Methoden einer Soziologie der Praxis [1. Aufl.] 9783839427163

Although empiricism is of central importance in practical analysis approaches, the discussion of methods in the sociolog

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German Pages 320 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Methodenproblem einer Soziologie der Praxis
Was ist der Gegenst and einer Soziologie der Praxis?
Zur Notwendigkeit einer praxissoziologischen Methodendiskussion
Methodische Grundlagen einer Soziologie der Praxis
Zur empirischen Rekonstruktion sozialer Praxis. Methodische Anforderungen und methodologische Reflexion aus der Perspektive Bourdieu’scher Praxistheorie
Neopraxiology. Ethnografische und konversationsanalytische Praxisforschung in ethnomethodologischer Einstellung
Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken
Ãœbersetzung und Konflikt. Die Akteur-Net zwerk-Theorie als Methode einer praxissoziologischen Konfliktforschung
Neue methodische Zugänge und Anwendungen einer Soziologie der Praxis
Ethnografische Erkenntnisstrategien zur Erforschung sozialer Praktiken
Praktiken kartografieren. Was bringt Clarkes Situational Analysis für Praxeografien?
Von Raketenleisten bis zum Leichtmetall. Begegnungen einer Praxis des Materials im Einsat z künstlerischer Arbeiten
Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit. Ethnomethodologische, poststrukturale und ethnografische Analyseheuristiken
Praktiken historisieren. Geschichtswissenschaft und Praxistheorie im Dialog
Methodische Herausforderungen am Beispiel einer Soziologie der Praxisformation des Rock und Pop
Autorinnen und Autoren
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Methoden einer Soziologie der Praxis [1. Aufl.]
 9783839427163

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Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis

Sozialtheorie

Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.)

Methoden einer Soziologie der Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2716-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2716-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt | 7

D as M ethodenproblem einer S oziologie der P raxis Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis? Frank Hillebrandt | 15

Zur Notwendigkeit einer praxissoziologischen Methodendiskussion Franka Schäfer, Anna Daniel | 37

M ethodische G rundl agen einer S oziologie der P raxis Zur empirischen Rekonstruktion sozialer Praxis Methodische Anforderungen und methodologische Reflexion aus der Perspektive Bourdieu’scher Praxistheorie Anna Brake | 59

Neopraxiology Ethnografische und konversationsanalytische Praxisforschung in ethnomethodologischer Einstellung Christian Meyer | 91

Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken Daniel Wrana | 121

Übersetzung und Konflikt Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Methode einer praxissoziologischen Konfliktforschung Sascha Bark | 145

N eue methodische Z ugänge und A nwendungen einer S oziologie der P raxis Ethnografische Erkenntnisstrategien zur Erforschung sozialer Praktiken Diana Lengersdorf | 177

Praktiken kartografieren Was bringt Clarkes Situational Analysis für Praxeografien? Göde Both | 197

Von Raketenleisten bis zum Leichtmetall Begegnungen einer Praxis des Materials im Einsatz künstlerischer Arbeiten Christiane Schürkmann | 215

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit Ethnomethodologische, poststrukturale und ethnografische Analyseheuristiken Yannik Porsché | 239

Praktiken historisieren Geschichtswissenschaft und Praxistheorie im Dialog Marian Füssel | 267

Methodische Herausforderungen am Beispiel einer Soziologie der Praxisformation des Rock und Pop Anna Daniel, Franka Schäfer | 289

Autorinnen und Autoren  | 315

Einleitung Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt Die Soziologie der Praxis ist seit etwa zehn Jahren in aller Munde. Mitverantwortlich für die anhaltende Faszination soziologischer Praxistheorien in den Sozialwissenschaften ist die Tatsache, dass sich mit der Analyseeinheit Praxis völlig neue Blickwinkel und Perspektiven auf herkömmliche Forschungsgegenstände der Soziologie eröffnen. So überrascht bereits Pierre Bourdieus (vgl. 1982) empirische Erkenntnis aus den 1970er Jahren, dass es vor allem kulturelle und nicht nur materielle Ursachen sind, die die praktische Reproduktion sozialer Ungleichheit so stabil machen. Ebenso bahnbrechend sind Bruno Latours und Steve Woolgars (vgl. 1979) Einsichten in die Praxis der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion, die sie im Rahmen der Science and Technology Studies erzielen: Nicht nur die Gegenstände der Forschung, sondern auch deren Mittel geben die Probleme vor, die im Forschungsprozess gelöst werden müssen. Diese neuen und herkömmliche Perspektiven verstörenden Einblicke in die besondere Qualität der sich situativ vollziehenden Praxis lassen sich in diesen beiden sehr prominenten Fällen auf den Ausgangspunkt der Analysen – die Verkettung von Praktiken im Zeitverlauf – zurückführen. Seit Bourdieus Theorie der Praxis und Latours neuer Soziologie für eine neue Gesellschaft ist die besondere Faszination von Forscherinnen und Forschern ungebrochen, die Praxis, also das, was sich tatsächlich situativ vollzieht, zum Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen zu machen. Nachdem inzwischen mehrere Beiträge zu einer Systematisierung soziologischer Praxistheorien vorliegen, die das theoretische Instrumentarium dieser Forschungsrichtung paradigmatisch herausarbeiten und bereitstellen (vgl. exemplarisch Hillebrandt 2014) und dadurch die soziologische Praxistheorie im Kanon der aktuellen soziologischen Theoriendebatten immer mehr etablieren, bleibt die in der Theorie methodologisch angelegte empirische Praxisforschung bisher hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dies liegt u.a. daran, dass die Praxisforschung aktueller Stunde ihrem theoretisch manifestierten Anspruch, die einzelnen Bestandteile von Praxisformen und deren Versammlung zu Praxisformationen auch und vor allem empirisch bestimmen zu wollen, nicht gerecht wird. Hierfür fehlen bislang adäquate Methoden der empirischen Praxisforschung. Zwar wird die auffälli-

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ge Leerstelle in der Methodendiskussion in der soziologischen Fachdiskussion durchaus kontrovers thematisiert, indem etwa das methodische Desiderat der Soziologie der Praxis aktiv auf interdisziplinären Tagungen diskutiert wird, die an einem gemeinsamen Gegenstand orientierte Forschungsprojekte versammeln, oder auf Tagungen, wie derjenigen, die den Anlass zum vorliegenden Sammelband gibt und die Methoden einer Soziologie der Praxis selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung macht. Trotz der existierenden Sensibilität bleibt es in praxissoziologischen Arbeiten und in den unter dem Label Praxisforschung subsummierten Projekten weiterhin gängige Praxis, in einleitenden Forschungsskizzen und die Forschung abschließenden Resümees auf die Notwendigkeit empirischer Entwicklung der theoretischen Instrumente ganz nach dem Vorbild Bourdieus zu insistieren. Die in den Forschungsarbeiten verwendete Empirie erfolgt jedoch zumeist ausschließlich auf der analytischen Folie von in anderen Theoriekontexten entwickelter qualitativer Methoden, ohne diese im Sinne einer Soziologie der Praxis weiterzuentwickeln. Soll die in der Theorie konstatierte besondere Qualität des Vollzugs der Praxis empirisch erfasst werden, bedarf es einer Modifikation auch der Methoden, die einer Soziologie der Praxis nahe stehen. Unseres Erachtens reichen die bisherigen Methoden der empirischen Sozialfoschung nicht aus, um dem theoretischen Anspruch der Soziologie der Praxis gerecht zu werden, ihren Untersuchungsgegenstand, nämlich das, was praktisch geschieht, angemessen erforschen zu können. Diese Lücke nimmt der vorliegende Sammelband zum Anlass zu diskutieren, welche sozialwissenschaftlichen Methoden geeignet sind, die plurale Verfasstheit sozialer Praktiken zu erfassen. Er richtet sich explizit gegen den häufig erweckten Eindruck, es sei ausreichend, sich lediglich mittels herkömmlicher ethnografischer Methoden oder Interviewtechniken den spezifischen Untersuchungsgegenständen zu nähern. Dagegen verdeutlichen die Beiträge im vorliegenden Band die Notwendigkeit einer genuin praxissoziologischen Methodendiskussion, die neben den sprachlichen Ausdrucksformen des praktischen Sinns auch die körperlichen und dinglichen Aspekte der Praktiken jenseits der Struktur- oder Akteurzentriertheit der klassischen Soziologie berücksichtigt. Dem eklatanten methodischen Desiderat einer konsequenten Soziologie der Praxis wenden sich die vorliegenden Beiträge in unterschiedlicher Weise zu, da Aufsätze von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Forschungskontexten und Fachdisziplinen versammelt sind, die jeweils der längst überfälligen Frage nachgehen, wie ein neues Ensemble empirischer Methoden für einen praxisanalytischen Forschungszugang erschlossen werden kann. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Sammelband drei grundlegende Ziele: In einem einführenden Teil wird das Problem der Soziologie der Praxis, bisher keine systematische Methodologie zur Analyse der Verkettungen von Einzelpraktiken zu Praxisformationen bereitgestellt zu haben, zum An-

Einleitung

lass genommen, über eine präzise Gegenstandsbestimmung einer Soziologie der Praxis die Herausforderungen zu extrahieren, vor die Praxisforscherinnen in der empirischen Forschung gestellt sind. Hierbei liegen die Schwerpunkte zum einen auf der materiellen Vollzugswirklichkeit der Praxis, also auf der Vielschichtigkeit der sich formierenden unterschiedlichen Praxisformationen, sowie zum anderen auf der Schwierigkeit, den praktischen Sinn über die Relation der Praxiselemente im formierten Vollzug zu analysieren und bei all dem der Ereignishaftigkeit von Praktiken gerecht zu werden. Um vor diesem Hintergrund eine grundlegende und vielfältige Methodendiskussion für die Soziologie der Praxis anzustoßen und die Defizite bestehender methodischer Angebote zu bestimmen, erfolgt in einem zweiten Teil die explizite Auseinandersetzung mit den methodischen Grundlagen der Soziologie der Praxis. Diese erste Vermessung von Methoden einer Soziologie der Praxis orientiert sich vor allem an folgenden Fragen: An welche Forschungsansätze lässt sich praxisanalytisch gewinnbringend anknüpfen? Welche Lehren können aus der weit verzweigten empirischen Forschungspraxis Bourdieus gezogen werden? Welches Potenzial hält etwa die Ethnomethodologie für die Methoden einer Soziologie der Praxis bereit und inwiefern erweisen sich die Erhebungsformen der Diskursanalyse als fruchtbar? Welche methodischen Anregungen können darüber hinaus von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie ausgehen, um die Methoden einer Soziologie der Praxis zu präzisieren? Die vier Beiträge des zweiten Teils loten somit in kritischer Absicht das Potenzial der empirischen Soziologie Pierre Bourdieus, der Ethnomethodologie Harold Garfinkels, der Diskurstheorie Michel Foucaults und der AkteurNetzwerk-Theorie Bruno Latours für die Methoden einer Soziologie der Praxis aus. Die Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen, die gemeinhin als Grundlagen einer Soziologie der Praxis bestimmt werden, schafft eine stabile Basis für die sich im dritten Teil des Bandes anschließende Weiter- und Neuentwicklung praxissoziologischer Methoden, in der traditionelle Methoden in die Theoriewelt der Praxisforschung eingeordnet und deren Innovationspotenzial für eine am Begriff der Praxis orientierte Sozialforschung ausbuchstabiert werden, so dass sie für eine Soziologie der Praxis weiter- bzw. neuentwickelt werden können. In diesem dritten Teil des Bandes stellen sich empirisch arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den bis hierhin herausgearbeiteten empirischen Herausforderungen des Gegenstands der Soziologie der Praxis und den methodischen Problemen bestehender Angebote der Soziologie. Sie geben dadurch nicht nur Einblicke in aktuelle empirische Forschungen, die neue methodische Zugänge zur Praxis eröffnen, sondern zeigen auch neue Wege auf, die in der Theorie bereits systematisierten methodologischen Prämissen zur Anwendung zu bringen. So werden an konkreten Beispielen aus der aktuellen Praxisforschung unterschiedliche methodische Zugänge wie

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die Ethnografie, die Artefaktanalyse oder die ethnomethodologische Konversationsanalyse hinsichtlich ihres Nutzens für die Soziologie der Praxis diskutiert. Diese Auseinandersetzung, die nicht selten auch über den soziologischen Tellerrand hinausblickt, zeigt vielfältige Wege einer methodisch fundierten Praxisforschung auf. In den Beiträgen des dritten Teils suchen und finden die Autorinnen Antworten auf Fragen nach dem Potenzial von Ansätzen wie der Situationsanalyse, dem Nutzen technischer Neuerungen und digitaler Möglichkeiten für die empirische Praxisforschung und nach empirisch sauberen Möglichkeiten, den situativen Vollzug der Praxis methodisch nachzuzeichnen. Ein die praxissoziologische Methodendiskussion zentral flankierender Aspekt ist dabei stets die Erfassung der physischen Dimension der Praxis. So behandeln die Beiträge alle auf verschiedene Weise die Frage, welche sozialwissenschaftlichen Methoden nicht nur die unterschiedlichen Elemente, die sich zu Praxisformationen verketten – Körper, Artefakte, Symbole, Diskurse – am Besten in den Blick nehmen, sondern evaluieren auch deren Eignung, die physische Dimension systematisch zu untersuchen und die vielfältigen Materialien der Praxis in die Analyse aufzunehmen. Im Rahmen dessen werden von den Autorinnen anhand einzelner praxisanalytisch angelegter Projekte verschiedene methodische Herangehensweisen exemplarisch aufgezeigt, so dass die Beiträge des dritten Teils auch Erfahrungen mit empirischer Praxisforschung dokumentieren. Über die Reflektion der eigenen Forschungsarbeit zeigen die Autorinnen und Autoren des dritten Teils des Sammelbandes neue methodische Wege zu einer Soziologie der Praxis auf, mit denen die besondere Qualität des Vollzugs der Praxis einzufangen versucht wird. Ein Beitrag greift diese Frage zudem aus historischer Perspektive auf. Zentraler Gegenstand der Diskussion ist hierbei stets, wie menschliche und nicht-menschliche Körper, materielle Dinge, technische Artefakte etc. in Form von Körper-Ding-Assoziationen als konstitutive Bestandteile sozialer Praxis gefasst und in ihrer Versammlung zu Praxisformationen untersucht werden können. Neben der in der bisherigen Methodendiskussion vernachlässigten physischen Dimension wird der soziale Sinn der Praxis und dessen Niederschlag in empirischen Daten in den Vordergrund der Debatte gerückt. Mit den auf diese Weise angeordneten Beiträgen zu den Methoden einer Soziologie der Praxis versucht der vorliegende Band, eine für innovative Forschungsstrategien offene und gleichzeitig an die Grundlagen der Soziologie rückgebundene Methodendiskussion anzustoßen, die der praxistheoretisch fundierten Methodenentwicklung neue Impulse gibt. Zudem ist es ein wichtiges Ziel des Bandes, eine systematische Arbeit am Methodendesiderat der Soziologie der Praxis jenseits bloßer und behelfsmäßiger Modifikationen handlungs- oder strukturzentrierter Methodenangebote zu initiieren und so dem Gegenstand der Soziologie der Praxis nicht nur theoretisch, sondern auch methodisch gerecht zu werden.

Einleitung

Wir, die Herausgeberinnen und der Herausgeber des vorliegenden Bandes, danken in diesem Zusammenhang den Autorinnen und Autoren, dass sie sich bereitwillig auf eine neue Diskussion der soziologischen Methoden eingelassen und sich mit uns zusammen auf ein neues Feld soziologischer Praxisforschung gewagt haben, das – so ist zu hoffen – in den nächsten Jahren reichhaltig bestellt werden wird. Denn die Empirie ist neben der Theorie ein konstitutiver Bestandteil jeder Soziologie der Praxis. Dieser empirischen Praxisforschung neue Methoden aufzuzeigen, ist das zentrale Ziel des Bandes, der nicht am Ende, sondern am Anfang einer hoffentlich vielfältigen Methodendiskussion stehen will.

L iter atur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hillebrandt, Frank (2014): Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer VS. Latour, Bruno/Woolgar, Steve (1979): Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills und London: Sage Publications.

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Das Methodenproblem einer Soziologie der Praxis

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis? Frank Hillebrandt

Der Gegenstand einer Soziologie der Praxis ist alles, was um uns geschieht, also die Praxis. Ob es nun der Kuss zwischen zwei Liebenden ist, die wissenschaftliche Diskussion, das Schachspiel oder eben auch Praktiken, die bereits lange zurückliegen, etwa historische Rockfestivals wie das Monterey Pop-Festival von 1967, all diese Ereignisse sind die Praxis, welche die soziologische Praxistheorie als ihren zentralen Gegenstand bestimmt. Jenseits dieser banalen Feststellung muss gefragt werden, wie dieser Gegenstand einer Soziologie der Praxis gefasst werden kann. Was ist, anders gefragt, der Grund dafür, die Sozialität als Praxis und nicht etwa als Handlung, Kommunikation oder Interaktion zu bestimmen? Die Klärung dieser Frage hat erhebliche Konsequenzen für die Methoden einer Soziologie der Praxis. Denn Soziologien der Praxis rücken mit ihrer Definition der Sozialität über den Begriff der Praktik die Frage in den Mittelpunkt, wie der physische Praxisvollzug erfasst werden kann, um auf diese Weise die zentrale, inzwischen nicht mehr hintergehbare Einsicht von Praxistheorien zu verdeutlichen, dass der Vollzug der Praxis eine eigene Qualität hat, die sich mit den Mitteln bisheriger Sozialtheorien nicht angemessen erfassen lässt. Das heißt: Im Vollzug der Praxis entsteht das, was die Praxis als Wirklichkeit ausmacht. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Bestandteile der Praxis erzeugt mit anderen Worten etwas Eigentümliches, das nur im Vollzug der Praxis sichtbar und erfahrbar wird und deshalb von der soziologischen Forschung erfasst werden muss, um die Praxis angemessen beschreiben zu können. Deshalb kann die soziologische Praxisforschung im Gegensatz zum Strukturalismus und zur Handlungstheorie nicht vorab festlegen, aus welchen Struktureigenschaften oder Handlungsintentionen die Sozialität emergiert. Solche theoretischen Vorannahmen begreift die Praxisforschung nicht als Voraussetzungen, sondern als Effekte der Praxis. So ist etwa die handlungstheoretische Annahme, Akteure würden stets nach bestimmbaren Intentionen handeln, deutlich zu voraussetzungsvoll, um die Praxis angemessen zu erfassen.

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Denn Intentionen bilden sich erst durch die bzw. in der Praxis als inkorporierte Dispositionen und können deshalb nicht als außersoziale Voraussetzungen eben dieser Praxis angesehen werden. Ebenso verkürzend ist es, alle Praxis auf bestimmte Strukturprinzipien zurückzuführen, die wie unbewegte Beweger der Praxis erscheinen. Denn auch die in den Praxisvollzügen vorhandenen Voraussetzungen für den Fortlauf der Praxis sind ihrerseits Effekte gegenwärtiger oder bereits vergangener Praxis und können deshalb nicht als zeitlos gegeben hingenommen, sondern müssen vielmehr poststrukturalistisch in ihrer historischen Bedingtheit und Genese untersucht werden. Um die so identifizierten Engführungen des methodischen Holismus und des methodischen Individualismus zu vermeiden, erhebt die soziologische Praxisforschung den physischen Vollzug der Praktiken, also die poststrukturalistisch verstandene Materialität der Praxis, zu ihrem zentralen Gegenstand. Soziologische Ansätze einer Theorie der Praxis schlagen deshalb ein modifiziertes Verständnis der menschlichen Körper und der materialen Dinge der Praxis vor. Sie wollen dem Anspruch nach der Dynamik und den Regelmäßigkeiten der sozialen Welt gleichzeitig gerecht werden. Sie wenden sich gegen holistische und individualistische Theorieanlagen und vermeiden zur Analyse der Praxis die Verwendung essentialistischer Begriffe, indem sie eine dynamische, sich in der Forschungspraxis wandelnde Theoriebildung verfolgen. Sie stellen Begriffe wie Performanz und Artikulation, welche die Praxis als Vollzugswirklichkeit verstehbar machen wollen, in das Zentrum der Erforschung von Praktiken und Praxisformen. Sie sind zwar auf die Erforschung der kulturellen Erscheinungsformen der Praxis, also auf symbolische und kulturelle Formen fokussiert und können insofern als spezifische Varianten der Kultursoziologie verstanden werden. Sie stellen jedoch zugleich die Materialität kultureller Praktiken und Praxisformen in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Fassungen des Praxisbegriffs und gehen insofern über klassische Ansätze der Kultursoziologie hinaus. Diese hier kurz umrissenen, zur Erfassung der Praxis als sich vollziehende Wirklichkeit konstatierten Prinzipien einer Soziologie der Praxis zwingen dazu, die Begriffe Praktik und Praxis sozialtheoretisch grundlegend neu zu fassen.1 Praktiken können im poststrukturalistischen Materialismus der soziologischen Praxistheorie nicht nur als Sprechakte (sayings), sondern müssen vielmehr als eine Kombination aus Sprechakten, körperlichen Bewegungen (doings) und einer durch Assoziation zwischen sozialisierten Körpern und materiellen Artefakten ermöglichten Handhabe der Dinge gefasst werden (vgl. 1 | Die grundlegenden Prinzipien einer Soziologie der Praxis habe ich an anderer Stelle über eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Theoriebezügen einer Soziologie der Praxis von Karl Marx über Ludwig Wittgenstein, Harold Garfinkel bis hin zu Michel Foucault und dem Poststrukturalismus ausführlich dargelegt (vgl. Hillebrandt 2014: 31–56).

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

Schatzki 1996: 89; Reckwitz 2003; Hillebrandt 2014: 58 ff.). Praktiken sind also immer materiell, das heißt sie sind in ihrem Vollzug immer mit Körpern und Dingen verbunden. Sie sind zudem nur als Folgepraktiken vorstellbar. Sie können nicht voraussetzungslos, also quasi aus dem Nichts entstehen. Sie ereignen sich im Anschluss an bereits geschehene Praktiken und erzeugen nun gerade dadurch eine Praxis als Vollzugswirklichkeit, die sich aus der Verkettung von Einzelpraktiken als Ereignisse bildet. Diese zunächst sehr formale Definition des Begriffs der Praxis und damit des Gegenstandes der soziologischen Praxisforschung hat weit reichende Konsequenzen für die soziologische Theoriebildung, die eng verbunden sind mit den hier im Fokus stehenden neuen Methoden einer Soziologie der Praxis. Mit der angeführten Definition ist die soziologische Praxisforschung gezwungen, die variablen Bedingungen des Vollzugs der Praxis situationsanalytisch zu identifizieren, also das Zusammenkommen und -wirken von sozialisierten Körpern mit materialen Artefakten und Dingen sowie mit diskursiven und symbolischen Formationen zu untersuchen. Auf diese Weise können die Methoden einer Soziologie der Praxis auf die hier vorgenommene Gegenstandsdefinition bezogen werden, damit der zentrale Anspruch der Praxisforschung, Theorie und Methode in der Forschung zu verbinden, um den physischen Vollzug der Praxis zu erfassen, auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Um diesen zentralen Punkt einer Soziologie der Praxis weiter zu verdeutlichen, werde ich in meinem Beitrag die wichtigsten Konsequenzen der hier vorgeschlagenen Gegenstandsdefinition von Praxis als Verkettung von physisch zu fassenden Praktiken an den Begriffen Körper und Ding herausarbeiten, um die daraus abgeleiteten Paradigmen einer Soziologie der Praxis auf die Frage nach den Methoden dieser vielversprechenden und gegenwärtig intensiv diskutierten Forschungsrichtung der Soziologie zu beziehen.

1. K örper und L eib Am Begriff des Körpers lässt sich exemplarisch veranschaulichen, was es bedeutet, Praxis als die ereignishafte Verkettung von physischen Praktiken zu definieren. Der Körperbegriff ist nämlich für das die Praxistheorien prägende Argument, dass der Vollzug der Praxis eine besondere Qualität hat, die es gilt, mit den Mitteln der soziologischen Forschung zu erfassen, von zentraler Bedeutung. Wie wir alle aus dem Alltag wissen, sind wir in vielen Situationen mit unserem Körper in das praktische Geschehen eingebunden. So werden wir körperlich berührt, wenn wir in der Fankurve eines Fußballstadions unsere Mannschaft anfeuern, wir beteiligen uns an Praktiken wie Singen, Klatschen, Jubeln (bei einem Tor der eigenen Mannschaft), Trauern (bei einem Gegentor), Schimpfen etc., die uns außerhalb des Stadions kaum in den Sinn gekommen

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wären. Unsere Körper werden spürbar zum Teil der sich vollziehenden Praxis. Und diese körperliche Präsenz, die wir auch in anderen Situationen mehr oder weniger intensiv spüren, ist ein wichtiger Bestandteil der Praktiken, die sich situativ und gegenwärtig vollziehen. Ohne diese körperliche Präsenz ist der Vollzug der Praxis nicht möglich. Dies gilt dabei nicht nur für besondere, stark am Körper ausgerichtete Praxisformen wie physische Gewaltanwendung des Staates, Sexualität, medizinische Operationen oder Sport. Es gilt für jede beobachtbare Praxis, weil selbst das Lesen von Büchern, die Internetnutzung, das Schreiben und Lesen von SMS-Kurznachrichten, die Video-Konferenz und andere, oft als Beispiele für körperlose Sozialität genannte Praxisformen nicht ohne den menschlichen Körper und seine Sinnesorgane auskommen. Menschliche Körper sind folglich Teil der Materialität aller Praxis. Deshalb gilt es in den Worten von Pierre Bourdieu (2001: 175), »eine materialistische Theorie zu konstruieren, die, wie Marx in den Thesen über Feuerbach fordert, vom Idealismus ›die tätige Seite‹ der praktischen Erkenntnis übernimmt, die die materialistische Tradition ihm überlassen hatte«. Menschliche Körper in Bewegung sind diese tätige Seite der Praxis, wodurch sie eine zentrale Bedingung dafür sind, dass sich Praktiken überhaupt ereignen. Zudem ist die körperliche Partizipation an Praktiken ein wichtiger Grund dafür, dass sich im materiellen Vollzug der Praxis etwas ereignet, das ganz im Sinne des Regelregressarguments von Wittgenstein gerade durch den physischen Vollzug eine besondere Qualität aufweist, weil der Regel physisch zu folgen eben eine Praxis ist, die nicht mit der Regel, wie sie geschrieben steht, gleichgesetzt werden kann. Die physische, also körperliche Partizipation an Praktiken erzeugt nämlich gerade die besondere Dynamik der Praxis, welche die Soziologie der Praxis gegen den methodischen Strukturalismus sowie gegen den methodischen Individualismus sichtbar machen möchte. Wichtig ist nun, dass die soziologische Praxistheorie auch die menschlichen Körper nicht als außersoziale, quasi natürliche Bedingungen der Praxis auffasst. Sie sind vielmehr zugleich Produkte und Quellen der Praxis. Und wer würde ernsthaft behaupten wollen, dass menschliche Körper nicht von der Sozialität geprägt wären? Um dies zu sehen, genügt ein Blick auf die feinen Unterschiede in der körperlichen Präsenz von Akteuren aus privilegierten und weniger privilegierten Bevölkerungsschichten (vgl. Bourdieu 1982). Auch die via Sozialität erzwungene, disziplinierende Anordnung der Körper im Raum, die bekanntlich ein zentrales Thema Michel Foucaults (vgl. etwa 1977) ist, können wir uns täglich veranschaulichen, wenn wir beispielsweise unseren Arbeitsplatz aufsuchen und besetzen. Und wer würde andererseits ernsthaft abstreiten, dass wir alle durch unsere körperliche Präsenz Einfluss auf den Verlauf sozialer Praktiken nehmen, wenn wir etwa plötzlich einen Raum betreten, in dem sich eine überschaubare Gruppe von Menschen über ein bestimmtes Thema unterhält? Theoretisch gehaltvoll zu zeigen, dass sich diese

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

beiden Gesichtspunkte einer am Begriff des Körpers ausgerichteten Soziologie der Praxis nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr zwei Seiten einer Medaille sind, ist das große Verdienst der soziologischen Praxistheorien. Denn menschliche Körper sind zugleich materiale Bedingungen und Materialisierungen der Praxis. Der menschliche Körper ist an jeder Praktik beteiligt, indem er sie materiell erzeugt. Gleichzeitig wird der menschliche Körper durch jede Praktik immer wieder neu geformt, weil sich Praktiken in den Köper materiell einschreiben (Habitus). Wichtig ist dabei zu sehen: Der erste Aspekt ist nicht ohne den zweiten Aspekt möglich und umgekehrt. Damit ist nicht weniger gesagt, als dass es keine ursprüngliche, quasi natürliche Leiberfahrung gibt. Der Begriff des Leibes muss dennoch nicht fallengelassen werden. In einer poststrukturalistischen Praxistheorie werden existenzielle Leiberfahrungen wie das Weinen oder das Lachen nicht als ursprünglich und natürlich, sondern als soziokulturell vermittelt dargestellt. Wenn der Leib, den ich im Gegensatz zum Körper nicht objektivieren, sondern nur in ganz besonderer, nämlich existenzieller Weise als mein Sein in der Welt wahrnehmen und erfahren kann, jemanden gefangen hat, fängt ihn im Anschluss an Bourdieu die inkorporierte Sozialität also der Habitus. Mit der wahrnehmenden Erfahrung des Leibes erfahre ich mich als Mensch, der in der Welt steht. Der Leib ist, wie Maurice Merleau-Ponty (1966: 273) sehr schön sagt, »die geronnene Gestalt der Existenz selbst«. Mit dem Leib erfahre ich die Welt sinnlich und werde durch diese Wahrnehmung zuständlicher Teil von ihr. Nur der Leib und eben nicht das Bewusstsein ermöglicht uns die sinnliche Wahrnehmung. Und diese zuständliche Leiberfahrung des Wahrnehmens ist häufig – wenn wir uns etwa ekeln oder schämen  – überraschend und wenig durchsichtig für diejenige, die sie macht, so dass sie wie ein Naturereignis erscheint. Und dennoch sind solche Erfahrungen nur möglich, weil zuvor Dispositionen für diese Erfahrungen inkorporiert wurden. So ist selbst der Ekel, der uns vollständig ergreift, die Körpereigenschaften vollständig beherrscht und uns deshalb gemeinhin als ursprüngliche, naturgegebene Leiberfahrung erscheint, nichts Natürliches, wie Mary Douglas (vgl. 1988) und vor ihr bereits Marcel Mauss (1978) zeigen. Solche Leiberfahrungen sind nur möglich, wenn sich bestimmte Dispositionen in den Körper eingeschrieben haben, die sich im Zustand etwa des Ekels, des Schämens, des Lachens und des Weinens abrupt entäußern, quasi als Eruption unserer inkorporierten Sozialität. Deshalb kann in der Soziologie der Praxis der menschliche Körper nicht nur als Thema der Kommunikation oder des Diskurses gefasst werden. Der physische Körper des Menschen ist Speicher der Sozialität, was ihn zum Leib werden lässt, mit dem sich Menschen materiell in der Welt positionieren, und er ist zudem materieller Ausdruck der Performanz, durch die Praxis überhaupt erst möglich wird. Performanz und Habitus, also der körperliche Ausdruck in

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der Praxis und die Einverleibung der Praxis, schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind vielmehr eng miteinander verwoben, weil sie sich gegenseitig bedingen. Ohne die leibliche Positionierung in der Welt, die durch die Inkorporierung von Dispositionen im Verlauf der Praxis geschieht, ist die körperliche Präsenz in der Welt nicht vorstellbar, die zum performativen Vollzug der Praxis unbedingt benötigt wird. Der Körper als Ausdrucksmittel ist nicht nur für den Bühnenauftritt oder das Vorstellungsgespräch relevant, sondern in jeder Situation, an der sozialisierte Körper beteiligt sind. Auch wenn er nicht bewusst als Mittel zum Ausdruck von etwas eingesetzt wird, drückt er im Praxisvollzug immer auch etwas aus, an das mit neuen Praktiken angeschlossen werden kann. So kann eine bestimmte Körperhaltung Praktiken affizieren, die ohne diese Körperhaltung nicht möglich gewesen wären. Dies zeigt auch: Der Einfluss der Einzelnen auf den Verlauf der Praxis, also auf die praktische Vollzugswirklichkeit ist entscheidend davon abhängig, welche zuständlichen Leiberfahrungen der oder die Einzelne in bestimmten Situationen macht. Fühlen wir uns körperlich unwohl, weil uns die Situation nicht vertraut ist, werden wir in anderer Weise Teil von ihr als wenn wir uns in ihr wohl fühlen wie ein Fisch im Wasser, was wir ja vor allem leiblich spüren. Der Körper ist in einer Soziologie der Praxis also mehr als von der Sozialität zu formende Materie. Er ist nicht nur Gegenstand des Diskurses und Ergebnis sozialer Konstruktion. Er ist nicht nur Produkt der Sozialität, sondern bringt diese auch hervor. Er ist als zuständliche Leiblichkeit Ausdrucksform der Praxis und ermöglicht zudem die Aktivitäten, die Praktiken als Ereignisse entstehen lassen. Er ist zwar Disziplinierungen ausgesetzt – gerade in der Gegenwartsgesellschaft –, lässt sich aber nicht auf sein mechanisches Funktionieren reduzieren. Denn der menschliche Körper ist eine wichtige Quelle der Performanz und Artikulation, ohne die Praktiken nicht möglich sind. Die Ausdrucksformen des Körpers sind kontingent, obwohl oder gerade weil sie als Praktiken aus einer zuständlichen Leiberfahrung entstehen. Zwar ist der Körper genau deswegen kein frei verfügbares Mittel, das sich bewusst zum Ausdruck von etwas einsetzen lässt. Dennoch ist er Ausdrucksform der Praxis, weil er die materiellen Artikulationen der Praxis erzeugt, die sich eben nicht mechanisch fassen lassen. Der cartesianische Dualismus zwischen Körper und Geist wird im poststrukturalistischen Materialismus einer Soziologie der Praxis überwunden, indem alles Menschliche physisch als Körper gefasst wird, ohne dabei die Aktivitäten zu negieren, die nun tatsächlich von dieser menschlichen Physis ausgehen und nicht weniger als die Ausgangspunkte der Entstehung von Praktiken sind. Diese Aktivität ist nun aber nicht ohne weitere Formungen der Physis zu verstehen, die sich in den Dingen und Artefakten der Praxis ereignen. Menschliche Physis ist in einer Soziologie der Praxis nie der einzige und exklusive Ausgangspunkt der Entstehung von Praktiken. Dazu bedarf es immer auch der Dinge und Artefakte.

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

2. D inge und A rtefak te Die Soziologie der Praxis ist nicht nur bezogen auf die menschlichen Körper der Praxis als poststrukturalistischer Materialismus zu verstehen. Denn die Praxisforschung geht grundlegend davon aus, dass alle Praxis sich materiell ereignet. Und diese Grundannahme zwingt dazu, auch den Dingen und Artefakten gegenüber eine völlig neue, sich von der klassischen Soziologie wesentlich unterscheidende Position einzunehmen. Exemplarisch lässt sich diese Position mit der Akteur-Netzwerk-Theorie verdeutlichen, die sehr erfolgreich von Bruno Latour vertreten wird. Latour (2000: 11) hebt hervor, »dass wir vieler Dinge relativ gewiss sind, mit denen wir täglich in der Praxis […] umgehen«. Und genau dies zwingt die Soziologie dazu, die Dinge, die selbstverständliche Bestandteile jeder Praxis sind, in neuer Weise zu fassen. Anstatt, wie die Theorien sozialer Differenzierung, ausgewählte sachliche Bereiche als abgeschlossene Systeme zu definieren und dadurch voneinander zu trennen, geht es der soziologischen Praxisforschung darum, die vielfältigen Aspekte der Praxis als materielle Entitäten zu identifizieren, zu versammeln und in Beziehung zueinander zu setzen. Die klassische soziologische Theorie zeichnet sich im Gegensatz dazu durch die Trennung von Sphären der Welt aus, wie etwa Natur und Kultur oder Sozialität und Materialität. Ganz im Unterschied dazu wird die Praxis in der soziologischen Praxistheorie nicht durch Differenzierung, sondern durch Versammlung sonst getrennt gesetzter Bereiche definiert. Die Entstehung hybrider Versammlungen wird in den Mittelpunkt der Theorie gestellt. Insofern handelt es sich bei der Soziologie der Praxis – insbesondere in der Ausformung, die ihr Bruno Latour gibt – um ein hybrides Denken in einer hybriden Welt (Blok/Jensen 2011; Hillebrandt 2015). Die Sozialität ist jedenfalls keine besondere Substanz, die sich durch die Trennung von anderen Substanzen definieren lässt, sie besteht aus vielfältigen materiellen Bestandteilen, die in spezifischer Weise zusammenwirken. Für Bruno Latour ist das frühe soziologische Bestreben, die Sozialität als genuinen, reinen Gegenstand mit besonderen, von allen anderen Gegenständen unterscheidbaren Eigenschaften zu definieren und in den Mittelpunkt der neu entstehenden soziologischen Wissenschaft zu stellen, ein großes Hindernis, um die Praxis angemessen erforschen zu können (Latour 2007: 31). Der mit dem Diktum, die Sozialität sei eine von anderen Wirklichkeitsbereichen unterscheidbare Realität sui generis, entstehende Soziologismus besteht für Latour seit Durkheim darin, das Soziale nur durch das Soziale erklären zu wollen. Welten, die im alltäglichen Leben miteinander verwickelt sind, werden dadurch getrennt (Latour 2008: 71). Dies führt dazu, dass die materiellen Dinge und Artefakte, um die es Latour in seiner Praxistheorie vor allem geht, nicht angemessen erfasst werden. Denn der soziologische Strukturalismus gibt ihnen die Kraft, uns zu beherrschen. Der soziologische Intentionalismus redu-

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ziert sie dagegen auf Werkzeuge bzw. Instrumente, betrachtet sie also als die Verlängerung des individuellen Willens sozialer Akteure. Durch diese techniksoziologischen Thematisierungsformen der Dinge und Artefakte wird die Vermischung der Materialität mit der Sozialität vermieden, so dass die Mischwesen entweder wie allmächtige Monstren erscheinen, die uns unseren Willen und unsere Freiheit nehmen, oder lediglich als Instrumente eines nicht weiter definierbaren Stoffs, der mit dem Begriff der Intention belegt ist (vgl. Hillebrandt 2004). Indem Latour diese Trennung aufhebt und die materiellen Artefakte und Dinge als den menschlichen Aktanten gleichwertige Aktanten der Sozialität, also des Kollektivs, fasst, provoziert er die klassische Soziologie.2 Denn er schlägt nicht weniger vor, als die soziologische Theorie einer grundlegenden Revision zu unterziehen, um sie in gänzlich neuer Weise zu formulieren. Nur dies erlaubt es, wie Latour nicht ohne Selbstbewusstsein konstatiert, die Soziologie aus ihrem Dilemma zu befreien, das für Latour seit Durkheim darin besteht, dass sie ihren Gegenstand mithilfe ihres Gegenstandes erklären will, also das Soziale mit den Eigenschaften des Sozialen, was regelmäßig zur Formulierung von Tautologien führt. Latours Neufassung des Sozialen, mit der er diese Aporie vermeiden will, wird mit dem Netzwerkbegriff durchgeführt: Nach seiner »neuen Soziologie« entsteht Praxis aus der Vernetzung unterschiedlicher Aktanten. Die von Latour sogenannten Akteur-Netzwerke sind die hybriden Quellen jeder Aktion, die als Praktik bezeichnet werden kann. Isolierte menschliche und nicht-menschliche Aktanten sind demnach außer Stande, Praktiken zu erzeugen. In einer solchen, den Netzwerkbegriff an zentraler Stelle verwendenden Theorieanlage steht die Frage nach der Art der Vernetzung von Aktanten im Mittelpunkt soziologischer Forschung. Die entscheidende Frage lautet also: Was vernetzt sich in welcher Weise? Denn nur die Beantwortung dieser Frage gibt Aufschluss über die Praxis generierenden Kollektive und ihre Wirklichkeit, verstanden als praktische Wirkmächtigkeit. Die Sozialität ist nach Latour als ein Prozess der materiellen Vernetzung von Entitäten zu begreifen. Latour plädiert mit seinem Appell, die hybriden Versammlungen als Ausgangspunkte der Soziologie zu sehen, also für einen poststrukturalistischen, die Genese des Materiellen berücksichtigenden Materialismus (Latour 2007: 190). »Jenseits von Natur und Kultur« (Descola 2011) muss im Anschluss an Latour die Sozialität neu gefasst werden, um ihre materiellen, sich durch Versammlung vielfältiger Elemente auszeichnenden Erscheinungsformen angemessen in den Blick nehmen zu können. Das Soziale muss also in einer die klassischen Probleme überwindenden Auseinanderset2 | Er spricht von Aktanten und nicht von Akteuren, um die Symmetrie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen »Wesen« zu betonen und die handlungstheoretischen Konnotationen des Begriffs Akteur zu vermeiden.

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zung mit den traditionellen Kontroversen der Soziologie neu versammelt werden.3 Hinter dieser Denkweise steht eine Einsicht, die Georg Vielmetter einmal in folgende These gefasst hat: »Es gibt nur eine […] aus Materie bestehende Welt. Das bedeutet, dass es nur einen Bereich von Gegenständen gibt, nämlich materiale oder physische. Der Mensch ist Teil dieser Welt.« (Vielmetter 1998: 20) Denn gerade Begriffe wie Kultur und Diskurs sind, in Anlehnung an Bruno Latour formuliert, Artefakte, die wir in den Kultur- und Sozialwissenschaften durch Ausklammern der Natur und der Materialität produziert haben (Latour 2008: 138). Die klassische Unterscheidung zwischen Subjekten, die die Welt, also die Natur oder die Materialität, gestalten, und Objekten, die durch diese Gestaltung geformt werden, muss demnach überwunden werden. Mit diesem Argument lehnt die Akteur-Netzwerk-Theorie eine Abgrenzung zwischen Subjekten und Objekten ab und fordert stattdessen, menschliche und »nicht-menschliche« Aktanten – Dinge, Artefakte und andere vorstellbare Bestandteile der Sozialität, also etwa Tiere – symmetrisch, also als gleich wichtige Bestandteile für die Formation der Praxis zu denken. »Objekte und Subjekte können sich nie assoziieren, Menschen und nicht-menschliche Wesen dagegen wohl.« (Latour 2001: 109) Denn während der Begriff des Subjekts immer zugleich impliziert, dass ein Objekt beherrscht wird, können sich »Menschen und nicht-menschliche Wesen […] summieren, ohne dass ihr Gegenüber verschwinden müsste« (ebd.). Genau deshalb ist es wichtig, die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, also vollständig hinter sich zu lassen. Erst dann kann mithilfe einer grundlegenden Symmetriethese, die menschliche und nicht-menschliche Aktanten in ihren Bedeutungen für die Akteur-Netzwerke prinzipiell gleichsetzt, die Versammlung und Assoziation unterschiedlicher Entitäten der Sozialität überhaupt gedacht werden. Ein »Akteur-Netzwerk« ist, wie Latour den hier verfolgten Sachverhalt formuliert, das, »was zum Handeln gebracht wird durch ein großes sternförmiges Geflecht von Mittlern, die in es und aus ihm herausströmen. Es wird durch seine vielen Bande zum Existieren gebracht: Zuerst sind die Verknüpfungen da, dann folgen die Akteure.« (Latour 2007: 375) Akteur-Netzwerke sind Werk-Netze. Mit seinen Beispielen aus seiner kleinen »Soziologie alltäglicher Gegenstände« (Latour 1996: 15 ff.)  – etwa der »Streik« des technischen Türschließers (ebd.: 62 ff.), der zu nicht zu übersehenden Veränderungen im Umgang mit dem Durchschreiten der Tür führt, oder die Folgen des Anbringens von Schlüsselanhängern für die Praxis des Umgangs mit dem Schlüssel (ebd.: 53 ff.) – plausibilisiert Latour dieses für die Soziologie und insbesondere für die soziologische Handlungstheorie nicht ganz leicht zu akzeptierende Argument. 3 | Der englische Originaltitel von Latours Grundlagenwerk zur Akteur-Netzwerk-Theorie, das im Deutschen mit Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (Latour 2007) betitelt ist, lautet dann auch treffend Reassembling the Social.

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Sichtbar wird an diesen Beispielen, dass die materiellen Dinge wichtige Bestandteile der Bedingungen für die Formation der Praxis sind. So ist beispielsweise die Praxis des Durchschreitens der Tür ohne einen technischen Türschließer eine völlig andere als mit diesem Aktanten. Und wer würde ernsthaft behaupten, eine Praxis ohne Computertechnik sei der Praxis mit massenhaft assoziierter Computertechnik auch nur ähnlich? Ganz allgemein gilt deshalb: Die nicht-menschlichen Aktanten sind aktive Bestandteile jeder Praxis, sie können nicht als Objekte, die durch Subjekte geformt und verwendet werden, verstanden werden, weil sie aktiv Einfluss auf die Formation der Praxis nehmen. Genauso falsch ist es aber, die technischen Artefakte als allmächtige Monster zu fassen, die alle Sozialität determinieren. Statt dieser Asymmetrie in der Betrachtung von technischen Artefakten fasst die Soziologie der Praxis materielle Dinge und technische Artefakte als Bestandteile zur Formation der Praxis, die durch das Zusammenwirken mit menschlichen Körpern Praktiken erzeugen und reproduzieren. Erst wenn dieser entscheidende Schritt im Verständnis von Materialität getan ist, erst wenn also die klassischen Dichotomien zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Mensch und Gesellschaft, Körper und Geist zurückgelassen werden, lassen sich ganz neue Fragen an die Materialität der Praxis stellen. Und dies gilt in ganz besonderer Weise für die technischen Artefakte und andere materielle Dinge. Ähnlich wie die menschlichen Körper durch die Praxisforschung neu gefasst werden, werden auch die materiellen Dinge mit der Überwindung klassischer Dichotomien der Soziologie in ganz neuer Weise sichtbar. Zuerst werden die Dinge als notwendige Bestandteile von Praktiken erkennbar, weil sie diese affizieren und prägen. Sie werden in allen Praktiken gehandhabt. Sie sind in der soziologischen Praxistheorie – ähnlich wie die menschlichen Körper – nicht mehr nur Themen der Kommunikation, soziale Konstruktionen des Diskurses oder sinnhafte Projektionen der handelnden Akteure, sondern materielle Bestandteile der Praktiken, die aktiv auf den Vollzug der Praxis wirken. Die Praktik des Lesens von Texten etwa setzt nicht nur einen menschlichen Körper voraus, der fähig ist, Texte visuell wahrzunehmen, sondern auch einen materialisierten Text, der gelesen werden kann. Sind die Manifestationen materieller Texte rar, gibt es also noch keine massenhafte Verbreitung von Texten durch Buchdruck, ist die Praxis des Lesens von Texten eine völlig andere, als wenn Bücher in allen Lebensbereichen massenhaft zugänglich sind, weil sie als auflagenstarke und preiswerte Taschenbücher für fast alle Bevölkerungsschichten erschwinglich werden und durch öffentliche Bibliotheken für jede und jeden erreichbar sind. Und die Praktiken des Lesens dieses Materials setzen nun wieder die massenhafte Inkorporierung der Fähigkeit des Lesens voraus, die sich beispielsweise in Deutschland erst seit etwa 200 Jahren als weit verbreitetes Geschick durchsetzt, das heute prinzipiell von jedem und jeder erwartet werden kann. Praktiken, die körperlich und dinglich verankert sind,

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werden, wie das Beispiel des Lesens zeigt, ganz entscheidend von der Formation der Dinge beeinflusst. Nicht nur menschliche Körper mit inkorporierter Sozialität  – im Beispiel repräsentiert durch die regelmäßig verfügbare LeseFertigkeit – sind für das Entstehen von spezifischen Formationen der Praxis erforderlich, auch die spezifischen Ausformungen der materiellen Dinge – im Beispiel repräsentiert durch die unerschöpfliche Verbreitung von Büchern und anderen Schriftprodukten durch Verlage und Bibliotheken – sind konstitutive Bestandteile der Bedingungen für das Entstehen und die besondere Art der Verkettung von Praktiken. Sieht man dies, wird es neben der gar nicht so banalen Frage, welche Dinge denn nun alle erforderlich sind, damit ein bestimmter Vollzug von Praktiken überhaupt entstehen kann, notwendig zu fragen, wie bestimmte Dinge in den Praxisvollzug geraten sind, wie sie also Bestandteile der sich vollziehenden Praxis werden konnten. Wie wichtig dies neben der Identifikation der praxisrelevanten Dinge und Artefakte ist, zeigt sich, wenn wir beispielsweise unseren Frühstückskaffee zubereiten: Der Kaffee kommt in der Regel aus einer sehr weit entfernt gelegenen Weltregion auf unseren Frühstückstisch, er ist demnach eine globale Komponente der hier zu beobachtenden Praxis. Die Frage, die sich der Praxisforschung stellt, ist, wie diese zwingend notwendige Komponente der Praxis des Kaffeekochens am Morgen auf einen deutschen Frühstückstisch gelangt und wie der menschliche Akteur in die Lage gesetzt wird, diese Komponente in einer Weise zu handhaben, dass sich am Ende des Prozesses ein Genussgetränk auf unserem Küchentisch befindet, von dem wir glauben, dass wir es zum Start in den Tag zwingend konsumieren müssen. Globales wird dadurch lokalisiert (Latour 2007: 299 ff.). Es ist nicht praxisrelevant, wenn es als ein Prinzip der gegenwärtigen Sozialität allgemein definiert wird, wie dies etwa in einigen Globalisierungstheorien geschieht. Wenn Globales sich nicht situativ als Tatsache der Praxis lokalisieren lässt, ist es für die Praxisforschung nicht vorhanden. Und das Kaffee-Beispiel zeigt sehr gut, was alles sichtbar wird, wenn das Globale situativ lokalisiert wird. Neben den Arbeitsbedingungen der Kaffee-Plantage etwa in Guatemala erscheinen uns weitere »Aktanten«, die den Kaffee zu uns bringen: Transportwege und -mittel, entsprechendes Personal, ein Kaffee-Distributionssystem, also ein Weltmarkt für Kaffee mit Preisen und professionellen Großhändlern, Verkaufsstellen für Kaffee am Großmarkt sowie im Einzelhandel, wobei sich diese Liste der aktiven Bestandteile der Praxis des Kaffee-Kochens in einer deutschen Wohnküche unendlich erweitern ließe. Mit den Begriffen Assoziation und Akteur-Netzwerk lässt sich die Bewegung der Versammlung von unterschiedlichen Aktanten nachzeichnen, so dass die Entstehung und Verkettung von materiellen Praktiken als dynamischer Prozess sichtbar wird, der Akteur-Netzwerke als Praxisformationen hervorbringen kann, die zu einer bestimmten Zeit Wirkungen in Form von Praxiseffekten

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entfalten. Denn die materiellen Bestandteile des Akteur-Netzwerkes erzeugen nur durch und in ihrer Versammlung Aktivitäten. Um diese Versammlung der Aktanten zu beschreiben, müssen sie zuerst in den Kontroversen über die Tatsachen (vgl. Latour 2007: 199), also an den Stellen der Praxis identifiziert werden, an denen sie als neu erscheinen und einen hohen Aufwand an assoziativer Praxis in Form von Vermittlungen und Artikulationen erzeugen. Werden Aktanten zu umstrittenen Tatsachen, dringen sie in die Praxisformation ein und verlangen nach Assoziation. Dies ist für viele Dinge inzwischen nur noch schwer rekonstruierbar, weil sie zu unumstrittenen Tatsachen unserer Praxis geworden sind, wenn wir etwa an Automobile, Elektrizität, Kanalisation und andere, wenig umstrittene Tatsachen der Praxis denken. Interessant ist es nun aber, genau bei diesen Selbstverständlichkeiten die Pfade ihres Ankommens in den Praxisformationen zu untersuchen, weil sich dann der Praxiseffekt dieser Aktanten erst annähernd genau verstehen lässt. Die wichtige Frage ist also, wie diese Aktanten, die uns heute selbstverständlich erscheinen, in das Akteur-Netzwerk hineingekommen sind, wie sie also als Tatsachen – als Sachen, die etwas tun – assoziiert werden. Ein Beispiel aus der Praxisformation des Rock und Pop wäre die elektrische Gitarre, die zunächst einmal als Leadinstrument assoziiert werden muss, damit sie diese immense Wirkung auf die Praxisformation des Rock und Pop ausüben kann. Folgt man nun dem Pfad dieses Aktanten, wird man sehr schnell beschreibende Erklärungen darüber erzeugen, wie diese Assoziation sich durch den Neuankömmling der E-Gitarre gewandelt hat. Wichtig ist es nun zudem, diese Beschreibungen auf aktuelle Situationen der Praxis zu beziehen, denn nur dann lassen sich die Praxisvollzüge, die mit den Aktanten verbunden sind, angemessen untersuchen. Damit wären wir bezüglich der Erkenntnisstrategie bei der Methode der Situationsanalyse etwa von Adele Clarke (2005) angekommen, die aber im hier vertretenen Sinne weiterzuentwickeln wäre. Der Anspruch einer derartig ansetzenden kultursoziologischen Erforschung von Praxisformationen ist es dann nicht mehr, wie noch in der Grounded Theory, auf den wirklichen Grund von Phänomenen vorzustoßen und diese in gesättigter Form durch Kategorien zu beschreiben. Der poststrukturalistische Materialismus einer kultursoziologischen Erforschung von Praktiken strebt stattdessen eine tiefe Beschreibung von Praxisformationen an, die unter anderem mithilfe einer Nachzeichnung der Pfade der Assoziation von materiellen Gegenständen in Akteur-Netzwerken vorgenommen wird. Es geht dabei um die »Aufgabe, Verbindungen nachzuzeichnen« (Latour 2007: 426). Das bedeutet nicht weniger, als dass wir, wie Latour es formuliert, »von neuem studieren müssen, woraus wir gemacht sind« (ebd.). Die Soziologie der Praxis hält es, wie hier deutlich werden sollte, nicht für selbstverständlich, woraus die Sozialität besteht. Sie wird nicht substanziell als Kommunikation, Handlung, Interaktion oder eine ähnlich mysteriöse Substanz definiert. Dies hat weitrei-

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chende Konsequenzen für die Definition des soziologischen Gegenstandes, die Latour an zwei Stellen seines Grundlagenwerkes zur Akteur-Netzwerk-Theorie so formuliert: »Sozial zu sein, ist nicht länger eine sichere und unproblematische Eigenschaft, sondern eine Bewegung.« (Ebd.: 21) »Sozial ist kein Ort, kein Ding, keine Domäne oder irgendeine Art von Stoff, sondern eine provisorische Bewegung neuer Assoziationen.« (Ebd.: 410) Die Sozialität ist für die Soziologie der Praxis eine ständige Bewegung der Versammlung von Aktanten, die in ihrem Zusammenwirken Praktiken erzeugen und sich im Verlauf der Praxis immer wieder ändern, weil sie sich ergänzen, neu formen oder durch neue Aktanten substituiert werden. Woraus die Praxis besteht, ist, kurz gesagt, variabel. Dies ist überaus plausibel, wenn gesehen wird, welche Aktanten nur 50 Jahre vor unserer Zeit die Praxisformationen bestimmt haben. Wer hätte vor 50 Jahren auch nur ahnen können, in welch gravierender Weise unsere Praxis heute durch die massenhafte Assoziation von Computertechnik geprägt wird? Schon dieses allen einleuchtende Beispiel macht deutlich, dass sich die soziologische Praxisforschung immer wieder aufs Neue die beiden für sie wichtigsten Fragen stellen muss: was die Bestandteile der Praxis sind und wie diese Bestandteile zusammenwirken. Die zentrale Aufgabe ist es folglich, so viele Aktanten wie möglich zu identifizieren und in ihren assoziativen Verbindungen und Praxiseffekten zu untersuchen. Es geht also um die Beantwortung der Frage, wie man Assoziationen wieder nachzeichenbar machen kann, die Latour (2007: 273) an den Anfang seiner Soziologie der Akteur-Netzwerke stellt. Die Ansatzpunkte für diese Art der soziologischen Forschung sind die vielen Kontroversen über die Tat-Sachen, weil genau hier die materiellen Dinge als Aktanten identifiziert werden können, die als Neuankömmlinge Unsicherheit in der Formation der Praxis erzeugen, die sich in diversen Artikulationen niederschlägt.

