelinek verweist die Abnormität der Frau nicht in überkommene Vergangenheiten und nicht in trächtige Zukünfte. „Die feministische Bewegung hat sich zu einem Spaltpilz ausgewachsen. Einige ihrer Ableger sind bereits wieder lustvoll in jener Falle gelandet, aus der sie einst ausgebrochen waren. Es raunt im Hexenchor von mystischer Naturverbundenheit, vom Wunder weiblicher Biologie, von Heilung durch längst verpestete Kräuter. Wie sagt doch Emily so treffend: ‚Reine Natur bin ich, erinnere daher oft an Kunst‘ und an anderer Stelle: ‚Jetzt, da die Natur endgültig hin ist, wird sie flott besungen‘“ (Friedrich 1987: 85f.). Das klingt höchst aktuell. Hinsichtlich innerfeministischer Diskussionen ebenso wie in Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und deren gewaltförmigen oder ästhetischen Produktionen, die nach wie vor geschlechtlich codiert sind. Allerdings hat sich der Diskurs in Richtung Flexibilisierung der Geschlechter verschoben; doch möglicherweise spricht er das gleiche unter umgekehrten Vorzeichen. Die „moderne Frau“, sie ist nicht krank, sie ist gesund. Das ist ihre Wahl. Der Wahn eines Dienstmädchens ist der Wahn einer Serviererin ist der Wahn einer Installateursgattin ist der Wahn der Köchin ist der Wahn einer Sekretärin ist der Wahn einer Kellnerin ist der Wahn einer technischen Zeichnerin ist der Wahn einer Lehrerin ist der Wahn einer Kindergärtnerin ist der Wahn einer Putzfrau ist der Wahn einer Stewardess ist der Wahn der Diätassistentin ist der Wahn einer Krankengymnastin ist der Wahn der Logopädin ist der Wahn der Sozialarbeiterin ist der Wahn einer Verkäuferin ist der Wahn der Krankenschwester. (56) Die Thematisierung von Gesundheit wird im Folgenden auf den Körper bezogen.2 Auch wenn dies im innerfeministischen Diskurs bestritten wird, so ist die Verbindung von „Weib und Leib“ im (Un-)Bewusstsein tief verankert. Doch welche Bedeutung hat diese Ambiguität? Hier die (avantgardistische, subversive und allergische) Absage an jegliche Fesselung von (Natur-)Körper an weibliche Existenz, dort die hartnäckige (mediale, persönliche und medizinische) Verknüpfung von Frauen mit körperlicher Repräsentation und (Re-)Produktivität. Und schließlich gibt es da noch die Diskursivierung des postmodernen Körpers, der als fragmentierter zwischen ästhetischer Zersetzung, ökonomischer Versetzung und reproduktionstechnologischer Ersetzung oszilliert und rotiert. Die

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Autorin und wird von ihr als sinngebender Ausdruck im Textgefüge interpretiert. Fragen von psychischer Gesundheit oder Desintegration sind hier diskursiv ausgespart.

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Situation ist komplex (und) paradox, sodass nur einige (und) dissonante Noten im und um den Abgesang des Körpers bei dessen gleichzeitig besungener Epiphanie hier gehört werden können.

Im Sound um uns3 Im Internet, dem Medium und der Repräsentanz des allgemeinen Bewusstseins, ist unter „Gesundheit“ auf den ersten von zigtausend Seiten „Gesundheits-Check“ gefolgt von „Gesundheit für Frauen“ augenfällig. Weiters wird „Ernährung, Fitness, Wellness“ mit „Gesundheit tanken“ assoziiert. Aktuell ist eine Ankündigung zu dem „First International Symposium on ,Global health and Gender‘“ zu lesen, das diese Tage (April 2010) in Österreich stattfindet. Auch die Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ist zu finden: "Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Beschwerden und Krankheit.“ (Rieländer 2003: 1). In einer willkürlich aufgeschlagene populären Tageszeitung4 wird der Beginn einer Serie „Vital durchs Leben: Nicht nur länger, sondern gesünder“ großformatig angekündigt, in der eine Sozialmedizinerin als „Anerkannte Lebensstil-Expertin“ gute Ratschläge gibt. Einer Wochenzeitung mit Anspruch war dem Interview mit einem Psychiater und Theologen zu entnehmen: „Die Leute glauben heute nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit, und alles was man früher für den lieben Gott tat – Wallfahrten, Fasten usw. –, das tut man heute dafür. Es gibt Leute, die Leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot. Gesundheit gilt nicht mehr als Göttergeschenk, sondern wie alles in unserer Gesellschaft, als herstellbares Produkt.“ (Lütz 2009: 81)5. Gesundheit wird also allumfassend gefasst; body-checken ist Zins und Zoll des postmodernen Lebensstiles; „Gender“ ist im Gesundheitsdispositiv angekommen; attraktive Adresse der Anrufungen sind Frauen; diese können autonom „Gesundheit tanken“ – das ist ihre neue Pflicht. Denn: Ihre Materie ist unentschlossen. Soll sie schlecht sein? Soll sie Fett ansetzen? Soll sie die Alpen besuchen gehen? (51) Risikovermeidung und Prävention sind die Leuchtreklamen unserer Zeit, die eine vorbeugende Praxis proklamieren. In der gegenwärtigen Ökonomisierung des Sozialen geht es um die Investition ins je individuelle Humankapital, um das selbstverantwortliche Managen der (eigenen) Lebensri3 4 5

Sound bedeutet im englischen sowohl „gesund“ als auch „Klang“. Kurier vom 4.4.2010, S. 20 Manfred Lütz ist Autor von Bestsellern wie „Lebenslust – Über Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswahns“ (Lütz 2006, München). 131

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siken. Willige Selbstkontrolle korrespondiert mit Sanktionen auf vertrödeltes Verhalten.6 „Wer es an Einsicht fehlen lässt und etwa auf Tabak oder Alkohol nicht verzichten will, wer keinen Sport treibt oder regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen versäumt, der hat auch die Folgen selbst zu tragen – sei es in Form höherer Versicherungsprämien, sei es in Form geringerer Lebenserwartung. Je dichter das Netz präventiver Kontrollmöglichkeiten, desto fahrlässiger handelt, wer sie nicht wahrnimmt. Vorbeugung avanciert zum moralischen Imperativ, dessen Unabweisbarkeit gerade darauf beruht, dass er nicht an hehre Ideale, sondern an das Eigeninteresse appelliert. Weil dieser Imperativ sich auf alle Lebensbereiche erstreckt, ist ihm eine ebenso universelle Schuldzuweisung eingeschrieben“ (Bröckling 2004: 214).

Zu Zeiten kritischer Theorie und Praxis, wurde davon gesprochen, dass die Verhältnisse krank machen, heute macht man sich durch das eigene Verhalten krank. Systemkritik wird zur Selbstkritik, Systemkrise zur Selbstkrise. Das Stigma des diffusen Subjekts der Postmodernen ist im Stigma der konfusen Lebensführung des neoliberalistischen Individuums angekommen. Pointiert: das tote Subjekt ist das untote Selbst. Dessen Leben sich funktionstüchtig und produktiv zu erhalten und verwalten hat – hedonistische Liberalität eingeschlossen. Seid adrett! Seid gepflegt! Seid Agentur! Gebt unsere Lust wieder heraus! Gebt etwas von euch her! Verbindet euch mit uns! Seid fraulich. (53) „Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltung annulliert Leben an der Subjektivität. [...] Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selbst zum Ding gemacht, zur Equipierung. Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewusst in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Betriebsmittel ab, dass es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst. Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz aufgehen. [...] Sie sind nicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sich auf sie als sein inwendiges Objekt“ (Adorno 1980: 308f.).

Was hier als Betriebsführung des Ich benannt wird, ist heute das unternehmerische Selbst, das für sich verantwortlich überlebt, sich bei aller Deregulierung täglich reguliert, seine (Sexual)Lüste bedient, Marathon

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Etymologisch hängen die Worte „gesund“ und „geschwind“ zusammen (vgl. Duden 1989: 238).

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läuft und Ernährungsratgebern folgt. Frische Ware, gefällig verpackt, das lockt die Hausfrau mehr als ein Klumpen Gold dies vermöchte! Schöner noch als Edelstein ist die Nahrung, wenn sie rein. (31) Selbstperfektionierung ist die Losung, anwachsende „Versagensfälle, Gewissensbisse, Verdachtsmomente, Versicherungskonditionen, Haftungsgründe, Strafbestände“ (Fach 2004: 233) die Lösung.

Im Chor der Gebote7 Widersprüche wären doch das Elexier des Lebendigen. Doch wenn sie sich nicht mehr artikulieren dürfen, gerieren sie zu einer Verschiedenheit, die, wie das Wort sagt, erstarren; also die Verschiedenen eben. Der vorschnelle Friedhof, der angeblich droht, sagst Du, sagt die neue Allgemeinheit bei der Debatte ums Rauchen – er wäre also schon da, bevor er eintritt. Dort, wo es nicht mehr erlaubt ist zu sprechen, ist der Begriff „Debatte“ ein Witz ohne Ironie, bloße Oppression. Weil der anderen Seite des „für und wider“ das Recht abgesprochen wird zu sprechen, weil das Recht(-haberische) eindeutig verordnet erscheint. Rauchen ist „bäh“. Rauchen ist tödlich. Rauchen veraltert die Haut. Rauchen macht impotent. Rauchen schadet Ihren Kindern. Und überhaupt den Mitmenschen. Zu lesen auf jeder Verpackung – paradoxe Intervention für jede Käuferin einer solchen. Die EU macht’s möglich – hier ganz anhänglich geworden dem sonst so vermaledeiten US-amerikanischen Puritanismus – und das für mich erstaunliche daran ist, dass an sich (kultur-)kritische Frauen, so wie Du, in diesen allgemeinen Gesang im moralisierenden Chorgestühl einer neuen Glaubensgemeinschaft einstimmen. Diese Einstimmigkeit der aktuell vielen Einzelnen mit einer „top-down“-Doktrin ist das, was mich daran am meisten irritiert. Ansonsten kritische Geister geben an der Rau(s)cherInnentheke diese ab, so nach dem missgünstigen Motto „mirnixdirnix“. Freundinnen preisen sich erleichtert, geradezu befreit von solchen wie mir, wenn wir – gerade erlebt in „Germanien“ – nur noch Lokale finden, wo nicht geraucht werden darf. So als hätten sie ihr ganzes Leben lang schrecklich unter dem Terror der Umnebelung ihrer Freundinnen gelitten – und nun erst mit Erlaubnis der EU sich wehren dürfen; denn sie selber waren offenbar sprachlos und ausgeliefert. Alle rationale (und inzwischen im Legitimationsnotstand sich befindende Position) Argumentation hinsichtlich maßlos durchdringender Umweltverschmutzung, der wir nolens volens ausgeliefert sind, wie z.B. 7

Dieses Kapitel ist ein imaginärer Brief an eine Freundin in fast authentischer Wiedergabe. Erstveröffentlichung in der Zeitschrift ,fiber. Werkstoff für feminismus und popkultur‘ mit dem Schwerpunkt „Rausch“, Heft 13/2008, Wien, S. 24–25. 133

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dem Fein- und Grobstaub der AutofahrerInnen, gilt dann plötzlich nichts mehr. Es scheint als wäre es einfacher – was es ja auch ist – die einzelnen Subjekte, die einer gegenüber sitzen und nicht vorbeirasen, zu desavouieren, statt ganzen Industrien. Warum der Rauchwarenkapitalismus demjenigen der Automobilität Sanktionen unterworfen wurde, von atomarer Industrie usw. reden wir hier gar nicht, ist irgendwo ein Rätsel. Oder doch nicht? „International wird manipuliert, was das Zeug hält. Hinter den Nichtraucherkampagnen stehen die großen Pharmakonzerne, die ihre Mittelchen an den rauchenden Mann und die rauchende Frau bringen wollen [...]. Michael Siegel, Professor für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Boston School of Health und Mitverfasser mehrerer Studien über die Gefährlichkeit des Passivrauchens, wehrt sich neuerdings gegen die Diskriminierung von RaucherInnen und deckt auf, dass Passivrauchen nicht gefährlich, höchstens lästig ist“ (Awadalla 2008: 19). Eine von dieser Autorin zitierte Studie aus dem British Medical Journal sagt, dass „kein kausaler Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Sterblichkeit nachgewiesen wurde. [...] das relative Risiko für Passivraucher an Lungenkrebs zu sterben (ist) gar ein Viertel geringer als für Nichtraucher.“ (Awadalla 2008:19) Mir fällt zu diesem Komplex (im Doppelsinn des Wortes) eine Aussage von Slavoj Žižek vor ein paar Jahren ein, in welcher er aufklärte, dass die Aversion gegen RaucherInnen in Zusammenhang steht mit der Einkapselung der Individuen gegeneinander: „Don’t touch me“ ist die symptomatische Botschaft. Die Überschreitung von nationalen, sexuellen und allsonstigen Grenzen, die ja heutzutage hoch im Kurs postmoderner Selbstbewusstseine steht, hat da offensichtlich ihre Grenze (gefunden). Das ist doch interessant, findest Du dies selbst als Rauch- und Rausch’allergikerin nicht auch? Und umso mehr, als Du „Deinen“ Foucault doch auch gelesen hast? Abgesehen davon, dass in christlicher Tradition wie im Nationalsozialismus rauchende Frauen als lasterhaft und rauchende Mütter als volkskörperschädigend galten und diese Konnotation sich offensichtlich kein Mensch mehr als sich wiederholende Verblendung klar macht, könnte doch wenigstens der gar nicht mehr subtile Zusammenhang zwischen gouvernementaler Gesundheitspolitik und bio-politischen Disziplinarund Kontrolldispositiven gesehen werden. Foucaults Ansatz „den Liberalismus als allgemeinen Rahmen der Biopolitik (zu) untersuchen“ (Foucault 2004: 475), ist die Frage nach der Gesamtökonomie der Macht in unseren Gesellschaften, die zur profitproduktiven Sicherheitsordnung wird. „Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische Substrat, sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses, und sein Bewusstsein von sich selbst als einem an sich Seiendem jener Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedarf, während 134

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der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent des Wertgesetzes fungiert“ (Adorno 1980: 307). Umgesetzt auf (selbst reflektierende) Subjekte muss die neoliberalistische Ideologie der Selbsterhaltung aufs Äußerste befragt werden. Der Terror der Tugend ist auf dem Vormarsch – und überzieht bzw. durchzieht das Individuum mit Verboten. Die Antirau(s)chdoktrin ist die akute Variante einer wachsenden biopolitischen Disziplinierung, die ablenkt von der Unfähigkeit der Regierenden Politik zu machen (statt nur neoliberalistische Ökonomie zu verwalten). Entmündigte BürgerInnen: die Rauchpathologisierung ist nur der erste Schritt in Richtung eines individualisierten Selbst- als Schuldverhältnisses (vgl. die Versicherungskonzerne) und einer Grenzauslotung von Zustimmungsmentalität zu einem sich totalisierenden Kontroll- als Sicherheitssystem (Stichwort Bio-Pass usw.). Der Appell an den Selbsterhaltungstrieb treibt zu Anpassung und Ausgrenzung – oder bist Du schon mal wie ein Ausstellungsstück im Zoo eines absichtsvoll versifften Flughafenglaskontainers gestanden, als verkörperter Sündenbock die per se öffentliche Beichte inkludierend? Die neuen Aussätzigen, die Eliminierung des Vergnügens der „kleinen“ Leute – und was eine nicht sonst noch so alles assoziieren kann zum hier angesprochenen Problem. Wir werden in einen pseudorealistischen Sicherheitsbedarf hinein geschaukelt – das nächste wird dann die Zuständigkeit für jede Art von „Behinderung“ wie zudünnzudickzuarmzu... sein, der (wir) dann alle zustimmen, weil die Probe aufs antirauchende Exempel bereits sang- und klanglos über die Bühne ging? Gesundheitspolitik als militante Antikrankheitspolitik? „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ – von daher weht der alte Geist in neuem Ver/Sicherungsgewand. „Die Disziplinen des Körpers und die Regulierung der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat“ (Foucault 2004: 465). Was meinst Du, müsste nicht – jenseits persönlicher Vorliebe und Abneigungen – über solchermaßen oktroyierte Maßnahmen gesprochen werden? Denn Selbstbestimmung meint mehr als Selbsterhaltung. Grüße dich mit Schall und ... P.S.: „Die WHO hat 1986 die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung verabschiedet. Seitdem ist ,Gesundheitsförderung‘ als ein gesundheitspolitischer Begriff eingeführt und folgendermaßen gekennzeichnet: ‚Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. [...] Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer

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und individueller R e s s o u r c e n [Hvg. B.K.] für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten‘.“ (Rieländer 2003: 1).

In kakophonen Körpern Einer Einführung in Gender-Studien ist neben der Feststellung der Nichtäquivalenz der deutschen Sprache zur sex/gender Unterscheidung, da es nur einen Terminus, nämlich „Geschlecht“, gibt, zu entnehmen, dass dieser „überdies durch die Wurzel ‚schlecht‘ nicht unbedingt positive Assoziationen erweckt“ (Stephan 2000: 58). Nicht nur die Skurrilität dieser Aussage wirkt burlesk, sondern die Abwehr (über) das Geschlecht zu denken wird hier in Abkehr etymologischer Wahrheiten zum Symptom. „,Geschlecht‘ gehört zu dem unter s c h l a g e n [Hvg. B.K.] behandeltem Verb und bedeutet eigentlich das, was in dieselbe Richtung schlägt, [übereinstimmende] Art‘, [...] in den Wendungen ‚aus der Art schlagen‘ [...]“ (Duden 1989: 235). Dass es dem Menschengeschlecht mit dem Geschlecht schlecht geht, weil es damit geschlagen ist, da es darum weiß, ist ja nachgerade die Ur/Sache des „Unbehagens“, das die ganzen „troubles“ zum Effekt hat. Die Klinik ist geboren. Und das Geschlecht ist dann auch irgendwann einmal geboren. (53) Das menschliche Geschick als Dichotomie – mutatis mutandis – als „Zweiteilung (des Pflanzensprosses, die Hauptachse gabelt sich in zwei gleich starke Nebenachsen)“ (Duden 2005: 230) entwickelte sich zum Schrecken des Erkennens des sexuellen Unterschieds und damit der Sterblichkeit, der als Genealogie des Denkvermögens selbst bedeutsam wird.8 Dass diese Geschichte sich als eine der Diskriminierung entäußert, ist nur e i n e Lösung des Problems, das in sich gleichsam seine eigene Ursache und Wirkung darstellt. „Männer und Frauen sind nicht inkompatibel, weil sie ‚von verschiedenen Planeten‘ abstammen, die jeweils verschiedene psychische Ökonomien nach sich ziehen, sondern gerade weil ein antagonistisches Band sie unentwirrbar aneinander bindet, d. h. weil sie vom selben Planeten sind, der sozusagen von innen her gespalten ist“ (Žižek 1999: 44). Das Kontingent der anthropogenetischen und jeweiligen gesellschaftspolitischen Geschichte hat eine Menge an kontingenten Formen und Missverhältnissen dieser antagonistischen Abhängigkeit parat – nur eben eines nicht, eine transhistorische Norm, eine metaphysische Allgemeinheit, da sie – außer sie wird quasi theologisch zu dieser aufgehoben – den Prozess der Normierung aus sich selbst heraus gestaltet. „Darin liegt auch das Problem mit der Anklage, dass die sexuelle Differenz eine ,Binärlogik‘ beinhaltet: Insofern als die sexuelle Differenz 8

Der gepflückte Baum im verlorenen Paradies.

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real/unmöglich ist, ist sie gerade NICHT‚binär‘, sondern wiederum gerade dasjenige, warum jede ‚Binär‘erklärung von ihr (jede Übersetzung der sexuellen Differenz in ein Paar von entgegengesetzten symbolischen Kennzeichen: Vernunft versus Gefühl, aktiv versus passiv) immer fehlschlägt“ (Žižek 1999: 45f.). Jedwelche geschlechtliche Identität von Subjekten ist, dialektisch begriffen, ein proceduales Ergebnis von traumatischen Verlusten, Konflikten, Repressionen und eingelassen in das Dickicht wechselseitiger Dependenzen. Ich will eine winzige Kleinigkeit noch: Bitte auch gebären können. Bitte auch stigmatisiert werden können! [...] Ihr seid nur eigensinnig! Ihr seid kindisch! [...] Schmuck kaufen wir euch! (56f.) „Die sexuelle Differenz ist das einzige Plus-Minus-Material, das es den Kulturen erlaubt, ein vollständiges semiotisches System zu errichten; und dies nicht erst seit gestern. Gendering ist nichts, was außerhalb der Kultur stattfindet und dann in die kulturelle Beschreibung einbezogen wird“ (Spivak 2008: o. S.). Dass die sexuelle Differenz in ihrer Vergesellschaftung (heute: Kulturalisierung) keine „Gleichen“ produziert hat, bestimmt die inneren Dynamiken von tatsächlichen Counterdependenzen (Gegenabhängigkeiten), von utopischer Independenz (Unabhängigkeit) und von noch seltenen bewussten Interdependenzen (Zwischenabhängigkeiten). „Um klar zu sehen, muss man diese eingefahrenen Gleise verlassen; man muss den verschwommenen Begriffen Überlegenheit, Unterlegenheit und Gleichheit, die alle Diskussionen entstellt haben, eine Absage erteilen und ganz von vorn beginnen“ (Beauvoir 2008: 23). Ich bin gottlos. Ich bin eine Dilettantin des Existierens. Ein Wunder, dass ich spreche. (15) Die Tradition der Identitätsfixierung von Frauen auf ihre gattungsgeschichtlich „natürliche“ Andersheit (unter dem Aspekt des Mannes als Norm), die als Mutter nicht zu verleugnen und als d i e s e Weiblichkeit nicht zu affirmieren ist, entspringt und entspricht einem männlichen Herrschafts- und Imitationsanspruchs, der ihres zu dem seinen macht. Es denkt der Fötus in seiner maßgeschneiderten Karosserie über andere Sportwagen nach. Er will bald hinaus in eine neue Abteilung. Er ist ja schon Leben! Mutterschöße schleifen schwer über den Kies. Machthaber ferner Länder werten das Leben des Einzelmannes gering. Wir aber schützen es mit Gewalt! (49) „Die ungeheure Arbeit, die das moderne Europa auf den Schultern des Christentums unternimmt [...] zielt auf die Überwindung des Todes und des Geschlechts. [...] Nicht nur die Sterblichkeit und das Siechtum sind dabei auszu137

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merzende Momente der Unvollkommenheit, sondern auch die durch Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt verhängte Verwicklung der menschlichen Natur ins Vegetative. Die künstliche Erzeugung von Leben, darüber hinaus von Fruchtbarkeit steht deshalb seit langem auf dem Programm. [...] Also: Tod und Geschlecht [...] die Hauptskandale körperlichen Lebens“ (Kamper/Wulf 1982: 16, 20).

Die Karriere des Genderkonzeptes sitzt ungewusst dieser Programmatik auf, dessen „Genialität“ darin besteht, die verstörende Genitalität zu sublimieren und damit in einem Aufwasch9 ein „genuin“ Weibliches10 gründlich wegzuräumen. Eine Begegnung in einer ungegensätzlichen Tiefe der Differenz war/ist unmöglich und fällt unter das Verdikt einer heterosexuell normierten Matratze, deren Matrix eine nachträglich substantialisierte Bipolarisierung darstelle. In einer Volte ex negativo wird diese zur Biopolarität gesetzt; womit die verschmähte Naturanhaftung durch die Hintertür wieder hereinschleicht? Um dieser historisch hierarchisierenden Opposition zu entgehen, wird ein allgemein menschliches Neutrum „angenommen“, das in seiner Abstraktion von der sexuellen Differenz das jeweils Partikuläre unterschlägt, einebnet bzw. „aufhebt“.11 Oder in die Flucht schlägt: Um die Konstruktionen von Weiblichkeit zu unterlaufen, wird der Versuch unternommen, „die strukturelle Gewalt der Gesellschaft durch eine Nicht-Definition des weiblichen Subjektbegriffs zu unterminieren. [...] dabei wird das sprechende Subjekt zu einer Maske, zu einer Persona seiner selbst, die nur vage Rückschlüsse auf eine wie auch immer geartete Identität zulässt. [...] Der Widerstand gegen die Gesellschaft besteht darin, nicht als Frau kategorisiert werden zu können“ (Haas 2006: 15f.). Nur keine Sorge! Ich merke, dass ihr Frauen in merklich höherem Grad von Äußerlichkeiten abhängig seid als wir. (16) Furcht und Schrecken vor dem Weib, das geschlechtermetaphysisch den Leib und dessen Ohn/Macht figurierte – vielleicht treiben diese prämodernen Motive noch immer ihr Un/Wesen? Gönn mir deinen geraubten Anblick! Sei eingeschränkt! [...] Habe Krisen! Du tropfendes Körperfragment. (53)

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Im Putzen und Wegwischen sind Frauen ja schon immer Meisterinnen gewesen. 10 Was immer das bedeuten mag; es geht hier um einen unaufhebbaren Rest, etwas, das sich der phallischen Ordnung entzieht (vgl. v.a. Žižek 1994). 11 Eine Ansicht, die Geschlechtlichkeit zur realen Tauschabstraktion erklärt, ist mehr ökonomistisch, als sie von sich selber weiß (vgl. Krondorfer 2000). 138

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„Sie konnten dem Sumpf des Obszönen nie ganz entrissen werden. Grund, respektive Abgrund: ,Sie sind halt nicht ganz dicht.‘ Sie haben ein Loch und laufen nach unten aus. Blut bei der Menstruation, Fruchtwasser bei der Geburt. Ununterbrochen sich verflüssigend und darum ohne moralische Festigkeit, kommen Frauen als Kulturträgerinnen nicht in Frage, was von der antiken Metaphysik, über die christliche Theologie, bis in die Moderne, beispielsweise von Freud, wiederholt wird und auch in der Postmoderne noch im Schwange ist. [...] - Die Moderne bringt den Körper als das feste Ding einer Ratio hervor, die ihn durch ihr Cogito, ihr ,Ich denke‘, kontrolliert. Descartes nennt den Körper einen Leichnam, der gleich bedeutend mit einer Gliedermaschine ist. Im siebzehnten Jahrhundert wird der Körper als Automat konzipiert, im neunzehnten Jahrhundert als Maschine, heute als Computer. Jedes dieser Organisationsprinzipien funktioniert als Ersetzung und Verschiebung der Überflüsse des Körpers [..]“ (Treusch-Dieter 2002: o.S.).

Diese (anthropogenetische als kulturgeschichtliche) Pathologie, die dazu (ver-)führt die Geschlechter-Differenz selbst nur zu erleiden, als Passion zu erleben, produzierte einen pathetischen Begriff von Weiblichkeit, der von den einen stilisiert und von den anderen sterilisiert wird: beide Modelle sind jedoch der okzidentalen Abspaltung des Intellegiblen vom Sensiblen, der Trennung von Transzendenz und Sinnlichkeit geschuldet. Wir verhalten uns zum Mann wie die Idee zum Instinkt. (61)

Im lautlosen Leib Neuzeitliche, nach dem naturwissenschaftlichen Modell gerichtete Medizin basiert auf eben dieser Subjekt-Objekt-Spaltung. Sie zerstückelt den Körper durch ihre Spezialisierung auf die Einzelteile und den Anspruch auf exakt feststellbare Zustände. Medizinische Forschung findet und produziert damit immer mehr Krankheiten, die sie dann reparieren kann.12 Dieser infiniten Logik entspricht die neoliberale Gesellschaftsformation der zunehmenden Vereinzelung der Individuen. Das europäische Subjekt hat in seiner Genese verschiedene Gestalten – Vernunftträger, Instanz für Autonomie, Identitätsentität für Rollenvielfalt, Figur für Egozentrismus – angenommen, aber es gibt kaum Arbeiten über die Bedeutung dieser Subjektwerdungen für den Körper. Ist er bloßes, neutrales Gefäß, unberührt vom „Subjekt“, oder ist er Repräsentation der Verleiblichung des Individuums? Die Frau und der Körper gehören un12 Diese Einsichten sind z.T. dem Manuskript „Warum gibt es nur eine Gesundheit und so viele Krankheiten?“ von Peter Heintel entnommen. Die veröffentlichte Fassung ist der Zeitschrift ‚Imagination‘ (3a/1992), herausgegeben von ÖGATAP (Österreichische Gesellschaft für angewandte Tiefenpsychologie und allgemeine Psychotherapie) zu entnehmen. 139

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trennbar zusammen. Geht der Körper, geht auch die Frau. [...] Die Natur ist das Bild. Das Bild von der Frau besteht lange. Das Innere der Natur verkörpert in der Frau. Der Körper der Frau geht ins Innere. Der Körper und die Frau gehen zusammen in die Natur. Keine Frau mehr. (68) Wie immer auch das Körper-Subjektverhältnis reflektiert wird, es muss von einer unaufhebbaren Differenz ausgegangen werden, die gerade durch die moderne europäische Entwicklung verschärft wurde. Geist und Körper (Natur) stehen grundsätzlich in einem Differenzverhältnis, nur gab es in der Vormoderne einen allgemein gültigen, kollektiven Geist und in diesem Sinn kein individuelles Subjekt. Das bedeutet, dass die unaufhebbare Differenz von Körper und Subjekt in seiner ebenso unaufhebbaren Verbindung heute dem Einzelsubjekt zugemutet wird. Insofern sind Krankheiten und Gesundheiten selbst individualisiert. Das Subjekt muss diesen Riss – Leiden und Freuden – auf sich gestellt ertragen. Aber auch dafür gibt es, wie zu aller Bedürftigkeit in Wohlstandsgesellschaften, ein Bewältigungsangebot: „Wellness“ verspricht, pointiert formuliert, die Auflösung des Körper-Geistproblems, die Aufhebung von Krankheit und Gesundheit, die es „dem verkörperten Selbst ermöglicht, sich selbst als Quelle des eigenen Vergnügens zu erleben“ (Greco 2004: 294). Wellness interveniert paradox, insofern Gesundheit nicht einfach eine saglose Befindlichkeit mehr ist, sondern aktiv hergestellt wird. „Im Gegensatz zu Gesundheit als einem körperlich-seelischen Zustand, gekennzeichnet durch Abwesenheit von Krankheit, ist Wellness ein lebenslanger Prozess. Jeder aktuelle Zustand von ‚Gesundheit‘ erscheint illusorisch und flüchtig, stets durch einen künftig zu erwartenden Zustand in Frage gestellt. Wenn Gesundheit, wie der Tod, das ‚Skandalon der Vernunft‘ ist, weil sie sich letztlich der eigenen Entscheidungsfreiheit entzieht, vermittelt Wellness das Gefühl der Kontrolle und macht Gesundheit zu einem durch methodische Anstrengung erreichbaren Ziel. [...] Als eine positive Lebensnorm bezeichnet Wellness [...] ein bewusst erlebtes psychophysisches ‚Sich-Wohl-fühlen‘, das mit chronischen Krankheiten oder körperlichen Behinderungen vereinbar sein [...] kann“ (Greco 2004: 295f.).

Diese positivistische Lebensnorm vermittelt zwiefaches: zum einen kann sie prinzipiell die verschiedensten Zustände aufnehmen, ist also individuell und vielfältig, zum anderen beinhaltet sie die Forderung nach der freiwilligen Teilnahme an der Gesunderhaltung. Wer nicht in sein verkörpertes Wohlbefinden investieren will, schadet nicht nur sich, sondern der Gesamtheit der Vernünftigen. Und zum dritten können Distinktionswünsche, sozusagen als ästhetische Gratifikation, konsumiert werden. 140

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Eure natürliche Haut genügt euch nicht mehr. Ihr cremt euch ein! Ihr folgt blöden Moden. Ihr begegnet nie der Liebe. Ihr haltet alles, was euch passiert, für Liebe. Ihr lebt in eurem Leibespelz dumm herum. (57) „Wellness ist sozusagen die Belohnung für erbrachte Leistung. Aber nicht nur, denn Wellness ist auch deswegen trendy, weil in unserer Gesellschaft ein großes Augenmerk auf das Aussehen einer Frau gelegt wird. Hinzu kommt, dass die Frau natürlich auch gesundheitlich mitziehen möchte, um so jung bleiben zu können“ (Schott o.J. 1).