3. K örper -D ing -A ssoziationen und die P ar adigmen einer S oziologie der P r a xis Das bisher Gesagte verweist auf etwas sehr wichtiges: Erst das Zusammenspiel der materiellen Körper und der materiellen Dinge erzeugt die beobachtbare Praxis als Vollzugswirklichkeit. Wird die Praxis in dieser Weise als sich dinglich und körperlich konstituierender Prozess untersucht, vermeidet man die scholastische Festlegung von Handlungsintentionen sowie von Struktureigenschaften. Stattdessen wird es möglich, die Bedingungen für das Entstehen von Praktiken vielschichtig und variabel zu bestimmen, ohne dabei theoretische Logiken über die Logik der Praxis zu stellen. Nur so wird Praxis als materielle Vollzugswirklichkeit sichtbar. Eine soziologische Theorie der Praxis setzt folglich bei der Definition der in Praxis involvierten Körper an, um diese

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dann in einem zweiten, eng damit verbundenen Schritt auf die Definition der dinglichen Komponenten der Praxis zu beziehen. In diesem vielfältigen Bedingungsgeflecht für Praktiken müssen prinzipiell alle Bestandteile variabel gesetzt werden, um Verkürzungen in der Bestimmung von Praktiken, die sich zu Praxisformen verketten können, zu vermeiden. Nicht nur die Praxisformen, sondern auch die Bedingungen für die Entstehung von Praxisformen können so in hohem Maße dynamisch gefasst werden. Praxis kann deshalb nicht als Apparatur verstanden werden, die sich immer in gleicher Weise, also deterministisch reproduziert. Mit diesem zentralen Argument weicht die Praxistheorie dem klassischen Problem der Soziologie, das man als Akteur-Struktur-Problem bezeichnen könnte, nicht aus, indem sie es strukturalistisch oder akteurtheoretisch auflöst (siehe hierzu nur Giddens 1984: 193 ff.). Die Soziologie der Praxis zeichnet sich gerade darin aus, dieses Problem in den Mittelpunkt der Erforschung von Praktiken und Praxisformen zu stellen, indem es als Assoziation zwischen sozialisierten Körpern und materiellen Artefakten und Dingen neu formuliert wird. Dinge sind dabei streng genommen nur relevant und existent, wenn sie körperlich wahrgenommen werden, wenn sie also von menschlichen Körpern erfahren werden, so dass sie Gegenstände der Artikulation, also einer praktischen Vollzugswirklichkeit sind. Insofern sind eben alle Dinge materielle Artefakte, sie sind ohne menschliche Aktivitäten eigentlich nicht vorstellbar, womit dann auch die Frage beantwortet ist, wo die Mikroben waren, bevor sie durch die Pasteur zugeschriebenen Experimente mit großen Wirkungen in die Praxisformationen assoziiert worden sind (vgl. Latour 2000: 175). Andererseits sind nun aber im Sinne der Symmetriethese Latours, der ich mich ausdrücklich anschließe, auch menschliche Körper nicht ohne Artefakte vorstellbar. Sie sind nur existent durch die Assoziation mit den materiellen Dingen. Dazu kann man nun erneut das Beispiel Pasteur bemühen: Was wäre Pasteur als Wissenschaftler ohne die Mikroben? Die materiellen Artefakte sind demnach nicht weniger aktiv an der Hervorbringung von Praxisformationen beteiligt als die menschlichen Körper. Um Praxis zu erforschen, müssen somit die unterschiedlichen Aspekte zusammengeführt werden, ohne die eine Praktik nicht hätte entstehen können. Dazu gehören nicht nur die menschlichen Körper, sondern auch die materialen Artefakte und Dinge, ohne die Praktiken nicht ausgeführt werden können. Dieses Zusammenwirken von physischen Körpern mit materiellen Artefakten als Vollzugswirklichkeit mit eigener Qualität lässt sich paradigmatisch wie folgt bestimmen: Die Soziologie der Praxis setzt in ihrer Forschung bei den Praktiken an, die als materielle Ereignisse bestimmt werden. Sie sind die Letztelemente, aus denen sich die Praxis formiert, indem sich Praktiken verketten. Sie sind nicht voraussetzungslos denkbar, entstehen also nicht aus dem Nichts, weil die Vollzugswirklichkeit der Praxis sich nur denken lässt, wenn Praktiken sich verketten, wenn sie sich also an bereits gezeitigte Praktiken

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

anschließen. Mit diesem so gefassten Ereignisparadigma der soziologischen Praxistheorie ist gleichzeitig ausgeschlossen, dass Praktiken als Epiphänomene einer wie immer gearteten Totalität vorgestellt werden können (vgl. hierzu auch Brandom 2000: 154), weil sie als Ereignisse nie ausschließlich der Ausdruck, sondern primär der Ausgangspunkt der Formation der Praxis sind. Denn Praxisformationen können sich nur durch Praktiken bilden, sie sind also keine zeitlosen Gebilde, sondern durch Praktiken erzeugte »Intensitätszonen« der Praxis (Deleuze und Guattari 1992: 37). Wenn Praktiken für etwas stehen, also als Ausdruck der Praxisformation gesehen werden können, sind sie immer zugleich die Ereignisse, welche die Praxis formieren. Sie können daher nicht allein als Bestandteil einer vorab definierten Struktur gefasst werden, weil dies ihrem Ereignischarakter nicht gerecht werden würde (vgl. Laclau und Mouffe 2000: 151). Dieser im Anschluss an das Regelregressargument von Wittgenstein (vgl. 1984: 345; 286–290) zunächst sehr formal bestimmte Begriff der Praktik wird mit Inhalt gefüllt, indem die materielle Beschaffenheit der Praktiken theoretisch definiert wird. Denn Praktiken sind immer körperlich und dinglich verankert, weil jede Praktik nur auf diese Weise entstehen und sich mit anderen Praktiken verketten kann, so dass die eigentümliche Vollzugswirklichkeit der Praxis entsteht, die eben keine abstrakte, sondern eine materielle Qualität hat. Diese paradigmatische Theorieentscheidung, die als Materialitätsparadigma der soziologischen Praxistheorie bezeichnet werden kann, hat nun erhebliche Konsequenzen für die Theoriebildung einer Soziologie der Praxis. Sie zwingt, wie hier ja bereits nachgezeichnet wurde, zu einem neuen Begriff des menschlichen Körpers sowie zu einem neuen Begriff der materiellen Dinge. Akte des Sprechens wie Artikulationen, Schreie, Reden und Gesprächsbeiträge sind als Praktiken ebenso wie Akte der Bewegung, also bestimmte Gesten, das Gehen, das Fahren mit einem Auto oder mit anderen Verkehrsmitteln, die Tanzbewegungen oder auch die Nutzung von technischen Geräten etc. immer körperlich, gehen also von den physischen Körpern als Quellen der Praxis aus, und wirken gleichsam auf diese, indem sie einverleibt und dadurch zu einem Teil der zuständlichen Leiberfahrung werden. Physische Körper, die nicht nur als Gegenstände der Kommunikation oder des Diskurses gefasst werden, sind in der soziologischen Praxistheorie immer doppelt relevant: Zum Einen als Quellen der Praxis, weil von den menschlichen Körpern die Praktiken ausgehen, die sich zu Praxisformen und -formationen verketten und verdichten. Zum Anderen als Speicher der Sozialität, weil sich in ihnen die Praxis einschreibt, die dann als zuständliche Leiberfahrung – also als Habitus – wieder aus ihnen hervorgeht, also quasi in neuer Weise expressiv, folglich sichtbar wird. Sozialität und ihre Symbole verkörpern sich durch die zuständliche Leiberfahrung, die immer mit Ausdruck, also mit Performanz verbunden ist, auch und gerade dann, wenn der expressive Ausdruck und die Performanz

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eigentlich nicht beabsichtigt sind, wenn der Körper also nicht wie etwa im Tanz oder bei anderen Bühnenauftritten aber eben auch in der alltäglichen Stilisierung des Körpers durch Kleidung, Tätowierungen oder Haltungen explizit als Ausdrucksmittel eingesetzt wird. Die zuständliche Leiberfahrung, die uns regelmäßig einnimmt – übrigens auch bei Bühnenauftritten in Form von »Lampenfieber« – und dadurch unsere Teilhabe an Praxis bestimmt, ist in einer Soziologie der Praxis immer ein Produkt der Sozialität, weil sie sich nur durch die Inkorporierungen denken lässt. Das heißt: Die vielfältigen Aspekte der Körperlichkeit, also Inkorporierung, habitueller Ausdruck, Verkörperung und zuständliche Leiberfahrung, bedingen sich in einer Soziologie der Praxis gegenseitig, so dass die Begriffe Körper und Leib nicht, wie in der Denkgeschichte häufig geschehen, entgegengesetzt werden. Ebenso wenig haltbar ist in einem solchen Körperparadigma die Unterscheidung zwischen Körper und Geist. Die Poesis der Akteure geht immer von deren Ganzheit aus, sie ist immer ein Produkt des sozialisierten Körpers. Kognitive und emotionale Aspekte der Körperlichkeit werden gerade nicht getrennt voneinander gefasst, weil dann der fälschliche Eindruck entsteht, die Kognition könne die Emotion beherrschen. Wie unrealistisch eine derartige Fassung des menschlichen Körpers ist, zeigt sich regelmäßig im Vollzug der Praxis, wenn nun gerade in Situationen, in denen die Emotionen eigentlich herausgehalten werden sollen – also etwa in einer wissenschaftlichen Fachdiskussion –, sie sich regelmäßig auf subtile Art und Weise Ausdruck verschaffen. Dieses Beispiel illustriert das grundlegende Paradigma jeder soziologischen Praxistheorie, dass Praktiken immer körperlich verankert sind. Die von den Akteuren ausgehende Poesis ist immer an die sozialisierten Körper (vgl. Bourdieu 1987: 135) gebunden, sie ist nie nur kognitiv zu verstehen, so dass es keinen Sinn ergibt, menschliche Intentionen ahistorisch zu bestimmen. Ebenso unsinnig wäre es, die Körper der Menschen als ahistorische Natur zu fassen. Sie sind immer sozialisiert, weil sie ohne diese Sozialisierung schlicht nicht lebensfähig sind. Auch wenn dies, wie Anthropologinnen einwenden können, möglicherweise für den Vitalschrei des neu geborenen Kindes nicht gilt, ist es doch für die soziologische Praxisforschung notwendig und ausreichend, paradigmatisch festzulegen, dass sie die körperlichen Bestandteile der Praktiken als habituelle Fertigkeiten von sozialisierten Körpern fasst, die sich erst in der Konfrontation mit Praxis als vielfältige Ausdrucks- und Betätigungsformen herausbilden. Körper sind im poststrukturalistischen Materialismus (vgl. Hillebrandt 2015b) der soziologischen Praxistheorie sich wandelnde Produkte der Praxis, ohne die Praktiken nicht möglich sind, weil sie von ihnen ausgehen. Schöpferische Tätigkeiten werden mit diesem Körperparadigma nicht negiert, sondern nur als Ergebnis einer zuständlichen Leiberfahrung gefasst, deren Bedingungen vielfältig sind und von der soziologischen Praxisforschung untersucht werden müssen, um

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

das Schöpferische der Praxis, also die Entstehung des Neuen angemessen als Produkt des Vollzugs von Praktiken untersuchen zu können. Dieser dynamische Vollzug der Praxis lässt sich nicht angemessen erfassen, wenn nicht gesehen wird, dass alle Praktiken konstitutiv dinglich verankert sind. Denn ein Vollzug der Praxis, in dem nur menschliche Körper miteinander assoziiert sind, lässt sich nicht vorstellen. Praktiken sind immer, selbst beim Liebesvollzug zwischen zwei nackten Körpern an einem einsamen Strand, mit materiellen Dingen und Artefakten verbunden, ohne die sie nicht entstehen können. Ebenso wie bezüglich der menschlichen Körper ist die soziologische Praxistheorie auch bezüglich dieser paradigmatischen Grundannahme poststrukturalistisch angelegt. Die materiellen Dinge und Artefakte sind nicht zeitlos gegeben, sie sind Produkte der Praxis, die wiederum auf die Entstehung der Praktiken zurückwirken. Auch bezüglich dieses Dingparadigmas der soziologischen Praxistheorie gilt ganz allgemein, dass sich diese soziologische Forschungsrichtung nicht damit zufrieden gibt, die Dinge quasi immateriell zu bestimmen, indem sie lediglich als Konstruktionen des Diskurses oder Themen der Kommunikation gefasst werden. Soziologische Praxistheorien sehen stattdessen die materielle Verfasstheit jeder Praxis als wichtigen Ausgangspunkt dafür an, ihre Vollzugswirklichkeit angemessen zu erfassen. Und dies gilt selbstredend auch bezüglich der Dinge und Artefakte. Diese sind Bestandteile der Bedingungen für die Entstehung der Praktiken, die sich nur ereignen, wenn sozialisierte Körper und materielle Artefakte in spezifischer Weise assoziiert sind. Stellen sich diese Körper-Ding-Assoziationen ein, ist es eine wichtige Frage der soziologischen Praxisforschung, wie die Assoziation möglich wird. Zu deren Beantwortung ist zu klären, wie die Dinge in die Assoziation mit sozialisierten Körpern gekommen sind, wie sie sich also zu wichtigen Bestandteilen der Praxis gemacht haben. Das Dingparadigma der soziologischen Praxistheorie zwingt soziologische Forschung dazu, den materiellen Dingen der Praxis zu folgen, sie also nicht mehr als selbstverständlich anzusehen, sondern nach ihren Pfaden in die Formation der Praxis zu fragen. Auf diese Weise werden vielfältige Antriebe der Entstehung und des Vollzugs von Praktiken sichtbar. Und nur die Identifikation dieser Mannigfaltigkeit der Quellen der Praxis erlaubt es, die besondere Qualität des Vollzugs der Praxis zu erhellen. Um die theoretischen Mittel zur Soziologie des Vollzugs von Praktiken zu erweitern, bedarf es eines Sinnbegriffs, der auf der Ebene der Praktiken ansetzt und deshalb im Anschluss an Bourdieu (vgl. 1987) nur als praktischer Sinn verstanden werden kann, der sich materiell in der Praxis vollzieht. Das Sinnparadigma der soziologischen Praxistheorie steht also nicht im Gegensatz zur materialistischen Theorieanlage, es stärkt diese vielmehr. Denn Sinn ist nur praktisch erfahrbar, was eben auch für die soziologische Beobachterin der Praxis gilt. Sinn ist folglich nicht abstrakt im intransparenten Bewusstsein von Akteuren zu verorten. Ebenso wenig ist Sinn etwas Ahistorisches, was vor der

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Praxis bereits vorhanden ist. Sinn entsteht in der Praxis und ermöglicht die Assoziation zwischen Körpern und Dingen. Erst wenn den Dingen von den sozialisierten Körpern praktischer Sinn beigemessen wird, entsteht die Handhabe der Dinge, die Körper-Ding-Assoziationen hervorbringt. Sinn manifestiert sich also in der Relation zwischen sozialisierten Körpern und materiellen Dingen. Er dokumentiert sich als Inkorporierung und Verdinglichung. Diese beiden Modi des Sinns werden in der Praxis durch den Vollzug von Praktiken kompatibel gemacht. Kulturelle Formen und Symbole sind in diesem Prozess die materiellen Verdichtungen von Sinn, die die Assoziation zwischen den Körpern und den Dingen wahrscheinlicher machen. So ist die rote Fahne nicht selten eine Aufforderung für bestimmte sozialisierte Körper, sich in Bewegung zu setzen. Auch das Werbeemblem leitet bestimmte Menschen dazu an, einen bestimmten Konsum zu praktizieren. Und die spezifische Symbolisierung der Leitungspositionen in Organisationen hat Folgen für die Praktiken, wenn diese Symbole auch als entsprechende Dispositionen in die Körper eingeschrieben sind. Kulturelle Formen und Symbole sind also im Sinnparadigma der soziologischen Praxistheorie wichtige Vermittler zur Erzeugung von Körper-DingAssoziationen. Dies zeigt sich im Übrigen beispielhaft in der Soziologie sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu (vgl. 1982). Im letzten Schritt zur Entwicklung der wichtigsten Paradigmen einer soziologischen Praxistheorie muss der Umstand betont werden, dass sich Praktiken formieren, dass sie also Praxisformationen bilden, die als Intensitätszonen der Praxis auf Dauer gestellt sind und sich immer wieder erneut ereignen. Dieses Formationsparadigma steht dabei nicht im Gegensatz zum Ereignisparadigma der soziologischen Praxistheorie, weil eine Praxisformation sich nicht ohne die Ereignisse, also die Praktiken denken lässt, durch die sie sich immer wieder neu formieren muss. Mit dem Formationsparadigma betont die soziologische Praxistheorie, dass sich auf Dauer gestellte Regelmäßigkeiten der Praxis nur verstehen lassen, wenn sie in ihrer Formation untersucht werden. Dabei lässt die soziologische Praxistheorie die Theorie funktionaler Differenzierung hinter sich, weil sie Praxisformationen, die sich durchaus um sachliche Themen herum bilden können, nicht als reine Sphären begreift, in denen sich nur eine klar definierbare und von anderen Praxisformen unterscheidbare Form der Praktiken bildet. Ganz im Gegensatz dazu werden die spezifischen Praxisformen der Praxisformationen nur verstehbar, wenn die Versammlung unterschiedlicher Körper-Ding-Assoziationen identifiziert und untersucht wird. Erst dann lässt sich sehen, dass Praxisformationen, die in ihrem praktischen Vollzug von den involvierten sozialisierten Körpern regelmäßig durch Artikulation etwa als Medizin, Rockmusik, schulische Erziehung oder wissenschaftliche Forschung bezeichnet werden, aus diversen körperlichen, dinglichen, symbolischen und diskursiven Bestandteilen bestehen, die in ihrer rhizomischen, also tief und vielfältig verwurzelten Formation in ganz spezifischer Weise zusammenwir-

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

ken. Dies lässt sich an der Medizin ebenso plausibilisieren wie etwa an der Praxisformation des Rock und Pop. Diese auf Dauer gestellten, dynamisch sich formierenden Intensitätszonen der Praxis werden ohne funktionalistische oder strukturalistische Konnotationen in ihrer Entstehung untersucht, ohne dabei vorschnell ahistorische oder generalisierende Schlussfolgerungen zu ziehen, die eine generelle Funktion oder Struktur von Praxisformationen festschreiben würden. Die Soziologie der Praxis ist also alles andere als ein Situationalismus (vgl. Schmidt 2012: 204), der sich nur um den aktuellen Vollzug von Praktiken in spezifischen Situationen bemüht. Zwar werden Praktiken mit guten Gründen nicht als Ausdrucksformen übersituativer Strukturen verstanden. Sie können aber sehr wohl Praxisformationen aktualisieren. Ganz in diesem Sinne ist es dann eine Aufgabe der Soziologie der Praxis, die Gründe dafür zu finden, warum diese Aktualisierung bestimmter Formationen der Praxis wie etwa die praktische Manifestation tatsächlicher, sehr renitenter Ungleichheitsstrukturen regelmäßig geschieht. Dabei ist es dann aber ebenso selbstverständlich, dass das hier gebündelt dargelegte begriffliche Instrumentarium der soziologischen Praxistheorie die Dynamik der Formation der Praxis erfassen will und kann. Die soziologische Praxistheorie ist in ihrer von mir systematisierten Form eine soziologische Theorie des Wandels und der Dynamik. Der poststrukturalistische Materialismus einer Soziologie der Praxis formiert sich also um das Ereignis-, Materialitäts-, Körper-, Ding-, Sinn- und Formationsparadigma als eine soziologische Theorie, die der Dynamik und den Regelmäßigkeiten der Praxis gleichzeitig gerecht wird, indem sie Praxis als materielle Vollzugswirklichkeit fasst, die sich immer wieder aufs Neue als echter Sonderfall in Krankenhäusern, Konzerthallen, Universitäten, am Kiosk, am Strand, im Wald oder auch auf der Straße ereignet. Dass sich Praxis ereignet, kann vorausgesetzt werden, wie sie sich vollzieht, ist hingegen die zu klärende Frage einer Soziologie der Praxis. Die hier systematisch definierten Begriffe sowie die daraus entstehende Theorie mit entsprechenden Paradigmen sind als Instrumentarien zu verstehen, diesen Vollzug von Praxis als spezifische Verkettung von Praktiken soziologisch gehaltvoll zu erfassen. Und diese Instrumentarien müssen ständig reflektiert und erweitert werden, damit eine Soziologie der Praxis auch aktuelle Vollzüge von Praxis angemessen untersuchen kann. Dabei darf die soziologische Praxistheorie meines Erachtens aber nicht hinter die hier von mir hergeleiteten Paradigmen zurückfallen, weil sie dann dem erklärten Anspruch, die besondere Qualität des Vollzugs der Praxis erfassen zu wollen, nicht mehr gerecht würde und deshalb nicht mehr als soziologische Praxistheorie verstanden werden könnte. Und genau dieser paradigmatische Zugang der soziologischen Praxistheorie zur Erforschung der Sozialität ist nun ein wichtiger Grund für die Entwicklung neuer empirischer Methoden oder besser eines ganzen Methodenensembles, mit dem das sinnlich-physische der Praxis den Paradigmen der

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soziologischen Praxistheorien angemessen erfasst werden kann. Denn wenn die besondere Qualität des Vollzugs der Praxis eingefangen werden soll, wird nicht nur eine präzise Gegenstandsbestimmung, wie sie hier versucht wurde, benötigt, sondern auch ein dieser Gegenstandsbestimmung angemessenes methodisches Instrumentarium. Dieses kann nicht bei den klassischen Methoden der qualitativen Sozialforschung stehen bleiben, es bedarf mindestens einer Erweiterung zur Erhebung der körperlichen und dinglichen Elemente der Praxis, die für den praktischen Vollzug konstitutiv sind. Dabei ist zuerst die Frage zu diskutieren, wie vergangene Praktiken, die sich körperlich und dinglich ereignen, angemessen empirisch erhoben werden können, weil sich eine Soziologie der Praxis selbstredend nicht damit begnügen kann, nur gegenwärtig sich vollziehende Praktiken, die sie in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen kann, zu erforschen (vgl. Hillebrandt 2015b). Diese Problematik zwingt zu einer methodischen Diskussion des Verhältnisses zwischen Diskurs und Praxis, weil Diskurse sich auf die vergangenen Praktiken beziehen können, ohne diese selbstredend deckungsgleich abzubilden. Diskurse sind folglich immer gute Quellen zur Erforschung vergangener Praktiken. Eine Diskursanalyse muss aber im Sinne der Praxisforschung mindestens um die Analyse der Artefakte und sozialisierten Körper erweitert werden. Denn ausschließlich diskursive Formationen zu analysieren, wird dem Gegenstand einer Soziologie der Praxis nicht gerecht. Sie müssen in Relation zu den an der Formation der Praxis beteiligten materiellen Aspekten gesetzt werden, so dass sich ein vielschichtiges und variationsreiches Bild der Formation von Praxis zeichnen lässt. Ausgangspunkt dieser empirischen Arbeit sind in der Praxisforschung idealerweise historische Ereignisse, die in ihrer Entstehung als besonderer Vollzug von Praxis untersucht werden können, indem die diversen Bestandteile des Ereignisses identifiziert und in ihrem Zusammenwirken nachgezeichnet werden. Zur Erhebung der dazu nötigen Daten ist der Kreativität zunächst keine Grenze gesetzt. Wichtig ist nur, die materielle Formation der Praxis mithilfe entsprechender Methoden in den Blick zu bekommen. Situationsanalyse, Multi-Sited-Ethnography, Akteur-Netzwerk-Forschung und Habitusanalyse sind hier nur vier der für Praxisforschung vielversprechenden Methodenansätze, die ausgewertet und erweitert werden sollten, um der soziologischen Praxistheorie empirisches Material zu liefern, das die Weiterentwicklung dieser Theorierichtung voranbringen kann. Eine Trennung zwischen Theorie und empirischer Methode wird, wie ja bereits ganz zu Anfang klar gesagt wurde, in einer Soziologie der Praxis strikt abgelehnt. Eine soziologische Theorie ist in der Praxisforschung nie ohne empirische Arbeit möglich und umgekehrt ist die empirische Arbeit nur mithilfe eines theoretischen Instrumentariums zur Bestimmung dessen, was untersucht werden soll, möglich. Es kann nicht einfach nur mit Forschung begonnen werden, ohne theoretisch bestimmt zu haben, was untersucht werden soll.

Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis?

L iter atur Blok, Anders/Jensen, Torben Elgaard (2011): Bruno Latour: Hybrid Thoughts in a Hybrid World, London and New York: Routledge. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brandom, Robert B. (2000): Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Clarke, Adele E. (2005): Situational Analysis. Grounded Theory After the Postmodern Turn, Thousand Oaks: Sage. Deleuze, Gilles und Félix Guattari (1992): Tausend Plateaus, Berlin: Merve. Descola, Philippe (2011): Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp. Douglas, Mary (1988): Reinheit und Gefährdung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (franz. Original 1975). Giddens, Anthony (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt a.M. und New York: Campus (engl. Erstausgabe 1979). Hillebrandt, Frank (2004): Die verborgenen Mechanismen der Materialität. Überlegungen zu einer Praxistheorie der Technik, in: Ebrecht, Jörg/Hillebrandt, Frank (Hg.): Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendung – Perspektiven, zweite Auflage, Opladen/Wiesbaden, VS Verlag, S. 19–45. Hillebrandt, Frank (2014): Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer VS. Hillebrandt, Frank (2015): Die hybride Praxis, in: Kron, Thomas (Hg.): Soziale Hybridität – Hybride Sozialität, Weilerswist: Velbrück (im Erscheinen). Hillebrandt, Frank (2015a): Die Soziologie der Praxis als poststrukturalistischer Materialismus, in: Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript (im Erscheinen). Hillebrandt, Frank (2015b): Vergangene Praktiken. Wege zu ihrer Identifikation, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien: Böhlau (im Erscheinen). Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (2000): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen Verlag. Latour, Bruno (1996): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaft, Berlin: Akademie Verlag. Latour, Bruno (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie (Neuausgabe), Frankfurt a.M.: Suhrkamp (französisches Original 1991). Mauss, Marcel (1978): Techniken des Körpers, in: ders: Soziologie und Anthropologie, Band II, Gabentausch, Todesvorstellung, Körpertechniken, Frankfurt a.M. et al.: Ullstein, S. 199–220. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter. Reckwitz, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 282–301. Schatzki, Theodore R. (1996): Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge (Ma.): University Press. Schmidt, Robert (2012): Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp. Vielmetter, Georg (1998): Die Unbestimmtheit des Sozialen. Zur Philosophie der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. und New York: Campus. Wittgenstein, Ludwig (1984): Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914– 1916, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Zur Notwendigkeit einer praxissoziologischen Methodendiskussion Franka Schäfer, Anna Daniel

Praxisanalytische Zugänge erfreuen sich in den Sozialwissenschaften immer größerer Beliebtheit. Dies zeigt sich zum einen an der Fülle der in den letzten Jahren im Anschluss an die etablierten Ansätze von Giddens, Schatzki und Bourdieu erschienenen Fachliteratur (Brand 2001, Hillebrandt 2009a, Reckwitz 2012, Schmidt 2012, Schäfer, H. 2013, Nicolini 2013) sowie an den zahlreichen Veröffentlichungen im Bereich der Einführungsliteratur, die darauf hinweisen, dass praxisanalytische Zugänge in die sozialwissenschaftliche Kanonbildung aufgenommen werden (vgl. Hillebrandt 2009b, 2014; Schäfer, H. 2014, 2015; Schmidt 2015). Zudem häufen sich interdisziplinäre Ereignisse, wie internationale Tagungen und Symposien, auf welchen Zugänge und Ergebnisse von Praxisforschung unter großer Beteiligung diskutiert werden.1 Somit kann konstatiert werden, dass es nicht mehr nur das Anliegen Einzelner ist, soziale Phänomene mittels eines praxissoziologischen Forschungszugangs in den Blick zu nehmen und Sozialität nicht mehr vom handelnden Menschen und dessen subjektiven Intentionen wie objektiven Zwängen, sondern von der Praxis aus zu denken und die Praktik als kleinste analytische Einheit zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Die Soziologie der Praxis ist somit in der Mitte der Sozialwissenschaften angekommen.

1. V erknüpfung von Theorie und E mpirie  – die zentr ale P r ämisse einer S oziologie der P r a xis Auch wenn die Bezugnahmen und theoretischen Anknüpfungspunkte in den verschiedenen praxissoziologischen Ansätzen sehr unterschiedlich ausfallen und 1 | Tagungen wie »From practices turn to praxeological mainstream« – Wien 2013, »Die Methoden einer Soziologie der Praxis« – Hagen 2013, oder Diskussionsforen wie »Jenseits der Routine – Praxeologische Ansätze zur Analyse sozialer Dynamiken« beim DGS Kongress 2014 in Trier.

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sich die einen eher an Bourdieus Theorie der Praxis orientieren, während andere an die Arbeiten von Schatzki oder Latours Akteur-Netzwerk-Theorie anknüpfen, sind sich alle Beteiligten darüber einig, dass eine praxissoziologische Erkenntnisweise immer auch empirisch erfolgen muss (Hillebrandt 2014: 105). Dass »der practice turn auch immer ein[en] empirical turn« impliziert, ist laut Robert Schmidt sogar ein zentrales Charakteristikum praxissoziologischer Zugänge: »Das heißt, Theorie wird nicht nur um ihrer selbst willen betrieben, sondern vorwiegend als Werkzeug der empirischen Forschung verstanden. Die Theoriearbeit wird der empirischen Analyse weder vorgeschaltet noch nachgeordnet, sondern typischerweise in das empirische Forschen selbst integriert.« (Schmidt 2012: 13)

Eine solche Hinwendung zur Empirie ist bereits im Untersuchungsgegenstand einer Soziologie der Praxis angelegt.2 Denn möchte man der besonderen Qualität der Praxis in ihrer konkreten Vollzugswirklichkeit gerecht werden, bedarf es eines empirischen Zugangs, um die an den Praktiken beteiligten Elemente und Ebenen in ihrer Vielschichtigkeit und Dynamik identifizieren und den Prozess ihrer Formierung beobachten zu können. »Eine Trennung zwischen Theorie und empirischer Methode wird […] in einer Soziologie der Praxis strikt abgelehnt. Eine soziologische Theorie ist in der Praxisforschung nie ohne empirische Arbeit möglich und umgekehrt ist die empirische Arbeit nur mit Hilfe eines theoretischen Instrumentariums zur Bestimmung dessen, was untersucht werden soll, möglich.« (Hillebrandt 2014: 118)

Auf dieses notwendig reziproke Verhältnis von Theorie und Praxis hat bereits Bourdieu hingewiesen, als er auf die ganz eigene Logik der Praxis aufmerksam gemacht hat (vgl. Bourdieu 2009: 228 ff.). Auch für andere Forschungsrichtungen, welche sich der Analyse der Alltagspraxis verschrieben haben, wie etwa die Ethnomethodologie oder die Cultural Studies, kann Theoriebildung nicht ohne den Zugang zur Empirie erfolgen. Hierbei greifen die genannten Forschungsrichtungen auf ein vielfältiges Methodenrepertoire zurück: Bei seinen Analysen habitueller Praktiken bedient sich etwa Bourdieu ganz unterschiedlicher Herangehensweisen und greift sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Erhebungsmethoden zurück. Neben der statistischen Erhebung von Daten über Fragebögen verfolgt er eine ethnografische Analysepraxis im weitesten Sinne: Er betreibt nicht nur teilnehmende Beobachtung und führt Interviews durch, sondern stützt sich in seinen Analysen etwa auch auf Bildmaterial, welches er von den Untersuchungsgegenständen szenisch angefertigt hat (Bourdieu et al. 1981). Für ihn stellen quantitative und qualitative Methoden keinen 2 | Vgl. den Beitrag von Hillebrandt in diesem Band.

Zur Notwendigkeit einer praxissoziologischen Methodendiskussion

Widerspruch da, er versteht sie vielmehr als komplementäre Analysepraktiken, die erst im Zusammenspiel größtmöglichen Aufschluss über die Forschungsfragen geben können (vgl. hierzu auch Schultheis 2007: 48 ff.). Auch ethnomethodologische Forschungsansätze verwenden in ihrem Bemühen, die Methoden aufzudecken, derer sich die Menschen in ihren Alltagshandlungen bedienen, um das Gelingen der Herstellung sozialer Wirklichkeit zu sichern, neben beobachtenden Untersuchungsverfahren mit den sogenannten Krisenexperimenten auch konfrontative Verfahren (Garfinkel/Sacks 1976; Ayas/ Meyer 2012). Sie haben aber auch die Konversationsanalyse als mikroskopische Interaktionsanalyse verbaler Sprechakte gewinnbringend etabliert. Die Cultural Studies greifen auf einen transdisziplinären Methodenpool zurück und verwenden neben ethnografischen, diskursanalytischen und soziologischen auch sprachwissenschaftliche Methoden (Machart 2008: 36 f.). Wie Bourdieu und ethnomethodologische Forschungsansätze plädieren auch die Cultural Studies (Hörning/Reuter 2004) dafür, das jeweilige methodische Setting am spezifischen Untersuchungsgegenstand festzumachen.

2. N ot wendigkeit einer pr a xissoziologischen

M e thodendiskussion

Natürlich ist eine solche Hinwendung zur Alltagspraxis durch die genannten Forschungsrichtungen nicht ohne Folgen für die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft geblieben. So lässt sich nicht nur allgemein eine Hinwendung der Soziologie zur qualitativen Forschung verzeichnen. Auch diese bleibt von einer solchen Perspektivverschiebung nicht unbeeinflusst: Erfreuten sich in der qualitativen Sozialforschung lange Zeit die unterschiedlichen Interviewtechniken als zentrale Erhebungsinstrumente besonderer Beliebtheit, vollzieht sich mit Forschungsrichtungen wie der Chicagoer Schule, der Ethnomethodologie oder den Cultural und Science Studies ein Trend hin zu ethnografischen Verfahren. Mit Bohnsack lässt sich auch feststellen, dass rekonstruktive Verfahren gegenüber hypothesengeleiteten Verfahren in den Sozialwissenschaften immer mehr an Bedeutung gewinnen (Bohnsack 2010: 10 ff.). Als Forschungsrichtung, die dem empirical turn zum Durchbruch verholfen hat, kann auch die Diskursanalyse genannt werden, die mit der Praxisforschung vor allem die Betonung der Materialität der diskursiven Praxis gemeinsam hat (vgl. Schäfer, F. 2013, Wrana 2012) und aktuell immer wieder mit ethnografischen Methoden kombiniert wird (Del Percio 2008). Mit diesem Wandel hin zur qualitativen Sozialforschung steht auch immer häufiger das Wie – also die Frage, wie und was geschieht – und nicht mehr die Frage nach dem Warum im Zentrum des Forschungsprozesses (vgl. Bohnsack 2007: 13). Im Zuge dieses Wandels gerät auch der Prozess der Erhebung und Auswertung empirischer Daten in den

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Fokus der Aufmerksamkeit. Der Ruf nach der Notwendigkeit der reflexiven Begleitung der Forschungsarbeit wird von verschiedenen Seiten laut. So hat etwa Norman Denzin darauf hingewiesen, dass auch die konkrete Forschungspraxis immer performativ verstanden werden muss und entsprechend in die Forschungsarbeit einbezogen werden sollte (vgl. Denzin 2003). Diese neuen Entwicklungen in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft sind zweifellos alle im Sinne einer Soziologie der Praxis und liefern viele fruchtbare methodische Anknüpfungspunkte. Gerade deshalb ist es verwunderlich, dass eine grundlegende Diskussion der Methodenfrage in den Debatten um eine am Praxisbegriff ausgerichtete Soziologie, wie sie seit nun fast einem Jahrzehnt geführt werden, bisher noch nicht erfolgt ist. Während die theoretische Diskussion immer weiter voranschreitet (vgl. Hillebrandt 2014), eine zunehmende begriffliche Konturierung einer Soziologie der Praxis vorgenommen wird und auch das Verhältnis von Theorie und Empirie von Schmidt (2012: 33 f.), aber auch von Hirschauer, Kalthoff und anderen (2013: 34) etwa im Sinne einer symmetrischen, gegenseitigen Durchdringung ausführlich besprochen wurde, sind die Fragen, welches Methodenspektrum sich für eine Soziologie der Praxis als fruchtbar erweist, wo möglicherweise Defizite vorhanden sind und wie das Repertoire konstruktiv erweitert werden kann, noch nicht in ausreichendem Maße diskutiert worden. Gemeinhin werden ethnografische Verfahren als die Hausmethode der Praxissoziologie gehandelt. Reckwitz (2008: 196) spricht etwa von der ethnografischen teilnehmenden Beobachtung als der natürlichen der Praxissoziologie korrespondierenden Methode. Robert Schmidt (2012: 49) plädiert in diesem Sinne dafür, nicht mehr von ethnografischen Verfahren, sondern vielmehr von einer Praxeografie zu sprechen, stehen doch nicht mehr die kulturellen Verfasstheiten unterschiedlicher Ethnien, sondern die Beschreibung sozialer Praktiken und der an der Hervorbringung der Logik der Praxis beteiligten Aktanten und Voraussetzungen im Zentrum des Interesses. Breidenstein et al. erinnern daran, dass es sich bei ethnografischen Verfahren nicht um eine herkömmliche Methode handelt, sondern vielmehr um einen »integrierten Forschungsansatz«, dessen Offenheit sich für die Erforschung von Praktiken in besonderer Weise anbietet: »Regulierend wirkt hier weniger die Präferenz für eine bestimmte Methode oder einen Datentyp als ein feldspezifischer Opportunismus. Man wird etwa Gespräche aufzeichnen, wo ein Feld von Gerede beherrscht wird, Videodaten erzeugen, wo das Zeigen wichtig ist, Dokumente erheben, wo Akten vorherrschen, keine narrativen Interviews machen, wo es keine guten Erzähler gibt usw. Die erzeugten Datentypen sind also davon abhängig, wie sich ein Feld primär darbietet: eher arm oder reich an Schriftdokumenten (wie eine Behörde), an stummen Praktiken (wie eine Sportart), an Erzählungen (wie eine Dorfgemeinschaft) usw.« (Breidenstein et al. 2013: 34).

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Zweifellos ist es gerade die große Variabilität aber auch die zirkulär angelegte Vorgehensweise, welche ethnografische Verfahren für eine Soziologie der Praxis so vielversprechend macht. Dem Untersuchungssetting entsprechend können verschiedene Datenerhebungsverfahren miteinander kombiniert werden. Eine Diskussion darüber, welche Analyseverfahren sich für welche Untersuchungsgegenstände und Datentypen in besonderer Weise eigenen, kann sich im Rahmen der am Begriff der Praxis orientierten Soziologie als äußerst fruchtbar erweisen. Dabei wird in der bisherigen Forschungspraxis nicht ein zwangloses anything goes gefeiert, sondern methodologische Prämissen werden reflektiert (Breidenstein et al. 2013). So ist etwa zu begrüßen, dass mit der Hinwendung zu ethnografischen Analysemethoden die Konzentration auf Befragungsverfahren, die in der qualitativen Sozialforschung lange Zeit vorherrschend waren, aufgelockert wird. Denn eine Soziologie der Praxis darf sich nicht in erster Linie an der Reflexionsleistung der Individuen orientieren, sondern muss vielmehr an der materiellen Vollzugswirklichkeit der Praxis ansetzen. Auch Schmidt führt auf sehr anschauliche Weise aus, wie ein praxeografisches Forschungsprogramm ansetzen müsste, und weist in Bezug auf die performative Dimension insbesondere auf die Temporalität, die Körperlichkeit und die Materialität sozialer Praktiken hin (vgl. Schmidt 2012: 51 ff.). Er präsentiert den praxissoziologischen Ansatz gleichsam als methodologischen Zugang (vgl. ebd.: 263). Welche methodischen Prämissen sich aus einem solchen Zugang ergeben, welches Methodenrepertoire einer Soziologie der Praxis hierbei zur Verfügung steht und wie altbewährte Verfahren einem praxissoziologischen Analysefokus angepasst werden müssten, wird jedoch von Schmidt nur ansatzweise diskutiert. Zwar weist Schmidt darauf hin, dass Beobachtungsund Befragungsverfahren neu ausgelotet werden müssten. So sollte etwa dem Interview nicht länger »der Status eines epistemologischen Schlüssellochs« zukommen, sondern man sollte vielmehr die performative Dimension des Interviews in der Analyse mitberücksichtigen (ebd.: 267). Auch macht er auf die Fruchtbarkeit von Analyseperspektiven, wie die der Multi-Sited-Ethnography und einer Soziologie des Visuellen aufmerksam (vgl. ebd.: 228; 256), sein eigener Fokus bleibt jedoch in erster Linie auf die teilnehmende Beobachtung als probates Analyseverfahren einer Soziologie der Praxis gerichtet. Mit der Konzentration auf Verfahren, die einen direkten Feldzugang voraussetzen, geht jedoch auch eine Verengung des Analyseblickwinkels einher: Hier wird immer von einer unmittelbaren Teilnahme der Forschenden am praktischen Vollzugsgeschehen ausgegangen, vergangene Praktiken können mittels ethnografischer Verfahren nur schwerlich erhoben werden. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erscheint es uns sinnvoll, die Diskussion über die Methodologie und das Methoden-Repertoire einer Soziologie der Praxis auf systematische Weise aufzurollen: Unseres Erachtens reicht es nicht aus, sich in allgemeiner Weise einem ethnografischen bzw. praxeogra-

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fischen Forschungsverständnis zu verpflichten, ganz im Sinne der im Gegenstand der Praxistheorien begründeten Skepsis gegenüber abgeschlossenen Systematisierungen der Theoriebildung muss eine hieraus abgeleitete Methodologie für Offenheit und Innovation und gegen jeglichen Methodenzwang plädieren. Vor allem der Anspruch der Praxisforschung, sich nicht für die mentalen Leistungen menschlicher Akteure, sondern vielmehr für deren leibliche Verfasstheit zu interessieren, zieht die Konsequenz nach sich, Wege zu finden, wie diese Aspekte in die empirische Analyse integriert werden können. Eine Forschungsrichtung, die die praktischen Ensemble in ihrer materiellen Verfasstheit ins Zentrum ihrer Analyse rückt, muss also auch diskutieren, welche Untersuchungsmethoden im Besonderen in der Lage sein könnten, das situative Setting, die relevanten Artefakte, Symbole und diskursiven Elemente der Praxis in den Blick zu nehmen. Zudem ist es für eine historisch ansetzende Soziologie der Praxis von zentraler Bedeutung, auf Methoden zurückgreifen zu können, die nicht die unmittelbare Präsenz des Forschenden im praktischen Vollzugsgeschehen, wie dies bisher in Form partizipierender Feldforschung praktiziert wird, voraussetzen, sondern es ermöglichen, anhand von Dokumenten und Artefakten historische Ereignisse rekonstruktiv zu analysieren. Für die Fundierung einer Soziologie der Praxis ist es deshalb gerade wichtig, das herkömmliche Methodenspektrum der qualitativen Sozialforschung zu erschließen und zu erweitern. In diesem Sinne muss auf systematische Weise diskutiert werden, inwiefern ein praxisanalytischer Forschungsansatz auf bewährte Analyseverfahren – etwa auch der Ethnomethodologie oder der Cultural Studies – zurückgreifen kann, inwiefern es aber auch unabdingbar ist, die Erhebungs- und Auswertungsmethoden zu modifizieren. Auch das Innovationspotenzial neuerer Untersuchungsmethoden gilt es natürlich praxissoziologisch auszuloten. Diese Diskussion soll jedoch nicht gemäß einer ordnenden Systematik geführt werden, vielmehr gilt es, das methodische Repertoire, welches einer Soziologie der Praxis zur Verfügung steht, zu erschließen. Vorher ist es jedoch notwendig, die besonderen Herausforderungen eines praxissoziologischen Analyseansatzes zu diskutieren.

3. D ie H er ausforderungen einer S oziologie der P r a xis Für das ambitionierte Unternehmen, die Weiterentwicklung des Methodenspektrums einer Soziologie der Praxis anzustoßen, ist es zunächst notwendig, sich die Herausforderungen zu verdeutlichen, vor die ein praxisanalytisch ansetzender Forschungsansatz die Forschenden stellt. Denn die Ansprüche und daraus resultierenden Schwierigkeiten, mit denen Praxisforscherinnen in der konkreten Forschungspraxis konfrontiert sind, geben auf der Suche nach geeigneten Methoden, mit denen es am besten gelingen kann, den theoretischen

Zur Notwendigkeit einer praxissoziologischen Methodendiskussion

Anspruch der Soziologie der Praxis in einem symmetrischen Verhältnis zur empirischen Fundierung einzuholen, die Richtung vor. Die Herausforderungen, denen sich eine praxissoziologische Methodendiskussion stellen muss, ergeben sich hierbei insbesondere aus den folgenden vier Prämissen einer Soziologie der Praxis: 1. Der Ansatzpunkt der empirischen Forschung ist die Praxis in ihrer materiellen Vollzugswirklichkeit. 2. Die Vielschichtigkeit der sich formierenden unterschiedlichen Praxisformationen muss gesehen werden. 3. Der praktische Sinn ergibt sich in der Relation der Praxiselemente im formierten Vollzug. 4. Praktiken existieren nur als Folgepraktiken und sind ereignishaft. Anhand dieser vier Prämissen skizzieren wir im Folgenden, was es bei einem praxisanalytisch ansetzenden Forschungszugang in methodologischer Konsequenz zu beachten gilt.

3.1 Die Praxis in ihrer materiellen Vollzugswirklichkeit Wie bereits deutlich geworden ist, muss der Ansatzpunkt jeder praxissoziologischen Analyse die Praxis in ihrer Vollzugswirklichkeit sein. Im Gegensatz zu ähnlich ansetzenden Forschungsrichtungen, denen es in erster Linie um kognitive Produktionsleistungen der an den Praktiken beteiligten Menschen geht, muss eine am poststrukturalistischen Materialismus ausgerichtete Praxissoziologie konsequenterweise immer bei der physischen Dimension der Praxis ansetzen. Die Forschenden müssen deshalb die Materialität der an den Praktiken beteiligten Körper, Artefakte und Diskurse in den Blick nehmen. Denn erst durch die materielle Verfasstheit der Praktiken werden diese für den Forschenden sichtbar. Aus diesem Materialitätsparadigma heraus (vgl. Hillebrandt 2014: 111) ergibt sich ein für die soziologische Praxisforschung kennzeichnendes Postulat: In der aus dem spezifischen Gegenstand abgeleiteten methodischen Konsequenz heißt dies, dass das, was sich nicht physisch materialisiert, auch nicht zum Forschungsgegenstand einer Soziologie der Praxis wird. Was also im Bereich der Intuitionen, Meinungen, Denkmuster usw. liegt und in herkömmlichen qualitativen Forschungsrichtungen über Interviews und fragende Methoden erfasst wird, bleibt in der Praxisforschung ausgeklammert. Nur die physische Materialität dieser Intentionen oder Strategien oder Meinungen, also deren Niederschlag in der physischen Verfasstheit der Dinge, Körper und Artefakte erhält empirische Relevanz für die soziologische Erforschung der Praxis. Dies gestaltet sich mit den herkömmlichen Methoden

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qualitativer Forschung auf den ersten Blick nicht immer ganz einfach, wenn gerade die klassischen Formen des Interviews vermieden werden sollen. Die situativen Ensemble oder, um mit Latour zu sprechen, die jeweiligen Assoziationen im Praxisvollzug erweisen sich dabei zudem als äußerst heterogen, und der empirisch forschende Blick muss nicht nur auf die an den Praktiken beteiligten menschlichen Akteure und deren sozialisierte Körper, sondern auch auf die Artefakte und Dinge ebenso wie auf die diskursive Dimension der Praktiken gerichtet werden. Die von Hillebrandt in diesem Band bereits ausführlich behandelte Spezifik des Gegenstandes einer Soziologie der Praxis fordert somit die Forschenden bereits allein dadurch heraus, dass empirische Erhebungen in der Konsequenz ausschließlich auf die physische Dimension der Praxis zielen. Es stehen also nicht, wie bisher, Menschen oder auch kollektive Akteure und deren selbstbestimmtes Handeln im Zentrum des Interesses, sondern eben die materielle Verfasstheit der an den Praktiken beteiligten Körper-Ding-Assoziationen und diskursiven Elemente in ihrer praktischen Vollzugswirklichkeit. Dies verlangt nicht nur eine Distanzierung von anthropozentrischen Forschungsstilen, sondern die Forschenden werden selbst herausfordert, gewohnte Denkmuster zu überwinden, sollen doch insbesondere auch die Dynamiken und Überraschungseffekte der Praxis ernst genommen werden. Die drei weiteren hier angeführten Herausforderungen der Vielschichtigkeit, des praktischen Sinns im formierten Vollzug und der Ereignishaftigkeit der Praktiken als Folgepraktiken, ziehen vor allem erhebungs- und auswertungstechnische Herausforderungen nach sich.

3.2 Die Vielschichtigkeit der sich formierenden Praxis Die Vielschichtigkeit der sich aus den sozialisierten Körpern, Dingen, Artefakten und Diskursen formierenden unterschiedlichen praktischen Ensembles stellt in unserem Verständnis eine der größten Herausforderungen im Forschungsprozess dar, muss doch versucht werden, den unterschiedlichen Materialien3 organischer Körper, dinglicher Artefakte und diskursiven wie visuellen Elementen (vgl. Prinz 2014) auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die jeweiligen Praxisformen in Relation zueinander gerecht zu werden. Wenn auch das Denken in Relationen spätestens mit Bourdieu in der soziologischen Forschung etabliert wurde, muss diese auf Positionen menschlicher Akteure in hierarchisch zueinander angeordneten Feldern im sozialen Raum bezogene Denke auf Körper-Ding-Assoziationen ausgeweitet und die Relationalität der Praxiselemente zueinander in den Fokus genommen werden. Sowohl bei der Erhebung als auch bei der Auswertung der erhobenen Daten ist es unabding3 | Vgl. auch den Beitrag von Schürkmann in diesem Band.

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bar und hilfreich, sich an zwei auf den ersten Blick sehr simpel anmutenden Fragen zu orientieren: 1. Was musste alles zusammenkommen, um diese Praxis hervorzubringen? 2. Was passiert, wenn ein zusätzliches Artefakt, ein Diskurs, ein sozialisierter Körper zu den bereits versammelten Aspekten hinzukommt? Die Soziologie der Praxis richtet die Aufmerksamkeit auf die Formation einzelner Elemente von Praktiken in ihrer Verkettung und interessiert sich dafür, was passiert wenn Einzelpraktiken zu der Formation hinzukommen und dafür andere herausfallen. Diese Sensibilität weitet sie in gleicher Weise auf die zeitliche Dimension aus, wenn der Zeitpunkt des Hinzukommens oder Ausbleibens von Praxiselementen für die Genese einer Praxisformation praxissoziologische Relevanz erhält. Nicht nur das was, sondern auch das wann bestimmt die relationale Bedeutung der Formationselemente und beeinflusst den dynamischen Prozess der Formierung von Praktiken zu über einen längeren Zeitraum stabilen Praxisformationen bzw. deren Destabilisierung und Neuformierung. Für die im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes angestoßene Methodendiskussion ergeben sich aus dem skizzierten Forschungsanspruch, an der materiellen Dimension der praktischen Vollzugswirklichkeit anzusetzen, um so der Vielschichtigkeit und Dynamik der Praktiken gerecht zu werden, folgende Konsequenzen: Für eine in der Gegenwart ansetzende Forschung sind für die Identifizierung der an den Praktiken beteiligten Elemente Methoden mit unmittelbarem Feldzugang gegenüber befragenden Methoden und solchen der Sekundärdatenanalyse klar im Vorteil, da durch eine physische Anwesenheit und das Involviertsein des Forschenden in die Praxis die an den Praktiken beteiligten organischen wie nicht-organischen Körper und materialisierten Diskurse situativ im Vollzug identifiziert werden können. Da dabei natürlich nicht alle Elemente gleichzeitig in den Blick genommen werden können, ist es fast unumgänglich, soweit möglich, die Praktiken in ihrem situativen Zustandekommen aufzuzeichnen, um die unterschiedlichen Elemente auch noch zu einem späteren Zeitpunkt genauer zu analysieren und im Eifer des Gefechts übersehene Praxiselemente zu erfassen. Videoaufzeichnungen sollten auch historisch ansetzenden Forschungsprojekten zur Verfügung stehen, lassen sich doch am bewegten Bild die die Praxis konstituierenden Elemente in ihrer praktischen Vollzugswirklichkeit vielversprechend rekonstruieren.4 Bei der weiteren Auswertung sowohl der audiovisuell erhobenen oder dokumentari4 | Hierbei geht gegenüber der Live-Soziologie (Scheffer/Schmidt 2013) und teilnehmenden Beobachtung allerdings die physische Dimension des Geruchs und der Temperatur verloren.

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schen Daten kann hierbei z.B. auch auf die Methode der Situationsanalyse von Adele Clarke zurückgegriffen werden.5 Clarkes postmoderne Weiterentwicklung der Grounded Theory kann sich nicht nur für die Identifizierung der an den Praktiken beteiligten diskursiven Elemente und deren Positionierung zu sozialen Arenen als fruchtbar erweisen, Clarke nimmt trotz der handlungstheoretischen Grundlagen der herkömmlichen Grounded Theory neben den menschlichen Akteuren auch sogenannte nicht-menschliche Akteure wie etwa Technologien, Diskurse, historische Dokumente, bildliche Darstellung usw. in den Blick und ermöglicht bei praxistheoretischer Erweiterung der Methode, mittels unterschiedlicher Techniken der Kartografierung Aufschlüsse über die Positionierung der an Praktiken beteiligten Elemente und deren Verkettung zu Praxisformationen zu geben. Nach der Identifizierung der unterschiedlichen die Praxis konstituierenden Elemente und Dimensionen muss dann in einem zweiten Schritt über eine erweitertes, an den konkreten Untersuchungsgegenständen ausgerichtetes methodisches Setting nachgedacht werden. Auch hier steht ein reichhaltiges Repertoire an Methoden und bewährten Forschungsrichtungen zur Verfügung: Wird der Blick auf die die Praxis konstituierenden Körper gerichtet, erweisen sich Bourdieus Arbeiten zum Habitus als wegweisend. Es kann aber auch auf die Soziologie des Körpers zurückgegriffen werden, die sich in den letzten Jahren nicht nur als eigene Forschungsrichtung etabliert hat, sondern auch ihr methodisches Vorgehen stetig erweitert hat (Abraham 1998, 2010; Gugutzer 2004, 2006). Für die Untersuchung der Artefakte und Dinge kann hierbei auf die sich auch in methodischer Hinsicht in den letzten Jahren profilierende Forschungsrichtung der Akteur-Netzwerk-Theorie zurückgegriffen werden (Latour 2007; Wiesner 2012; Bark in diesem Band). Auch die von Lueger entwickelte Artefakt-Analyse ermöglicht ein für die Untersuchung von dinglichen Gegenständen sehr vielversprechendes methodisches Vorgehen, welches verschiedene Schwerpunktlegungen bei der Untersuchung eröffnet (Lueger 2010). Für die Untersuchung von Medien und Diskursen stellen die etablierten Forschungsrichtungen der Medien- und Diskursanalyse ein reichhaltiges Repertoire an Methoden zur Verfügung. Zweifelsohne besteht auch hinsichtlich der methodischen Mittel der Ethnografie (Breidenstein et al. 2013), der Ethnomethodologie (Ayas/Meyer 2012) und den Cultural Studies (Frank 2002) die begründete Annahme, dass diese unter der Voraussetzung einer praxistheoretischen Erweiterung des Analysefokus hin zu einem von anthropozentrischen Kategorien distanzierten und die Hierarchien zwischen den Praxiselementen flach haltenden Fokus Potenzial bergen, der Vollzugswirklichkeit und Vielschichtigkeit der Praxis empirisch nahe zu kommen.

5 | Vgl. auch den Beitrag von Both in diesem Band.