Der Mann kann auf Lockenwickler, Nachtkrem, Runzeln, Verwesung, Mundgeruch verzichten. Diese Geschichte ist recht ungesund. (34) Mit Beginn der Neuen Frauenbewegung war der weibliche Körper an Freiheit und Selbstbestimmung gebunden. Die diskursive neoliberale Verschiebung hin zu Flexibilisierung und Selbstregulierung verkürzt und verfremdet Einspruchswünsche zur Wahl der Teilhabe (vgl. Trallori 2008). Selbstbestimmung wird heute zur Bedrängnis nach „Gleichhabe“. Frauen, einst gegen den Objektstatus ihres Körpers sich auflehnend, sind heute einverstanden mit der Fremd- als Selbstinstrumentalisierung. Ihr schönen Erscheinungen. Aber schön zu sein ist nicht alles. Ihr seid lang gewesen, was den Mann freut. Im vorgerückten Alter mag euch nun keiner mehr [...] Und vor so was habe ich mich früher höflich verbeugt. (55) Der Appell ist deutlich: Konstruiere deinen Körper selbst (aber) gesund! „Jedes Molekül ist glücklich im Paradies seiner eigenen Formel“ (Baudrillard 1982: 351). Jetzt, da die Natur endgültig hin ist, wird sie flott besungen. (42) Weniger offensichtlich ist die damit einhergehende heimliche Botschaft an Frauen. Zumindest liegt der Verdacht nahe, dass einer altbekannten Funktionalisierung im neoliberalistischen Habitus „gefront“ werden soll. „Rund siebzig Prozent der unbezahlten Arbeit wird für erwachsene, arbeitsfähige Personen im gleichen Haushalt geleistet – zu zwei Dritteln von Frauen. Das zeigt, wie wichtig unbezahlte Arbeit für die Wohlfahrt aller ist, diese unbezahlte Arbeit produziert Wohlstand! [...] Die Frauen versorgen unbezahlt die Gesellschaft. Im Pflegebereich werden zu Hause fünf- bis achtmal mehr unbezahlte Stunden investiert als von allen bezahlten Hauspflegediensten zusammen. Und für die – auch hier wieder unbezahlte – Betreuung der Kinder wird zehnmal mehr Zeit aufgewendet als für die unbezahlte Betreuung und Pflege von Erwachsenen“ (Madörin 2009: 2f).

Gesundheit ist nicht alles, und mein Körper hält sie nun gar nicht aus. Angesichts von Gesundheiten verwandle ich mich in ein Sieb, das alles durchfallen lässt. Ich bin schön krank! (45) 141

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Weibliche Selbstbestimmung wäre also heute der Zwang zur gesunden Selbstregierung um fit für andere zu bleiben – als Schönheit-im-Bild, als Gebär- und Erwerbsleib, als Fürsorgekörper. Gesund sei die moderne Frau!

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Fra ue n(ges undhe its)bew egung im Wohlfa hrts staat: Von der Selbstbes timmung zur ,Selbst verantw ortung‘ – von der Au tonomie z ur ,Selbststeuerung‘? REGINA-MARIA DACKWEILER

Einleitung Die Neue Frauenbewegung, die sich in Nordamerika und Westeuropa Ende der 1960er Jahre im Kontext von BürgerInnenrechts- und StudentInnenbewegung herausbildete, gilt als eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. So räumen sowohl exponierte SozialtheoretikerInnen, als auch international anerkannte BewegungsforscherInnen der Neuen Frauenbewegung große Wirkmacht auf den sozialen Wandel einer selbstreflexiv gewordenen Moderne ein. Beispielhaft verweist der englische Sozialtheoretiker Anthony Giddens darauf, dass Feministinnen im Bereich von Sexualität, Liebe und Erotik „den Weg freigemacht haben für Veränderungen von enormer und umfassender Tragweite“ (Giddens 1995: 681). Auch Manuel Castells (2001) weist in seiner Analyse des „globalen Informationszeitalters“ der Neuen Frauenbewegung als „transformativer“ Sozialbewegung einen prominenten Stellenwert unter den kollektiven Akteurinnen oppositioneller „Identitätspolitik“ zu. Und die Bewegungsforscher Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt ziehen neben der ArbeiterInnen- und Umweltbewegung die Frauenbewegung als Beispiel für „gesellschaftlich folgenreiche Bewegungen“ heran und sprechen von ihr als einer derjeni145

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gen sozialen Bewegungen, „die nachhaltige Auswirkungen auf die Gesamtheit der modernen westlichen Länder hatten“ (Rucht/Neidhardt 2001: 542). Feministische Sozialwissenschaftlerinnen betonen ebenfalls die umfassenden und tief greifenden sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen, die von der Neuen Frauenbewegung ausgingen oder von ihr mit vorangetrieben wurden. So ist etwa für Ute Gerhard die Neue Frauenbewegung verantwortlich „für Unruhe und sozialen Wandel in den Geschlechterbeziehungen“ (Gerhard 2001: 21). Sie habe die herrschenden Standards für Recht und Gerechtigkeit hinterfragt und „auf diese Weise nicht nur zu einem Wertewandel, sondern auch zu einer Veränderung der Lebensformen beigetragen“ (Gerhard 2001: 21). Ähnlich der Befund, dass es der Neuen Frauenbewegung gelungen sei, weit über ihren unmittelbaren politischen „Einzugsbereich“ hinaus gesellschaftliche Gruppen und Institutionen dazu zu veranlassen, feministische Initiativen aufzugreifen, sich diese einzuverleiben und sich so durch die Integration feministischer Perspektiven und Politik zu verändern (vgl. Kontos 2004). Und auch Ilse Lenz et al. heben hervor, dass die Neue Frauenbewegung seit den 1960er Jahren „rings um den Globus zu Umbrüchen in Beziehungen, Beruf, Bildung, Politik und Kultur“ (Lenz et al. 2000: 7) geführt habe. Zugleich verweisen sie jedoch auf die Schwierigkeiten, mit der sich eine Analyse der Wirkmacht der Frauenbewegung konfrontiert sieht, will sie deren „Einfluss“ auf gesellschaftliche Modernisierungs- und somit Transformationsprozesse entlang beobachtbarer Fakten rekonstruieren und diesen Einfluss nicht einfach unterstellen. Es ließe sich –- so jüngst auch Clarissa Rudolf mit Blick auf Frauen- und Gleichstellungspolitik als institutionalisiertem Arm der Neuen Frauenbewegung – „kaum kausal analysieren“ (Rudolf 2009: 129), welchen Anteil ihr an den Veränderungen der Geschlechterverhältnisse zuzurechnen ist, ja es bleibt für Rudolf eine offene Frage, ob diese Veränderungen etwa im Bereich der Erwerbsbeteiligung von Frauen und der Arbeitsteilung der Geschlechter in der Privatsphäre sich nicht „vorrangig aus den Transformationen des Sozialstaats ergeben haben“ (Rudolf 2009: 130). Mit dieser methodologisch zu nennenden Schwierigkeit, den umgestaltenden Einfluss dieser Sozialbewegung aufzeigen zu wollen, sieht sich auch der folgende Beitrag konfrontiert, soll doch gezeigt werden, ob, und wenn ja, wie es der Neuen Frauenbewegung, die von Beginn an auch die körperliche und psychische Gesundheit von Frauen in den Fokus rückte, gelungen ist, ihre Forderungen nach der Aufhebung von Ausschluss, Abwertung und Unterordnung der weiblichen Genusgruppe (vgl. Lenz 2008: 859) mittels politischer Analysen, Kampagnen und 146

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Projekten erfolgreich in gesellschaftliche Institutionen einzuschreiben. Hierbei muss der fordistische Wohlfahrtsstaat als zentraler Adressat gelten, handelt es sich doch bei dieser Institution um jene Instanz, die im „golden age“ der Nachkriegsjahrzehnte bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre sowohl kompensatorische als auch emanzipatorische Ziele im Rahmen liberal-demokratisch verfasster, kapitalistischer Gesellschaften verfolgte, um den Staatsbürgern eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen. Die Neue Frauenbewegung – dies die hier verfolgte erste These – zielte im Horizont von Autonomie und Selbstbestimmung von Frauen von Beginn an auf die Transformation des Wohlfahrtsstaats, dessen Klassenkompromiss auf einer patriarchalen Geschlechterordnung beruhte, die Frauen und Männer einen ungleichen Zugang zu sozialen Rechten gewährte und Bedürfnisse und Interessen von Frauen verschiedenster Lebenslagen unthematisiert und unbearbeitet ließ (vgl. Dackweiler 2008). Gefordert wurde von der Neuen Frauenbewegung nicht nur der uneingeschränkte Zugang von Frauen zu den bestehenden sozialen Rechten; darüber hinaus ging es den kollektiven Akteurinnen auch um eine Re-Definition im Sinne der Erweiterung von citizenship, sprich sozialer Rechte auf Grundlage der (Selbst-)Interpretation der Bedürfnisse verschiedenster Gruppen von Frauen (vgl. Fraser 1994), in deren Mittelpunkt neben einem eigenständigen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen die Gewährleistung sexueller Selbstbestimmung sowie ein Leben ohne körperliche und seelische Gewalt standen. Zugleich gilt es festzuhalten, dass sich die Handlungsbedingungen der Neuen Frauenbewegung zur Erreichung dieser Ziele in den zurückliegenden zwei Dekaden fundamental verändert haben: Zum einen, weil die Bewegung auf Grundlage von Erfolgen bzw. Teilerfolgen bei der Transformation des patriarchalen Wohlfahrtsstaates ihre eigenen Strategien und Ziele verschob. Ihre veränderten Handlungsbedingungen sind also – dies die zweite These – der Dialektik ihres Erfolges geschuldet. Zum anderen ist eben diese sich verändernde Frauenbewegung – so die hier verfolgte dritte These – konfrontiert mit der sich herausschälenden neuen Gestalt und dem Selbstverständnis eines als post-fordistisch zu bezeichnenden, an neoliberalen Prinzipien orientierten „aktivierenden“ Wohlfahrtsstaats, der in erster Linie die Wettbewerbsfähigkeit der Marktakteure zu steigern sucht. Hier scheint die feministische Programmatik von Autonomie und Selbstbestimmung aufgehoben in dem Leitgedanken des vermeintlich geschlechtsneutralen „unternehmerischen Selbst“ und dessen Techniken der Selbstführung und Selbstverantwortung (vgl. Bröckling 2007) für das je individuelle Glück auch hinsichtlich körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheit. Oder anders for147

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muliert: Im sich selbst als „aktivierend“ bezeichneten Wohlfahrtsstaat bedarf es keiner Frauenbewegung mehr, die sich für einen gleichberechtigten Subjektstatus von Frauen einsetzen müsste, den es neben zivilen und politischen wesentlich über den Zugang zu sozialen Rechten zu befestigen gilt , soll jener doch in erster Linie mittels des unabhängig vom Geschlecht zu erlangenden Marktstatus konstituiert werden. Um diese drei Thesen zu plausibilisieren, soll im Folgenden in einem ersten Schritt ein kursorischen Blick auf die patriarchatskritische feministische Analyse des fordistischen Wohlfahrtsstaats der zweiten Hälfte des zurückliegenden 20. Jahrhunderts geworfen werden, erweist sich diese moderne Institution doch als widersprüchliche frauenbewegungspolitische Handlungs- und Diskursarena, die Geschlechterherrschaft und Geschlechterasymmetrie zu produzieren, reproduzieren aber auch aufzuheben vermag. In einem zweiten Schritt werden exemplarisch zwei zentrale körper- bzw. gesundheitspolitische Forderungen der Neuen Frauenbewegung an den Wohlfahrtsstaat nachgezeichnet. Konkret richtet sich meine Rekonstruktion auf die feministische Forderung nach dem Recht auf sexuelle, hier generative Selbstbestimmung sowie dem Schutz vor Gewalt im sozialen Nahraum, also das Recht auf sexuelle, körperliche und seelische Unversehrtheit in der sogenannten Privatsphäre. Beide Forderungen können als eine Re-Definition sozialer Rechte auf der Basis der Bedürfnisinterpretation von Frauen analysiert werden. In einem dritten Schritt wird eine zugespitzte Bilanz hinsichtlich der Responsivität des fordistischen Wohlfahrtsstaat gegenüber diesen zentralen Issues gezogen, um die Reichweite der Veränderungen wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterpolitik durch die Neue Frauenbewegung auszuleuchten: Welche Erfolge und Teilerfolge dieser kollektiven Akteurinnen gilt es hinsichtlich ihres Ziels der Inklusion von Frauen in soziale Rechte bzw. der Erweiterung von sozialen Rechten, hier insbesondere körperund gesundheitsbezogener, zu verzeichnen? Wieweit reicht der Einfluss der Frauenbewegung auf den Wohlfahrtsstaat im Kampf um Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit von Frauen, also im Kampf um ihren uneingeschränkten Subjektstatus im Bezugsrahmen der feministisch revidierten Konzeption von citizenship gemessen an demokratischen und gerechten Geschlechterverhältnissen? Teil dieser Bilanz ist zugleich eine kritisch Hinterfragung der Transformationen der Bewegung durch ihre Erfolge und Teilerfolge in Wechselwirkung mit dem neoliberalen Umbau des Wohlfahrtsstaates: Ist es weiterhin angemessen, von einem kritischen Potential der Frauenbewegung zu reden, das gegen eine Amalgamierung feministischer Positionen in eine neoliberal modernisierte wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik Widerstand zu leisten vermag? Bleibt diese Sozialbewegung eine In148

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stanz der Opposition und Dissidenz gegenüber den (neu) gezogenen und legitimierten Linien sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, aber auch den neuen bzw. sich vertiefenden Dimensionen sozialer Ungleichheit innerhalb der weiblichen Genusgruppe (vgl. Winker/Degele 2009) entlang der sozialen Strukturierungen von Klasse, Hautfarbe, nationaler und ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Alter und körperlicher und geistiger Einschränkungen?

An a l ys e d e r G e s c h l e c h t e r p o l i t i k im fordistischen Wohlfahrtsstaat durch F r a u e n b ew e g u n g u n d F r a u e n f o r s c h u n g Industriekapitalistischen Staaten des Westens fixierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sukzessive in Verfassungen, Gesetzen und Verordnungen die staatliche Selbstverpflichtung zu umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Interventionen in die Dimensionen der Einkommenssicherung, Gesundheit, Familie, Wohnen und Bildung mit dem Ziel, allen BürgerInnen soziale Sicherheit und Gerechtigkeit hinsichtlich von Teilhabe- und Lebenschancen zu gewährleisten. Wohlfahrtsstaatlichkeit gilt nicht nur als materialer Unterbau formaler Demokratien und deren Institutionen, da sie die Realisierung staatsbürgerlicher Beteiligungsrechte ermöglicht. Zugleich wird der moderne Wohlfahrtsstaat als Ausdruck der Humanität von liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften definiert, die den Menschen unabhängig von ihrem „Marktwert“ Lebensqualität ermöglichen sollen. So fasste der in der Diskussion über citizenship, sprich Staatsbürgerrechte bzw. Staatsbürgerstatus, bis heute einflussreiche englische Soziologe Thomas H. Marshall bereits wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Überlegungen zu Staatsbürgerrechten und sozialen Klassen den modernen Wohlfahrtsstaat als eine gesellschaftliche Einrichtung, die für alle BürgerInnen neben zivilen und politischen auch soziale Rechte institutionalisiert. Somit verankere der Wohlfahrtsstaat nach Marshall Rechtsansprüche auf die Bereitstellung eines sich nach und nach erweiternden Spektrums von sozialen Leistungen in Form von Gütern und Diensten. Diese Institution garantiert nach Marshall die Teilhabe und Teilnahme aller Mitglieder der Staatsgemeinschaft am „gesellschaftlichen Erbe“ auf Grundlage des Rechts „auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlichen Standards“ (Marshall 1992[1948]: 40). Doch erst die Neue Frauenbewegung und die aus ihr hervorgegangene feministische Frauen- und Geschlechterforschung analysierte, dass und wie der fordistische Wohlfahrtsstaat in dessen „Goldenem Zeitalter“ – mit seinen Eckpfeilern Sozialpartnerschaft, Normalarbeitsverhältnis 149

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und „Normalfamilie“, unbezahlte Reproduktionsarbeit durch Frauen und dem Ausbau Sozialer Sicherungssysteme (vgl. Hirsch/Roth 1986) – Teilhabe- und Teilnahmechancen entlang von Geschlechtszugehörigkeit ungleich verteilte. Sie skandalisierte, dass die weibliche Genusgruppe nur eingeschränkten Zugang zu den sukzessive in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebauten sozialen Rechten erlangte. Aufgedeckt wurde von ihr die androzentrische Ausgestaltung dieser sozialen Rechte, welche die Interessen und Bedürfnisse von Frauen bis in die Gegenwart vernachlässigten bzw. verleugneten. Frauenbewegung und Frauenforschung thematisierten den differenten Staatsbürgerinnenstatus, da Frauen in Relation zur männlichen Genusgruppe eine ungleiche soziale Position und einen eingeschränkten Subjektstatus zugewiesen bekamen (vgl. Lister 1997). Dies machte die an den fordistischen Wohlfahrtsstaat adressierte Forderung nach dem egalitären Zugang zu sozialen Rechten sowie deren Erweiterung zu einem zentralen Issue der Neuen Frauenbewegung im Kampf um die Aufhebung patriarchaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Frauenbewegung und Frauenforschung gelang es zu verdeutlichen, dass wohlfahrtsstaatliche Politik von Beginn an Geschlechterpolitik war und anhaltend ist. Ausgerichtet an Geschlechterleitbildern über die spezifischen Rechte und Pflichten, Aufgaben und Tätigkeiten von Männern und Frauen, organisierte wohlfahrtsstaatliche Politik ein herrschaftsförmiges Geschlechterverhältnis. Denn wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen und Regelungen konstituier(t)en und stütz(t)en die Zuweisung von geschlechterdifferenten Rollen: hier der männliche Familienernährer qua Erwerbsarbeit, dort die unbezahlte weibliche Versorgungsarbeit von Frauen in Ehe und Familie, die ihr nur abgeleitete soziale Rechte in der Kranken- und Invalidenversicherung sowie Altersversorgung zuerkannten bzw. zuerkennen. So erwies sich der Wohlfahrtsstaat als Instanz, die über einen diskriminierenden Zugang zu sozialen Rechten nicht nur die ökonomische Abhängigkeit von Frauen von einem Familienernährer und somit ihre Ausgesetztheit gegenüber Bedürfnissen, Interessen und Launen von Partnern und Ehemännern reproduzierte. Darüber hinaus stützte jener die Zumutungen eines geschlechterhierarchisch segmentierten Arbeitsmarktes, auf welchem Frauen auch gegenwärtig vielfach ungeschützte, prekäre und nicht existenzsichernde Arbeitsplätze als „Zuverdienerinnen“ zugewiesen bekommen. Von hier ausgehend, werden in der vergleichenden feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung zwei idealtypisch zu unterscheidende „Logiken“ in Bezug auf die Regulierung des Geschlechterverhältnisses durch den Wohlfahrtsstaat in Produktion und Reproduktion identifiziert, die auch als Logiken von „Gender Regimes“ (Betzelt 2007: 8ff.) bezeichnet werden: Eine weiterhin am 150

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„männlichen Familienernährer“-Modell orientierte Logik, die Frauen familialisiert und an der Aufrechterhaltung bestehender Geschlechterungleichheit mitwirkt. Und ein Modell, das davon ausgeht, dass Männer und Frauen gleichermaßen in Erwerbs- und der Versorgungsarbeit engagiert sein sollten, d.h. eine Logik, die zu ihrer Individualisierung mittels ökonomischer Unabhängigkeit beiträgt und somit zu tendenziell egalitären Geschlechterverhältnissen (vgl. Sainsbury 1999). Daher rückte diese politische Institution als ein vergeschlechtlichender Vergesellschaftungsmodus in den frauenbewegungspolitischen Blick, der für Männer und Frauen als soziale Gruppen unterschiedliche Lebens- und Unsicherheitslagen sowie Teilhabe- und Teilnahmechancen hervorbringt. Diese Institution kann aber auch, angestoßen und unter Druck geratend durch die Neue Frauenbewegung, hierarchische Geschlechterverhältnisse und Geschlechterordnungen transformieren oder aber, um den Preis wachsender Widersprüche und Inkonsistenzen, nur modifizieren. So kann konstatiert werden, dass im Horizont von Gleichbehandlung und Chancengleichheit in allen Wohlfahrtsstaaten Westund Nordeuropas seit Ende der 1970er Jahre sowohl frauenbenachteiligende Regelungen reformiert, als auch neue politische Felder der Frauen- bzw. Gleichstellungspolitik geschaffen wurden (vgl. Dackweiler 2003). Dies geschieht jedoch bis heute ohne die wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte, geschlechterhierarchisierende Arbeitsteilung in Bezug auf Erwerbs- und Versorgungsökonomie systematisch aufzuheben. Aus einer feministischen Perspektive erweisen sich die Kämpfe der Neuen Frauenbewegung somit gerichtet auf den diskriminierungsfreien Zugang zu sozialen Rechten sowie deren Erweiterung auf Grundlage der Bedürfnisinterpretation von Frauen verschiedener Lebenslagen. Entsprechend eines geschlechterreflektierten Zugriffs auf den multidimensionalen Ansatz der Lebenslagenforschung (vgl. Dragässer/Sellach 1999) richten sich diese Bedürfnisse sowohl auf die Handlungsspielräume von Frauen hinsichtlich von Einkommen, Bildung, Partizipation, Kooperation und Regeneration als auch auf die Sicherung von „Schutz-“ und „Selbstbestimmungsspielräumen“. Neben Arbeitslosengeld und Renten sowie Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuungseinrichtungen und Erziehungsgeld, beruflichen Weiterbildungs- und Förderungsmaßnahmen nach Erziehungs- und Pflegezeiten rücken daher „Mütterzentren“ und soziale Dienste für Frauen in komplexen Lebenssituationen ebenso in den Blick wie „Geburtshäuser“, Frauenbildungs- und Frauengesundheitszentren oder Zufluchtsstätten und Beratungsstellen im Falle von (sexualisierter) Gewalt. Die vielfältigen Projekte der Neuen Frauenbewegung, insbesondere im Bereich von Gesundheit, Sexualität und Gewalt, vermochten – orientiert an den Leitprinzipien von Autonomie und 151

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Selbstbestimmung – aufzuzeigen, dass und wie citizenship im Horizont von Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit verändert und im Sinne eines integrierten Konzepts (vgl. Lister 2007) erweitert werden muss. Erfolge und Misserfolge der von der Neuen Frauenbewegung hinsichtlich der an den Wohlfahrtsstaat gerichteten Forderungen nach Zugang zu sozialen Rechten und deren Erweiterung um Schutz- und Selbstbestimmungsspielräumen, vor dem Hintergrund ihrer am Prinzip der Selbsthilfe orientierten vielfältigen Initiativen und Aktivitäten, sollen im Folgenden für das Recht auf generative Selbstbestimmung und das Recht auf ein gewaltfreies Leben im sozialen Nahraum ausgelotet werden.

Generative Selbstbestimmung Die Forderungen der Neuen Frauenbewegung nach dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihre Generativität im Rahmen der „Aktion 218“ gilt als Kristallisationskern der sich konstituierenden Neuen Frauenbewegung der Bundesrepublik Deutschland im Kontext des sozialliberalen Reformklimas in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Angestoßen wurde die über mehrere Jahre geführte Kampagne für eine Reform des bestehenden §218 StGB, der die Strafbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs kodifizierte, durch die 1971 in dem Wochenmagazin „Stern“ veröffentlichte Selbstbezichtigungskampagne von 374 Frauen unter dem Titel „Ich habe abgetrieben“. Im Zuge dieser Kampagne entstanden sich vernetzende Frauengruppen, die rund 86.000 Unterschriften unter den gleichlautenden „Appell“ sammelten (vgl. Schwarzer 1983). Jedoch forderte die Bewegung nicht nur die ersatzloser Streichung des Abtreibungsverbots, sondern zugleich die Übernahme der Kosten des medizinischen Eingriffs durch die Krankenkassen, den Einsatz der sogenannten Absaugmethode, einer weniger schmerzhaften und gefahrloseren Methode des Schwangerschaftsabbruchs als eine Ausschabung, umfassende Sexualaufklärung für alle und den freien Zugang zu Verhütungsmitteln. Bezogen auf diese umfassenden gesundheitspolitischen Forderungen aus feministischer Perspektive organisierte die Neue Frauenbewegung zum einen über viele Jahre Formen der öffentlichen und kollektiven politischen Einflussnahme auf den parlamentarischen Entscheidungsprozess zur Reform des §218. Zu ihren Aktivitäten gehörten unzählige lokale und zentrale Demonstrationen, Tribunale, nationale Aktionswochen, go-ins, Straßentheater und kollektive Austritte aus der katholischen Kirche aber auch die Zusammenarbeit mit sympathisierenden Organisationen der Wohlfahrtsverbände wie „ProFamilia“ und der „Arbeiterwohlfahrt“ sowie mit reformorientierten Frauen aus den Regierungsparteien SPD und FDP. Zum anderen entwickelte die Neue Frau152

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enbewegung im Rahmen ihrer Kampagne gegen den §218 die politische Strategie der am Rande der Legalität angesiedelten Selbsthilfe: So legten Aktivistinnen in den neu gegründeten „Frauenzentren“ Karteien mit jenen Ärzten an, die Abtreibungen durchführten und gaben deren Adressen und Preise weiter. Sie begleiteten Frauen zu den Eingriffen, vermittelten Adressen von Abtreibungskliniken in den Niederlanden und England, führten medial bekannt gemachte kollektive Fahrten in holländische Abtreibungsambulanzen durch und demonstrierten auf Veranstaltungen öffentlich die in der Bundesrepublik nicht genutzte „Absaugmethode“ für einen Schwangerschaftsabbruch (Dackweiler 1995: 185ff.). Diese Aktivitäten bildeten den Nukleus der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in vielen Städten gegründeten „Feministischen Frauengesundheitszentren“, die weit über den Arbeitsbereich der Abtreibung hinausgreifend eine umfassende Gesundheitsberatung, -versorgung und -vorsorge von Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen zu realisieren suchten.1 Mit einer knappen Mehrheit der sozial-liberalen Koalition wurde 1974 die „Fristenregelung“ kodifiziert, mit welcher der Gesetzgeber die Möglichkeit eines straffreien Abbruchs in den ersten drei Monaten einräumte. Vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) außer Kraft gesetzt und 1975 für verfassungswidrig erklärt, verabschiedete der deutsche Bundestag 1976 eine reformulierte Reform des §218, die nun eine Indikationsregelung festschrieb. Diese sah eine Straffreiheit des Abbruchs in den ersten 12 Schwangerschaftswochen nur dann vor, wenn die Schwangere von einem Arzt oder einer staatlich anerkannten „Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle“ eine soziale, medizinische oder kriminologische Indikation erstellt bekam. Die Kosten des Eingriffes übernahmen die Krankenkassen. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde eine erneute Neuregelung des Abtreibungsrechts durch den Gesetzgeber erforderlich, da in der DDR seit den 1970er Jahren eine Fristenregelung in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten bestand. Auch im erneut notwendig gewordenen Gesetzgebungsprozess zur Reformulierung des §218 zu Beginn der 1990er Jahre organisierte die Frauenbewegung vielfältige Aktionen und Kampagnen in den alten und neuen Bundesländern mit dem Ziel der Entkriminalisierung der Ab1

So wies etwa das „Feministische Frauengesundheitszentrum Frankfurt“ (1988) Ende der 1980er Jahre die Arbeitsbereiche psychologische Beratung, Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen, Beratung für misshandelte Frauen, sexueller Missbrauch, Fortpflanzungstechnologien, Geburtsvorbereitung und Schwangerenberatung, Gesundheit und Verhütung, Frau und Beruf, Bauchtanz und Bewegung, Yoga sowie Frauen in der Lebensmitte aus. 153

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treibung. Mit dem „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“ wurde der Streit um die Abtreibungsnormen 1992 (vorläufig) beendet. Die neue und bis heute geltende Regelung schränkt nun die Möglichkeiten zur straffreien Abtreibung und somit das Selbstbestimmungsrecht und die Gewissensfreiheit der Frau noch weiter ein: Die fest geschriebene Zwangsberatung unterliegt dem Schutz des „ungeborenen Lebens“ und nur noch bei einer medizinischen oder kriminologischen Indikation werden Schwangerschaftsabbrüche vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen erfasst. Der über zwanzig Jahre geführte Kampf der Neuen Frauenbewegung um eine Entkriminalisierung der Abtreibung bringt in besonderer Weise die Ungleichstellung von Frauen als zweitrangige Staatsbürgerinnen zum Ausdruck, „denn von einer vergleichbaren rechtlichen Reglementierung der Generativität von Männern war nirgendwo die Rede“ (Kontos 2004: 436). Gegen den Widerstand der organisierten Gegenbewegung von „Lebensschützerinnen“, gegen die medial einflussreichen christlichen Kirchen, konservative PolitikerInnen, Ärzte- und Ärztinnenverbände, RichterInnen, juristische ExpertInnen sowie eine seit 1982 bestehende Regierungskoalition aus Christlich-Konservativen und Wirtschaftsliberalen einerseits und mit schwachen BündnispartnerInnen aus Organisationen der Wohlfahrtsverbände andererseits, bezogen sich ihre Forderungen und politischen Strategien auf die Erfahrungen von Frauen verschiedenster Lebenslagen, nur einen eingeschränkten Subjektstatus gewährt zu bekommen. Daher richtete die Neue Frauenbewegung ihr Ziel auf die Erweiterung der Handlungsfähigkeit von Frauen in Bezug auf ihre Körper, Sexualität und Gesundheit. So umfassten ihre Argumentationen nicht nur die Skandalisierung der gesellschaftlichen Kontrolle der individuellen Gebärfähigkeit von Frauen und die ihnen somit verweigerte Autonomie zur Lebensgestaltung angesichts der geschlechterhierarchisierenden Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion. Bereits der Wortlaut des Appells von 1971 „Ich habe abgetrieben“ verdeutlicht darüber hinaus den abgesteckten Problemhorizont sozialer Staatsbürgerrechte im Kampf für die generative Selbstbestimmung, rückten doch die kollektiven Akteurinnen ihre Forderung nach dem Zugang zu wohlfahrtsstaatlicher Gesundheitsversorgung (Fachärzte und ärztinnen, Krankenkassenfinanzierung, Vakuumaspiration, Sexualaufklärung, freier Zugang zu Kontrazeptiva) in unmittelbaren Zusammenhang mit der Forderung nach der Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Zudem politisierte die Neue Frauenbewegung auch nach Verabschiedung des liberalisierten §218 bis in die 1990er Jahre die Kluft zwischen dem vom deutschen Wohlfahrtsstaat allen BürgerInnen garantier154

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ten Anspruch auf medizinische Gesundheitsversorgung mit bestmöglicher Qualität unter Wahrung ihrer menschlichen Würde und Freiheit auf der einen Seite und der völlig unzureichenden und entwürdigenden Realität für ungewollt schwangere Frauen hinsichtlich der bestehenden Möglichkeiten von Indikationsstellung, Eingriff und Folgebehandlung auf der anderen Seite, die sich insbesondere für Frauen in kleinstädtischen und ländlichen Gebieten auftat. Zuletzt nutzte die Neue Frauenbewegung die Diskussionen über eine Verfassungsreform zu Beginn der 1990er Jahre (vgl. Limbach/Eckertz-Höfer 1993), um die der weiblichen Genusgruppe vorenthaltene Subjektposition, sprich Autonomie und Selbstbestimmung, im Falle einer ungewollten Schwangerschaft mit Blick auf die grundgesetzlichen Begriffe Menschenwürde, Gewissensentscheidung und Achtung der Persönlichkeit zu politisieren.