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Welche Methoden sich für welche Untersuchungsgegenstände in besonderer Weise bewährt haben, wird in den folgenden Beiträgen des Sammelbandes im Detail ausgelotet. Hierbei erweisen sich jedoch noch zwei weitere Herausforderungen von Bedeutung: Die praktischen Sinn generierenden Relationen der unterschiedlichen Praxiselemente im formierten Vollzug und die Tatsache, dass Praktiken nur als Folgepraktiken existieren und in der Konsequenz eine diachrone Analyseperspektive einfordern, was bei der Methodenwahl ebenfalls zu berücksichtigen ist.

3.3 Der praktische Sinn im formierten Vollzug der Praktiken Neben der bloßen Identifizierung der an den Praktiken beteiligten Elemente muss aufgrund der Tatsache, dass die Praxisforschung keinesfalls die Sinndimension vernachlässigt, sondern davon ausgeht, dass Praxis grundsätzlich und konstitutiv mit Sinn verbunden ist, das Verhältnis der formierten Praktiken und innerhalb dessen die Relationen der Elemente der Praktiken zueinander in ihrem Zusammenwirken analysiert werden. Denn mit ihrer Entstehung als konstitutive Ereignisse der Sozialität aktualisieren Praktiken symbolische Formen und andere Verdichtungen der Sozialität. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine Herausforderung des praxisanalytischen Vorgehens, gilt es doch, die Vorstellung von rational handelnden Akteuren hinter sich zu lassen und den Blick vielmehr auf die vielfältig geschichteten Praktiken und Praxisformen zu legen, um der Komplexität der Sinnproduktionen gerecht zu werden. Gleichwohl lässt nämlich auch eine an der materiellen Vollzugswirklichkeit ausgerichtete Praxisforschung Rückschlüsse über die Generierung von praktischen Sinnformationen zu. Mit Schmidt lässt sich diesbezüglich festhalten: »Folgt man dieser Sichtweise, dann sind Strukturen und Dispositionen, die in sozialisatorischen Prozessen vermittelt werden, etwa als körperliche Routinen, Haltungen und Bewegungsmuster, als sich zeigende, je besondere Formen körperlicher Auf- und Ausführungen in den Praktiken selbst kodiert. Sie liegen im praktischen Vollzugsgeschehen offen zu Tage«. (Schmidt 2012: 216)

Die den Praktiken inhärenten Zuschreibungen und Konstruktionen von Sinn sind jedoch höchst variabel. Mit Butler wird angenommen, dass die Praktiken und Ereignisse niemals eine vollständige Wiederholung vorangegangener Praktiken sein können (Butler 2006: 252). Laclau und Mouffe plädieren aus diesem Grund dafür, das Augenmerk auf die Artikulationen zu richten, erzeuge doch die »Praxis der Artikulation« (Laclau/Mouffe 2000: 151) erst die Verdichtungen von Sinn, die sich durch einen weiteren Vollzug von Praktiken zu Symbolen der Praxis formen, die dann als Ausgangspunkte für die Initiierung weiterer Praktiken dienen können. Geschieht dies, werden die symbolischen

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Formen jedoch immer zwingend variiert, da die Praktiken nie in Gänze zu wiederholen sind (vgl. Hillebrandt 2014: 102 f.). Um die Komponente des praktischen Sinns für die empirische Forschung wieder auf eine simple Anforderung an das zu erhebende empirische Material zu bringen, ist danach zu fragen: 1. Was machen die/bzw. was macht das Praxis-Element, z.B. der Körper, das Artefakt oder die Körper-Ding-Assoziation, ganz im Sinne von was macht denn da eigentlich was? 2. Also was formiert sich und erweist sich als konstitutiv für bestimmte Praktiken? In Symbolen und kulturellen Formen wird Sinn in Praktiken sichtbar und somit für empirische Arbeit erhebbar. Deshalb müssen in der Analysearbeit Formationen sich materialisierender Diskurse, Artefakte und sozialisierter Körper mit Symbolcharakter in den Blick genommen werden und Daten erhoben werden, die es ermöglichen, Praktiken mit Symbolwirkung zu identifizieren, in denen sich der praktische Sinn zu kulturellen Formen verdichtet. Sinnhaftigkeit wird immer erst im praktischen Vollzug durch die konkrete Zusammensetzung der unterschiedlichen Praxiselemente und eben nicht durch vorgelagerte Sinnstrukturen oder gar auf der Folie impliziter Intentionen menschlicher Akteure erzeugt. Die klassische Aufteilung zwischen Bewusstsein und Körper, Denken und Handeln, implizitem und explizitem Sinn aufhebend, gilt für ein praxissoziologisches Forschungsverständnis, dass der praktische Sinn, der im Vollzug der Praxis generiert wird und gleichzeitig Praktiken hervorbringt, empirisch wiederum nur in der physischen Dimension der Praxis identifiziert werden kann. Natürlich nehmen die sozialisierten Körper der Menschen gegenüber den Gegenständen eine zentrale Stellung ein, aber eben nur assoziativ zur dinglichen und diskursiven Artefaktebene der Praxis. Man muss die sonst als Intentionen kommunizierten Reflexionsleistungen der Menschen lediglich als Effekte und nicht als Voraussetzungen von Praxis erheben. Entsprechend geht es in der konkreten Forschungspraxis darum, möglichst viele Praktiken in ihren Formationen in den Blick zu bekommen und diese in Relation zueinander zu analysieren, da erst in der Relation der Einzelpraktiken zueinander der praktische Sinn hervorgebracht wird. Neben der Identifikation von Symbolen bergen methodische Erhebungen von Körperhaltungen, der Gestik und der Mimik bezüglich der körperlichen Verfasstheit der menschlichen Akteure und der physischen Reaktionen auf Neuformierungen empirisches Potenzial zur Analyse des praktischen Sinns, wenn sich beispielsweise herkömmliche Praxisformationen transformieren und neue Elemente integrieren oder andere ausschließen, was die Logik der Praxis für die so-

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zialisierten Körper irritiert, deren Habitus sich nur temporär verzögert anpasst. Diese Irritation äußert sich wiederum auf der physischen Ebene und bringt körperliche Reaktionen wie Schwitzen, emotionale Regungen, Körperhaltungen oder auch andere Verknüpfungen mit Technologien zu Körper-Ding-Assoziationen hervor. Hier bieten sich weiterführende Überlegungen zur sozialisierten Leiblichkeit der beteiligten Körper an, da vor allem als leibliche thematisierte Reaktionen menschlicher Körper auf eine geringe oder enorme Bedeutung von Praktiken und deren jeweiligen Elemente für die Praxis hindeuten. Hier sind natürlich schon seitens der Habitustheorie Bourdieus bedeutende methodische Ansatzpunkte einer Soziologie des Körpers geschaffen worden (vgl. Brake 2013). Darüber hinaus muss man jedoch auch jenseits der Körper fragen: 1. Worauf verweisen die Dinge, Artefakte und Diskurse als Elemente eines bestimmten Ereignisses? 2. Welche diskursiven oder visuellen Artefakte erhalten z.B. Symbolcharakter in bestimmten Praktiken und stabilisieren oder transformieren die Praxisformation? Methodisch steht diesbezüglich bereits eine breite Palette an Erhebungsinstrumenten zur Verfügung: die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse im Allgemeinen, und vor allem in der an Foucault anknüpfenden Form der Dispositivanalyse im Speziellen, die den Primat des Diskursiven gegenüber nicht diskursiven Praktiken überwindet und den Diskurs als Praktiken der Formierung von Aussagen in Relation zu dinglichen und nicht repräsentierenden Artefakten als Praxis hervorbringend fasst (vgl. Foucault 1978; Schäfer, F. 2013: 101). Weiterhin weisen die Akteur-Netzwerk-Theorie und die visuelle Soziologie (Burri 2008; Prinz 2014) Wege auf, die Logik der Praxis über die Analyse der Formierung der materiellen und visuellen Praxiselemente zu ergründen. Methoden der teilnehmenden Beobachtung sind wiederum im Vorteil, um den praktischen Sinn anhand seiner konkreten Materialisierungen in der praktischen Vollzugswirklichkeit und eben nicht als rückwirkend abgefragte reflexive Leistung der menschlichen Akteure zu identifizieren. Solche nach dem Warum fragende Methoden können lediglich als Ergänzung und mit verändertem, auf Praxisdimensionen erweiterten Analysefokus zum Einsatz kommen. Während aber traditionellerweise der Fokus bei diesen Erhebungsmethoden auf die Beobachtung gelegt wird und somit nur das Seh- und Hörvermögen der Forschenden in Anspruch genommen wird, sollten die praxissoziologisch Forschenden auch darüber hinaus in ihrer leiblichen, sinnlichen und emotionalen Verfasstheit als Erkenntnissubjekte ernst genommen werden (vgl. Gugutzer 2004: 14–18; vgl. auch Abraham 2002). Im hier vertretenen Verständnis einer empirischen Soziologie der Praxis sollten ebenso die olfaktorischen, gustatorischen und taktilen Sinne wie auch die physische Verfassung

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des Körpers im Prozess der empirischen Forschung als Datenlieferantinnen fruchtbar gemacht werden. Die methodischen Debatten um eine Soziologie des Körpers (vgl. Gugutzer 2004), aber auch die Emotionssoziologie bieten hier bereits fruchtbare Anknüpfungspunkte (Senge/Schützeichel 2012). Die Reflexion über das körperliche Befinden der Forschenden kann bei der Analyse gegenwärtiger Praktiken vor allem im Sinne einer Live-Soziologie vorgenommen werden. Ein solches Verfahren wurde von Thomas Scheffer und Robert Schmidt bereits erprobt (Scheffer/Schmidt 2013). Mindestens zwei Forschende befinden sich hier als Partizipanten eines konkreten Ereignisses über Funk im ständigen Austausch über die sie umgebenden Praktiken und die an den Praktiken beteiligten Elemente, was die eigenen sozialisierten Körper einschließt. Auf diese Weise können nicht nur die Dynamiken des Prozessgeschehens eingefangen werden, sondern auch, wie sich diese auf den eigenen Körper auswirken und wie sie in den Analyseprozess der Herausbildung der Praxisformation einbezogen werden können.

3.4 Ereignishafte Praktiken als Folgepraktiken Eine vierte und möglicherweise nicht die letzte Herausforderung, der sich eine Soziologie der Praxis zu stellen hat, ist die, dass Praktiken als Letztelemente der Praxis materielle Ereignisse sind und definitionsgemäß nur als Folgepraktiken existieren. Praktiken sind also nur im Ensemble mit der Materialität des Raumes und den diese Materialität hervorbringenden vorausgehenden Praktiken zu fassen. Praktiken ereignen sich in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Setting, das in die Erhebung einbezogen werden muss. Auch wenn der Analysefokus auf die konkrete Vollzugswirklichkeit der Praktiken gelegt wird, kann dies aber keinesfalls bedeuten, dass man sich bei der Analyse auf das spezifisch lokale und synchrone Setting des Vollzugs beschränkt. Vielmehr erfordern die zahlreichen Verkettungen von Praktiken zu Praxisformationen eine diachrone Analyseperspektive, da die im Fokus stehenden Praktiken immer gegenwärtige Effekte bereits vergangener Praktiken und Attraktoren hierauf folgender Praktiken sind. Für die konkrete Forschungsmethode bedeutet das, dass  – mit Latour  – den Aktanten und Mittlern über das spezifische lokale Setting hinaus gefolgt werden muss: Die Geschichte des Zusammenkommens von Praktiken in spezifischen Formationen muss sowohl hinsichtlich der vergangenen Geschichten der einzelnen Praxiselemente als auch hinsichtlich der Praxiswirkungen dieser Assoziation erzählt werden. Dies ist Bedingung der Auswahl von Ereignissen, die sich als präzedenzlose Ereignisse mit Anschlusscharakter und damit als Ausgangspunkte von Forschungstätigkeiten qualifizieren, da Praktiken Konstitutionsereignisse von Praxisformen und -formationen sind, deren Zustandekommen nicht vorab theoretisch erklärt werden kann. Auf diese Weise kann man nicht nur Aufschluss über die Dinge,

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Diskurse, Symbole und deren Verkettungen zu Praxisformen erhalten (was macht da was?), sondern man erfährt auch, wie sich die unterschiedlichen Elemente erfolgreich zu einer bestimmten Praxisformation assoziieren konnten (Was musste zusammenkommen? Was hat bis dahin gefehlt? Wo kommt das Element her? Und was kommt im Anschluss hinzu?). Einem poststrukturalistischen Forschungsverständnis folgend, müssen die Praktiken deshalb gerade hinsichtlich ihrer historischen Bedingtheit untersucht werden, um eine Bricolage herzustellen, aus der sich der Vollzug der Praxis speist. Insofern muss in der Diskussion der Methoden einer Soziologie der Praxis thematisiert werden, wie sich Praktiken in ihrer historischen Bedingtheit methodisch fassen lassen, ohne dass man von einem Geschichtsverständnis im Sinne Foucaults Geschichte der Gegenwart abweicht (Foucault 1987; Honneth/ Sahr 2008). Während man bei Ereignissen in der Gegenwart als Forschende körperlich präsent sein kann und die Physis der Praxis quasi sinnlich erhebt, ist man bei historischen Ereignissen dagegen auf dokumentarisches Material angewiesen, um das spezifische Ereignis praxisanalytisch zu analysieren. Ideal ist es, wenn man neben Textdokumenten und dinglichen Artefakten auch fotografisches, auditives und filmisches Material hat. Hier fordert der visuelle Ereignischarakter, der Bildern in praxisanalytischen Arbeiten zugeschrieben wird, dazu auf, methodisch die physische Dimension der visuellen Praxis, die sich im Bild materialisiert, zu erfassen (vgl. Prinz 2014).

F a zit Die hier herausgearbeiteten Herausforderungen und methodischen Diskussionen, denen sich ein praxissoziologischer Analyseansatz aufgrund der methodologischen Prämissen der Praxistheorie stellen muss, werden die praxissoziologische Methodendiskussion im Nachgang des vorliegenden Sammelbandes sicherlich noch weiterhin beschäftigen. Es sollte jedoch bereits deutlich geworden sein, dass es in der konkreten Forschungsarbeit eines explorativen Vorgehens und eines vielschichtigen methodischen Settings bedarf, um zu gewährleisten, dass die unterschiedlichen materiellen, sozialisierten, diskursiven, visuellen und historischen Dimensionen der Praxisformation in der Analyse vergangener und gegenwärtiger Praxis Berücksichtigung finden. Gleichzeitig sollte auch klar geworden sein, dass sich eine Soziologie der Praxis gegen den Methodenzwang positioniert und das Motto zwar nicht heißen muss alles geht, aber es geht sehr viel mehr, als gemeinhin gedacht wird, und es geht vor allem auch anders als bisher. Erfordert doch der praxisanalytische Zugang, Forschung als performativen Akt zu vollziehen, der der Praxis immer auch etwas hinzufügt und der entgegen der starren Möglichkeitsbedingung der Forschungsförderung gewisse Risiken birgt und experimentellen Charakter hat.

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Und eben das müssen auch die Methoden der Praxissoziologie zulassen, sich von der Praxis überraschen zu lassen und methodisch zu experimentieren, was etwa die Erhebung der Daten angeht, die dann nach praxissoziologischer Methodologie mit Unterstützung der verschiedensten Techniken herkömmlicher Datenauswertung ausgewertet werden. Um die praxissoziologische Methodendiskussion voranzubringen, kann ein starrer Methodenkanon nicht das Ziel weiterer Forschung sein. Vielmehr muss die Devise lauten, ein möglichst breites Spektrum an methodischen Herangehensweisen in der Praxisforschung vertreten zu wissen. Wir sind der Ansicht, dass man gerade bei den Forschungsansätzen, auf die sich eine Soziologie der Praxis bereits aktuell immer wieder beruft, also ethnografische, ethnomethodologische oder diskursanalytische, aber auch auf Bourdieu oder die Cultural Studies auf bauende Herangehensweisen, neben gewinnbringenden methodologischen Überlegungen auch fruchtbare Hinweise für die konkrete Forschungspraxis und die Methodenwahl finden kann. Bewährte Methoden praxissoziologisch auszuformulieren und zu erweitern, ist aber unbedingt der nächste Schritt. Damit das Postulat der am Untersuchungsgegenstand ausgerichteten Methodenauswahl nicht vernachlässigt wird, muss die Diskussion der Methoden einer Soziologie der Praxis jedoch stets synchron mit der Konzipierung und Durchführung von empirischen Forschungsprojekten verbunden bleiben. Gemäß dem Motto der Gleichrangigkeit von Theorie und Empirie dürfen die theoretischen und methodologischen Konsequenzen stets nur aus der Empirie und der spezifischen Forschungsarbeit heraus entwickelt werden. Dies ermöglicht, die Anwendbarkeit der unterschiedlichen Analyseverfahren zu diskutieren und deren Reichweite hinsichtlich der unterschiedlichen Analyseebenen sozialer Praktiken auszuloten. Im dargelegten Sinne bleibt zu hoffen, dass das methodische Potenzial, welches der Praxissoziologie zur Verfügung steht, an den skizzierten Herausforderungen weiter ausgelotet wird, um das methodische Rüstzeug einer auf die Materialität der Praxis fokussierten Forschungsrichtung weiter zu stärken.

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Methodische Grundlagen einer Soziologie der Praxis

Zur empirischen Rekonstruktion sozialer Praxis Methodische Anforderungen und methodologische Reflexion aus der Perspektive Bourdieu’scher Praxistheorie Anna Brake Auf die Frage, was von Bourdieu methodisch zu lernen sei, sind zunächst einmal zwei sehr unterschiedliche Antworten möglich. Sehr wenig, sagen diejenigen, die auf der Suche nach ebenso klaren wie konkreten Handlungsanweisungen für die methodische Ausgestaltung des Forschungsprozesses sind, diejenigen also, welche im Forschungsprozess auf die Sicherheit eines stark systematisierten regelgeleiteten Vorgehens setzen. Methodische how-toAnweisungen finden sich in Bourdieus Arbeiten weder für die Rekonstruktion sozialer Praktiken noch für die Analyse sozialer Felder. Sehr viel sei von ihm zu lernen, sagen demgegenüber jene, die darum wissen, dass wichtiger als alle Festlegungen eines streng methodisierten Vorgehens die Frage nach den epistemologischen und sozialen Voraussetzungen eines konkreten Forschungszugriffs und dessen Reflexion im Erkenntnisprozess ist.1 Wer sich als SozialwissenschaftlerIn auf wissenschaftstheoretisch hohem Niveau darüber im Klaren sein möchte, was er/sie forschend tut, findet in den Arbeiten Bourdieus eine Fülle von Anregungen und Forderungen, deren Reflexion für jede empirische Analyse – will sie ihrem Gegenstand gerecht werden – unabdingbar ist. In diesem Zusammenhang zählt Pierre Bourdieu zu den reflektiertesten Soziologen der Gegenwart, weil er wie kein anderer systematisch in seine empirischen Analysen die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis integriert hat. Entsprechend weist er kategorisch 1 | Auch wenn vor allem im englischen Sprachgebrauch eine Unterscheidung schwierig ist: Von Methodologie soll hier gesprochen werden, wenn es um die Klärung der Frage geht, wie methodische Entscheidungen und Vorgehensweisen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren. Methoden beziehen sich demgegenüber auf systematisierte Verfahrensweisen der Erhebung und Auswertung von Daten. Dass trotz begrifflicher Unterscheidung beides aufs Engste aufeinander verwiesen ist, versteht sich.

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alle Ansinnen zurück, Methode oder Theorie von den Forschungsoperationen selbst zu trennen und spricht von Methodologie als Absurdität. Stattdessen, so Bourdieu (1974: 7 f.), gehe es darum, noch die elementarsten Akte wissenschaftlicher Praxis (eine Situation beobachten, einen Fragebogen entwerfen, Analysekategorien entwickeln usw.) epistemologisch zu hinterfragen und kritisch zu würdigen. Wenn heute kein Beitrag darauf verzichtet, Bourdieu als einen zentralen Theoretiker sozialer Praktiken zu nennen, dann geschieht dies in aller Regel mit Bezugnahme auf seine Beiträge zur Analyse der spezifischen Eigenlogik sozialer (Alltags-)Praxis. Hier verdanken wir den empirischen Studien Bourdieus die Einsicht, dass die verschiedenen Praktiken des Alltags (wie wir z.B. unser wohnliches Umfeld gestalten, wie wir uns kleiden, welche musikalischen Präferenzen wir haben usw.) einer sozialen Regelmäßigkeit folgen, ohne dass den Akteuren ein Wissen über diese Regel zugänglich wäre. Wenn die Rezeption Bourdieus zunächst sehr stark an seinem Habitus-Konzept und später auf das Zusammenwirken von Habitus und Feld ausgerichtet war und dabei die Hervorbringung des sozialen Raums durch die Spezifik der Praxis (und ihrer Klassifikation) im Zentrum stand, dann wird dabei häufig nicht genügend gesehen, dass Bourdieus Überlegungen zu einer Praxeologie2 ganz wesentlich zunächst auf die Praktiken wissenschaftlicher Erkenntnis zielten. Die Fragen, wie wir das Objekt unserer Erkenntnis konstruieren, wie wir diese konstruierten Objekte auf die ihnen innewohnenden Präkonstruktionen hin befragen, wie wir unter Verwendung bestimmter empirischer Zugriffe unseren Gegenstand durch diese Methodenwahl konstituieren, grundlegende Fragen des modus operandi wissenschaftlicher Produktion also, beschäftigten Bourdieu durchgehend in seinen empirischen Arbeiten. Ihm ging es also immer auch darum, neben der Analyse bestimmter (alltagsweltlicher) Praktiken gesellschaftlicher Akteure (Heiraten, Fotografieren, Theaterbesuch usw.) auch die Praxis wissenschaftlichen Arbeitens und ihre sozialen und epistemologischen Prämissen zu reflektieren. Auf solchen wissenschaftstheoretischen Fragen liegt bereits in den frühen Arbeiten Bourdieus ein Schwergewicht, etwa, wenn er in »Le métier de sociologue« (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1967) nach den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis fragt, wenn er in 2 | Hilfreich wäre es, unterscheidend von Bourdieus Praxeologie zu sprechen, wenn es um die Bezeichnung seiner Methodologie bzw. um die von ihm vorgeschlagenen praxeologische Erkenntnisweise geht, und die Begriffe »Theorie der Praxis« bzw. »Praxistheorie« dann zu verwenden, wenn gegenstandsbezogen (alltagsweltliche) Praktiken bzw. der Erzeugungsmodus dieser Praxisformen untersucht werden. Dass es sich hier lediglich um eine analytische Trennung von Erkenntnisprozessen handelt, die auf das Engste zu integrieren sind, macht den Kerngehalt einer reflexiven Soziologie aus.

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»Structuralism and Theory of Sociological Knowledge« (Bourdieu 1968) die Notwendigkeit der Objektivierung als Erkenntnispraxis begründet und vor allem wenn er schließlich in seinem »Esquisse d’une théorie de la pratique« (Bourdieu 1972) im zweiten Teil die Grundlagen seiner praxeologischen Erkenntnisweise legt. In all diesen Arbeiten geht es darum, Ensembles wissenschaftlicher Praktiken im Kontext unterschiedlicher epistemologischer Grundpositionen herauszuarbeiten. Diese leiten die Forschungspraxis an, weisen aus, was jeweils als »gute« Forschung Geltung beanspruchen kann, woran sich ForscherInnen in ihrem Forschungshandeln orientieren usw.3 In dieser Auseinandersetzung mit solchen methodologischen Grundpositionen ging es Bourdieu darum, wissenschaftliche Akteure mit ihren theoretischen Praktiken als auf je unterschiedliche Weise »irrende Inhaber einer scholastischen Position und Perspektive« (Schmidt 2012: 38) zu analysieren. Dabei war sein zentraler Ausgangspunkt, Praxis gerade nicht als Gegensatz zur Scholastik (zur theoretischen Erkenntnisweise) zu entwerfen, sondern  – im Gegenteil – die Scholastik selbst als eine vom intellektualistischen Bias verzerrte Praxis der Erkenntnisgewinnung zu kennzeichnen. Bourdieus Überlegungen zum modus operandi wissenschaftlicher Produktion (und ihrer Fallstricke), seine Praxeologie, entwickelte er ex negativo aus den Grenzen subjektivistischer wie objektivistischer Erkenntnispositionen. Deren jeweilige Limitationen wurden ihm – in der wissenschaftstheoretischen Tradition von Bachelard, Canguilhelm, Koyré stehend – im Zuge seiner empirischen Analysen der kabylischen Gesellschaft eindringlich vor Augen geführt, etwa, wenn sich ihm die Grenzen des strukturalistischen Objektivismus in der Analyse von Heiratsstrategien entgegenstellten (Bourdieu 1976: 71 f.). Genau wie für seine zentrale Erkenntniswerkzeuge wie Habitus, Feld, Doxa, Kapital usw., die Bourdieu bereits im Kern im Rahmen seiner Feldstudien in Algerien entwickelte (Suderland 2009), gilt auch für die von ihm grundgelegte Methodologie der Soziologie, dass sie nicht als reine Schreibtischarbeit entstand, sondern in reflexiver Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in der empirischen Feldarbeit entwickelt wurde. Diese Auseinandersetzung nachzuzeichnen, deutlich zu machen, was aus Bourdieu’scher Perspektive gute von schlechter Forschungspraxis trennt, ist das Anliegen des Beitrags. Dabei wird es zunächst darum gehen, mit der gebotenen Kürze nachzuzeichnen, was Bourdieus praxeologische Erkenntnisweise als wissenschaftlichen modus operandi im Kern kennzeichnet. Da die 3 | »An authentic science of science cannot be constituted unless it radically challenges the abstract opposition […]between immanent or internal analysis, regarded as the province of the epistemologist, which recreates the logic by which science creates its specific problems, and external analysis, which relates those problems to the social conditions of their appearance«. (Bourdieu 1975: 22)

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Bourdieu’sche Methodologie und die Frage, welche konkreten Anforderungen sich für die wissenschaftliche Praxis der soziologischen Erkenntnis stellen, mit der besonderen Qualität ihres Untersuchungsgegenstands, der sozialen Praxis und ihrer Eigenlogik, zusammenhängt, ist es notwendig, sich zunächst mit der methodischen Widerständigkeit der sozialen Praxis und des ihnen zugrunde liegenden praktischen Sinns zu beschäftigen. Da die Analyse von sozialer Praxis Bourdieu zufolge nur über eine empirische Konstruktion ihres Gegenstands zu haben ist, weil kein unmittelbarer empirischer Zugriff auf die Praxis möglich ist, stellt methodologische Reflexivität auf verschiedenen Ebenen der Erkenntnispraxis eine zentrale Herausforderung dar. Worauf diese sich zu richten hat, wird daher genauer zu beleuchten sein. Schließlich werden im weiteren Verlauf einige methodische Fragen adressiert, wie etwa die Annahme, dass ethnografisch-beobachtende Verfahren besonders ertragreiche methodische Zugänge für die Analyse sozialer Praxis darstellen, oder die Frage, ob soziale Praxis über verbale Daten, wie sie in Interviews oder Gruppendiskussionen gewonnen werden, hilfreich sein können oder es möglich oder sogar notwendig ist, quantitative Auswertungen in die Analyse einzubeziehen. Insgesamt spielt in den Betrachtungen zu einer praxistheoretischen Rekonstruktion eine zentrale Rolle, dass nicht die Akteure den Fokus der Analyse bilden, dass noch nicht einmal die soziale Praxis, wie sie sich den Forschenden als sichtbare sich vollziehende accomplishments darbieten, das Zentrum der Analyse ausmachen, sondern dass es darum gehen muss, mit Bourdieu den in ihnen eingelassenen sozialen Sinn der Praxis zu rekonstruieren. Das genau ist gemeint, wenn Bourdieu (1976: 164) seine »Theorie der Praxis« genauer spezifiziert als »die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen«.

1. G rundl agen B ourdieu ’scher P r a xeologie Die soziale Praxis mit ihrer praktischen Logik entzieht sich der theoretischen Vernunft bzw. dem scholastischen Blick auf je unterschiedliche Weise. Bourdieu unterscheidet drei Formen theoretischer Erkenntnis, die als einzige Gemeinsamkeit teilen, dass sie in einem Spannungsverhältnis zur praktischen Erkenntnisweise der alltagsweltlichen Akteure stehen (Bourdieu 1976: 146 f.). Sie unterscheiden sich dem gegenüber darin, in welcher spezifischen Weise sie der Komplexität sozialer Praxis jeweils nicht gerecht werden können. Als eine der drei Formen theoretischer Erkenntnis skizziert Bourdieu phänomenologische Ansätze, zu denen er den symbolischen Interaktionismus ebenso zählt wie ethnomethodologische Zugänge. Als deren Kernelement macht er aus, dass sie auf die Primärerfahrung der Akteure zielen und ihre Wahrnehmung der Alltagswelt als unhinterfragte, quasi natürlich gegebene selbstevidente Wissensbestände in den Blick nehmen. Soziale Wirklichkeit ist in die-

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sen als phänomenologisch gekennzeichneten Ansätzen die Wirklichkeit, wie sie sich den Akteuren als unmittelbare Erfahrung darstellt. Sie gelten hier als sogenannte ExpertInnen ihrer Alltagswelt: Ihre jeweiligen Perspektiven und Sinnzuschreibungen bilden – soweit sie den Akteuren zugänglich sind – den Ausgangspunkt der Untersuchung. Für eine soziologische Analyse  – so der Einwand Bourdieus  – reicht jedoch eine Beschränkung auf das den Akteuren verfügbare Alltagswissen nicht aus.4 Zur Begründung verweist er darauf, dass ihr Tun und Handeln auch von objektiven Strukturen bestimmt wird, über deren Wirkung sie in aller Regel wenig aussagen können. Die phänomenologische Erkenntnisweise »begreift die soziale Welt als eine natürliche und selbstverständlich vorgegebene Welt, sie reflektiert ihrer Definition nach nicht auf sich selbst und schließt im weiteren die Frage nach Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeiten aus« (Bourdieu 1976: 147). Da das Handeln der Akteure mehr (kollektiven) Sinn hat, als sie selber wissen (Bourdieu 1987: 127), und weil dieses reflexiv nur bedingt zugängliche Mehr an Sinn sich wesentlich aus den strukturellen kollektiven Einbindungen der Akteure speist, darf sich die empirische Analyse nicht auf Erfahrungsschilderungen, Meinungen und Ansichten der Akteure beschränken.5 Stattdessen müssen methodische Zugänge auch die strukturelle Seite des Phänomens empirisch einholen können. Gelingt es der soziologischen Forschung nicht, über die Spontansoziologie der 4 | Hier ist wichtig zu betonen, dass Bourdieu keineswegs – wie Celikates (2009: 80) einer polemischen Kritik Rancières folgend behauptet – auf das Alltagswissen der Akteure herab blickt, sie als Unfähige und Ignoranten wahrnimmt. Im Elend der Welt unterbreitet Bourdieu (1997) gerade Vorschläge, wie symbolische Gewalt in Interviewsituation reduziert werden kann, damit die befragten Akteure möglichst gewaltfrei ihre Wahrnehmung entfalten können. Es gehe darum, seinem Gegenüber zu vermitteln, »mit gutem Recht das zu sein, was er ist […]« (Bourdieu 1997: 786). Es liegt Bourdieu also fern, den alltäglichen Akteuren Wissen abzusprechen, vielmehr geht es ihm darum, die besondere Qualität dieses Wissens und seine Grenzen zu markieren: »Workers know a lot: more than any intellectual, more than any sociologist. But in a sense they don’t know it, they lack the instrument to grasp it, to speak about it«. (Bourdieu/Eagleton 1992: 118) In diesem praktischen Wissen unterscheiden sie sich im Übrigen nicht von Intellektuellen, wie Bourdieu gleich im Anschluss schreibt: »And we have this mythology of the intellectual who is able to transform his doxic experiences, his mastery of the social world, to an explicit and nicely expressed presentation.« 5 | Bourdieu hat keinen Zweifel daran gelassen, dass das Alltagswissen der Akteure – so unzureichend es für sich genommen sein mag – Ausgangspunkt der soziologischen Erkenntnis sein muss. Hier gesteht er der Ethnomethodologie zu: »Als Beschreibung ist diese Analyse auch ganz ausgezeichnet, aber man muss über die Beschreibung hinauskommen und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser doxischen Erfahrung stellen«. (Bourdieu/Wacquant 1996: 103)

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Akteure hinauszukommen, so kann sie selbst nur Spontansoziologie hervorbringen (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 23). Die Analyse der objektiven Strukturen, die Frage also, wie z.B. bestimmte Praktiken im sozialen Raum verteilt sind, ist Zielgröße der von Bourdieu als objektivistisch gekennzeichneten Erkenntnisweise. Hier zielt die Analyse darauf, die (den Akteuren nicht verfügbare) Einbindung der Praxis in objektive Strukturen aufzudecken. Hier geht es darum, »vom individuellen Willen und Bewusstsein unabhängige objektive Gesetzmäßigkeiten (Strukturen, Gesetze, Systemen von Relationen usw) zu ermitteln« (Bourdieu 1987: 51) und spezifische Praktiken nach der sozialen Regelmäßigkeit zu befragen, mit der sie im sozialen Raum oder einem spezifischen Feld angetroffen werden. Die sich hier abbildenden objektiven Beziehungen zwischen Praxis und Verortung im sozialen Raum stellen einen wichtigen Beitrag für die Analyse dar, allerdings kann sich die Erforschung von gesellschaftlichen Zusammenhängen auch auf diese nicht beschränken. Einer solchen objektivistischen Erkenntnisweise wirft Bourdieu nämlich vor, über eine registrierende »Bestandsaufnahme des krud Gegebenen« (Bourdieu 1976: 150) kaum hinauszugelangen. Die Praxis der Sozialforschung ist hier organisiert wie ein vermeintlich neutraler Spiegel, der ein unverzerrtes Abbild der Praxis ermöglichte, und sie übersieht, dass jeder forscherische Zugang von vielfältigsten Konstruktionsleistungen durchzogen ist. Weder der Zugriff auf Praxis als den Akteuren natürlich und selbstverständlich gegebene Welt (subjektivistische Erkenntnisweise) also, noch die Abbildung der Praxis in ihren objektiven Beziehungen zur Sozialwelt (objektivistische Erkenntnisweise)6 gelingt es als theoretische Erkenntnisweise das praktische Verhältnis der Akteure zur Welt analytisch hinreichend in den Griff zu bekommen. Die Illusion unmittelbarer Erkenntnis, wie sie subjektivistischen Zugängen eignet, ist hier ebenso schädlich wie die Illusion des absoluten Wissens, mit der ForscherInnen glauben, objektive (also unabhängig von den Akteuren gegebene) soziale Beziehungen analysieren zu können.

6 | Es würde einen eigenen Beitrag erfordern, die hier vor allem der Ethnomethodologie und dem Symbolischen Interaktionismus zugeschriebene Strukturvergessenheit (Subjektivismus) einerseits und die der strukturalistischen Anthropologie eines Lévi-Strauss zugeschriebene soziale Geschichtslosigkeit strukturrealistischer Regeln (Objektivismus) andererseits in ihren Verkürzungen genauer herauszuarbeiten. Dass Bourdieu dennoch wiederholt den konstitutiven Kern seiner Praxeologie in zuspitzender (bisweilen polemischer) Abgrenzung vornimmt, mag strategischen Gründen geschuldet sein. Jedenfalls trägt er damit zu einer Verlängerung der von ihm beklagten künstlichen Spaltung zwischen Subjektivismus und Objektivismus als grundlegendstem und verderblichstem Gegensatz in den Sozialwissenschaften (vgl. Bourdieu 1987: 49) bei.

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Diesen Grenzen subjektivistischer wie objektivistischer Erkenntnisweise setzt Bourdieu seine Praxeologie entgegen, die den Versuch darstellt, die Potenziale beider Ansätze für eine Analyse der Praxis zu nutzen. Es gehe darum, den Antagonismus zwischen subjektivistischer und objektivistischer Erkenntnisweise zu überwinden und »dabei dennoch die Errungenschaften beider zu bewahren (ohne wegzulassen, was sich aus der interessierten Betrachtung der jeweils entgegengesetzten Position ergibt)« (Bourdieu 1987: 49). Um der Praxis in ihrer sozialen Eigenlogik auf die Spur zu kommen, braucht es also auf der einen Seite objektivierende Zugänge, welche die objektiven Beziehungen der Praktiken im sozialen Raum aufzudecken in der Lage sind. Da ihnen auf diesem Wege aber jeder praktische Sinn entzogen wird, braucht es gleichzeitig auch den Zugriff auf die unmittelbaren Erfahrungen sozialer Akteure, da auch sie konstitutiver Bestandteil der sozialen Welt sind (Bourdieu 1976: 148). Was Bourdieu an anderer Stelle über Erziehung sagt, gilt hier allgemein: die Erfahrung der Bedeutung gehört zum vollständigen Sinn der Erfahrung dazu (Bourdieu u.a. 1983: 13). Es wäre also – wie deutlich geworden ist – ein Missverständnis, dass Bourdieu das Erkenntnispotenzial subjektivistischer wie objektivistischer Zugänge generell in Abrede stellen wollte. Die von ihm ausgemachten Grenzen der Erkenntnis beziehen sich wesentlich auf die Erkenntnispraxis (das Wie der Erkenntnispraxis), wie er sie im Rahmen der subjektivistischen Zugänge realisiert sieht. Was benötigt wird, ist ein Zugriff auf das Alltagswissen der Akteure, ohne sich mit individualistischen Rekonstruktionen zufrieden zu geben, welche die Einzigartigkeit des individuellen Falles in den Mittelpunkt der Analyse stellen. Was gleichzeitig benötigt wird, ist ein objektivierender Zugriff auf die Praktiken in ihren strukturellen Beziehungen, ohne dabei jedoch in einen empirizistischen Objektivismus zu verfallen. Bourdieus Praxeologie stellt den integrierenden Versuch dar, die sich im Objektivismus wie im Subjektivismus je in spezifischer Weise stellenden epistemologischen Hindernisse mit ihren systematischen blinden Flecken in der Analyse sozialer Praxis auszuräumen. Als in diesem Zusammenhang zentrale Anforderung markiert er eine Objektivierung des wissenschaftlichen Gegenstands, seine Konstruktion im Forschungsprozess selbst zu objektivieren, d.h. sie zum Gegenstand methodologischer Reflexion zu machen (auf die in diesem Zusammenhang wichtige Bedeutung der von ihm vorgeschlagenen epistemologischen Brüche wird weiter unten eingegangen). Damit ist im Kern der Anspruch einer praxeologischen Erkenntnisweise skizziert: das objektivierende ForscherInnen-Subjekt objektivieren (Bourdieu 1992b: 219 ff.) bzw. allgemeiner: Soziologie als teilnehmende Objektivierung der sozialen Welt (Krais 2004) betreiben. Bourdieu hat in seinen diversen empirischen Arbeiten zwar keine konkreten methodischen Vorschläge (im Sinne fixierter Verfahrensschritte der Datenerhebung und -auswertung) unterbreitet, jedoch weitreichende metho-

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dologische Anforderungen entwickelt, wie der Anspruch einer praxeologischen Erkenntnisweise eingelöst bzw. angenähert werden kann. Dabei lässt er jedoch keinen Zweifel daran, dass auch mit den Mitteln seiner Praxeologie die zu untersuchende Praxis widerständig bleibt, weil sie selbst einer Logik folgt, welche nicht die Logik der theoretischen Erkenntnispraxis ist.

2. Z ur me thodischen W iderständigkeit sozialer P r a xis Dies gilt grundsätzlich auch für die Bourdieu’sche Theorie der Praxis, die er »als Bedingung einer strengen Wissenschaft von den Praxisformen und praktischen Handlungen« fasst (Bourdieu 1976: 139). Auch sie ist theoretische Erkenntnis, »mithin theoretisch und praktisch von der Praxis getrennt.« Notwendige permanente Begleiterin der Analyse von Praktiken der Alltagswelt (als Untersuchungsgegenstand) ist daher eine Analyse der Analyse als wissenschaftliche Konstruktion dieses Untersuchungsgegenstands, welche die zutiefst differenten Bedingungen alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Praxis anerkennt und reflexiv mitführt: »Hat man die ignorierte oder verdrängte Differenz zwischen gewöhnlicher Welt und den theoretischen Welten einmal zur Kenntnis genommen, dann gerät […] etwas in den Blick, was jedem scholastischen Denken, das auf sich hält, praktisch unzugänglich bleibt: die Logik der Praxis« (Bourdieu 2000: 65). Wodurch ergibt sich diese grundlegende Diskrepanz von praktischem und theoretischen Wissen (gleich welcher Provenienz)? Stellen wir uns – um dies besser zu verstehen  – folgende Situation vor:7 Eine junge Wissenschaftlerin, 7 | Soziale Praxis im Kontext der Hervorbringung wissenschaftlicher Nachwuchskarrieren in ihrem Zusammenspiel von institutionellen Konstellationen (z.B. Förderstrukturen) einerseits und den Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern von NachwuchswissenschaftlerInnen andererseits bilden den Schwerpunkt unseres laufenden vom BMBF geförderten Forschungsprojekts »Trajektorien im akademischen Feld«. Hier untersuchen wir – unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieus Praxistheorie – wissenschaftliche Karrieren als langfristige und pfadabhängige soziobiografische Verläufe. Solche Trajektorien werden in der beruflichen Alltagspraxis durch ein Zusammenwirken institutioneller Ermöglichungskontexte und im Habitus der NachwuchswissenschaftlerInnen verankerter Ermöglichungsstrukturen praktisch hervorgebracht. Um diesen komplexen Wirkungszusammenhängen auf die Spur zu kommen, gliedert sich das Verbundvorhaben in zwei Teilprojekte, welche in der frühen Post-Doc-Phase ansetzen. Von dort ausgehend werden die bisherigen Verlaufsprozesse wissenschaftlicher Nachwuchskarrieren mit einem multimethodischen qualitativen Forschungszugang aus verschiedenen Perspektiven analytisch rekonstruiert. Das in Marburg angesiedelte Teilprojekt (Susanne M. Weber, Jörg Schwarz, Franziska Teichmann) legt den Untersuchungsschwerpunkt auf

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frisch promoviert, nimmt an einem (ihrem ersten) internationalen Kongress in englischer Sprache teil und ist dort mit einem eigenen Beitrag vertreten. Der Tag ihres Vortrags ist gekommen, soeben hat ihr Vorredner seinen Beitrag beendet und die Moderatorin leitet zum Beitrag unserer Nachwuchswissenschaftlerin über, während diese noch auf ihrem Stuhl in der vordersten Reihe sitzt. Schließlich endet die Moderatorin, nachdem sie mit einigen Sätzen die Nachwuchswissenschaftlerin vorgestellt hat, mit den Worten: »Dr. X, the floor is yours.« Unsere Nachwuchswissenschaftlerin erhebt sich von ihrem Stuhl, geht die wenigen Schritte zum Pult, postiert sich dort, entnimmt ihr Manuskript einem Umschlag, räuspert sich und bedankt sich zunächst bei der Moderatorin, um dann die ersten Worte an ihr wissenschaftliches Publikum zu richten. Was hier nur sehr knapp und unzulänglich als Situation beschrieben ist, ist in Wirklichkeit eine hochkomplexe Praxis der Eröffnung eines wissenschaftlichen Vortrags, die sehr unterschiedliche Gestalt annehmen kann, wenn wir z.B. allein daran denken, welche Unterschiede wir in den »sozialen Gebrauchsweisen« eines Pults sehen können (z.B. sich hinter dem Pult »verstecken« bzw. die Autorität des Pults nutzen, um die eigene wissenschaftliche Autorität zu unterstreichen). Wie immer unsere Nachwuchswissenschaftlerin hier agiert, sie tritt in dieser Situation in ein praktisches Verhältnis zur (akademischen) Welt. Sie ist den Notwendigkeiten und der Unmittelbarkeit der Situation unterworfen, sie kann nicht aus der Situation heraustreten, um sich von außen zu evaluieren, kann die Situation nicht anhalten, kann nicht einfach von vorne beginnen. Sie mag im Vorfeld Strategien überlegt haben, wie sie eine »skillful performance« an den Tag legen kann, in der Situation aber ist sie auf Routinen (ihres Körpers) angewiesen, die sich ihr in unterschiedlichem Ausmaß über praktische Erfahrungen vermittelt haben. Sie tritt praktisch ein »in jene beschäftigte und geschäftige Gegenwärtigkeit auf der Welt, durch welche die Welt ihre Gegenwärtigkeit mit ihren Dringlichkeiten aufzwingt, mit den Dingen, die gesagt oder getan werden müssen, die dazu da sind, gesagt oder getan zu werden, und die die Worte und Gebärden unmittelbar beherrschen, ohne sich jemals wie ein Schauspiel zu entfalten« (Bourdieu 1987: 97). Die scholastische Ansicht (im Wortsinn), die analytische Befassung mit der Praxis ist von der Praxis der Akteure abgeschnitten, weil sie nicht in die praktischen Notwendigkeiten der Praxis eingebunden ist. Es sind nicht die Forscher Innen, die auf dem Weg zum Podium nicht stolpern sollten, die Mappe mit ihrem Manuskript nicht fallen lassen sollten, die mit ihren ersten Worten die die institutionellen Ermöglichungskontexte, während in Augsburg (Anna Brake, Julia Elven, Hannah Burger) die Alltagspraktiken und Selbstverständnisse der NachwuchswissenschaftlerInnen vor dem Hintergrund ihrer sozialen Geschichte rekonstruiert werden (Näheres unter www.trajektorien.de).

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wohlwollende Aufmerksamkeit der Anwesenden finden müssen usw. Das Interesse der ForscherInnen an der Praxis der Akteure ist ein grundlegend anderes als das der Akteure selbst. »Nur unter der Bedingung, dass man den Praxisstandpunkt einnimmt, hat man ausgehend von einer theoretischen Reflexion über den theoretischen Standpunkt, die scholastic view als nicht-praktische und auf der Neutralisierung der Interessen und der praktischen Einsätze beruhende Ansicht, überhaupt eine Chance, die spezifische Logik der Praxis in ihrer Wahrheit zu erfassen.« (Bourdieu 1993: 346)

Eine weitere Quelle für die Unverträglichkeit zwischen den alltäglichen Praktiken der Akteure und ihrer Analyse ergibt sich aus der Temporalität der Praxis, aus ihrem Eingebundensein in einen zeitlichen Ablauf. Wann beginnt eine (zu analysierende) Praxis, wann endet sie? Ist die skizzierte Situation nicht viel zu komplex, um als eine Praxis zu gelten? Besteht nicht vielmehr die Notwendigkeit, die Situation in eine Vielzahl verschiedener Einzel-Praktiken zu zerlegen: einer des Sitzens, des Aufstehens, des Gehens usw.? Eine solche analytische, d.h. dasjenige, was zusammen gehört, zergliedernde Vorgehensweise verstellt den Blick auf die spezifische Logik einer Praxis, so als wollte man allein aus den Zutaten eines Rezepts auf die besondere Qualität des zubereiteten Gerichts schließen. Wie »groß« aber immer auch die zu untersuchende Praxis gewählt wird: Dadurch, dass zu analytischen Zwecken ein Anfang und Ende der zu untersuchenden Praxis gesetzt werden muss, dass sie dadurch aus ihrem Ablauf in der Zeit herausgerissen und ihres Vorher und Nachher beraubt wird, ändert sich nichts. »Die Praxis rollt in der Zeit ab und weist alle entsprechenden Merkmale auf, wie z.B. die Unumkehrbarkeit, […] ihre zeitliche Struktur, d.h. ihr Rhythmus, ihr Tempo und vor allem ihre Richtung, ist für sie sinnbildend.« (Bourdieu 1987: 149) Für die empirische Analyse stellt sich also die Notwendigkeit, die grundlegende Zeitlichkeit sozialer Praxis in Rechnung zu stellen. Ihr sozialer Sinn ergibt sich erst aus dieser Zeitlichkeit, wie wir uns leicht daran klarmachen können, dass eine zeitliche Verzögerung bis zu den ersten Worten, die unsere Nachwuchswissenschaftlerin an das Auditorium richtet, als Souveränität (sie nimmt sich ihre Zeit) ebenso wie als Unsicherheit (sie sucht nach den richtigen Worten) gelesen werden kann. Im Gegensatz zu der oben skizzierten unhintergehbaren (durch die Unterschiedlichkeit des praktischen und des theoretischen Standpunkts begründeten) Unverträglichkeit stellt die Zeitlichkeit von sozialer Praxis eine Herausforderung dar, die prima facie mithilfe von nicht-verbalen Erhebungsmethoden gut bewältigbar scheint. So sind (videounterstützte) Beobachtungsverfahren besonders gut geeignet, den körperlichen Vollzug von Praxis und ihre zeitliche Strukturierung analytisch zugänglich zu machen und ihre Realisierung in

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der Zeit vielleicht sogar als eigenen Analysefokus anzulegen. Wenn hier also visuelle Aufzeichnungsmöglichkeiten eine gute Unterstützung der Analyse sozialer Praktiken darstellen, so tun sie dies zunächst einmal wesentlich über eine bessere Zugänglichkeit des zu analysierenden Materials. Da der Kern der eigentlichen Analyse jedoch auf die soziale Logik der Praxis ausgerichtet ist und diese selbst nicht in laufenden oder stehenden Bildern direkt entnehmbar ist, sind sie aber gleichzeitig kaum mehr als ein die Analyse unterstützendes Werkzeug. Der wissenschaftliche Blick  – die scholastische Ansicht, von der Bourdieu (1993) spricht – zerstört die Praxis auf eine weitere Art und Weise. Wir sind als ForscherInnen auf der Suche nach sozialen Regelmäßigkeiten, die der Praxis ihre Struktur geben. Dies ist zunächst einmal auch das Anliegen Bourdieus, wenn er zu entschlüsseln versucht, welches sozial geregelte Erzeugungsprinzip die Praxis in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hervorbringt und ihnen seine konstitutierend, Kohärenz schaffende Kraft verleiht. Allerdings ist hier genauer über den Regelbegriff nachzudenken, mit dem gerade nicht gemeint ist, dass eine Praxis über das Befolgen einer expliziten Regel hervorgebracht wird. 8 Daher kennzeichnet Bourdieu die von ihm intendierte Analyserichtung mit der Maxime »Von der Regel zu den Strategien« des praktischen Sinns (Bourdieu 1992c: 79 ff.). Zum Feind der Praxis wird die Regel dann, wenn sie in atomistischer Weise die Einheit der Praxis zerbricht und partielle Gesetzmäßigkeiten herstellt, um so Produkte, das opus operatum, zu erklären (Bourdieu 1982: 282, Fußnote 4). Was er damit meint, verdeutlicht er an dem von ihm so bezeichneten »Algebra-Anthropologen« Lévi-Strauss, der die Praxis des Heiratens auf die Algebra der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Eheleuten reduziert und dadurch  – einem strukturalistischen Logizismus folgend  – »alle Interessen und all das, worum es praktisch geht,« suspendiere (Bourdieu 1993: 345 f.). Wenn eine der Praxis äußerlich bleibende Regel der Praxis übergestülpt wird, besteht die Gefahr, durch eine typisierende, von der scholastischen Ansicht herangetragene Strukturierung, eine Homogenität oder gar Uniformität der Praxis zu unterstellen, die mit der empirischen Vielfalt der Praxisformen, ihrem Variantenreichtum nicht in Übereinstimmung zu bringen ist und vor allem die Praxis von ihren praktischen Notwendigkeiten entkoppelt. Um einer solchen Austreibung des praktischen Sinns aus der Praxis zu begegnen, »muss ich für jede einzelne Heirat alle Informationen 8 | Damit ist allerdings keinesfalls ausgesagt, dass sich die Akteure nicht auch von bewussten strategischen Abwägungen und Entscheidungen leiten ließen: »Das unmittelbare Aufeinander-Abgestimmtsein von Habitus und Feld ist nur eine der möglichen Formen des Handelns, aber eben die bei weitem häufigste« (Bourdieu/Wacquant 1996: 165).

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zusammentragen – und diese sind zahlreich–, die bewusst oder unbewusst in die Strategie mit einbezogen worden sein könnten – Altersunterschied zwischen den Eheleuten, Unterschiede im materiellen oder symbolischen ›Vermögen‹ zwischen den beiden Familien usw.« (Bourdieu 1993: 345). Bourdieu wendet sich hier also gegen eine strukturalistische Reduktion einer sehr komplexen, vielfältig in praktische Notwendigkeiten eingebundenen Praxis, indem in einer die Praxis zergliedernden Betrachtung einzelne vom theoretischen Modell vorgegebene Strukturvariablen isoliert werden. Regeln also, die sich nicht auf die Kenntnis der realen Grundlagen der Praxis stützen, verunmöglichen, eine adäquate Sicht der Praxis in ihrer Gesamtheit zu entwickeln. Eine derart in die Analyse eingebrachte Regel wird dann zum »Haupthindernis für eine adäquate Theorie der Praxis« (Bourdieu 1987: 189). Im Modus der von Bourdieu vorgeschlagenen praxeologischen Erkenntnisweise geht es demgegenüber um die »Aufschlüsselung der die Produktionsregeln reproduzierenden allgemeinen Gesetze, des modus operandi« der Praxis (Bourdieu 1982: 282, Fußnote 4), also darum genauer zu erschließen, welcher vom Habitus der Akteure hervorgebrachte praktische Sinn der zu analysierenden Praxis ihre spezifische kollektive Eigenlogik, ihre soziale Strukturgesetzlichkeit verleiht. Zusammenfassend können die von Bourdieu skizzierten Widerständigkeiten sozialer Praxis gegen ihre wissenschaftliche Beforschung – sofern sie nicht permanent als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnisfortschritt reflexiv mitgeführt werden – als ein Auseinandertreten der sozialen Praxis der Akteure in ihren alltagsweltlichen Bezügen und der soziologischen Erkenntnispraxis in ihren Analysebestrebungen gefasst werden. »Die Theorie, die zur Erklärung der Praktik der Akteure konstruiert werden muss, darf nicht als deren Prinzip ausgegeben werden.« (Bourdieu 1992c: 80) Hier die getrennten Logiken zu respektieren, macht eine zentrale Forderung wissenschaftlicher Reflexivität aus, die sich nicht in abstrakten epistemologischen Abwägungen ergehen darf, sondern stets auf einen ganz konkreten Forschungskontext zu beziehen ist, in dem konkret beteiligte ForscherInnen eine spezifische Erkenntnispraxis ins Werk setzen und dabei einer spezifischen Methodologie und Methodik folgen, die es reflexiv zu erschließen gilt, um u.a. »den wissenschaftlichen ›Einfall‹, die ›Idee‹, den Prozess der Hypothesenbildung« aus dem Bereich der Intuition herauszuheben und in einer »ars inveniendi der Vernunft zugänglich zu machen« (Krais 1991: VII). Im Kern ist hier das methodologische Anliegen beschrieben, die theoretische Erkenntnis der Praxis gerade nicht im Modus der praktischen Erkenntnis zu betreiben.

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3. Z ur N ot wendigkeit einer refle xiven O bjek tivierung von F orschungspr a xis Wenn Bourdieus soziologische Methodologie mit nur einem Merkmal zu beschreiben wäre, dann wäre dies die Forderung nach einem in den Forschungsprozess integrierten hohen Maß an Reflexivität. Eine Soziologie der Soziologie hat demnach zu allererst und vor allem eine reflexive Soziologie zu sein, welche gegenstandsbezogene Fragen stets mit methodologischen Fragen ihrer empirischen Bearbeitung verknüpft. Eine solche Reflexivität hinsichtlich der (sozialen, methodologischen, epistemologischen) Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis durchzieht das gesamte Werk Bourdieus von Beginn an. Schon während seiner ethnografischen Studien in Algerien, in der ganz konkreten Auseinandersetzung mit dem empirischen Material vermittelte sich ihm die Einsicht in die Notwendigkeit, in der Analyse die Bedingungen der Analyse als konstitutives Element der Analyse mitzuführen. »Ich halte es für einen Teil der wissenschaftlichen Arbeit, Fragen gerade über die Natur des wissenschaftlichen Blicks aufzuwerfen. Diese Fragen drängten sich mir unabhängig von jeder rein spekulativen Überlegung in bestimmten Forschungssituationen unweigerlich auf, in denen die Reflexion über die Art und Weise der Erkenntnis notwendig wurde, um meine Materialien zu begreifen.« (Bourdieu 1993: 344) Versuchen wir im Folgenden, genauer zu systematisieren, in welchen Hinsichten die Praxis der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion zum Gegenstand von Reflexion werden muss. Wie wir weiter oben gesehen haben, geht es Bourdieu mit seiner praxeologischen Erkenntnisweise darum, die Engführungen sowohl des Subjektivismus wie des Objektivismus für die Analyse sozialer Praxis zu überwinden. Dies kann nur dadurch erreicht werden, dass Forscher­ Innen sich stets reflexiv zu ihrem Forschungshandeln in Beziehung setzen. Die jeweiligen epistemologischen Grundprobleme, die dazu führen, dass bestimmte Aspekte von Praxis unterbelichtet bleiben, können dadurch zwar nicht eliminiert werden, die Chancen einer praxeologischen Erkenntnisweise ergeben sich aber über das beständige Bemühen ihrer Kontrolle durch systematische Reflexion. »Denn die Hauptintention meiner Arbeit ist, die Reflexivität herauszufordern und Waffen an die Hand zu geben, auf reflexive Weise zu denken.« (Bourdieu 2005: 146) Die von Bourdieu geforderte Reflexivität im Forschungsprozess, sich den Fallstricken des wissenschaftlichen Blicks zu entziehen, bezieht sich wesentlich auch darauf, sich der vielfältigen Konstruktionsakte bewusst zu sein, die den Forschungsprozess durchziehen. Wieder und wieder betont er, dass »alle Operationen der soziologischen Praxis  – von der Ausarbeitung eines Fragebogens und der Kodierung bis zur statistischen Analyse – […] zugleich, als bewusst oder unbewusst vollzogene Verfahren, Konstruktion von Tatbeständen

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und von Beziehungen zwischen diesen« sind (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 45). Als ForscherInnen können wir keinen unmittelbaren direkten Zugriff auf die zu untersuchende Praxis unserer AkteurInnen nehmen, wir befinden uns in einem ständigen Prozess der Konstruktion: beginnend bei unserer Fragestellung, die auf bestimmte Aspekte der Praxis abzielt (z.B. sich für ihre Geschlechterspezifität interessiert), bei der Entwicklung unserer Forschungsinstrumente (die bestimmte Aspekte der Praxis adressieren und andere ausblenden), bei der Wahl unseres methodischen Zugangs (der unseren Forschungsgegenstand auf eine bestimmte Weise erst konstituiert), bei der Systematisierung unseres empirischen Materials (wenn wir z.B. eine Passage im Interview als zu einer bestimmten Kategorie zugehörig identifizieren) oder auch bei der Dokumentation unserer Forschungsergebnisse, die auf eine Auswahl von Auswertungsaspekten beschränkt bleibt. Da Konstruktionen verschiedenster Art also auf vielfältige Weise konstitutiv für den Forschungsprozess sind, bildet deren reflexive Bearbeitung ein integrales und unverzichtbares Element der Forschungspraxis. Oder mit den Worten Bourdieus (1997: 781): »Denn der positivistische Traum von der perfekten epistemologischen Unschuld verschleiert die Tatsache, dass der wesentliche Unterschied nicht zwischen einer Wissenschaft, die eine Konstruktion vollzieht, und einer, die das nicht tut, besteht, sondern zwischen einer, die es tut, ohne es zu wissen, und einer, die darum weiß und sich deshalb bemüht, ihre unvermeidbaren Konstruktionsakte und die Effekte, die diese ebenso unvermeidbar hervorbringen, möglichst umfassend zu kennen und zu kontrollieren.«

Die Forderung konsequenter und permanenter Reflexion im Forschungsprozess ergibt sich dabei nicht lediglich als abstraktes Gebot wissenschaftstheoretischer Gründlichkeit (an einer Stelle sprechen Bourdieu/Wacquant (1996: 102) von Reflexivität als »echte Arbeitsmethode«), sondern erhält ihre Unverzichtbarkeit vor allem daraus, dass die vorgenommenen Konstruktionen (ein methodisches Problem auf eine bestimmte Art zu lösen, heißt ja immer auch eine andere Lösung nicht zu wählen) nicht folgenlos für die Erforschung der Praxis bleiben. Er habe lange gebraucht – so Bourdieu (1987: 26) –, »um zu begreifen, dass man die Logik der Praxis nur mit Konstruktionen erfassen kann, die sie als solche zerstören, solange man sich nicht fragt, was Objektivierungsinstrumente wie Stammbäume, synoptische Tabellen, Pläne, Karten oder […] schon die einfache Verschriftung eigentlich sind, oder besser noch, was sie anrichten« (Bourdieu 1987: 26). Die reflexive Anstrengung der ForscherInnen muss also auf die Frage zielen, in welcher spezifischen Weise eine Praxis zerstört, der Blick auf die praktischen Notwendigkeiten, in welche sie eingelassen ist, verstellt wird, wenn sich Forschungspraxis über spezifische Konstruktionen realisiert. Mit der Lektüre klassischer methodologischer Texte als akademische Übung (»Wie ist Erkenntnis möglich?«) wäre hier zunächst einmal nur wenig

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gewonnen, solange sich aus diesen nicht Reflexionsangebote für die jeweilige konkrete Forschungsarbeit und den sich hier stellenden Problemen ergeben. Wenn also der Zugriff auf die zu untersuchende Praxis nur auf dem Wege der Konstruktion zu haben ist, welches sind dann die Bedingungen einer der Praxis angemessenen Konstruktion? Für eine praxeologische Erkenntnisweise spielt in diesem Zusammenhang die Idee des Bruchs (rupture) eine zentrale Rolle. Hier unterscheidet Bourdieu verschiedene Formen des epistemologischen und sozialen Bruchs, wobei ihnen gemeinsam ist, sich als ForscherIn in Distanz zu begeben zu den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, den unhinterfragt gültigen Wissensbeständen, Begrifflichkeiten, von denen sie im Alltag ebenso umgeben sind wie im wissenschaftlichen Feld. Wie Bourdieu (1996: 269) verdeutlicht, besteht zunächst und vor allem die Notwendigkeit, mit dem common sense des Alltags zu brechen. Da ForscherInnen, wie alle anderen Akteure auch, in der Welt und Teil der Welt sind, haben auch sie ihre eigenen Erfahrungen, ihre Alltagsannahmen, ihre häufig implizit bleibenden Präkonstruktionen über den Forschungsgegenstand (etwa – um unser Beispiel in Erinnerung zu rufen – was einen gelungenen, professionellen, souveränen Auftakt eines Vortrags ausmacht). Gerade wenn  – wie dies in unserem Projekt »Trajektorien im akademischen Feld« der Fall ist – die praxistheoretische Rekonstruktion der Hervorbringung wissenschaftlicher Karrieren den Untersuchungsgegenstand bildet, wird es besonders notwendig, die Vorerfahrungen der beteiligten WissenschaftlerInnen, ihren jeweiligen Blick auf z.B. das Halten eines Vortrags (als etwas, dem sie mit großer Anspannung oder mit Vorfreude auf die Möglichkeit des wissenschaftlichen Austauschs entgegensehen oder das sie für eine lästige Pflichtübung halten, um im akademischen Feld wahrgenommen zu werden, usw.) mitzuführen, um sich hier vor der Gefahr der Projektion eigener idiosynkratischer Befindlichkeiten auf das zu analysierende Material zu schützen. Allerdings, so Bourdieu, ist allein mit einer Explikation der subjektiven »erlebten Erfahrung« der Forschenden noch wenig gewonnen. Es bestehe sogar die Gefahr einer narzißtischen Reflexion, die dort Nabelschau betreibt, Reflexion zum Selbstweck werden lässt, wo es doch um das Ziel einer »Verfeinerung und Verstärkung der Erkenntnismittel« gehen müsse (Bourdieu 1993a: 366). Als konstitutives Element einer wissenschaftlichen Reflexivität stellt sich daher des Weiteren die Notwendigkeit, eine Objektivierung der »sozialen Bedingungen der Produktion des Produzenten« (Bourdieu 1993a: 369) vorzunehmen. Hier geht es darum, in allen Forschungsschritten mitzuführen, dass das eigene Forschungsinteresse, die methodischen Wege ihrer Bearbeitung und der analytische Blick auf das empirische Material nicht »ortlos« sind, sondern von einer jeweils spezifischen sozialen Position aus eingenommen werden: als arrivierte Forscherin, die  – um bei unserem Beispiel zu bleiben  – schon sehr viel Erfahrung mit dem Halten von Vorträgen hat, als junger Nachwuchs-

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wissenschaftler, der ein bildungsbezogenener »first generationer« ist, d.h. als erster in seiner Herkunftsfamilie einen akademischen Abschluss erlangt hat, usw. Hier ist die Forderung, eine Haltung aufzugeben, die der Maxime folgt »Von uns selbst aber schweigen wir«, um so vermeintlich die Forschungsbefunde von subjektivistischen Verunreinigungen frei zu halten. Bourdieus Forderung nach Reflexivität zielt nun genau darauf, diese unhintergehbare soziale Perspektivität der Analyse reflexiv zugänglich zu machen, um so ihren Anteil an der wissenschaftlichen Produktion kontrollieren zu können.9 Ein weiterer Aspekt, auf den sich die reflexive Anstrengung der Forschenden richten muss, betrifft ihre eigene Stellung im wissenschaftlichen Feld.10 Hier geht es darum, die eigene akademische Trajektorie reflexiv mitzuführen, also darüber nachzudenken, wie das bisherige Gewordensein als Wissenschaftler­ In in einem spezifischen Feld den analytischen Blick auf die zu analysierende Praxis konstituiert, indem dort bestimmte begriffliche Festlegungen, Theorieangebote, methodische Vorgehensweisen dominieren und wissenschaftliches Renomée für sich beanspruchen können. Auch in dieser Hinsicht muss ein Bruch mit dem common sense des Feldes durch die Forschenden geleistet werden. Besteht doch sonst die Gefahr, das theoretische Modell, mit dem die Praxis erklärt wird, als konstitutives Element der Praxis selbst zu adeln und Opfer »einer naiv finalistischen Anschauung der Praktik, wie sie auch dem gewöhnlichen Gebrauch derartiger Begriffe wie Interesse, rationales Kalkül usw. zugrunde liegt«, zu werden (Bourdieu 1992a: 114 f.). Wenn hier in einem Beitrag zu den method(olog)ischen Herausforderungen praxistheoretischer Rekonstruktion relativ ausführlich auf die Erfordernisse reflexiver Brechung eingegangen wird, dann ist dies Ausdruck der zentralen Bedeutung, die Bourdieu der Freisetzung aus doxischer Gefangenschaft beimisst, einer Freisetzung, die sich ebenso auf unreflektierte, aus der Lebenswelt der Forschenden stammende Alltagstheorien bezieht, wie sie sich auf die im Habitus geronnene inkorporierte soziale Geschichte der Forschenden er9 | Burkart (2002) hat sehr schön herausgearbeitet, welche Strategien Forschende wählen, um nicht von sich selbst sprechen zu müssen. 10 | Eine solche Selbstobjektivierung des Forschenden hat Bourdieu für sich selbst in seinem »soziologischen Selbstversuch« (Bourdieu 2002) vorgelegt. In dieser Arbeit, die er aus guten Gründen nicht als Autobiografie verstanden sehen wollte, beginnt er mit einer genauen Analyse des wissenschaftlichen Feldes der Philosophie und der Soziologie im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre und seine Stellung darin. Die Soziologie hat ihm dafür die analytischen Mittel an die Hand gegeben. »Die Soziologie ist ein höchst machtvolles Instrument der Selbstanalyse, die es einem ermöglicht, besser zu verstehen, was man ist, indem es einem die sozialen Bedingungen, die einen zu dem gemacht haben, was man ist, sowie die Stellung begreifen läßt, die man innerhalb der sozialen Welt innehat.« (Bourdieu 1992b: 223)

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streckt und reflexiv zugänglich macht, wie sich die soziale Standortgebundenheit auf die Konstruktion des Forschungsobjekts auswirkt. Und schließlich: eine Freisetzung, die sich aus der Positionsbestimmung der Forschenden in einem bestimmten wissenschaftlichen Feld ergibt, »von der aus sie zu ihrer besonderen Sicht der Welt und des Feldes selber kommen« (Bourdieu/Wacquant 1993: 139), indem sie etwa bestimmte Forschungsfragen als relevant, bestimmte methodische Zugänge als lege artis oder bestimmte Arten, einen Vortrag zu eröffnen, als angemessen wahrnehmen. Notwendig als ein unerlässliches Instrument der soziologischen Methode (und nicht etwa lediglich ein »nice to have«) ist also eine »Soziologie der Soziologie, mit der sich bereits vorliegende Errungenschaften dieser Wissenschaft gegen diese in ihrem Fortgang kehren lassen […]: Man treibt Wissenschaft – zumal Soziologie – mit deren und gegen deren Bestand« (Bourdieu 1985: 50).11 Zu diesem Bestand der Soziologie zählt auch ihr Arsenal (im eigentlichen Wortsinn: Werkstatt) an methodischen Zugangsweisen, mit denen sie an ihre empirischen Forschungsgegenstände herantritt.

4. Z ur Ü berwindung eines me thodischen M onotheismus Ein Blick auf die diversen empirischen Arbeiten, die Bourdieu im Verlaufe seines Forscherlebens vorgelegt hat, verdeutlicht, dass er in methodischer Hinsicht äußerst flexibel war und in seinen empirischen Analysen auf sehr unterschiedliche Zugänge gesetzt hat. Dies betrifft sowohl die Möglichkeiten der Datenerhebung (ethnografische Beobachtungen und Fotografien in den Algerien-Studien, standardisierte Befragungen, qualitative Interviews, PhotoElicitation-Techniken in den Feinen Unterschieden (Bourdieu 1982), Mitschnitte von Verkaufsgesprächen und Werbematerialien in das Der Einzige und sein Eigenheim (Bourdieu et al. 1998), politische Diskussionssendungen in Über das Fernsehen (Bourdieu 1998), als auch die Auswertung der Daten, sei es in Form von statistischen Analysen vor allem mithilfe der Korrespondenzanalyse oder sei es mithilfe einer Diskursanalyse. Hier folgt er der von ihm ausgegebenen Maxime, für jede Forschungsfrage »sämtliche Techniken zu mobilisieren, die – bei gegebener Objektdefinition – relevant erscheinen können und – bei 11 | Langenohl (2009) unterstellt Bourdieu einen ungebrochenen Glauben an die Möglichkeit soziologischer Objektivität, die mithilfe einer reflexiven Objektivierung der soziologischen Erkenntnispraxis zu gewinnen sei. Auch wenn dies näher zu zeigen wäre: Dem Bourdieu’schen Bemühen angemessener ist eine Rekonstruktion, wonach es darum geht, die epistemologischen Hindernisse auf dem Weg zur »Wahrheit der Praxis« so weit als möglich via Reflexion auszuräumen. Diese »Wahrheit der Praxis« ist dabei immer auch (aber nicht nur) die Wahrheit der Akteure.

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gegebenen praktischen Bedingungen der Datensammlung – praktisch durchführbar sind« (Bourdieu 1996: 260 f.). Jeder methodische Rigorismus, der nur bestimmte methodische Zugänge und bestimmte Datenquellen als legitim betrachtet, ist also zurückzuweisen. Ein solches Plädoyer für methodische Vielseitigkeit wäre aber falsch verstanden, wenn daraus ein genereller Verzicht auf methodisch systematisierte Vorgehensweisen abgeleitet würde. Bourdieus Position gleicht hier Paul Feyerabends (häufig missverstandenem) »Anything goes« (Feyerabend 1975), der ebenfalls in Frage stellte, dass wissenschaftlicher Fortschritt durch das strikte Befolgen methodischer Anweisungen zu gewährleisten sei, diese aber keinesfalls generell in ihrer Existenzberechtigung leugnete, sondern lediglich ihre eingeschränkte Gültigkeit als genaue methodische how-to-Anweisung betonte. Nach Bourdieus Verständnis ist methodisch sehr vieles möglich, solange methodologisch mitgeführt wird, wie der Untersuchungsgegenstand auch durch die Methode konstruiert wird und dabei reflexiv ein Bruch mit dem alltäglichen wie wissenschaftlichen common sense der Forschenden geleistet wird. »Verbieten verboten« hält er jenen »methodologischen Wachhunden« entgegen, die hier der reflektierten methodischen Freiheit der Forschenden Grenzen setzen wollen (Bourdieu 1996: 261). Die Grenzen – so könnte hier die Bourdieu’sche Haltung resümiert werden – ergeben sich weniger aus den Methoden selbst, als vielmehr aus ihrer unreflektiert bleibenden Anwendung, einer Anwendung also, die nicht ihrem grundlegend konstruierenden Charakter reflexiv Rechnung trägt. Da sich eine praxistheoretische Rekonstruktion vor allem für körperlich vollzogene Routinen interessiert, in welche die soziale Geschichte der Akteure eingelagert ist, wird häufig die Beobachtung als methodischer Königsweg der Analyse sozialer Praxis gesehen. So spricht etwa Reckwitz (2008: 196 f.) von einem methodischen Primat der teilnehmenden Beobachtung: »Die ethnographische teilnehmende Beobachtung  – die von Beobachtungsprotokollen und einer Aufzeichnung von Handlungs- und Gesprächssequenzen etwa auf Film oder Tonband begleitet sein kann  – ist gewissermaßen die ›natürliche‹, ihr korrespondierende Methode der Praxeologie.« Für die Sphäre der Materialität des körperlichen Vollzugs der Praxis, des »ongoing, practical accomplishment« (Garfinkel 1967: 4), das beobachtbar ist, mag dies zutreffen. Bourdieu selbst hat intensiv ethnografisch geforscht und dabei die teilnehmende Beobachtung als methodischen Zugang eingesetzt, auch wenn er ihr keine hervorgehobene Bedeutung bei der Analyse sozialer Praxis zuerkennen würde. Wichtiger als die Methodenwahl selbst – hier lässt er keine Einschränkungen gelten – ist ihm die Art und Weise, wie sie in der Praxisanalyse zum Einsatz gebracht wird. Gerade bei beobachtenden Verfahren, die sich auf das Sichtbare konzentrieren, besteht die Gefahr, alle Aufmerksamkeit der Forschenden auf den jeweils spezifischen situativen Kontext zu richten und in der Analyse einem situativen Reduktionismus zu verfallen, welcher die Praxis als allein von der Situation

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hervorgebracht rekonstruiert. Zu kurz greift eine solche Analyse, weil sie ihr Heil in einer möglicherweise auch sehr genauen Registrierung des offen Beobachtbaren sucht und dabei übersieht, dass sich die Logik der Praxis nicht allein aus der Situation (oder der darin enthaltenen Interaktion) rekonstruieren lässt. Ein vermeintlich unmittelbarer Zugang zur empirischen Welt der Praxis übersieht die (nicht sichtbaren und damit auch nicht beobachtbaren) Dimensionen der Praxis, die gerade ihren praktischen Sinn begründen, der selbst nicht situativ gebunden ist. »Der Begriff der ›Situation‹, im Zentrum des interaktionistischen Irrtums, erlaubt die objektive und dauerhafte Struktur der Beziehungen zwischen den offiziell konstituierten und verbürgten Positionen, die jede reale Interaktion gliedert, auf punktuelle, lokale, labile (wie in den Zufallstreffen zwischen Fremden) und häufig künstliche Ebene zu reduzieren.« (Bourdieu 1982: 379, Fußnote 20) Eine praxistheoretische Rekonstruktion interessiert sich demgegenüber für »diese unsichtbare Realität, die man nicht mit dem Finger berühren kann und die gleichwohl der Ursprung für die Mehrzahl unserer Verhaltensweisen ist, die ich sozialen Raum nenne« (Bourdieu 2001: 162). Die zentrale Herausforderung, die sich bei Beobachtungsdaten also in besonderer Weise stellt, liegt in der Überwindung eines Situationismus bzw. Interaktionismus, also darin, in der Analyse in den Blick zu bekommen, dass außersituative kollektive Kräfte daran beteiligt sind, eine spezifische Praxis zu konstituieren. »Noch in den zufälligsten Interaktionen [und wir könnten hinzufügen: Situationen, A. B.] bringen die Interagierenden alle ihre Eigenschaften und Merkmale ein – und es ist die jeweilige Position innerhalb der sozialen Struktur (oder eines spezifischen Feldes), die die jeweilige Position im Rahmen der Interaktion determiniert.« (Bourdieu 1982: 379, Fußnote 20) Mit anderen Worten: Soziale Praxis ist stets als Hervorbringung des Habitus der Akteure zu rekonstruieren. Beziehen wir diese Einsicht auf unser Beispiel der Eröffnung eines Vortrags auf einer wissenschaftlichen Tagung, so gilt es anzuerkennen, dass eine genaue Registrierung der körperlich ausgeführten Praxis (wie schnell geht die Wissenschaftlerin zum Pult, wohin richtet sie ihren Blick bei ihren ersten Worten, wie ist ihre Körperhaltung usw.?) nicht hinreichend ist, genauso wie es nicht ausreicht, den Kontext der Situation (wie viele WissenschaftlerInnen sind anwesend, wie hat die Moderatorin die Wissenschaftlerin vorgestellt, wie ist die räumliche Ausgestaltung der Situation? usw.) genau zu fassen. Eine solche wesentlich im Beschreibenden verbleibende »Analyse« würde in einem entscheidenden Punkt zu kurz greifen: Sie würde nicht berücksichtigen, dass in die jeweilige Praxis all die Vorerfahrungen eingelagert sind, welche die Wissenschaftlerin vor dem Hintergrund ihrer Position im sozialen Raum wie auch ihrer Stellung im wissenschaftlichen Feld gemacht hat, und dass die Analyse genau diese Zusammenhänge in den Blick zu nehmen hat. So stellt auch Meier (2004: 58) fest, dass bei einem Verbleib im Sichtbaren den Forschenden

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das Wesentliche entgeht, »weil sie die zugrunde liegenden Wissensordnungen zwar voraussetzen oder beschreiben, diese aber nicht systematisch in der Analyse berücksichtigen«. Es stellt sich daher die Frage, wie der kollektiv verfasste praktische Sinn empirisch eingeholt werden kann, oder mit anderen Worten, wie die ihn erzeugende Struktur analytisch fassbar wird. Ein erster wichtiger Hinweis wäre in diesem Zusammenhang, die Analyse als »constant method of comparison« anzulegen, d.h. die Logik der Praxis nicht allein aus der jeweils zu analysierenden Praxis selbst ableiten zu wollen, sondern ihr auf die Spur zu kommen, indem sie in ihrer besonderen Qualität in Beziehung gesetzt wird zu sozialen Praktiken in anderen für die Fragestellung relevanten Bereichen. Die Logik der Praxis offenbart sich den Forschenden in deutlicherer Weise, wenn sie die Analyse auf die Homologien der sie erzeugenden Struktur oder mit anderen Worten auf den Habitus als generatives und vereinheitlichendes Prinzip ihrer Hervorbringung (Bourdieu 1998a: 20) richten. Wenn Bourdieu vom Habitus als einem zusammenhängenden System von Dispositionen spricht, dann bezieht sich dieses nicht nur auf den Zusammenhang von Wahrnehmung, Denken und Handeln der Akteure, sondern auch auf die sozialen Praktiken in verschiedenen für ein spezifisches Feld relevanten Bereichen, die nicht unabhängig voneinander organisiert sind, sondern insofern ein Ensemble bilden, als sie durch den praktischen Sinn der Akteure ihre besondere (kollektive) Beschaffenheit gewinnen. Aus diesem Grund spricht Bourdieu auch in aller Regel nicht von (einzelnen) Praktiken, sondern von der sozialen Praxis der Akteure in ihrer Gesamtheit von wechselseitigen Verweisungszusammenhängen. Auf unsere Beispielsituation bezogen, würde es in der Analyse etwa darum gehen, in einer vergleichenden Analyse danach zu fragen, wie die zu analysierende Praxis der Eröffnung eines Vortrags in Zusammenhang steht etwa mit der Praxis der Einreichung eines Abstracts in Reaktion auf den call for papers einer wissenschaftlichen Fachtagung.12 Die Logik der Praxis zeigt sich hier »in einer Art Einheitlichkeit des Stils, die zwar unmittelbar wahrnehmbar ist, aber nichts von der strikten und überraschungslosen Schlüssigkeit aufeinander abgestimmter Erzeugnisse eines Plans hat« (Bourdieu 1987: 187). Um der 12 | Wie erheblich sich diese Vortragsangebote etwa darin unterscheiden können, wie symbolisch markiert wird, als Wissenschaftlerin mit Fug und Recht diejenigen sein zu können, die sie sind, weiß jeder, der/die jemals an den entsprechenden Sichtungs- und Auswahlprozessen beteiligt war. Die Länge der Abstracts, die Verwendung oder Meidung des WissenschaftlerInnen-Ichs (»Es soll untersucht werden …«), der Verweis auf im Feld anerkannte AutorInnen zum Nachweis der eigenen akademischen Gelehrsamkeit usw. könnten viel über den »sense of one’s own place« – wie Bourdieu (1992d: 144) dies in Anlehnung an Goffman einmal nannte – des sich um einen Vortrag Bewerbenden offenbaren.

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sozialen Logik der Praxis auf die Spur zu kommen, ist es also notwendig, den Blick nicht auf isolierte Bereiche sozialer Praxis zu richten, sondern ihre soziale Zusammenhangslogik analytisch herauszuarbeiten. Eine weitere notwendige praxisrekonstruktive Forderung (zumindest, wenn sie sich an Bourdieus Methodologie orientiert) besteht darin, in der Analyse der Relationalität sozialer Praxis Rechnung zu tragen, d.h. mit jeder Form substantialistischen Denkens zu brechen, indem Praktiken nicht an und für sich betrachtet werden und ihnen als asoziale Substanz spezifische Merkmale zugeschrieben werden. Mit einer relationalen Analyse ist demgegenüber die Einsicht verbunden, dass eine bestimmte Praxis ihre soziale Eigenlogik nicht nur aus sich selbst bezieht, sondern stets auch aus den sozialen Beziehungen, die sie zu den Praktiken anders im sozialen Raum oder in einem spezifischen Feld positionierter sozialer Akteure unterhält. Erst daraus ergeben sich ihr Sinn und ihre Funktion (Bourdieu 1987: 12). Zentrale Forschungsfrage ist dann, welche Beziehung sich herstellen lässt zwischen die ein strukturiertes System bildendenden Differenzen der Praktiken einerseits und die strukturierten Systeme der sozialen Differenzen andererseits. Die spezifische Beschaffenheit der sozialen Praxis, ihre jeweils besonderen Merkmale, lassen sich empirisch erst dann rekonstruieren, wenn sie in systematischer Vergleichsperspektive denjenigen gegenübergestellt werden, die an gleichen oder differenten sozialen Positionen vorgefunden werden. Eine hier praktizierte methodische Technik des ständigen Vergleichs ist in der Lage, für die Praxis sichtbar werden zu lassen, »dass jedes dieser Merkmale lediglich das bedeutet, was die anderen nicht bedeuten, und dass es als in sich selbst (teilweise) unbestimmtes Merkmal seine vollständige Bestimmtheit nur aus seiner Relation zur Gesamtheit der übrigen Merkmale bezieht, als Unterschied in einem System von Unterschieden« (Bourdieu 1987: 18 Hervorhebung i.O.). Für die Analyse von spezifischen Praktiken stellt sich dadurch eine zweifache Herausforderung. Einerseits bedarf es einer sinnrekonstruierenden Analyse spezifischer konkreter Praktiken unter Anerkennung der Besonderheit ihrer Ausprägung. Andererseits gilt es in der Analyse, das strukturalistische Erkenntnisinteresse Bourdieu’scher Praxisanalyse ernst zu nehmen und die in der Praxis aufgehobene überindividuelle Ebene des praktischen Sinns analytisch zu adressieren, indem Unterschiede in der sozialen Praxis in ihrer Korrespondenz mit Unterschieden in der sozialen Position der Akteure, die Ausführende dieser Praxis sind, gesehen werden. Um diese Unterschiede herauszuarbeiten, die Relationalität sozialer Praxis empirisch einholen zu können, ist es erforderlich, die an einen sozialen Ort gebundene soziale Praxis über systematisch angelegte Vergleiche in ihrer besonderen Qualität genauer zu bestimmen. Über das Aufzeigen von objektivierbaren Regelmäßigkeiten in der Ausführung der Praktiken kann dann versucht werden, die Existenz einer sozialen Strukturlogik im Sinne eines zugrunde liegenden generativen und

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vereinheitlichenden Prinzips empirisch abzusichern. Was unterscheidet die spezifische Praxis der Eröffnung eines Vortrags durch eine arrivierte Forscherin, die über Jahrzehnte die doxische Vertrautheit mit solchen Situationen hat erwerben können, im Vergleich zu einer Novizin im wissenschaftlichen Feld, die über die notwendigen in Fleisch und Blut übergegangene Routinen noch nicht verfügt? Wie lässt sich die Besonderheit der Praxis eines sozialen Aufsteigers im wissenschaftlichen Feld im Vergleich zu einem Kollegen, der auf viel (über Generationen in seiner Herkunftsfamilie akkumuliertes kulturelles und soziales) Kapitel vertrauen kann, genauer bezeichnen? Mit solchen Fragen geht es darum, »die Suche nach dem Unterschied zum Prinzip der kulturellen [wie auch der zum wissenschaftlichen Feld gehörenden, A. B.] Praktiken« (Bourdieu/Wacquant 1996: 130) zu machen. Wer also mit Bourdieu praxistheoretische Rekonstruktionen betreiben will, sollte sich nicht nur für die unterschiedliche Ausführung von Praxis interessieren, sondern immer auch dafür, wie diese Unterschiede als System von Unterschieden in Beziehung stehen zu sozialen Unterschieden der Akteure, der jeweiligen kollektiven sozialen Geschichte also, die diese Praxis in ihrer Differenz hervorgebracht hat.13 Allerdings – und dies erschwert die Analyse erheblich – kann sie sich nicht einfach darauf beschränken, nur offensichtliche Unterschiede und Gleichförmigkeiten in der Ausführung der Praktiken zu registrieren, weil hier »immer die Gefahr besteht, dass strukturell unterschiedliche Merkmale unzulässiger Weise gleichgesetzt oder strukturell gleiche Merkmale fälschlich unterschieden werden« (Bourdieu 1998a: 18). So kann etwa der in entsprechender Ratgeber-Literatur bisweilen anzutreffende Rat, einen wissenschaftlichen Vortrag mit einer Anekdote zu beginnen, in einem Fall für die Lockerheit des Vortragenden stehenden, in einem anderen Fall aber als unangemessen oder »gewollt witzig« registriert werden: quod licet iovi, non licet bovi. Hier wird deutlich, wie weitgehend die »Wahrheit der Praxis« verfehlt wird, wenn sich die Analyse lediglich auf die Registrierung zu beobachtender Praktiken beschränkte, ohne

13 | Die ganze Absurdität der Negierung der sozialen Geschichte von Praktiken offenbart sich aufs Deutlichste, wenn etwa in Rhetorik-Seminaren den Teilnehmenden »Bogensätze« empfohlen werden, bei denen sich die Stimme im Verlauf des Satzes heben und sich zum Satzende hin wieder senken solle, um sodann eine kurze Pause folgen zu lassen. Das Heben der Stimme verleihe dem Gesagten Lebendigkeit und die Senkung signalisiere Sicherheit, wobei die sich anschließende Pause die Wirkung des Gesagten noch unterstreiche. Wir benötigen nicht viel Phantasie, um uns vorzustellen, wie eine solche Praxis des Sprechens als Befolgung von Regeln eine ganz besondere Qualität der Praxis generiert. Übersehen wird hier, dass auch für die Art und Weise des Sprechens gilt, dass sie von den Umständen ihrer Aneignung geprägt bleibt (Bourdieu 1983: 187).

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ihre jeweilige spezifische Modalität in Abhängigkeit von der Feldposition der Akteure fassen zu können. Wenn also eine praxistheoretische Rekonstruktion nach den Zusammenhängen von Position (im sozialen Raum wie – davon ja keineswegs unabhängig  – in einem spezifischen Feld) und Disposition (als vorreflexive Affinität zu bestimmten Varianten von Praxis) fragt, dann besteht für die Analyse der Praxis eine besondere Gefahr einer subsumtionslogischen Einordnung, da die Forschenden auf die Ausführung der Praxis in der Regel mit dem Wissen um die Position der Ausführenden blicken. Hier stellt sich also die Frage, wie einer solchen vorschnellen Analyse der Praxis als ein Derivat einer bestimmten gegebenen objektiven Struktur vorgebeugt werden kann, sich die Forschenden also davor schützen können, im Sinne einer »selektiven Plausibilisierung« (Flick u.a 1991) für ex ante vermutete Strukturierungslogiken die passende Deutung der zu analysierenden Praktiken vorzunehmen. Erforderlich ist hier als erster Schritt der Analyse eine möglichst genaue und umfassende Beschreibung der Praxis, die ihre besondere Qualität erkennbar macht. Gefragt ist hier also eine isomorphe Art der beschreibenden Beobachtung, welche nicht auf reduktionistische Weise die Analyse auf vorab bestimmte Kategorien festlegt, sondern in der Lage ist, möglichst umfassend die gezeigte Praxis in all ihren Merkmalen zu erfassen. Ein solcher proximaler Zugang wird idealerweise durch technische Hilfsmittel unterstützt, wie sie etwa im Rahmen von Videoaufzeichnungen möglich sind. So betonen auch Knoblauch/Schnettler (2012: 337) im Kontext einer »focused ethnography« als besonderes Potenzial einer Videoaufzeichnung »its capacity to register on-going social activities in a very detailed way that preserves its sequential organization.« Entscheidend ist hier (technikgestützt oder durch genaueste Protokollierung), dass die spezifische Modalität in der Ausführung der Praxis in Echtzeit greifbar wird. Bezogen auf unser Beispiel würde es z.B. nicht ausreichen zu erfassen, ob die vortragende Nachwuchswissenschaftlerin mit ihrem Arm/ihrer Hand das RednerInnen-Pult berührt. Die soziale Logik dieser sozio-materiellen Praxis erschließt sich erst in der besonderen Qualität, mit der die Verbindung zum Pult gesucht wird: sich z.B. angespannt an der Kante des Pults festhaltend, sodass die Knöchel der Hand hervortreten, oder aber den Unterarm locker auf der Kante des Pults aufstützend, während die Rednerin seitlich vom Pult steht. Allein die genaue Beobachtung/Beschreibung des Umgangs der RednerInnen mit dem Pult (inklusive der verschiedenen Formen seiner Nicht-Beachtung) eröffnet den Blick auf eine Fülle an differenter Praxis, die nicht einfach nur unterschiedliche und gleichberechtigte Arten und Weisen des Handlings der Situation widerspiegeln, sondern die implizite »Kenntnis der Prinzipien, nach denen das Spiel funktioniert« (Bourdieu 1993b: 109), zum Ausdruck bringen

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und so als Unterscheidungen sozial relevant werden.14 Mit diesem Beispiel wird auch deutlich, dass in der Analyse der Praxis eine relationale Perspektive unverzichtbar ist: So kann etwa die gleiche Praxis in zwei disziplinären wissenschaftlichen Feldern sehr Unterschiedliches bedeuten, wie dies z.B. Beaufaÿs (2003) für die scientific communities der HistorikerInnen und BiochemikerInnen herausgearbeitet hat. Eine bestimmte Art, einen Vortrag zu eröffnen, könnte auf einer Fachtagung von HistorikerInnen als kompetente Praxis, bei BiochemikerInnen hingegen als knöchern oder verstaubt gelten (hier dürften wir selbstverständlich nicht im Bereich unserer Alltagsannahmen bleiben, sondern müssten dies als Spielregeln des jeweiligen disziplinären Feldes empirisch herausarbeiten). Wie immer die jeweiligen Gesetze des disziplinären Feldes sein mögen: Stets gilt für die spezifische Modalität der Praxis der NachwuchswissenschaftlerInnen, dass ein »wie sie es machen« immer auch ein »wie sie sich (als WissenschaftlerInnen ihrer Disziplin) machen« impliziert. Wie diese soziale Hervorbringung mikrosoziologisch fundiert ist, kann nur über eine sehr genaue Beschreibung der Praxis aufgedeckt werden, wobei hier – wie oben bereits angedeutet – deren soziale Logik nur freigelegt werden kann, wenn sie im Ensemble mit anderen für das Feld relevanten Praktiken der AkteurInnen analytisch erschlossen wird. Hier geht es allerdings gerade nicht darum, Praxis »as being locally produced, ›moment-by-moment‹« zu begreifen, wie dies Knoblauch/Schnettler (2012: 335) für die von ihnen analysierten Interaktionssequenzen im Rahmen ihrer focused ethnography tun. Auf die hier bestehende Gefahr eines so praktizierten situativen Reduktionismus’ wurde bereits hingewiesen. Neben einer sehr genauen und notwendig systematisch vergleichenden Analyse verschiedener feldrelevanter Praktiken von AkteurInnen (weil nur so mithilfe von mikroethnografischen Zugängen das generierende einheitsstiftende Prinzip herausgearbeitet werden kann) bedarf es daher aber gleichzeitig immer auch distanter Zugänge, die in der Lage sind, die objektive Strukturgesetzlichkeit der Praxis in die Analyse zu integrieren, indem ihrer Relationalität Rechnung getragen wird.15 Um Praktiken in ihrer Genese wie auch in 14 | Gerade für NovizInnen im Feld stellt sich in besonderer Weise die Notwendigkeit, Zugehörigkeit zur jeweiligen scientific community symbolisch markieren zu können: »Die Neulinge müssen einen Eintrittspreis zahlen, bestehend aus der Anerkennung des Werts des Spiels (bei Selektion und Kooptation wird immer sehr viel Gewicht gelegt auf die Indizien des Einverständnisses mit dem Spiel, der Investition in das bzw. der Besetzung des Spiels), sowie aus der (praktischen) Kenntnis der Prinzipien, nach denen das Spiel funktioniert« (Bourdieu 1993: 109). 15 | Nicolini (2009) hat für die methodische Erschließung von Praktiken einen reiterativen »zooming in/out approach« vorgeschlagen. Der Prozess des »zooming in« wird allerdings »not obtained by putting the practice under the microscope. Rather, the zoom-

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ihrer sozialen Differenz erhellen zu können, müssen in einer feldanalytischen Perspektive die Voraussetzungen geschaffen werden, um die zu analysierenden Praktiken nach den in ihnen unsichtbar wirksam werdenden strukturalen Relationen befragen zu können. Entsprechend verweist Bourdieu für die empirische Analyse darauf, »dass der Gegensatz zwischen allgemein und einmalig, nomothetischer Analyse und idiographischer Deskription, eine falsche Antinomie darstellt. Mit der relationalen, analogischen Denkweise, die durch den Begriff des Feldes gefördert wird, lässt sich das Besondere im Allgemeinen und das Allgemeine im Besonderen erfassen«. (Bourdieu/Wacquant 1996: 106) Das Besondere einer Praxis kann daher nur eingeordnet werden, wenn es in Relation zur allgemeinen Struktur des jeweiligen Feldes in Beziehung gebracht wird. Vor allem daraus ergibt sich die Notwendigkeit, qualitative, d.h. auf das unmittelbare Sinnverstehen der Akteure ausgerichtete Zugangsweisen und quantitative, d.h. auf die sich zeigenden statistischen Regelmäßigkeiten von Praktiken und ihrer Einbettung im sozialen Raum bzw. im spezifischen Feld zielende Methoden in die Analyse zu integrieren. Nur so kann methodisch eingelöst werden, dass die sozialen Strukturbedingungen, in denen und mit denen (bezogen auf unser Beispiel) wissenschaftliches Wissen hervorgebracht wird, als Raum von objektiven Relationen zwischen Positionen analysiert werden können. Hier muss das Feld, in dem die zu untersuchenden Praktiken ihren sozialen Ort haben, hinsichtlich der in ihm wirkenden Kräfteverhältnisse vermessen werden. Für das wissenschaftliche Feld können hier sehr unterschiedliche Datenquellen relevant werden, die eigens erhoben oder aber durch sekundäranalytische Zugänge integriert werden: Daten zur Geschichte der wissenschaftlichen/universitären Disziplin, die Altersstruktur in dem spezifischen disziplinären Feld, seine Homo- bzw. Heterogenität hinsichtlich der sozialen Herkunft der Akteure im jeweiligen Feld, den Stellenwert von wissenschaftlichen Fachtagungen und einer Präsenz dort, die Exklusivität der Zusammensetzung der Vortragenden auf solchen Fachtagungen und vieles andere mehr. Nur unter Heranziehung der sich in diesen Eigenschaften zeigenden spezifischen Kräfteverhältnisse des jeweiligen disziplinären Feldes erschließt sich der Raum des Möglichen, der in relationaler Perspektive als System von differentiellen Unterschieden zu konstruieren ist; »was sich in ihm abspielt, ist nur ing in consists of using theory to bring to the fore certain aspects while pushing others into the background« (Nicolini 2009: 1402). Dass offensichtlich einer theoretischen Perspektiventriangulierung ein zentraler Stellenwert zukommt, wird auch an anderer Stelle deutlich: »My fundamental assumption, implicit in the idea of zooming in and out, is that studying practice requires choosing different angles for observation and interpretation frameworks without necessarily giving prominence to any one of these vistas« (Nicolini 2009: 1396).

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zu verstehen, wenn man jeden Akteur und jede Institution in ihren objektiven Relationen zu allen anderen bestimmt« (Bourdieu 1998a: 62). Um dies tun zu können, stellt die statistische Analyse ein wichtiges Werkzeug dar. In einer frühen Arbeit deklariert Bourdieu sie gar zu »dem einzigen Hilfsmittel zur Aufdeckung der Struktur des sozialen Raum« (Bourdieu 1985: 13). Allerdings ist sie gleichzeitig nur ein Notbehelf, mit dem für definierte Felder systematisch aufeinander verwiesene Beziehungen zwischen der Verortung im sozialen Raum/bzw. im jeweiligen Feld und den mit ihnen verbundenen Praktiken gezeigt werden können. Dass hier sorgfältige Konstruktionsprozesse zu leisten sind, ohne mit einem theorielosen Empirizismus »in die abstrakte Unwirklichkeit der ›Sekundäranalyse‹ disparater Daten zu verfallen« (Bourdieu 1982: 791), können wir uns sehr leicht an einer scheinbar unproblematisch zu erhebenden Variable wie Alter, die in kaum einem quantitativen Datensatz fehlen dürfte, verdeutlichen: Mit der Erhebung einer statistischen Altersverteilung in einem Feld ist zunächst noch wenig gewonnen, wenn nicht gleichzeitig auch in der Analyse z.B. Berücksichtigung findet, dass das identische in Lebensjahren gemessene Alter zweier NachwuchswissenschaftlerInnen durchaus unterschiedliches als strukturale Relation bedeuten kann, »since each field defines its own laws of social ageing« (Bourdieu 1975: 28). Welche methodischen Zugänge und Datenquellen auch immer zum Einsatz kommen (wie wir gesehen haben, stellt weniger die Methodenwahl selbst, sondern eine unreflektiert bleibende theoretische Erkenntnispraxis die kritische Größe dar), für die Umsetzung eines praxistheoretischen Programms gilt zusammenfassend das, was Bourdieu für die soziologische Untersuchung der Sprache fordert: Es muss in einer zugleich strukturalen und genetischen Analyse immer darum gehen, die Einheit der menschlichen Praktiken theoretisch zu begründen und empirisch zu rekonstruieren und dabei deren Relationalität in den Fokus der Analyse zu holen (Bourdieu/Wacquant 1993: 184).

5. W as fehlt ? Fröhlich (1999) hat bereits vor vielen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass Bourdieus Schlüsselkonzept der Inkorporierung der Praxisstrukturen in der Literatur oft merkwürdig körperlos (miss-)verstanden werde. An der Angemessenheit dieser Beobachtung hat sich bis heute wenig geändert, was nicht heißt, dass nicht in fast jeder Veröffentlichung, die sich mit den Bourdieu’schen Analyseinstrumenten beschäftigen, die einschlägigen Ausführungen zu Inkorporierung, zur Interiorisierung der Exteriorität usw. zu lesen sind. Auch für das empirische Arbeiten mit Bourdieu gilt weitgehend noch, dass der körperlichen Seite der Praxis bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, obwohl es in den derzeitigen Debatten um Praxistheorien und was sie im Kern ausmache

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(Reckwitz 2003) zu einer Aufmerksamkeitsverschiebung in Richtung sozialer Praktiken und ihres körperlichen Vollzugs gekommen ist. Soziale Praktiken werden hier empirisch rekonstruiert als »ein Zusammenspiel von geübten Körpern, gegenständlichen Artefakten, natürlichen Dingen, Gegebenheiten, soziomateriellen Infrastrukturen und Rahmungen« (Schmidt 2012: 13), mit dem das Soziale und seine Ordnung hervorgebracht und perpetuiert wird. Nimmt man diese Idee der Verkörperung des Sozialen ernst und folgt Bourdieu darin, dass das Soziale in Praktiken sein Fundament findet, dann geht es in der Analyse immer darum zu klären, wie eine (spezifische) Praxis einen (spezifischen) Körper hervorbringt (z.B. im Zusammenhang ausgeübter Sportarten oder durch das Spielen eines Instruments) und gleichzeitig ein (spezifischer) Körper zum Produzenten einer (spezifischen) Praxis wird bzw. werden kann. Es sind diese Zusammenhänge, die ein spezifisches Feld oder allgemeiner den sozialen Raum konstituieren und daher immer in ihren objektiven Relationen zu analysieren sind. Dass diese durch Praktiken fundierten Relationen eine hierarchische Struktur bilden, verleiht den Praktiken ihre soziale Relevanz für die Kämpfe um den Erhalt und die Verschiebung spezifischer Kräfteverhältnisse in einem Feld. Die Positionen im Feld bestimmen sich zwar wesentlich anhand der Verfügung über (feldspezifische) Kapitalien (ihres Umfangs, ihrer Zusammensetzung, der sozialen Geschichte ihrer Aneignung), ihre positionsbestimmende Wirkung entfalten sie jedoch immer darüber, wie gekonnt und mit welcher Leichtigkeit ihnen über körperlich vollzogene Praktiken soziales Leben eingehaucht werden kann, wie also Positionen der Akteure mit den erworbenen Dispositionen korrespondieren. Die Stärkung einer solchen Perspektive und ihre empirische Bearbeitung mithilfe einer genauen Aufzeichnung und Analyse der Körperlichkeit von Praktiken ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil über diese doppelte Verkörperung des Sozialen symbolische Gewaltverhältnisse wirksam werden, die mit stillem Einverständnis der Akteure ablaufen und sie an ihre Plätze verweisen. Dies geschieht mit Zutun der Akteure und dem von ihnen entwickelten Sinn für diese Gewalt, »der es ihnen ermöglicht, die entsprechenden Signale – oft nur Blicke, kleine Gesten, beiläufige Bemerkungen, die Körperhaltung, die Intonation – zu dekodieren und deren versteckten sozialen Gehalt zu verstehen, ohne dass ihnen bewusst wird, worum es sich bei diesen Gesten, Blicken, Worten handelt, nämlich um Akte der Gewalt« (Krais 2008: 53). In dem bereits erwähnten, noch am Beginn stehenden Forschungsprojekt »Trajektorien im akademischen Feld« sind wir aktuell damit befasst, das skizzierte Forschungsprogramm empirisch umzusetzen, indem wir NachwuchswissenschaftlerInnen aus zwei unterschiedlichen Bereichen des wissenschaftlichen Feldes (kognitive Neurowissenschaft/empirische Bildungsforschung) darum bitten, sich in einem videoaufgezeichneten Portrait als WissenschaftlerInnen vorzustellen. Sie werden dabei gebeten, sich vorzustellen, dass ihre wissenschaftlichen

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Heimatinstitutionen (Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Graduiertenkollegs) eine online-Plattform einrichten wollen, auf der sich die WissenschaftlerInnen der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit präsentieren. Ansonsten werden keine weiteren Vorgaben für das Videoportrait gemacht. Wir sind gespannt, welches Potenzial dieses Material für die Analyse objektiv klassifizierbarer Formen von körpervollzogener Praxis und das ihnen zugrunde liegende Klassifikationssystem bietet und wie hier die Auswertungsvorschläge aus der Mikroethnografie (Streeck/Mehus 2005) bzw. der fokussierten Ethnografie (Knoblauch/Schnettler 2012) genutzt werden können, um die Logik dieser Praxis als sozial voraussetzungsreiche körperliche Erkenntnis sichtbar werden zu lassen.

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Neopraxiology Ethnografische und konversationsanalytische Praxisforschung in ethnomethodologischer Einstellung Christian Meyer

1. E inleitung Ethnomethodologische Forschung wird seit einiger Zeit in ihrer Bedeutung für praxistheoretische Ansätze anerkannt. Dies gilt insbesondere für die Form, wie sie in der Wissenschafts- und Technikforschung ausgeübt wird, aber auch für Interaktionsstudien oder die Soziologie der Kritik (vgl. z.B. Latour/Woolgar 1979: 185 n. 7; Lynch 1993; Schatzki et al. 2001; Reckwitz 2003: 283, 294; Latour 2005: 121 ff., 191 ff., 219 ff.; Boltanski 2011: 24–25; Ayaß/Meyer 2012). In der Tat versteht sich die Ethnomethodologie seit ihrer Begründung durch Garfinkel (1967) als praxistheoretischer Ansatz. Gleich auf der ersten Seite der »Studies in Ethnomethodology« heißt es z.B.: »The following studies seek to treat practical activities, practical circumstances, and practical sociological reasoning as topics of empirical study« (1967: 1). Ziel der Ethnomethodologie ist es, Praktiken zu identifizieren und zu analysieren, mit denen die »Teilnehmer« (so das ethnomethodologische Wort für »Akteure«) soziale Wirklichkeit im Hier und Jetzt in einer Weise herstellen, dass sie ihnen als objektive, externe und mit Zwangsgewalt ausgestatte Realität erscheint.1 Praktiken werden in der Ethnomethodologie sowohl sozialen Strukturen als auch sozialen Handlungen bzw. Akteuren (und ihren Intentionalitäten und Identitäten) vorgeordnet. Garfinkel hat bereits ein Jahr nach dem Erscheinen der »Studies« (1967) erwogen, den schwerfälligen Begriff der »Ethnomethodologie« durch den (allerdings nicht weniger sperrigen) Begriff »Neopraxiology« zu ersetzen (Hill/ 1 | Dies ist übrigens der Grund, warum einige Interpretinnen die Ethnomethodologie als die Verwirklichung des Durkheim’schen Soziologieprojekts ansehen (vgl. Rawls 2002).

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Crittenden 1968: 10). Mit diesem Begriff bezog er sich – anders als die meisten Praxiskonzepte – nicht auf Karl Marx, sondern auf die praxistheoretische Tradition von Alfred Espinas, einem französischen Soziologen und Schüler von Auguste Comte und Herbert Spencer, der insbesondere auf Nietzsche referierte und eine praxeologisch interessierte Technikforschung anstieß, die sowohl spontane, »willensbasierte«, als auch reflektierte Formen von »Technik in Aktion« in den Blick nehmen wollte (Espinas 1897: 8–9). Espinas definierte Gesellschaft insgesamt über kooperatives Handeln: Immer wenn mehrere Individuen gemeinsam und als sich ergänzende Teile einer organischen Einheit handelten, mithin in und durch gemeinsame Praxis, entstehe Gesellschaft (Espinas 1921: 165). Garfinkel bezog sich allerdings nicht direkt auf Espinas, sondern auf zwei Theoretiker, die auf diesen rekurrieren: Ludwig von Mises und Tadeusz Kotarbinski (Garfinkel 1956; Bergmann 2013). Beide fokussieren auf soziales Handeln, konzeptualisieren es aber nicht von den Intentionen der Akteure (etwa deren »gemeintem Sinn« wie Max Weber), sondern von seinen Wirkungen her. Während von Mises (1940) apriorischen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns unabhängig von dessen kontingenten Einflüssen (subjektive Wertungen, sozialer Kontext etc.) nachging, versuchte Kotarbinski (1963), Regeln des Handelns auf empirische Weise zu erschließen (Wildfeuer 2011: 1795). Hierfür stützte er sich auf populäres praktisches Wissen, wie es z.B. in Sprichwörtern zum Ausdruck kommt, und auf Abhandlungen über Spezialtechniken wie Holz- und Metallverarbeitung (Maluschke 1989: 1276). Praxiologie befasst sich also hauptsächlich mit wissenschaftlich abstrahierten Regeln des effektiven Handelns und bezieht dabei auch Alltagswissen ein. Die Ethnomethodologie führt dies weiter, legt dabei aber mehr Wert auf die alltagsrationalen, »common-sensuellen« Quellen dieses Wissens und Könnens. Eine neopraxiologische Perspektive bestimmt gesellschaftliche Organisation (bzw. Struktur) als all das, was man über die Eigenschaften interpretativer Verfahren und Regeln (auch praktisch) wissen und können muss, um (als Teilnehmer oder Wissenschaftler) Handlungen (im Feld oder Experiment) so zu gestalten, dass sie den Beteiligten als normal und alltäglich (oder auch ungewöhnlich und fremd) erscheinen. Garfinkel ging es mit der Ethnomethodologie daher nicht um den wohlsozialisierten Akteur, sondern um die Identifikation der interpretativen Verfahren und Regeln, die notwendig sind, um die Alltagsaktivitäten von »Teilnehmern« verstehen zu können, sowie darum, wie Teilnehmer (aber auch Sozialwissenschaftler) sozialen Phänomenen Strukturbeschreibungen zuweisen, indem sie sie als »Dokument für« oder »Evidenz für« etwas anderes, allgemeines begreifen.