S c h u t z vo r ( s e x u a l i s i e r t e r ) G e w a l t im sozialen Nahraum Im Unterschied zur eingeschränkten Umsetzung der Forderungen der Neuen Frauenbewegung nach generativer Selbstbestimmung für Frauen, kann das am 1. Januar 2002 in der Bundesrepublik in Kraft getretene „Gewaltschutzgesetz“ als ein Höhepunkt des Einflusses der politischen Forderungen der Neuen Frauenbewegung auf wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik bewertet werden. Das Gesetz „zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“ ist Teil des drei Jahre zuvor beschlossenen „Aktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“. Es begründet die polizeiliche Intervention in Form von Schutzanordnungen, d. h. den Verweis des Täters aus der Wohnung sowie Kontakt- und Näherungsverbot zum Opfer (BGBl. I 2001: 3513). Neu ist hierbei der zuvor bereits in Österreich implementierte Ansatz2, dass der Schläger gehen muss, während das Opfer bleibt: Die Gewaltbetroffenen können nun per Eilanordnung leichter vor Gericht durchsetzen, dass ihnen die gemeinsame Wohnung zeitlich befristet oder dauerhaft zur alleinigen Nutzung zugewiesen wird. Dies sollte gerade dann erfolgen, wenn das Wohl im Haushalt lebender Kinder gefährdet ist. Dabei ist die mögliche Zuweisung nicht mehr nur auf die eheliche Wohnung beschränkt, da sie auch für alle auf Dauer angelegten häuslichen Gemeinschaften gilt. Das Gesetz und alle weiteren im „Aktionsplan“ gebündelten Maßnahmen zur Gewaltprävention, Förderung der Kooperation und Vernet2

Vgl. Dearing/Haller/Liegl 2000. 155

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zung von Hilfsangeboten, Täterarbeit und internationaler Zusammenarbeit veranschaulichen eindrücklich, „daß die an unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche gerichteten feministischen Strategien gegen Gewalt an Frauen politisch folgenreich waren“ (Schäfer 2002: 2001). So gehört das politische Sichtbarmachen der vielfältigen Formen, des Ausmaßes, der Ubiquität und der individuellen und gesellschaftlichen Folgen der (sexualisierten) Gewalt gegen Frauen sowie der Aufbau und die Professionalisierung eines weit gefächerten Netzes feministischer Selbsthilfeprojekte für gewaltbetroffene Frauen ebenso zu den anerkannten Erfolgen der Frauenbewegung, wie die Durchsetzung der von ihr vorgenommenen Re-Definition von Misshandlung und sexualisierter Gewalt als Schädigung der körperlichen und seelische Gesundheit von Frauen und als eines sozialen Problems, von dem sich weder der (Wohlfahrts-)Staat noch die Gesellschaft mehr abwenden dürfen. Bereits in den „consciousness-raising“- bzw. „Selbsterfahrungs“Gruppen in den „Frauenzentren“ der frühen 1970er Jahren (vgl. Dackweiler/Holland-Cunz 1991) begannen Frauen über die individuell verschwiegenen und gesellschaftlich tabuisierten Facetten der Gewaltförmigkeit im Geschlechterverhältnis wie Misshandlung, sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu sprechen. Dies zog die Gründung erster Arbeitsgruppen zu diesem Thema in den Frauenzentren nach sich. Doch erst das im März 1976 in Brüssel organisierte internationale Tribunal über „Verbrechen gegen Frauen“, anlässlich dessen Frauen aus allen Kontinenten, Kulturen und politischen Systemen ihre unterschiedlichen Gewalterfahrungen dokumentierten (u.a. Vergewaltigung, Misshandlung, Frauenhandel, rituelle Klitorisbeschneidung und Psychiatrisierung) und als Ausdruck patriarchaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse politisierten, löste auch in der Bundesrepublik Deutschland zunächst die Gründung von „autonomen Frauenhäusern“ als Zufluchtsstätten für misshandelte Frauen und ihren Kindern aus. Die hier tätigen Frauen verstanden ihr Engagement als politische Arbeit, in dem sie zum einen die Gewalt gegen Frauen mit Hilfe kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit skandalisierten und zum anderen gewaltbetroffenen Frauen „Hilfe zur Selbsthilfe“ anboten. Hierbei orientierten sie sich an der Leitidee der „Parteilichkeit“ für und „Solidarität“ mit den Zuflucht suchenden Frauen, die nicht zum Objekt einer bevormundenden Sozialarbeit werden sollten. Vielmehr wollten sie ihnen Alternativen zu ihrem bisherigen, von Zwang und Gewalt geprägten Leben aufzeigen und sie zu selbstbestimmter Handlungsfähigkeit ermutigen. Zwar hält der Kampf um die wohlfahrtsstaatliche Finanzierung der zu Beginn des 21. Jahrhunderts annähernd 400 „autonomen“ Einrichtungen in den alten und neuen Bundesländern auf kommunaler- und 156

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Länderebene bis heute an und stehen die autonomen Frauenhäuser weiterhin in Konkurrenz zu Schutzeinrichtungen in städtischer Hand bzw. von etablierten Wohlfahrtsverbänden, die sich seit den 1980er Jahren – angestoßen durch die feministischen Projekte – ebenfalls diesem sozialen Problem zuwandten. Doch zeichnen sich die Auswirkungen der feministischen Forderungen nach Schutz von Frauen vor Gewalt im sozialen Nahraum auf wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik überdeutlich ab. So gelang es der Neuen Frauenbewegung zum einen, ihre Forderungen nach rechtlichen Reformen, konkret Regelungen des Familienrechts, Aufenthaltsbleiberechts, Sexualstrafrechts und Bundessozialhilfegesetzes durchzusetzen: Der bundesdeutsche Staat bekennt sich seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahren dazu, Frauen vor Gewalt im sozialen Nahraum schützen zu müssen und diese Gewalt abbauen zu wollen. Zum anderen hat jener die autonomen Projekte als professionell anerkannte Einrichtungen in das psychosoziale Hilfeangebot von Kommunen und Regionen eingebunden, so dass sie vielerorts im Rahmen von Kooperations- und Interventionsprojekten und an „Runden Tischen“ gegen häusliche Gewalt neben Männergruppen, Gleichstellungsstellen, Polizei, Justiz und Sozialbehörden mitarbeiten. Die professionalisierten „autonomen Frauenhäuser“ werden „als Teil des sozialen Netzes gesehen und zwar sowohl von den Frauen als auch von den Behörden“ (Brückner/Hagemann-White 2001: 104). Diese Erfolge der Forderungen der Neuen Frauenbewegung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat zur Erweiterung sozialer Rechte auf Grund der Bedürfnisse von Frauen verschiedenster Lebenslagen sind einerseits nicht ohne Veränderungen des politischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1970er Jahre zu verstehen. Konkret bewirkte die neu gegründete Partei „Die Grünen“, in der sich viele Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung organisierten, und die bereits in ihren Gründungsdokumenten Forderungen der „autonomen Frauenhäuser“ nach finanzieller Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat aufgenommen hatten, sowohl auf kommunaler als auch auf Länder- und Bundesebene eine erhöhte Offenheit und Responsivität gegenüber diesem feministischen Issue. Sodann unterstützten die seit 1979 sukzessive eingerichteten kommunalen Gleichstellungsbüros und die auf Länderebene geschaffenen Frauenbeauftragten, -staatssekretariate bzw. -ministerien die Forderungen der Neuen Frauenbewegung. Andererseits sind die Effekte der Neuen Frauenbewegung nicht ohne den Rückenwind durch die transnational vernetzt agierenden Frauenbewegung zu denken, der es gelang, Gewalt gegen Frauen im Horizont der Menschenrechte zu Beginn der 1990er Jahren auf die politische Weltbühne zu bringen und die Vereinten Nationen zur Schaffung einer völkerrechtlichen Erklärung, der 157

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„Deklaration über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“ zu veranlassen. Diese konnte wiederum zum Bezugspunkt der nationalen Frauenbewegungen für die Durchsetzung ihrer Forderungen werden. Auch der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat übernimmt nun die Verantwortung des Schutzes der körperlichen und seelischen Integrität von Frauen in der Privatsphäre und sieht sich in der Pflicht, zur Prävention und Beseitigung geschlechtsbezogener Gewalt entscheidend beizutragen.

Am b i v a l e n t e E r f o l g e u n t e r veränderten Handlungsbedingungen Resümierend lässt sich festhalten, dass die Liberalisierung des §218 zwar die Handlungsspielräume für ungewollt schwangere Frauen vergrößert hat. Doch kann die Forderung nach generativer Selbstbestimmung als gescheitert gelten, schreibt doch der Gesetzgeber weiterhin die Strafbewehrung gegenüber einem Schwangerschaftsabbruch vor und verpflichtet die ungewollt schwangere Frau zur Zwangsberatung, die sich vor ihre Gewissensentscheidung schiebt. Diese Beratung steht zudem im Horizont des staatlichen Schutzes des Ungeborenen als eines Rechtssubjekts, das vor den Interessen und Bedürfnissen der schwangeren Frau als Staatsbürgerin rangiert. Die flankierenden Maßnahmen des Gesetzgebers zum „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“, wie der seit 1999 bestehende sozialgesetzliche Anspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab dem dritten Lebensjahr, lassen sich hingegen als Erweiterung sozialer Rechte hinsichtlich der Bedürfnisse von (erwerbstätigen) Frauen mit Kindern verstehen. Trotz der über zwei Jahrzehnte geführten Kampagne konnte die Neue Frauenbewegung für diesen Issue offenbar nicht mehr erreichen, als eine Modifikation patriarchaler wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterpolitik. Die heute – angesichts der Auseinandersetzungen um Genforschung und den Rückgang der Geburtenzahlen – verschärfte Virulenz des gesellschaftlichen Konflikts darüber, ob Frauen über ihre Generativität in der Frühphase einer Schwangerschaft selbstbestimmt entscheiden dürfen oder nicht, verweist darauf, dass an diesem existentiellen Punkt eine Vielzahl politischer AkteurInnen den Subjektstatus und den Grad an Selbstbestimmung von Frauen für ihre Interessen zu bestimmen suchen (vgl. Dackweiler 2006). Zugleich gilt es konstatieren, dass sich die kollektiven Kämpfe für diesen Issue insbesondere im Bereich der Gesundheitsdienste, der medizinischen Forschung sowie der Normen sexueller Identitäten auf wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik nachhaltig ausgewirkt haben: Die Neue Frauenbewegung hinterfragte mit ihrer politischen Strategie der Selbsthilfe, die – wie oben angesprochen – Ende der 1970er Jahre in der 158

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Gründung von Frauengesundheitszentren mündete, ein misogynes und androzentrisch verzerrtes Gesundheitssystem. In dem sie somit ein akademisiertes und industrialisiertes medizinisches Wissens- und Definitionsmonopol über weibliche Körperprozesse und weibliches Körpererleben, Schwangerschaft, Geburt und Empfängnisverhütung angriff, das die Normierungen heterosexueller Identitäten und Praxen zementierte, gelang es ihr, weitreichenden Einfluss auf die Revision sozialer Bürgerrechte zu bewirken. Dies zeigt sich beispielhaft an der finanziellen Unterstützung durch Kommunen und Bundesländer von „Geburtshäusern“, d. h. einer an den Bedürfnissen von Frauen orientierten Geburtshilfe, oder der Annerkennung von Expertise feministischer Frauengesundheitszentren, z. B. für deren Beratungsangebote in Bezug auf Mammographie-Screening, Brustkrebstherapien oder der Hormon-behandlung im Klimakterium (vgl. Schücking et al. 2003). Dieser Einfluss ist jedoch auch einem anhaltend wachsenden Gesundheitsmarkt geschuldet, auf welchem die gebildete und wohlhabende Konsumentin zwischen Angeboten einer traditionellen und frauengesundheitsbewussten Schulmedizin, zwischen feministisch informierter Gegenexpertise und Alternativmedizin „selbstverantwortlich“ wählen kann, wählen soll und wählen muss. Für jene Frauen, die weder über hinreichend finanzielle Mittel, noch über den Zugang zu ihnen verständlichen Informationen verfügen, bestehen diese Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedensten, im Wettbewerb stehenden vermarktlichten Angeboten jedoch nicht bzw. nur eingeschränkt. Neben dem begrenzten Erfolg der strafrechtlichen Liberalisierung und dem großen Einfluss auf ein allererst durch die Frauenbewegung vorangetriebenes, wenn auch unterdessen kommerzialisiertes „Frauengesundheitsverständnis“ gilt es zuletzt zu markieren, dass auch die feministische Diskussion über generative Selbstbestimmung vor dem Hintergrund von embryonaler Stammzellenforschung und der mit ihr verbundenen ethischen Debatten, von Pränataldiagnostik und -technik sowie ungewollt kinderloser Frauen und ihrem Anspruch auf Zugang zu jeglicher verfügbarer Reproduktionsmedizin, also auch mit Blick auf Leihmutterschaft und künstliche Befruchtung, komplexer und ambivalenter geworden ist als in den 1970er und 1980er Jahren. Die Kommerzialisierung bzw. Kommodifizierung der Gebärfähigkeit von Frauen, weiblicher Keim- und embryonaler Stammzellen einerseits und die gesellschaftlich mehr und mehr erwünschte Schwangerschaftsunterbrechung im Falle einer durch Amniozentese festgestellten Chromosomenerkrankung wie dem „Down-Syndrom“ andererseits, macht den zu Beginn der Neuen Frauenbewegung so mobilisierenden politischen Kampfbegriff der „Selbstbestimmung“ kontroverser (vgl. Lenz/Mense/Ulrich 2004) und 159

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steigert den Bedarf kritischer (Selbst-)Reflexion der Bewegung hinsichtlich dessen unhinterfragter Verwendbarkeit. Dies nicht zuletzt deshalb, weil generative Selbstbestimmung unterdessen passfähig zu sein scheint mit einem neoliberalen Verständnis persönlicher Marktfreiheit beider Geschlechter und dem neoliberalen Leitbild der Selbstführung und Selbstverantwortung, das – verkürzt auf scheinbar bestehende individuelle Kontrolle und Machbarkeit zur Begrenzung individualisierter sozialer Risiken in kapitalistischen Ökonomien – Abhängigkeit und Bedürftigkeit im Lebenslauf ausblendet. Im Falle des Issues der Erweiterung sozialer Rechte um „Schutz vor Gewalt“ stellt sich der erlangte Status quo als Erfolgsgeschichte der Neuen Frauenbewegung dar. Verantwortlich für Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung sind gemäß der UN-Deklaration, welche von der Bundesrepublik ratifiziert wurde, sowohl die individuellen TäterIn als auch staatliche Institutionen, wenn diese es versäumen, die gegen Frauen von „Privatpersonen“ gerichtete Gewalt im sozialen Nahbereich zu ahnden und die TäterIn zur Rechenschaft zu ziehen. Mit dem „Aktionsplan“ verfolgt der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat nicht nur die Absicht, durch eine Institutionalisierung der Kooperation verschiedener Behörden und Hilfeeinrichtungen, also von Polizei, Strafjustiz, Zivilund Familiengerichten, RechtsanwältInnen, Gleichstellungsbeauftragten, Jugendämtern, Migrationsbeauftragten, den Einrichtungen zur Unterstützung betroffener Frauen und Projekte zur Arbeit mit gewalttätigen Männern, den Schutz von Frauen vor (sexualisierter) Gewalt zu vergrößern. Für die Gewährleistung dieses Schutzes bezieht der Wohlfahrtsstaat auch die Expertise der „autonomen“ Frauenhäuser und Beratungsstellen auf gleichberechtigter Ebene mit anderen AkteurInnen ein. So lässt sich festhalten: Der Rechtsanspruch auf sexuelle, körperliche und seelische Integrität, auf ein gewaltfreies Leben auch im Bereich von Ehe, Familie und intimen Beziehungen und auf die Unterstützung als Opfer von Männergewalt ist unterdessen selbstverständlicher Bestandteil sozialer StaatsbürgerInnenrechte von Frauen geworden. Doch auch in dieser Erfolgsgeschichte gilt es, auf die Durchsetzbarkeit der feministischen Forderungen auf Grund ihrer Anschlussfähigkeit zu neoliberalen Leitprinzipien hinzuweisen. Denn der zu gewährende Schutz körperlicher und seelischer Integrität von Frauen vor Männergewalt konveniert sowohl mit einem veränderten Staatsverständnis als auch mit veränderten Anforderungen an die Subjektivitäten beider Geschlechter: Im Rahmen der Bestrebungen zur Ausdehnung der Warenförmigkeit und Vermarktlichung annähernd aller gesellschaftlichen Bereiche sowie einer entfesselter Wettbewerbssteigerung, sprich Liberalisierung und De-Regulierung zum einen, der Maßnahmen zur Integration 160

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weitestgehend aller erwerbsfähigen Bürger und Bürgerinnen in den Arbeitsmarkt, also der Realisierung der Leitidee des geschlechtsneutralen „adult-worker“ (ErwerbsbürgerIn), sprich der Kommodifizierung und Flexibilisierung zum anderen und zuletzt des Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und solidarischer Sicherungssysteme, also der ReKommodifizierung, gelten Frauen und Männer als freie, gleiche und eigenverantwortliche Marktindividuen. Die im schumpeterianischen Wettbewerbsstaat von diesen Subjekten abverlangte „Gouvernementalität“ (Foucault 2000: 65), sprich Selbstführung und Selbstverantwortung, ist kaum vereinbar mit einem gewaltförmig durchgesetzten Dominanzanspruch von Männern über (Ehe-)Frauen. Oder anders formuliert: Die dem neoliberalen Diskurs als Grundton eingewobenen Freiheitsversprechen und Freiräume auch für die persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung – deutlich etwa an den aktuellen politischen Debatten über das Adoptionsrecht im Rahmen der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ – können die in Intimbeziehungen, in Ehe und Familie ausgeübte (sexualisierte) Gewalt von Männern gegen Frauen weder als Privatangelegenheit neben sich dulden noch als solche ungeahndet lassen. Darüber hinaus gilt es anzumerken, dass zum einen sowohl die durchgesetzte gesellschaftliche Ächtung dieser Gewalt als auch die veränderten Handlungsbedingungen auf Grund der Kooperation der Neuen Frauenbewegung mit dem Wohlfahrtsstaat auch deren Aktivitäten und Ziele verschoben haben: nicht mehr der politische Impetus der Skandalisierung dieser vormals privatisierten, tabuisierten und geduldeten Gewalt im Horizont patriarchaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die aufgehoben werden sollen, steht im Mittelpunkt der alltäglichen Arbeit der Aktivistinnen. Sondern es besteht der Zwang, die Arbeit von „autonomen Frauenhäusern“ im Netz Sozialer Dienste durch Organisationsund Qualitätsentwicklung unter wachsenden Wettbewerbsbedingungen der „Wohlfahrtsökonomie“ zu sichern und zu stabilisieren. Zum anderen trägt die Professionalisierung und Anerkennung der Sozialen Arbeit für die Opfer von Männergewalt auch zu einer Normalisierung diese Gewalt bei. Für diese stehen – so das die weithin geteilte Annahme – unterdessen hinreichend Beratungs- und Zufluchtsstätten bereit. Jedoch verbleiben die Täter, auch wenn sie nun die gemeinsame Wohnung verlassen müssen, ebenso weitgehend im Dunkeln, wie fortbestehende kulturindustriell vermittelte Werte und symbolische Geschlechterordnungen unthematisiert bleiben, welche die Misshandlungssituation rahmen. Zuletzt bleibt der bittere Nachgeschmack angesichts dieser Erfolgsgeschichte der Neuen Frauenbewegung, die zu einer Transformation wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterpolitik führte, dass das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Mädchen bislang nicht verringert werden konnte. 161

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Entlang der skizzierten Rekonstruktion von zwei zentralen Issues der Neuen Frauenbewegung hinsichtlich der Erweiterung sozialer Rechte um Schutz- und Selbstbestimmungsspielräume fällt eine resümierende Antwort auf die Frage nach den Auswirkungen und Erfolgen der Forderungen dieser kollektiven Akteurin also durchaus facettenreich aus. Zugleich zeigt sich zum einen die Notwendigkeit einer intensiveren Auseinandersetzung mit den (unfreiwilligen) Konvergenzen der an Autonomie und Selbstbestimmung orientierten feministischen Issues mit neoliberalen Leitprinzipien; zum anderen wird deutlich, dass eine feministische Re-Definition von citizenship sich sowohl politisch als auch analytisch noch stärker für die Problemstellung der sozialen Ungleichheit zwischen Frauen stellen muss. Als Reaktion auf die mögliche schleichende Vereinnahmung bzw. Sedierung feministischer Forderungen nach generativer Selbstbestimmung und Schutz der sexuellen, körperlichen und seelischen Integrität in die neoliberalen Leitideen der Selbstführung und Selbstverantwortung scheint es mir geboten, noch stärker die sozialen Differenzen zwischen Frauen auf Grund von Klassenzugehörigkeit, ethnischer und nationaler Zugehörigkeit, von Alter, sexueller Orientierung, körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung sowie dem Leben im städtischen oder ländlichen Raum in den Mittelpunkt der Analysen zu rücken. Hier bietet das aus der US-amerikanischen feministischen Diskussion stammende Konzept der Intersektionalität einen ebenso analytischen wie praktisch-politischen Rahmen, um alte und neue Achsen der sozialen Ungleichheit und der Differenzsetzung (vgl. Klinger/Knapp 2007) aufzudecken. Denn der sich „verschlankende“, post-fordistische Wohlfahrtsstaat schränkt etwa den materiellen Schutz von Asylsuchenden und jenen mit Aufenthaltsstatus vor (sexueller) Gewalt auch wieder ein (vgl. Frauenhauskoordinierung 2008) und re-stabilisiert somit erneut hierarchische und von ökonomischer Abhängigkeit gekennzeichnete Geschlechter in Überschneidung mit anderen herrschaftsförmigen Sozialverhältnissen. So erweist sich etwa die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen – verstärkt durch strukturelle Benachteiligungen wie ein unsicherer Aufenthaltsstatus, alltägliche Rassismuserfahrungen, fehlende Arbeitserlaubnis, geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt, interkulturelle Differenzen, Sprachprobleme und schlechte bzw. keine medizinische und psychologische Versorgung – als Problem verschärft (vgl. Grubic 2008; Lehmann 2010) und fordert zu einer differenzierten Analyse sowie interkulturell informierten Handlungsstrategien auf. Zur Weiterentwicklung feministischer Forderungen nach dem Zugang zu sozialer Rechte sowie der feministischen Re-Definition dieser Rechte für Frauen unterschiedlichster Lebenslagen erscheint es mir notwendig, verstärkt die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Struk162

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turgeberInnen sozialer Ungleichheit aufzusuchen. Somit wird es möglich, die sich überlagernden und kumulierenden Formen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Unterdrückung ebenso zu skandalisieren wie Formen der Privilegierung und Über- und Unterordnung innerhalb der weiblichen Genus-Gruppe. Denn es gibt unterdessen eine beträchtliche Zahl von Frauen, die über hinreichend eigene ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen verfügen, um auf dem Markt ihr Glück zu schmieden, ohne auf den Zugang zu soziale Rechten angewiesen zu sein.

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F EMINISTISCHE UND FRAUENSPEZIFISCHE B ERATUNGSPRAXIS

Was Frauen gut tut: Frauenpolitische Praxis , Fra uenges undheitsforsc hung, Fe ministisc he The orie 1 TRAUDE EBERMANN/BIRGE KRONDORFER/GERLINDE MAUERER/ BETTINA REINISCH/BEATE WIMMER-PUCHINGER

Gerlinde Mauerer (GM): Ich begrüße Sie beziehungsweise Euch alle herzlich zur Eröffnungsveranstaltung unseres Jahresprogramms in der Frauenhetz. In diesem Jahr haben wir in unserem Jahresprogramm folgende Zielsetzungen: Wir wollen eine historische Entwicklungslinie von der „Krankheit Frau“ oder von Frauen krank machenden Perspektiven hin zur frauenpolitischen Analyse der Zweiten Frauenbewegung und der Frauengesundheitsbewegung nachzeichnen. Zugleich wollen wir eine gegenläufige, parallel verlaufende Entwicklung aufzeigen: insofern, als die Anerkennung von geschlechtsspezifisch differenzierendem Wissen teils auch wieder aufgehoben wird und – insbesondere in gesundheitspolitischen Entscheidungen – nicht wirksam wird. Als Fazit hierzu: Es gibt zwar interessante neue Forschungen, aber die gesundheitspolitische Anerkennung und Umsetzung fehlt in vielen Bereichen bis heute. Darüber hinaus zeigt sich, dass in einem auf positive gesundheitliche Aspekte konzentrierten, leistungsorientierten Bewertungssystem etwas unter den Tisch gekehrt wird, das immer wieder zum Vorschein kommt. 1

Dieser Text basiert auf dem Transkript der Eröffnungsveranstaltung des hier dokumentierten Jahresprogramms in der Frauenhetz in Wien. Die gleichnamige Veranstaltung fand am 18. April 2008 statt. Die Beiträge wurden den Referentinnen in überarbeiteter und gekürzter Form übermittelt und von ihnen für die Publikation autorisiert. 169

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Salopp formuliert: Eine reduzierte Konzentration auf Salutogenese (Antonovsky 1997) verschleiert den Blick auf folgende Tatsache: dass es neben allen existierenden Gesundheitsberufen bis heute Ärzten und Ärztinnen vorbehalten bleibt, gesund oder krank zu schreiben. Dies bedeutet eine konkrete Verbindung zur Leistungsorientierung im Gesundheitssystem. Hierzu zählen die Medikalisierung von Lebensphasen, wovon die „klassische Reproduktionsarbeit“, nämlich Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, nur einen Teil ausmacht. Das Zynische oder auch das Auffällige an diesen so genannten „Ausfällen“ oder „Leistungseinbrüchen“ ist, dass sie mit sehr viel Arbeitsaufwand verbunden sind. Womit ich bei einem großen Bogen, der unsere Programminhalte umspannt, gelandet bin: nämlich der Ebene der Sichtbarkeit individueller respektive gesellschaftlich als bedeutsam gemessener Beiträge, die als produktiv oder reproduktiv aufgefasst und gewertet werden. Daran schließen viele Fragen an, die die Einflussnahme gesellschaftlicher (Nicht-)Anerkennung auf unser individuelles Wohlbefinden und unsere Gesundheit thematisieren: Was wird gesehen, was wird anerkannt in der werktätigen Leistungsgesellschaft? Das hat auch sehr viel damit zu tun, was als gesund und krank definiert und gesehen wird. Diese leistungsorientierte Erfassung von Gesundheit und Krankheit hat sehr viel mit dem zu tun, wie Frauen leben und wie sie ihr Leben gestalten können. Kurz gefasst: wir versuchen in unserem Programm eine sehr breite Herangehensweise an das Thema Frauengesundheit zu verfolgen, mit Fokus auf historische und frauenpolitische Komponenten. Damit möchte ich die Runde eröffnen und ersuche unsere Podiumsteilnehmerinnen um ihre einleitenden Impulsreferate, bevor wir in der großen Runde zu den weiteren Perspektiven der Frauengesundheitsbewegung und -forschung diskutieren und die Arbeitsinhalte und Zielsetzungen von Frauengesundheitsprojekten in ihren Anfängen und heute diskutieren. Zunächst möchte ich das Wort an Birge Krondorfer übergeben, als interne Kritikerin in unserer Jahresprojektplanungsphase. Birge, Du hast damals geäußert, dass aus Deiner Sicht die Frauengesundheitsforschung die Wurzeln aus der Zweiten Frauenbewegung längst vergessen habe und dass, was sich heute als Frauengesundheit und Frauengesundheitsforschung verstehe, quasi entkoppelt sei von der Zweiten Frauenbewegung. Birge Krondorfer (BK): Ich bin seit einem Viertel Jahrhundert der Frauenbewegung verbunden und erinnere mich deutlich, dass – und ich hätte das nicht unter der Begrifflichkeit Frauengesundheitsbewegung gefasst – die Frauenbewegung selbst, zumindest die Zweite Frauenbe170

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wegung, so wie ich sie erlebt habe, ihren Ausgangspunkt von Körper und Körperkritik genommen hat. Wenn wir uns erinnern, dass die Erste Frauenbewegung um das Wahlrecht, also erst einmal um die Anerkennung als Bürgerinnen kämpfte, so hat dann – und ich lasse jetzt den Faschismus/Nationalsozialismus aus – die Zweite Frauenbewegung mit der Abtreibungskampagne begonnen, mit dem Slogan „mein Bauch gehört mir“; also das Selbstbestimmungsrecht der Frau bedeutete erst mal das Selbstbestimmungsrecht der Frau auf ihren eigenen Körper. Und das war – so kommt es mir vor – lange Zeit im Zentrum der Debatten und Ereignisse, der Auseinandersetzung und Kämpfe. Man kennt das heute vom Hören-Sagen, die mystisch aufgeladenen Selbsthilfegruppen und Selbstuntersuchungsgruppen und was es nicht alles so gab. Wenn man das heute jungen Frauen erzählt können sie die Bedeutung, die das hatte, nicht nachvollziehen; es scheint aus dem Reich der Märchen zu sein – „Selbstuntersuchung?“ Es gab eine vielfältige Auseinandersetzung mit der eigenen Leiblichkeit, und warum? Weil die Erkenntnis und Einsicht präsent wurde, dass das Patriarchat, die Männerherrschaft, sich vornehmlich über den Frauenkörper abspielt, also die Enteignung des Frauenkörpers, die Nicht-Selbstbestimmung, die Nicht-Selbst-Verfügung der Frauen über ihren eigenen Körper als Machtinstrument eingesetzt wurde und wird. Die erste feministische historische Forschung bezog sich zum Beispiel auf die Hexen-Frage, also darauf, dass in der europäischen Zivilisation tausende Frauen als Hexen umgebracht worden sind.2 Ein Grund dafür war die Auslöschung weiblichen Wissens in Bezug auf den eigenen Leib, also Gesundheitsfragen, Hebammenfragen, Geburtsfragen und dass das mit einer brutalen Kirche, der Inquisition Hand in Hand mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft ging. Es hat ein Prozess stattgefunden, der bis heute zivilisatorische Konsequenzen hat, auch wenn wir an das Thema Demokratie denken. Der Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit hängt eng mit dieser Hexenverfolgung zusammen. Und eben mit der Frage nach der Verfügung über den eigenen Leib. Ich finde heute all das immer noch lesenswert, wo es darum ging, die Geschichte des Abendlandes in ihren Auswirkungen auf die Geschichte von Frauen nachzuzeichnen. Christina von Braun z. B. in „Nicht-Ich. Logik – Lüge – Libido“ (1985) hat paradigmatisch am 2

Der Hexenhammer erlebte vom 15. bis zum 17. Jahrhundert 29 Auflagen und gehört damit zu den meistgedruckten Werken der Frühzeit des Buchdrucks. Vgl. Becker et al. 1978; Sallmann Jean-Michel 2006; TreuschDieter 2005, und http://www.irrenoffensive.de/szaszsymposium/index.htm (10.6.2010). 171

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Krankheitsbild der Hysterie nachgewiesen – dekonstruiert würde man heute sagen –, wie unsere Kultur geprägt ist von einer Entmaterialisierung, das heißt einer Spaltung vom großen „Ich“ ins kleine „ich“. Das heißt, dass die Entstehung der Schriftkultur auch eine Entwertung des Körpers bedeutet hat und – ich sage das jetzt sehr vereinfacht – den Frauen in der Geschlechterideologie der Körper, die Körperlichkeit, die Natur, die Sexualität, Mutter Erde, Mutter Frau zugeschrieben wurde, die ausbeutbar ist, die bewusstlos ist, die keinen Geist hat, kuhgleich sei, wie einige Philosophen gemeint haben. Die Geschlechterideologie bestand ja daraus, dass Frauen einfach praktisch nichts waren außer, wie wir dann immer gesagt haben, Gebärmaschinen und so weiter. Gut, dagegen wurde viel getan und viel gedacht in Bezug auf Selbsterkenntnis und leibliche Erkenntnis als eine feministische Grundidee, aber auch hinsichtlich der widerständigen Bewegungen gegen die ersten Gen- und Reproduktionslaboratorien. Da gab es eine ganze Bewegung innerhalb der Frauenbewegung – in Österreich weniger, aber in Deutschland zum Beispiel sehr vehement – die wirklich in diese Krankenhäuser und Laboratorien, diese Forschungsstätten, die Unternehmungen gestürmt sind, diese besetzt und richtig Rabatz gemacht haben. Diese Form von deutlichem Widerstand war, wie man heute feststellen muss, sehr berechtigt, aber hat leider nicht gefruchtet; im Gegenteil, das wurde immer so ein bisschen für wahnsinnig gehalten. Für mich fiel das alles unter Frauenbewegung und feministische Widerstände. Frauengesundheitsbewegung war für mich nie ein Begriff. Historisch gehört auch die ganze Debatte zur Sexualität dazu. Das war ja ein wildes Thema: Befreiung, die Befreiung vom Mann auch hinsichtlich der Sexualität; ich möchte jetzt nicht gerade sagen‚ es ist gesünder, lesbisch zu werden, aber irgendwie war es auf jeden Fall Ausbruch und Abwendung schlechthin. Die Findung des eigenen Körpers über die Findung des weiblichen Begehrens, das sich ja auch auf dieser Ebene von den patriarchalen Zuschreibungen unabhängig machte, sodann die Absage der Gewaltverhältnisse – die Entstehung der Frauenhäuser als Stichwort – all das war in diesen vehementen ersten fünfzehn Jahren einfach präsent. Frühe Kritikerinnen wie zum Beispiel Gerburg Treusch-Dieter, Barbara Duden und andere – den Widerstand gegen die ersten reproduktionstechnischen Einrichtungen oder Forschungen hatte ich schon erwähnt – haben sehr schnell erkannt und gesagt, dass die Gen- und Reproduktionstechnologie beziehungsweise die Technologie überhaupt, – in Österreich ist es Nadia Trallori, die hier sehr viel geforscht und geschrieben hat – nichts anderes als eine Fortsetzung des Androzentrismus mit anderen Mitteln darstellt. Seit Aristoteles gibt es einen Diskurs quer durch die abendländische Kultur und Philosophiege172

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schichte: Die Frau ist die Hülle, die besamt wird und der eigentliche Mensch entsteht aus dem Sperma und nicht durch die, die es austrägt. Das ergibt eine Analogie zur Entstehung des Lebens aus dem Reagenzglas. Gerburg Treusch-Dieter hat sehr früh gesagt3, dass der mütterliche Körper als Hülle und das Reagenzglas demselben Paradigma entsprechen: die Verfügbarkeit des weiblichen Körpers in männlichen – wie sage ich jetzt – Omnipotenz-Phantasien. Nachdem sie halt nicht selber das Leben machen können, produzieren sie sich sozusagen vermittelt durch die entleerte Frau im gefüllten Glas. Und da ist noch etwas, wo es eine Verbindung zwischen Frauen und Gesundheitsbewegung gibt. Ein ganz wesentlicher Aspekt wie ich finde, ist das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, wie es die Zweite Frauenbewegung gefordert hat und das heute von der neoliberalistischen Aufforderung zur Selbstkontrolle über den eigenen Körper verdreht worden ist. Man könnte sagen, es ging um Autonomie und jetzt geht es wieder um Autonomie, nur da hat sich etwas völlig verschoben: in der ständigen Anrufung zur täglichen Selbstkontrolle bis hin zu veränderten Bedingungen der Versicherungsanstalten ist man selbst zuständig für seine Gesundheit und bezichtigt Böses zu tun. Essen, Rauchen oder sonst irgendetwas wird ja immer moralischer diskutiert kommt mir vor, wobei der Aspekt der Ökonomisierung, der Pharmaindustrie und so weiter nicht außer Acht gelassen werden darf. Da gehört für mich auch der ganze neue Kult um die Mutterschaft und die technische Machbarkeit der Kinds-Produktion etc. dazu. Die Selbstverfügung, was wir sozusagen als Recht gefordert haben, ist heute zur Verpflichtung geworden, um das einmal so zu benennen. Und kritische Geisterinnen konstatieren, dass auch schon ein Haken an der ganzen Sache mit der Devise „mein Bauch gehört mir“ war, weil dies schon ein Selbstverhältnis initiiert, das eine Selbstentfremdung ist, weil es den Körper zu einem Besitztum erklärt: zu einem Instrument, was sehr anschlussfähig war für die Instrumentalisierung der Leiblichkeit heute in Form der industriellen Verfertigung der Reproduktion und der Gesundheit. Da gibt es einen Konnex, auch wenn man das so natürlich nie dachte und immer gegen diese ganzen Industrien kämpfte, weil man schon wusste, oder weil Frauen eben schon wussten, dass diese viel mit der Enteignung zu tun haben; trotzdem gibt es da eine Verbindung. Das sind alles ganz spannende Fragen, wenn man über Frauengesundheit und Politik, also feministische Politik spricht, weil ich finde, 3

Gerburg Treusch Dieter: Von der sexuellen Rebellion zur Gen- und Reproduktionstechnologie, Tübingen 1990. 173

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dass es da einen Zusammenhang, auch jenseits der wachsenden Erkenntnis über Gendermedizin gibt, also darüber, dass jetzt nicht mehr nur der männliche Körper als Maßstab der medizinischen Logik gilt. Wir müssen die Ebenen des politischen Bewusstseins behalten. Stichwort Biopolitik – auch Foucault hat sehr früh gesagt, dass Bevölkerungspolitik Biomacht ist4; dabei geht es immer um Regulierungssysteme und Kontrolle. Ich erlebe das wie eine Weissagung von vor dreißig Jahren, die sich immer mehr vollzieht, diese biopolitische Version unserer Existenzbedingungen. Und das ist ein Problem, weil wir damit Gesundheit – das betrifft natürlich mehr Bereiche als jetzt ausschließlich den Gesundheitsbereich – und damit die Körper kontrollieren und das dies letztlich die Überwachung des ganzen Lebens einmal bedeuten wird. GM: Ich möchte nun Beate Wimmer-Puchinger, die Frauengesundheitsbeauftragte der Stadt Wien, zu Wort bitten. Was sind aus Ihrer Sicht Ergebnisse der Zweiten Frauenbewegung für Frauengesundheitseinrichtungen und -projekte heute? Beate Wimmer-Puchinger (BWP): Ich bin sozusagen Zeitzeugin des Ganzen. Ich habe 68’ zu studieren begonnen und war auf der Straße und, bei uns war das ja milder als in Deutschland, aber die Debatte „Mein Bauch gehört mir“, das war nicht nur Theorie, das war auch Praxis. Und ich habe am eigenen Leib erlebt, dass es wirklich so etwas wie eine patriarchale, paternalistische Kontrolle gegeben hat. Es hat in ganz Wien vielleicht nur drei, sowieso nur männliche Gynäkologen gegeben, die damals bereit waren, einer achtzehn- oder neunzehnjährigen Studentin, die nicht verheiratet war, überhaupt die Pille zu geben. Und insofern war die Frauenbewegung sehr stark auf die Autonomie des weiblichen Körpers zentriert und es gab, wie die Geschichte gezeigt hat, viele Fesseln, die es hier zu sprengen galt. Ich habe ab 1972 – noch in einem Kellerlokal – die Aktion Unabhängige Frauen mitbegründet und bin Feministin, nach wie vor. Die Frauengesundheitsbewegung war ein Anliegen, das von der amerikanischen Frauenbewegung her kommt und zu uns herübergeschwappt ist, vor allem auch mit dem starken Bedürfnis verbunden, seinen Körper nicht der Medizin ausliefern zu müssen und fremdbestimmt zu werden, sondern selber zu wissen, was gut ist. Ein wichtiger Meilenstein war das 5 Buch „Our Bodies, Ourselves“ , welches damals revolutionär war. Endlich konnte frau etwas über sich und ihren Körper in einer nachvollzieh4 5

Vgl. Foucault, Michel (1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. Main. Vgl. Boston Women’s Health Collective 1984 (Erstveröffentlichung „Women and their Bodies“, Boston 1970).

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baren Sprache lesen und verstehen. Heute ist das anders, wo wir so viele Ratgeber und einen anderen Wissenszugang haben; damals war es so, dass es nur dieses Paperback Buch gab. Das waren sehr starke Momente, eine enorme revolutionäre, emotionale Energie war da, wo wir Frauen dafür gebrannt haben. Auch, weil uns erst klar geworden ist, wie Jahrhunderte, Jahrtausende lang unser Körper fremdbestimmt war. Und dann waren wesentliche Momente der Kampf um die Geburtshilfe: Jahrhunderte lang musste frau, damit das für den Gynäkologen einfacher war, im Liegen entbinden, wurde festgezurrt und konnte sich nicht bewegen und war daher zu einer passiven Rolle verdammt. Ich möchte gerne die Debatte um In-vitro-Fertilisation aufgreifen (IVF). Ich wurde damals öfters als Psychologin und Feministin zu Fernsehdiskussionen eingeladen. Es gab damals viele Forscherinnen und Feministinnen, die IVF vehement in Frage gestellt haben. Johanna Dohnal sei Dank, haben wir in Österreich ein gutes Reglement. Die Lobby dafür war sehr stark. Und in der Tat ist es überhaupt kein Geheimnis, dass es so etwas wie Gebärneid natürlich gibt und auch ganz klar war, dass der drive männlicher Forscher auch aus Neid geboren war. Es gibt in ganz Europa eine einzige Frau, die sich auf diesem Gebiet habilitiert hat. Wir haben genau gewusst, dass die Retorten-Geschichte Wegbereiter sein wird sehr früher Geschlechterselektion und Manipulation. Wir haben dagegen angeschrieben, aber die Mächte waren stärker. Für mich ist daher Frauengesundheit immer auch verknüpft mit der Frage nach ökonomischen Interessen, ideologischen Projektionen und Kontrollmechanismen. „Your body is a battle ground!“ galt und gilt noch immer für den weiblichen Körper. Wir wissen heute, dass an der Zunahme der Infertilität auch Umweltfaktoren beteiligt sind. Zweiter Faktor ist das Alter – dass dann die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft nicht mehr so hoch ist. Ein wichtiger Faktor ist auch, dass die Medizinforschung ganz klar sagt, dass die Spermienquantität abnimmt, auch bedingt durch diverse Medikamente und Pharmaka, die in den Kreislauf kommen. Faktum ist, dass die Infertilitätsrate steigt. Und immer verfeinerter gibt es schon vier verschiedene Arten, Mutter zu werden. Frauen werden mit hohen Dosen von Hormonen „hochgefahren“, um ein Gebärkörper zu werden. Ich vermisse dazu heute durchschlagskräftige kritische feministische Frauengesundheitsforschung. Im Gegenteil – die Ausnahme ist zur Normalität geworden und die Fertilitätszentren prosperieren. Ganz besonders wird hier, auch durchaus bedenklich, Wunschselektion von Söhnen vor allem für finanziell potente Kunden aus arabischen Ländern verfolgt. Die Anzahl an künstlichen Befruch175

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tungen steigt stetig an. Johann Dohnal sei Dank, sind zumindest die verschiedenen Varianten der Leihmutterschaft sowie bezahlte Eispenden in Österreich verboten. Weitsichtig wie sie war, wollte sie damit zu Recht körperliche Ausbeutung von Frauen verhindern. Was mich heute im Zusammenhang mit unserer Reproduktion sehr besorgt, ist die Zunahme der „Wunschsectio“. Dies bedeutet ein Zurückdrängen der aktiven Hebammengeburtshilfe sowie der Selbstbestimmung der Frau. Behauptet wird, dass die planbare Wunschsectio den „postmodernen Frauen“ entgegen käme, da sie planbar, ökonomisch und effizient, schmerz- und angstfrei wäre, sowie vor allem diverse Risiken der natürlichen Geburt ausschalten würde. Internationale Studien belegen allerdings, dass diese „freie autonome Entscheidung“ der Frauen und der ausdrückliche Wunsch nach einer Sectio ein Mythos ist, sondern der so genannte „Wunsch“ ein Ergebnis der Information und Kommunikation ist. Frauengesundheit ist daher ein sozial, frauen- und gesundheitspolitisch relevantes Gebiet. Wir engagieren uns im Rahmen des Wiener Programms für Frauengesundheit vor allem für die sozial benachteiligten Frauen. So haben wir Maßnahmen für wohnungslose Frauen initiiert, die ÄrztInnen-Besuche aus Scham meiden und meist infolge von erlittener Gewalt eine breite Palette von psychischen Erkrankungen aufweisen. Ein engagiertes Team des FEM (Sozialarbeiterin, Psychologin, Gynäkologin) sucht die Frauen in den Wohnungsloseneinrichtungen auf. Dadurch wird ein Brückenschlag zu den diversen Einrichtungen in Wien ermöglicht. Die Angebote werden sehr gut angenommen. Weiters haben wir ein großes Gesundheitsförderungspaket für langzeitarbeitslose Frauen mit ermöglicht. Dadurch konnten rund 800 Frauen Gesundheitsangebote in Anspruch nehmen, wie zum Beispiel Tai Chi, Massagen, Schattenboxen, Nordic Walking-Gruppen, Ernährungsberatungen, psychische Beratung etc. Wir haben aber auch das Thema Frauen mit Behinderungen aufgegriffen, da diese Frauen mit multiplen Benachteiligungen und Diskriminierungen konfrontiert sind. Weiters muss man die psychische und physische Belastung von Alleinerzieherinnen aufmerksamer beachten. Dies ist eine Gruppe von Frauen, die ein sehr hohes Burn-out-Risiko hat. Dass Migrantinnen von Armut gefährdet sind und sie ebenfalls noch die Zeche für importierte partriarchale Macht bezahlen, ist ebenfalls ein wichtiges Thema für uns. Durch mangelnde Bildung, wenig Empowerment nach außen zu gehen, Hemmungen und Hindernisse soziale Kontakte zu knüpfen, sind sie sehr vulnerabel. Uns ist es daher ein wichtiges Anliegen, durch spezielle Angebote (FEM Süd), wie Gesundenuntersuchungen in türkischer Sprache 176

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sowie mehrsprachige Öffentlichkeitsarbeit und Informationsbroschüren, diesen Frauen den Zugang zu unserem Sozial- und Gesundheitssystem zu erleichtern. Der letzte Diskurs, den ich vielleicht abschließend erwähnen möchte, der mich wütend macht, ist die Verfügbarkeit des Frauenkörpers und Medialisierung in Wirtschaft und Medien. Zwei Drittel aller verkauften Psychopharmaka schlucken Frauen. Ein weiteres großes Geschäftsfeld ist die Hormonersatztherapie. Wir haben den unabhängigen Studien Top-Wissenschaftlerinnen in Amerika zu verdanken, dass in einer unabhängigen großen Langzeitstudie über den Benefit der Hormonersatztherapie nachgewiesen werden konnte, dass die versprochenen, beworbenen und erwarteten großen Hoffnungen (weniger Herzinfarkte, weniger Osteoporose, weniger Depressionen, weniger Falten) sich nicht erfüllt haben. Im Gegenteil, es musste ein Anstieg an Brustkrebserkrankungen festgestellt werden. Die Untersuchung, die auf zehn Jahre angelegt war, wurde daher vorzeitig abgebrochen. Der Grundstein für diese Women’s Health Initiative (WHE) wurde 1992 vielleicht durch Unterstützung von Hillary Clinton durch den Beschluss des Women’s Health Equity Act im Kongress gelegt. In diesem Women’s Health Equity Act wurde auch beschlossen, bei klinischen Untersuchungen zu neuen Medikamenten, Frauen einzuschließen, was bis dato nicht der Fall war. Das heißt skandalöser Weise wurden alle Untersuchungen ausschließlich an Männern durchgeführt, obwohl die Medikamente selbstverständlich auch Frauen verschrieben wurden. Es ist davon auszugehen, dass durch die spezielle Biologie und Endokrinologie von Frauen die Wirkmechanismen anders gelagert sind. Das heißt für uns heute, dass wir mehr Kontrolle nicht nur über den Frauenkörper, sondern auch über die Forschungsfragen und Forschungsmittel erkämpfen müssen. Insgesamt ist folgende Spirale hinderlich: Forschungsmittel werden überwiegend von männlich dominierten wissenschaftlichen Gesellschaften akquiriert und entsprechende „Topics“ finanziert und publiziert. Von Ärztinnen aufgegriffene Forschungsfragen geraten dadurch leicht ins Hintertreffen oder werden als nicht-publikationswürdig abgeschmettert. Die Ungleichheit entsteht dann akademisch dadurch, dass frau oftmals weniger Publikationen in Top-Journalen nachweisen kann. Dadurch aber kann sie weniger leicht in die Spitzen der wissenschaftlichen Gesellschaften vordringen beziehungsweise sich für Führungspositionen bewerben. Auch die HerausgeberInnen sowie ReviewerInnen der Top-Journale sind noch mehrheitlich Männer. Eine weitere wichtige Thematik ist das wir noch eine Lücke in der Gender Medicine Forschung haben. Unter diesem Label, auf dem Gender steht, ist sehr oft Gender nicht drinnen, sondern zwar auch wich177

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tige und gut gemachte, aber streng naturwissenschaftlich biologischmedizinische Forschung. Das was Gender Medicine aber meint, ist eine Analyse der Ergebnisse hinsichtlich der unterschiedlichen soziologischen Rollenmuster beziehungsweise der Gender-Gerechtigkeit. Interdisziplinäre Forschung in der Medizin, an der Schnittstelle zu Soziologie, Gesellschaftswissenschaften, Frauenforschung etc., hat auch noch weniger wissenschaftlichen „credit“ in dieser Wissenschaftskultur, bekommt aber auch wenig bis keine Forschungsmittel. Abschließend möchte ich betonen, dass Frauen und der Frauenkörper und somit auch Frauengesundheit ein Kampffeld der Religion, der Werte, ein Interessensfeld der Industrie sind und neuerdings zudem ein wunderbares Kauffeld, pekuniäres Interessensfeld der verschiedenen Ärzte, der Schönheitschirurgen. Das hier an dieser Stelle zu meiner Besorgnis. Mein heiliger feministischer Zorn bleibt streckenweise ohne Echo und es ist mir viel zu still unter uns Frauen. GM: Als weitere Vertreterin einer Frauengesundheitseinrichtung möchte ich Beate Ebermann zu Wort bitten. Frau Ebermann ist im Verein „Frauen beraten Frauen“ und als Psychologin in freier Praxis tätig. Im Verein „Frauen beraten Frauen, der ersten feministischen Frauenberatungsstelle in Wien, ist auch das Wiener Institut für frauenspezifische Psychotherapie angesiedelt. Traude Ebermann (TE): Ich beginne meinen Beitrag ebenfalls mit Blick auf die politische Situation Ende der siebziger Jahre. Als Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle von Frauen beraten Frauen will ich voranstellen, dass es von Anbeginn zu unserem Selbstverständnis gehörte, unsere psychosoziale Tätigkeit von und für Frauen mit den Zielsetzungen der autonomen Frauenbewegung zu verbinden. Das heißt, ein wesentlicher Aspekt unserer unterschiedlichen Professionalität ist ein Bekenntnis zum Feminismus. Um verständlich zu machen was dies bedeutet, will ich mit meinem Beitrag auf die Entstehungsgeschichte unserer feministischen Institution eingehen, und damit einhergehend veranschaulichen, wie wir mit unserem Angebot zu einer wichtigen psychosozialen Anlaufstelle für Frauen in Wien und Umgebung geworden sind. Alles begann in einer Ausbildungsgruppe in Gesprächstherapie. Meine Kolleginnen, die später Gründerinnen der Frauenberatungsstelle wurden, lernten einander dort kennen. Als frauenbewegte Frauen verband sie die Kritik an den patriarchalen Zuständen und somit auch am Gesundheitswesen und den von den beiden Vorrednerinnen beschriebenen Bedingungen der völligen Ignoranz von Frauen. Ihr Unbehagen bildete den Motor, gemeinsam etwas Eigenes für Frauen aufzubauen. Ich erinnere: Wir haben das Jahr 1979, in Wien und in Österreich 178

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gab es ja nichts Derartiges. So entstand die Planung der ersten österreichischen Frauenberatungsstelle von meinen Kolleginnen. Von den ursprünglich neun Pionierinnen arbeiten derzeit noch zwei Frauen mit – Margot Scherl und Renate Frotzler-Dittrich. Das heißt die erste Etappe der Gründungsphase bestand darin, ihr persönliches Unbehagen ernst zu nehmen, sich mit anderen auszutauschen, damit die individuelle Isolation aufzuheben und gemeinsame Aktionen zu entwickeln. Sie fragten sich, was können und müssen wir tun, damit sich die Bedingungen für Frauen ändern. Und das Wichtige: sie waren bereit, dies selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass andere (Männer) es für sie tun. Das war ihre Pionierinnenleistung. In der Folge fanden wöchentliche Treffen statt, bei denen sich ihre Ideen verfestigten. Bestärkung erlebten sie auch durch die gemeinsame Teilnahme am Frauentherapiekongress in Deutschland, vor allem im Austausch mit den deutschen Kolleginnen. In München gab es ja bereits das Frauentherapiezentrum. Im August 1980 wurde dann der Verein Frauen beraten Frauen in Wien gegründet, aus dem die spätere Frauenberatungsstelle hervorgehen sollte. Die damalige Staatssekretärin Johanna Dohnal unterstützte ihre Anliegen, indem sie eine Untermiete in den Räumen des FrauenhäuserVereins vermittelte, in der legendären Maroltingergasse. Die ersten Beratungen wurden in einem Zimmer und/oder Durchgangszimmer durchgeführt. Das muss man sich mal vorstellen. Die Kolleginnen, die die Beratungsstelle aufbauten, haben zum Teil vierzig Stunden in den unterschiedlichsten Instituten wie in der Kinderklinik, im Tiefenpsychologischen Institut etc. gearbeitet, als Psychologin, Sozialarbeiterin, Ergo- und Physiotherapeutin, also die unterschiedlichsten Quellberufe gehabt. Damit haben sie ihr Geld zum Leben verdient – und nebenbei, vorwiegend am Abend, haben sie für die neue Frauenberatung gearbeitet. Zwischen fünf und zehn Stunden hat jede Mitarbeiterin ohne Bezahlung – am Telefon, in der Beratung, an Teamgesprächen, bei der Organisation – mitgewirkt. Dieses Engagement muss frau sich mal vorstellen. Ich habe große Anerkennung dafür. Ebenso will ich aber die Selbstausbeutung nicht übersehen. Aber ohne diese gäbe es heute unsere Frauenberatungsstelle nicht. Die ersten Subventionen kamen von der Arbeiterkammer, adressiert mit: „Sehr geehrte Herren“: 5.000 Schilling. Das erscheint mir wichtig zu erwähnen, um sich die politische Rahmenbedingung klar zu machen. Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts war es undenkbar, dass es einen reinen Frau-

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enort gibt, gänzlich ohne Männer. Also zu begreifen, da gibt es eine Stelle, wo alles von Frauen besetzt wird. In dieser Zeit entstanden ja in Wien unterschiedlichste neue Frauenorte, wie das erste Frauenhaus, die Frauenbuchhandlung, das Frauencafé, die Auf, um nur einige zu nennen. Frauenkultur wurde sichtbar. Eine wichtige Funktion für die Politisierung des Frauseins hatten die von den amerikanischen Feministinnen ausgehenden Consciousness raising groups (Selbsterfahrungsgruppen), wo Frauen die wichtige Erkenntnis machten „Alles Persönliche ist politisch“ (ein Ausspruch Simone de Beauvoirs) was sie individuell erleben, erleiden, betrifft nicht sie alleine, sondern ist Ausdruck allgemeinen Frauenlebens- bzw. Frauenleidens. Diese Erkenntnis verbündete die Frauen auf neue Weise und löste die Schwere individueller Isolation. Zurück zur Frauenberatungsstelle: Bis 1983 wurden größere Räumlichkeiten bezogen, eine Untermietwohnung in der Pressgasse im 4. Bezirk. Inzwischen hatten sie die Finanzierung von drei Halbtagsstellen erkämpft, wodurch die Frauenberatungsstelle immer mehr ausgebaut werden konnte. 1984 war der Umzug in die Lehargasse, die bis heute besteht. 1991 konnte eine zweite Beratungsstelle in der Großen Neugasse eröffnet werden, die 1996 in die Seitenstettengasse in den ersten Bezirk übersiedelte. Lehargasse und Seitenstettengasse sind auch heute noch unsere beiden Standplätze. Ich führe dies deshalb so genau an, weil es plastisch aufzeigen soll welche politischen Rahmenbedingungen, aber ebenso welche persönliche Haltung es brauchte, damit eine feministische Institution, wie sie die Wiener Frauenberatung darstellt, überhaupt entstehen konnte, wenn sie aus der autonomen Frauenbewegung heraus getragen wird und nicht von Autoritäten vorgegeben wird, wie Gemeinde oder andere Körperschaften. Auch im alltäglichen Selbstverständnis wird eine andere Struktur sichtbar. Als antihierarchische Organisation, gibt es den Anspruch an jede Mitarbeiterin, zu gleichen Teilen die Funktionen als Mitarbeiterin und Chefin zu übernehmen. Sie ist also Ausführende und Verantwortliche der notwendigen Tätigkeiten. Wir bestimmen nach wie vor unsere Themen selbst, haben aber damit auch die Eigenverantwortung ob wir Subventionsträger und -trägerinnen finden, die unsere Arbeit bezahlen. Und da bin ich bei dem Punkt AMS (Arbeitsmarktservice, Anm. der Hg.), ich wurde vorhin über unsere Finanzierung gefragt. 1990 habe ich meine Tätigkeit bei Frauen beraten Frauen begonnen – mit einer vierzig Stunden Stelle, die vom AMS finanziert wurde. Als engagierte junge Psychologin und Psychotherapeutin war ich also hauptsächlich mit erwerbslosen Frauen beschäftigt. Wir entwickelten

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eigene Gruppen- und Beratungskonzepte für erwerbslose oder von Arbeitslosigkeit bedrohte Frauen. Voller Elan machten wir uns an die Arbeit, nannten zum Beispiel die Gruppe: „Frauenlos – Arbeitslos?!“ Was die Frauen dazu anregen sollte, mehrere Bedeutungen zu hinterfragen, wie etwa dass Erwerbslosigkeit ein Frauenschicksal ist, obgleich kein Frauenalltag frei von Arbeit ist, höchstens was bezahlte Arbeit anbelangt etc.. Wir hatten tolle Erfolge. Frauen mit unterschiedlichsten Krankheitssymptomen im Zuge ihrer Langzeitarbeitslosigkeit wie chronischen Depressionen und Panikattacken, fanden wieder zu ihrer Kraft, entwickelten neue Perspektiven, fanden wieder Arbeit. Der Austausch in der Gruppe mit anderen Betroffenen war enorm hilfreich, wurde als große Ressource erlebt. Die Arbeit mit den arbeitslosen Frauen war letztlich eine sehr schöne für mich, weil ich die Erfolge sah, an ihrer Persönlichkeitsentwicklung und/oder wenn sie (wieder) erwerbstätig wurden. Das Schwierige war die Kooperation mit dem Subventionsträger, dem AMS. Die verstanden meist nicht wirklich, was die Effizienz unserer Arbeit für die Volkswirtschaft war, wie viel Geld wir der Volkswirtschaft ersparten, indem die Frauen (wieder) erwerbstätig wurden, von Medikamenten los kamen, ihr Geld verdienten und damit ihre Autonomie entwickelten. Ein Beamter traf mich einmal im Kern, als ich ihm wieder einmal vermitteln wollte, wie wichtig Unterstützung und psychosoziale Beratung bei (Langzeit-)Arbeitslosen ist, wo auch ihr Frauenbild reflektiert wird, ich von Erfolgs-Stories berichtete, er mir aber nur lakonisch antwortete „Frau Ebermann, wir zahlen keine Seelsorgetätigkeit“. Dieses schiere Unverständnis unserer Arbeit und die ständige Entwertung lösten aus, dass ich nach fünf Jahren nicht mehr länger für diesen Subventionsgeber arbeiten wollte. Wir bekamen eine Million Schilling pro Jahr, davon wurden immerhin drei Mitarbeiterinnen bezahlt. Mein Aufschrei gefährdete also die Finanzierung meiner Arbeitsstelle. Das heißt, was ist, wenn es an Anerkennung für unser Engagement für eine ganzheitliche Frauengesundheit von den zuständigen, finanzierenden Stellen fehlt, sie das nicht als ihr Anliegen sehen, nämlich im Primärbereich der Gesundheitsförderung wirksam zu sein. Primärbereich heißt eigentlich an den Lebensbedingungen von Frauen anzusetzen, diese zu verändern helfen, damit es sekundär nicht zu Krankheiten kommt, die dann Behandlungen und Rehabilitation brauchen. Und so sehe ich auch unsere Verankerung einer feministischen Grundhaltung in Beratung und Psychotherapie. Eine Frau in ihrem Bewusstwerdungsprozess dergestalt zu begleiten, damit sie erkennen kann, dass mit ihrem persönlichen Entwicklungsprozess immer auch eine Auswirkung auf der gesellschaftlichen Ebene verbunden ist. 181

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Zurück zum AMS. Die ständigen Entwertungen des für uns zuständigen AMS-Beamten haben dazu geführt, dass ich mich letztlich weigerte, meine Arbeit fortzusetzen. Wir fanden dann eine andere Finanzierungsquelle, nämlich ein EU-Projekt über Armut und soziale Ausgrenzung von Frauen. Das war ein Glück, ich gebe es zu. Aber ich wäre eher von der Frauenberatung gegangen, als mich und meine Arbeit länger desavouieren zu lassen. Das ist mein Anspruch an Arbeitsbedingungen. Aber es berührt einen wichtigen Punkt von frauenspezifischen Institutionen. Die Balance zwischen ökonomischer Abhängigkeit von Geldgebenden und Selbstbestimmung zu halten. Was tun, wenn durch einen Geldgeber, massiv in die Selbstbestimmung der Arbeitsinhalte eingegriffen wird? Wo fängt die Funktionalisierung an, wenn wir etwas machen sollen, das nicht in unserem Sinne ist? Der Fokus frauenspezifischer Haltung ist gerichtet auf die Identität von Frauen, die Normalität von Frauen in Frage zu stellen, wie dies Louise Kaplan auch beschrieben hat in ihrem Buch „Female Perversions“ (1991), die Perversität der Normalität von Frauen. Das heißt zum Beispiel auch, feine Differenzierungen vorzunehmen, wie: Frausein und Mutterschaft zu trennen. Wir haben das in den letzten Jahren erlebt, wie die Frauenpolitik wieder zu einer Familienpolitik wurde – und zur Mütterpolitik. Das heißt, überhaupt da anzusetzen, Frau-Sein heißt nicht Mutter-Werden. Und die ganze In-vitro Technologie und das Geschäft damit gehören ebenfalls dazu. Ich kann mich noch erinnern, wie es mir ein Anliegen war, bei einer Veranstaltung eines Adoptivelternverbandes einen Kontrastvortrag zu halten über: „Nicht Mutter und ganz Frau!“ Von der Geschichte der Frauenberatung habe ich jetzt angeführt, dass wir mit unserem Anspruch von Autonomie, unsere Arbeitsinhalte selbst zu bestimmen und uns einzuklinken, wo wir es wichtig finden, was Frauen brauchen, ein finanzielles Risiko immer einkalkulieren. Zum Beispiel haben wir bei Gewaltthemen immer wieder auch Tabuthemen aufgegriffen, wie Angebote für schlagende Mütter. Also die unterschiedlichen Aspekte des Themenkreises sexuelle Gewalt an Frauen, auch zusätzlich das Tabu, dass Frauen auch selber schlagen könnten, oder überhaupt als Mittäterinnen. Vorhin war auch das Thema, die postmoderne Frau lässt sich einen Kaiserschnitt machen. Ich denke, dass wir immer wieder auch daran arbeiten, wie kommt es zu einer Verinnerlichung von Frauen, von Verhältnissen und Verhaltensweisen, die eigentlich für sie schädlich sind? Das heißt, die Introjekte von den patriarchalen Strukturen in uns wahrzunehmen. Das Patriarchat ist ja nicht nur außen, es ist auch in uns drinnen, wie Thürmer-Rohr betont.