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2. D as P r a xiskonzep t der E thnome thodologie Die Ethnomethodologie interessiert sich für die im Wissen und Können gesellschaftlicher Teilnehmer implizit zum Ausdruck kommenden praktischen Methoden und interpretativen Verfahren vor dem Hintergrund einer epistemologischen Haltung, die soziale Situationen als Untersuchungseinheiten der Wahl begreift. Der »methodologische Situationalismus« (Knorr Cetina 1981: 15) der Ethnomethodologie besagt, dass nur in sozialen Situationen die verkörperten Wissensbestände (für Teilnehmer wie Wissenschaftler) beobachtbar werden, mit denen die in diesem Zusammenhang jeweils relevanten sozialen Phänomene als solche wiedererkennbar gestaltet werden. Praktiken lassen sich daher nicht einfach im Interview abfragen, denn das Interview wäre ja wieder eine neue soziale Situation, für die wiederum spezifische Verfahrensregeln gelten. Da in der sozialen Welt aber die Teilnehmerinnen selbst sich ihre Handlungen, Beobachtungen und Interpretationen wechselseitig beobachtbar machen müssen, um soziale Ordnung aufrecht zu erhalten, ist die Welt somit bereits so vorgestaltet, dass auch Sozialforscherinnen sie erforschen können. Aus diesem Grund ist die Ethnomethodologie auch skeptisch gegenüber der Annahme, soziale Praktiken könnten einfach verbal repräsentiert werden, denn zum einen werden sie zwar, wie Garfinkel (1967: 36 u.ö.) schreibt, im Alltag gesehen, bleiben jedoch oft unbemerkt (»seen but unnoticed«). Zum anderen bestehen sie häufig in verkörperten Praktiken, die aufgrund nicht vorhandener Diskurskonventionen nur schwer verbalisierbar sind. Wenn Praktiken allen anderen sozialen Größen vorgeordnet werden, dann heißt dies auch, dass soziale Kontinuität als eine dauernde Hervorbringung der Teilnehmerinnen angesehen werden muss, die durch das Vollzugshandeln permanent geleistet wird. Praxis stellt aus ethnomethodologischer Sicht daher keine vermittelnde Ebene zwischen Struktur und Handlung dar, sondern akzeptiert die (beobachtbare) kontinuierliche Emergenz bzw. den praktischen Vollzug als einzige Wirklichkeitsebene. Der Ethnomethodologie entsteht soziale Ordnung dadurch, dass Teilnehmerinnen sie selbst aktiv hervorbringen, indem sie Situationen interpretieren und ihre Interpretationen anderen erkennbar machen. Soziale Ordnung entsteht Garfinkel zufolge also nicht durch Macht oder durch soziale Vereinbarungen (wie z.B. Normen, Kultur), sondern ist vielmehr bereits die Voraussetzung für diese. Da die Teilnehmer selbst durch ihre mit Interpretationsprozessen verbundenen (bzw. identischen) Praktiken sie permanent aktiv herstellen, ist soziale Ordnung unvergänglich (»immortal ordinary society«, vgl. Garfinkel/Wieder 1992). Aus diesem Grund ist das Individuum kein »kultureller Trottel« (Garfinkel 1967: 68), der blind ihm externen, aber verinnerlichten normativen Orientierungen folgt (eine solche Position kritisiert Garfinkel an seinem Lehrer Parsons), sondern ein von Beginn an soziales Individuum, das durch kunstfertige Praktiken (1967: 9–11) soziale Wirklich-

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keit in einem »ongoing accomplishment« (1967: vii), d.h. einer fortwährenden Vollzugsleistung, hervorbringt. Mit dem Attribut der Kunstfertigkeit (»skillfulness«, »artfulness«) weist Garfinkel darauf hin, dass soziale Praxis nie privat und individuell sein kann, selbst wenn sie stillschweigend, verkörpert und vorprädikativ ist, sondern sozial und dabei auch in Bezug auf ihre Anwendungsmöglichkeiten erlernt ist. Dies kennzeichnet Garfinkel (1967: 1) auch mit dem scheinbaren Paradox, Praktiken seien zugleich »incarnate« (eingefleischt) und reflexiv. Interagierende bzw. sich in gemeinsamen Praktiken befindende Individuen interpretieren der Ethnomethodologie zufolge ihre aktuelle Situation (eigene Handlungen und Handlungen anderer) immer öffentlich, sei es auf implizit-verkörperte oder explizit-artikulierte Weise. Sie zeigen sich als öffentliche, enkulturierte Leiber ihre Interpretationen simultan und wechselseitig als »normale«, »unproblematische« und quasi natürliche Interpretationen an und bringen so eine gemeinsame, gültige, plausible, sinnhafte und für die praktischen Zwecke rationale Wirklichkeit hervor. Den Teilnehmerinnen erscheinen die sozialen Situationen, in denen sie sich befinden, dadurch objektiv, extern und mit gesellschaftlicher Zwangsgewalt ausgestattet. Dies bedeutet nicht, dass Garfinkel einen Behaviorismus vertreten hätte. Im Gegenteil, aus seiner Perspektive werden weder Interpretationen über Verhalten oder als Reizreaktionen öffentlich gemacht. Jedes soziale Tun ist aus Garfinkels Sicht vielmehr identisch mit dem verkörpert-reflexiven Interpretierbarmachen dieses Tuns (»identity theorem«, vgl. Garfinkel 1967: 77–79). Harvey Sacks (1984) hat daher aus methodologischen Gründen vorgeschlagen, jeder Beschreibung einer Praxis ein »doing« voranzustellen: doing being ordinary, doing gender etc. (vgl. auch West/Zimmerman 1987). Eine soziale Komponente ist den Praktiken, die diese soziale Wirklichkeit fortwährend hervorbringen, daher von Grund auf eingelassen, nicht als addendum, sondern als intrinsisches Moment. Reflexiv sind sie nicht nur wegen ihrer kommunikativen Gestalt, die sowohl an das Individuum gerichtet ist, das die Praktiken vollzieht, als auch an alle anderen (realen und imaginären) Teilnehmerinnen an der Situation, sondern auch weil sie zwar in den meisten Fällen stillschweigend und routiniert ablaufen, aber dennoch prinzipiell – etwa bei Konflikten – bewusstseins- und diskursfähig sind. Sie sind – um hier Garfinkels Ausdrücke im Deutschen wiederzugeben – je nach den Anforderungen der Situation »erkenn- und nachweisbar«, »zählbar«, »aufzeichenbar«, »berichtbar«, »mit-einer-Geschichte-umschreibbar«, »analysierbar«, aber auch »als-Geschichte-erzählbar«, »spruchfähig«, »vergleichbar«, »verbildlichbar«, »darstellbar« – kurz und im ethnomethodologischen Jargon gesagt: Sie sind accountable.2 2 | Die Begriffe lauten im englischen Original: »detectable, countable, recordable, reportable, tell-a-story-aboutable, analyzable – in short, accountable« (Garfinkel 1967: 33)

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Damit ist gesagt, dass Praktiken sich in einem Netz aus zunächst stillschweigenden verkörperten, kognitiven und normativen Handlungserwartungen (und Erwartungserwartungen) bewegen (vgl. Meyer 2014a: 102). Divergierende Erwartungen seitens der Teilnehmer an einer Praxis werden jedoch nicht thematisiert (»Let it pass«), solange diese Divergenz den praktischen Zwecken der Situation nicht zuwiderläuft. Nur bei auftretenden Problemen oder gar Krisen sowie in Situationen der Vermittlung praktischen Wissens werden diese um Praktiken kreisende Erwartungen – mehr oder weniger affektbesetzt, stets aber im Streben, die Situation wieder zu »normalisieren« – explizit gemacht. Mit dem accountability-Konzept werden Praktiken also radikal aus der Teilnehmerperspektive (»ethnos«) gedacht. Da aus Sicht der Ethnomethodologie soziale Situationen, die den Teilnehmern extern, objektiv und zwingend erscheinen, tatsächlich Hervorbringungen aus dem praktischen Vollzugshandeln in einem situativen Hier und Jetzt sind, gilt für jede Situation die Eigenschaft der »Einzigartigkeit«, die Garfinkel und Wieder (1992) mit dem der scholastischen Philosophie entstammenden Begriff der Haecceitas gefasst haben. Die flüchtige Hier-und-Jetztigkeit des situierten praktischen Vollzugs führt dazu, dass Teilnehmer soziale Situationen gewissermaßen immer wieder aufs Neue (wie) zum ersten Mal bewältigen müssen (»each next first time«). Dies liegt – abstrakt formuliert – darin begründet, dass Teilnehmerinnen zwar implizites und explizites »Regelwissen« über die adäquaten Praktiken in sozialen Situationen besitzen, aber dabei stets vor einem »Applikationsproblem« stehen. D.h. sie müssen aus einem Spektrum ihnen bekannter möglicher »Regelsätze« in einem verkörpert-reflexiven Interpretationsakt diejenigen auswählen, die ihnen für die aktuelle Situation passend erscheinen. Die einzigen Ressourcen intersituationaler Kontinuität und Stabilität von Praktiken sind damit erstens die von Seiten der Teilnehmer zur Grundlage ihrer Regelselektion genommene »Familienähnlichkeit« (Wittgenstein) von Situationen und zweitens die sequenziell-inkrementelle, sich wechselseitig ergänzende Verständigung der Teilnehmer bei der Interpretation der Situation.

Vier Dimensionen sozialer Praxis Zusammenfassend gesagt, interessiert sich eine ethnomethodologische Forschung im Wesentlichen für vier Dimensionen sozialer Praxis, die insbesondere in den Studien über kollaborative Arbeitsvollzüge, aber auch in den neueren konversationsanalytischen Arbeiten entwickelt wurden. Soziale Praxis wird als (1) reflexiv, (2) situiert, (3) verkörpert und (4) verteilt verstanden. sowie »storyable, proverbial, comparable, picturable, representable – i.e. accountable« (Garfinkel 1967: 34). Eine mögliche deutsche Übersetzung von accountable wäre »rechenschaftsfähig«.

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(1) Nach ethnomethodologischer Auffassung ist die sinnvermittelte soziale Hervorbringung von Wirklichkeit genuin reflexiv: Praktiken werden einerseits durch den von ihnen vermittelten Sinn identifizierbar und »sinnvoll«, anderseits wird der so vermittelte Sinn umgekehrt durch die vollzogenen Praktiken und ihre weiteren Folgen immer wieder kommunikativ bestätigt. Akteure setzen im Vollzug von Praktiken zahlreiche Verfahren ein, um ihr Tun für andere als ein Tun spezifischer Art verstehbar und erklärbar (accountable) zu machen. Letztlich bringen die Akteure so in ihren Praktiken permanent füreinander den Wirklichkeitscharakter sozialer Tatsachen hervor, darunter auch – wie wir sehen werden – den Plausibilitätscharakter von Meinungen und den Befürwortungs- oder Ablehnungswert von Positionen. (2) Formen und Modalitäten der Praxis sind zweitens situiert, d.h. es handelt sich dabei um kontextsensitive Aktivitäten, die in einem kontingenten und bisweilen widerständigen Umfeld vollzogen werden, das aktiv einbezogen und genutzt, mithin dadurch auch etabliert wird. In einer frühen Arbeit hat etwa Suchman (1987) gezeigt, dass Arbeitsaktivitäten und die Interaktion mit technischem Gerät (etwa einem Kopierer) unausweichlich situativer Art sind und letztlich nur selten den Ideen und Vorgaben der Systementwickler folgen. Da abstraktes Regelwissen nicht schematisch in die Realität übersetzbar ist, kommt den Praktiken eine wichtige Rolle in jeglicher professioneller Tätigkeit zu. (3) Darauf, dass soziale Praxis verkörpert ist, hat bereits Garfinkel (1967: 1) aufmerksam gemacht. Goodwin (1994) gibt hierfür ein Beispiel aus der Arbeit von Archäologen, die gemeinsam die Farbe von Erde auf einer Skala einschätzen. Dabei interagiert die verkörperte räumliche Organisation der Tätigkeit (die verkörperte Einnahme von Perspektiven, das Arrangieren von Instrumenten wie Lupen und Skalen etc.) mit der sequenziellen verbalen Aktivität. Der Fokus liegt hierbei also nicht auf kognitiven Repräsentationen als isolierten Einheiten, sondern darauf, wie sie gemeinsam hergestellt und in fortlaufende körperliche Praktiken integriert werden. (4) Bei Praktiken handelt es sich viertens um verteilte Aktivitäten: Praxis ist keine individuelle, sondern eine immer gemeinsame soziale Aktivität, an der fast immer mehrere Individuen und ihre epistemischen Gewohnheiten beteiligt sind. So hat Hutchins (1995) demonstriert, wie die Praktiken, die dazu nötig sind, ein Schiff zu steuern, nicht in den mentalen Wissensvorräten einzelner Individuen gespeichert, sondern in ein verteiltes System eingebettet sind, das Geräte und Werkzeuge ebenso umfasst wie unterschiedliche Akteure an verschiedenen strukturellen Positionen. Erst im Zusammenspiel kann die Navigation des Flugzeugträgers erfolgen.

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3. M e thodologie der e thnome thodologischen P r a xisforschung In einer Beispielanalyse im empirischen Teil dieses Aufsatzes weiter unten wird im Sinne der Ethnomethodologie untersucht, wie die Akteure selbst eine Podiumsdiskussion an der Universität als im genannten Sinne reflexive, situierte und nicht zuletzt auch verkörperte und verteilte, dabei aber konzertierte und für die Beteiligten sinnvolle und nachvollziehbare Praxis ausüben. Es soll jedoch vorab darauf aufmerksam gemacht werden, dass die videogestützte ethnomethodologische Konversationsanalyse keine Methode darstellt, die wie ein Programm über ein Datenstück gelaufen lassen werden kann und direkt Ergebnisse produziert. Vielmehr sprechen Ethnomethodologinnen von einer »analytischen Mentalität«, die sie bei der Forschung einnehmen und die sie jedes Datenstück neu in seiner Einzigartigkeit betrachten lässt (vgl. ausführlich Bergmann 1981: 16–24). Daher herrscht auch Skepsis darüber, analytische Verfahrensregeln für methodisch verbindlich zu erklären. Methoden sollen keinesfalls zum starren Schutzkorsett gegen die Angst vor Fehlern oder zum Selbstzweck werden. Vielmehr müssen sie ständig flexibel angepasst oder sogar aufgegeben werden, wenn dies der Untersuchungsgegenstand nahelegt. Der Ethnomethodologie geht es weitgehend unabhängig vom thematischen Inhalt und praktischen Zweck sozialer Situationen um die – kontextunabhängigen  – formalen Prinzipien und  – kontextsensitiven  – praktischen Verfahrensweisen, mit denen soziale Wirklichkeit im Hier und Jetzt als situativ gültige und plausible Realität gemeinsam produziert wird. Ziel ist es, die formalen Prinzipien und situativen Methoden zu bestimmen, mittels derer die Handelnden mit- und füreinander die sinnhafte Ordnung und Rationalität ihrer sozialen Welt in ihrem praktischen Tun hervorbringen. Dies bedeutet, dass aus ethnomethodologischer Sicht nicht einfach hingenommen wird, dass – um bereits die nachfolgende Beispielanalyse anzusprechen  – eine soziale Situation wie z.B. eine »Podiumsdiskussion«, ein Ort wie bsp. eine »Universität« oder das Thema »fleischfreie Mensa« bereits vor der Analyse als vernünftige, plausible und klar definierte Signifikanten mit eindeutigem und selbstverständlichem Gegenstandsbezug gelten. Vielmehr wird danach gefragt, mit welchen Praktiken unter den Beteiligten die Überzeugung, dass es sich bei den genannten Phänomenen um externe, objektive und sozial wirkmächtige Entitäten handelt, überhaupt erst hervorgebracht wird, so dass sie ihnen als eine selbstverständliche und nicht notwendigerweise zu hinterfragende soziale Realität erscheinen. In Bezug auf eine gemeinsame soziale Wirklichkeit, die von den Beteiligten als normal und bekannt interpretiert wird, bedeutet dies: Wie erzeugen die Akteure eine für sie plausible, den (oft implizit bleibenden) Erwartungen entsprechende soziale Aktivität und machen sie sich diese wechselseitig als solche kenntlich und verstehbar?

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Aus ethnomethodologischer Perspektive wird z.B. eine professionelle Aktivität also nicht mit ihrer Darstellung und Beschreibung in Handbüchern oder Ratgebern gleichgesetzt; vielmehr wird sie als etwas verstanden, das in und aus den situativen Praktiken der Teilnehmer und Teilnehmerinnen selbst entsteht und darin seine soziale Ordnung und Rationalität erhält. Auf diese Weise verliert das Phänomen Bedeutung den Charakter des »Körperlosen, rein Ideellen, ja Ätherischen und wird zu einer konzertierten, sozialen Leistung« (Bergmann 2005: 642). Aufgrund des »methodologischen Situationalismus«, d.h. der Entscheidung, soziale Situationen als kleinste Untersuchungseinheiten zu wählen, sind Methoden der teilnehmenden Beobachtung (Ethnografie) sowie der audiovisuellen Aufzeichnung (videogestützte Konversationsanalyse) sozialer Situationen und Praktiken für die ethnomethodologische Forschung die Methoden der Wahl. Die durch die teilnehmende Beobachtung erworbene Teilnehmerkompetenz ist unabdingbar, um implizite Erwartungs- und Bedeutungsordnungen verstehen und deuten zu können. Auf der anderen Seite besteht hier die Gefahr, dass die Ethnografin ihre eigene Teilnehmerkompetenz überschätzt und sich selbst als Informantin begreift. Aus diesem Grund bevorzugt die ethnomethodologische Praxisforschung die zusätzliche Verwendung von Audio- und Videoaufzeichnungen ungestellter sozialer Situationen und Praktiken. Um die in diesen Daten enthaltenen, von den Teilnehmern als selbstverständlich hingenommenen und mithin auch der Forscherin bekannten lebensweltlichen Konstitutionsbedingungen sozialer Phänomene (»seen but unnoticed«) methodisch zugänglich zu machen, werden Verfremdungstechniken eingesetzt. Sie umfassen erstens die detaillierte Transkription audiovisueller Aufzeichnungen, die Praktiken sichtbar und bemerkbar macht, die selbst dem geübtesten Beobachter in situ entgehen; zweitens werden soziale Praktiken als – wie oben gesagt – ein »doing« begriffen; und drittens werden bisweilen »Krisenexperimente« durchgeführt, auf die an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Ethnomethodologische Praxisforschung erfordert also zugleich Nähe (durch Teilnahme) und Distanz (durch Verfremdung) zum Gegenstand. Im Folgenden werden einige Grundzüge (1) der videogestützten Konversationsanalyse und (2) der ethnografischen Forschungen über kollaborative Arbeitsvollzüge vorgestellt. (1) Aus der Ethnomethodologie ist als originär soziologische Methode die Konversationsanalyse hervorgegangen, die für sich in Anspruch nimmt, jenseits einer Mikro-Makro-Unterscheidung zu operieren, indem sie untersucht, wie soziale und kulturelle Phänomene in kleinen, unscheinbaren und scheinbar banalen Praktiken hervorgebracht werden. Die Konversationsanalyse wurde mit dem Ziel konstituiert, interaktionale Ereignisse auf ihre Grundstrukturen hin zu untersuchen. Ihr Fokus richtet sich auf die minutiösen, oftmals verkörperten und implizit bleibenden alltäglichen Praktiken, mit denen die

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Handelnden mit- und füreinander die sinnhafte Ordnung und Rationalität ihrer sozialen Welt situationsspezifisch und in ständiger wechselseitiger responsiver Abstimmung methodisch und reflexiv von Moment zu Moment auf praktische Weise produzieren. Sie geht zurück auf die Arbeiten von Harvey Sacks und seiner KollegInnen und SchülerInnen (Sacks et al. 1974), die seit den 1960er Jahren Tonaufnahmen von ungestellten Gesprächen in alltäglich-praktischen Interaktionszusammenhängen zur empirischen Grundlage ihrer Analysen machten. Ziel dieser Untersuchungen ist seither die Aufdeckung der Methoden, mit denen Interaktionspartnerinnen ihre sozialen Handlungen so gestalten, dass sie als klar identifizierbare, geordnete Praxis intersubjektiv wiedererkennbar werden. Während sich die Forschungen anfangs im Wesentlichen auf Telefongespräche oder Alltagsinteraktionen beschränkten, wurden später auch Interaktionen in Institutionen oder am Arbeitsplatz in den Blick genommen. Zu den in diesen Untersuchungen gewonnen Erkenntnissen gehören Aussagen über die konstitutiven Mechanismen, die der geordneten, für die AkteurInnen selbst wieder erkennbaren Sequenzierung von Interaktionen dienen und dazu führen, dass Überlappungen und Pausen auf ein Minimum beschränkt bleiben. Zu diesen Mechanismen zählen die sogenannten Turn Constructional Units, mit denen Redebeiträge so aufgebaut werden, dass ihr Ende als die Stelle, an denen aus der Sicht des Hörers das Rederecht übernommen werden kann, projizierbar wird, sowie die sogenannten Turn Allocation Mechanisms, mit denen während des Verlaufs des Tuns bestimmt wird, welcher der Interaktionspartner als nächstes das Rederecht erhält. Als Instrumente der Verständnissicherung im Gespräch wurden der rezipientenspezifische Zuschnitt von Äußerungen (recipient design) sowie die Reparatur (repair) einer vorhergehenden Äußerung identifiziert (Bergmann 1988: 39–46). Der rezipientenspezifische Zuschnitt einer Äußerung bildet eine vorbeugende Maßnahme, mit der Äußerungen von Anfang an so formuliert werden, dass sie für spezifische Rezipienten in einem spezifischen Kontext verstehbar sind. Ein Sprecher muss also das Wissen und die Perspektive eines Hörers antizipieren, um erfolgreich zu kommunizieren. In der Reparatur wird wechselseitige Verständigung mit der Hilfe einer »Nachbehandlung« erzeugt: mit Praktiken, die Verständigung wiederherstellen, falls Missverständnisse oder Fehlleistungen stattgefunden haben (z.B. Versprecher etc.). Dabei suspendieren die Gesprächspartner ihre Interaktion kurzzeitig, bis das Problem behoben ist. Weitere Erkenntnisse betreffen die Gestalt und Gestaltung von größeren narrativen Formaten wie z.B. Klatsch (Bergmann 1987) oder dem journalistischen Interview (Heritage/Clayman 2010), die Instrumente, die ein Gespräch aus der Perspektive der AkteurInnen als singuläre Einheit und soziales Ereignis konstituieren (z.B. Eröffnungen und Beendigungen), sowie soziale Praktiken der Beschreibung und des Verstehbar-Machens wie z.B. Kategorisierung.

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Da die sequenziell organisierte Aufeinanderbezogenheit von Redezügen die Mittel zur Verfügung stellt, konstant den Erfolg der Kommunikation zu überprüfen, zu bestätigen oder zu revidieren, und damit ein gemeinsames Verständnis der Situation zu etablieren, stellt Sequenzialität das erste Prinzip der Konversationsanalyse dar. Ohne Sequenzialität – so die konversationsanalytische Grundannahme  – wäre weder soziale Ordnung noch soziales Handeln möglich, da die Handelnden selbst vor der ständigen Frage stehen, »what to do next?« (Garfinkel 1967: 12). »Nextness« bezieht sich nicht nur darauf, dass jeweils in situ entschieden werden muss, wie die aktuelle Situation zu interpretieren ist, und welche Handlungen im Hier und Jetzt angemessen erscheinen (d.h. auch, welche Regeln anzuwenden sind), sondern auch im Detail auf die Tatsache, dass sich Redebeiträge, Worte, Wortteile oder Laute stets auf ihre unmittelbar vorangehende Umgebung beziehen, wenn sie nicht anders markiert werden. Der sequenzielle Charakter sozialen Tuns muss daher auch im methodischen Vorgehen berücksichtigt werden, um diese im Verlauf einer Interaktion aufeinander bezogenen Verfahren zu identifizieren. Hierzu gehört eine möglichst vorlagengetreue Transkription aufgezeichneter Gespräche und Interaktionen, die u.a. Wiederholungen, Überlappungen, dialektale oder idiolektale Färbungen, prosodische Elemente wie Pausen und Lautstärke sowie neuerdings auch Blickrichtung, Körperhaltung und Gestik einbezieht (vgl. Gülich/Mondada 2008). Die Darstellung des Transkripts im Analysetext, welche die Datenanalyse für die Leserinnen nachvollziehbar macht, ist notwendig selektiv und an die inhaltlichen Erfordernisse angepasst. Die Konversationsanalyse ist damit ein dezidiert empirisches Unternehmen, das das Ziel verfolgt, durch Detailanalysen von Interaktionspraktiken in den unterschiedlichsten Kontexten die »kontextunabhängige«, jedoch »kontextsensitive« Gestalt dieser Praktiken herauszuarbeiten. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Form alltäglicher Interaktion (»ordinary conversation«) die Rolle der wichtigsten Ressource auch für andere interaktionale Praktiken zukommt. Alltägliche Interaktionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen grundlegend offenen, lokal gestalteten Charakter besitzen. Gesprächspartner sind nicht auf einen vorbestimmten Plan oder ein bestehendes Format für die Aufeinanderfolge ihrer Beiträge festgelegt. Sie wissen nicht im Voraus, was jeder einzelne der Gesprächspartner jeweils sagen wird, wie lange er sprechen wird oder wer als nächstes reden wird. Inhalt, Dauer und Reihenfolge der Beiträge sind nicht vorab festgelegt, sondern werden von den Teilnehmern selbst erzeugt, während sich das Gespräch entfaltet. Institutionelle Interaktion (z.B. im medizinischen, juristischen oder politischen Bereich) wird dadurch erklärund verstehbar gemacht, dass sie mit alltäglicher Interaktion kontrastiert wird (Heritage/Clayman 2010: 12–13). Für die Untersuchung einer Podiumsdiskussion z.B. bedeutet das, dass die bloße Identifikation der unterschiedlichen Argumente, Diskursformen und

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-inhalte, aus der sie besteht, nicht genug ist. Vielmehr stellen die interaktionalen Strukturen und Zugzwänge, durch welche die Debatte live und in situ konstruiert wird, entscheidende formatorische Elemente dar. (2) In Bezug auf viele verschiedene professionelle institutionelle Praktiken haben ethnomethodologisch orientierte Forscherinnen in den »Studies of Work«, den »Workplace Studies« und den Untersuchungen über »Talk-andother-conduct-at-work« in Beschreibungen von realen Arbeitsvollzügen die situativen, verkörperten Praktiken mit ethnografischen Methoden in den Blick genommen. Sie haben dabei die für die jeweilige Arbeit spezifischen praktischen Kenntnisse und verkörperten Fertigkeiten (skills) herausgearbeitet. Diese Arbeiten haben gezeigt, dass gerade die Fähigkeit, fortwährend auf Kontingenzen der konkreten Situation zu reagieren und nicht einfach schematische Arbeitsabläufe zu reproduzieren, zu den zentralen Kompetenzen erfahrener Fachleute gehört (vgl. Bergmann 2005). Im Bereich des politischen Journalismus hat Greatbatch (1988) das journalistische Interview untersucht und gezeigt, dass sich das dabei praktizierte konversationale Format aus klar identifizierbaren Gründen vom Alltagsformat sowohl des Fragestellens als auch des Neuigkeiten-Erzählens unterscheidet. Die Differenzen liegen insbesondere in der Abwesenheit jeglicher Feedbacksignale oder evaluativen Reaktionen seitens der Fragesteller, wodurch beim Zuhörer der Eindruck entsteht, dass er selbst Adressat der Antworten ist (und nicht etwa ein privates Gespräch anderer belauscht). Clayman (1992) hat herausgearbeitet, dass journalistische Neutralität eine mittels verschiedener nicht-trivialer Methoden hervorgebrachte Leistung darstellt, die er als »neutralism« bezeichnet. Mit politischen Reden hat sich Atkinson (1984) befasst und analysiert, welche Verfahren eingesetzt werden, um Applaus im Publikum zu produzieren. Auch Podiumsdiskussionen wurden als besonders lebhaftes Interviewformat untersucht, das es Journalisten erleichtert, eine neutral-objektive Haltung zur Performanz zu bringen und zugleich für eine unterhaltsame und kontroverse inhaltliche Debatte zu sorgen (vgl. Hutchby 2005). Neben Studien zu den spezifischen Fertigkeiten professioneller Akteure in klar definierten Berufsfeldern gehört zu den Themen ethnomethodologischer Forschung auch die Interaktion und Kommunikation in Organisationen und Institutionen. Dabei ist die Frage leitend, wie diese Institutionen über interaktionale und kommunikative Praktiken »ins Leben gesprochen« werden (Heritage 1984: 237, 290). Obwohl Universitäten das natürliche Habitat von Ethnomethodologen und Konversationsanalytikern sind, liegen nur wenige Forschungen zu den praktischen Verfahren vor, mit denen die Universität durch soziale Praktiken »ins Leben gesprochen und gehandelt« wird. Forschungen in diesem Bereich haben aber z.B. die kommunikativen Praktiken der Eröffnung von Vorlesungen und Seminaren in den Blick genommen. Eglin (2009) etwa hat eruiert, wie es sein kann, dass die Eröffnung »I uh (.2)

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for (.2) for Wednesday« durch den Seminarleiter von den Studierenden als völlig unproblematischer und sogar typischer Seminarbeginn verstanden wird. Benwell und Stokoe (2005) haben die diskursiven Praktiken von Studierenden bei Gruppenaufgaben analysiert und herausgestellt, dass ein Ethos der Distanzierung von der akademischen Identität besonders wichtig erscheint, um eine intersubjektiv nachvollziehbare und anerkannte Identität als Studierende/r zum Ausdruck zu bringen (»doing being student«). Gerade das Anzeigen von Wissen und Fleiß – denen im Universitätsdiskurs an sich besondere Bedeutung zukommt – wird sanktioniert und heruntergespielt. Derartige für das professionelle wie das soziale Leben unabdingbare methodische Fertigkeiten von Politikern und Journalisten, Studierenden und Universitätsangehörigen finden letztlich aber weder in Journalistenhandbücher noch in Handreichungen zum Studium Eingang. Genau um diese spezifischen Aneignungs-, Interpretations-, Übersetzungs- und Entscheidungsleistungen der Handelnden im situativen Handlungsvollzug, die gelebte Erfahrung und Ordnung des politischen, medialen und institutionellen Lebens, geht es aber der ethnomethodologischen Forschung: Sie interessiert sich – um beim Beispiel Podiumsdiskussion zu bleiben  – für die Interpretationspraktiken, mit denen im politischen, medialen und universitären Prozess Ideen und Ansichten gebildet und in plausible und vertretbare Standpunkte transformiert werden. Sie fragt weiter, wie auf diese Weise eine erkennbare und einleuchtende Meinungsordnung erzeugt wird, die dann wiederum zur Grundlage überzeugender Aussagen gemacht und von den Rezipienten (Leser, Hörer, Publikum) auch als solche angesehen werden kann. Die ethnomethodologische Praxisforschung konzentriert sich also darauf, wie das soziale Phänomen »(studentische) Podiumsdiskussion an der Universität« als kontinuierliche praktische Tätigkeit von Moment zu Moment erzeugt wird.

4. M e thodisches V orgehen und B eispiel analyse Das erste methodische Prinzip der ethnomethodologischen Forschung  – sei es im Rahmen der Konversationsanalyse oder der Forschungen über kollaborative Arbeitsvollzüge – besteht darin, der Einzigartigkeit des Gegenstands gerecht zu werden. Garfinkel (2002: 175–76; vgl. Lynch 1993: 174–77) formuliert diesbezüglich das Erfordernis der »spezifischen Angemessenheit« (unique adequacy requirement). Bergmann (2005: 644–45) unterscheidet eine schwache Version, die besagt, »dass ein Forscher mit den Mechanismen der Sinngenerierung und -strukturierung seines Untersuchungsfeldes vertraut sein muss, um es untersuchen zu können«, von einer starken Version, der zufolge »die Methoden zur Untersuchung eines Feldes ein Bestandteil dieses Feldes selbst sein sollen, also etwa die Beobachtung eines Feldes die in diesem Feld selbst

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praktizierten Beobachtungsverfahren aufnimmt«. Die Verfahren der Untersuchung  – so Bergmann weiter  – »sollten also im Idealfall so beschaffen sein, dass sie ihrem Gegenstand einzigartig angemessen sind  – doch da dies erst entschieden werden kann, wenn man zu Erkenntnissen über den Gegenstand gelangt ist oder gar als Forscher dem Untersuchungsfeld selbst angehört, ist eine Formalisierung von Methoden unmöglich.« Die Forderung, dass der Forscher zu einem kompetenten Mitglied des von ihm untersuchten Feldes werden muss, ist ein klassischer Anspruch der ethnografischen Methode bzw. der teilnehmenden Beobachtung, wie sie von Malinowski (1922) formuliert wurde und mit dem erreicht werden soll, soziale Sinnwelten »aus der Perspektive des Einheimischen« beschreiben und verstehen zu können. Dies ist freilich nur dann der Fall, wenn es sich um fremde Gegenstände handelt. Handelt es sich um vertraute Gegenstände – wie es bei Forschungen im eigenen soziokulturellen Umfeld der Fall ist –, dann kann und muss der Forscher sein Alltagswissen einsetzen. Da dieses Wissen fast immer  – wie oben beschrieben  – implizit und verkörpert ist, ist es aus der Perspektive der Ethnomethodologie notwendig, dass er nicht – wie etwa in der dichten Beschreibung  – seine Daten selbst erschreibt, sondern audiovisuelle Aufzeichnungen ungestellter sozialer Situationen hinzuzieht. Externe Daten dienen hier also keinesfalls der objektiven Abbildung einer unbeeinflussten natürlichen sozialen Wirklichkeit, sondern vielmehr der »Aktivierung unseres schwerfälligen Vorstellungsvermögens« (Garfinkel 1967: 38) und der »Erinnerung an das, was wir [als kompetente Teilnehmer] sowieso schon wissen« (Lynch 2002: 535). Da wir als Akteure die Vorgänge, die in den Daten geschehen, schon implizit kennen, können wir sie als Forscherinnen auch adäquat interpretieren. Diesen Zustand muss der »unique adequacy requirement« folgend der Ethnograf auch in Bezug auf die fremde Kultur erreichen. Es wäre aus diesem Grund auch ein Missverständnis, die Aufzeichnungsfixiertheit ethnomethodologischer Forscher als naturalistische Haltung zu interpretieren, zumal Aufzeichnungen aus ethnomethodologischer Perspektive gerade als Dokumente der Reflexivität der Teilnehmer verstanden werden. Zugleich besteht die ethnomethodologische Empfehlung darin, dass während der Datenanalyse eine Haltung der »Indifferenz« gegenüber dem Phänomen eingenommen werden soll. Diese Haltung besteht zum einen darin, die eigene Akteurskompetenz zunächst »einzuklammern« und sich nur auf die beobachtbare Evidenz zu stützen; zum anderen soll auch nicht normativ gefragt werden, was etwa eine gelungene Performanz ist, oder nicht. Prinzipiell wird jede Performanz in ihrer Kunstfertigkeit betrachtet. Im Folgenden sollen zwei Beispiele vorgestellt werden, die das Konzept und methodische Vorgehen ethnomethodologischer Praxisforschung nachvollziehbar machen. Das erste Beispiel zeigt eine Praxis auf, die auf die genannte verkörpert-reflexive Weise und zugleich »seen but unnoticed« ein rekurren-

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tes soziales Problem bearbeitet und löst. Es handelt sich um die Reaktion auf mündliche Einladungen (vgl. Levinson 1983: 333–34). Eine Einladung birgt bekanntlich immer das Risiko der Ablehnung, die für beide Parteien soziale Kosten verursacht und die soziale Beziehung beschädigen kann. Die Praktiken reagieren darauf, indem sie eine deutliche Präferenz der Annahme anzeigen, die so schnell und unproblematisch erfolgt, dass sie oft noch mit der Einladung überlappt. Beispiel 1: Annahme (Atkinson/Drew 1979: 58)

Die Ablehnung hingegen, die potenziell beziehungsschädigend wirken kann, erscheint dispräferiert, da sie sehr viel aufwendiger gestaltet wird: Sie wird verzögert geäußert (und schon nach der Verzögerung ist die Absage klar), mit abschwächenden Markierungen, Würdigungen und Rechtfertigungen umbaut. Beispiel 2: Ablehnung (Atkinson/Drew 1979: 58)

Das Beispiel zeigt also eine implizite, formale  – kontextunabhängige, aber -sensitive – soziale Praxis (»Ethnomethode«), die simultan und identisch mit ihrem Vollzug sich selbst reflexiv als solche (Annahme oder dispräferierte Ablehnung einer Einladung) verstehbar macht. Im Folgenden soll nun als ausführlicheres Analysebeispiel die Diskussionsveranstaltung »Fleischfreie Mensa?«, die an einem frühen Abend im Oktober 2012 in einem Gebäude der Universität Basel in der Schweiz stattfand, ethnomethodologisch untersucht werden (eine ausführliche Analyse findet sich in Meyer 2014b). Wir werden erstens die Strukturen und Verfahren anschauen, mit denen die Podiumsdiskussion als gemeinsame Vollzugswirklichkeit unter den Beteiligten hervorgebracht wird, um daran anschließend zu eruieren, wie zweitens der Sozialraum Universität konstituiert und zur Geltung gebracht wird. Thema der Diskussionsveranstaltung war ein Antrag einer Initiative an

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den Studierendenrat (d.h. das gewählte Parlament der Studierendenschaft), dass seine Vertreter in der Verpflegungskommission der Universität sich in Zukunft für eine komplett fleisch- und fischfreie (d.h. vegetarische, aber nicht vegane) Mensa einsetzen sollen. Dieser Antrag wurde auf der Diskussionsveranstaltung erläutert und zur Debatte gestellt. Die Diskussionsveranstaltung bestand aus drei aufeinander folgenden Teilen: (a) der Anmoderation und Rahmung durch Arne3 von der studentischen Veranstaltungsorganisation; (b) einem Vortrag von Bodo (Student) und Cora (wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut der Universität) von der Antragsinitiative, der die Beweggründe des Antrags erläuterte und an seinem Ende einen knapp sechs-minütigen Film über die Haltung und Schlachtung von Nutztieren zeigte, und (c) der eigentlichen Podiumsdiskussion, die von Dina, einer Hochschuljournalistin von einer überregionalen schweizerischen Tageszeitung, moderiert wurde. Auf dem Podium saßen vier Studenten, Erik, Falk, Gero und Holm. Die Podiumsdiskussion wurde nach kurzer Zeit für das Plenum geöffnet und durch Stellungnahmen und Fragen aus dem Publikum (von Ingo, Jens, Kira, Lars, Marc, Nils, Olaf, Paul, Rolf, Sven, Till, Ulla, Veit und Wera) ergänzt. Die folgende Untersuchung des Ereignisses »Diskussionsveranstaltung« muss aufgrund der Kürze selektiv und exemplarisch bleiben. Dazu werden im Folgenden zwei der drei Teile durchgegangen. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Podiumsdiskussion.

1. Die Begrüßung, Anmoderation und Rahmung der Veranstaltung In Bezug auf den Beginn des Abends stellt sich als erstes die Frage, wie deutlich gemacht wird, dass es sich um die im Vorfeld angekündigte Veranstaltung »Fleischfreie Mensa?« und nicht etwa eine andere Veranstaltung, z.B. eine Vorlesung, eine Party, eine Jobbörse oder ein Motivationstraining handelt. Eine zweite Frage ist, wie zur Geltung gebracht wird, dass es sich um eine Diskussionsveranstaltung an der Universität oder gar universitäre Diskussionsveranstaltung handelt und nicht um eine Veranstaltung anderer Art, etwa eine politische Veranstaltung von kommunal bedeutsamen Parteien, um eine medial verbreitete Diskussionsveranstaltung oder die Veranstaltung einer Tageszeitung. Drittens stellt sich die Frage, wie die Podiumsdiskussion als solche, d.h. als soziale Praxis spezifischer Art, eingeleitet und von anderen Interaktionsformen – etwa einer öffentlichen Beratung, einer Talkshow, einer Expertenrunde oder einem Presseclubgespräch – abgegrenzt wird. 3 | Obwohl eine Videoaufzeichnung der gesamten Veranstaltung im Internet frei zugänglich ist, wurden die Namen der Akteure entsprechend der Reihenfolge ihres Auftretens in alphabetischer Ordnung mit jeweils vierbuchstabigen Vornamen anonymisiert, da die Identitäten der Beteiligten hier nicht im Zentrum der Analyse stehen.

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Transkript 4 1: Begrüßung (00:00:04 bis 00:01:02)

Bereits nach einer kurzen Inspektion des Datenstücks werden mehrere Methoden sichtbar, mit denen der Sprecher implizit und simultan zu seinem offiziellen Tun – der Begrüßung und Einleitung sowie Ankündigung von organisatorischen Punkten – den Anwesenden auch sicht- und erkennbar sowie normativ begründbar macht, um welche (Art von) Veranstaltung es sich handelt und dass er die adäquate Person und dazu berechtigt ist, die Veranstaltung zu eröffnen. Wie werden Veranstaltung und Veranstalter als »normale« Gegebenheiten implizit erkenn- und sichtbar gemacht, ohne dass sie selbst explizit thematisiert werden müssen? Schon am Beginn (Zeilen 01–04) stellt sich Arne als offizieller Repräsentant der Veranstaltung mit genuinem Rederecht und Recht zur Eröffnung dar (nicht jedoch vor!), allein indem er das Mikrophon anschaltet, kurz wartet (d.h. nicht etwa einen Test macht und wieder weggeht, wie es ein Techniker machen würde) und dann eine Begrüßung formuliert: »ja ich begrüße euch (.) äh recht herzlich zu der heutigen Podiumsveranstaltung«. Arne erläutert zunächst weder, wer er ist, noch, in wessen Namen er die Anwesenden begrüßt. Stattdessen suggeriert er eine Regelmäßigkeit und Normalität seines Tuns, indem er betont, dass es sich bei der heutigen Podiumsdiskussion um eine von vielen derartigen Veranstaltungen handelt. Nach der Angabe des Themas (Z. 05) nennt er dann die Veranstalter »skuba« (Studierendenschaft) und »Frei Denken Uni Basel«. Sowohl bei der Nennung des Themas (»fleisch4 | Eine Aufstellung der verwendeten Transkriptkonventionen findet sich im Anhang. Die fett gedruckten Stellen zeigen den Moment an, an dem Standbilder entnommen wurden.

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frei«, 05), als auch der Veranstaltungsart (»Podiumsdiskussion«, 06) und der zweiten Veranstalter (»Frei Denken«, 09) wendet er sich um und blickt auf die an die Wand projizierte Informationstafel, auf der exakt diese Begriffe genannt sind. Hierbei handelt es sich um ein die Aufmerksamkeit des Publikums lenkendes, »zeigendes« Blicken. Durch den Bezug zum öffentlichen, objektiven semiotischen Inventar macht er seine Person und Rolle als Eröffner erneut offiziell. Bei der Nennung des offiziell in der Projektion wie in Flyern (Z. 14) angekündigten Themas »fleischfreie … Mensa« elaboriert Arne dieses zugleich durch den Einschub »oder fleischhaltige« (Z. 05). Damit macht er implizit deutlich, dass das Thema nicht etwa ein gemeinsames Brainstorming über den einzuschlagenden Weg zu einer fleischfreien Mensa oder eine Strategieberatung zu zukünftig vorzunehmenden Schritten ist. Vielmehr wird eine Polarität von Meinungen (fleischfrei vs. fleischhaltig) adressiert und der Weg zu einer daran orientierten Kontroverse geebnet. Arne erneuert dies in Z. 16–17, indem er darauf hinweist, dass »gero sich dazu bereit erklärt hat, ähm die fleischposition zu vertreten«. Damit reifiziert er explizit die eine Seite der Meinungspolarität und implizit seinen Gegenpol (»fleischfrei«). Dass das Publikum sich an genau dieser polaren Meinungsordnung im Anschluß auch orientiert, wird noch nach den Endplädoyers der vier Diskutanten mehr als eine Stunde später deutlich, wenn es den Diskutanten jeweils nach zweien, welche  – grob gesehen  – die gleiche Meinung vertreten, im Paket applaudiert. Eric und Falk werden nach Falks Statement beklatscht, obwohl Eric in der Diskussion zuvor bei ähnlichen Argumenten bereits applaudiert wurde. Geros und Holms Endplädoyers werden entsprechend nach Holms Abschlussstatement beklatscht. Dies ist ein Hinweis, dass die Diskutanten jeweils als Paare auf zwei polar positionierten Meinungsseiten wahrgenommen wurden. Indem er von »bereit erklärt, die Fleischposition zu vertreten« spricht, verweist Arne gleichzeitig auf eine Norm, die für die hier vorgesehene Art von geregelten und institutionalisierten Kontroversen zu gelten scheint. Diese besteht darin, dass eine gewisse Rollendistanz sozial erwünscht ist und dass zwischen Person und Meinung zu trennen ist, mithin Angriffe gegen die eigene Meinung nicht als Angriffe gegen die eigene Person gewertet und persönlich genommen werden sollen. Diese Norm ist ein spezifisches Merkmal von vielen Arten von Diskussionen und wurde ausführlich anhand des journalistischen Interviews beschrieben. Denn diese Diskursformate unterscheiden sich deutlich von Gesprächen im Alltag, in denen eine »Präferenz für Zustimmung« (Pomerantz 1984) herrscht, die wie im obigen Beispiel des Einladens dadurch deutlich wird, dass zustimmende Antworten unverzüglich (oft sogar noch in terminaler Überlappung) auf zustimmungsrelevante Erstäußerungen (z.B. Fragen, Bitten, Einladungen, Vorschläge) gegeben werden, während widerspre-

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chende oder verneinende Antworten verzögert folgen und mit modulierenden Partikeln (oh, nun, also) und den Sprachfluss störenden Elementen (ähm, hm) eingeleitet werden (vgl. Levinson 1983: 332–45). In institutionell geregelten und sogar geförderten Streitgesprächen, zu denen journalistische Interviews und Podiumsdiskussionen zählen, ist diese Präferenz für Zustimmung außer Kraft gesetzt und durch eine Präferenz für Widerspruch und Disput ersetzt. Diese Reorientierung leitet Arne bereits ein, wenn er die Meinungspolarität (Z. 05) ankündigt, den Zweck der studentischen Organisation »Frei Denken« charakterisiert (»wir fördern das kritische denken und die diskussion an der uni«, Z. 11) und Gero als fast spielerisch rollendistanten Vertreter der Fleischposition vorstellt (Z. 17), wofür die Veranstalter »sehr dankbar« seien (Z. 16). Während all dieses verdichteten Tuns macht Arne darüber hinaus implizit sichtbar, dass es sich um eine studentische Veranstaltung handelt, etwa indem er die Anwesenden schon zu Anfang der Begrüßung mit einem typischen »doing being student«-Verfahren duzt (»ich begrüße euch«, Z. 03) sowie die »studentische Körperschaft« skuba (Z. 08) und die »studentische Organisation« Freidenken (Z. 10) als Veranstalter nennt. Letztere fördert explizit »die Diskussion an der Uni« (Z. 11). Interessant ist auch Arnes Gegenüberstellung des »Rektors Herr Molina«, der nicht in das »doing being student«-Verfahren einbezogen wird, mit »Gero«, dessen Studierendenstatus durch die reine und offenbar ausreichende Nennung des Vornamens sichtbar gemacht wird (Z. 14–16). Die Veranstaltung »Podiumsdiskussion« wird – ebenso wie die Institution Universität – durch diese Prozeduren Arnes zu einer gewöhnlichen, unproblematischen und nicht weiter erklärungsbedürftigen Praxis gemacht, die von den Anwesenden auch mühelos als solche interpretiert werden kann. Auf diese Weise werden die Universität und die Veranstaltung als Institutionen zwar endogen erst erzeugt, erscheinen aber als externe, objektive Realitäten.

2. Die Podiumsdiskussion Den Großteil des Abends nahm die Podiumsdiskussion ein, weswegen sie auch hier im Zentrum der Analyse stehen soll. Dabei sind die folgenden Fragen leitend: Wie wird die Podiumsdiskussion als wiedererkennbares Format sozialer Interaktion hervorgebracht und als interaktionale Situation organisiert? Was sind die Techniken der Akteure, mit denen die Plausibilität ihrer Argumente hervorgebracht wird? Wodurch wird angezeigt, dass es sich um eine Podiumsdiskussion an der Universität handelt?

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2.1 Doing Podiumsdiskussion Die Podiumsdiskussion ermöglicht verschiedene interaktionale Konstellationen, zu denen die Interaktion zwischen Moderatorin und Diskutanten, zwischen Moderatorin und Publikum, zwischen Diskutanten und Publikum sowie unter den Diskutanten gehört. Die letzten beiden Interaktionsformen werden bei Podiumsrunden nicht immer zugelassen, sind jedoch im vorliegenden Fall vorhanden. Wir werden uns im Folgenden eine Auswahl dieser Konstellationen ansehen, können aber aufgrund der gebotenen Kürze dieses Beitrags nicht alle systematisch abdecken. Wir beginnen mit den Aktivitäten, Gestaltungspraktiken und Rolleneinnahmen der Moderatorin. Über journalistische Interaktion sind in der konversationsanalytischen Forschung bereits einige Untersuchungen entstanden. Insbesondere Clayman (1992) hat dabei ein zentrales Dilemma des politischen Interviewers herausgearbeitet: Auf der einen Seite muss er für ein nicht zu langweiliges, sondern durchaus kontroverses und herausforderndes Gespräch sorgen, das die Zuschauerinnen und Zuhörerinnen unterhält; auf der anderen Seite jedoch wird von ihm erwartet, selbst eine neutrale Haltung einzunehmen und nicht parteiisch zu sein. Es ist direkt evident, dass das eine leicht auf Kosten des anderen gehen kann, und aus diesem Grund wird ein politisches Interview leicht zu einer Gratwanderung, die nur erfahrenen Interviewerinnen gelingt. Die Hochkonjunktur der Podiumsdiskussion seit den 1980er Jahren wird darauf zurückgeführt, dass sie genau dieses Dilemma auflöst, indem die Aufgabe, Kontroverse und Spannung zu produzieren, den Podiumsdiskutantinnen überlassen wird, während der oder die Moderator/in sich neutral verhalten kann (Heritage/Clayman 2010). Es existieren allerdings – insbesondere im Fernsehen – durchaus auch Formate, in denen die Dramaturgie der Sendung selbst, etwa durch die zeitliche Anordnung oder thematische Einführung der Diskutanten eine Parteilichkeit inszeniert und über ein buhendes und johlendes Publikum weiter transportiert (so etwa die Daily-Show-Formate, in denen individuelle Alltagsthemen, -probleme und -konflikte aus der Perspektive persönlicher Erfahrungen kontrovers, stark personalisiert und moralisierend diskutiert werden). In diesen Sendungen unterstützen es die Moderatorinnen zwar, dass den Diskutantinnen und dem Publikum kontroverse Äußerungen und nicht selten auch persönliche Vorwürfe entlockt werden. Sie tun dies jedoch auf eine Weise, die, etwa durch Fragetechniken, den Schein der Neutralität wahrt (vgl. Hutchby 2005: 44–64). Es handelt sich bei der journalistischen Neutralität also um eine Norm, die aktiv hervorgebracht werden muss, weswegen Clayman (1992) sie als »Neutralismus« bezeichnet hat. Schauen wir uns im Folgenden die Aktivitäten der Moderatorin unserer Podiumsdiskussion an. Nachdem Arne ihr das Wort übergeben hat, begrüßt Dina die Anwesenden.

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Transkript 2 (00:22:56 bis 00:23:14)

Dina demonstriert in der Tat eine »überparteiliche« und ostentativ »neutralistische« Haltung, indem sie – Arnes einleitende Bemerkungen zum Wert des kontroversen Diskutierens (siehe Abschnitt 1) aufgreifend – die politische Partizipation (hier: an der Diskussion) als Selbstzweck darstellt (Z. 02–08). Das Thema selbst kommt überhaupt nicht zur Sprache; vielmehr stellt Dina klar, dass für sie der Austausch von Argumenten das Ziel des Abends ist. Mit den Begrüßungsworten selbst (»hallo miteinander«, Z. 01) macht sie zudem deutlich, dass es sich um eine studentische (oder zumindest wenig formelle) Veranstaltung handelt. In einem Moment allerdings gibt die Moderatorin ihre Rolle als neutrale Moderatorin auf, um die Podiumsrunde über demokratische Prinzipien zu belehren. Transkript 3 (00:53:15 bis 00:53:43)

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Dina bezieht sich hier kritisch auf Geros und Holms Darstellung der Initiative als Bevormundung (Z. 01–02). Dabei fasst sie den Begriff im Sinne demokratischer Prozesse als illegitime Beschränkung einer Mehrheit durch eine Minderheit, wie es auch kurz zuvor auf dem Podium diskutiert wurde. Diese Perspektive nutzt sie für die Formulierung einer überparteilichen Position, die anstelle von Inhalten die Form demokratischer Prozesse in das Zentrum stellt (Z. 08–10). Dina führt dies im Anschluss an das Transkript noch weiter durch Vergleiche der Abläufe im Studierendenparlament mit denjenigen in den schweizerischen demokratischen Institutionen aus, die hier nicht mehr abgebildet werden können, um diejenigen, die die studentischen Prozesse (u.a. in ihrer Repräsentanz) kritisch sehen, über demokratische Prozesse zu belehren und aufzuklären. Sie gibt damit einen Hinweis, dass Studierendendemokratie als laienhaftes Poltitiklern- und -experimentierfeld verstanden wird, das noch keine genuine Demokratiekontrolle aufweist. »Doing student democracy« wird hier offensichtlich als potenziell unprofessionell aufgefasst. Der durch die Änderung ihrer Blickrichtung demonstrativ an das Publikum gerichtete Einschub (Z. 06–07) zeigt zudem, dass Dina (im Transkript rechts neben Holm) – obwohl sie an dieser Stelle selbst Position ergreift – sich selbst in ihrer Rolle als Moderatorin am normativen Standard des Neutralitätsgebots orientiert. Durch den Einschub signalisiert Dina gegenüber dem Publikum außerdem, dass sie sich zwar kurz selbst aktiv einbringt, die Podiumsdiskussion aber deshalb keinesfalls zum Privatgespräch der Podiumsrunde mutiert, sondern weiterhin für die Zuhörer geführt wird (was normalerweise erreicht wird, indem die interviewende oder moderierende Person auf jegliche Reaktion auf die Äußerungen der DiskutantInnen verzichtet; vgl. Heritage/ Clayman 2010: 216). Die Zuhörer müssen sich so nicht als illegitime Belauscher eines Privatgesprächs fühlen.

2.2 Doing University Nachdem wir beispielhaft ein Verfahren identifiziert haben, mit dem eine Podiumsdiskussion als solche gestaltet wird, soll nun kurz darauf eingegangen werden, inwieweit die Universität als Institution einen aktiven Bezugspunkt darstellt. Das Datenmaterial legt nahe, dass dies in zumindest drei Hinsichten geschieht. Zum einen wird die Studierendendemokratie – wie wir in Transkript 3 oben bereits gesehen haben – als politisches Lern- und Experimentierfeld angesehen. Dies ist in vielen Situationen sichtbar, in denen über die demokratischen Verfahren, die zur Entscheidung des Antrags führen, keine Einigkeit herrscht. Im professionellen politischen Leben wäre dies so nicht möglich.

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Transkript 4 (00:50:28 bis 00:50:56)

Geros Laienposition darf hier unproblematisch geäußert werden, was sich darin zeigt, dass sie argumentativ widerlegt und ihr nicht normativ begegnet wird, etwa indem sie als antidemokratisch stigmatisiert wird, wie es in professionellen demokratischen Prozessen der Fall wäre. Bei der Studierendendemokratie handelt es sich also aus Sicht der Akteure offenbar um eine Laiendemokratie. Ähnlich ist auch Holms Versuch, die Initiative, obwohl sie von demokratisch legitimierten Repräsentanten beschlossen wurde, als Minderheitenposition, die eine Mehrheit zum Opfer macht, zu inszenieren. Transkript 5 (00:52:00 bis 00:52:08)

Die zweite Hinsicht, in der die Universität als Bezugsort in den praktischen Verfahren der Beteiligten sichtbar wird, ist die Norm der Wissenschaftlichkeit. Nicht nur werden von den Podiumsteilnehmern geäußerte Statistiken, englische Zitate und wissenschaftliche Begriffe vom Publikum mit Applaus belohnt, eine wissenschaftlich fundierte Argumentation wird sogar aktiv mit Fragen eingefordert. Damit unterscheidet sich die Podiumsdiskussion an der Universität deutlich von Talkshowformaten, die oft Laienperspektiven als »authentisch«, »relevant« und »tiefgründig« inszenieren und Expertenmeinungen als »entfremdet«, »zerfasert« und »verkopft« gegenüberstellen (Hutchby 2005: 52). Gleichzeitig widerspricht diese Form der Aufwertung von Wissenschaftlichkeit aber auch dem gängigen »doing being student«, das gerade die Zurschaustellung von Wissen negativ sanktioniert (Benwell/ Stokoe 2005).

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Transkript 6 (01:45:02 bis 01:45:21)

Falk zitiert hier auf Englisch und leitet sein Zitat auch formal ein und aus. Wie angesprochen, fordert das Publikum die Wissenschaftlichkeit der Argumentation sogar aktiv ein, wie im folgenden Transkript sichtbar wird. Transkript 7 (01:21:42 bis 01:22:37)

Holm stellt, wie er das in der Diskussion öfters tut, seine Gegner – hier zudem auch deren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – verkindlichend als Individuen mit Partikularmeinung dar.

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Ein dritter Bezug zur Institution Universität, der allerdings zwischen den Diskutanten umstritten ist, besteht in der Nennung ihrer potenziellen Bedeutung als gesellschaftlicher Denk- und Vorreiterort. Einige der Diskussionsbeiträge präsentieren die Universität als Institution »on which great expectations are placed for society’s future« (Eglin 2009: 53) und verknüpfen diese Erwartung konkret auch mit dem Inhalt der Diskussion. Transkript 8 (01:34:32 bis 01:35:14)

In diesen drei Praktiken – Universität als Lern- und Experimentierfeld, als Ort der Wissenschaftlichkeit und als Denk- und Vorreiterort – zeigt sich, wie von den Beteiligten das Phänomen Universität aktiv als sinnhafter Handlungskontext erzeugt und zur Grundlage des Äußerns plausibler Meinungen gemacht wird.