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Mit dieser Ambivalenz in meiner psychotherapeutischen Arbeit zu arbeiten, finde ich immer wieder faszinierend und spannend solche Verdrehungen gemeinsam aufzudecken. Wir alle und jede einzelne Frau muss sich mit ihrer Ambivalenz oder mit ihren eigenen MittäterinnenAnteilen auseinandersetzen, sonst kann sie sich nicht lösen und ihre Eigenverantwortlichkeit entwickeln. Einer meiner Schwerpunkte ist Weibliche Sexualität. Bei meiner Gender-Lehrveranstaltung an der Medizinischen Universität komme ich mit vielen jungen Menschen in Kontakt. Und ich bin erschüttert, immer wieder, wie wenig Frauen über ihren Körper wissen und wie wenig sie eigentlich in den Lehrbüchern darüber erfahren. Aber in den unterschiedlichen psychotherapeutischen Ausbildungen ist es nicht viel anders. Das Wissen über den weiblichen Körper scheint verloren, muss neu in Erinnerung gebracht werden. Sind die Bücher, die inzwischen von Feministinnen geschrieben wurden überhaupt in Umlauf? Fristen sie nach wie vor ein Nischendasein, über das nur Eingeweihte Bescheid wissen? Wer kennt beispielsweise Sabine zur Niedens Buch über die weibliche Ejakulation (1994)? Wo sie den Freudenfluss als die weibliche Ejakulation wissenschaftlich veranschaulicht. Wer weiß das? Die wenigsten. Wer kennt noch „Frauenkörper neu gesehen“, aus dem Englischen mit übersetzt von Sylvia Groth (Geschäftsführerin des Grazer Frauentherapiezentrums)? Es zeigt vielfältigste Abbildungen des Frauenkörpers, wie er in den medizinischen Lehrbüchern nicht aufscheint, verschwunden ist wie die Klitoris aus dem Wissensalmanach. Im Film „Le clitoris“ (1998) zeigt eine australische Urologin, O’Connell, auf spannende Weise auf, wie in den medizinischen Lehrbüchern das Wissen über das weibliche Genital, die Klitoris, im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in Phasen wiederholt ausgelöscht wird und doch immer wieder auftaucht. Eva Schindeles Buch „Pfusch an der Frau“ (1993) schrieb Geschichte, indem sie den Skandal der Medikalisierung weiblicher Lebensphasen, wie Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, Wechseljahre etc. ausführt. Zur Zeit gibt Eva Schindele in Deutschland eine kritische Broschüre über die Brustkrebs-Früherkennung, die Mammographie, heraus. Neben der Anerkennung, die ihr für diese Enttabuisierung zukommt, hat sie auch viele Feinde, da dadurch das gute Geschäft mit der Angstmache gestört wird. Ich habe all diese Werke von Frauen angeführt, weil es so wichtig ist, dass sie geschaffen wurden und um das verlorene Wissen wieder in Erinnerung zu rufen. Es braucht weiterhin Bücher, die die Wirklichkeit von Frauen beschreiben. Von der Wiener Frauenberatungsstelle kamen 183

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schon mehrere Bücher heraus, die die Erfahrungen in unserer Praxis zugänglich machen. Für das 30-jährige Jubiläum 2010 planen wir ein Fachbuch über feministische Beratung und Psychotherapie. Es ist wie mit vielem Anderen: wenn wir feministische Expertinnen wollen, dass feministisches Gedankengut Eingang in das anerkannte medizinische oder psychologische Fachwissen findet, so müssen wir selbst Aktivitäten setzen, durch Publikationen etc., damit dieses Wissen offiziell aufscheint und präsent bleibt. Niemand sonst wird es für uns tun. Errungenschaften von Feministinnen sind keineswegs sicher. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Gesetzgebung zur Fristenlösung. Vor mehr als dreißig Jahren in der Blüte der Zweiten Frauenbewegung erkämpft, stelle ich immer wieder mit Entsetzen fest, wie sie regelmäßig auf der politischen Spielbühne in Frage gestellt wird. Szenen der ProLive-Aktivisten (und -innen) am Fleischmarkt lösen sowohl Schrecken als auch Wut in mir aus. Oft appelliere ich an die jüngeren Kolleginnen, darauf Acht zu geben, indem ich sie an die Fragilität des Gesetzes erinnere, dass sie ihren Teil dazu beitragen müssen, damit das Erworbene bestehen bleibt. Was ist also heute angebracht zu tun? Darüber wollten wir uns ja austauschen – worüber ich mich freue. Aus der Warte meiner Tätigkeit bei der Frauenberatungsstelle beschäftigt mich Folgendes: Seit ’94 bemühen wir uns um einen Krankenkassenvertrag für Psychotherapie. Weil die Frauen, die zu uns kommen, ja eigentlich nicht die sind, die sich Psychotherapie am freien Markt leisten können. Ein Gutteil meiner Mitarbeiterinnen hat eine abgeschlossene Therapieausbildung. Diese Qualifikation fließt auch in die unterschiedlichen Angebote ein, die neben Beratung und Psychotherapie – einzeln und in Gruppen – seit 2007 auch eine Online-Beratung umfasst. Unsere Angebote bei Trennung und Scheidung bieten eine sehr gefragte Rechtsberatung sowie themenspezifische psychosoziale Beratungsmodule. Es ist also ein Skandal, dass „Frauen beraten Frauen“ noch immer keinen Kassenvertrag für Psychotherapie hat. Gleichzeitig ergeben sich für uns Schwierigkeiten durch die für die Bezahlung der Psychotherapie durch die Krankenkasse vorgegebene Bedingung, dass hierfür eine als Krankheit zu wertende Diagnose vorliegen muss und es einen Konflikt darstellen würde, Frauen mit ihrem Leiden an Identitätskonflikten als Frau, gezwungenermaßen einer Diagnose unterzuordnen und sie damit zu pathologisieren. Diesbezüglich sind noch viele Aspekte zu bedenken. Abschließend möchte ich noch sagen, warum wir „Frauen beraten Frauen“ und „Institut für frauenspezifische Psychotherapie“ heißen. Wir 184

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haben mit Absicht das Wort Feminismus vermieden. Vor allem Frauen außerhalb der Frauenszene sollen durch die Bezeichnung eingeladen werden, sich mit ihren Anliegen an uns zu wenden. Frauenspezifisch macht weniger Angst, finden wir. Denn nicht alle Frauen deklarieren sich öffentlich als Feministin. Viele grenzen sich auch davon ab: „Ich bin ja keine Feministin“. Ein Phänomen, das mich immer wieder erschreckt und enttäuscht durch die explizite Entsolidarisierung. Es braucht aber Solidarisierung für gemeinsame Frauenanliegen. Eine allein kann das nicht bewerkstelligen. GM: Last but not least möchte ich Frau Bettina Reinisch um ihr Impulreferat bitten. Besonders bedanken möchte ich mich für ihre kurzfristige Zusage und ihr Kommen. Bettina Reinisch (BR): Ich arbeite im Institut Frauensache, wir sind personenzentrierte Therapeutinnen und bieten dort frauenspezifische Psychotherapie an. Und jetzt beim Zuhören ist mir etwas in den Sinn gekommen, was ich auch als Therapeutin wahrnehmen kann – es scheint einen gewaltigen Backlash zu geben, also eine wirklich starke Gegenbewegung. Und wir sind mitten drinnen. Ich glaube fast, es ist eine fürchterliche Katastrophe, es ist ein Super-Gau und jetzt ist dieser Eindruck bei mir verstärkt worden, als ich Ihnen drei zuhörte. Da dachte ich mir, sie reden sich ums Überleben. Sie wissen viel. Da sitzen drei Frauen, die hoch kompetent sind, unglaublich viel wissen, eine enorme Geschichte mitbringen. Ich glaube das mindeste sind fünfundzwanzig Jahre. Ein enormes Wissen. Und es gibt das Bedürfnis, verständlicher Weise und auch vollkommen zu Recht dieses Wissen weiter zu geben. Und auch zu sagen, wir haben viel gemacht und es wurde viel erreicht. Aber ich habe beim Zuhören eine zunehmende Schwere gespürt, und ich wurde traurig. Ich muss jetzt wohl erklären, wie ich das meine: Zu mir kommen viele Frauen zwischen 18 und 40. Frauen, die gut ausgebildet sind oder noch in Ausbildung sind, Frauen, die studieren, kritische Studentinnen sind, viel wissen und sehr gebildet sind. Sie kommen zu mir in Therapie und in den ersten Stunden stellt sich heraus, sie sind überzeugt, mit ihnen stimme etwas nicht. Sie sagen: „Frau Reinisch, mit mir stimmt etwas nicht. Ich habe eine Störung. Ich bin krank, da oben [im Kopf, Anmerkung BR] ist etwas falsch, eine Fehlschaltung ist da“. Sie haben interessanter Weise ganz oft so ein technisches, mechanistisches Bild von ihrem Gehirn. Das finde ich auch interessant, wo das herkommt, dieses Bild – das Gehirn sei etwas Technisches und also wirklich mit Schrauben, eine Art Festplatte. Viele dieser Frauen kommen aus so genannten „relativ“ normalen Familien, mehr oder weniger. Sie kommen wegen Depressionen, Zwängen, Ängsten, Schlafstörungen, Burn-out Syndrom, Erschöpfung etc. 185

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Alle, fast ohne Ausnahme, haben am Anfang die These, mit ihnen stimme etwas nicht, sie wären krank oder gestört. Keine von ihnen, auch fast ohne Ausnahme, sieht am Beginn der Therapie einen Zusammenhang der Qualität ihrer Beziehungen mit den Rollenzuschreibungen, die sie sich selbst gibt und die sie, die andere ihr geben, mit dem Stress, den sie in der Arbeit hat, oder mit Studium und Arbeit, weil sie sich selber erhalten muss, was auch immer mehr sind. Keine sieht vordergründig einen Zusammenhang mit ihren Rahmenbedingungen und mit den Erfahrungen, die sie als Frau macht. Was ich damit meine, ist unter anderem Folgendes: Dass sie enorme Leistungen bringen, genauso klug sind wie die Kollegen – aber weitaus geringere Karrierechancen haben als die Männer. Dass sie lernen, studieren, mit Auszeichnung und sehr guten Ergebnissen das Studium abschließen – aber im Job dann um 25 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Dass sie sich um die Kinder kümmern und den Haushalt checken. Und dann immer noch ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie keine Supermamis sind. Solche Frauen kommen zu mir und wundern sich, dass sie leiden, an etwas, was ein Arzt dann Depression nennt. Meine Gute, sagt der Arzt, sie leiden an einer Depression. Diese Frauen sitzen dann bei mir und sagen: Wieso habe ich Depressionen, mir geht es doch so gut? Wenn ich diese Frauen nach ihrer aktuellen Situation frage, erzählen sie mir von ihren Beziehungswünschen, dann erzählen sie mir, wie sie sich den Kopf zerbrechen, ob sie jetzt Kind planen sollen oder doch erst mit über 35, wenn sie schon genug Geld haben, ob sie das alles unter einen Hut bringen mit der Karriere, wie sie das machen mit den Männern. Und dann erzählen sie mir auch wie lieb ihre Partner sind. Übrigens auch ein interessanter Effekt – viele haben ein großes Bedürfnis, ihre Männer im ganz guten Licht darzustellen. Sie betonen öfter, wie toll ihre Männer sind. „Mein Mann ist ja so fortschrittlich“, oder „mein Freund ist ja so fortschrittlich, der geht ja auch ab und zu den Geschirrspüler einräumen und er hilft ja eh mit im Haushalt. Er trägt ja brav den Müll runter, zweimal pro Woche“. Also, das fällt mir sehr auf, dass viele keinen Zusammenhang sehen zwischen ihrem Leben, was sie erleben, was sie täglich hören und auch von den Medien hineingeschüttet bekommen ins Hirn. Und sie glauben: Mit ihnen stimmt etwas nicht. Kommentar aus dem Publikum: Darf ich ganz kurz unterbrechen, weil das so gut dazu passt: Ich war im April 2008 bei einem Zukunftsforum zu Gesundheitspolitik im Renner Institut. Da wurde eine Studie vorgestellt, Gesundheit von Kindern und Jugendlichen war der Konnex. Es gab da eine Folie, die ist mir total ins Auge gesprungen. Sie haben 186

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Jugendliche untersucht, 15 Jährige, ausgewiesen nach Mädchen und Buben, zu ihrem subjektiven Gesundheitsempfinden, es geht jetzt um 11und 15-Jährige im Vergleich, und bei den Mädchen klafft es auseinander – um 20 Prozent.6 Und das konnte niemand erklären, auch auf meine Nachfrage hin nicht. Dieses kompakte Wissen, dass wir haben, fließt einfach nicht ein in diesen Mainstream anscheinend. BR: Das ist glaube ich ein wichtiger Punkt. Ich will Ihnen eine kurze Anekdote aus meinem Leben erzählen. Kürzlich saß ich bei einer Ärztin im Wartezimmer. Dort tat ich das, was ich bei Ärztinnen immer tue, da mache ich dann Feldstudien und blättere in Frauenzeitschriften. Ich nehme also eine dieser Zeitschriften zur Hand und beginne zu blättern. Schon nach den ersten Seiten merke ich, wie es mir – wirklich – wie es mir von Seite zu Seite schlechter geht. Ich hatte einen grippalen Infekt, aber das war nicht der Grund, dass es mir immer schlechter ging. Es lag einfach daran, dass mir auf jeder Seite immer noch perfektere Frauen vorgeführt wurden. Und im hinteren Teil von dem Blatt – sehr geschickt, das so zu platzieren – ging es dann nur mehr darum der Leserin kleinere operative Eingriffe, nämlich im Gesicht, schmackhaft zu machen. Natürlich nur von seriösen Chirurgen, wurde betont. Adressen waren auch dabei – von männlichen Chirurgen versteht sich. In einem der beschriebenen Eingriffe ging es um Haarentfernung, wie einfach das ist. Ich las das und wurde immer kleiner dabei, denn mir fiel natürlich sofort auf und ein, wie behaart meine Beine sind und mir wachsen ja auch Haare am Kinn. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ich mich fühlte als ich diesen Beitrag über Haarentfernung las – wie ich immer kleiner wurde in meinem Sessel. Ich sah das Gesicht einer Frau vor mir, sehe darunter den Text zum Thema „Haarentfernung im Gesicht“. Das Gesicht der Frau in der Zeitschrift war natürlich makellos. Kein Haar, kein Härchen, nichts. Glatt wie ein Babypopo dieses Gesicht. Und ich strich mir über das Kinn und dachte kurz, ich sollte das doch auch machen. Kurz dachte ich wirklich darüber nach, diesen als total risikofrei und harmlos beschriebenen Eingriff machen zu lassen. Er kostet ja auch nur 500 Euro, stand da zu lesen. Glücklicherweise kam ich dann wieder zu mir und konnte meinen Denkapparat wieder einschalten. Und ich erinnerte mich daran, was mir von Grafikern einmal erzählt wurde. In diesen Zeitschriften ist keine einzige Person so abgebildet, wie sie 6

Vgl. Dür, Wolfgang (2008): Gesundheitsförderung und Prävention für Kinder und Jugendliche. Gesundheitsförderung und Prävention – gleiche Chancen für alle? Renner-Institut, 17. April 2008. – unter Einbeziehung der Ergebnisse aus der WHO Cross-National Studie Studie „Health Behaviour in School-aged Children (vgl. Currie et al 2004), http://www.hbsc. org/downloads/Int_Report_00.pdf. 187

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aussieht. Da gibt es die Experten in den Redaktionen – ich habe selber in einer gearbeitet – und da wird retuschiert. Da werden die Beine verlängert, die Haare entfernt und die Haut gefärbt. Da ist keine einzige Person so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit ist. Wir sehen keine realen Personen mehr. Auf den Werbeplakaten sehen wir keine realen Frauen und Männer. Sondern wir sehen Kunstfiguren. Stimme im Hintergrund: Monster. BR: Monster, genau. Und das macht etwas mit uns. Damit werden wir permanent mit Bildern geradezu bombardiert, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Das ist mir als erstes zu dem heutigen Abend eingefallen. Und ich glaube es ist wirklich, tatsächlich dramatisch, was gerade passiert, dass es eben diesen Backlash gibt. Ich glaube, die die das machen, kriegen es nicht einmal mit, bewusst, was sie tun. Über die Medien, die sie natürlich besitzen; die Männer besitzen die Medien, die Männer haben die Mehrheit in der Industrie und über alle wesentlichen Ressourcen haben sie die Macht. Ein weiterer Punkt, den ich kurz anführen möchte, weil er mir als Psychotherapeutin enorm auffällt, ist die Rolle der Pharmaindustrie. Es gibt eine enorme Zunahme an Diagnosen. Es werden jedes Monat neue Diagnosen erfunden. BWP: Erfunden, ja. Weil der Druck zu Habilitation und Publikation mit Neuigkeitswert groß ist. Und aufgrund der Forschungsgelder. BR: Und ich frage mich zunehmend cui bono, wem nützt es, ja? Es nützt einer enorm mächtigen Pharmaindustrie, die die Psychiater(-innen) anstellt, sie bezahlt, damit sie neue Diagnosen erfinden. Du hast ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, ja? Du musst sofort was nehmen, ja? Wenn du drei Wochen niedergeschlagen bist, dann kann man nur mehr fragen: ist es eine leichte, mittelschwere oder schwere Depression und dann gehst du zum Hausarzt und der wird sofort etwas verschreiben. Oder du schaust ins Internet, machst einen Test, da machst du fünfmal das Kreuzerl auf der falschen Seite. Ja, da muss man sofort ein AntiDepressivum geben. Und das ist spannend, ist natürlich im Interesse einer Industrie die will, dass wir funktionieren – jederzeit und ständig – einerseits, und dass wir wegen jedem Schmarren ein teures Medikament einwerfen, andererseits. Ein gutes Geschäft. Und fürs Geschäft ist es natürlich gut, dass wir uns einreden lassen, dass so genannte Störungen falsch sind. Ich bin der Ansicht „Störungen haben Vorrang“, das ist ein schöner Satz aus der TZI (Themenzentrierten Interaktion, Anm. G.M.), den habe nicht ich erfunden. Also ich glaube so genannte Störungen sind ein Zeichen für etwas und sind in vielen, vielen Fällen in denen Frauen

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zu mir kommen in die Therapiepraxis eine gesunde Reaktion auf ganz krank machende Rahmenbedingungen und Umstände. GM: Vielen Dank. Das war wirklich noch einmal ein umfassender Abschluss und eine Zentrierung der Aspekte. Ich danke alle Referentinnen und bin ganz beglückt, dass so viele Aspekte angesprochen wurden, die wir thematisieren und weiter spinnen wollen. Ich möchte vorschlagen, wir übergeben an die bisher Zuhörenden. Publikum 1 (P1): Mir ist ein Gedanke gekommen zu dem was Du, Birge, gesagt hast, historisch gesehen gab es quasi Solidarität unter den Frauen, Verbindung unter den Frauen und jetzt gibt es offensichtlich die, die es geschafft haben, die Schönen, die auf den Titelseiten sind und die, die sich eben permanent selbst kontrollieren müssen, in der Hoffnung es irgendwie auch zu schaffen, schlank zu sein, Karriere zu machen. Also das ist mir irgendwie so als Bild eingefallen, dass dann Entsolidarisierung unter den Frauen so der Rahmen ist, ja? Und offensichtlich gibt es halt welche, die es können und die Doofen, die es nicht können, oder so. Und das führt zu immer mehr Isolation, das war ja auch Thema, nicht? BWP: Ja, das ist das, was mich politisch bewegt. In der Frauenbewegung, innerhalb der Studentenbewegung, aus der ich komme: Wir waren permanent bewegt, das heißt aber, wir waren nie alleine. Publikum 2 (P2): Ja, genau. Ihr seid miteinander auf die Straßen gegangen. BWP: Wir waren einfach ganz, ganz viele Jugendliche und das war auch lustvoll. Also, das war nicht so bierernst, wir haben nicht nur die böse Welt analysiert, sondern wir waren geborgen in einer Ideen- und Wertegemeinschaft. Und was mich traurig macht ist, dass es nicht gelungen ist, eine Frauenbewegung auch in Bewegung zu halten, ja? Manches geht in komplett falsche Richtungen und niemand ist da, der laut aufschreit. So hätte ich niemals gedacht, dass die Einkommensschere zwischen Männern und Frauen auseinander geht, anstatt parallel zu laufen, oder dass Frauen 2010 den Schönheitschirurgen ins Messer laufen, statt stolz zu sein was sie darstellen und erarbeitet haben. Aber auch die Pornographisierung, wie von Alice Schwarzer damals prophezeit, ist noch übler eingetreten als wir das je gedacht hätten. Frauen und Mädchen sind zur teuersten Ware internationaler Mafiosi der Porno- und Pädophilen Industrie geworden. Auch vermisse ich einen breiten Schulterschluss mit den „Töchtern“ über Generationen hinweg, oder innerhalb einer Generation. Es fehlt uns der Schwung für eine neue Frauenbewegung. Deshalb möchte ich euch zur Einladung an diesem Abend danken und gratulieren. Publikum 3 (P3): Was ich noch dazu sagen möchte, zum Schulterschluss: Was ich schon erlebe, ganz irre Statements wie „Ach, Du hast 189

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auch graue Haare, endlich eine Frau, die sich nicht die Haare färbt“, so diesen Schulterschluss unter den 40jährigen den gibt es offensichtlich, ganz spontan. Wildfremde Frauen sagen zu mir: „Ich finde es toll, dass Du dir die Haare nicht färbst“. Aber eben nicht zwischen den Generationen, das ist so ein Fragezeichen. BR: Ja, das höre ich auch, aber ich höre es so als „Aha, Du tust das nicht. Weißt Du nicht, dass das anders ginge“, ja? Ich sage dann immer, nein mir gefällt das, ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, ich hätte auch nicht die Zeit zum Haare färben, und mein Geld gebe ich lieber für andere Dinge aus. P3: Nein, aber ich habe befreiend von Frauen schon gehört: „Ha! Da gibt es noch eine, die graue Haare hat“. BR: Ja, ja, das stimmt. Die sich das traut, sozusagen. Publikum 4 (P4): Ich möchte dem etwas entgegen halten: es gibt keine Frauenbewegung mehr; die Frauen sind einfach zu blöd, die merken ja nicht einmal, dass sie fremd bestimmt sind, wenn sie eine Wunschsectio wollen. Das hat nichts mit Selbstbestimmung zu tun. Ich denke mir, wem sagen wir das hier, in diesem Frauenraum. BWP: Das stimmt. TE: Dass wir uns abwerten. Wir, die wir uns engagieren. P4: Ja, ich finde das ist eine Abwertung von den Frauen, die hier sind und das verstehe ich irgendwie nicht in diesem Rahmen? TE: Ich finde das gut, dass Sie das ansprechen, nämlich dass wir uns selbst nicht entmutigen sollten. Weil ich denke, warum wir hier sitzen ist, selbstredend, dass wir ja an dem selber aktiv arbeiten und uns gegenseitig anregen wollen – auch in unseren Arbeitsfeldern. Da positiv daran zu bleiben und nicht selber in ein Gejammer zu fallen ist, denke ich, ganz wichtig. Aber wie diesen Seiltanz halten, ja? Die Realität wahrnehmen und trotzdem frohen Mutes uns immer wieder, nicht entmutigen zu lassen. Jede Einzelne kennt das, wenn sie so entwertende Bemerkungen, im beruflichen Bereich beispielsweise, hört und trotzdem nicht aufhört, weiter macht. Aber was mich schmerzt, stelle ich immer wieder fest, ist weniger wenn das ein männlicher Gynäkologe macht, die Sectio, sondern wenn das eine Frau ist. Das tut mir richtig weh und das kann ich in verschiedenen Bereichen sehen. Wenn die Mittäterinnenschaft von einer Frau kommt, die eigentlich völlig introjiziert das männliche Bild weitergibt. Und ich rede jetzt nicht allein von der Wunschsectio, sondern überhaupt vom Rollenbild. Wenn eine Frau in irgendeiner Form im Gesundheitswesen an einer mächtigen Schlüsselstelle ist und ich das einfach als verräterisch erlebe, ja, dann tue ich mir schwerer, als wenn es ein Mann ist. Ich kann dann das Klischee der Frau selber nicht auflösen.

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BWP: Sie sind trotzdem anders und dem möchte ich die Realität entgegensetzen, wenn wir von Ärztinnen reden, Medizinerinnen in der Gynäkologie sind engagiert. Aber mir tut es weh, wenn Chirurginnen Botox spritzen auf Teufel komm raus. TE: Ja. BWP: Weil sie damit sehr schnell sehr viel Geld verdienen können. GM: Oder weil sie selber das Schönheitsbild sehr verinnerlicht haben. TE: Ich habe einmal eine Chirurgin gehört, die hat voller Stolz nach ihrem Vortrag über Schönheits-OPs erzählt: wenn sie mich anschauen, ich habe all die OPs an mir ausprobiert, können sie den Erfolg an mir sehen. Publikum 5 (P5): Aber bitte, das ist ganz schön ungerecht. Wieso sollen ausgerechnet Ärztinnen die besseren Menschen sein? TE: Ja, so ist es. P5: Ich meine, die sind genauso Teil des Systems. Wenn ich als Ärztin Karriere machen will, dann muss ich ganz schön viel schlucken, bis ich da einmal oben bin. Das ist einfach so in manchen Bereichen und es ist sehr ungerecht, den wenigen Frauen, die das schaffen auch noch vorzuwerfen, dass sie System konform agieren, das geht ja nicht, da komme ich nicht hinauf. GM: Ein bisschen Wunschdenken kann man ja haben. P5: Da komme ich einfach nicht hinauf, wenn ich nicht System konform agiere. Wenige, ich kenne keine. Das ist ungerecht. BK: Nein, das ist nicht ungerecht. Das ist sehr gerecht. P5: Aber ich finde das immer ein bisschen ungerecht, ja? BWP: Es ist ja auch so, dass wir ständig mit medialen Bildern und VIPs und „Klums“ konfrontiert sind, die Wunschsectio als schick und „in“ propagieren, so wie mittlerweile adoptieren in diesen Kreisen schick ist. Schick ist auch, dass man nicht zunimmt bei der Schwangerschaft. Über diese Hochglanz-VIPs entstehen neue Trends, an denen Maß genommen wird. Hat meine Generation noch gekämpft für natürliche Geburt, beziehungsweise Gebären wie wir Frauen das wollten und gegen allzu viel technischen Einfluss von außen, so scheint es jetzt umgekehrt. Zumindest wird behauptet, dass nun die Frauen die technische „Ritsche-Ratsche“ Geburt wünschen. Ich frage mich, sind es wirklich andere Frauen? Sind es andere Backgrounds? Wo sind, wo stecken die Interessen? Aber wie gesagt, ich möchte jetzt auch nicht den Eindruck erwecken, dass ich den Feminismus an der Geburtshilfe festmachen würde. Das wäre falsch und naiv. GM: Eines muss ich trotzdem noch ergänze: Es werden ja zum Teil auch die freien Hebammen aus der Klinik verbannt. 191

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TE: So ist es. BWP: Ja. GM: Da gibt es schon Rechtsstreitigkeiten im Sinne von: Geht das überhaupt, dass die Hebamme die Geburt leitet, bis hin zum Rechtsstreit. BR: Auch da gibt es einen Backlash. GM: Wir hatten zwei weitere Wortmeldungen. Publikum 6 (P6): Ich bin relativ viel auf Veranstaltungen, auch was jetzt Erwachsenenbildung betrifft und es ist unglaublich, was da für Leute am Podium sitzen. Trotz der vielen Forschungen, die es mittlerweile gibt, sagen die: das wissen wir nicht, dazu gibt es Nichts. Dieses Wissen über Frauengesundheit zum Beispiel, oder über reproduktive Gesundheit, auch über Migration und Gesundheit, dieses ganze Wissen, das es da ja gibt – wo man mit dem Lesen ja gar nicht mehr nachkommt – das wird nicht – BWP: – umgesetzt. P6: Das geht total unter. Heute haben wir wieder die totale Polarisierung von Gesundheit/Krankheit und da sind die genetischen Prädispositionen und Genanalysen im Vordergrund, was eh schon alle kennen, sozusagen. Aber diese ganzen Veranstaltungen hinken der neueren Forschung ziemlich nach ist mein Eindruck. Und es werden diejenigen eingeladen, die es auch nicht thematisieren. GM: Auf Veranstaltungen zu Gesundheit und Krankheit ist sehr oft die Gesundheitssystem-Forschung im Vordergrund. P6: Genau. Publikum 7 (P7): Ich habe mir ganz viele Sachen aufgeschrieben, ich versuche das jetzt in Zusammenhang zu bringen. Ich bin auch eine Alt-Linke, auch ’68, ’71 auf der Uni gewesen, und Feministin seit sehr vielen Jahre, in der Frauenbewegung gewesen und auch in der Frauenberatung tätig. Und vor einigen Jahren – ich bin damals 50 geworden – habe ich mir gedacht: so, jetzt wird mir das alles ein bisschen zu viel. Dann habe ich eben begonnen Shiatsu zu lernen und Shiatsu zu praktizieren und bin in die Shiatsu-Szene hineingekommen, oder in die Szene der komplementär-medizinischen Methoden, ja? Und habe mich natürlich auch sehr beschäftigt mit Gesundheit oder Körpersicht: ganzheitlicher Körper, ganzheitliche Sicht, also Körper, Seele, Geist und die ganzen fernöstlichen Methoden. Und meinen feministischen Background in dieser ganzen, um nicht zu sagen, „esoterische Ecke“. Jetzt bin ich da auch zum Beispiel in der einzigen Shiatsu-Schule in Wien, in der es eine weibliche Schulleiterin gab. Die anderen Schulen werden alle von Männern geleitet. Wir waren alle Frauen in meinem Kurs. Also es gab am Anfang einen Mann, der dann aufgehört hat. Es ist fast überall so, dass Männer einen ganz geringen Anteil ausmachen an den Shiatsu-Prakti192

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kerInnen in Österreich, und diese wenigen aber dann diejenigen sind, die geschäftlich wesentlich erfolgreicher sind. Und ich habe jetzt noch einige andere Assoziationen. Stimme im Hintergrund: Wie in der Psychotherapie. P7: Frauenthemen sind in der Ausbildung nicht thematisiert worden, obwohl neunzig Prozent unserer Klienten, Klientinnen, Frauen sind. BWP: Das heißt man muss Shiatsu gendern. P7: Gender ist überhaupt kein Thema. Es gab überhaupt keine weibliche oder geschlechtsneutrale Sprachverwendung. Mittlerweile gibt es sie minimal, weil einige von uns jetzt angefangen haben, da umzurühren. Wir haben einen Frauen-Shiatsu-Verein. Also mir kommt es jetzt wieder vor wie anfangen bei, ich will nicht sagen bei Null, aber bei minus zwanzig Jahren. Aber ich finde auch, da tut sich was, und ich glaube einfach, dass da Sachen gesehen werden. Die andere Geschichte ist, dass alle Kolleginnen hauptsächlich mit Frauen arbeiten und auch Probleme sehen, die Frauen haben. Also bei uns, ich kann das auch unterschreiben, das ist bei uns genau so, dass Frauen mit speziellen Problemen kommen. Und ich habe das Gefühl, dass diese ganze Diskussion über Schönheitsoperationen etc., das ist nicht unser Klientel: Sondern es geht um Erschöpfung, um Bandscheiben-Vorfälle, die Frauen sind mit dreißig, fünfunddreißig Jahren fertig, ja? Ich arbeite jetzt auch sehr viel am Arbeitsplatz mit Shiatsu. Wir haben angefangen, in der Rudolfstiftung, Shiatsu für Krankenschwestern anzubieten. Und es ist ein so ein Zulauf, die Leute stehen Schlange. Es ist einfach unwahrscheinlich. BK: Echt? P7: Ja. TE: Zahlt das das Krankenhaus? P7: Die Hälfte zahlt das Krankenhaus. TE: Wirklich? P7: Ich sage das jetzt ganz laut, weil ich auch möchte, dass das bekannt wird. Ich finde das echt toll, ich finde das echt unwahrscheinlich klasse, ja? Das gibt es auch erst auf drei Stationen und es beginnt erst, aber ich glaube, es ist total wichtig in diese Richtung zu arbeiten. Und was natürlich auch wichtig ist anzumerken, ist dass wir als ShiatsuPraktikerinnen oft als Wellness-Masseurinnen irgendwie abgestempelt werden und aus dieser Position echt überhaupt keine Chance haben gegen diese ganze Ärzte-Krankenkassen-Macht-Struktur. Und natürlich kriegen unsere Klientinnen überhaupt kein Geld für das. Darum finde ich diesen Fall auch so toll. Denn eine Shiatsu-Behandlung kostet im Schnitt fünfzig bis sechzig Euro und irrsinnig viele Frauen, wie zum Beispiel Eure Klientel in den Beratungsstellen oder andere Frauen, die

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das dringend brauchen würden und denen das auch irrsinnig helfen würde, können sich das einfach nicht leisten. TE: Ja, klar. P7: Und was wir so sehen, wir haben ja unheimlich viele Klientinnen, und ich glaube nicht, dass das noch länger so weiter gehen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Frauen mit dieser Arbeitsbelastung und dem Stress bis sechzig arbeiten sollen. Das sehe ich nicht. Also irgendwie kommt mir vor, das ist ein unheimlich starkes Problem. BWP: Ja, das ist richtig. GM: Wir [GM und BR, Anm. G,M.] haben im Vorfeld der Veranstaltung darüber geredet, weil ich gesagt habe, uns sind in der Frauenhetz unsere jüngeren Frauen, die im Team waren, wieder abhanden gekommen: Sie haben interessante Jobs, haben aber kaum einen Abend frei, weil sie so beansprucht sind beruflich. Was aus unserer Zeit, also auch während dem Studium, Nebenjobs, dann immer mehr Jobs, aber es gab zumindest so etwas wie Gestaltungsmacht auch von zusätzlichem Engagement neben der Berufstätigkeit. Und jetzt merkt man, die meisten nach dem Studium sind also mit Teamsitzungen und ich weiß nicht was eindeckt und alle steigen einmal gleich ein, nach zwei Jahren ist eh wieder alles ganz anders, aber die werden total ausgepowert oder lassen sich auch auspowern, das war Ihre These, im Sinne von brav, oder? BR: Ja, was ich schon auch vermute, also woran ich auch viel arbeite, in den Therapien, das ist dieses Wort: „Nein“ zu erlernen. Das klingt lächerlich, aber mein Eindruck ist, dass viele der zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigen Frauen sehr brav sind, und Widerstand ein Fremdwort ist. Ich war irgendwie mit zwanzig sehr widerständig und habe sehr viel Nein gesagt, oft auch auf sehr unmögliche Art, dass ist jetzt auch nicht jeder Frau Sache, aber mir kommt vor, die machen ein Riesenbrimborium daraus, wenn ich sage, einen Termin um 17:00. Nein ich kann doch nicht, um 16:30 müsste ich aus dem Büro gehen, wo sie eigentlich bis 16:00 Arbeitszeit oder gleitende Arbeitszeit hat, ja? Also das ist ein Riesenproblem, für viele Klientinnen, sich irgendwie die Zeit so einzuteilen, dass sie eine Therapiestunde nehmen können. BK: Ja, aber das ist doch ein Effekt des neoliberalistischen Diskurses. BR: Ja, ja, absolut. BK: Da können sie ja nicht unbedingt etwas dafür. BR: Nein, nein, das habe ich so nicht gemeint. Aber, es gibt auch diesen Effekt von vorauseilendem Gehorsam, den ich schon auch deutlich spüre und nichts Unangenehmes mehr spüren zu wollen. Konflikte müssen offenbar unbedingt vermieden werden.

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BWP: Ich bin seit 1984 Universitäts-Dozentin und habe große Freude, Diplomarbeiten und Dissertationen zu betreuen und auch zu beurteilen. Was ich bei meinen überwiegend weiblichen Studentinnen feststelle ist, dass der Mut, etwas gegen den Strich zu bürsten oder eine unkonventionellere Arbeit zu machen, abgenommen hat. Kein Wunder, da der Druck, in kürzester Zeit das Studium abzuschließen, enorm geworden ist und nicht noch ein weiteres Semester Studiengebühren bezahlt werden wollen. Wir hatten als 68’er Generation auch das Privileg, dass wir uns keine Sorgen um einen Job und um die Zukunft machen mussten. Auch hatten wir ein Lebensgefühl von: ich gehe nicht unter und ich kann mich auf die Gesellschaft verlassen. Und ich glaube dass die Jungen heute, sich auf nichts mehr verlassen können. Keine Pensionen, die ganzen Selbstbehalte, was ist, wenn sie arbeitslos werden? Viele junge AkademikerInnen leben nur mehr von einem Werkvertrag zum anderen, ja? Das könnte auch zu einem Backlash führen. Derzeit ist die Verunsicherung groß, mit den Seifenblasen der Aktienmärkte. Irgendwie habe ich das Gefühl, dieses „man kann sich auf die Gesellschaft verlassen“, dieses Lebensgefühl ist brüchig geworden. Und das ist vielleicht auch das, was sie in den Praxen sehen. TE: Für mich, für meine Sozialisierung als Feministin waren diese Orte ganz wichtig. Aber es kann sein, dass ich mehr Zeit gehabt habe, wirklich. Ich bin mit zwei jungen Kolleginnen gekommen, die engagiert sind und ich freue mich sehr, dass sie mitgekommen sind. Darf ich euch fragen wie es euch geht, wenn ihr uns so reden hört? Das würde mich interessieren. Kollegin 1 (K1): Also ich bin so hin und her gerissen. Also es wird ja über unsere Generation gesprochen. TE: Ja, dass ihr das selber sagt. K1: Ich kann vor allem von meinem Umfeld sprechen und das ist zwischen 27 und 35 Jahren alt, da sind ganz viele Akademikerinnen dabei, aber nicht alle, eigentlich doch eine gemischte Gruppe. Und es ist sehr wichtig, Energie sorgsam einzuteilen. Es gibt sehr wohl dieses Gefühl Nein zu sagen. Aber es ist nicht möglich, überall Nein zu sagen. Es ist so ein vorsichtiges Einteilen in meinem Umfeld. Und zum Beispiel bei Bewerbungen zu sagen und zu überlegen, wo sage ich Nein, wo nehme ich jetzt doch einmal etwas, auch wenn es nicht meine Leidenschaft ist, aber ich brauche für ein halbes Jahr etwas, ja? Solche Dinge, oder mal einen Job anzunehmen, wo man weiß, man wird über Grenzen gehen müssen, weil sonst lässt sich das energiemäßig nicht machen, vierzig Stunden und vielleicht noch zehn Stunden zu Hause aufarbeiten. Also mein Umfeld überlegt sich das sehr gut, spricht das sehr ab und ist sich in dieser Sache sehr verbunden, unterstützt sich in dieser Sache. 195

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Das schließt ein, auch nicht auf die Straße zu gehen und zu schreien, sondern im direkten Dialog zu signalisieren, Nein, das möchte ich nicht. Ich erlebe das eher so von den jugendlichen oder jüngeren Frauen von denen gesprochen wird, im Sinne von die saugen das auf, die können nicht Nein sagen. Ich kenne aber auch die anderen, die sehr wohl Nein sagen, die aber sehr behutsam überlegen, wo sie Nein sagen und dort tun sie das dann auch. BWP: Es ist mehr Effizienz von Nöten und mehr rationales Planen? K1: Rationales, emotionales. Ein bisschen auf die Leidenschaft zu hören, wo springt es mich an? Wo ist die Leidenschaft wo ich Nein sage? Und was ist einfach etwas, wo ich natürlich auch Nein sagen könnte, aber irgendwie, da setzte ich die Energie lieber da hinein. Kollegin 2 (K2): Ich erlebe es vielleicht ein Stück weit dramatischer. Ich merke, dass ich selber sehr oft über Grenzen gehe, dass ich einen vierzig Stunden Job mache, beim Frauennotruf der Stadt Wien, mit Nachtdiensten, mit ständiger Konfrontation mit Gewalt. Das seit vier Jahren. Und nebenbei eine Therapieausbildung mache, ungefähr zehn Stunden noch. Zum Glück kann ich in der Frauenberatungsstelle arbeiten, und da die Therapiestunden zusammen sammeln, was nicht wenig ist, 600, das wisst ihr wahrscheinlich. Publikum 8 (P8): Ich habe auch 600 gehabt. Oh Gott. K2: Ich erlebe es auch bei meinen Kolleginnen so, dass die auch über ihre Grenzen gehen, wirklich auch drüber fahren über ihre gesundheitlichen Grenzen. Ich habe eine Kollegin, die hat einen zweimonatigen Krankenstand gehabt, weil ihre Schilddrüse außer Kontrolle ist. Sie nimmt jetzt noch Cortison und geht so weiter in die Arbeit. Und überlegt sich gleichzeitig die Kinderfrage. Also ich bin jetzt dreißig, sie ist fünfunddreißig. Ein bisschen ist auch die Angst im Nacken, gibt es dann einen Job, wo ich weiter tue? Ich habe eine andere Freundin, die hat in Amsterdam studiert, Labour Studies, also Arbeitspsychologie, die sucht in Wien einen Job, die ist super qualifiziert, findet da nichts und macht jetzt im Ausland weiter, also wo ich mir denke, das ist echt nicht rosig. Dann erzählt sie mir am Telefon, sie hat jetzt eine getroffen die hat in Oxford abgeschlossen und nicht einmal die kriegt eine Stelle. Das ist echt hart. Ansonsten habe ich total viele Gedankenblitze gehabt bei der anregenden Diskussion, feministische Frauenministerin, wo ich mir denke, ich habe einen Frauenminister miterlebt. Ich mache meine Feldstudien auch im Fernsehen. Manche Fernsehformate sind ein Wahnsinn, die schaue ich mir an unter dem Blickwinkel schaurig-schön, wie eine Geisterbahnfahrt und genau jetzt läuft Heidi Klums „Germany’s Next Top Model“, das schaue ich mir an und denke mir ich sehe da

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die pure Gewalt. Das macht mich jedes Mal total betroffen wie da mit Frauen umgegangen wird. BWP: Ich komme mir jetzt vor wie eine „alte Märchentante“, aber Johanna Dohnal hat den Sexismus-Beirat mit hochkarätigen Frauen etabliert. Aber damals war es noch viel harmloser als heute. Die Werbung ist heute schlimmer, frauenverachtender, idiotischer denn je, und sie ist so präsent, dass wir ihr nicht mehr entkommen. Diese Frauenbilder, die zum Teil auf uns nieder prasseln, sind schlimmer denn je und immer mehr Püppchen denn je und manchmal denke ich mir, ich hätte das nicht für möglich gehalten vor zwanzig Jahren, dass so etwas möglich wird. Das die Labien schön sein müssen und alles schön gestrafft sein muss. Oder dass die Einkommensschere zwischen Frauen und Männern auseinander geht, und nicht zusammen. BR: Und je höher die Position, desto mehr. BWP: Ja. Ich glaube wir brauchen eine neue alte, kämpferische oder effiziente Frauenbewegung, weil es notwendiger denn je ist. BR: Ich würde gerne die Kurve kratzen zur Frage „Was tut uns Frauen gut“? – Ich habe im letzten Jahr wieder begonnen etwas ganz Altmodisches zu machen, was glaube ich ein bisschen aus der Mode gekommen ist, nämlich Selbsterfahrungsgruppen für Frauen anzubieten. BWP: Das ist aus der Mode gekommen? BR: Ja, es ist ein Stück weit aus der Mode gekommen, also ich weiß ganz wenig von reinen Frauengruppen. Was wir machen in der Frauensache, sind Gruppen für Frauen, die sich „Encountergruppen“ nennen, Begegnungsgruppen. Es gibt kein Thema und es gibt kein Programm. Es gibt nicht einmal eine „Leitung“ im herkömmlichen Sinn. Das ist wunderbar. Und dann entsteht ein Prozess. Ein Prozess, der sehr stärkend sein kann. Wo wir einander begegnen können, so wie wir sind, und nicht so wie wir sein sollten. Ich bin so überzeugt von diesen Gruppen, weil ich selber an vielen solchen Gruppen teilgenommen habe und immer wieder teilnehme. Es ist ein Ort, wo wir Raum und Zeit für uns haben. Und ich glaube das ist so wichtig, dass wir Zeit und Raum haben, wo wir miteinander sein können und – bildlich gesprochen – Masken ablegen können und sein können wie wir sind. Es ist oft ganz wunderbar wie dann Frauen kommen am ersten Tag, ich sage es jetzt ganz plakativ, noch fein angezogen und geschminkt und am vierten Tag auf einmal sehr leger und ungeschminkt und auch schon ein bisschen mit Ringen unter den Augen, weil sich auch des Nächtens was abspielt oder an den Abenden. Ich weiß, ich klinge enthusiastisch, aber wenn ich dann erlebe, dass Frauen in meinen Gruppen teilnehmen und durch die Gruppen aus ihrer Isolation herauskommen und neue Kontakt knüpfen oder wenn eine Frau 197

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in so einer Gruppe zu verstehen beginnt, dass ihre Gedanken weder abstrus noch dumm sind – so habe ich das einige Male miterlebt – dann weiß ich jedes Mal, das sind wichtige Orte, wo wir uns stärken können. BWP: Schön. BR: Ja, ich finde das auch schön. Und das finde ich so schön, das taugt mir so sehr. Also ich bin ganz beseelt, und denke mir, dass ist zum Beispiel ein Beitrag, den ich leisten will, leisten kann, dass ich mehr solcher Gruppen initiiere. Ich denke wirklich, dass ist ein guter Ort, also es ist wichtig, Frauenorte zu haben, wo wir uns treffen können und vielleicht nicht so hoch geistige Diskussionen führen müssen, sondern auch über scheinbar banale Sache reden und uns austauschen können. Publikum 9 (P9): Also was ich da so durchhöre, ist so diese Paradies-Vorstellung, die da lauten könnte: Gäbe es kein Patriarchat und gäbe es keinen Neoliberalismus, würden wir alle als ganzheitlich gesunde 120jährige, glücklich dahinscheiden. Und da frage ich mich, also was mache ich mit mir, das bedroht mich fast so sehr wie diese Normierung und Verpflichtung auf Gesundheit und Schönheit. Ich meine, ich will das jetzt keiner unterstellen, aber das klingt so ein bisschen durch, ja? Ich sehe schon ein, dass ist auch so ein bisschen der Punkt, von wegen gesellschaftlich krank-machende Verhältnisse, wo man da an sich arbeiten kann und ansetzen kann, ja. Aber auf der anderen Seite frage ich mich, würde uns nicht auch gut zu Gesicht stehen, also gerade wenn Du von Christina von Braun geredet hast und dieser Beziehungs-Geschichte da, an so etwas wie einer Gelassenheit zu arbeiten, auch in Bezug auf Krankheit, um diesen Begriff überhaupt wieder einzuführen: Ich meine, der kommt gar nicht mehr vor. Da sind nur noch Abstufungen von Gesundheit. BWP: Es gibt den richtigen Slogan: „Das Private ist das Politische und das Politische ist das Private“. Wo ich mich sehr missverstanden fühlen würde, denn dieser Healthismus – das heißt, alles zu tun, um gesund zu bleiben – ist in Wirklichkeit eine riesengroße VerdrängungsMaschinerie. Es wird zu sehr an das Individuum appelliert und verleugnet, dass es immer noch die Umwelt und die gesellschaftlichen Verhältnisse sind in denen wir uns bewegen. Es nutzt einer Frau zum Beispiel gar nichts, wenn sie jeden Tag ihr Müsli und fünf Äpfel isst und drei Mal im Wald spazieren geht, so lange sie nicht weiß, wie sie sich durchbringen soll mit drei Kindern in einer Patchwork-Familie, oder der Mann sie prügelt. Ein solches Gesundheitsverständnis beinhaltet auch eine moralische Debatte, die in so genannten Frauenzeitungen geführt wird: Du musst gesund essen, Du musst gesund kochen, Du musst gesund, ich weiß nicht was alles. Das ist nicht mein Verständnis von Frauengesundheit. 198

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BK: Ich würde gerne noch drei völlig verschiedene Aspekte erwähnen. Zu dieser Sache mit der „Nicht-mehr-Gelassenheit“: also das läuft alles darauf hinaus, dass der Westen das Schicksal nicht mehr aushält. Wir können hier nur von der westlichen Kultur reden und nicht von anderen und da gibt es ein spezielles Verhältnis zu Gelassenheit und den Grenzen. Und dass das nicht mehr geht, hat das nicht viel zu tun mit einer säkularisierten Religiosität christlicher Natur? Darüber müsste man einfach mehr spekulieren. Was bedeutet diese Konzentration auf den perfekten Leib? Man könnte zum Beispiel darüber spekulieren, dass dieser praktisch immer schon der Auferstandene ist und nicht mehr tot. Ist das eine zu wilde Spekulation? GM: Das ist sehr spannend. BWP: Und wenn es dann doch nicht perfekt ist, dann bist Du selber Schuld, dann hast Du etwas falsch gemacht. BK: Ja genau. Das zweite, was Du über die 35jährigen Erschöpften gesagt hast, hat für mich einen Kontext mit den arbeitslosen 50jährigen. Also dieser ganze Wahnsinn mit dem Aging und der Förderung der Jüngeren und die sind dann nicht nur gefördert, sondern überfordert, wenn ich das so in Verbindung bringe. Und die anderen, die gehören schon ab 45 – BR: – zum alten Eisen. BK: Ja, und das finde ich absurd und da kann man auch was tun. Also politisch etwas tun. Der soziale Tod der Sklaven wirkt auch in der neuen Wirklichkeit fort. Für die Sklavinnen erscheint die Befreiung aus der Abhängigkeit und Erniedrigung zudem wie ein Bumerang. Erwerbsarbeite dich zu Tode. Auch diese Auseinanderdividierung der Frauengenerationen und dieser Jugendkult-Wahn gehören dazu und dann sind alle völlig fertig, eigentlich schon vergreist mit 35 Jahren. TE: Gleichzeitig werden wir ja viel älter, das ist ja der Wahnsinn. BK: Und diese Altersdiskriminierung das wäre für mich schon wieder eine politische Frage. Und zum dritten Aspekt – „Was Frauen gut tut“? Also mir hat das sehr gefallen, wie Du so begeistert von den Gruppen-Exzessen gesprochen hast. Das ist für mich irgendwie so der Verweis auf die Beziehungslosigkeit, also auf die Situation, die wir auch schon angesprochen haben. Heute, wie Du vorher gesagt hast, geht man nicht mehr auf die Straße schreien, das tut man nicht mehr, sondern handelt das persönlich aus. Das hat seine Berechtigung und ist aber auf der anderen Seite genau das, dass alle alles so vereinzelt aushandeln und jedenfalls Denken und Handeln in Zusammenhängen verloren gegangen ist. Da fehlt etwas, ja? Da war einmal eine Bewegung und diese ist heute sozusagen verzurrt. Fünfzig Stunden in der Woche zu arbeiten und dann persönliche Erholung, ist ja völlig irrsinnig eigentlich. 199

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TE: Ich würde sagen, Wellness ist keine Lösung, aber ich merke es bei mir, Wellness ist eine gute Art der Rekreation, damit ich das alles aushalte. Also ich denke, es gibt für mich immer sowohl als auch. Sozusagen drinnen zu sein, um subtil arbeiten zu können, brauche ich Erholungsoasen, das sind Beziehungen, Frauenorte, Freundschaften, was immer, damit ich draußen überhaupt subversiv tätig sein kann. Und da brauche ich meine Wellness Hotels, tut mir leid, ich brauche sie. BWP: Ich sage jetzt einmal ganz etwas Böses, was mir aufgefallen ist bei meinen zwei Töchtern, die beide auch sehr engagiert sind und sich sehr, ja in a way, politisch engagieren, und die sind immer am Abend ins Fitness Center gegangen und ich habe gesagt, wieso geht ihr nicht ins Caféhaus? Wir haben uns immer im Caféhaus getroffen, ja? Und wir haben miteinander geredet, über Beziehungen und was weiß ich. Aber ich denke, man hat ja nur begrenzte Freizeit und da ist glaube ich ein Unterschied, ob du im Caféhaus sitzt, und wir hatten es vielleicht auch nicht so stressig, wir konnten dann auch bis eins, zwei sitzen bleiben, dann hat man am nächsten Tag halt ein bisschen länger geschlafen, und jetzt geht es mehr um Effizienz. Also, diese Wellness-Geschichte scheint mir immer sehr verdächtig. TE: Das ist angenehm. BK: Man darf da schon einmal hingehen, aber nicht als Ideologie. BWP: Ja, genau. GM: Ich möchte mich bei allen für ihre rege Beteiligung bedanken. Regina Dackweiler wird im weiteren Programm genau diese Problematik aufgreifen. Sie analysiert die Erfolge der Frauenbewegung, der es – ich zitiere sie, „wie kaum einer anderen sozialen Bewegung gelang, sich erfolgreich mit ihrer Kritik und ihren Forderungen in den fordistischen Wohlfahrtsstaat einzuschreiben.“ Sie erörtert, wie es „gelingen (konnte), dass diese Programmatik der Selbstbestimmung aufgeht oder aufgehoben wird in der neoliberalen Ideologie der Selbstverantwortung, die es Frauen anheim stellt auch hinsichtlich körperlicher und seelischer Gesundheit, Schmiedin ihres eigenen Glücks zu sein.“ Sie wird diese Entwicklung aus feministischer Perspektive analysieren und das fortbestehende kritische Potential der Frauengesundheitsbewegung ausloten.7

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Siehe den Beitrag von Regina Dackweiler in diesem Band.

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FRAUENPOLITIK, FRAUENGESUNDHEITSFORSCHUNG, FEMINISTISCHE THEORIE

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FRAUENPOLITIK, FRAUENGESUNDHEITSFORSCHUNG, FEMINISTISCHE THEORIE

Zur Nieden, Sabine (1994): Weibliche Ejakulation. Variationen zu einem uralten Streit der Geschlechter. Stuttgart.

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Ohnmac ht, Wut und (Selbs t-)Ermä c htigung: Erfa hrungs beric ht a us de r Praxis ANDREA SCHEUTZ

In den letzten 50 Jahren hat sich für und von Frauen ausgehend viel bewegt. Es wurden Gleichbehandlungsbeauftragte in vielen Arbeitsbereichen installiert, die Sprache wird (zumindest versuchsweise) gegendert, Frauenforschung hat sich an den Universitäten etabliert und es gibt Frauenförderung und Quotenregelung. Dennoch stelle ich mir, resultierend aus meinen Erfahrungen in der Beratungspraxis die Frage, wieso die Zeiten für Frauen soviel schwieriger zu sein scheinen als ich es noch vor 15 Jahren im Rahmen meiner psychotherapeutischen Praxis erlebt habe? Die berufsspezifische Fokusbildung kann hierbei mit zum Tragen kommen, Zahlen bestätigen den Eindruck und Fakten bestätigen, was ich erfahre. In Deutschland hat die Zahl der psychischen „Störungen“ zwischen 1998 bis 2003 um 75 Prozent zugenommen. Frauen sind davon doppelt so häufig betroffen wie Männer (vgl. Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen, 2000). In Wien leiden Frauen häufiger an psychischen Beschwerden als andere Bevölkerungsgruppen. Dabei sind „belastende Lebensereignisse und eine geringe Lebenszufriedenheit […] die wichtigsten Bestimmungsfaktoren für das Vorhandensein psychischer Beschwerden“ (vgl. Kunz 2007).

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ANDREA SCHEUTZ

Seit dem Erscheinen von Ingrid Olbrichts Buch „Was Frauen krank macht“ (1993) hat sich nichts Gravierendes verändert. Die Ungleichheitserfahrungen sind subtiler, und damit schwerer greifbar geworden, was Oechsle bereits 1998 festgestellt hat. Frauen haben zwar nach außen hin mehr Spielräume, ihre Lebensentwürfe zu leben, was gar nicht so selten zu einer „subjektiven Desorientierung“ führt (vgl. Oechsle/Geissler 1998). Viele dieser Spielräume verkommen zur Farce, wenn uns Untersuchungen zeigen, dass Unternehmensabteilungen, an deren Spitze Frauen stehen, eben dadurch an Wert verlieren und dass Frauen in gemischten Führungsteams entlang von Geschlechterstereotypen diskriminiert werden1. Ganz zu Schweigen von der Einkommensschere, die in Österreich besonders auseinanderklafft (vgl. BM für Frauen 2007). Im vorliegenden Artikel will ich an Beispielen aus meiner Praxiserfahrung aufzeigen, wie die herrschenden, subtilen Machtstrukturen aussehen und sich auf die Gesundheit von Frauen auswirken. Als Psychotherapeutin lege ich den Schwerpunkt auf das Innere einer Person, ohne dabei das Äußere – die gesellschaftspolitischen Aspekte – außer Acht zu lassen.2 Ich sehe es als meine Aufgabe, die Klientin zu stärken und sie auf ihrem Weg zu sich hin und weg von Stereotypen zu begleiten. Den Fokus auf Sicherheit und Macht in sich selbst zu entdecken ist mir ein Anliegen.

Gegen die Ohnmacht. Der eigene Maßstab Sehr oft schildern mir Frauen ihre Ambivalenzen, Verwirrungen mit dem Nachsatz „Ich bin doch nicht normal“ oder „Das ist doch nicht normal!“ Was ist denn normal? Wo ist die Norm? Gibt es die überhaupt? Was ist „richtig“ oder „falsch“ in einer Gesellschaft, die sich permanent wandelt, Angst macht und deren Werte konfus sind? Viele Frauen entschuldigen sich dafür, nicht feministisch genug zu sein, was für mich bedeutet, dass die Kluft zwischen Theorie und Praxis Druck erzeugt. Sozialisationsbedingt haben Frauen gelernt, Selbstwertgefühle nur im Umweg über andere zu entwickeln. Nicht das selbst Gefühlte hat Bedeutung, sondern ob andere damit zufrieden sind. Ich erlebe ein starkes Zunehmen dieses Problems, eine große Desorientiertheit und damit ver-

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Mündliche Mitteilung: Astrid Reichel, WU Wien. Untersuchungsergebnisse in Arbeit. Vgl. dazu Dunker 1996.

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bunden eine starke innere Spannung. Fast so, als gäbe es kein Innen, sondern nur ein Außen. Das ist an und für sich nichts Neues, nur die Häufigkeit des Auftretens ist auffallend. Wenn ich frage: „Wie fühlen Sie sich heute?“ ist das für viele eine enorm schwierige Frage. Häufig beginnt eine Sitzung damit, das die Klientin sagt: „Ich habe mich heute schon den ganzen Tag gefragt, wie ich mich fühle, weil ich weiß, dass Sie mich fragen werden. Aber ich weiß es nicht. Ich tu halt.“ Wichtig ist das „wieder fühlen lernen“ ohne den Zwang, etwas verändern zu müssen. „Ist das was ich gerade tue, das, was ICH tun will?“ oder „Wie fühle ich mich gerade, in diesem Augenblick?“ Als Anregung wird die Selbstbeobachtung mitgegeben, sich mehrmals am Tag zu fragen: „Ist das was ich gerade tue, das, was ICH tun will?“ oder „Wie fühle ich mich gerade, in diesem Augenblick?“ So kann deutlich werden, was subtil auf eine Klientin einwirkt. Dadurch, dass sich eine Klientin selbst spürt, ist es ihr möglich, aus ihrer Ohnmacht und Resignation zu erwachen. Viele Frauen haben große Angst, nach dem eigenen inneren Maßstab zu leben, weil sie fürchten, dann nicht mehr anerkannt, akzeptiert und geliebt zu werden. Noch immer ist es „gefährlich“, wenn Frau sich selbst lebt, denn das ist ein Leben in Nichtlinearität, Nichtgleichmäßigkeit, ein Leben in Zyklen (vgl. auch Olbricht 1996), und damit wird Frau scheinbar unberechenbar, nicht fassbar. „Die“ Norm gibt es nicht. Es gibt viele Normen, zum Teil sich selbst zuwiderlaufend, paradox, verunsichernd bis zerstörerisch. Um einen Weg aus dieser so produzierten Ohnmacht zu finden, ist Frau gefragt, sich selbst zu leben. Denn: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ (Olbricht 1996: 29) Wir leben in einer Kultur und einer Gesellschaft, deren schwere Störungen immer offensichtlicher und deutlicher werden. Wir können uns weniger denn je darauf verlassen, dass gesetzliche, philosophische und kulturelle Veränderungen stark und schnell genug zu Gunsten von Frauen erfolgen. Im Gegenteil: das patriarchale Machtsystem verändert sich und diese Veränderungen führen zwangsläufig zu neuen Machtkämpfen, in denen Frauen unterlegen sind, solange sie das Wohl der anderen über das eige207

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ne Wohl stellen (vgl. auch Vaughan 1997). Ganz zu schweigen von Konkurrenzverhältnissen unter Frauen, zum Teil ausgelöst durch die patriarchalen Strukturen. Damit bin ich wieder beim Thema Selbstwahrnehmung. Da stellt sich für mich die Frage, wie Räume geschaffen werden können, die es Frauen ermöglichen, sich selbst zu spüren. Die feministische Psychotherapie hat viel Arbeit geleistet, was das Aufdecken der Mechanismen betrifft, die durch die herrschenden Machtstrukturen auf das Leben einer Frau einwirken. Welche Möglichkeiten hat das Individuum, diesen Mechanismen entgegenzuwirken? Denn die anderen Faktoren scheinen so mächtig zu sein, dass die Einzelne in tiefe Machtlosigkeit stürzt, wenn sie sich dieser gewahr wird. Das Gefühl aber „Macht über die Anderen“ (und sich, Anm. d. A.) ist ein psychogenetisch wichtiger Schritt, um einen gesunden Narzissmus, also ein positives und sicheres Gefühl der eigenen Existenz bzw. des Selbst zu entwickeln. Denn „indem wir bemerken, dass wir die Anderen beeinflussen und die Welt aktiv gestalten können, erlangen wir überhaupt erst ein Gefühl unserer Existenz und Vitalität, unserer UrheberInnenschaft und unserer Handlungsfähigkeit.“ (Eberecht 1996: S. 45)

D a s P a t h o l o g i s i e r e n d e s Au f b e g e h r e n s Ich erlebe ein Zunehmen der Diagnose Borderline. Bei Klientinnen, die von einer Klinik diese Diagnose erhielten und zu mir in die Praxis kamen, stellte sich bei vier von sechs heraus, dass diese Diagnose schlicht falsch war (Zeitraum 2008-2009). Eine Frau, die sich ohnmächtig fühlt und daraufhin mit Wut reagiert, manchmal sehr großer Wut, ist nicht krank. Sie reagiert auf ein, freundlich ausgedrückt, nicht förderliches Umfeld. Frauen haben durch ihre Sozialisation nicht gelernt, adäquat mit Wut und Ärger umzugehen und haben diese gegen sich gerichtet (tun es noch immer, wie wir am weiteren Steigen der depressiven Erkrankungen sehen, die wesentlich mehr Frauen als Männer betreffen). Richten sie nun diese nun nach außen, haben sie mit Bestrafung von außen und innen zu rechnen. Meine Erfahrung ist, dass Frauen sich in die Diagnose aber einfinden, da sie große Schuldgefühle haben, Gewalt nach außen gezeigt zu haben. Sie reagieren dann verschüchtert und verzweifelt, bis der nächste übermächtige Wutanfall heraus bricht. Manchmal hat eine das Glück, dass beim drei. oder vier. Psychiatriebesuch eine Ärztin/ein Arzt sich auch für das Umfeld interessiert und erkennt, dass hier nicht die Frau das Problem ist, sondern die Umgebung und die Diagnose wieder zu-

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rücknimmt. Meiner Erfahrung nach haben diese institutionell gestellten Diagnosen eine große Bedeutung für die Klientin. Nach wie vor gilt die Annahme: eine wütende Frau ist eine „gestörte“ Frau. Dies ist nur eines der Beispiele dafür, dass Frauen pathologisiert werden, wenn sie auf ihr Umfeld mit Ohnmacht und Widerstand reagieren. Wenn Wut zum Thema in der Therapie wird, kommt sehr häufig verschämt die Frage: “Ja, darf ich das denn, wütend sein?“ und gleichzeitig ein sich Entschuldigen dafür, denn theoretisch, das heißt „im Kopf“, ist es ja klar, dass eine auch wütend sein darf. Ambivalenzen werden deutlich. Eine Frau hat Angst davor, wütend zu sein. Ist sie es, hat sie im Nachhinein ein schlechtes Gewissen, unangemessen reagiert zu haben. Ist sie nicht wütend, stellt sie sich infrage und beschuldigt sich, weil sie sich zuviel gefallen lässt. Wut kann wieder ermächtigen, unser Leben in die Hand zu nehmen und aus der Starre zu erwachen und widerständig zu werden.