5. F a zit In der Beispielanalyse konnten nur wenige schlaglichtartige Perspektiven auf das Datenstück geworfen werden, die Hinweise geben, wie soziale Praktiken aus Sicht der videogestützten ethnomethodologischen Konversationsanalyse und Ethnografie analysiert werden. Dabei wurden einige praktische Verfahren identifiziert, mit denen die soziale Wirklichkeit »Podiumsdiskussion an der Universität« als im Hier und Jetzt situativ gültige und plausible Realität produziert wird. Dies geschieht reflexiv (Dina z.B. orientiert sich reflexiv an der Neutralitätsnorm der Moderatorinnenrolle), situiert (Thema und Podiumsdiskussionsformat werden als Aktivitäten im Kontext der Universität situiert und respezifiziert), verkörpert (Dina bringt die vorübergehende Abweichung vom neutralistischen Standpunkt der Moderatorin durch Blicke zum Ausdruck) und verteilt (das Tun der Podiumsdiskussion und Universität besteht in einem orchestrierten Zusammenspiel aller Beteiligten, und keinem einzelnen – weder dem Publikum, noch der Moderatorin – kommt dabei die Rolle des Masterminds zu).

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Gerade aufgrund der interaktionalen Zugzwänge und Situiertheit der Aktivitäten kann eine Podiumsdiskussion keinesfalls als einfache Realisierung und Abarbeitung vorab existierender politischer Meinungen oder Habitus angesehen werden. Da Beiträge zur Interaktion von den unabhängigen Handlungen anderer abhängig sind und mit ihnen in eine Beziehung der Wechselwirkung eintreten, können sie nicht als einfache Verhaltensrealisierungen vorgeplanter politischer Strategien oder psychologischer Dispositionen behandelt werden. Die Beteiligten kooperieren vielmehr darin, die spezifischen Merkmale dieser Aktivität zu produzieren, indem sie ihre Praktiken entsprechend ihrem Verständnis der normativen Konventionen dieser Aktivität organisieren. Da das Verständnis der Konventionen nicht unter allen Beteiligten übereinstimmt, können die entsprechenden Aktivitäten und die ihnen zugrunde liegenden normativen Orientierungen durchaus disputiert sein, aber auch als Ressource für die Generierung von Applaus und die Rekrutierung von Anhängern genutzt werden. Hierzu zählen etwa die Uneinigkeiten, ob der Universität eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft zukommt (Eric, Falk) oder sie nur eine normale Ausbildungsstätte ist (Gero, Holm), oder ob das Thema eines mit genereller ethischer (Eric, Falk) oder nur individueller und allenfalls lebensstilistischer Relevanz (Gero, Holm) ist. Die anfangs eingeführte und personell versinnbildlichte Polarität der Meinungen (fleischfrei-fleischhaltig) wird über alle Streitpunkte hinweg aufrechterhalten. Die ethnomethodologische Praxisforschung arbeitet also mit einem Praxisbegriff, der keinesfalls mit Routine o.ä. gleichgesetzt werden sollte, sondern vielmehr die reflexiv-verkörperte Eigenschaft sozialen Tuns hervorhebt. In unserem Beispiel ging es u.a. darum, wie die Institution »Universität« durch alltägliches, implizites Tun verfertigt wird. Dabei hat sich gezeigt, dass die TeilnehmerInnen durch die Verwendung allerlei verbaler, aber auch verkörperter »Anspielungen« (indexikaler Praktiken) die Realität der Institution einerseits hervorbringen, andererseits aber gleichzeitig (etwa durch das »doing being student«) auch wieder in Frage stellen. Die ethnomethodologische Praxisforschung nimmt genau dieses Wechselspiel des praktischen Verfertigens sozialer und kultureller Realität und dessen Kontextualisierung, Rechtfertigung, Spezifizierung oder Zurücknahme in den Blick. Eine Studie dieses Wechselspiels beschreibt nach ethnomethodologischer Überzeugung die Hervorbringung einer Institution durch soziale Praxis (vgl. Garfinkel/Sacks 1970). In einer solchen Perspektive – und das ist fundamental für die ethnomethodologische Variante der Praxistheorie  – ist Praxis allen anderen sozialen Größen (insbesondere Struktur und Handlung) vorgeordnet. Methodisch wird dem der »methodologische Situationalismus« gerecht, die Annahme gilt aber auch für die ethnomethodologische Forschungspraxis selbst: auch sie ordnet die »Erlernung« (in der Erforschung) und praktischen Durchdringung des Gegenstands mit der »unique adequacy requirement« allen anderen methodi-

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schen Größen (etwa Theorien und Vorannahmen, mentalen oder sprachlichen Repräsentationen) vor. Die Praxistheorie und die Forschungspraxis der Ethnomethodologie sind damit konsistent. Abschließend sei noch einmal auf den Begriff der »Reflexivität« des Geschehens bzw. auf dessen »accountability« zurückgekommen. Die ethnomethodologische Reflexivität der fortlaufenden Verfertigungen ist keine »positionale« Reflexivität (wie bei Bourdieu) und keine steigerbare mentale »Reflexivität« (wie in der Writing Culture-Debatte oder im Poststrukturalismus). Sie besteht vielmehr darin, dass das Geschehen selbst ständig implizit und normalisiert sinnhafte »Berichtbarkeiten« und »Rechenschaftsfähigkeiten«, etwa praktisch verkörperte Dokumente für die Existenz eine Universität, zur Verfügung stellt. Sie liegt gerade darin begründet, dass das, was »seen but unnoticed« ist, für die TeilnehmerInnen uninteressant bleibt. Dadurch erzeugt sie die Verfügbarkeit der Abläufe für die Teilnehmer und die soziologische Analysierbarkeit für die Soziologinnen.

I n diesem Te x t verwende te Tr anskrip tionskonventionen

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Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken Daniel Wrana Mit dem Begriff der Praktiken werden oft die stummen und routinisierten Momente des Tuns verknüpft, mit dem Begriff des Diskurses eher Texte, die Sprache oder symbolische Ordnungen. In der Diskursforschung besteht Konsens, dass Diskurse im Grunde genommen auch eine Art Praxis sind, aber diese »diskursiven Praktiken« gelten meist nicht als Praktiken im Sinn der Praxisanalyse, sie werden die Konnotation des Textuellen und damit von »der Praxis« im engeren Sinn verschiedenen nicht wirklich los. Erst in den letzten Jahren zeichnen sich Arbeiten ab, in denen Diskursanalyse als Praxisanalyse entwickelt und diskursive Praktiken im Sinne der Praxistheorien begriffen werden. Ich möchte in diesem Beitrag eine solche Perspektive verfolgen, in der Diskurs nicht von der Reproduktion und Stabilisierung der Ordnungsstrukturen von Sinn her gedacht wird, sondern als operative und situierte Praxis des Strukturierens und Ordnens von Sinn (vgl. Wrana 2012). In der so verstandenen diskursiven Praxis sind Destabilisierung und Heteronomie ebenso wesentlich wie Stabilisierung und Ordnung. Wenn man den theoretischen Ausgangspunkt bei den lokalen und situierten diskursiven Praktiken und ihrer Produktivität und Operativität nimmt, stellt sich das Problem des Verhältnisses diskursiver rsp. sozialer Ordnung zu diesen Praktiken auf andere Weise, als wenn man von den Ordnungen ausgeht und jede Äußerung als Aktualisierung und zugleich Reproduktion dieser Ordnungen betrachtet. Die Analyse diskursiver Praktiken hat also kontextualisierte Äußerungsakte zum zentralen Gegenstand und untersucht drei Aspekte dieser Äußerungsakte in ihrem Zusammenspiel: Der figurative Aspekt betrifft die Art und Weise, wie in diskursiven Operationen Unterschiede gemacht, Begründungen geleistet oder Gegenstände konstruiert werden. Der prozedurale Aspekt betrifft die Weise, wie diese Operationen in Situationen eingebettet sind und als Spielzüge auf vorausgehende und folgende Äußerungsakte hin agieren. Der positionale Aspekt schließlich betrifft die Weise, in der in den Äußerungsakten einerseits Subjektivität konstruiert wird und andererseits im Diskurs eine wertend-positionierende Strukturierung erfolgt.

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Um den im Folgenden skizzierten methodologischen Rahmen an einem Beispiel zu verdeutlichen, werde ich Material heranziehen, das aus einer aktuellen Untersuchung unseres Arbeitsbereichs in Basel stammt (vgl. Maier/Ryter/Wrana 2012; Scharl/Wrana 2014a). Es handelt sich um Lernberatungsgespräche in der Lehrer_innenbildung, die je zwischen einem/einer Dozierenden der Didaktik und einem/einer Student_in im zweiten Semester geführt worden sind. Die beiden Beteiligten in dem hier ausgewählten Gespräch sprechen über den Einsatz einer Lernumgebung im Mathematikunterricht, deren Konzept und Dokumentation der Dozent Dirk den Studierenden in Studienmaterialien zur Verfügung gestellt hatte. Die folgenden exemplarischen Analysestücke ziehen als Materialfragment eine Äußerung des Dozenten an den Studenten heran. Diese Äußerung ist aus dem letzten Drittel des Gesprächs, das insgesamt etwa 30 Minuten dauert. In den Gesprächsteilen vor dieser Äußerung hatte der Student Paul sein Verständnis der Mathematiklernumgebung erläutert und seine Vorstellungen von deren Einsatzmöglichkeiten demonstriert. Daraufhin lobte ihn der Dozent für seine professionelle Haltung und sein didaktisches Können. Im Anschluss an das Lob hat Paul sein Einverständnis mit den von Dirk propagierten Lehr-Lern-Konzepten signalisiert, worauf Dirk nochmals nachlegt und sagt: Dozent Dirk: Ja, also nimm das sehr ernst. Das darfst du wirklich, das können nicht alle Lehrkräfte, auch amtierende Lehrkräfte nicht. Das sind dann jene, die sagen, es habe zu wenig Übungsmaterial im Zahlenbuch.

Dieses Materialfragment wird im Folgenden herangezogen. Die Frage ist einerseits, welche Figurationen, Spielzüge und Positionierungen mit dieser Äußerung des Dozenten (und mit angrenzenden Äußerungen) vollzogen werden, aber auch, welcher Raum des Sagbaren damit eröffnet wird und wie Paul diesen Raum in der Folge wieder schließen und weiter führen wird. Es wird also in diesem Beitrag – so viel sollte deutlich geworden sein – um eine Mikroanalyse des Vollzugs von Diskursivität gehen, mithin um diskursive Praktiken ›in progress‹. Im ersten Abschnitt wird in einigen methodologischen Bemerkungen dargelegt, welches Verständnis von Analyse und Methodik dem zugrunde liegt. Im darauf folgenden Abschnitt gilt es, die Perspektive einer Analyse diskursiver Praktiken theoretisch zu begründen und darzulegen, was es bedeutet, Diskursanalyse nicht ausgehend von den Ordnungen, sondern von den Praktiken zu betreiben. Schließlich wird für eine exemplarische Demonstration des methodischen Vorgehens aus den genannten Aspekten der Figurative herausgegriffen.

Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken

1. V on Theorien und M e thoden zur A naly tik Eine »Methodik« für einen poststrukturalistischen Zugang zu versprechen, ist ein riskantes Unternehmen, denn mit dem Versprechen begibt man sich in einen Kontext, der von hegemonialen Definitionen dessen, was gültige Wissenschaft und legitimes empirisches Vorgehen sei, geprägt ist. Das Risiko besteht darin, zum erkenntnis- und gesellschaftskritischen Potenzial des theoretischen Ansatzes in Widerspruch zu treten.1 Das Projekt einer »poststrukturalistischen Methodik« stößt sich schon an einer im wissenschaftlichen Feld selbstverständlich gewordenen basalen Unterscheidung, nämlich der von Theorie und Empirie, die zu einer Ausdifferenzierung und Objektivierung von wissenschaftlichen Methoden als Verfahrensweisen führt und so im Forschungsprozess den Gegensatz von Theorien und Methoden hervorbringt. Es gilt, kurz in Erinnerung zu rufen, wie sich dieser Zusammenhang über eine Arbeitsteilung im wissenschaftlichen Feld etabliert hat. Einerseits hat sich eine wissenschaftliche Praxis entwickelt, die in einer den Gegenstand des Sozialen, Politischen oder Pädagogischen als Ganzen erfassenden theoretischen Tätigkeit besteht und die ihre Präzision durch eine intensivierte Selbstreferentialität und innere Konsistenz erreicht oder anders gesagt: durch Schärfung ihrer Begriffe.2 In der etablierten sozialwissenschaftlichen Empirie hingegen wird ein völlig anderer Theoriebegriff gebraucht. Als Theorien gelten hier Aussagenzusammenhänge über Wirklichkeit. Sie werden entweder als an der Wirklichkeit zu prüfende Mengen von Definitionen, Hypothesen und Messregeln verstanden (z.B. Diekmann 2013: 141) oder als am Material gewonnene »Theorien mittlerer Reichweite« (Merton 1968; Glaser/Strauß 2012[1967]: 10 ff.). Forschungsmethodisch geht es darum, die Beziehung der Theorie zu den Sachverhalten oder Sinnzusammenhängen präziser und rationaler zu gestalten. Qualitative und quantitative empirische Zugänge haben gemeinsam, dass sie Verfahren hervorgebracht haben, mit denen Theorien produziert, analysiert und geprüft 1 | Diese Problematik ist in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden, vgl. hierzu die Einwände von Robert Feustel (2010), Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann (2010) sowie Dominik Schrage (2013), außerdem die Beiträge von Johannes Angermuller, Daniel Wrana und Kerstin Jergus sowie die Debatte von Feustel, Schrage und Wrana mit Reiner Keller und Juliette Wedl und Daniel Wrana im Methodologie-Teil des Handbuchs der interdisziplinären Diskursanalyse (Angermuller/Nonhoff/Herschinger/Macgilchrist/ Reisigl/Wedl/Wrana/Ziem 2014). 2 | Bekanntestes Beispiel für auf Totalität der Gegenstandserfassung zielende Theoretisierung ist die Systemtheorie in Folge Luhmanns, deren Anschlussmöglichkeiten für empirische Forschung werden dann auch diskutiert, wobei die Systemtheorie dabei als feste Größe gilt (Nassehi 2008)

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werden können, auch wenn sie den Zusammenhang dieser drei Tätigkeiten sehr verschieden fassen. Die Arbeit der Empirie fabriziert ihre Ergebnisse, indem sie etwas am Gegenstand herausarbeitet, das diesem Gegenstand eigen ist, sie stellt etwas am Gegenstand fest. Zugleich sind die hierbei entwickelten Verfahren zur Erkenntnisproduktion selbst objektivierbar, sie können als »Methoden« standardisiert, expliziert und gelehrt werden. Sie verselbstständigen und verdinglichen sich also gegenüber ihrer Einbettung in die Forschungspraxis. Die Arbeitsteilung im Feld manifestiert sich darin, dass von »Theoretiker_ innen« die Theorie als das eigentliche Operationsfeld der wissenschaftlichen Tätigkeit begriffen wird, während sie für »Empiriker_innen« ein in der Forschung zu produzierendes Ergebnis ist. Seit geraumer Zeit werden jedoch Vorschläge unterbreitet, die Opposition von Theorie und Empirie zu unterlaufen und die wissenschaftliche Tätigkeit als »theoretische Empirie« zu begreifen (Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008).3 Dabei tritt in den Blick, dass jede Empirie »theoriegeladen« ist, sie verfügt über »analytische« Begriffe, die die Wirklichkeit erst aufschließen. So etabliert sich ein dritter Theoriebegriff, der operativ und Wirklichkeit produzierend ist und der als Bindeglied von »Theorie« und »Empirie« gelten kann. Michel Foucault hat vorgeschlagen, diese operativen Typus von Theorie als Analytik zu bezeichnen, es gehe in seinen Arbeiten »weniger um eine Theorie als um eine Analytik« (Foucault 1995: 102).4 Die Analytik der Macht beanspruche nicht zu sagen, was »die Macht« sei (sie ist 3 | Eine solche »theoretische Empirie« basiert auf einer ganzen Reihe von epistemologischen Verschiebungen, die hier nur angedeutet werden können: Der Poststrukturalismus hat einen Denkstil etabliert, der die theoretische Totalisierung des Gegenstandes ebenso kritisiert wie die mit der etablierten Empirie einhergehende Norm der Systematizität und der Beherrschbarkeit der Wirklichkeitsrelationen und dabei auf die Emphase gegen das Messen zugunsten einer mythischen Einheit des Subjekts oder der Natur verzichtet. Die postempirische Epistemologie und die Wissenschaftsforschung der science und technology studies hingegen beobachten die Wahrheitsproduktionen der Forschung und relativieren dadurch ihre Geltungsansprüche jenseits gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Rheinberger 2007; Wrana 2014a). 4 | Der Begriff der Analytik als Substitut für Theorie taucht bereits in der Ordnung der Dinge auf, in der Foucault (1974: 377 ff.) die Denkweise des klassischen Zeitalters als »Diskursanalyse« und die Operationsweise des um 1800 entstehenden modernen Denkens als »Analytik der Endlichkeit« bezeichnet. Während der Begriff in der späteren Machtanalytik für die eigene methodische Vorgehensweise gebraucht wird, bezeichnet er hier noch den untersuchten Gegenstand. Gemeinsam ist den Verwendungsweisen des Begriffs aber, dass er nicht auf »Theorie« als Ensemble von Aussagen zielt, sondern auf die mit dem theoretischen Denken verbundenen Operationsweisen. Dieser Gebrauch des Begriffs hat seine Traditionen, die vor allem Immanuel Kant mit der transzenden-

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also keine den Gegenstand totalisierende Theorie), sie stellt vielmehr ein analytisches Instrumentarium bereit, mit dem sich Machtbeziehungen untersuchen lassen (vgl. Foucault 2004: 13 ff.). Parallel lässt sich dies auch für eine Analytik der diskursiven Praktiken oder eine Analytik der Subjektivierungsweisen formulieren. Theorie als Analytik macht nach dieser Auffassung Wirklichkeit intelligibel und schafft damit erst ein Feld von Sichtbarkeiten, von möglichen Interventionen und Handlungen. Mit der Arbeit der Analytik wird nicht unterstellt, dass eine Wirklichkeit existiert, die es angemessen abzubilden gilt, wohl aber, dass die empirischen Gegenstände sich der Arbeit des Denkens entgegen stellen und dieses immer wieder herausfordern, weil sie in Praktiken immer schon konstituiert sind. Der methodische Weg der Analytik ist daher nicht, die Sachverhalte zu rekonstruieren, sondern die Existenzbedingungen aufzuzeigen, unter denen die Sachverhalte als solche in einem Wissensfeld erst erscheinen können. Die Analytik mit ihrer begrifflichen Re-OrganisationsArbeit macht reflexiv, wie Gegenstände zu Wissensobjekten werden. Dieses Wissenschaftsverständnis hat die Kritische Theorie geprägt, gemäß der es gilt, die Kategorien, in der sich die gesellschaftliche Wirklichkeit zu denken gibt, und die in der bürgerlichen Forschung als analytische Kategorien unreflektiert übernommen werden, ihrer Selbstverständlichkeit zu berauben und gerade sie zum Gegenstand der Analyse zu machen (Horkheimer 1987: 223). Die Analytik zielt daher nicht auf eine identifizierende, sondern auf eine problematisierende Empirie (Schäfer, A. 2013: 545). Insofern die theoretischen Begriffe ihren Gegenstand auf eine bestimmte Weise hervorbringen, werden sie selbst zum Moment einer Wahrheitspolitik. Von einer Methodik diskursiver Praktiken zu sprechen bedeutet also nicht, ein Verfahren vorzuschlagen, das auf Material angewendet werden könnte, sondern vielmehr einen analytischen Rahmen zu entwerfen, der es ermöglicht, im Material zu arbeiten und Sichtbarkeiten zu produzieren. Entscheidend an der Metapher der »Werkzeugkiste« (Foucault 2002: Bd.  2, 888) ist durchaus auch ihre selektive Nutzbarkeit, vor allem aber, dass sie auf den operativen Charakter der Begriffe verweist. Die Operationalisierung der Analyse diskursiver Praktiken bedeutet in diesem Zusammenhang nicht wie im kritischen Rationalismus, die Basissätze der Theorie beobachtbar zu machen, sondern den Begriffsapparat so zu formieren, dass er operativ wird, dass er das Material aufzuschließen vermag. Wie sich diese Begriffe in einer Arbeit dann formieren, wie sie das Material erschließen und was sie daran zeigen, ist eine Aufgabe, die jede empirische Arbeit aufs Neue zu leisten hat und für die es Vorbilder, aber keine Muster und lehr- und reproduzierbare Verfahren geben kann. talen Analytik begründet haben dürfte, deren Aufgabe es ist, die Operationsweise des Verstandes zu beschreiben (Kant 1911: 76 ff.).

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2. D iskursive P r ak tiken Während die meisten Autor_innen, die die Grundlagen der Praxistheorie resümieren oder ausarbeiten, Foucaults späte Arbeiten zu Gouvernementalität, Subjektivierung und Selbstsorge als praxisanalytisch betrachten, wird der Foucaultschen Diskursanalyse diese Eigenschaft meist abgesprochen (im Überblick Schäfer, H. 2013: 121 ff.). Gemäß einer verbreiteten Lesart, die etwa Hubert Dreyfus und Paul Rabinow (1983: 79 ff.) und auch Andreas Reckwitz (2000: 293) vertreten haben, verschiebt Foucault mit der Machtanalytik seinen kategorialen Zugang und untersucht, wie Herrschaftsverhältnisse ebenso wie Subjektivierungen qua Praktiken vollzogen werden. Seine diskursanalytischen Arbeiten hingegen, insbesondere die Ordnung der Dinge und die methodologische Reflexion in der Archäologie des Wissens seien von drei Problemen geprägt: Strukturalismus, Textualismus, Diskursimmanenz. Ich möchte es zunächst bei der Benennung dieses dreifachen Makels belassen, um im Weiteren darauf zurück zu kommen. Insbesondere für Dreyfus und Rabinow ist dies jedenfalls ein Grund, den Ansatz der Diskursanalyse als gescheitert zu betrachten, wobei sie die spätere Machtanalyse als umso brauchbarer einschätzen. Wie jedoch Hilmar Schäfer (2013: 135) in einer Studie zur historischen Formierung der Praxistheorien feststellt, findet sich in diesen diskursanalytischen Arbeiten immerhin das Potenzial eines praxistheoretischen Zugangs. Um die Diskursanalyse praxistheoretisch zu reformulieren, ergibt es Sinn, diesem Potenzial nachzugehen, denn auch wenn der Begriff Diskurs in den späteren Arbeiten Foucaults weiter intensiv benutzt wird, so verliert sich die theoretische Hartnäckigkeit, mit der er ihn zuvor bestimmt hatte. Viele diskursanalytische Ansätze halten sich denn auch in ihren theoretischen und methodologischen Bezügen an die Vorschläge in der Archäologie des Wissens. Der dreifache Makel des Strukturalismus-Textualismus-Diskursimmanentismus wird zwar oft ebenfalls empfunden, die darauf reagierende Theoriestrategie ist jedoch meist eine Art Kompensation oder Neutralisierung. Beispielsweise führt Siegfried Jäger die Tätigkeitstheorie des russischen Marxismus als eine Art Gegengift ein, um dann die Diskurse mit Foucault und das Subjekt mit Leontjew als theoretisch inkommensurable Schichten parallel zu legen (vgl. Jäger 1999: 78 ff.). Eine andere Strategie der Kompensation ist die Einführung einer zweiten Analyseebene, die die sogenannten nicht-diskursiven Praktiken erfasst, der Mangel des Textualismus wird kompensiert, aber nicht durch eine Revision der Diskurstheorie, die unverändert rezipiert wird, sondern durch ihre komplementäre Ergänzung (z.B. Bührmann/Schneider 2008; kritisch Wrana/Langer 2007; van Dyk/Langer/Macgilchrist/Wrana/Ziem 2014). Im Folgenden soll eine andere Theoriestrategie verfolgt und vorgeschlagen werden, indem an diejenigen Lesarten der Diskurstheorie angeschlossen wird, die den »Makel« bereits im

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Theoriekern angehen. Diese Lesarten sind nicht unbedingt praxisanalytisch, sie sind zunächst häufig »pragmatisch« im Sinne einer Handlungstheorie der Sprache oder poststrukturalistisch bzw. dekonstruktivistisch, aber diese theoretischen Transformationen erlauben, diskursive Praktiken als Praktiken zu begreifen. In der Archäologie des Wissens konkretisiert Foucault die Diskurse als diskursive Formationen (1981[1969]: 110). Bei den Formationen handele es sich um Streuungsfelder von Aussagen, die auf ähnliche Weise konstruiert sind (ebd.: 170). Die Funktion dieser Aussagefelder ist, das, wovon sie sprechen, als Gegenstand hervorzubringen. In der Analyse dieser Formationen geht es dann darum, die Weise dieses Hervorbringens zu beschreiben. Der psychiatrische Diskurs beispielsweise bringt »die Geisteskrankheit« als seinen Gegenstand erst hervor, der in der psychiatrischen Beobachtung erscheinende »kranke Geist« ist eine Konstruktion, die erst im relationalen Gefüge einer diskursiven Formation denkbar wird. Er ist also keine Entdeckung einer dem Diskurs vorgängigen Wirklichkeit, sondern die Art und Weise, wie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt Probleme artikuliert worden sind (ebd.: 105). Damit ist das Forschungsinteresse pointiert: Die in den Wissensfeldern etablierten Gegenstandskonstruktionen ihrer Quasi-Evidenz zu entreißen, ihre gesellschaftliche Formiertheit aufzuzeigen (ebd.: 40). Die Frage ist, wie dieses Interesse analytisch anzugehen sei. In der Archäologie ist Foucault davon überzeugt, dass es darum gehen muss, die diskursiven Formationen als »Einheiten« zu behandeln und sie in ihren Grenzen und ihren Eigenschaften zu bestimmen. Die Formationen erscheinen ihm meist von recht großer Reichweite: der »medizinische Diskurs des 18. Jahrhunderts« oder »die Psychiatrie« oder »die Moderne«. Die Diskursanalyse soll darin bestehen, die Formationen analytisch zu »isolieren« (ebd.: 59) oder sie zu individualisieren (ebd.: 92). Die somit gezogenen Grenzen der diskursiven Formationen, die sich von in der Wissenschaftsgeschichte üblicheren Einheiten (dem Autor, dem Werk, der Disziplin, der Epoche usw.) unterscheiden, sind begründungswürdig (ebd.: 104). Die primäre Begründungsstrategie ist dabei methodologisch: Die Einheiten sind durch eine aufsteigende Analyse ausgehend von der Materialität der Äußerungen in einem definierten Korpus zu bestimmen, wobei die Äußerungen ihre Zusammengehörigkeit durch Regelmäßigkeit anzeigen. Die Arbeit im Material erfolgt durch Strukturvergleich, also durch das Aufweisen von Mustern der Relationierung, und sie erfolgt explorativ-abduktiv. Dieses methodologische bzw. nominalistische Verständnis des Diskurses leistet bereits die entscheidende Umkehr der Perspektive, insofern das Gesagte nicht mehr von den Sprechenden und ihren Intentionen her begriffen wird, sondern von den Ordnungen, die die Menge des Gesagten selbst bilden, sie

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genügt für die empirische Arbeit im Korpus5, und man könnte es dabei bewenden lassen (vgl. Foucault 2001[1966]: 673). Aber Foucault geht über diese methodologische Version der Diskurstheorie hinaus, zwar soll die Diskursanalyse die Formationen beschreiben, aber sie soll auch erklären können, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Kontext eine Äußerung möglich war oder warum nicht. Dazu ist ein Modell nötig, wie »ein Diskurs« funktioniert und die Regelmäßigkeit mit einer regelhaften Notwendigkeit hervorbringt. Für dieses Modell hatte Foucault noch einige Jahre zuvor oft auf Metaphern des Systems oder der Tiefe zurückgegriffen. In einem Interview sagt er etwa, dass Claude Lévi-Strauss und Jacques Lacan gezeigt hätten, dass der Sinn lediglich eine Oberflächenerscheinung sei, »während das eigentliche Tiefenphänomen, von dem wir geprägt sind, das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trägt, das System ist« (Foucault 2001[1967]: 665). Das System sei eine invariante »Menge von Beziehungen« (ebd.), ein kulturelles Muster als Tiefenstruktur, die wie eine Matrix des Sagbaren das Gesagte hervorbringt. Diese Tiefenstruktur wird in der Ordnung der Dinge Episteme genannt (Foucault 1974[1966]: 24).6 Diesem Modell versucht Foucault in der methodologischen Reflexion der Archäologie des Wissens zu entkommen und entwickelt ein alternatives Modell, das er als »diskursive Praxis« bezeichnet.7 Das Modell der diskursiven Praxis unterscheidet sich zunächst vom strukturalen Modell dadurch, dass es der Metapher der Tiefe entsagt, oder besser, dass es sie geschickt umwendet: »Es gibt keinen Text unterhalb«. Und weiter: »Das Aussagegebiet ist völlig an seiner eigenen Oberfläche befindlich. Jede Aussage nimmt darin einen Platz ein, der 5 | Manche Ansätze der Diskurslinguistik nutzen eine solche formale und methodologische Definition von Diskursen. Diskursanalyse bedeutet dann, mit quantitativen und qualitativen Verfahren Regelmäßigkeiten in Diskursen zu kartografieren wie etwa den Gebrauch bestimmter Metaphern, Argumente oder Begriffe (ausführlich und differenziert bei Warnke/Spitzmüller 2011: 25 ff., 81 ff.). 6 | Auch an diesem Punkt setzen einige Ansätze der Diskursanalysen an. So begreift etwa Rainer Diaz-Bone die Diskurse als durch epistemische Tiefenstrukturen hervorgebracht und bestimmt folglich als Aufgabe der soziologischen Diskursanalyse, diese Tiefenstrukturen herauszuarbeiten. Explizit stellt er Foucault dazu in eine Durkheim’sche Tradition (Diaz-Bone 2010[2002], 2011). Auch Dietrich Busse und Joachim Scharloth greifen auf dieses Modell zurück, wenn sie »diskursive Grundfiguren« untersuchen, die sie als produktive Matrix begreifen, die auf der Ebene einer »Tiefensemantik« situiert ist (Busse 1997; Scharloth 2005). 7 | Diese Verschiebungen verweisen auf zahlreiche Debatten in den späten 1960er Jahren und insbesondere die Einwände gegen »den Strukturalismus«. Auch wenn Foucault sich gegen 1966 wiederholt so positioniert, wird er später oft betonen, nie Strukturalist gewesen zu sein.

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nur ihr gehört.« (Foucault 1981[1969]: 174) Anstatt in die Tiefe geht der Zusammenhang des Diskurses also in die Breite, die Oberfläche bildet ihre eigene Tiefe. Es gibt keine generische Matrix, keine produktive Grammatik. Es geht nicht mehr darum, dass ein basales Schema die Aussagen produziert, sondern dass die Praxis des Aussagens etwas produziert und zwar Gegenstände wie die »Geisteskrankheit«, die dann als evidente gesellschaftliche Wirklichkeit erscheinen können, sowie Subjekte wie den »Geisteskranken«, der von sich und anderen anhand dieser diskursiv konstruierten Identität gedeutet wird. Die diskursive Praxis ist insofern immanent, dass es keine Struktur und kein Subjekt gibt, die ihr wiederum zugrunde liegen, vielmehr bilden die Praktiken ihre eigene Ontologie, sie bringen sich selbst hervor. Foucault spricht in diesem Sinn von diskursiven Regeln: »Unter Formationssystem muß man also ein komplexes Bündel von Beziehungen verstehen, die als Regel funktionieren« (ebd.: 108). Solche Formulierungen sind nicht unproblematisch, weil sie sich durch ein eigentümliches Schwanken auszeichnen: Einerseits ist die diskursive Praxis durch ihre »Regelmäßigkeit« charakterisiert (es gibt beobachtbare gemeinsame Eigenschaften), zugleich aber scheint sie von einem Regelsystem produziert, das einer individualisierten Formation eigen ist. Viele Rezipienten werfen der »Diskursanalyse« Foucaults daher vor, aus der Beobachtung der Regelmäßigkeit auf die Wirkmächtigkeit von Regeln zu schließen und so den Diskursen Autonomie zuzuschreiben (z.B. Dreyfus/Rabinow 1983; Lemke 1997: 49; Reckwitz 2000: 284 f.). Die Lesart der »Autonomie der Diskurse« hält sich hartnäckig. Viele Leser_innen haben den Eindruck, dass zwar hin und wieder von nicht-diskursiven Praktiken die Rede sei, dass Foucault aber am Ende immer wieder auf die Autonomie der diskursiven Praktiken zurückkomme. Als Lösung erscheint dann eine Rehabilitation der »nicht-diskursiven Praktiken«. Es gibt allerdings auch eine andere Lesweise. An vielen Stellen betont Foucault das Zusammenspiel verschiedener Praktiken. Seine Behauptung, dass diese alle diskursiv seien, bedeutet nun nicht, sie auf den Aussagetypus zu reduzieren. Es bedeutet schon gar nicht, sie auf Sprache zu reduzieren. Es bedeutet vielmehr, das Prädikat »diskursiv« umzustellen. Eine diskursive Praktik ist nicht eine Praktik des Zeichengebrauchs, sondern eine Praktik der Produktion von Bedeutung, Wahrheit und Subjektivität. Diskursive Praktiken zu untersuchen heißt dann, mit den drei »analytischen Achsen« (Foucault 1989: 10) Wissen, Macht, Subjekt zu arbeiten und nicht nur mit der ersten. Auch wenn man vom Standpunkt der Foucault-Exegese einwenden mag, dass diese Lesart von der Archäologie nicht hinreichend gedeckt sei, so ist sie für eine Revision der Diskursanalyse als Analytik diskursiver Praktiken doch produktiv. Entscheidend für eine praxeologische Lesart der Diskursanalyse ist allerdings, den Fokus auf die »diskursiven Formationen« und die Analyse ihrer stabilen Eigenschaften sowie der Stabilität ihrer Reproduktionsweisen zu

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relativieren. Diese Relativierung legt den Blick frei auf das énoncé und die énonciation, die Aussage und den Äußerungsakt, die Foucault in der Theoriearchitektur der Archäologie entfaltet (Foucault 1981: 113–191). Wenn man die Auffassung, dass die diskursive Praxis eine gesellschaftliche Tätigkeit ist, radikaler verfolgt, als dies üblich ist, dann müsste sich die Diskursanalyse von der énonciation her und von der Mikroanalyse des Vollzugs der diskursiven Praxis her entfalten lassen und nicht vom Systemcharakter der Regeln. An dieser Stelle unterscheiden sich verschiedene diskursanalytische Zugänge grundlegend. Die meisten Zugänge der Kritischen Diskursanalyse oder der Wissenssoziologischen Diskursanalyse stellen die Regelsysteme ins Zentrum. Es geht dort um »die typischen Aussagensysteme, die durch diskursive Praktiken erzeugt werden. Mit Blick auf die Genealogie der Aussagensysteme sind jedoch weniger die Aussagen selbst, als vielmehr die Regelsysteme, die die Aussagensysteme generieren, von besonderem Interesse.« (Viehöver 2013: 230) Das »besondere Interesse« einer Analyse diskursiver Praktiken fokussiert hingegen auf die Äußerungsakte und ihren Vollzug. Aussage und Äußerungsakt (énoncé und énonciation) gehören zusammen. Die Aussagen sind in Foucaults Diskurstheorie hergestellte Relationen zwischen Elementen, sie sind insofern produzierte »Fakten«. Sie sind zwar einzigartig und singulär, wie Foucault betont, aber sie sind nicht das unmittelbar in Text, Bild oder anderen Formen beobachtbar Geäußerte. Sie sind vielmehr eine Relationiertheit, die im Akt der Äußerung produziert wird und insofern sind sie nur analytisch aus dem Beobachtbaren erschließbar. In einer praxeologischen Lesart verschiebt sich nun der Fokus, denn nicht die Aussage als »Fakt« ist entscheidend, sondern der Äußerungsakt, der Vollzug der Herstellung dieser Relationiertheit. Was wird im Akt relationiert? Nach Foucault kommen im Akt der énonciation vier Dimensionen zusammen. (a) Eine Materialität, die den Äußerungsakt auszeichnet, insofern sein Vollzug an Institutionen, Situationen und Körper gebunden ist, (b) ein Feld von Gegenständen, auf das der Äußerungsakt referenziert und im Vollzug zugleich konstruiert und abgrenzt, (c) eine Reihe von semantischen Elementen, mit denen im Vollzug ein rhizomatisch organisiertes Geflecht an Bedeutungen konnotiert wird, (d) eine Subjektivität, die im Vollzug konstituiert wird, indem im Äußern ein Platz eingenommen wird, der bereits existiert und zugleich besetzt und produziert wird (vgl. Foucault 1981: 128 ff.; Wrana 2006: 123 ff.). Foucaults Äußerungsakte sind folglich den Sprechakten von John Austin ähnlich, die performativ sind, insofern sie die Welt nicht einfach abbilden und zum Ausdruck bringen, sondern die Wirklichkeit der Welt im Moment des Sprechens produzieren (Austin 1972: 27). Nach Austin sind Sätze wie »Schweden liegt im Norden Europas« konstativ, sie behaupten die Richtigkeit eines Sachverhalts und die lässt sich an einer real existierenden Welt prüfen. Dagegen sind Sätze wie »Ich taufe Dich auf den Namen …« oder »Die Sitzung ist

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eröffnet …« performative Sprechakte, die das, wovon gesprochen wird, im Akt des Sprechens konstituieren. Zurecht weisen Dreyfus und Rabinow auf einen Briefwechsel zwischen Searle und Foucault hin, in dem Foucault betont, dass die Theorie der Aussage doch viel mit der Sprechakttheorie gemeinsam habe (vgl. Dreyfus/Rabinow 1983: 46). Die Performativitätsthese in der Diskurstheorie ist viel weitreichender als die Searles. Die poststrukturalistischen Theorien weisen nämlich der gesamten Praxis die Eigenschaft der Performativität zu, jeder Äußerungsakt bringt eine Welt hervor, nicht nur eine begrenzte Gruppe von Äußerungsakten. Alle Äußerungsakte sind in diesem Verständnis grundsätzlich performativ. Die diskursive Praxis zeichnet sich durch eine doppelte Performativität aus, sie konstruiert die »Welt der Dinge« ebenso wie die »Subjektivitäten« und zwar durch die Relationierung in den Äußerungsakten. Wie ist etwa die Äußerung des Dozenten Dirk an den Studenten Paul zu werten? Dozent Dirk: Ja, also nimm das sehr ernst. Das darfst du wirklich, das können nicht alle Lehrkräfte, auch amtierende Lehrkräfte nicht.

Im Sinne Searles ist »das können nicht alle Lehrkräfte« eine Proposition p, die im Äußerungsakt als konstativem Sprechakt behauptet wird, die Proposition macht eine Aussage über einen Sachverhalt in der Welt und beansprucht, diesen zu repräsentieren (Searle 1998). Für die Diskurstheorie ist die Lage komplexer. Zunächst schreibt Dirk den »Lehrkräften« zu, dass manche »es« (also Mathedidaktik so gut wie Paul) nicht können, er verortet damit aber auch Pauls Kompetenzen in der Mathematikdidaktik in eine Rangordnung ein, in der ihm im Feld der amtierenden Lehrkräfte eine hohe Position zugeschrieben wird. Paul wird also »positioniert«, an ihn wird eine Norm adressiert, in deren Horizont er sich dann selbst positionieren kann. Die Äußerung ist performativ, insofern sie eine »Welt« entwirft, in der Lehrkräfte sich über ein bestimmtes Können differenzieren und Paul darin einen bestimmten Rang einnimmt. Diese Rangordnung im Feld der Lehrkräfte ist keine einfache Eigenschaft der Wirklichkeit, deren Geltung überprüft werden könnte, denn die Frage, ob die Proposition p (Paul kann, was viele L. nicht können) Geltung hat oder nicht, lässt sich erst vor dem Hintergrund einer viel grundlegenderen diskursiven Ordnung beantworten, nämlich dass sich Lehrkräfte nach dieser Art der Kompetenz unterscheiden. Diese Ordnung wird im Akt performiert. Die Performativität der diskursiven Praxis besteht darin, dass in jedem Äußerungsakt eine Ordnung postuliert wird, und dass mit dem Äußerungsakt ein Gewicht für die Geltung dieser Position gesetzt wird. Der Äußerungsakt adressiert zugleich die beteiligten Akteur_innen (Sprecher_in, Hörer_in sowie jene, über die gesprochen wird), sich als Subjekte gemäß dieser Ordnung

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zu konstituieren. Also Paul als herausragender Student, Dirk als jemand, der solche Plätze zuweisen kann, und die amtierenden Lehrkräfte als solche, deren Amt und Status noch nicht hinreichend für ihre Qualität ist. Damit ist noch nicht gesagt, dass diese Performativität sich als Wirkung vollzieht. Performativität bedeutet kein Kausalverhältnis, sondern ein Wirkungspotenzial. Wir finden das Motiv aber auch bei Austin: Sprechakte können gelingen oder nicht. Ob sie ihr Gewicht erlangen, hängt von der Wahrheitsfähigkeit der Aussagen ab, von der Position des/der Sprecher_in etc. Paul könnte Dirk seine Definitionsmacht, die Plätze zu verteilen, im nächsten Spielzug auch absprechen und die amtierenden Lehrkräfte würden womöglich protestieren, wenn sie diese Äußerung hören würden. Foucault verschiebt hier den Begriff der Wahrheit, denn wahr ist eine Aussage, insofern sie über die Kraft verfügt, Macht und Souveränität zu verleihen (Foucault 2012[1970/71]: 156). Die Äußerungsakte entfalten ihre Performativität nicht aus sich heraus. In der Diskurstheorie sind Sprechakte, anders als in weiten Teilen der Sprechakttheorie, nicht singulär. Sie setzen eine diskursive Praxis voraus, die immer schon läuft und in der die in der Praxis verknüpften Elemente bereits relationiert sind. Aber jeder Äußerungsakt konstelliert diese Elemente erneut und womöglich anders. Es gibt auch Äußerungsakte, die eine Beziehung zum ersten Mal herstellen, die Elemente aufeinander beziehen, die zuvor noch nie zusammen gedacht worden sind. Meist jedoch handelt es sich nicht um einen solitären und heldenhaften Akt der revolutionären Verknüpfung, meist handelt es sich um viele kleine, aneinander gereihte Kreationen, die eine permanente Verschiebung vollziehen. Laclau und Mouffe (1991) fassen diese voraussetzende Produktivität als Artikulation und verstehen darunter »jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird« (ebd.: 155). Die Artikulation ist demnach eine Produktion, die an frühere Produktionen anschließt und die ihre Elemente nicht einfach in Beziehung setzt, sodass sie in dieser Beziehung dieselben bleiben, sondern dass sie in diesem In-Beziehung-Setzen selbst transformiert und modifiziert werden (vgl. Ott/Wrana 2010: 167; vgl. Foucault 1981: 126). Wenn die Praxis ihre Kraft, eine Beziehung zwischen Elementen herzustellen, aus der Wiederholung schöpft, wie lässt sich das Prinzip dieser Wiederholung denken? (Vgl. auch Schäfer, H. 2013: 44 ff.) Es lassen sich drei grundlegende Vorschläge unterscheiden. Das erste Prinzip ist das einer generativen Matrix. Die vielen einzelnen wiederholten Fälle sind Aktualisierungen eines Musters, sie werden wie mit einem Prägestempel als Token einer identischen Type produziert. Foucault hat dieses Prinzip immer zurückgewiesen, kann sich aber in seinen Formulierungen nicht immer davon lösen. Das zweite Prinzip der Wiederholung ist die Routine, die Gewohnheit. Auch hier findet die Wiederholung gleichförmig statt, aber die Gleichförmigkeit wird nicht durch

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ein Muster, sondern durch die Tradition bestimmt. Ein drittes Prinzip zeichnet die poststrukturalistischen Theorien aus. Jacques Derrida (2001: 24) hat den Vorschlag gemacht, jede Wiederholung als eine Zitation zu betrachten, die den Sinn von den vorausgehenden Akten borgt, ohne sie identisch zu wiederholen. Jede Wiederholung bestätigt insofern die Dignität einer Praxis, zugleich transformiert sie diese mit Notwendigkeit. Judith Butler hat dieses Theorem weiter geführt (Butler 2006[1997]; vgl. Reh 2003: 42; Wrana 2006: 128; Schäfer, H. 2013: 195 ff.) und auf die Artikulation von Hate Speech bezogen. Ihre weitere Ausarbeitung des verletzenden Sprechakts wird in der Rezeption auf alle Äußerungsakte bezogen (vgl. Jergus 2012). Mit jeder Iteration ist im zitierenden Anschließen zugleich ein potenzieller Bruch mit dem Feld der vorausgehenden Äußerungen verbunden. Durch diesen konstitutiven Bruch in der Kette der Akte ist die diskursive Praxis aus dieser theoretischen Perspektive weit davon entfernt, eine Reproduktion eines Regelsystems zu sein. Die Unvorhersehbarkeit des anschließenden Aktes hat ihre Quellen jedoch nicht nur darin, dass die Akte unterdeterminiert sind, sondern auch darin, dass die Determinationslinien immer multipel und komplex sind. Jeder Äußerungsakt geht nicht auf eine einzige Tradition oder auf ein einziges Muster zurück, sondern auf eine unbestimmbare Multiplizität, insofern ist die Praxis überdeterminiert (Althusser 2011[1965]). Jedes Ereignis ist ein Resultat »unzähliger, einander durchkreuzender Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen« (Engels 1967: 463). Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Empirie. Es ist nämlich niemals möglich, bei der Beobachtung einer Situation oder Handlung abschließend zu bestimmen, welche Praxis iteriert wird. Oder anders: In der Analyse eines Äußerungsakts zeigt sich immer eine Verschränkung von diskursiven Formationen, wobei es nicht möglich ist zu sagen, dass der Akt genau jene und nur jene Formation iteriert. Dieser mit der Iterabilität verbundene, notwendige und konstitutive Bruch in der routinisierten Wiederholung der Praxis führt zum einen dazu, dass Praktiken bei aller Selbstläufigkeit und Stabilität weder vollständig vorhersehbar noch kontrollierbar sind, und zum anderen zu der Möglichkeit, die Macht der Wiederholung zugleich als Veränderungsmacht zu denken, als ein Potenzial, machtförmig strukturierte Praxen zu transformieren, das nicht auf das theoretische Postulat eines autonomen, sich selbst konstituierenden Subjekts angewiesen ist (Butler 2006[1997]).8

8 | In diesem Beitrag habe ich auf eine Gruppe von Lektüren der Archäologie fokussiert, nämlich die poststrukturalistischen Reformulierungen mit Derrida und Butler und damit der Bezug der Diskurstheorie auf die Sprechakttheorie Austins. Parallel und ebenso bedeutsam ist jedoch eine zweite Relektüre, der ich hier nicht genug Raum schenken konnte, mit der die französische analyse du discours in der linguistique de l’enonciation

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Eine so verstandene Diskursanalyse hat den Fokus von der Analyse stabiler und homogener Formationen auf die Mikroanalyse der Äußerungsakte verschoben. Diese Form der Analyse rekonstruiert weder Regelsysteme noch Regelmäßigkeiten, sondern beobachtet, wie in der sozialen diskursiven Praxis Wirklichkeit konstruiert und Wahrheit behauptet wird. Damit sind die Diskurse als gesellschaftliche Ordnungen keineswegs irrelevant geworden. Ebenso wie die Ethnografie erlaubt die Diskursanalyse die gesellschaftlichen (Macht-) Verhältnisse in den Mikrosituationen zu beobachten und in Beziehung zu setzen (Ott/Schweda/Langer 2014). Dabei wird es allerdings möglich, Diskurse nicht als homogene Flächen zu begreifen, sondern als Wissensfelder und als Arenen eines diskursiven Kampfes, in dem verschiedene diskursive Ordnungen im Widerstreit stehen. Es lässt sich dann fragen, welche Wissensordnungen in den beobachteten Szenen (das können öffentliche Texte ebenso sein wie Bilder, Gespräche, stumme Handlungsweisen etc.) aktualisiert werden.

3. F igur ationen Der figurative Aspekt diskursiver Praktiken betrifft die Weise, in der sie Sinn konstruieren. Zu beobachten sind die Operationen, mit denen diese Konstruktionen vollzogen werden. Eine basale figurative Operation ist die Differenzsetzung, die im Folgenden anhand der Äußerung des Dozenten im Rahmen des Lernberatungsgesprächs herausgearbeitet werden soll. Dozent Dirk: Ja, also nimm das sehr ernst. Das darfst du wirklich, das können nicht alle Lehrkräfte, auch amtierende Lehrkräfte nicht. Das sind dann jene, die sagen, es habe zu wenig Übungsmaterial im Zahlenbuch.

In dieser Äußerung lässt sich der Vollzug eines Äußerungsaktes mit einer komplexen Differenzsetzung beobachten. Der Akt konstruiert einen Gegenstand »Lehrkräfte«, also die Gruppe aller in diesem Kontext relevanten Lehrer/-innen (die Grenzen dieser Relevanzselektion bleiben offen). Dieser Gegenstand differenziert sich aber zwar einerseits nach solchen Lehrkräften, die »das« können, und solchen, die »das« nicht können. Das hier nicht mehr ausgesprochene, sondern nur über den Marker »das« referenzierte ist ein didaktisches Können, das der Student gerade demonstriert hatte. Eine zweite Differenzsetzung wird zwischen »amtierenden« Lehrkräften und einer anderen Gruppe gezogen, die wir zunächst einmal lediglich als »nicht-amtierend« betrachten können. Was die Polyphonie, also die Mehrstimmigkeit des Äußerungsakts herausgreift und zu einer ähnlichen diskurstheoretischen Form verbindet (vgl. Angermüller 2007, 2007, 2014).

Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken

sind nicht-amtierende Lehrkräfte, solche die gerade keine Stelle haben? Solche wie Paul, die studieren und Praktika machen? Sind diese nicht eher gar keine Lehrkräfte oder zukünftige Lehrkräfte? Dass diese Frage kaum interpretativ zu beantworten ist, kommt der Exemplarik dieser Äußerung für die hier verfolgte Analytik zupass. Es geht weder darum, zu interpretieren, wovon hier objektiv gesprochen wird, noch was hier subjektiv gemeint sei, sondern darum, zu beobachten, wie in dieser Äußerung ein Gegenstand konstruiert und konstelliert wird. Die Wendung »auch amtierende Lehrkräfte nicht« verstärkt zunächst eine Serie von Zuschreibungen. Die Zuschreibung ist eine weitere basale figurative Operation: einem Objekt wird eine Eigenschaft zugeschrieben. Zunächst wird dem Studenten zugeschrieben, dass er »das« kann, dies ist in »Das darfst du wirklich, das können nicht alle« implizit9, dann wird der Student zu der Gruppe der »Lehrkräfte« in Beziehung gesetzt, die unterschieden ist in »Könner« und »Nicht-Könner«, wobei offen bleibt, ob der Student zur Gruppe der »Könner« gehört oder nur ebenso wie diese »das kann«, die Passage ist also polysem, sie kann verschieden gedeutet werden. Die Zufügung »auch amtierende Lehrkräfte« grenzt diese polysemische Öffnung des Bedeutungsraums wieder ein, sie monosemiert. Sie behauptet, dass nicht nur jene »nicht-amtierenden Lehrkräfte«, zu denen sich der Student als Hörer dieser Äußerung womöglich zählt, das nicht können, sondern auch die amtierenden nicht. Die Monosemierung verstärkt also die Zuschreibung an den Studenten, unter allen denkbaren Lehrkräften einen besonderen Status einzunehmen. Differenzierung und Zuschreibung sind zwei basale figurale Operationen, die ich exemplarisch an einem kleinen Materialstück gezeigt habe. Die Analyse diskursiver Praktiken beobachtet anhand solcher und anderer, komplexerer figuraler Operationen, wie Ensembles von Bedeutungen und Gegenständen 9 | Als »implizit« bezeichnen wir eine Zuschreibung, ein Bedeutungsmoment, eine Aussage etc., wenn diese sich aus einer Passage schließen lässt, in der sie nicht explizit ausformuliert ist. Der Schluss auf das Implizite ist immer riskant und kontingent und insofern eine Interpretation. Als solche ist sie rechtfertigungsbedürftig. Hier lassen sich drei Stufen von Rechtfertigungsmöglichkeiten unterscheiden: Eine erste Stufe – und das ist hier der Fall – begründet den Schluss von grammatischen Implikationen und logischen Strukturen des Satzes her. Idealerweise muss in dieser ersten Stufe nichts unterstellt werden als die rationale Rede der Sprecherinnen – dennoch eine ziemlich gewagte Unterstellung. In diesem Sinn wird in den Sprachwissenschaften auch zwischen Präsuppositionen und Implikaten unterschieden. Die erste Gruppe gilt als logisch zwingend. Die zweite Stufe nutzt, um die Behauptung des Implikats zu rechtfertigen, den Kotext, also unmittelbar gegebenes empirisches Material aus dem Umfeld und der Situation. Eine dritte Stufe der Rechtfertigung nutzt Kontexte, die im Material nicht gegeben sind, sondern aus einem Feldwissen der Analysierenden stammen. Solche Kontexte sind mit Vorsicht zu genießen, gleichwohl aber unerlässlich.

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konstruiert werden. In der weiteren Analyse lassen sich solche Ensembles zu diskursiven Figuren abstrahieren, in denen mehrere solcher Operationen miteinander konstelliert sind. Die gerade analysierte diskursive Figur lässt sich folgendermaßen darstellen: die einen Lehrkräfte vs. die anderen Lehrkräfte 1

können »das«

können »das« nicht dazu gehören auch »amtierende« Lehrkräfte

2 3

dazu gehört der Student Paul

4

können gut mit dem »Zahlenbuch« arbeiten

vermissen »Übungsmaterial im Zahlenbuch«

5

ermöglichen individuelle Lernwege

»füttern« die schnellen Schüler mit immer neuen Aufgaben

6

Didaktik neuer Lernkultur im Sinne des Dozenten

»alte«, vom Dozent abgelehnte Didaktik

+



Die Darstellung der diskursiven Figur enthält weitere durch die Beobachtung von basalen figuralen Operationen gewonnene Interpretationen, die hier nur noch grob summierend demonstriert werden können. Um den Erkenntnisgewinn diskursiver Figuren nachzuvollziehen, ist aber dieses etwas weitere Ausgreifen notwendig. In der obersten Zeile ist hier der Gegenstand notiert, der im Material oppositionell konstruiert wird: Es werden nämlich »die einen Lehrkräfte« von »den anderen Lehrkräften« unterschieden. Beiden Seiten werden Eigenschaften zugeschrieben, wobei die Zeilen 1 bis 3 oben demonstriert worden sind. Die Zuschreibung an die »anderen Lehrkräfte« auf der rechten Seite der vierten Zeile wurde in der oben zitierten Äußerung explizit genannt, sie »vermissen Übungsmaterial im Zahlenbuch«. Anhand von kontextuellem Wissen aus dem Feld der Mathematikdidaktik in der Schweiz kann man davon ausgehen, dass »das Zahlenbuch« ein Lehrmittel ist, das zu didaktischen Ansätzen gehört, die wir summierend als »Neue Lernkultur« bezeichnen und die sich dadurch auszeichnen, dass sie an individuellen Lernenden, seinen eigenen Lernwegen und Verständnisweisen und deren individuellen Begleitung durch Lehrkräfte usw. orientiert sind. Das »Zahlenbuch« wird hier als Metonymie gebraucht, es steht für die didaktische Zugangsweise der neuen Lernkulturen als Ganzer. Die Metonymie wird durch eine basale figurale Operation produziert, die zu Differenzierung und Zuschreibung hinzukommt:

Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken

der Operation der Verschiebung von Bedeutung. Eine weitere Verschiebungsoperation wird gebraucht, insofern Dirk und Paul an einer anderen Stelle den »Lehrkräften«, die »das« nicht können zuschreiben, dass diese die schnellen Schülerinnen mit Material »füttern«. Das »Füttern« ist hier eine Metapher, die Konnotationshorizonte des »tierischen« des »Abspeisens« und damit auch differenzielle semantische Achsen wie »denken|gedankenlos« mit der differenziellen Figur konnotieren. Nimmt man weitere Äußerungen der vom Dozenten Dirk geführten Lernberatungsgespräche hinzu, können wir schließen, dass er zu denjenigen gehört, die die neuen Lernkulturen positiv werten, vertreten und zu vermitteln suchen. Die beiden Seiten der Figur sind folglich nicht gleichwertig. Vielmehr wird – insbesondere durch den Dozenten – die linke zugunsten der rechten Seite aufgewertet. Die hier notierte diskursive Figur befindet sich in der Analyse auf einer höheren Abstraktionsebene als die figuralen Operationen. Während letztere Momente des Äußerungsaktes sind, unmittelbare vollzogene Aktivitäten, die sich in der Äußerung (dem im Material im hier und jetzt so gesagten) beobachten lassen, so ist die diskursive Figur das, was Foucault in der Archäologie eine Aussage nennt: Sie stellt als strukturiertes Ensemble die in der diskursiven Praxis vollzogenen Relationierungen dar. Sie bleibt zwar immer an ihre situierte Materialität gebunden, in der sie vollzogen wurde, aber sie greift schon darüber hinaus: Sie zeigt nicht nur die interne Struktur der Bedeutungsproduktion in einer Folge von Äußerungsakten, sondern auch die Iterationen anderer Äußerungsakte und Praxen wie etwa die Differenz zweier konträrer Gruppen von didaktischen Konzepten.10 Die Analyse des figuralen Aspekts der diskursiven Praxis kann auf zahlreiche Instrumente zurückgreifen, die in der Linguistik, der Literaturwissenschaft oder den Kognitionswissenschaften entwickelt worden sind. Die oben skizzierte differenzielle Figur greift unter anderem auf Vorschläge der strukturalen Semiotik von Algirdas Julien Greimas (1971) und des Konzepts der differance von Jacques Derrida (1998) zurück und ist wesentlich inspiriert von den Arbeiten von Thomas Höhne (2010). Wichtige weitere diskursive Figuren sind argumentative und narrative Figuren, deren Analyse ihrerseits auf Instrumentarien der Argumentations- oder Erzählforschung zurückgreifen können.11 Es 10 | Hier ist dies die »Neue Lernkultur« und ihr Gegensatz, die »alte Lernkultur«, die sich natürlich so nicht selbst nennt und die jenseits der Konstruktion ihres je anderen durch die diskursiven Praktiken der Konstruktion einer neuen Lernkultur gar keine selbst konstruierte Einheit bildet. Die »andere Seite« einer Differenz ist eine Konstruktion des in der Grenzziehung vollzogenen Aktes. 11 | Für differenzielle Figuren ist diese Herleitung ausführlich dargestellt in Wrana (2013), Interpretationen von differenziellen, narrativen, argumentativen und metaphorischen Figurationen sind darüber hinaus enthalten in Höhne, Kunz und Radtke (2005),

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gibt in der Diskursanalyse auch andere Rahmenkonzepte12, die verschiedene solcher Instrumentarien in Bezug setzen, im Gegensatz zu diesen und zu ihren Herkünften in den Sprachwissenschaften zielt die Theoretisierung als figuraler Aspekt diskursiver Praktiken aber gerade nicht auf die Formen als sprachliche Artefakte, die als solche im Diskurs kartografiert werden können, sondern auf die Praktiken des Vollzugs, in denen sie hervorgebracht werden. Daher sind der Gegenstand der Analyse gerade nicht Differenzen, Metaphern, Narrationen oder Argumente, sondern Praktiken des Unterscheidens, Zuschreibens und Verschiebens von Bedeutungen oder des Erzählens und Argumentierens. Dazu ist meist eine doppelte theoretische Transformation der Instrumente nötig: Eine Dynamisierung des impliziten Strukturbegriffs, also ihre »Poststrukturalisierung«, und dann die Blickwende auf den Vollzugscharakter, also ihre »Pragmatisierung« (vgl. exemplarisch für Differenzen Wrana 2013).