Frauen und Medizin Frauen werden von der Medizin noch immer nicht ernst genommen: häufig berichten Frauen, bei denen bei Medikamenten Nebenwirkungen aufgetreten sind, dass der Arzt/die Ärztin, als sie diese schilderten, mit einem „Das gibt’s nicht“ geantwortet haben (was mir übrigens selbst auch einmal passiert ist). Dabei wissen wir, dass die Pharmaforschung überwiegend an jungen männlichen Probanden stattfindet (vgl. Weber 2003). In Deutschland haben im Zeitraum von 1985-2003 psychische Störungen um 75 Prozent zugenommen. Dabei sind Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer. Bis zu zwei Drittel der Medikamente, die abhängig machen können, werden an Frauen verschrieben (vgl. Weber 2003). Übergriffe an Patientinnen, die sexueller Ausbeutung nahekommen, sind keine Seltenheit. So berichten mir Frauen immer wieder, dass sie sich für kleinste Untersuchungen völlig nackt ausziehen sollten und bei Weigerung mit völlig unangemessenem Verhalten des Arztes konfrontiert waren. Aber auch Untersuchungen mit Vaginalultraschall vor Publikum und Diagnosestellung psychischer Probleme im vollen Wartezimmer sind keine Seltenheit. Auch Impfkampagnen wie für die Muttermundimpfung sind verunsichernd und übergriffig. Frauen sind häufig sehr weit weg von ihrem zyklischen Erleben, sodass jede Abweichung vom Funktionieren des Körpers als krank, als Störung erlebt wird. So ist es keine Seltenheit, dass Frauen mit einer 209

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selbstauferlegten Diagnose (meistens Depression) kommen und anfragen, ob sie Medikamente nehmen sollen. Im Verlauf des Gespräches stellt sich heraus, dass es sich um Übergangszeiten (meist Wechsel) handelt, für die es in unserem Alltag keinen Platz gibt. Was kann frau tun, um ihr eigenes Leben zu leben? Was kann sie aktiv dazu beitragen, um der Ohnmacht zu entgehen und sich wieder selbst zu ermächtigen? Der Begriff Empowerment wird in der feministischen Literatur kontrovers diskutiert. Empowerment „beinhaltet das Begreifen vom Selbst und von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, die sich gegen kulturelle und soziale Erwartungen richten, sowie das Begreifen von Verhaltensmustern, die Abhängigkeit, Interdependenzen und Autonomie innerhalb der Familie und in der Gesellschaft im Ganzen bewirken.“ (Stromquist 1993: S. 260). Arbeit im Inneren und im Außen ist gleichermaßen von Bedeutung. Ermächtigung findet aber zum einen durch Information und zum anderen durch Verbindung statt. Es ist nach wie vor von Bedeutung, über die Mechanismen weiblicher Sozialisation zu informieren. Frauen, die sich mit anderen vernetzen und die eine Art Zugehörigkeit zu einer selbstgewählten Gemeinschaft suchen und finden, gehen gestärkt aus dem Prozess hervor.

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OHNMACHT, WUT UND (SELBST-)ERMÄCHTIGUNG

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Ps yc hothe ra pie im bew ertungs freie n Ra um BETTINA REINISCH

Psychotherapie. Zwei Menschen in einem Raum. Der Raum in einer patriarchalen Welt. In den Köpfen der Menschen patriarchales Denken. So die Befürchtungen von Feministinnen. Tatsächlich die Frage: Wie ist dem zu begegnen? Kann Psychotherapie dem entkommen? Kann feministische Psychotherapie als Gegenentwurf bestehen? Psychotherapie. Heilung? Psychotherapie. Behandlung. Psychotherapie. Ein Dschungel. Undurchdringliches Dickicht. Alte Bäume. Der Freud-Baum. Das Skinner-Gebüsch. Da drüben, schau, die Rogers-Kolonie. Wo sind da bitte die Frauen? Keine Frauen da. Da sind Männer. Die Gründer-„Väter“. Die Herren der Schöpfung. Eine Gründer-„Mutter“ sehe ich, Virginia Satir. Doch sonst? Viele Bäume. Knorrige Stämme. Graue Rinden. Namen von Männern tief eingraviert. Keine Frauen. Wie gut kann das denn sein für uns Frauen? Psychotherapie, eine Männer-Erfindung. Gibt es aber, so frage ich mich gleich, nachdem mir das eingefallen ist, irgendwelche Erfindungen, die von Frauen kommen? Madame Curie ist auf die Schnelle die einzige, die mir in den Sinn kommt. Die war leider keine Psychotherapeutin. Ach ja, nun kommt mir eine andere in den Sinn. Anna O., oder – wie ihr richtiger Name war – Bertha Pappenheim, die berühmte erste Patientin der Psychoanalyse – und – frau höre und staune – von Sigmund Freud als „eigentliche Begründerin des psychoanalytischen Verfahrens“ bezeichnet, weil sie den Wert des Aussprechens und des Gehört-Werdens erkannte und benannte. Also ist die Psychotherapie doch eine weibliche Erfindung. Und nur versehentlich fest in Männerhand? 213

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Natürlich nicht, wir wissen es. Sie ist fest in Männerhand, weil wir in einer patriarchalen Welt leben, und das war damals noch viel mehr der Fall als es heute noch ist. Die Gründer der Psychotherapie also Männer, die Theoretiker Männer, die Schreibenden Männer. Später dann bildeten diese Männer auch Frauen aus. Heute sind immer noch die bekanntesten Vertreter der Psychotherapie Männer. In der Forschung Männer. In der Literatur Männer. In den Ausbildungen Männer (das ändert sich langsam). Die Frauen sind die Ausbildungskandidatinnen und Praktikerinnen. Theoretiker sind nach wie vor überwiegend die Männer. Und damit auch Meinungsbildner. Die Definitionsmacht. Psychotherapie in den Fängen des Patriarchats. Auch da, wo wir glauben, entkommen zu sein. Auch in der feministischen Psychotherapie. Es gehe, lese ich nach, in der feministischen Psychotherapie um die „Haltung“ – als Therapeutin wertschätzend, empathisch, echt zu sein. Nicht distanziert möge frau als Therapeutin sein, und „parteiisch“ soll sie sein. Das ist wunderbar. Und für mich nicht neu. Ich kenne es. All das kenne ich – frau möge mir das verzeihen, wenn ich es sage – von meiner Therapierichtung, vom Personzentrierten Ansatz von Carl Rogers (und nein – das ist nicht dasselbe wie die „Gesprächstherapie“, auch wenn es immer wieder verwechselt wird, weil sich der deutsche Begründer dieser „GT“, wie sie verkürzt (und durchaus abwertend) genannt wird, Reinhard Tausch, auf Rogers berufen hat und bezogen hat. Er hat trotzdem etwas Eigenes daraus gemacht, und das sieht schon wieder anders aus wie das, was Rogers mit seinen MitarbeiterInnen gemeint und beschrieben hat. Und dies zu unterscheiden ist mir wichtig). Also Rogers. Schon wieder ein Mann. Aber er vertrat, im Unterschied zu zahlreichen anderen VertreterInnen der Zunft, eine Idee, die dem patriarchalen Modell ein emanzipatorisches Modell gegenüber stellt. Und damit war er „feministischer“ als manche feministischen Therapeutinnen es heute sind. Lassen Sich mich das näher erklären. Rogers machte sich zu seiner Zeit – also etwa ab den 1940er Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1987 – nicht sonderlich beliebt bei den PsychiaterInnen und ÄrztInnen. Er sprach sich nämlich dafür aus, Menschen, die zu ihm in Therapie kommen, als „KlientInnen“ und nicht als „PatientInnen“ zu bezeichnen, weil ihm das hierarchische Arzt-PatientInVerhältnis nicht gefiel. Dahinter steht die Überzeugung, dass jede Person als einzigartiges Individuum zu respektieren sei und Bewertungen der Person, ihrer Haltungen und Handlungen uns Menschen nicht weiter bringen würden. Ein anti-hierarchisches Modell also, das in der Psychotherapie konsequenterweise Diagnosen ablehnt, da sie nichts anderes als „Bewertungen“ seien. 214

PSYCHOTHERAPIE IM BEWERTUNGSFREIEN RAUM

Ich gehe davon aus, er sprach sich so vehement gegen Diagnosen aus, weil er wohl wusste um ihre manipulative Wirkung und Kraft. Und wie sehr Diagnosen dazu führen, dass sich alle, die eine solche erhalten, dadurch einschränken, unlebendiger werden, Verantwortung abgeben und sich möglicherweise aufgeben. Psychotherapie. Psychische Krankheiten. Störungen. Der ICD10, das Verzeichnis aller lieferbaren psychischen Krankheiten (sage ich ironisch, angelehnt an das gute alte VLB, das Verzeichnis lieferbarer Bücher). Es ist natürlich ein Witz, das so zu sagen, aber dann auch wieder nicht. Weil Diagnosen – ach, Sie glaubten bisher, Diagnosen seien etwas „Wertfreies“, etwas „Objektives“? – weil Diagnosen eben genau das nicht sind. Diagnosen werden gemacht. Sie unterliegen Moden, Strömungen und sind nicht so ernst zu nehmen, wie es uns eine Pharmaindustrie nur allzu gerne glauben lassen möchte. Heutzutage sind Fachleute damit beschäftigt, menschliches (nicht nur weibliches) Verhalten zu pathologisieren, um dann darauf hinzuweisen, dass es aber bereits Pillen dagegen gäbe. Also keine Sorge! Werfen Sie sich Anti-Patho ein und Sie werden wieder glücklich sein! Um das so hinzukriegen, muss bewertet werden. Muss uns gesagt werden, dass mit uns etwas falsch ist. Müssen wir glauben, dass etwas mit uns falsch ist, wenn wir länger als zehn Minuten pro Tag sauer sind oder wenn wir länger als ein Jahr trauern, wenn wir einen lieben Menschen verloren haben. (Eine wahre und unendlich traurige Geschichte: Ein Mann, der seine Tochter durch einen Unfall verloren hatte, erzählte mir, dass seine Psychiaterin ihm gesagt hätte, er müsse seine Tochter jetzt endlich „loslassen“, das sei ja nicht „normal“, dass er nach mehr als einem Jahr immer noch „so trauere“ und täglich ihr Grab besuche. Er sagte mir, er wolle seine Tochter aber nicht „loslassen“. Und gleichzeitig schien er der Ärztin zu glauben, dass mit ihm etwas nicht stimme, wenn er es nicht täte. Ich war sehr traurig und sehr wütend, als ich diese Geschichte hörte. Ich glaube heute mehr denn je, dass niemand über einen anderen Menschen urteilen kann, niemand kann festlegen, wie lange eine Trauerphase „normal“ sei. Das festzulegen ergibt auch überhaupt keinen Sinn und verursacht nur neuen Schmerz. Jeder Mensch benötigt die Zeit und den Raum, den er braucht. Für alles. Das ist meine tiefste Überzeugung.) Psychotherapie und Bewertungen. Eine ganze Menge von Bewertungen stehen zur Verfügung. Und deshalb denke ich, jene Feministinnen, die da warnen vor den Therapien, die haben schon auch Recht. Psychotherapie kann eine Veranstaltung sein, wo nicht Emanzipation geschieht, sondern das Gegenteil. Ein Ort, wo Menschen wieder in ein „Kastl“ gesteckt werden, zugeordnet werden einer „Kaste“, und die nen215

BETTINA REINISCH

nen wir hier in unseren Breiten halt nicht „Kaste“ und auch nicht „Kästchen“, sondern ganz „objektiv“ und medizinisch „Diagnose“, was so viel heißt wie „Durchforschung“, „Unterscheidung“ und da steckt das griechische Wort (gnóssi) drin und das heißt – dreimal dürfen Sie raten – „Urteil“. Ein Urteil also wird gefällt. Über einen Menschen, eine Person. Ein Urteil wird gefällt, nachdem die „Symptome“ festgestellt wurden. Deshalb halte ich Psychotherapie, die nicht reflektiert –– wenn in ihr Bewertungen passieren – für eine wirklich nicht ganz ungefährliche Sache. Diagnosen sind nach meiner Ansicht in vielen Fällen ein Machtinstrument. Sie ermöglichen der TherapeutIn, sich als ExpertIn über die andere Person zu stellen. Was aber Psychotherapie sein sollte, und das ist auch der Anspruch, den ich gerade an feministische Psychotherapie stelle, ist sich als ExpertIn mit der KlientIn zu stellen, das heißt, sich hinter sie und neben sie zu stellen, sie zu fördern in dem Bestreben, sich selber besser zu verstehen. Psychotherapie sollte dazu da sein, die KlientIn herauszufordern, dass sie/er lernt, ihre/seine Gedankengänge wahrzunehmen, ihr/sein Denken zu ergründen, die Gedanken die sie/er sich über sich macht, wahrzunehmen. Kürzlich sagte eine meiner Klientinnen: Ich verstehe jetzt besser, dass es mir hilft, wenn ich mein Denken ändere. Als ich sie fragte, was sie damit meinte, zählte sie mir alte Glaubenssätze auf, die fast alle mit den Worten „Ich bin“ begannen. Ich bin blöd, ich bin zu alt, ich bin depressiv, ich bin keine gute Mutter etc. So ging das eine ganze Weile. Sie hatte eine wirklich große Auswahl von solchen Sätzen, die sie da aufzählte. Da musste sie selber lachen. Na, kein Wunder! sagte sie plötzlich. Kein Wunder, dass ich so depressiv bin wenn ich so über mich denke! Ich sage nicht, dass es einfach ist. Ich sage nicht, dass diese Zustände, die wir gemeinhin „Depression“ nennen oder mit anderen Labeln versehen, dass die leicht verschwinden, wenn wir beginnen solche Zusammenhänge zu verstehen. Aber es ist ein erster Schritt. Und – und das ist mir wirklich sehr wichtig – es ist ein emanzipatorischer Schritt. Einer, der von der Grundidee getragen wird, dass wir nicht von einer anderen Person erklärt bekommen müssen, wie wir denken, fühlen und empfinden sollen. Und es ist eine Anerkennung der Idee, dass jede Person in ständiger Bewegung, Veränderung, Entwicklung ist, wenn sie es nur zulässt. Psychotherapie sollte dabei helfen. Im besten Fall tut sie es.

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PSYCHOTHERAPIE IM BEWERTUNGSFREIEN RAUM

Literatur Feministisches Frauen Gesundheitszentrum e.V. (Hg.) (2001): „Feministische Therapie kann die Dinge beim Namen nennen“. Interview mit Ursula Kling.In: CLIO Jahrgang 26, Nr. 52, Berlin, S. 4-6. Feministisches Frauen Gesundheitszentrum e.V. (Hg.) (2001): Wie finde ich die für mich passende TherapeutIn. In: CLIO Jahrgang 26, Nr. 52. Berlin, S. 7-8. Masson, Jeffrey M (1993): Die Tyrannei der Psychotherapie, o.A. Rogers, Carl R. (1989): Die Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart. Rosenberg, Marshall B. (2007): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, Paderborn. Scheffler, Sabine (1986): Feministische Therapie. In: Beiträge zur feministischen theorie und praxis 17. Neue Heimat Therapie, Köln, S. 25-40. Schnurr, Eva-Maria (2008): Wer ist heute noch normal? ZEIT Wissen 02-08, Hamburg, S. 12-23. Thürmer-Rohr Christina (1986): Die Gewohnheit des falschen Echos. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 17. Neue Heimat Therapie, Köln, S. 113-120. Unterholzer, Carmen (2009): Zu einer Frau oder zu einem Mann? In: Psychologie Heute compact. Heft 21. Weinheim, S. 55-57. Wirtz, Ursula/Zöbeli, Jürg (1995): Hunger nach Sinn. Menschen in Grenzsituationen, Grenzen der Psychotherapie. Zürich.

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Nachw ort in Ge de nken an Gerburg Treusch-Dieters Studio zum „Drama und Trauma w eiblicher Verhaltensmuster“ GERLINDE MAUERER „Frauen gemeinsam sind stark, aber was stärkt Frauen?“ (Gerburg Treusch-Dieter 2002)

Dieses Nachwort ist angeregt durch das Denken und die Lehre von Gerburg Treusch-Dieter (1933-2006). Ihrer profunden Ausbildung zur Schauspielerin blieb Gerburg Treusch-Dieter auch in ihrer universitären Laufbahn treu: Sie verführte in ihren Seminaren und „Studios“1, einer Lehr- und Darstellungsform, die sie selbst entwickelte, zur intensiven Auseinandersetzung mit einem Bildungskanon, der dem Ideal der Aufklärung verpflichtet war. Der Grundsatz „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ gehört bis heute zu den Grundfesten dieses Kanons, der Frauen zwar mit einbezog, jedoch weitgehend im Unklaren beließ, wie mit den Schwestern punkto Gleichheit zu verfahren sei. Daraus resultieren sowohl Disziplinierung im Übermaß, Bildung über alle Maße, sowie eine Parallelwelt punkto Erwerbsarbeitstätigkeit, die Frauen zu „Nachzüglerinnen“ macht, ohne ihre überschüssigen Potenziale jemals hinlänglich zur Kenntnis genommen zu haben. Bildung wurde und wird somit zum „Zauberwort“ eines Versprechens, welches uneinlösbar zu sein scheint:

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Zum Studio vgl. Mauerer, Gerlinde (2001: 11-12). 219

GERLINDE MAUERER

„Zur Intoleranz gegen den Geist, der ihr nicht gleicht, neigt Wissenschaft offensichtlich umso mehr, pocht umso mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt, daß sie nicht gewährt, was sie verspricht. […] Die Verdinglichung des Bewusstseins, die Verfügung über seine eingeschliffenen Apparaturen schiebt sich vielfach vor die Gegenstände und verhindert die Bildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegen die Verdinglichung.“ (Adorno 1963: 55f.)

Die Schwestern respektive Frauen waren aus dem Bildungssystem – nach eigenen Kämpfen um Zulassung – zwar nicht mehr ausgeschlossen, wie jedoch ihre „überschüssigen Potenziale“, die andernorts zudem dringend gebraucht wurden und werden (Versorgungsleistungen u.ä.) in einem männlich dominanten Bildungssystem unterzubringen seien, war und ist unklar. Das Einbringen weiblich konnotierter körperlicher Potenziale („die besondere weibliche Note“, Duftnote, Handschrift, Stimme …) wird möglich in einem Bildungssystem, das Frauen nicht mehr per se ausschließt. Es fügt jedoch je individuell Frauen nach wie vor Blessuren zu, die damit zu tun haben, dass sie weder als „Gleiche“ noch als „Andere“ gebührende Anerkennung in einem Bildungssystem erhalten können, dessen Kanon auf männlich strukturierten Grundfesten beruht respektive hierauf begründet ist. Ein simples Beispiel hierzu: Oftmals ist von Unterstützung von Frauen durch Männer die Rede, wenn ein (Ehe)Mann nichts gegen die Berufstätigkeit seiner Frau einzuwenden hat. Versorgungsleistungen müssen erst gar nicht angeführt werden. Unterstützen Frauen Männer, wird meist ein aktiverer Part erwartet bzw. nur von einem solchen berichtet („Unterstützung im Wahlkampf“, alleinige Übernahme der Kindererziehung, Haushaltsführung, u.a.m.). Das „moderne“ Instrument Gender Mainstreaming2 macht deutlich, dass innerhalb herrschender struktureller Bedingungen die Grenze der Zumutbarkeit signalisiert wird, wenn es um die Einbindung von Frauen im Sinne von tatsächlicher Chancengleichheit geht.

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„Gender Mainstreaming“ (GM) ist eine mit dem Amsterdamer Vertrag von 1999 EU weite gesetzliche Verankerung zur Herstellung und Ermöglichung der Chancengleichheit von Frauen und Männer, Mädchen und Buben. Es bedeutet, einen als „Nebenthema“ wahrgenommenen „Begleitumstand“ – die Auswirkungen von „Gender“, dem sozialen Geschlecht – in den Vordergrund der Betrachtung und Analyse zu rücken: Mit dem Ziel, soziale Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und bei allen Planungs- und Entscheidungsschritten bewusst wahrzunehmen und zu berücksichtigen; sowie darüber hinaus, Veränderungen von Rahmenbedingungen und Strukturen, die Benachteiligungen hervorbringen, zu erreichen.

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Ein wichtiges Ziel von Theoretikerinnen der Zweiten Frauenbewegung war und ist es, durch (selbst)kritische Reflexionen nicht die Herausbildung von „mehr vom Selben“ zu befördern, sondern herrschende Denk- und Handlungsmuster infrage zu stellen und gesellschaftliche, kulturelle, soziale und politische Gestaltungsräume von Frauen zu schaffen und zu erweitern. Dass sich gerade ein liberaler Feminismus3 vordergründig durchsetzen konnte, verweist auf verschiedene Strömungen innerhalb der Frauenbewegung sowie auf förderliche und hinderliche politische Machtkonstellationen. Gisela Notz schreibt in ihrem Text mit dem Titel „Wir wollen nicht die Hälfte vom schimmligen Kuchen, wir wollen einen anderen“ (vgl. Notz 2000) davon, dass es „nicht einfach bei der Forderung ,Her mit der Hälfte‘ bleiben (kann). Denn das hieße, Frauen wollen nicht mehr und nichts anderes. Es wird nicht reichen, daß [sic] einfach nur mehr Frauen politische Positionen und Führungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung einnehmen, also daß neben den Herren auch Herrinnen sitzen. Es braucht Frauen, die auch Fraueninteressen vertreten, weil sie mit den herrschenden Verhältnissen nicht einverstanden sind. Frauen, die Macht nicht mit Unterdrückung verbinden, sondern für die Macht heißt ,etwas hervorzubringen: eine andere Lebensweise, einen inspirierenden Sinn‘ (Rossana Rossanda, zit. nach Meyer 2000: 5).“ (Notz 2000: 64)

In Diskussionen zum Für und Wider von Quotenregelungen für Frauen etwa zeigt und wiederholt sich die von Gisela Notz angesprochene Problematik: Die Erwartung, dass Frauen „qua biologischer Geschlechtszugehörigkeit“ auch frauenpolitische Interessen und Forderungen vertreten, muss zwar nicht, kann jedoch enttäuscht werden. Vorrangig stellt daher die Beseitigung struktureller und geschlechtsspezifischer Ungleichheiten eine Aufgabe dar, die regulierender gesetzlicher und institutioneller Verankerungen bedarf.4 Dass Frauen qua Geschlecht Unterdrückungsmechanismen aufgrund gemachter eigener Erfahrungen in anderer Weise „erlernen“ und auch ausüben, befähigt sie zwar zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen, macht sie jedoch nicht frei von den Ergebnissen der „Dialektik der Aufklärung“, die dazu verführen respektive „anleiten“, Unterdrückungsverhältnisse zu perpetuieren. Dieses Wechselverhältnis bearbeitete Gerburg Treusch-Dieter in vielfältigen Analysen, u.a. zur Herr-Knecht-Dialektik bei Hegel in Zusammenhang mit 3 4

Vgl. Ellen Annandale in diesem Band, S. 31. Vgl. weiterführend http://www.imag-gendermainstreaming.at/; Czollek/ Perko 2008; Czollek/Perko/Weinbach 2009. 221

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dem Arbeitsbegriff oder auch im Foucault-Tribunal und der darin zum Ausdruck gebrachten Kritik zur Festlegung einer Grenze zwischen „Normalität“ und „Pathologie“5. Ihre profunden wissenschaftstheoretischen Kenntnisse, die sie in der Bearbeitungen zahlreicher „Klassiker“ (u.a. auch zu Penthesilea von Kleist, vgl. Treusch-Dieter 1991) einsetzte, machte sie in der Lehre und hierin besonders in der frauenspezifischen und feministischen Analyse und (Neu-)Interpretation fruchtbar. Ihre Lehre war hierbei keineswegs emphatisch im Sinne frauensolidarischer Bekundungen, sondern stellte kritisch-feministische Reflexionen in den Vordergrund. Diese kritischen Analysen waren und sind verbunden mit der traurigen Gewissheit, dass es einen „weiblichen Erfahrungshorizont sui generis (nicht) gibt“ (Treusch-Dieter 1991: 248). Diese Gewissheit schützt in gewisser Weise vor überzogenen respektive unrealistischen Erwartungen an eine „vollkommen“ gedachte, weiblich konnotierte Ganzheit, die es in väterlicher Gesetzgebung schlichtweg nicht geben kann, weder retrospektiv noch zukünftig. Damit werden aber auch – in positiver Wendung – Erwartungen an die „Mehr-Arbeit“, an Leistungen im Hinblick auf Ideal-Bilder von Frauen (um diese Ideale weiter aufrecht erhalten zu können) abgebaut. Bis diese „letzte Bastion“ einer als „vollkommen“ (erwarteten) sozialen und emotionalen Unterstützung aufgeben wird, gehen viele Frauen – und auch Männer im Hinblick auf männliche Idealbilder – an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und riskieren sowie erleben dadurch gesundheitliche Beeinträchtigungen. Für Frauen stellt sich diese Situation verschärft dar, wenn vorwiegend sie es sind, die andere „stützen“ und auf die „gebaut werden kann“.6 In Bezug auf Heinrich von Kleists Figur der Penthesilea, die sich das Leben nimmt, schreibt Gerburg Treusch-Dieter: „Komischerweise wird (das) prekäre Verhältnis von Frauen auf institutioneller Ebene nirgendwo diskutiert. Stattdessen redet alles von „Geschlechterdifferenz“. Dieser Trend ist mir, sogesehen, nicht ganz geheuer. Zumindest da nicht, wo er Frauenprobleme verdeckt.“ (Treusch-Dieter 1991: 248)

Bis heute hat sich die nachrangige thematische Behandlung des Verhältnisses von Frauen untereinander sowohl auf institutioneller Ebene als

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Vgl. Treusch-Dieter (1998): Von der Hexe zur Hysterikerin. Vortrag zur „Irren-Offensive“ von 26.-28. 6. 1997, FU Berlin. Auf diesem Symposium wurde das „Foucault-Tribunal. Zur Lage der Psychiatrie“ beschlossen (30.4. bis 3.5.1998, Volksbühne Berlin). http://www.irrenoffensive.de/ Metaphern zur „Mutter“ als institutionalisierter und staatstragender Figur belegen, dass diese Bedeutungsmacht weit über den Bereich des Privaten hinausreicht. Vgl. Mauerer 2002: 99-112.

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auch in der wissenschaftlichen Bearbeitung gehalten: Wohl nicht zuletzt deshalb, weil nach wie vor eine „Negativ-Bezogenheit“ von Frauen auf Männer in vordergründiger Dringlichkeit behandelt und analysiert wird. Diese Ungleichgewichtung in der Betrachtung wird ausgelöst durch die Dominanz „traditioneller“ geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlungen. Deren (Auf-)Dringlichkeit verstellt die Sicht auf Bezugnahmen von und unter Frauen, die aufgrund patriarchaler Vor-Einstellungen auch des Verhältnisses zum eigenen Geschlecht beeinflusst sind.