4. S piel züge und P ositionierungen Gemäß dem operativen Charakter von Figurationen sind die Äußerungsakte zugleich Spielzüge, die in der Sequenz des Gesprächs auf andere Spielzüge folgen und vorangegangene ebenso wie antizipierte künftige Züge in Rechnung stellen. Daher werden auch methodische Instrumente aufgegriffen, die aus Sprechakttheorie, Ethnomethodologie und Gesprächsanalyse stammen, um diesen prozeduralen Aspekt herauszuarbeiten. In diesen Ansätzen der Diskursanalyse »werden analytische Prozedere bevorzugt, die diskursive Praktiken im Hier und Jetzt zum Gegenstand machen. Entsprechend wird die Konstituierung von sozialer Ordnung, kultureller Hegemonien und von Macht-WissensSystemen an konkreten, lokal situierten diskursiven Praktiken untersucht. Dabei interessieren die Bedingungen, welche diese diskursiven Praktiken und die daraus resultierenden sozialen Strukturen und Differenzen ermöglichen.« (Del Percio/Zienkowsky 2014: 565) Sowohl für die Materialanalyse als auch für die diskurstheoretische Grundlegung des prozeduralen und des positionalen Aspekts muss hier auf andere Beiträge verwiesen werden (Maier/Wrana/Ryter 2012; Scharl/Wrana 2013; Wrana 2013; Wrana 2014), sie können hier nur angedeutet werden. In Bezug auf den prozeduralen Aspekt lässt sich herausarbeiten, wie der Student die Äußerungsakte des Dozenten weiter führt und Wrana und Langer (2006), Langer (2008), Wrana (2008), Ryter (2008), Maier (2008), in Maier, Ryter und Wrana (2012) sowie in Langer und Richter (2014) und Scharl und Wrana (2014a, 2014b). 12 | Mit ganz anderen theoretischen Vorzeichen etwa Jäger 1999 oder die von Wanke und Spitzmüller (2011) entworfene Diskurslinguistische Mehrebenenanalyse (DIMEAN).

Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken

wie in der Kette der Akte der geöffnete diskursive Raum wieder eingegrenzt wird. In Bezug auf den positionalen Aspekt lässt sich zeigen, inwiefern in den Äußerungsakten Subjektpositionen eingenommen und zugleich verschoben werden. Es zeigt sich dann, dass Wissensordnungen der diskursiven Praxis keineswegs vorausgehen, sondern dass sie in der Praxis allererst zur Geltung gebracht und enaktiert werden müssen, um ein Spiel von Anrufung, Anerkennung und Verkennung einzugehen.

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Übersetzung und Konflikt Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Methode einer praxissoziologischen Konfliktforschung Sascha Bark

E inleitung Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) liegt eine elaborierte und inzwischen erfolgreich erprobte Methode vor, die zunehmend Anerkennung und Anwendung außerhalb der Science & Technology Studies findet. Obwohl das methodische Vorgehen auf den ersten Blick recht einfach zu verstehen und durchzuführen scheint (u.a. sind die Untersuchungsregeln leicht überschaubar), erfordert es dennoch von den Forschenden sowohl eine rigorose Revision und Modifikation soziologischer Wissensbestände und deren Vorannahmen als auch die Einnahme einer neuen und ungewohnten Perspektive. Sind diese Widerstände einmal überwunden, eröffnet sich den Forschenden ein neuartiger Zugang, der ebenso aufschlussreich und informativ wie bescheiden bei der Erklärung sozialer Phänomene ist. Das Thema des vorliegenden Beitrags – Soziale Konflikte aus Perspektive des Akteur-Netzwerk-Ansatzes  – ist meinem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse geschuldet und bildet zugleich einen der ersten und vorsichtigen Versuche, Konfliktsoziologie und Akteur-Netzwerk-Theorie zusammenzubringen. Wie Law (2006a: 222) richtig beobachtet, verdeckt der Begriff des Netzwerks – Law spricht noch von »Systemmetapher« – die permanent stattfindenden sozialen Konflikte, die ein »erfolgreiches« Akteur-Netzwerk lösen muss und die es entscheidend prägen und mitformen können. Doch gerade in der detaillierten Beschreibung diverser Konfliktsituationen und in der empirischen Analyse unterschiedlichster Konfliktaustragungspraktiken könnte eine der Stärken der ANT liegen. Dies haben die Studien von Callon (2006b) [1986] und Law (2006a) [1987] bereits angedeutet, ist aber in den weiteren Entwicklungsphasen des Akteur-Netzwerk-Konzeptes etwas in den Hintergrund geraten. Bemerkenswert ist, dass gerade in diesen ersten Untersuchungen Mitte der 1980er Jahre, die auf die erweiterte Anwendung des Akteur-Netzwerk-An-

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Sascha Bark

satzes auf andere soziale Felder außerhalb der Laborwelten zielten, antagonistische und konfliktbeladene Prozesse bei der Entstehung und Veränderung von Netzwerken einen Schwerpunkt des Forschungsinteresses bildeten. Das analytische Werkzeug, das Callon in seiner mittlerweile schon »klassischen« Studie über die französischen Kammmuscheln bereitstellt und vor allem Genese, Verfestigung aber auch die Erosion von Machtverhältnissen beschreiben soll, fasst er mit dem Terminus »Soziologie der Übersetzung« zusammen. Mit diesem Übersetzungsmodell wird nicht nur eine dichte Beschreibung diverser Praktiken der Machtaneignung ermöglicht, sondern auch  – so die hier vertretene und an Law anschließende These – der Zugriff auf die komplexe Praxis sozialer Konfliktaustragungen. Es geht in diesem Aufsatz also nicht primär darum, den mittlerweile reichlich vorhandenen Einführungen in die Akteur-Netzwerk-Theorie einen weiteren Text hinzuzufügen.1 Vielmehr soll im Folgenden geprüft werden, welchen Beitrag das theoretisch-methodologische Instrumentarium der ANT für eine empirische Analyse sozialer Konflikte leisten kann. Der in diesem Aufsatz noch zu zeigende »Mehrwert« einer an der ANT und dem Modell der Übersetzung orientierten Konfliktanalyse könnte somit interessant und instruktiv für die Friedens- und Konfliktforschung werden. Außerdem könnte der »Werkzeugkoffer« der ANT – ganz im Sinne der Zielrichtung des vorliegenden Bandes – die Methoden einer Praxissoziologie bereichern, sofern die ANT als praxistheoretischer Ansatz verstanden wird. Diesbezüglich gibt es durchaus kontroverse Einschätzungen (vgl. Schäfer 2013: 252 f.), doch insbesondere aufgrund der von der ANT immer wieder hervorgehobenen Wirkmächtigkeit von Materialität (vgl. Law 2011: 30, 2006b: 359; Latour 2006a: 124 f., 2006b: 206 ff.) kann der Akteur-Netzwerk-Ansatz zu der relativ großen Familie der Praxistheorien gezählt werden.2 Wenn hier von der Akteur-Netzwerk-Theorie die Rede ist, dann ist damit eine spezifische »Version« der ANT gemeint: eine Version, die von Law (2011: 29–35) als »Akteur-Netzwerk-Theorie 1990«3 bezeichnet und u.a. von Peuker (2010: 326) als »klassischer« Ansatz gefasst wird. Es ist insbesondere diese Variante, die – neben der von Latour betriebenen Weiterentwicklung des Akteur1 | Eine Auswahl an – überwiegend in jüngerer Zeit veröffentlichten – Literatur, die in die Akteur-Netzwerk-Theorie und ihre konzeptionellen Grundlagen einführen: Mathar (2012); Wieser (2012); Krauss (2011); Passoth (2010); Peuker (2010); Bammé (2009); Kneer (2009); Belliger/Krieger (2006); Schulz-Schaeffer (2000a, 2000b: 102–124). 2 | Vgl. Reckwitz (2003: 283 f., 291 f.), Hillebrandt (2009: 371), Schmidt (2012: 62 ff.) und Schäfer (2013). Siehe auch die Darstellung beider Ansätze und den Versuch von Passoth (2011), den Begriff der Praxis mithilfe des Symmetrieprinzips der ANT zu modifizieren. 3 | Die Jahreszahl 1990 ist von Law willkürlich ausgewählt worden und steht für den Zeitraum von etwa Anfang/Mitte der 1980er Jahre bis Mitte/Ende der 1990er Jahre.

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Netzwerk-Ansatzes hin zu einer umfassenden Sozialtheorie – in der deutschsprachigen Soziologie seit und um ca. 10–15 Jahren zeitverzögert kontrovers diskutiert wird, während die ANT vor allem im englischsprachigen Raum die »klassische« Phase weitgehend hinter sich gelassen und sich in diverse Richtungen (»After-ANT«) weiterentwickelt hat (vgl. Law/Hassard 1999). Die »ANT 1990« steht für ein Forschungsprogramm, das die Labore der (Natur-) Wissenschaften verlassen und »eine erkennbare Form als spezifischer Ansatz innerhalb der Sozialtheorie erhalten hat. [Zudem konnte] […] ein brauchbarer Satz Werkzeuge verfertigt werden […], der von einer Reihe überzeugender und gut dokumentierter Fallstudien getragen wird« (Law 2011: 29). Im Mittelpunkt der ANT steht die Frage, wie das »Soziale« eigentlich entsteht. Das »Soziale« wird nicht als erklärende Variable, sondern als zu erklärendes Phänomen gesehen. Erklärt werden muss also, wie es entsteht, aus welchen Elementen es zusammengesetzt und wie dabei die relative Stabilität des Sozialen erzeugt und sichergestellt wird. Zur Erforschung des Sozialen, d.h. von Akteur-Netzwerken, hat die ANT ein Vokabular entwickelt und bestehende soziologische Begriffe mit neuen Bedeutungen versehen, das  – um es vorsichtig zu formulieren  – etwas gewöhnungsbedürftig ist. Da es sich bei dem vorliegenden Aufsatz und dessen Zielsetzung aber nicht um einen ANT-Einführungstext i.e.S. handelt, werden einige Begriffe und Konzepte nicht umfassend und erschöpfend vorgestellt (hier sei auf die Einführungsliteratur verwiesen), sondern als bekannt vorausgesetzt bzw. in einer den Rahmen dieses Beitrags nicht sprengenden Weise kurz erläutert. Im Folgenden wird, nach einer knappen Einführung in die methodologischen Prinzipien der ANT, ein allgemeines Modell der Übersetzung vorgestellt, welches sich sehr eng an den Arbeiten Callons orientiert, aber einige der noch immer vorhandenen Bezüge zur Wissenschaftssoziologie hinter sich lassen möchte. Der mehr oder weniger komplexe Prozess der Übersetzung führt, sofern »erfolgreich«, immer zur Bildung neuer bzw. modifizierter Akteur-Netzwerke, d.h. zu sozialen Beziehungsgeflechten, in denen heterogene Akteure kollaborieren. Anschließend werde ich, Callon und Law folgend, den universalen und ubiquitären Widerstands- und Konfliktcharakter von Übersetzungsprozessen aufzeigen und mit einigen wenigen, aber wesentlichen Kernannahmen konfliktsoziologischer Forschung kontrastieren. Hierbei zeigen sich sowohl Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkte als auch erhebliche Differenzen, die eine gänzlich andere und neuartige Konfliktperspektive eröffnen. Konflikte können aus ANT-Perspektive als in Übersetzungsprozessen stattfindende Auseinandersetzungen zwischen Akteur-Netzwerken verstanden werden, die vor der abschließenden Hervorbringung und Stabilisierung neuer Netzwerke gelöst sein müssen. Trotz der von der ANT berücksichtigten elementaren Bedeutung sozialer Konfliktaustragungen ist der Akteur-Netzwerk-Ansatz derzeit nicht

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in der Lage, so meine Kritik, stabile Akteur-Netzwerke zugleich als konfliktbeladene Beziehungsgeflechte (»institutionalisierte Konflikte«) zu betrachten. Ich werde argumentieren, dass Akteur-Netzwerke aus institutionalisierten und begrenzten Konfliktaustragungen – ebenso wie aus konsensualem Interessenausgleich – hervorgehen und bestehen können, und darüber hinaus geregelte und regelmäßig wiederholte Konfliktaustragung eine notwendige Bedingung für die Stabilisierung und Reproduktion solcher »Konflikt-Netzwerke« ist. Um der konflikthaften Struktur dieser Netzwerke gerecht zu werden, schlage ich eine Erweiterung des Akteur-Netzwerk-Konzepts und des Übersetzungsmodells vor, ohne dabei bisherige Grundannahmen der ANT aufgeben zu müssen. Abschließend diskutiere ich, die in diesem Beitrag gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassend, den »Mehrwert« einer an der ANT orientierten Konfliktforschung.

1. D as M odell der Ü berse t zung Ursprünglich entwickelt für die Untersuchung von Prozessen (und Akteuren), die konstitutiv an der Herstellung und Stabilisierung wissenschaftlichen Wissens beteiligt sind, nutzt Callon das Übersetzungskonzept sowohl für eine Vergrößerung der Reichweite des Akteur-Netzwerk-Ansatzes als auch für die Analyse von Machtverhältnissen. Die Kammmuschel-Studie von Callon (2006b) gehört zweifelsohne zu den meist zitierten (aber auch oft kritisierten) Arbeiten und zeichnet sich im Gegensatz zu vielen anderen Werken und Studien der ANT durch einen hohen Systematisierungsgrad aus. Ich werde diese Studie hier nicht im Einzelnen nachzeichnen und rekonstruieren (vgl. hierzu u.a. Wieser 2012: 36–41; Mathar 2012: 180–183), sondern den Versuch unternehmen, ein allgemeines Modell der Übersetzung herauszuarbeiten.

Methodologische Prinzipien Um Übersetzungsprozesse zu analysieren, stellt die ANT ein methodologisches Instrumentarium bereit, welches im Kern aus drei forschungsleitenden Prinzipien besteht (vgl. Callon 2000b: 142 f.; vgl. hierzu auch Laux 2011: 280 ff. und Schulz-Schaeffer 2000a: 195 ff.). Das Prinzip der erweiterten Unparteilichkeit (bzw. des erweiterten Agnostizismus) fordert von der sozialwissenschaftlichen Beobachterin eine neutrale Position einzunehmen bezüglich der Art und Weise, wie die zu untersuchenden Akteure4 Sozialität betrachten, definieren und herstellen. Gleichzeitig darf 4 | Da der Akteurbegriff für das Verständnis der folgenden Ausführungen von zentraler Bedeutung ist, soll er an dieser Stelle in komprimierter Form erläutert werden: Die ANT

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die Beobachterin die Identitäten, Aufgaben und Rollen der Akteure nicht vorher oder noch während der Übersetzungsprozesse bestimmen, sondern erst nachdem diese von den Akteuren selbst endgültig ausgehandelt, verteilt und fixiert worden sind. Ob z.B. ein »Unternehmen« behauptet, dass fossile Brennstoffe nie ausgehen werden, ein Fernsehgerät sich mit »Made in Germany« rühmt, eine Kriegserklärung mit dem Wunsch nach Frieden begründet wird, die Beobachterin hat dies  – zumindest vorläufig  – zu akzeptieren. Sie interpretiert nicht und zensiert nicht, sondern folgt unparteiisch und vorurteilsfrei den Akteuren. Den Akteuren zu folgen – so der berühmt gewordene Forschungsslogan der ANT – verlangt das Prinzip der freien Assoziation. Der soziologische Forscher muss a-priori-Differenzen zwischen Natur und Gesellschaft, Technik und Sozialem, Subjekt und Objekt ablehnen. Der Forscher verwendet keine vorab gebildeten soziologischen Kategorien (wie Klassen, Mikro- oder Makroakteure etc.), sondern überlässt es den Akteuren, wie und welche Verbindungen sie herstellen, welchen anderen Akteuren sie Rollen und Funktionen zuweisen und mit welchen Mitteln sie das Soziale herstellen, aber auch wieder demontieren können. Der Soziologe folgt dabei allen relevant erscheinenden Akteuren – nach Law (2006b: 355) mit einem gewissen Sicherheitsabstand – und akzeptiert, dass der Analysegegenstand variabel und unbeständig ist und sich im Untersuchungsverlauf ändern kann. Um bei den Beispielen zu bleiben: Folgt der Soziologe den Akteuren, stößt er evtl. auf andere Unternehmen, Wissenschaftler oder »tabellarische Berechnungen«, die die Endlichkeit von fossilen Brennstoffen behaupten (!) (oder auch nicht), beim Öffnen des Fernsehgerätes auf Elemente »Made in China« oder aber doch »Made in Germany«, auf Akteure, die einen Krieg aufgrund geostrategischer Interessen unterstützen. Um allen Akteuren und deren Übersetzungsarbeiten folgen zu können, erwartet das Prinzip der generalisierten Symmetrie schließlich die Verwendung eines symmetrischen Vokabulars, d.h. solche Begriffe zur Beschreibung betrachtet Akteure immer auch als Akteur-Netzwerke, d.h. jeder Akteur ist ein Effekt bzw. Ergebnis aus der Verflechtung von heterogenen (menschlichen und nicht-menschlichen) Elementen. Genauer: Jeder Akteur stellt ein Netzwerk anderer Akteure dar, die zwar als »menschlich« oder »technisch« bezeichnet werden können, aber im Grunde wieder nur Akteure sind, die wiederum Netzwerke weiterer anderer Akteure sind (die Kette ist endlos). Akteure sind also immer hybrid und beinhalten anteilig sog. »menschliche« und »nicht-menschliche« Elemente (vgl. Law 2011: 31, 2006b: 354). Es gibt aus Sicht der ANT keine reine »Technik«, kein reines »Soziales«, keine reinen »Menschen«. In den folgenden Ausführungen wird es um die Prozesse gehen, in denen neue Akteure gebildet werden, ohne allerdings ausführlich auf die Verflechtung von »(nicht-)menschlichen« Akteuren einzugehen (vgl. hierzu u.a. Latour 2006c, 2002: 213 ff., 1996: 15–83; Law 2006a, 2006b).

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zu wählen, die gleichermaßen auf »technische«, »natürliche« oder »soziale« Phänomene angewendet werden können (vgl. Callon/Latour 1992: 347 f., 353 f.). Unternehmen und ihre Expansionsversuche werden mit denselben Begriffen beschrieben wie Fernsehgeräte oder Kriege. Die Forschenden haben bei der Wahl des Vokabulars weitestgehend freie Hand und müssen nicht zwangsläufig die Terminologie von z.B. Latour übernehmen, solange die Bedingungen der symmetrischen Verwendung erfüllt werden und das gewählte Vokabular während der Untersuchung nicht gewechselt wird.

Übersetzung Die Anwendung der drei Forschungsregeln ermöglicht die Rekonstruktion und Beschreibung der vielfältigen, unzähligen und sich wandelnden Übersetzungsarbeiten, an denen heterogene Akteur-Netzwerke beteiligt sind. Übersetzung bedeutet, allgemein formuliert, dass Akteure so aufeinander einwirken, dass sie sich erstens anders verhalten als ohne diese Einwirkungen und zweitens, dass sie bei gelungener Übersetzung eine neue kollaborierende Einheit, ein neues Akteur-Netzwerk bilden. Der in einem wertfreien Sinn zu verstehende Kollaborationsbegriff scheint mir in diesem Zusammenhang besser geeignet zu sein als der von Belliger und Krieger (2006: 39 f.) verwendete Begriff der Kooperation, da die Zusammenarbeit sowohl mehr oder weniger »freiwillig« zustande kommen als auch mehr oder weniger »erzwungen« werden kann. Der Fokus der soziologischen Beobachterin sollte immer auf die vielfältigen Formen dieser Einwirkungen und Übersetzungen gerichtet werden, also auf die Arbeit der Akteure, die sie leisten müssen, um andere Akteure zur Kollaboration zu bringen bzw. zu übersetzen. Der Übersetzungsprozess, der zur Zusammenarbeit führt, kann Callon zufolge in vier Phasen, die sich teilweise überlagern können, unterteilt werden: Problematisierung, Interessement, Enrolment und Mobilisierung.

Problematisierung Der Begriff »Problematisierung« verweist noch stark auf seinen Ursprung und seine Bedeutung innerhalb der von Callon und Latour durchgeführten wissenschaftssoziologischen Untersuchungen. In der wissenschaftlichen Praxis stellt die Problematisierung den ersten grundlegenden Forschungsschritt und die gleichzeitige Begründung bzw. Rechtfertigung eines wissenschaftlichen Projekts dar. Ein Problem wird erkannt, eingegrenzt, definiert und begründet und rahmt das weitere Vorgehen. Obwohl Callon (2006c: 183) mit dem Begriff der Problematisierung eine Strategie in den Bereichen der Wissenschaft und Technik definiert, kann der Begriff durchaus generalisiert und auf andere Sozialbereiche übertragen wer-

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den, sofern davon abgesehen wird, dass ein Problem in reflexiver Weise ausformuliert und die spezifischen Lösungswege und -mittel rational kalkulierend konstruiert werden. Belliger und Krieger (2006: 40) folgend, charakterisiert Problematisierung im Allgemeinen den Auslösemechanismus jeglichen Handelns. Zwischen Handlungsimpuls und Zielerreichung stehen immer Hindernisse, Barrieren, Probleme. Allerdings ist kein Akteur-Netzwerk in der Lage, allein und ohne Unterstützung Hindernisse und Barrieren zu überwinden, Probleme zu lösen, ein Ziel zu erreichen, Interessen zu erfüllen oder einen erstrebten Soll-Zustand zu verwirklichen (vgl. Latour 2002: 220, 2010: 81). Notwendige Bedingung zur Lösung von Problemen ist deshalb eine auf die Zielerreichung justierte Mitwirkung anderer Akteure. Problematisierung ist der Prozess, in dessen Verlauf die zusätzlichen Akteure, welche für die Zielerreichung unentbehrlich scheinen, identifiziert, definiert bzw. konstruiert und anvisiert werden. Ein Firmengründer beispielsweise braucht Mitarbeiter, Werkzeuge, Maschinen, Computer, einen Kredit, Kunden etc. Selbst eine scheinbar einfache Aufgabe, wie von A nach B zu kommen, erfordert ein Fortbewegungsmittel – und bei Bus, Taxi oder Bahn auch Fahrer, Schaffner, Mechaniker und damit eine vorhandene und von anderen Akteuren bereitgestellte Infrastruktur. Selbst wenn die Strecke per pedes beschritten wird, werden, von anderen Akteuren hergestellte, Schuhe, Kleidung, Gehwege etc. benötigt. Zudem wird vom übersetzenden Akteur ein – in dieser Phase noch hypothetisches  – Szenario »entworfen«, in dem die mitwirkenden Akteure und ihre Aufgaben, Rollen, Handlungsprogramme definiert und in einer problemlösenden Art und Weise angeordnet werden.5 Wenn es denn verwirklicht wird, formt dieses Szenario erst das Soziale, indem es ein Feld von Positionen und die dadurch möglichen Beziehungen und Interaktionen konstruiert und realisiert (Callon 2006a: 65 f.). Der nächste Schritt wäre die Kontaktaufnahme, also die Herstellung sozialer Beziehungen, um die entsprechenden Akteure »irgendwie« zur Zusammenarbeit zu bewegen. Da dieses kollaborierende Arrangement auf »Wunsch« des übersetzenden Akteurs zusammenkommen und auf dessen Problemlösung ausgerichtet werden soll, gelänge der Akteur in eine Position, in der er als Sprecher oder Repräsentant der neuen sozialen Gruppierung fungiert (Callon 2006c: 181) und damit einen (oder mehrere) sog. obligatorischen Passagepunkt (OPP) angeben und sich in gewisser Weise – und nur für dieses Szenario – unentbehrlich machen kann. Durch diesen OPP müssten die mitwirkenden Akteure »gehen«, sofern sie sich dazu »überreden« lassen. Damit beginnt dann das Interessement.

5 | Der Entwurf eines Szenarios impliziert nicht, dass diese Planung bewusst und rational erfolgen muss.

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Interessement Weil sowohl totaler Zwang als auch die völlige Freiwilligkeit zur Übernahme eines von anderen Akteuren vorgeschlagenen Handlungsprogramms aus Perspektive der ANT absolute Ausnahmen darstellen, muss der übersetzende Akteur – »will« er sein konstruiertes Szenario bzw. Netzwerk verwirklichen – die zur Mitwirkung ersonnenen Akteure für seine Problemlösung und für ihre dabei zu spielenden Rollen interessieren und sie zu »Verbündeten« oder »Alliierten« machen. Die unzähligen Mittel und Strategien, die übersetzende Akteure hierbei einsetzen können, reichen von Zwang, Gewalt oder sanften Druck über detaillierte Verhandlungen bis hin zu Fragen, Bitten, Flehen (Callon 2006b: 153). Desweiteren setzt der übersetzende Akteur einen oder weitere Akteur(e) (Vermittler) ein, um die Zielakteure von ihren neuen Rollen und Aufgaben, die zu diesem Zeitpunkt noch relativ vage und weniger klar definiert sein können, zu »überzeugen« (Callon 2006d: 312 ff.). So kann eine Person einer anderen einen teuren Verlobungsring schenken, um diese für eine Ehe zu interessieren; Fische, die für den Verzehr geplant sind, können mit einer Angel und einem schmackhaften Köder interessiert werden; potenzielle Auszubildende oder Fachkräfte werden mit Geld oder anderen Privilegien gelockt; einem Untergebenem wird mit Entlassung gedroht, wenn er seine neuen Aufgaben nicht erfüllen möchte.6 Zählt man Gefängnis, Schmerzen oder gar Sterben (und auf »technischer« Ebene: Fehlfunktion, Defekt, Explosion) zu den alternativen Handlungsoptionen, kann kein Akteur gezwungen werden, den ihm zugedachten Platz in einem neuen Akteur-Netzwerk zu übernehmen. Es muss also immer ein mehr oder minder hoher Aufwand betrieben werden, um das Interessement erfolgreich zu gestalten: Eventuell muss ausgiebig »verhandelt« werden, viel Zeit und enorme Mittel investiert, Zugeständnisse gemacht, die ursprüngliche Problematisierung oder die erste Version des Szenarios und damit die Rollenund Aufgabenverteilungen verändert und modifiziert werden. Dies könnte zur Folge haben, dass weitere Akteure interessiert werden müssten und einige der aktuell interessierten Akteure zur Zielerreichung nicht mehr notwendig und daraufhin zu desinteressieren sind. Das Interessement kann also in bestimmten Fällen zu sehr komplexen Situationen führen, die selbst für den übersetzenden Akteur nicht immer problemlos zu »überblicken« sind oder in seinem Sinne, seinem Szenario gemäß, »gesteuert« werden können; dies vor allem auch deshalb, weil kein Akteur direkt  – sondern immer nur mittels anderer Akteure (Vermittler, Delegierte)  – ins Geschehen »eingreifen« kann. In die6 | Ich verzichte hier vorerst auf Beispiele, die sich auf »technische« bzw. »nicht-menschliche« Akteure beziehen.

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ser Phase der Übersetzung wird evtl. noch getestet und ausprobiert: Sind die eingesetzten Mittel ausreichend, um die anderen zu überzeugen? Passen die Konstellationen und sind sie fähig, das Problem zu lösen? Erschwert wird das Interessement vor allem dadurch, dass der übersetzende Akteur i.d.R. in Konkurrenz mit anderen Akteuren steht, die, ebenso wie er, auf Unterstützung der aktuell interessierten Akteure für ihre je eigenen Szenarien angewiesen sind. Um bei den Beispielen zu bleiben: der oder die mit einem Verlobungsring Beschenkte kann von anderen umworben werden; Biologen möchten einige der zum Verzehr bestimmten Fische zu Forschungszwecken fangen; andere Unternehmen sind an den Mitarbeitern interessiert; eine zur Unternehmensoptimierung eingesetzte Software weist dem Untergebenen eine gänzlich andere Aufgabe zu. Der übersetzende Akteur ist demnach nicht immer der einzige, der die zu übersetzenden Akteure interessieren möchte. Das Interessement kann folglich auch auf eine Trennung der schwachen bis starken Verbindung zwischen den adressierten und den konkurrierenden Akteuren zielen (Callon 2006b: 152; Law 1986: 70 ff., 2006a: 222). Sind die benötigten Akteure und Elemente bereits Teil eines anderen Akteur-Netzwerks, so müssen diese auf jener Seite der zu ziehenden Grenze erst dissoziiert werden, bevor sie auf dieser Seite assoziiert werden können. Eventuell müsste die »Überzeugungsarbeit« dann mit mehr Nachdruck betrieben oder das konkurrierende Netzwerk erst »attackiert« und dekonstruiert werden. Unmittelbare Folge eines aussichtsreichen Interessements ist: Sobald sich die »angesprochenen« Akteure für ihre neuen Rollen interessieren, können sich also bereits vorhandene Netzwerke verschieben, auflösen, alternativ anordnen oder in einen früheren Netzwerkzustand transformieren. Das Soziale ist also immer in Bewegung. Geschieht etwas an der einen Stelle, kann das Konsequenzen auch an entfernteren Orten nach sich ziehen.

Enrolment Die zur Kollaboration aufgeforderten Akteure für eine Mitarbeit zu interessieren, reicht jedoch nicht aus, um das noch hypothetische Netzwerk zu verwirklichen. Sie haben ihre Plätze im neuen sozialen Gefüge auch einzunehmen und die an sie gestellten Aufgaben tatsächlich auszuführen. Um dies zu gewährleisten, müssen das  – während des Interessements eventuell veränderte und weiterentwickelte  – Szenario relativ komplikationslos ausführbar, die Rollen- und Aufgabenverteilungen klar und unmissverständlich, Handlungsoptionen abgegrenzt, die sozialen Verbindungen gefestigt, die Koordination und Hierarchie der Rollen sichergestellt und die Akzeptanz der mitspielenden Akteure gegeben sein. Erneut zu den Beispielen: Ein Ehepartner wurde gefunden, aber erfüllt und akzeptiert er/sie auch die konkreten Aufgaben, die der

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andere Partner von ihm/ihr erwartet? Beißen die Fische an, und wenn ja: sind sie auch genießbar und werden von den Konsumenten nachgefragt? Erfüllen die angeworbenen Fachkräfte/Auszubildende ihre neuen Aufgaben oder sind sie überfordert oder gar gelangweilt? Akzeptiert der Untergebene seine neue Position oder geht er gerichtlich dagegen vor? Die Grenzen zwischen Interessement und Enrolment sind fließend. Die Mittel, die im Prozess des Interessements zum Einsatz kommen, sind also teilweise mit denen des Enrolments identisch. Entscheidend ist der Übergang von einem hypothetischen, versuchsweisen und testenden Szenario hin zu einem verwirklichten und relativ stabilen Beziehungsgeflecht, in dem die Rollen auch praktisch besetzt und ausgeführt werden. Insbesondere die Grenzziehung ist für das Enrolment von großer Bedeutung. Sind die errichteten Schranken zu den konkurrierenden Interessement- und Übersetzungsversuchen stabil? Oder werden die zur Mitwirkung eigentlich schon gewonnenen Akteure noch von konkurrierenden Akteuren interessiert? Ist es also tatsächlich notwendig, wie in Callons Studie (2006b: 156 f.) beschrieben, erst mit den konkurrierenden Akteuren zu »verhandeln« oder möglicherweise auch zu »kämpfen«? Ebenso wie das Interessement kann also das Enrolment zu einer komplexen und langwierigen Angelegenheit werden. Selbst wenn es gelingt, konkurrierende Beziehungsversuche weitgehend zu blockieren und die avisierten Akteure ihre Plätze im neuen Akteur-Netzwerk einnehmen, sind damit noch keine »zufriedenstellenden« Leistungen garantiert. Diese müssen sich im Praxisvollzug noch »beweisen«. Erst wenn die zur Mitarbeit gewonnenen Akteure ein relativ stabiles Netzwerk von Kollaborationen bilden, ist das Enrolment erfolgreich.

Mobilisierung Eine weitere Phase der Übersetzung ist die Mobilisierung (Callon 2006b: 159 ff.). Obwohl sie erst als letzte der vier Übersetzungsprozesse eingeführt wird, finden Mobilisierungsversuche teilweise parallel zu den anderen Phasen statt. Allgemein ausgedrückt bezeichnet Mobilisierung das Maß der Zusammenarbeit der involvierten Akteure innerhalb des entstehenden oder bereits entstandenen Akteur-Netzwerks.7 Ist die Mitarbeit nur mäßig ausgeprägt, »funktioniert« das Netzwerk zwar, d.h. das netzwerkgenerierende und eventuell modifizierte Problem wird trotzdem gelöst, bleibt aber äußerst instabil und die mitwirkenden Akteure anfällig für konkurrierende Übersetzungsbemü7 | Um dieses Kooperationsmaß zu bestimmen, führt Callon (2006d: 329 ff.) später die Konzepte der Konvergenz und Irreversibilität ein (vgl. hierzu auch Schulz-Schaeffer 2000b: 119 ff.).

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hungen. Zudem sind die – von außen betrachteten – kollaborierenden Akteure auch als solche erkennbar: als einzelne Akteure, die zusammen arbeiten. Anders hingegen verhält es sich mit Szenarien, in denen Akteure zunehmend mobilisiert werden können. In solchen Netzwerken können die Kollaborationen und sozialen Verbindungen sukzessive stabilisiert und intensiviert werden, so dass die diversen Akteure wie ein einziger handeln. Von außen wird dann das aus mehreren Akteuren bestehende Netzwerk als ein einzelner Akteur wahrgenommen. Die Mitarbeiter eines neu gegründeten Unternehmens beispielsweise sind anfangs noch nicht »eingespielt«, ihre jeweiligen Aufgaben noch nicht optimal abgestimmt, die PC-Software streikt noch und es muss »manuell« gearbeitet werden etc. Einer Kundin oder einem potenziellen Partner dieses Unternehmens wird durch einige »Pannen« der Mitarbeiter oder der Technik vor Augen geführt, dass die Firma aus mehreren Arbeitern und einer technischen Infrastruktur besteht. Der Prozess der zunehmenden Mobilisierung, so er denn erfolgreich ist und das neue Netzwerk wie ein einziger Akteur handelt, wird in der ANT auch als Blackboxing oder Punktualisierung bezeichnet (vgl. u.a. Latour 1987: 131; Law 2006c: 436; Callon 2006d: 335) und bedeutet im Allgemeinen, dass sich ein Akteur in bestimmten Situationen und den entsprechenden Inputs vorhersehbar und erwartungsgemäß verhält (Output) und als einzelner Akteur für die Bildung oder Veränderung anderer Akteur-Netzwerke »rekrutiert« werden kann.8 Innerhalb eines mobilisierten oder punktualisierten Netzwerks sind die Leistungen und Rollen der involvierten Akteure in höchstem Maße aufeinander abgestimmt. Diese hohe Konvergenz wird i.d.R. dann möglich, wenn die ablaufenden Übersetzungsprozesse eine oder mehrere Kette(n) von Akteuren (Vermittler, Delegierte, Repräsentanten, Sprecher oder Äquivalenzen) produziert und formt, in der/denen jeder Akteur für einen oder mehrere andere »spricht« und einen obligatorischen Passagepunkt darstellt (Callon 2006b: 149 f., 2006c: 183 f.). So kann – sehr verkürzend formuliert – eine Einkaufsliste für die Lebensmittelwünsche der Oma »sprechen«, ein Abschlusszeugnis die Kompetenzen eines Schülers repräsentieren, eine Politikerin die Interessen eines Volkes vertreten oder diverse Aufgaben an andere delegieren; eine Waage »spricht« für das Gewicht einer Person oder Sache, ein Seismograf für Erdplattenbewegungen, eine CD für eine bestimmte Band, eine Satellitenaufnahme für ein bestimmtes Gebiet, eine Tabelle oder Grafik für Kammmuschellarven etc. 8 | Für Latour (2002: 223 ff.) und Callon (2006d: 335) besteht offenbar noch ein Unterschied zwischen einer Blackbox und einer Punktualisierung: Während die Blackbox noch als ein einziger Akteur wahrgenommen wird, fällt ein punktualisiertes AkteurNetzwerk quasi gar nicht mehr auf; es wird unsichtbar, sobald es Teil eines anderen Netzwerks wird.

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Wie Latour (1996: 191 f.) anhand seiner Boa Vista Expedition demonstriert, können solche Übersetzungs- oder Referenzketten sehr lang werden – besser formuliert: Erst aus ANT-Perspektive werden solche Ketten im Detail und in ihrer Länge sichtbar – und können in beide Richtungen nachgezeichnet und verfolgt werden. Entscheidend für eine erfolgreiche Mobilisierung und den Aufbau funktionierender Vermittlungsketten ist, dass jeder beteiligte Akteur tatsächlich den nächsten in der Kette repräsentieren kann und am (vorläufigen) Ende ein Akteur für alle anderen spricht. Eine Musik-CD, die auf der heimischen Musikanlage abgespielt wird, um eines der gerade genannten Beispiele aufzunehmen, »spricht« nicht direkt für eine Band, das wäre eine verkürzende Darstellung eines eigentlich zu erklärenden Phänomens. Die CD kann nur deshalb eine Band »repräsentieren«, weil zwischen beiden Akteuren eine Referenzkette aufgebaut wurde. Diese Kette von Akteuren bzw. Vermittlern kann sowohl von der einen Seite (CD) als auch von der anderen Seite (Band) in kleinsten Schritten und den jeweiligen involvierten Akteuren folgend rekonstruiert werden. Wiederum vereinfacht dargestellt: Band – Tonstudio – musikalisches und technisches Equipment (Musikinstrumente, Mikrofone, Mischpulte, Computer, Bearbeitungssoftware etc.)  – Techniker, Manager, Tonstudio-Mitarbeiterinnen – Blanko-CD-Rohlinge – Disc-Brenner (Lasertechnologie) – Cover – Massenfertigung – logistische Verteilung (Lagerung, Pakete, Post etc.) – Onlinebestellung – Briefkasten – Musikanlage (CD-Player – Kabel – Boxen). Solange die Übersetzungskette relativ stabil ist und jeder Akteur in der Kette seine Aufgaben erfüllt, ist es für die Zuhörerenden so, als wenn die CD direkt die spielende Band wiedergibt. Das komplette Verfahren zur CD-Herstellung und der anschließenden Verteilung wurde geblackboxt bzw. punktualisiert, die involvierten Akteure, vorher verstreut und ungeordnet, wurden nach und nach mobilisiert und schließlich in einem Akteur-Netzwerk so angeordnet, dass ein Akteur alle anderen repräsentieren kann. Für eine Analyse von Machtverhältnissen – und diese stehen für Callon in der Kammmuschel-Studie im Vordergrund – ist es also notwendig, die diversen Ketten von Akteuren (Vermittlern), die Etablierung von »Sprechern« bzw. von obligatorischen Passagepunkten und die zunehmenden Mobilisierungsprozesse zu identifizieren und detailliert zu beschreiben. Allerdings ist – meiner Lesart nach und hier folge ich einer jüngeren Arbeit von Callon (2006d: 325 ff.) – eine zunehmende Mobilisierung, die zu einem einzigen Akteur-Sprecher, also einem geblackboxten Netzwerk führt, keine zwingende Voraussetzung für die Genese eines Akteur-Netzwerks. Jedes existierende Netzwerk besteht zwar aus Akteur- und Referenzketten, d.h. aus zumindest teilweise mobilisierten Akteuren, es muss aber nicht jedes Netzwerk punktualisiert oder geblackboxt sein, um weiterhin existieren zu können. Anders formuliert: Durch zunehmende Mobilisierung bis hin zur Punktualisierung wird ein Akteur-Netzwerk »lediglich« (noch etwas) stabiler und robuster, seine Reaktionszei-

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ten schneller, die Outputs präziser vorhersehbar und nachfolgende Verbindungen zu anderen Akteur-Netzwerken einfacher (vgl. hierzu Callon 2006d: 335).

Übersetzungsergebnis: Akteur-Netzwerke Callon fasst ein vorläufiges Ergebnis seiner Kammmuschel-Studie wie folgt zusammen: »Die anfängliche Problematisierung definierte eine Reihe von verhandlungsfähigen Hypothesen bezüglich Identität, Beziehungen und Zielen der verschiedenen Akteure. Jetzt, am Schluss der vier beschriebenen Momente, ist ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen geknüpft worden.« (Callon 2006b: 164)

Insgesamt bezeichnet Übersetzung einen mehr oder weniger komplexen Prozess, in dem Beziehungen (auch solche zwischen »menschlichen« und »nichtmenschlichen« Entitäten) hergestellt, modifiziert und gefestigt, d.h. neue Akteur-Netzwerke gebildet werden. Hierfür werden Akteure »rekrutiert« und platziert, ihnen Rollen und Funktionen zugewiesen und diverse Strategien und Mittel benutzt, um ihre Akzeptanz und Kollaboration zu bewirken. Dass die Entstehung von Akteur-Netzwerken meist als komplexer und langwieriger Prozess verstanden und an empirischen Fallbeispielen demonstriert wird, liegt einerseits an den zu überwindenden Hindernissen und widerwilligen Akteuren (darauf komme ich gleich noch zurück) und andererseits an den gewählten Untersuchungsgegenständen und dem spezifischen Interesse der Forschenden an überwiegend »großen«, »mächtigen« oder »dauerhaften« Akteur-Netzwerken (vgl. Law 2006a: 216, 233). Allerdings kann die Genese eines neuen Akteur-Netzwerks auch relativ unkompliziert und schnell vonstattengehen – wenn man sich das von Latour (2002: 216 ff.) geschilderte Beispiel eines Bürgers vor Augen führt, der eine Waffe in die Hand nimmt und durch diesen einfachen Handgriff einen neuen Akteur hervorbringt (»Waffen-Bürger« bzw. »Bürger-Waffe«). Das bedeutet, dass Übersetzungen sich sowohl innerhalb weniger Sekunden abspielen können – und die vier oben dargestellten Übersetzungsphasen sehr kurz und nahezu zeitgleich stattfinden – als auch einen langen Zeitraum (Stunden, Wochen, Monate, Jahre etc.) in Anspruch nehmen können, in dem es zu häufigen Fluktuationen, intensiven Verhandlungen und weitreichenden Modifikationen des entstehenden Akteur-Netzwerks kommen kann. Ebenso schnell können sich Akteur-Netzwerke auch wieder auflösen. Eine Kernannahme der ANT ist, dass Akteur-Netzwerke grundsätzlich reversible Beziehungsgeflechte sind. Auch ein geblackboxtes bzw. punktualisiertes Netzwerk, das zwar graduell stabiler ist als ein »normales« Netzwerk, kann sich unter bestimmten Bedingungen innerhalb kürzester Zeit auflösen.

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2. S oziale K onflik te in Ü berse t zungsprozessen Das Resultat einer vollzogenen Übersetzung ist, wie gezeigt wurde, eine Kollaboration von Akteuren, ein neues Akteur-Netzwerk. Die diversen Interessen sind nun ausgeglichen, Praktiken aufeinander abgestimmt, koordiniert und auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet. Übersetzungsprozesse und die Bildung von Akteur-Netzwerken, die weitgehend komplikationslos und konfliktfrei vonstattengehen, sind jedoch aus Perspektive der ANT eher als Ausnahmen anzusehen (vgl. Callon 2006a: 62, 2006c: 181 ff., 2006d: 332; Law 2006a: 217, 2006c: 437).9 Folgt man dem Übersetzungsmodell der ANT, können Konflikte immer dann auftreten, wenn ein Akteur einen anderen rekrutieren und zur Kollaboration bringen will. Da kein Akteur in letzter Konsequenz zur Mitarbeit gezwungen werden kann, muss dieser »überredet« bzw. interessiert werden, in einen Umweg »einzuwilligen« (vgl. Callon 2006c: 183; Latour 2002: 216). Das bedeutet immer einen mehr oder minder hohen Widerstand, den der avisierte Akteur der Übersetzung entgegenbringt und den der übersetzende Akteur durch Einsatz von Ressourcen, Kraft und Energie überwinden muss. Ob nun der Griff nach einer Waffe (und die Benutzung derselben), der Einsatz bestimmter Argumentationstechniken in einer Diskussion, das Vorlegen eines Beweisstückes im Gerichtssaal, der Tritt vor ein noch-nicht-startendes Auto, immer ist es notwendig, durch Einsatz von (sozialisierten, kompetenten) Körpern, Praktiken, Wergzeugen usw. – und das bedeutet immer: durch Einsatz und Mobilisierung anderer Akteur-Netzwerke  – ein mehr oder weniger arbeitsintensives Interessement und Enrolment zu initiieren und zu betreiben. Aus dieser Perspektive gestaltet sich Übersetzung grundsätzlich schwierig und kontingent. Dabei zeichnen Callon (2006c: 182, 2006d: 332) und Law (2006a: 217) aufgrund ihrer Studien das Bild einer durchgehend »feindlichen« Umwelt, in der kein Akteur mit »freiwilliger« Unterstützung anderer Akteure rechnen kann. Im Gegenteil: Jeder Akteur – auch derjenige, der versucht, andere zu übersetzen – wird selbst zum Ziel von Übersetzungsbemühungen anderer Akteure. Jedes Akteur-Netzwerk muss also erstens die Kollaboration der involvierten Akteure sicherstellen und zweitens die permanent stattfindenden Dissoziationsversuche konkurrierender Akteur-Netzwerke abwehren. Daraus 9 | Wie das Beispiel des »Waffen-Bürgers« verdeutlicht haben sollte, gibt es unzählige (kleine) Akteur-Netzwerke, die doch relativ konflikt- und widerstandsarm gebildet werden können (weil z.B. »nur« der Widerstand der Schwerkraft überwunden werden muss). Die Annahme von grundsätzlich konfliktreichen Netzwerkentstehungen ist m.E. auf die Untersuchung von »großen« Netzwerken zurückzuführen und sollte dementsprechend relativiert werden. Es gibt immer auch Akteure, die sich widerstandslos und schnell zur Mitarbeit »überreden« lassen. Nichtsdestotrotz gibt es ebenso unzählige konfliktreiche Übersetzungen.

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folgt, dass die Untersuchung von Übersetzungen dementsprechend immer auch eine Analyse sozialer Konfliktaustragungen ist. Das theoretisch-methodologische Programm der Akteur-Netzwerk-Theorie weist bemerkenswert viele Parallelen zu zentralen konfliktsoziologischen Annahmen auf, obwohl kaum Bezüge zu prominenten konfliktsoziologischen Autoren und Konzepten hergestellt werden. An dieser Stelle sollen einige dieser Kernannahmen diskutiert und mögliche anschlussfähige Aspekte skizziert werden.

Universalität von Konflikten Eine Grundannahme der Konfliktsoziologie betrifft die Universalität und Ubiquität sozialer Konflikte (vgl. u.a. Giesen 1993: 93, 103; Dahrendorf 1979: 112.). Hiernach gibt es keine sozialen Gebilde und Beziehungen, die permanent frei von Konfliktaustragungen wären. Ebenso wenig können Konflikte dauerhaft gelöst werden. Obwohl für die Universalität und Unlösbarkeit von Konflikten unterschiedliche Gründe ins Feld geführt werden, besteht innerhalb der konfliktsoziologischen Debatte diesbezüglich ein breiter Konsens (vgl. Bark 2012: 20 f.). Wie oben geschildert, ist die Perspektive der ANT ähnlich und nimmt eine grundsätzliche Widerständigkeit der Akteure und damit mehr oder weniger konfliktbeladene Übersetzungsprozesse an. Sie geht sogar aufgrund des erweiterten Akteurbegriffs noch darüber hinaus: Wenn Akteure wie »Kammmuscheln«, »Seesterne«, »Meeresströmungen«, »Winde«, oder auch »Waffen«, »Flugzeuge«, »Bodenschwellen« zu den »Bürgern«, »Anwälten«, »Sportlern« oder »Soldaten« hinzukommen, dann werden (potenzielle) Konfliktsituation noch zahlreicher, als sie ohnehin schon sind. Ebenso werden Konfliktlösungen lediglich als temporäre Episoden eines relativ stabilen Akteur-Netzwerks begriffen, da Netzwerke als grundsätzlich irreversibel betrachtet werden.

Konflikt als Mechanismus der Beziehungsfortsetzung Eine weitere Übereinstimmung findet sich in der Annahme, dass der Konflikt lediglich eine von anderen möglichen Formen – wenn auch nur teilweise und temporär – der sozialen Beziehung darstellt. Die schon von den soziologischen Klassikern Simmel (1968: 187) und Weber (1980: 20) vertretene These, die im systemtheoretischen Konfliktverständnis einen zentralen Stellenwert einnimmt (vgl. Luhmann 1991: 488–550; Nollmann 1997; Messmer 2003; Thiel 2003; Bonacker 2008b), besagt, dass Konflikte und Widersprüche die Fortführung von sozialen Beziehungen bzw. Kommunikation ermöglichen, da die Alternative nur ein Beziehungs- oder Kommunikationsabbruch wäre. Diese Sichtweise korrespondiert mit der von Callon (2006a: 70, 2006b: 169), der davon ausgeht, dass Konflikte nur in Übersetzungsprozessen, d.h. in Inter-

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aktionen, ausgetragen werden können. Der übersetzende Akteur muss also die avisierten Akteure erst interessieren, bevor sie in einer mehr oder minder konflikthaften Interaktion übersetzt werden können. Zwischen solchen Akteuren, die gegenseitig kein Interesse aneinander zeigen, können keine Interaktionen und somit auch keine Konflikte stattfinden.

Die einigende Funktion sozialer Konflikte Ähnlichkeiten beider Ansätze ergeben sich zudem hinsichtlich der Charakterisierung von Konflikten als Mechanismen der Einigung. Für Simmel (1968: 186) sind Konflikte »Abhilfsbewegungen«, d.h. erst die Reaktionen auf die den Konflikten zugrunde liegenden Spannungen, die darauf ausgerichtet sind, die Konfliktparteien wieder zu einer Einheit zu zwingen. Wie Hirschman (1999) ausführt, dienen Konflikte dem Ausgleich von Interessen, sofern es sich um »teilbare Konflikte« handelt, also wenn der Gegenstand des Konfliktes auf die Konfliktparteien verteilt werden kann. Teilbare Konflikte erhöhen die Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft, führen also seltener zu sozialen Trennungen und stellen wieder (zumindest temporär und lokal) Einheit her. Auch aus Perspektive der ANT sind Konflikte und Kontroversen maßgeblich für den Interessenausgleich in Übersetzungsprozessen verantwortlich. Die aus den Konflikten hervorgegangenen Kollaborationen und Akteur-Netzwerke sind handlungsfähige Einheiten, insbesondere dann, wenn sie geblackboxt bzw. punktualisiert werden können. Das Resultat einer erfolgreichen, auf Konflikten basierenden Übersetzung ist die Umwandlung von divergierenden oder antagonistischen in äquivalente Willen (vgl. Callon/Latour 2006: 91). Aus polyphonen werden »im Gleichklang sprechende Stimmen« (Callon 2006b: 169), die das Ergebnis von mehr oder weniger konfliktbeladenen »Verhandlungen« sind. Für Law (2006c: 430 f., 437 f.) erzeugen Übersetzungen temporäre und lokale Ordnungen, die sich Dissoziationsversuchen erfolgreich widersetzten, die die Widerstände einer »feindlichen« Umwelt überwunden und die hierfür notwendig auszutragenden Kämpfe gewonnen haben.