Frauen in der Wissenschaft und ihre Lebenserfahrungen Gerburg Treusch-Dieter war eine Pionierin in der universitären Lehre. Sie selber hatte „Ziehväter“, jedoch keine „geistige Mentorin“ im universitären Bildungssystem. Ein hohes Maß der gezollten Anerkennung kam seitens Studierender. Eine ordentliche Professur, welche diesem intensiven Wechselverhältnis und ihrer enormen Wissensvermittlung eine entsprechende Form gegeben hätte, blieb aus. Unterstützung bekamen viele Studierende auch indirekt aufgrund der besonderen Form der institutionellen Anbindung: Gerburg TreuschDieters Lebenslauf war ein „Vorgeschmack“ darauf, wie institutionelle Kontrollmechanismen in Gang kommen, wenn außergewöhnliche und in ihrem Fall auch besonders erfolgreiche Lehr- und Lernformen angewandt werden: Wenn etwa Themen von zu prüfenden Kandidatinnen – insbesondere in den Bereichen Frauenforschung und Feministische Theorien – für männliche Kollegen zu exaltiert oder zu „unwissenschaftlich“ zu sein scheinen – was gerne als abwertender Kommentar eingesetzt wurde und wird – kann es vorkommen, dass „unter Männern“ Informationen zur Prüferin eingeholt werden. Bei einer solchen Befragung per Telefon war ich im Jahr 2000 anwesend: Der Vorsitzende (Fach Geographie) erkundigte sich telefonisch beim Zweitprüfer (Fach Philosophie) über die Erstprüferin und Betreuerin einer Dissertation (Fach Soziologie) und die zu prüfende Kandidatin (Erstfach Philosophie). Er machte sich in einem weiteren Telefonat auch Gedanken darüber, ob die Erstprüferin per Auto oder per Bahn bzw. um welche Uhrzeit sie anzureisen gedenke. Persönliche und nicht inhaltliche Details standen vor der Abschlussprüfung zur Diskussion. Wenngleich dieser „Fall“ gut ausgegangen ist – die Geprüfte schloss das Doktoratsstudium mit „Sehr gut“ ab und konnte ihre Dissertation publizieren – verweist er auf die „Dramen und Traumen weiblicher Lebensläufe“ und Zurichtungen, die Frauen insbesondere dann widerfahren, wenn sie den „Kanon sprengen“ und über diesen hinausgehend 223

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„neue“ und als ungewöhnlich wahrgenommene Themenstellungen behandeln wollen. Dass dies nicht auf die Vergangenheit beschränkt bleibt, sondern durchaus auch die Gegenwart betrifft, belegt folgendes aktuelle Beispiel (2009): Einer Studentin, die eine Arbeit zu den Auswirkungen von sozialen Rollenvorstellungen auf die Gesundheit von Frauen schreiben will, wird von Ihrem Betreuer geraten, sich an Zahlen, Daten und Fakten zu halten und diese zu analysieren. Eine Studentin, die zur Analyse des Alltagslebens von Müttern mit Kleinkindern in Verbindung mit der Analyse von Kindsmorddelikten schreiben will, wird geraten, sich mit der „Kunstfrau“ auseinanderzusetzen. Beide Beispiele belegen, dass soziale Konstruktionen, welche Frauenleben im Alltag beeinflussen, weniger untersuchenswert erscheinen als Daten, Fakten und „Erscheinungen“ (Kunstfrau), die das Ergebnis dieser Einflüsse dokumentieren. Wenngleich die genaue Diskussion dieser Beispiele zwangsläufig auch an die Analyse eines vorherrschenden Wissenschaftsbegriffs und an die Untersuchung geforderter „objektiver Wissenschaftlichkeit“ gebunden wären, so lässt sich im Hinblick auf die Zuordenbarkeit insbesondere von feministischen und frauenspezifischen Themen und Fragestellungen feststellen, dass diesen oftmals eine Analyse auch des „Herr-Knecht“Verhältnisses bzw. der Auseinandersetzung mit Subjekt-Objekt-Beziehungen innewohnt, welche u.a. auch „reine“ Objektivität infrage stellen und als Konstruktion untersuchen. Dieses Denken hat die Lehre Gerburg Treusch-Dieters angeregt und wurde von ihren Studentinnen in zahlreichen Abschlussarbeiten begeistert aufgenommen und weitergedacht. Dass es trotz insgesamt prekärer Betreuungsverhältnisse an zahlreichen Universitäten so viele Universitätsabsolventinnen gibt, ist dem absoluten unbeugsamen (Bildungs-)Willen von Studentinnen geschuldet, wenngleich die Themen ihres Interesses – aufgrund mangelnder Zeitund Personalressourcen in der Betreuung von Abschlussarbeiten – thematisch mehr oder weniger deutliche inhaltliche Veränderungen erfahren. Anhand von knappen universitären Ressourcen in der Lehre lässt sich folgendes Bild skizzieren: die Betreuung Studierender in sogenannten „Massen-Universitäten“ wird zum Einen entpersonalisiert (E-Learning-Tools, Blended-Learning-Verfahren u.a.), zum Anderen wird herausragende Individualität seitens Studierender gefordert, um sich genau jener „Masse“ hinkünftig zu entheben: oftmals in vereinzelter Arbeit.7

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Teamgeist wird zwar während des Studiums gefördert, spätestens mit den Abschlüssen Dissertation und Habilitation wird jedoch singulär repräsentiertes Spezialwissen neben allgemeinen Fachkenntnissen gefordert, um Wettbewerbskriterien zu erfüllen.

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Spezielle Mentoring-Programme für Frauen wurden zwar entwickelt, um auf die Position von Frauen im traditionellen Bildungssystem aufmerksam zu machen bzw. darauf zu reagieren. Insgesamt blieben die oftmals personell, zeitlich und budgetär kleinen Projekte bzw. Programme jedoch einer sehr limitierten Gruppe von Frauen vorbehalten (vgl. Mauerer 2005). Sowohl die geförderte Individualität im Bildungssystem als auch vereinzelte Arbeitsweisen lassen gemeinsamen Widerstand von Frauen nur unter besonderen Umständen aufkommen. Darüber hinaus ist die Weitergabe von Wissen und Ressourcen speziell an Frauen respektive eine Herstellung von genealogischen Verbindungen und Strukturen jenseits patriarchaler Vater-Sohn-Logiken eine der „Gretchenfragen“ in der Feministischen Theoriebildung (vgl. u.a. Irigaray 1977; Treusch-Dieter 1991): „Denn der Mann konnte sich auf die Mutter-Institution als Herberge und Verberge verlassen. Die Frau nicht. Die Frau nicht, weil – sie sollte ja diese Herberge sein, konnte sich also bestenfalls in sich selbst verbergen. Abriegeln. Selbstausschluss, der einschließt, daß andere den Schlüssel zu ihr haben. Sich Zugang verschaffen, Platz. Sie besetzten bis zu Besessenheit. Sich selbst den Platz einräumen? – Schwierig. Wir räumen uns weg, schaffen uns ab. […] Das Hauptproblem ist, daß alle weibliche Selbstanerkennung noch immer über das männliche Wertesystem vermittelt ist, was scheinbar geschlechterindifferent funktioniert. ‚Objektiv‘.“ (Treusch-Dieter 1991: 250/252)

Diese scheinbar geschlechterindifferente Systemlogik untersuchte Gerburg Treusch-Dieter wissenschaftstheoretisch anhand des Bedeutungsgehalts symbolischer Bilder aus der Griechischen Mythologie (vgl. Treusch-Dieter 2001). In „Mythen sind nicht gemütlich“ (Treusch-Dieter 1997: 1-9) beschreibt sie deren prägende Kraft, welche bis heute auf das Geschlechterverhältnis und zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte wirkt. In einer „unzeitgemäßen“ Betrachtung wird die alltägliche Bedeutungsmacht mythologischer Bilder im Zeitalter eines profanen Geschlechterdualismus zum Leben erweckt. Der „Sündenfall“ sterblicher geschlechtlicher Wesen wird in Bezugnahme auf mythologische Vorbilder wissenschaftstheoretisch aufbereitet und analysiert. Im Sinne eines modernen „normalen Dramas“ können Männer und Frauen system- und paarlogisch (auf der Ebene von „Gleichen“) nur scheitern, da ihnen die göttliche Macht antiker Vorbilder abhanden gekommen ist. Ähnlich beschreibt auch Christina von Braun in ihrem Buch „Nicht-Ich. Logik – Lüge – Libido“ (vgl. von Braun 1985) die Endlichkeit sterblicher, geschlechtlicher Wesen, deren Begrenzungen aufgrund allmächti225

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ger Vorbilder als Einschränkungen erlebt und erfahren werden. Dies löst neuzeitlich soziale, kulturelle, politische und ökonomische Reaktionen aus, die nach wie vor auf individueller Ebene „abgetragen“ und abgehandelt werden: Im Bereich des Privaten zeigen (zähe) Veränderungen in der Paar- und Familienökonomie diese Entwicklungen auf.

E m p ow e r m e n t v o n F r a u e n Die Beschäftigung mit Gesundheit war nicht Gerburg Treusch-Dieters Thema. In ihren Studios zum „Drama und Trauma weiblicher Verhaltensmuster“ und den von ihr gehaltenen Seminaren setzte sie Erkenntnisprozesse in Gang.8 Methodisch und inhaltlich waren diese sowohl an der Lehre und den methodischen Reflexionen der Kritischen Theoretiker (vgl. Horkheimer/Adorno 1947; Habermas 1971; Foucault 1989, 1991) als auch den KlassikerInnen der Feministischen Theoriebildung (vgl. u.a. de Beauvoir 1946) orientiert; immer verbunden mit der Erkenntnis, dass ein rationales Zurück in ein „längst vergessenes“, rein positiv besetztes „Land der Mutter/Mütter“ nicht möglich sei. Nicht zuletzt auch aus ihrer Beschäftigung mit der MittäterInnenschaft von Frauen (vgl. Treusch-Dieter 1984) und den wenigen machtvollen Rollen, welche Frauen in patriarchal konstruierten Herrschaftsmodellen zugestanden werden, resultierte eine ablehnende Haltung gegenüber Vorstellungen einer „großen Mutter“ (Treusch-Dieter 1991: 250). Vielmehr thematisierte Treusch-Dieter mütterliche Kontrolle als Umschlagpunkt väterlicher Macht, welche die Rolle von Frauen als Vollzieherinnen eines väterlichen Willens inkludiert (Treusch Dieter 1988: 136). Diese mächtige und zugleich ohnmächtige Position, reduziert auf die „Machtausübung im Kleinen“, im Privaten (vgl. Rumpf 1988), wirkt für Frauen auch dann noch in vielfältiger Weise nach, wenn sie selbst entkoppelt von traditionellen Rollenvorstellungen leben (wollen). Zugleich verweist die reduzierte Position auf ungleiche geschlechtsspezifische Machtverhältnisse. Im diskursanalytischen Rückblick auf die Griechische Mythologie bezog Gerburg Treusch-Dieter eine Vorstellungswelt in die Theoriebildung und Reflexion dieses ungleichen Machtverhältnis8

In den Studios betonte Treusch-Dieter mehr noch als in ihren universitären Seminaren die Einbeziehung der körperlichen Präsenz von Studentinnen. Sich „Raum nehmen“, einen Raum eröffnen für Vorstellungen und Präsentationen – nicht zuletzt auch des eigenen, weiblichen Körpers, welcher im wissenschaftlichen Setting und Arbeitsumfeld immer wieder auch zum Verschwinden gebracht werden muss, um als „gleichwertig“ (ausgehend vom männlich konnotierten Vorbild) anerkannt zu werden. Reduzierte „Dress-Codes“ belegen etwa dieses Phänomen, welches nachhaltig und nach wie vor wirkt.

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ses mit ein, welche andere Größenverhältnisse bezogen auf den neuzeitlichen, dualen Diskurs der Geschlechter sichtbar werden ließ und das Reflexionspotenzial – u.a. auch erhellend im Hinblick auf sogenannte „Alltagsphänomene“ – erweiterte.9

Exkurs: Es geht um die Wurst und das Steak! Wahrnehmung und Anerkennung sind jene Einflussgrößen, die ungeachtet wissenschaftlicher Erkenntnisbildungen zu Veränderungen von geschlechtlichen Rollenbildern wirken. Das „Wurstbeispiel“: Geht eine Mutter fünfmal mit dem Kind einkaufen und nimmt Wurst und der Vater ebenso, erinnert sich die Verkäuferin (so es dieselbe ist) vermutlich nachhaltiger an den Vater mit Kind. – Ich wage die Spekulation an dieser Stelle, da mir folgendes Fallbeispiel bekannt ist: Eine Kassierin in einem Supermarkt wurde von einem Familienrichter als Zeugin geladen und angehört. Sie sollte bezeugen, dass der Vater Kontakt zum Kind hatte und es gut behandelte. Unabhängig vom bezeugten Sachverhalt als solchem ist die Situation des Einkaufens eine Alltagshandlung, die nur dann Aussagen über das Verhältnis zum Kind zulässt, wenn sie als „besonders“ wahrgenommen und – wie dieser Fall zeigt – als „Beleg“ zählt bzw. gezählt wird und als Bezeugung zur Geltung kommt. Weitere Analysen zu geschlechtsspezifisch (vor-)geprägten Deutungen in richterlichen Urteilen belegen diese Vermutung.10 Mir stellte sich in diesem Zusammenhang folgendes „zusätzliche“ Problem im Kleinkindalter meiner Tochter: Ging der Vater mit ihr Wurst kaufen, bekam sie immer eine Scheibe geschenkt. Ging ich mit ihr Wurst kaufen, bekam sie keine Scheibe geschenkt und die Verkäuferin erinnerte sich nicht einmal an das Kind, welches sie so freundlich behandelte, wenn es mit dem Vater da war. Folglich hatte ich, die Mutter, ein enttäuschtes Kind vor Augen, wenn ich mit ihr einkaufen ging. Ich „löste“ das Problem folgendermaßen: Ich kaufte die Wurst, welche meine Tochter sonst geschenkt bekam, und bat die Verkäuferin, ihr davon eine Scheibe zu geben. Manchmal wurde diese Scheibe bei der Preiserhebung mitgewogen, manchmal nicht – war zweiteres der Fall bedankte ich mich überschwänglich. 9

Zur aktuellen Reflexion dieses dualen Geschlechterdiskurses vgl. u.a. Thürmer-Rohr 2008. 10 Zur Bedeutung der Geschlechterdifferenz in Gruppendiskussionen am Beispiel eines Familiengerichtsverfahrens vgl. Gildemeister 2008; sowie ergänzend Müller-Luckmann zit. nach Platen 1988 sowie Mauerer 2002. 227

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Worüber meine „Lösung“ jedoch nicht hinwegtäuschen konnte, waren folgende Wahrnehmungen und Erkenntnisse: Mit Papa gibt es Wurst geschenkt. Mit Mama ist die Verkäuferin nicht so nett zu mir und erkennt mich nicht wieder. Meine Lektüre zu Feministischer Theoriebildung war ihr (und auch mir) in solchen und ähnlichen Situationen (bislang) wenig hilfreich. Dass die Notwendigkeit des Einforderns weiblicherseits bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt, belegt nachfolgendes „Steak-Beispiel“ (es spielt Jahre später, im Erwachsenenalter einer Wissenschafterin): Nach einem mehrtägigen Symposium, welches eine Professorin organisiert und moderiert hatte, ging sie mit einer gemischtgeschlechtlichen Personengruppe essen. Mehrere Männer und eine Frau bestellten Steak. Genau in dem Moment, als der Kellner der Frau das bestellte Steak servieren wollte, machte er eine kleine Drehung und wendete den Teller jemandem anderen zu. Doch sie hatte bereits gesehen, was auch er gesehen hatte: Ein Steak war augenscheinlich kleiner, und er drehte den Teller mit dem größeren Steak von ihr weg und jenen mit dem kleineren Steak zu ihr hin. Sie war außerordentlich hungrig und beschwerte sich über diese portionsminimierende Geste. Er entschuldigte sich mit einem Getränk auf ihre Beschwerde hin.11 Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Frauen erst einfordern müssen, was Männern „ganz von selbst“ zugestanden wird (kraft ihres Erscheinungsbildes als „Mann“). „Was Du Dir immer einbildest?“ ist meinem Erleben nach die verwunderte Reaktion auf Erfahrungen wie die oben genannten, so sie überhaupt wahrgenommen und geäußert werden.12 Fazit ist jedoch: wer/welche diese Form der Wahrnehmung erworben hat, wird sie nie mehr los. Sie wird zum „Alien“, zur Anderen, die diese Wahrnehmung und Gleichgesinnte sucht: Dieses zündende Feuer der Erkenntnis hat Gerburg Treusch-Dieter in ihren Seminaren entfacht.

11 Dass Wurst und Steak als männlich codierte Speisen gelten, „rundet“ diese Beispiele zusätzlich ab. Vgl. hierzu den höchst aufschlussreichen Aufsatz von Monika Setzwein 2006. 12 Diese Reaktion, die ich selbst mehrmals erlebt habe, beschreibt eine Strategie der Selbstentfremdung, die Frauen im (frauenspezifischen) TherapieSetting sehr oft äußern; vgl. hierzu die Beiträge von Andrea Scheutz, Bettina Reinisch und Traude Ebermann in diesem Band. 228

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Dumme Schafe gehen ab und k e h r e n n i c h t w ie d e r „[I]n der gegenwärtigen Revolution werden nicht mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die Körper umstrukturiert. Dementsprechend bleibt nur noch, sich an die Odyssee der Geschlechterdifferenz zu erinnern, die sich auf das Penelope-Syndrom des „dummen Schafs“ verlassen konnte. Da dieses „dumme Schaf“ nicht nur bereit war, sich auch dann noch zu opfern, als dieses Opfer nichts mehr galt, sondern es übernahm außerdem für die Umwertung und Entwertung dieses Opfers die Schuld. Ausgehend von dieser weiblichen „Daseinsschuld“ steht die „Tatsache des Lebens“ inzwischen unabhängig von allen Körpern zur Verfügung. Dabei geht das Opfer unter der technologischen Bedingung seiner Abschaffung weiter, indem es nicht mehr nur den weiblichen Körper erfaßt, sondern alle Körper, noch bevor sie geboren sind.“ (Treusch-Dieter 1997: S. 242)

Der feministisch geschulte analytische Blick wird zu einer Gabe, die Unangenehmes verheißt. Gerburg Treusch-Dieter hat diese Gabe im Hinblick auf den Wandel des Geschlechtsrollenverhältnisses und der technologischen Ersetzbarkeit der Reproduktion verbunden mit der Analyse einer „neuen Mütterlichkeit/Väterlichkeit“ angewandt. Die Schuldfrage als Frage des Geschlechterverhältnisses ist damit nicht gelöst, sondern gibt neue Fragen auf. 13 Frauen, die mehr wollen als sich (auf-)opfern, gehören nicht dazu (zur Familie, Firma etc.) beziehungsweise sind sie nicht „gern gesehen“, nicht „wohl gelitten“, u.a.m. In welcher Form sie „zugelassen werden“, bleibt offen im gesellschaftlichen Roulette um Anerkennung. Aufbegehrende Frauen setzen (immer noch) Sanktionierungsmechanismen in Gang, die sie in „ihre“ Schranken weisen (wollen): Vor allem dann, wenn es um Geld und andere Formen wertschätzender Anerkennung geht. In Bezug auf die Festlegung einer starren Grenze zwischen „Normalität“ und „Pathologie“ zeigt sich, dass nachhaltige Festlegungen von Frauen auf geschlechtsspezifisch vorgeprägte Bilder in die Diagnosefindung sowie in Analysen von „Krankheitswertigkeit“ im weiblichen Verhalten mit einfließen (vgl. Füller/Ernst 1977; Gutiérrez-Lobos 2001). Bis dato wird hierbei (auch) von funktionalisierten Frauenbildern ausgegangen: In vielen Fällen beginnt die gesundheitliche Behandlung respektive „Krankheitsbehandlung“ von Frauen erst dann, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, die Versorgung anderer (kleiner Kinder, zu pflegender Angehöriger) weiter zu übernehmen. Ein hoher Leistungsdruck, welcher auf Frauen und Männern lastet, konfrontiert Frauen, die „alten“ traditio13 Vgl. Treusch-Dieter, Gerburg 1999. 229

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nellen Rollenanforderungen und neuen Rollenbildern entsprechen wollen, (ebenso wie Männern) mit auf Dauer nicht zu bewältigenden „Workloads“ – an dieser Stelle sei ein modernes Wort strapaziert. Punkto (sogenannter) Karriere und beruflicher Anbindung hat sich vieles verändert in der späten Moderne oder auch Postmoderne. Gesundheitlich sind Frauen und Männer in conclusio in vielerlei Hinsicht als beeinträchtigt zu bezeichnen. Ein Mehr an gelehrter Feministischer Theoriebildung könnte dem abhelfen, wäre idealiter verbunden mit Leistungsverweigerung anstatt affirmativer neoliberaler „Selbstverbesserung“ um jeden gesundheitlichen Preis. Krankheitsbilder wie Burnout, Ausgebrannt sein, Depressionen, Autoimmunerkrankungen weisen namentlich auf dieses Missverhältnis hin. Feministische Theorie verheißt zwar nicht Gesundheit um jeden Preis, ihr sind jedoch viele gesundheitsförderliche Aspekte inhärent, die bislang als solche wenig Aufmerksamkeit fanden. Frauenförderung und Feministische Theorien verlängern einerseits gewohnte Mechanismen – Selbstbeobachtung wird von Frauen ohnehin betrieben (in Form von Selbstobjektivierung) – und verführen darüber hinaus zu Wohlwollen in Bezug auf die eigene Bedingtheit, auf das Gewordensein, und einer großen Portion „loslassen können“ von Althergebrachtem. Wozu zählt: Es aushalten können, weniger (von anderen für Taten, Leistungen, Dienste, die an ihnen vollbracht werden) geliebt zu werden. Dies bedeutet einen hohen Preis, nach wie vor, der sich individuell vielleicht (noch) nicht bezahlt macht oder machen wird. Eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist damit dennoch zwingend in Gang gesetzt (vgl. Diskussionen in der sogenannten Pflegedebatte, Kinderversorgungsfragen u.a.m.14). Diesen Wandel haben Gerburg Treusch-Dieters Werke und hatte ihre lebendige Lehre zum Inhalt, um Augen, Ohren und den Mund zu öffnen und öffentliche Sprechhemmnisse zu überwinden. Viele Portionen Mut und Selbstvertrauen bleiben und blieben jenen, die sie kennengelernt haben. In der Wiedergabe von Alltäglichem, im Widerspiegeln eingespielter Verhaltensmustern gab es für Studierende zahlreiche Chancen zur Identifikation und zündende Funken für die weitere Reflexion, mit lodern-

14 Das Wort „Wandel“ finde sich demnach in einer Vielzahl aktueller Publikationen zu diesen Themen: vgl. u.a. Bauer/Gröning 2008, Berger/Kahlert 2006. 230

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dem Feuereifer der Erkenntnis, der nicht gebrochen ist von der/dem Lehrenden, sondern wahrgenommen und anerkannt wird. Damit ist viel gewonnen und eine Grundlage geschaffen für wissenschaftliche Neugier und vielfältige Interessen. Somit – als weiterer und letzter Konnex zur Gesundheit – werden auch Gesunderhaltungspotenziale entfacht, durch widerständiges Denken und die Erweiterung der (individuellen und gesellschaftlichen) Möglichkeiten. Davon können Frauen nicht genug haben.

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NACHWORT

Thürmer-Rohr, Christina (2008): Die Wahrheit über eine zweigeschlechtliche Welt gibt es nicht. In: Buchmayr, Maria: Alles Gender? Feministische Standortbestimmungen. Innsbruck: S. 50-64. Treusch-Dieter, Gerburg (1984): Ferner als die Antike. Machtform und Mythisierung der Frau im Nationalsozialismus und Faschismus. In: Gehrke, Claudia/Treusch-Dieter, Gerburg/Wartmann, Brigitte (Hg.): Frauen Macht. Konkursbuch 12. Zeitschrift für Vernunftkritik, S. 193-218. Treusch-Dieter, Gerburg (1985): „Cherchez la femme“ bei Foucault?, in: Dane, Gesa/Eßbach Wolfgang/Karpenstein-Eßbach, Christa/Makropoulos, Michael (Hg.): Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault, Tübingen 1985, S. 80-94. Treusch-Dieter, Gerburg (1990): Von der sexuellen Rebellion zur Genund Reproduktionstechnologie, Tübingen. Treusch-Dieter, Gerburg (1991): Autonomie auf der Überholspur: ein mobiler Parcour zwischen Anfahrt und Einfahren. In: Verein zur Förderung von Frauenbildungsprojekten (Hg.): Autonomie in Bewegung. &. Österreichische Frauensommeruniversität. Texte, Reflexionen, Sub-Versionen, Wien, S.246-254. Treusch-Dieter, Gerburg (1997): Die Heilige Hochzeit. Studien zur Totenbraut. Pfaffenweiler. Treusch-Dieter, Gerburg (1998): Von der Hexe zur Hysterikerin. Vortrag anlässlich der „Irren-Offensive“ von 26.-28.6. 1997, FU Berlin, (vorbereitendes Symposium zum „Foucault-Tribunal. Zur Lage der Psychiatrie“, 30.4.-3.5.1998, Volksbühne Berlin). http://www.irren offensive.de/szaszsymposium/gerburg.htm (2.4.2010). Treusch-Dieter, Gerburg (1999): Die Schuld der Verneinung oder Alles ist erlaubt. In: Treusch-Dieter, Gerburg (Hg.): Schuld. Konkursbuch 37, Tübingen, S. 77-86. Treusch-Dieter, Gerburg (2001): Die Heilige Hochzeit. Studien zur Totenbraut. 2, ergänzte Auflage, Herbolzheim. Treusch-Dieter, Gerburg (2002): Frauen gemeinsam sind stark, aber was stärkt Frauen? In: Stadt Freiburg i.B. (Hg.): Frauen Macht Zukunft. Kongressdokumentation, Freiburg. (Revision von 2002 auf http:// www.treusch-dieter.de/tgender/stark01.html; 6.5.2010) Treusch-Dieter, Gerburg (2008): Demokratie: Selbstherrschaft oder Volksherrschaft?, in: Krondorfer, Birge/Wischer, Miriam/Strutzmann, Andrea (Hg.): Frauen und Politik. Nachrichten aus Demokratien, Wien, S. 25-34.

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AU T O R I N N E N

Ahmed, Sara, Professorin in Race and Cultural Studies, Goldsmith University London (GB). Forschungsgebiete: Critical Race Studies and Postcolonial Studies, Transnational Cultural Studies, Feminist Cultural Studies, Queer Theory, Critical and Cultural Theory. Herausgeberin internationaler Fachzeitschriften und Serien, u.a. des International Journals of Cultural Studies. Vgl. http://www.gold.ac.uk/media-communica tions/staff/ahmed/ (12.6.2010). Annandale, Ellen, Senior Lecturer an der Univ. Leceister (GB). Forschungsschwerpunkt Gender und Gesundheit. Herausgeberin internationaler gesundheitssoziologischer Fachzeitschriften, u.a. seit 2004 der Zeitschrift „Social Science and Medicine“; Vizepräsidentin des Internationalen Forschungskomitees 15 (Gesundheits- und Medizinsoziologie) der Internationalen soziologischen Gesellschaft. Letzte Publikationen: „Women’s Health and Social Change“ (Routledge, 2009), „The Palgrave Handbook of Gender and Healthcare“, gemeinsam mit Ellen Kuhlmann (Palgrave 2010); Herausgabe der 4. Edition einer Sammlung zu „Gender and Health“ (Routledge Major Works Series), gem. mit Kate Hunt. Ebermann, Traude, Klinische und Gesundheitspsychologin, (Lehr-)Psychotherapeutin für Katathym Imaginative Psychotherapie (ÖGATAP), Mitarbeiterin von Frauen beraten Frau Wien, Initiatorin und Mitarbeiterin des angeschlossenen Wiener Institutes für frauenspezifische Psychotherapie. Lektorin an der Med. Universität Graz (Gender). Diverse Publikationen zu Feminismus und KIP. [email protected].

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FRAUENGESUNDHEIT IN THEORIE UND PRAXIS

Dackweiler, Regina-Maria, Dr. phil. habil., Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain mit dem Schwerpunkt „gesellschaftliche und politische Bedingungen Sozialer Arbeit“. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: (Trans)nationale Frauenbewegungen, Gleichstellungspolitik/Gender Mainstreaming, Gewalt im Geschlechterverhältnis, wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik, FrauenMenschenrechte, Gender in der Sozialen Arbeit. Langjährige Tätigkeit in autonomen Frauenbildungseinrichtungen sowie EU-zertifizierte Trainerin im Bereich „Managing E’Quality“. Höppner, Grit, Diplom-Sozialarbeiterin (FH) und Studentin des Masterstudiums Gender Studies an der Universität Wien. In ihrer Abschlussarbeit forscht sie zum Themenkomplex Alter(n), Körper, Geschlecht. Mitarbeiterin im Verein Frauenhetz. Kickbusch, Ilona, Univ. Prof., Dr., Senior Health Policy Advisor, Bundesamt für Gesundheit, Direktorin der kickbusch health consult, Schweiz. www.ilona.kickbusch.com. Krondorfer, Birge, lebt in Wien, Universitätslektorin an verschiedenen Universitäten, Erwachsenenbildung, ausgebildete Gruppentrainerin, Supervisorin, Mediatorin und Trainerin für interkulturelle Politikdidaktik, EU-Projektarbeit im Migrationsbereich (Equal, Grundtvig), Organisation diverser Frauenkonferenzen, Mitbegründerin der Frauenhetz - Verein für Feministische Bildung, Kultur, Politik, Publikationen zu feministischer Theorie und politischer Philosophie. Letzte Mitherausgabe: Frauen und Politik. Nachrichten aus Demokratien, Wien 2008. Kuntschner, Eva (Übersetzung), studierte Anglistik/Amerikanistik in Graz und Minneapolis, Minnesota, und lebt in Wien. Sie arbeitet als Autorin, Schreib- und Englischtrainerin und Übersetzerin. Mauerer, Gerlinde, Lektorin am Institut für Soziologie an der Universität Wien und in Fachhochschulstudiengängen. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Gesundheit- und Medizinsoziologie, Feministische Theorien/Gender Studies, Ethik/kritische Perspektivenbildung hinsichtlich der Anwendung Neuer Technologien im Gesundheitswesen. Autorin zahlreicher Publikationen; Mitarbeiterin im Verein Frauenhetz. [email protected].

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AUTORINNEN

Reinisch, Bettina, Personenzentrierte Psychotherapeutin, Supervisorin, Coach, Gesellschafterin der Frauensache OG, Wien. Scheutz, Andrea, Biologin, Psychotherapeutin, Supervisorin, Coach, Gesundheitswissenschaftlerin. Mitgründerin und Geschäftsführerin vom Institut Frauensache, Gründung und Leitung der Lebens- und Sozialberatungsschule „scatach“. Forschungsschwerpunkt: Wirken von Ritueller Trance auf den SOC bei Erwachsenen (Inter-uni Graz). Steiner, Hannah (Übersetzung), studierte Übersetzung (Translationswissenschaft) in Innsbruck und Wien. Sie arbeitet als Übersetzerin und als Koordinatorin internationaler Projekte zu Gendergleichstellung im Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen. Wimmer-Puchinger, Beate, a.o. Prof., Dr. phil., Frauengesundheitsbeauftragte der Stadt Wien, klinische und Gesundheitspsychologin, Professorin am Institut für Psychologie der Universität Salzburg, Ausbildung in Organisationsentwicklung und Public Health, Leitung des LBI für Frauengesundheitsforschung bis 2005, Aufbau der WHO-Modellprojekte der Frauengesundheitszentren (FEM und FEM Süd), wissenschaftliche Leitung von Forschungsprojekten zu reproduktiver Gesundheit, Gewalt in der Familie, Sexualität, Verfasserin von Frauengesundheitsberichten, Lehrtätigkeiten im In- und Ausland, zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, Reviewerin internationaler Fachzeitschriften, Vorstandmitglied der ISPOG.

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Gender Studies Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.) Feministische Mädchenarbeit weiterdenken Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis Oktober 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1383-4

Rita Casale, Barbara Rendtorff (Hg.) Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung 2008, 266 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-748-6

Rainer Fretschner, Katharina Knüttel, Martin Seeliger (Hg.) Intersektionalität und Kulturindustrie Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen November 2010, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1494-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gender Studies Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform November 2010, ca. 486 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4

Hanna Meissner Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx August 2010, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1381-0

Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit Dezember 2010, ca. 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gender Studies Marie-Luise Angerer, Christiane König (Hg.) Gender goes Life Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies 2008, 264 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-832-2

Cordula Bachmann Kleidung und Geschlecht Ethnographische Erkundungen einer Alltagspraxis 2008, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-920-6

Ingrid Biermann Von Differenz zu Gleichheit Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert 2009, 208 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1224-0

Cordula Dittmer Gender Trouble in der Bundeswehr Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen 2009, 286 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1298-1

Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.) Emotionen in Geschlechterverhältnissen Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel 2009, 184 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1210-3

Doris Leibetseder Queere Tracks Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik Januar 2010, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1193-9

Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten Juli 2010, 438 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1345-2

Barbara Schütze Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung April 2010, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1276-9

Ute Luise Fischer Anerkennung, Integration und Geschlecht Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts

Christine Thon Frauenbewegung im Wandel der Generationen Eine Studie über Geschlechterkonstruktionen in biographischen Erzählungen

2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1207-3

2008, 492 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-845-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de