Konfliktakteure Der wesentliche Unterschied zu konfliktsoziologischen Konzepten ist der von der ANT verwendete und erweiterte Akteurbegriff. Wie oben beschrieben, ist ein Akteur immer auch ein Akteur-Netzwerk, da er das Ergebnis von Übersetzungsprozessen ist, in denen andere Akteure zur Zusammenarbeit gebracht wurden. Dieser Prozess kann endlos zurückverfolgt werden, es gibt keine Letztelemente, sondern nur heterogene Akteur-Netzwerke. Konflikte zwischen Akteuren sind immer auch Konflikte zwischen Akteur-Netzwerken. Folgt man dem Forschungsprogramm der ANT, ist es unzulässig, die am Konflikt be-

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teiligten Akteure als a priori feststehende Entitäten zu betrachten. Das wäre eine verkürzende Darstellung, da nicht geklärt wäre, wie die Konfliktakteure entstanden sind. Anders formuliert: Es ist natürlich (weiterhin) möglich, Konflikte zwischen »Individuen«, »Gruppen« oder »Staaten« zu analysieren, sofern erklärt wird, wie sich diese Akteur-Netzwerke gebildet haben und aus welchen Akteuren und Übersetzungen sie hervorgegangen sind. Beispielsweise darf die Untersuchung eines Gerichtsstreites nicht von »Anwälten«, Richtern« und »Zeugen« als von vornherein gegebenen Entitäten ausgehen. Vielmehr muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass ein »Anwalt« ein Akteur-Netzwerk ist, das aus anderen Akteuren (Gesetzbücher, Kanzlei, Sekretärin, spezifische Kompetenzen, Beweismittel etc.) zusammengesetzt ist und sich die auszufüllende Rolle im Gerichtssaal aufgrund der dort stattfindenden Übersetzungsprozesse auch ändern kann (z.B. von einem Unschuld beweisenden Anwalt zu einem Vergleich anstrebenden Anwalt). Die ANT verlangt allerdings nicht, dass dies für jeden Akteur und jede Übersetzung zwingend erforderlich ist. Das ist auch gar nicht möglich und würde den Rahmen jedes Untersuchungsprojektes sprengen. So räumt auch Law (2006b: 354 f.) ein, dass die Forschenden einen relativ großen Ermessensspielraum haben und sich nur auf die für sie interessanten und zu erklärenden Phänomene konzentrieren können bzw. müssen. Des Weiteren lehnt die ANT A-priori-Unterscheidungen von Mikro- und Makroakteuren ab (vgl. insbes. Callon/Latour 2006). Da Akteure immer hybrid, also aus verschiedenen Akteuren zusammengesetzte Netzwerke sind, unterscheidet den »Makro«-Akteur vom »Mikro«-Akteur lediglich die Anzahl (und spezifische Anordnung) der Akteure, aus denen er besteht. Eine zentrale Forderung von Law (2006c: 430) lautet deshalb, »große« Akteure wie »Mikro«Akteure zu behandeln und zu untersuchen. Konfrontative Auseinandersetzungen zwischen den Firmen X und Y, zwischen den Staaten X und Y oder zwischen Arbeitgeber X und Arbeitnehmer Y dürfen nicht einfach auf Konflikte zwischen »Firmen«, »Staaten« oder »Organisationen« reduziert werden. Aufgabe einer an der ANT orientierten Konfliktanalyse wäre somit auch, nachzuzeichnen und zu rekonstruieren, wer die relevanten Konfliktakteure sind und welche Akteure als mitwirkende und rekrutierte Helfer fungieren. Der Konflikt zwischen zwei Firmen, so lässt sich beispielsweise herausfinden, ist bei genauer Betrachtung ein Kampf zwischen »Person A« und einer »kleinen Gruppe B«, ein Krieg zwischen Staaten bei exakter Rekonstruktion ein Kampf zwischen »Regierung A« und »militärischer Führung B« etc. Die konfliktleitende, konfliktinitiierende »Gruppe« ist also i.d.R. relativ klein, kann aber aufgrund ihrer repräsentativen Position für viele andere Akteur-Netzwerke sprechen und diese veranlassen, sich in entsprechender Weise zu verhalten (z.B. militärische Einheiten in Bewegung setzten, Anwälte einschalten, Medien informieren).

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Es geht also, Law (2006b: 356) folgend, darum, jene Mikroakteure zu identifizieren und zu »entlarven«, die aufgrund ihrer Übersetzungsarbeiten und -fähigkeiten zu »Makro«-Akteuren »gewachsen« sind. Diese Identifizierung setzt eine genaue Lokalisierung der entsprechenden Übersetzungsprozesse voraus. Denn Übersetzungen finden immer an konkreten, realen und materialen Orten statt. Es gilt folglich herauszufinden, welche Referenz- und Übersetzungsketten die Konfliktakteure und die kollaborierenden Akteure verbinden und an welchen Orten (z.B. Büro) und auf welche Weise die Verknüpfungen gebildet werden. »Beispielweise ist es offensichtlich, daß die Kommandozentrale einer Armee nicht ›größer‹ und ›umfassender‹ ist als die lokale Front Tausende Meilen entfernt, an der Soldaten ihr Leben riskieren; gleichwohl ist klar, daß – wie der Name sagt – eine solche Kommandozentrale nur so lange alles kommandieren kann, wie sie dem Schauplatz der Operationen durch einen ständigen Transport von Informationen verbunden bleibt« (Latour 2010: 313 f.).

Konfliktaustragungsmittel Durch den erweiterten Begriff des Akteurs hat eine Konfliktanalyse es nun auch mit Akteuren wie »Gesetzbücher«, »Waffen«, oder »Diagramme« zu tun. Solche konfliktrelevanten Akteure ersetzen den in der konfliktsoziologischen Forschung bisher gebräuchlichen Begriff der »Konfliktaustragungsmittel«. Da die ANT die Subjekt/Objekt-Dichotomie aufhebt, ist eine Unterscheidung von Akteuren und der von ihnen eingesetzten Konfliktmittel hinfällig. Das bedeutet, dass die in einem Konflikt eingesetzten »Mittel« immer (auch) als Akteure betrachtet werden müssen. Ob es sich dabei um ein »Kampfflugzeug«, ein »Scharfschützengewehr«, den »abgebrochenen Ast eines Baumes«, »Boxhandschuhe«, einen »wissenschaftlichen Text« oder einen »Anruf bei der Polizei« handelt, sind diese als Akteur-Netzwerke zu sehen, die übersetzt und für eine Mitarbeit gewonnen werden müssten, um sie als »Mittel« in der Auseinandersetzung einsetzen zu können. Der Begriff des Konfliktaustragungsmittels, der durchaus weiter verwendet werden kann, impliziert demnach Übersetzungen, die andere Akteure dazu bringen sollen, als zuverlässige »Werkzeuge« in dem Konflikt aufzutreten. Aus dieser Perspektive gehört also die Beschreibung, wie bestimmte Akteure in Konfliktmittel übersetzt werden und wie diese Mittel um weitere Akteure »ergänzt« werden, zur Aufgabe der Konfliktbeobachterin. Zu den Mitteln eines Übersetzungsprozesses zählt die ANT auch den Einsatz und die Androhung von (physischer) Gewalt (vgl. Callon 2006c: 183), die wiederum nur durch andere Akteure zur Anwendung kommen kann (eine Pistole, ein Stock, ein Körper, eine Faust, ein Computer, eine Uniform etc.). Dabei kann sich die Gewalt sowohl gegen zu interessierende Akteure richten als auch

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gegen ein anderes Netzwerk zwecks Destabilisierung und anschließender Rekrutierung der dissoziierten Akteure. Wenn beispielsweise eine »Räuberin« den Akteur »Geld« eines anderen Akteurs (»Spaziergänger«) rekrutieren möchte, könnte es passieren, dass bei entsprechender Widerwilligkeit des Spaziergänger-Geld-Netzwerks dieses erst durch einen anderen Akteur (nehmen wir mal: Pfefferspray) dissoziiert werden kann.

Konfliktursachen Aus den oben genannten Forschungsprinzipien, insbesondere dem: »Folge den Akteuren!«, ergibt sich eine Untersuchungsperspektive, die zugeben muss, dass sie nicht mehr wissen kann, als die analysierten Akteur-Netzwerke an Informationen »bereitstellen« (vgl. Latour 2006a: 120). Mit anderen Worten darf der Konfliktforscher keine Gründe oder Kategorien als Konfliktursachen vermuten, die selbst nicht von den beobachteten und verfolgten Akteuren genannt oder genutzt werden. Wenn z.B. ein Rechtsstreit mit der Begründung »Wunsch nach Gerechtigkeit« begonnen wird und die Beobachterin keine anderen Akteure findet, die etwas anderes behaupten, dann kann auch die mögliche Konfliktursache nicht anders benannt werden. Findet sich jedoch ein Akteur (Zeuge, Dokument, Gesprächsaufzeichnung etc.), der »behauptet«, es ginge bei dem Streit um »Geld«, hat die Beobachterin widersprüchliche Aussagen zu bewerten und kann nach weiteren Akteuren suchen, die die eine oder andere Konfliktursache festigen würden. Allerdings ist dies die einzige Möglichkeit, Konfliktursachen, -motive oder -gründe zu »entdecken«. Latour (2006c: 390) bezeichnet diesen Vorgang als »Triangulation«, d.h. ein Abgleich der von Akteuren angegebenen Interessen für eine Konfliktbeteiligung. Soziologen sollten also keine externen Standpunkte einnehmen oder situationsübersteigende Urteile abgeben (vgl. ebd.: 396).

Konfliktbegriff Der Konfliktbegriff der ANT – so lässt sich das bisher Erarbeitete zusammenfassen – ist sehr weit und umfassend. Obwohl der Begriff nicht von allen ANTAutoren durchgängig und in gleicher Weise verwendet wird, bezeichnet er den Prozess der Auseinandersetzung zwischen Akteur-Netzwerken, der immer dann einsetzt, sobald ein Akteur einer an ihn gerichteten Aufforderung nach Kollaboration nicht widerstandslos nachkommt. Die Intensität und die potenziellen »Mittel« der Konfliktaustragung werden im Akteur-Netzwerk-Konzept nicht eingeschränkt, sondern vollkommen offengelassen. Die Untersuchung dieser Mittel wird als zentrale Aufgabe und Ziel der empirischen Analyse verstanden. Das Konfliktverständnis der ANT ähnelt damit in bemerkenswerter Weise einer sich in den letzten drei bis vier Jahrzehnten entwickelten konflikt-

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soziologischen Sichtweise, die den Konfliktbegriff verallgemeinert und entpolitisiert hat (vgl. Bonacker 2008a: 12 ff.). Damit sind Kriterien einer neutralen Begriffsverwendung und Forschungshaltung gemeint, die fordern, dass der Konfliktbegriff auf möglichst viele soziale Phänomene anwendbar sein soll, die Unterscheidung von Konflikt und Konfliktursache einzuhalten sowie eine normative Verwendung des Konfliktbegriffs zu vermeiden, ihn also weder auf- noch abzuwerten, sondern Konflikt als »normales« soziales Phänomen zu betrachten. Wollte man, probeweise, einen Definitionsversuch eines an der ANT orientierten Konfliktbegriffs wagen, so könnte der  – in Anlehnung an Bonacker/ Imbusch (2010: 69), Balla (2002: 281) und Dahrendorf (1969: 1006)  – evtl. so aussehen: Soziale Konflikte sind Auseinandersetzungen beliebiger Intensität und Gewaltsamkeit zwischen zwei oder mehreren Akteur-Netzwerken, die auf divergierenden Interessen der Konfliktakteure beruhen und nur in und im Verlauf von Übersetzungsprozessen auftreten können. Sowohl die Akteurinteressen – die immer als Interessen eines Akteur-Netzwerks, d.h. als ein zusammengesetztes Interessengeflecht der an dem Netzwerk beteiligten heterogenen Akteure zu verstehen sind – als auch die Konfliktakteure selbst sind, solange die Übersetzungen nicht zu einem (vorläufigen) Ende führen, als variabel und noch unabgeschlossen zu betrachten.

3. K onflik t-N e t z werke oder die V ersammlung zur K onflik taustr agung Die methodologischen Forschungsregeln und das Übersetzungsmodell ermöglichen eine detaillierte Analyse komplexer und vielgestaltiger Konfliktsituationen, die in der Aushandlungsphase während der Bildung eines neuen Akteur-Netzwerks auftreten können. Bei den Konfliktsituationen kann es sich sowohl um Streitigkeiten, Diskussionen, Verhandlungen als auch um körperliche, bewaffnete oder kriegerische Konfrontationen handeln. Allerdings ist es der ANT aufgrund ihrer Netzwerk-Konzeption nicht möglich, Phänomene in den Blick zu nehmen, die in der Konfliktsoziologie als »institutionalisierte«, »geregelte« oder »begrenzte« Konflikte bezeichnet werden (vgl. Bark 2012: 49 ff., 88 ff.). Hiermit sind Auseinandersetzungen gemeint, die durch relativ klar definierte und sanktionierte Regeln sowie durch über den Konfliktverlauf wachende und mit Eingriffsrechten ausgestattete Kontrollinstanzen lokal und temporär begrenzt werden (vgl. Coser 2009: 144 ff.). Die Austragung solcher Konflikte verlangt also von den Konfliktparteien die Akzeptanz des jeweiligen Konfliktaustragungsverfahrens und ihre wechselseitige Anerkennung. Daraus resultiert eine Vereinigung zum Kampf (vgl. Simmel 1968: 200), d.h. eine soziale Beziehung, die einzig zum Zweck der Konfliktaustragung eingegangen und aufrechterhalten wird. Beispiele für solche institutionalisierten Konflikte

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sind u.a. Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsprozesse, alle möglichen Formen von Wettkampfspielen (Boxkämpfe, Fußballspiele, Schachduelle, Computerspiele etc.), Rangordnungskonflikte, Oppositionsbeziehungen (Arbeitnehmer vs. Arbeitgeber, politische Koalitionsparteien vs. Oppositionsparteien etc.). Aufgrund ihrer konzeptionellen Anlage kann die ANT solche »stabilen« und auf Dauer gestellten Konfliktkonstellationen nicht adäquat erfassen, da diese nicht als »geschlossene« Akteur-Netzwerke beschrieben werden können. Denn Akteur-Netzwerke können schließlich nur dann entstehen, wenn sie etwaige Auseinandersetzungen hinter sich gebracht haben und im Ergebnis Formen annehmen, welche die reibungslose Mitarbeit von Akteuren ermöglichen. Konflikte, die bei der Netzwerkbildung noch eine wichtige und prägende Rolle spielen, sind bei erfolgreichen Übersetzungen soweit entschärft, dass das Netzwerk (zumindest eine Zeitlang) aus Kollaboration besteht. Selbst wenn noch Konflikte innerhalb von funktionierenden Netzwerken vorhanden sind, sind sie nicht so gravierend, dass sie das Netzwerk gefährden oder zerstören; im Grunde aber ist ein etabliertes Netzwerk als konfliktfrei zu betrachten.10 Es scheint so, dass vor allem Callon diese Problematik erkannt hat und, betrachtet man die Entwicklung seiner Akteur-Netzwerk-Konzeption, sie dahingehend löst, indem er Akteur-Netzwerken mehr und mehr die Möglichkeit einräumt, schwach konvergente Einheiten zu bilden (vgl. Callon 2006d: 330, 336). Obwohl Callon ein Akteur-Netzwerk schon immer als ein einheitliches Geflecht heterogener Elemente beschreibt, kann es in den früheren Studien lediglich aus nicht auszugleichenden »Divergenzen und Differenzen« (ebd. 2006a: 66) bestehen, wohingegen in jüngeren Arbeiten Callons schwach konvergente Netzwerke möglich sind, die, so könnte man formulieren, gerade eben noch von einer minimalen Zusammenarbeit der Akteure erhalten werden. Das Spektrum der Kollaboration bzw. der Konvergenz reicht dann von »Isotropie« über »Polyphonie« bis zur »Kakophonie« (ebd. 2006d: 325; vgl. auch Law 2006a: 217). Trotz dieses erweiterten Spielraums für Divergenzen können Konflikte weiterhin nur zwischen Akteur-Netzwerken stattfinden und nicht innerhalb der relativ stabilen und funktionierenden Beziehungsgeflechte. Sobald Konflikte innerhalb der kollaborierenden Einheit aufträten, würde sich die Einheit in ihre, sich nun bekämpfenden, Bestandteile auflösen bzw. einen früheren Zustand wiederherstellen, in dem die Akteure eine konfrontative Haltung einnehmen (vgl. Callon 2006c: 182, 187). Kollaboration wäre dann nicht mehr möglich – zumindest nicht mehr zwischen den zuvor zusammenarbeitenden 10 | Die Kritik von Rudin (2011: 284 f.) zielt in eine ähnliche Richtung, attestiert der ANT darüber hinaus, ein insgesamt schwaches Instrumentarium zur Konfliktanalyse anzubieten (ebd.: 289). Rudin übersieht allerdings – offenbar aufgrund der etwas einseitigen Fokussierung auf Latour – die hier beschriebenen und für die Konfliktuntersuchung hervorragend geeigneten Konzepte von Law und Callon.

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Akteuren. Ähnlich argumentiert auch Law (2006b: 435 f.): Den Inseln der Ordnung (d.h. Akteur-Netzwerke) in einem grundsätzlich feindlichen Meer von Chaos und Komplexität drohen sofort Überschwemmungen, sobald innerhalb der ohnehin nur temporären und lokalen Ordnungen Konflikte ausbrechen. Um es auf den Punkt zu bringen: Akteur-Netzwerke können zwar erhebliche Divergenzen und bisweilen starke Uneinigkeiten anerkennen, aber eben keine auf Dauer gestellten Antagonismen, keine Oppositionsbeziehungen, keine institutionalisierten und geregelten Konfliktaustragungen. Dass institutionalisierte Konfliktaustragungen als Akteur-Netzwerke, also als in bestimmter Weise (konfrontativ) kollaborierende Akteure, beschrieben werden können, ist m.E. plausibel zu begründen. Solche konfliktaustragenden Einheiten sind gerade dann gefährdet, sobald sich Auseinandersetzungen in Scheinkonflikte oder inszenierte Konflikte verwandeln. Man denke z.B. an Manipulationen von Fußballspielen, im Rad- oder Boxsport, Preisabsprachen unter konkurrierenden Wirtschaftsunternehmen, Absprachen in Gerichtsprozessen, inszenierte Konflikte zwischen Regierung und Opposition etc. Die Versuche, antagonistische Beziehungen auszuhebeln, werden i.d.R. schnell und streng von den zuständigen Kontrollinstanzen  – in ANT-Terminologie: von den Sprechern bzw. Repräsentanten des Netzwerks – sanktioniert. Die sich bekämpfenden Akteure sind also, so muss man schlussfolgern, Elemente eines auf Konfliktaustragung basierenden Akteur-Netzwerks. Weitere Merkmale von funktionierenden Akteur-Netzwerken sind eine gewisse Erwartbarkeit bzw. Vorhersehbarkeit des Verhaltens und eine mehr oder weniger stabile Kollaboration (vgl. Callon 2006c: 188, 2006d: 335). Da Konflikte i.d.R. unvorhersehbar auftreten und Konfliktparteien oftmals in einer unberechenbaren und unkalkulierbaren Weise agieren, ist es nachzuvollziehen, dass aus Sicht der ANT konfrontative Auseinandersetzungen einerseits und funktionierende Zusammenarbeit andererseits nicht kompatibel sein können. Allerdings sind institutionalisierte Konflikte aufgrund ihrer engen Begrenzungen sowohl relativ stabile als auch erwartbare Phänomene. Es gibt selbstverständlich noch unvorhersehbares und unberechenbares Verhalten, sonst wären es keine Konflikte. Aber der Rahmen, in dem die Konfrontationen stattfinden, ist sehr eng und so gebaut, dass sich die Auseinandersetzungen normalerweise nicht über diesen Rahmen hinaus ausweiten können. Um institutionalisierte Konflikte adäquat und umfassend beschreiben zu können, sollte die ANT das Übersetzungsmodell und das Akteur-NetzwerkKonzept erweitern. Zunächst ist anzuerkennen, dass eine geregelte und auf Dauer gestellte Konfliktaustragung eine soziale Beziehung zwischen Akteuren herstellen und stabilisieren kann. Des Weiteren ist der Möglichkeit zuzustimmen, dass funktionierende Akteur-Netzwerke solche antagonistischen Beziehungen beinhalten können. Die zugrundeliegende Einheit, die Übereinkunft zur Kollaboration (ganz gleich, wie diese zustande kam), die Vereinigung der

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involvierten Akteure – dies bleibt die elementare Bedingung einer gelungenen Netzwerkbildung, nur können die Akteure auch eine geregelte und begrenzte Konfrontation mit anderen Akteuren »wählen«. Sie können sich – wie Simmel formuliert – zum Kampf vereinigen und sich innerhalb eines sehr engen und vorgegebenen Rahmens intensive und unberechenbare Auseinandersetzungen liefern, sofern die aktuell geltenden Regeln des »Konflikt-Netzwerks« weitestgehend befolgt werden. Nur auf diese Weise können beispielsweise Sportduelle, wie Fußballspiele innerhalb einer Fußball-Liga, oder oppositionelle Beziehungen in der Politik angemessen beschrieben werden. In solchen Konflikt-Netzwerken besteht dann auch eine Pflicht zur regelgetreuen Austragung der spezifischen Konflikte. Da antagonistische Beziehungen den Kern und Zweck solcher Netzwerke ausmachen, müssen sie auch durch regelmäßigen Vollzug reproduziert werden. Hören die Konflikte, aus welchen Gründen auch immer, auf oder werden seltener ausgetragen, ist die konfrontative Kollaboration gefährdet und die Beziehungen können sich auflösen.11 Dies erklärt zum Teil auch, warum es zu Situationen kommen kann, in denen selbst kleinere oder harmlosere Auseinandersetzungen »aufgebauscht« und demonstrativ heftig ausgetragen werden. Um diese geregelten Konfliktaustragungen beschreiben zu können, sollte schließlich auch der Übersetzungsbegriff um die Möglichkeit antagonistischer Beziehungsbildung erweitert werden. Übersetzung beinhaltet dann auch solche Prozesse und Einwirkungen, die darauf ausgerichtet sind, die Akteure in eine antagonistische Beziehung zu bringen und dort längerfristig zu halten. Erfolgreiche Übersetzungen sind somit weiterhin vereinende und auf Kollaboration zielende Aktivitäten von Akteuren, d.h. Akteur-Netzwerke, die sich aber gerade deshalb konstituieren und erhalten, weil die Akteure, aus denen sie bestehen, permanent Konflikte austragen, auf die sie sich zuvor oder im Laufe der Übersetzung geeinigt haben. Ein »erfolgreich« gebildetes Netzwerk – ob schwach oder stark konvergent – wäre somit nicht automatisch als konfliktfreies Beziehungsgeflecht zu betrachten.

4. F a zit Ziel des vorliegenden Beitrags war die Prüfung, ob und wie mit der ANT die empirische Konfliktforschung neu gedacht und bereichert werden kann. Das hier vorgestellte theoretisch-methodologische Instrumentarium, insbesondere das Übersetzungsmodell von Callon, entstand aufgrund von Studien und Fallbeispielen, in denen Widerstände, Kontroversen und Konflikte bedeutende Ele11 | Es könnte natürlich auch sein, dass die antagonistische in eine kooperative Zusammenarbeit transformiert wird. Das Akteur-Netzwerk wäre dann allerdings ein anderes.

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mente von Übersetzungsprozessen waren. Bereits durch diese Fokussierung auf kontroverse und komplexe Übersetzungsarbeiten scheint die ANT als Methode zur Analyse von Konflikten in hohem Maße geeignet zu sein. Ich habe zu zeigen versucht, wie sich der Akter-Netzwerk-Ansatz zu einigen der wichtigsten konfliktsoziologischen Kernannahmen verhält. Hierbei wurden bemerkenswerte Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkte festgestellt, obwohl die ANT kaum Bezüge zu konfliktorientierten Ansätzen herstellt. Ebenso deutlich wurden die Unterschiede zwischen ANT und Konfliktsoziologie aufgezeigt. Gerade diese Differenzen bilden das innovative und nutzbringende Erweiterungspotenzial des Akteur-Netzwerk-Ansatzes zur Untersuchung sozialer Konflikte. Da die ANT ein Denken in Dichotomien vermeidet, entwickelt und präsentiert sie einen Akteurbegriff, der anteilig sowohl »menschliche« als auch »nicht-menschliche« Entitäten (»Körper-Ding-Assoziationen«) beinhaltet. Ein am Konflikt beteiligter Akteur ist als hybrides, zusammengesetztes AkteurNetzwerk zu denken, das wiederum aus hybriden Elementen besteht. Aus dieser Perspektive entfällt auch die Unterscheidung von Mensch und Technik bzw. Subjekt und Objekt, d.h. in der Folge die Vorstellung von Konfliktaustragungsmitteln, über die ein Akteur problemlos verfügen und die er gezielt verwenden kann. Konfliktaustragungsmittel sind eben keine beliebig einsetzbaren »Gegenstände«, sondern mehr oder weniger stark konvergente Akteur-Netzwerke. Um diese Netzwerke als »Mittel« nutzen zu können, müssen Konfliktakteure diese erst »rekrutieren«, übersetzen, zur Kollaboration »überreden« und assoziieren – also ein neues, um die »Mittel« erweitertes Netzwerk hervorbringen. Und die rekrutierten Akteure können dementsprechend nur dann als funktionierende Mittel eingesetzt werden, wenn ein gewisses Maß an Konvergenz erreicht wird. Der Akteur-Netzwerk-Ansatz ermöglicht so einen neuartigen Zugriff auf in der Konfliktpraxis beteiligte Akteure und Mittel (zu denken wäre hier beispielsweise an Waffen- und Drohnentechnologie, Wandel bewaffneter Gruppen etc.). Eine weitere Unterscheidung, die wegfällt, ist die zwischen »Mikro« und »Makro«. Aus Perspektive der ANT ist kein Akteur-Netzwerk a priori kleiner oder größer als ein anderes. Jeder Makro-Akteur ist demzufolge ein sich aus vielen »Mikro«-Akteuren zusammensetzendes Netzwerk. Um »groß« (und auch mächtig) zu werden, muss ein sonst von anderen kaum zu unterscheidender Akteur andere zur Kollaboration bewegen, die damit zur Erweiterung des Netzwerks beitragen. Durch jede Erweiterung, durch jedes neu hinzugewonnene Element vergrößert und verändert sich das Beziehungsgeflecht. Mit dem Zurückweisen einer von vornherein gegebenen Unterscheidung von Mikro und Makro ist die methodologische Forderung verbunden, nicht vorschnell von einem Krieg zwischen »Staaten« (z.B. »Amerika« gegen »Irak«), von der Konkurrenz zwischen »Unternehmen« (z.B. »McDonalds« gegen »Burger King«), von einem Kampf zwischen »Sportvereinen« (z.B. »Dortmund« gegen »Bayern«) oder gar von einem Rechtsstreit zwischen »Personen« (z.B. »Herr Müller« gegen

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»Frau Meier«) etc. zu sprechen. Dies wäre eine verkürzende Darstellung und erst dann angebracht, sofern geklärt und beschrieben wäre, aus welchen anderen Akteuren sich die beobachteten Akteur-Netzwerke konkret zusammensetzen. Die Aufgabe einer mit der ANT arbeitenden Wissenschaftlerin ist die Rekonstruktion der Netzwerkgenese und damit die Beschreibung und Lokalisierung der in der Praxis relevanten Konfliktakteure und deren Übersetzungen: Welche Akteure führen tatsächlich Krieg, wenn von »Amerika« oder »Irak« die Rede ist? Das Militär, hochrangige Politiker oder Wirtschaftseliten? Und welche Akteure genau? Wie sind sie so mächtig geworden, dass sie einen Krieg führen können? Mit anderen Worten sollte (zumindest annäherungsweise) zurückverfolgt werden, wer die tatsächlichen (»Mikro«-)Konfliktakteure sind, welche anderen Akteure assoziiert wurden und als »Mittel« dienen und welche Übersetzungsarbeiten hierbei geleistet werden mussten. Der »Mehrwert« einer an der ANT orientierten Konfliktforschung liegt demzufolge in einer detaillierten, minutiösen, differenzierten und exakten Untersuchung von Konfliktsituationen, -konstellationen und -austragungspraktiken. Als methodisches Instrument verfügt sie über eine Art »Slow Motion«-Funktion, die sensibel für kleinste Verschiebungen und für jegliche Veränderungen in Übersetzungsprozessen ist. Man könnte auch von Zeitlupe und Raum-Zoom sprechen: Wie mit einer Spezialkamera werden winzige Bewegungsabläufe und Fluktuationen verlangsamt und sichtbar gemacht (vgl. Callon 2006b: 143) und die konkreten Orte der Übersetzungsprozesse und der beteiligten Akteur-Netzwerke genauestens und exakt lokalisiert (vgl. Latour 2010: 299–328). Auf diese Weise ermöglicht die ANT, soziale Konflikte (und alle anderen Phänomene ebenso) bis ins Kleinste zu sezieren. Um auch institutionalisierte Konfliktaustragungen als Bestandteile relativ stabiler Beziehungsgeflechte fassen zu können, habe ich eine (moderate) Erweiterung des Akteur-Netzwerk-Ansatzes vorgeschlagen. Diese begreift antagonistische Beziehungen als mögliche Form einer funktionierenden Kollaboration, sofern die involvierten Akteure sich auf konfrontatives Zusammenwirken geeinigt haben bzw. neu assoziierte Akteure diese Art der Kollaboration akzeptieren. In dieser erweiterten Form ermöglicht die ANT eine detaillierte Untersuchung von konfliktbeladenen und netzwerkbildenden Übersetzungsprozessen einerseits und von Konflikt-Netzwerken andererseits, deren basaler Kern aus institutionalisierter Konfliktaustragung besteht. Die größte Stärke der ANT ist jedoch, dass sie sowohl Dissoziation als auch Assoziation, sowohl konsensuale als auch konfliktbeladene Übersetzungen, sowohl Ordnung als auch Wandel analysieren und beschreiben kann. Sie hat somit das in den Sozialwissenschaften überaus seltene Potenzial, Phänomene zu untersuchen, die gleichzeitig von divergierenden und konvergierenden Verhältnissen und Beziehungen durchzogen sind. Damit sei auch angesprochen, dass bei einer Konfliktanalyse die vereinenden, kooperativen und konsensualen

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Aspekte eine ebenso zentrale Rolle für Netzwerkbildungen spielen. Die Fokussierung auf Konflikte darf nicht dazu führen, die vereinenden Elemente aus den Augen zu verlieren. Nimmt man die Akteur-Netzwerk-Theorie ernst, würde folglich nicht nur die Friedens- und Konfliktforschung enorm davon profitieren.

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Neue methodische Zugänge und Anwendungen einer Soziologie der Praxis

Ethnografische Erkenntnisstrategien zur Erforschung sozialer Praktiken Diana Lengersdorf

Auch wenn in der Theoriediskussion zu sozialen Praktiken eine gewisse Leichtigkeit nahegelegt wird – »fruchtbarer Ideenpool« (Reckwitz 2003: 289), »Bündel von Ansätzen« (Hörning 2001: 160) –, die sich auch in der begrifflichen Fassung finden lässt – »nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89), »Letztelemente des Sozialen« (Hillebrandt 2009: 50)  – stellt die Erforschung sozialer Praktiken für Soziolog_innen eine erhebliche Herausforderung dar: Akteure sind zu dezentrieren, Artefakte und Techniken ernster und sprachlich-verfügbares Wissen weniger ernst zu nehmen, Einverleibungen und Körperperformanzen zu beobachten, die Gesellschaft als nationalstaatlich verengtes und essentialistisches Denkinstrument abzulehnen – um nur einige Herausforderungen anzudeuten. Dennoch: gerade wegen der Schwierigkeiten und Irritationen ist die empirische Erforschung sozialer Praktiken ein lohnendes Unterfangen. Es ermöglicht den Zugang zu teilweise verstellten oder auch einfach nur wenig beachteten Phänomenen alltäglicher Praxis. Das ›größte Pfund‹ praxistheoretischer Forschungen liegt allerdings in ihrem Potenzial, lose Verbundenes im Sozialen dennoch als zusammenhängend zu erkennen. Es ist die Einsicht, dass es weder praktisch noch theoretisch eine Lösung im Sinne einer ›vernünftigen‹ Ordnung gibt, gleichwohl eine Ordnung stabilisiert werden kann (Reuter/Lengersdorf 2015). Gerade die Kontingenz, Materialität und Irrationalität ebenso wie die Situativität und Temporalität von Alltagspraxis machen dies deutlich. In meinem Beitrag werde ich mich nun auf die Frage des ›Warum‹ fokussieren – eigentlich ein no go praxistheoretischer Forschung1 – der Frage: Warum ist die Ethnografie eine besonders ertragreiche Erkenntnisstrategie für Praxisforscher_innen. Ein Begründungszusammenhang lässt sich in der Ab1 | Die Frage des ›Warum?‹ weist auf einen Begründungszusammenhang. Praxistheoretische Forschungen interessieren sich hingegen vor allem für das ›Wie?‹ u.a. auch wie die Legitimität von Gründen erzeugt wird (u.a. Hirschauer 2004: 73; Schmidt 2012).

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schwächung erkenntnislogischer Richtlinien finden. Dieses Argument werde ich durch die Skizzierung dreier methodologischer Rahmungen und den damit einhergehenden Ein- und Ausschlüssen plausibilisieren. Des Weiteren lassen sich in der soziologischen Auseinandersetzung mit ethnografischen Traditionen ebenfalls gute Gründe für den Einsatz zur Erforschung sozialer Praktiken finden. Abschließend werde ich deutlich machen, wie ertragreich in der konkreten Forschungspraxis und den hier auftretenden Problemfeldern eine ethnografische Erkenntnisstrategie ist. Grundlage dieser Erörterungen ist ein abgeschlossenes Forschungsprojekt zur Untersuchung des Arbeitsalltags in einer Internetagentur und die Rolle, die sozialen Praktiken bei der Ordnung dieses Alltages zukommt (Lengersdorf 2011).

M e thodologische P roblemfelder : W ie k ann ich P r ak tiken erkennen ? Beginnen werde ich meine Argumentation mit einer zentralen Schwierigkeit praxistheoretischer Forschung: Wie kann ich soziale Praktiken als Forschungsgegenstand erkennen, der sich durch eine »Doppelstruktur als materiale Körperbewegungen und als implizite Sinnstruktur, als Kombination einer Präsenz, der Körper und Dinge, die der Beobachtung zugänglich sind, und einer Abwesenheit des impliziten Wissens, dessen indirekte Erschließung immer unvollständig bleiben muss,« auszeichnet (Reckwitz 2008: 196)? In aktuellen Studien werden drei Methodologien bevorzugt eingesetzt: eine ethnomethodologische, diskursanalytische sowie habitustheoretische/praxeologische. Wie ich im Folgenden skizzieren werde, ermöglicht und verunmöglicht die Entscheidung für einen methodologischen Rahmen zugleich den Zugang zu spezifischen Aspekten sozialer Praktiken, denn aus den jeweiligen methodologischen Traditionen ergeben sich Ein- und Ausschlüsse konstitutioneller Elemente.

Ethnomethodologie Die Ethnomethodologie geht maßgeblich auf Harold Garfinkel zurück. Er positionierte sich in seiner richtungweisenden Publikation »Studies in Ethnomethodology« (1967) in Opposition zu Versionen von Soziologie, die, wie jene Durkheims, »teach that the objective reality of social facts is sociology’s fundamental principle« (Garfinkel 2008 [1967]: vii). Garfinkel hingegen sieht die Wirklichkeit sozialer Fakten im fortlaufenden Vollzug begründet: »that the objective reality of social facts as an ongoing accomplishment of the concerted activities of daily life, with the ordinary, artful ways of that accomplishment being by members known, used, and taken for granted, is, for

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members doing sociology, a fundamental phenomenon« (ebd.). Ob Soziologie oder Zähneputzen betrieben wird, für beide Aktivitäten ist ein methodisch kompetentes Vorgehen notwendig und der Alltag findet im Badezimmer ebenso statt wie im soziologischen Institut. »The interests of ethnomethodological research are directed to provide, through detailed analyses, that account-able phenomena are through and through practical accomplishments« (Garfinkel/Sacks 1986: 163). Das ethnomethodologische Interesse richtet sich demnach auf die Herstellungsregeln der formalen Struktur der Interaktion und Kommunikation (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 33; Bohnsack 2008: 228). Eine ethnomethodologische Perspektive auf Praktiken ist aufschlussreich, um Praktiken als eine Abfolge von Aktivitäten zu fassen, eine Abfolge, die nicht beliebig ist, sondern über eine spezifische innere Geregeltheit verfügt. Um sich in den Handlungsfluss ›einklinken‹ zu können, ist dabei ein praktisches Wissen notwendig. Es ist ein Wissen über die relevanten Ethnomethoden des Untersuchungsfeldes. Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit zu erkennen, dass es eine wirkungsmächtigere Instanz als die subjektiven Absichten der Akteure im Sozialen gibt, was wiederum die Möglichkeit eröffnet, ein stückweit von Akteuren abzusehen. Dies wird auch erleichtert, indem kulturelle Differenzen wie Geschlecht oder Ethnizität nicht mehr als personale Eigenschaften gedacht werden müssen, sondern als kategoriale Ordnungsprinzipien fassbar sind. Durch die Fokussierung des »Durchführungscharakters« (Hörning/Reuter 2006: 56) der ethnomethodologischen Perspektive wird allerdings der Blick auf die Dauerhaftigkeit der VollzugsForm und ihr Übertritt in andere Situationen und andere soziale Felder erschwert. Praktiken sind nicht situationsgebunden oder gar situationsspezifisch. Da Praktiken keine ›Quelle‹ ihrer Entstehung haben (Hillebrandt 2009: 83), kann auch eine Situation nicht zum Ausgangspunkt des Vollzugs bestimmt werden oder zum konstitutiven Moment.2 Radikaler formuliert, kann eine wie auch immer geartete Kausalität, eine endgültige Fixierung des Sozialen generell als Illusion betrachtet werden, im ›Kleinen‹ wie im ›Großen‹ (Hillebrandt 2009: 23). Es sind vielmehr die Praktiken selbst, in ihrer losen Koppelung aneinander und den darin involvierten Partizipanden 2 | Eine Methode, die nur Erhebungspunkte erfasst, kann soziale Praktiken nicht offen legen. Die Analyse von Skripten einzelner, ›natürlicher‹ Situationen, gleich ob sie auf videoaufgezeichnete Handlungskonstellationen zwischen Computern und Fluglotsen basieren oder audioaufgezeichnete Konversationsverläufe zwischen Schülerinnen, würde eine wesentliche Dimension sozialer Praktiken vernachlässigen: dass sie über Raum und Zeit hinweg laufen (Reckwitz 2003: 295, Hillebrandt 2009: 84) und sich gerade aus ihrer Wiederholung und der gleichzeitigen Neuerschließung ihre innere Geregeltheit erschließt.

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(Hirschauer 2004: 74 f.), die an sich ›erinnern‹ und damit ihre Dauerhaftigkeit begründen.

Diskursanalytischer Erkenntnisrahmen Die Diskursanalyse wurde durch die Arbeiten Michel Foucaults bekannt. Foucault entwickelte seine Überlegungen zu Diskursen aus der Analyse historischen Materials, anhand dessen er sich von »allen Vorstellungen einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung im Sinne ständig fortschreitender Wahrheitsfindung« (Keller 2007: 16) verabschiedete. In seinem Fokus steht die Entfaltung spezifischer Wissens- und Machtdispositive (Foucault 1974: 126), wobei man ein Dispositiv als ein Netz möglichen Handelns und Denkens fassen kann.3 Wissen und Macht stellen die zentralen Topoi der foucaultschen Arbeiten dar. Die Institutionalisierung kollektiv verbindlicher Wissensordnungen wird temporär erreicht durch mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren (Keller 2007: 7). Das Konzept des Diskurses setzt genau hier an, zwischen der Macht, Bedeutungen sowie Sinn temporär auf Dauer zu stellen, und − in der gleichen Bewegung − die Anordnung von kollektiv-geteiltem Wissen zu regulieren: »Der Diskurs wird konstituiert durch die Differenz zwischen dem, was man korrekt in einer Epoche sagen konnte (nach den Regeln der Grammatik und denen der Logik), und dem, was tatsächlich gesagt wird. Das diskursive Feld ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt, das Gesetz dieser Differenz. Es definiert so eine gewisse Zahl von Operationen, die nicht der Ordnung der linguistischen Konstruktion oder der formalen Logik angehören.« (Foucault 2001: 874)

Die Fokussierung auf diskursive Praktiken macht es allerdings erforderlich, den Sinn oder die Bedeutung einer Sache aus Aussagen zu rekonstruieren, denn nur so können Codes interpretiert und ihre Wirksamkeit angemessen abgeschätzt werden (Reckwitz 2008: 201). Damit werden Sinn und auch die Ordnung dieses Sinns an Sprache gebunden, an Sprache wohlgemerkt im weiten Sinne: das gesprochene Wort, Texte, aber auch visuelle Darstellungen, wie die Welt repräsentiert wird, welche Möglichkeiten des Denkbaren und Sagbaren sich hier zeigen. Daher spricht Andreas Reckwitz auch von diskursiven Praktiken als »Praktiken der Repräsentation« (Reckwitz 2008: 203). In dieser Perspektive können allerdings jene Praktiken nicht in den Blick kommen, in denen Sinnzusammenhänge selbst nicht explizit zum Thema werden (Reck3 | Eine differenzierte Analyse und Genese des Dispositiv-Begriffs ist bei Andrea Bührmann und Werner Schneider (2008) zu finden.

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witz 2008: 205). In diesen ›nicht-diskursiven‹ Praktiken sind auch Sinn- und Wissensordnungen enthalten, die sich in ihnen und mit ihnen vollziehen, aber sie »produzieren und explizieren selber  – über den Weg von Argumentationen, Narrationen, Montagen usw.« (ebd.) keine Ordnungen des Wissens und des Sinns. Umgangspraktiken sind hier ein gutes Beispiel. Texte verweisen nicht nur auf Aussagen, sondern sie sind auch Dokumente, z.B. Papierstücke in einer Anwaltskanzlei (Suchman 2000). Der Umgang mit diesen Papierstücken ist routinisiert und macht einen entscheidenden Teil des Arbeitsalltages aus. Die Umgangspraktiken umfassen dabei Aktivitäten, wie Abheften, Rausholen, Markieren oder Vorlegen. Sie bringen die Bedeutung des Papierstücks immer wieder insofern hervor, als dass das Papier in den Handlungsfluss involviert wird. Dabei steht das Papierstück in dieser Perspektive nicht für etwas, z.B. den Rechtsstaat, sondern es ist etwas, weil es in den Vollzug involviert wird.

Praxeologie – Habitustheorie Bourdieu entwickelte seine Konzepte aus einer radikalen Kritik an den scholastischen Grundlagen des philosophischen Denkens heraus und arbeitete an einer neuen, soziologischen Erkenntnistheorie (u.a. Bourdieu 1993; 2004). Diese ist maßgeblich durch Marx beeinflusst und setzt an der Relation zwischen Theorie und Praxis an: »Die Theorie der Praxis als Praxis erinnert den positivistischen Materialismus daran, dass Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden, und gegen den intellektualistischen Idealismus, dass diese Konstruktion auf dem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.« (Bourdieu 1993: 97)

Das System von Dispositionen oder auch das »Erzeugungsprinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten« (Bourdieu 1979: 165), ist der Habitus. Der Habitus ist allerdings nicht individuell, sondern basiert auf einer spezifischen Soziallage bzw. einer spezifischen Position im sozialen Raum. So tendieren Akteure, die sich durch eine gemeinsame Soziallage auszeichnen, dazu, soziale Situationen in ähnlicher Weise wahrzunehmen und ähnlich zu handeln (Meuser 2006: 113). Dies schließt auch ein, dass etwas, das nicht sein darf, nicht sein kann und damit als undenkbar ganz selbstverständlich als Option ausscheidet (Bourdieu 1993: 100). Der Habitus strukturiert damit auch die Wahrnehmungen, Interpretationen und Deutungen und wirkt in ihnen und mit ihnen als Orientierungsmuster.

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Die Konstantheit von Praktiken wird von Bourdieu durch die Hereinnahme des Körpers in seine Theorie der Praxis konzipiert. Im Körper ›materialisiert‹ sich der Habitus: »es ist das Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper« (Bourdieu/Waquant 1996: 160; auch Hillebrandt 2009: 44). Diese »Einverleibung des Sozialen« (Alkemeyer et al. 2009: 13) oder bei Bourdieu »Inkorporierung« (u.a. Bourdieu 1987: 729 ff.) ermöglicht und begrenzt das Handeln der Akteure.4 Es sind Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen, die sich als habitualisierte Formen »inkorporierter sozialer Struktur« (Bourdieu 1987: 730) fassen lassen. In praxistheoretischer Perspektive sind es weniger über die Jahre ausgebildete Dispositionen in Körpern als vielmehr implizite Handlungskriterien, deren Maßstäbe und Kriterienkataloge an den Vollzug gekoppelt sind. Da der Vollzug sozialer Praktiken gekennzeichnet ist durch Neuerschließung und Wiederholung, verändern sich auch die Kriterien und Maßstäbe fortlaufend. Die Gleichförmigkeit des Sozialen kann demnach nicht an eine einheitsspendende Entität wie den Habitus – das »Bindeglied« (Bourdieu 1981) – delegiert werden, vielmehr muss die Beständigkeit des Sozialen im Ablauf der Praktiken selbst gesucht werden. Damit nehmen Praxistheorien die Praxis als Ort ernst, in dem Verstehen und Einsicht der Akteure hervorgebracht und kulturelle Repertoires der Deutung und Bedeutung eingespielt werden (Hörning 2004: 20). Um dies zu bewerkstelligen, nehmen Theorien sozialer Praktiken eine Perspektive ein, die Wittgenstein auf den Punkt brachte: »Beginn mit den Praktiken – denk nicht« (Wittgenstein 2004: 277; auch Hörning 2004: 22). Die Analyse beginnt mit den Handlungsflüssen, mit dem Vollzug von Praktiken und weitet den Blick dann für die »Übertragungen und Schaltungen« (Hörning 2004: 22) zwischen den lose miteinander verbundenen »Letztelementen« (Hillebrandt 2009: 50) des Sozialen. In dieser Perspektive sind Praktiken und Orientierungsmuster durch den fortlaufenden Vollzug oder besser im Vollzug vereint. Weder das eine noch das andere ist vorgängig oder für das andere generativ. Konstitutiv für beide ist der Vollzug, der Handlungsfluss. Denn hier erleben die Teilnehmer_innen in sozialen Praktiken, »ob ihr Handeln passt oder 4 | In der praxistheoretischen Diskussion wird aktuell das Verhältnis von leiblichen und körperlichen Praktiken verhandelt; auch dies keine banale Unterscheidung (Klein 2014; Gugutzer 2014; Meuser 2006).

Ethnografische Erkenntnisstrategien zur Er forschung sozialer Praktiken

nicht, indem die anderen Teilnehmer ihr Handeln ›beantworten‹, Anschlusshandlungen ansetzen, also stillschweigend mitteilen, dass sie das Handeln für ›korrekt‹ halten« (Hörning 2004: 23). Jede praxistheoretisch naheliegende Erkenntnistheorie weist demnach ihre Leerstellen auf hinsichtlich relevanter Dimensionen von Praktiken. Eine derartige Einsicht kann im Forschungsprozess zu erheblicher Verzweiflung führen, da es scheinbar keine Tradierungen gibt, die Sicherheit bieten. Allen hier referierten Methodologien allerdings gemein ist, dass sie keine klare ›Checkliste der Erkenntnis‹ anbieten, sie sich vielmehr in klarer Absatzbewegung von positivistischen Erkenntniswegen konstituieren. Sie stehen für eine erneute Öffnung für das, was qualitative Forschung ausmacht: ein spezifisches Verhältnis zwischen Empirie und Theorie(bildung). Demnach plädiere ich – u.a. mit Stefan Hirschauer 2004 – für ein Vorgehen, das es ermöglicht, Praktiken selbst anzeigen zu lassen, was die geeigneten Methoden ihrer Erforschung je sind. Und dies sollte wiederum bedeuten, dass wir auch immer wieder bereit sein müssen, Grenzziehungen innerhalb und zwischen Erkenntnistheorien in Frage zu stellen. Dies bedeutet aber auch, dass Forschung sehr stark vom Phänomen aus gedacht und praktiziert werden muss, damit die Praktiken überhaupt eine Chance haben etwas anzuzeigen. So geht es stets um eine sukzessive Erweiterung des Möglichen, oder mit Polanyi: »Entdeckungen werden gemacht, indem man Möglichkeiten nachgeht, die vom vorliegenden Wissen eröffnet werden«. Gerade wegen der Abschwächung erkenntnislogischer Richtlinien sind Erkenntnisgewinne zu verzeichnen, denn die »Forschenden verfahren eher intuitiv, nutzen ihre intuitiven, nicht explizierten Alltagskompetenzen und verfeinern sie auf der Grundlage ihrer Forschungserfahrungen« (Bohnsack 2008: 24, auch Kalthoff 2008). Es ist demnach nicht allein ein spezifisches Verhältnis zwischen Empirie und Theoriebildung, sondern auch eines zwischen Theorie und Forschungspraxis: Theorien sozialer Praktiken gewinnen aus dem Spannungsverhältnis der Relation zwischen Theorie und Praxis ihre Begriffe (Hillebrandt 2009: 83; Schmidt 2012: 13). Stefan Hirschauer (2004) beschreibt das Verhältnis derart: »Eine Theorie der Praktiken muss sich auf andere Weise ins Verhältnis zu ihrem Gegenstand setzen als Formen soziologischer Theorie, die sich empirischem Stress entziehen und ihre Vokabularien als maximal deklinationsfähig behaupten – bis hin zum grammatikalischen Unsinn. Theorien der Praxis können gelassen auf ihre empirische Relativierung eingestellt sein. Sie geben damit etwas von dem preis, was ›Theorie‹ in der Soziologie bedeutet, aber sie gewinnen dafür etwas anderes: dass sie überhaupt Schritt halten können mit der Raffinesse und dem Reichtum an Varianz mit der kulturelle Praktiken unseren Gegenstand erfinden.« (Hirschauer 2004: 89)

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Und genau aus diesen Zusammenhängen heraus ist von der Ethnografie ein hoher Erkenntnisgewinn für die Erforschung sozialer Praktiken zu erwarten,5 denn sie ist eine Erkenntnisstrategie, die über eine Tradition der Reflexion von Begründungs- und Erkenntniszusammenhängen im Forschungsprozess verfügt; sie verweist weder auf eine klar umrissene Erkenntnistheorie, noch verfügt sie über einen definierten Verfahrenskorpus; sie erfordert zu Beginn der Forschungen nur eine minimale Grenzziehung um das Phänomen. Oder auch anders formuliert: die Ethnografie verstellt weder – noch verengt sie den Blick auf die Frage: Was zum Teufel geht hier vor?

E thnogr afie Soziologische Ethnografien zur Erforschung der ›eigenen‹ Kultur gehören in Deutschland nicht zum Mainstream qualitativer Forschungen (u.a. Knoblauch 2001; Breidenstein 2006). Dies erstaunt auf zwei Ebenen: Zum einen lässt sich eine generelle Bedeutungszunahme des Stellenwerts von ›Kultur‹ auch innerhalb der Soziologie verzeichnen, die u.a. mit dem Begriff des cultural turn innerhalb der Sozialwissenschaften beschrieben wird, zum anderen sind zentrale Fragestellungen, die sich aus dieser Neuausrichtung ergeben, durch ethnografische Forschung inspiriert. Dazu lässt sich vor allem die Frage nach der Konstruktion der Differenz zwischen ›eigener‹ und ›fremder‹ Kultur zählen, aber auch die Vorstellung einer monolithischen Kultur, die sich zugunsten vielfältiger Kulturen auflöst, wie auch die Frage der Repräsentation und damit des ›eigenen Forscher-Selbst‹ im Forschungsprozess (Winter 2001). Dennoch bleibt ein breiterer Einsatz von Ethnografien bis dato aus. Dies mag an dem ressourcen-verschlingenden Aufwand liegen (Hirschauer/Amann 1997), an fehlendem Raum innerhalb der Methodenausbildung oder einem fehlendem Bewusstsein ethnografischer Traditionen innerhalb der Soziologie (Knoblauch 2001). Dabei liegt das Potenzial ethnografisch-soziologischer Forschung vor allem in einer spezifischen Haltung: »[N]ur dann, wenn wir nicht davon ausgehen, dass alles, was uns nicht auf Anhieb außerordentlich befremdlich erscheint, damit auch schon unzweifelhaft verstanden ist, nur dann, wenn wir davon nicht ausgehen, wird ethnographisches Arbeiten in der Soziologie sinnvoll.« (Hitzler/Honer 1997: 14).

Im Fokus eines ethnografischen Vorgehens steht daher auch immer das eigene Verständnis des Phänomens, die eigene Wahrnehmung der Situation, die eige5 | Robert Schmidt prognostiziert gar das Konvergieren des practice turn mit einem ethnographic turn (Schmidt 2012: 13).

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ne Interpretation der Ereignisse zu explizieren und als empirisches Wissen zu mobilisieren. Damit ist die Frage, wie von den Forschenden bereits Gewusstes, vielleicht sogar selbstverständliche Gewissheiten, kontrolliert und zugänglich gemacht werden können, zentral. Viel diskutiert ist diese Herausforderung in der Frauen- und Geschlechterforschung, da das Alltagswissen der Forschenden über – auch ›ihr‹ – Geschlecht eine wichtige Erkenntnisressource ist (u.a. zur Diskussion: Behnke/Meuser 1999: 77 ff.). Letztendlich entfaltet sich die Frage entlang des theoretischen und des praktischen Wissens der Forschenden. Gerade die praxistheoretische Forschung zeigt, dass die Trennung in wissenschaftlich-theoretisches und alltäglich-praktisches Wissen eine Konstruktion ist, die, wie es Hillebrandt mit Bourdieu formuliert, als illusio der wissenschaftlichen Praxis verstanden werden kann und hier wirkt: »das Prinzip der modernen Wissenschaften, sich von ihrem Gegenstand so weit wie möglich zu entfernen, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren« (Hillebrandt 2009: 41). Die Ethnografie ist »keine kanonisierbare und anwendbare ›Methode‹, sondern eine opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie« (Hirschauer/Amann 1997: 20): Ein taktisches Vorgehen, um ›Ein-Sicht‹ in die soziale Praxis des Feldes zu erlangen. Ethnografien sind vielfältig angelegt: deskriptiv (Hirschauer/Amann 1997), fokussiert (Knoblauch 2001), exotisch, komparativ, semantisch (Hitzler 2003) oder auch autoethnografisch (Jones 2000). Auch bei der Auswahl einzusetzender Methoden wie der sich daraus ergebenden Instrumente und Erhebungszeiträume wird strategisch vorgegangen: »Das methodische Ideal der (vorzugsweise nicht-standardisierten) ethnografischen Datenerhebung ist dabei die Kombination bzw. Triangulation möglichst vielfältiger Verfahren« (Hitzler/Honer 1997: 13). Die Anwesenheit der Forscherin im Feld über eine andauernde Erhebungsstrecke ist allerdings die bevorzugte ethnografische Methode (Hitzler/Honer 1997: 13). Dem Vorgehen liegt die theoretische Annahme zugrunde, dass das »(kultur)soziologisch Relevante sich nur unter situativen Präsenzbedingungen zeigt« (Hirschauer/Amann 1997: 22). Der englische Begriff des field work beschreibt die Methode des ›Da-Sein‹, ›Dabei-Sein‹, ›Am-Gleichen-Ort-Zur-Gleichen-Zeit-Sein‹ am treffendsten. Die Forschungsarbeit findet im Feld statt. Hypothesen werden hier entwickelt. Der Verlauf des Forschungsprozesses wird durch die Vorgänge im Feld bestimmt. So ist zu Beginn des Feldaufenthaltes alles als bedeutsam zu betrachten, da erst im Verlauf erkennbar wird, was im Feld je relevant ist und damit besonders beachtenswert, deutungs- und erklärungsbedürftig (Hitzler 2003: 50). Erst im Laufe des Forschungsprozesses ergeben sich Fokussierungen der Beobachtung, idealerweise theoriegeleitet (Hitzler/Honer 1997: 13). Hierzu wird das Instrument der teilnehmenden Beobachtung eingesetzt (Münst 2004: 331). Dabei lassen sich unterschiedliche Grade der Partizipation ausmachen, die

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sich während des Feldaufenthalts zwischen den Polen des Teilnehmens und Beobachtens bewegen: »Wer vollständig teilnimmt, kann nicht mehr beobachten (denn er muss allen Erfordernissen der Teilnahme nachkommen). Wer nur beobachtet ohne teilzunehmen, dem fehlt die eigene Erfahrung mit der zu beforschenden Kultur, die ein entscheidendes Erkenntnispotenzial ethnographischer Forschung darstellt. Es gilt, sich involvieren zu lassen in die fremde Praxis, um zu erfahren, was es heißt, den Anforderungen dieser Praxis ausgesetzt zu sein.« (Breidenstein 2006: 21)

Zu Beginn des Forschungsaufenthaltes ist die Trennung noch sehr einfach zu vollziehen, da die Forscherin noch nicht integriert und involviert ist. Mit zunehmender Aufnahme im Feld, gekennzeichnet durch Vertrauen, Teilnahme, Mitwirkung, wird die Distanzierung schwieriger. Es besteht die Gefahr, dass sich auch für den Forscher das zu explizierende Wissen als selbstverständlich zeigt und damit unhinterfragt bleibt. Dieser Vorgang wird als going native beschrieben. Durch systematische Distanzierungspraktiken,6 wie der schriftlichen Reflexion und Selbstbeobachtung, dem regelmäßigen Rückzug zum universitären Schreibtisch sowie der kollegialen Kontrolle in gemeinsamen Sitzungen, wird die Distanz zum Feld immer wieder erneuert und die Nachvollziehbarkeit erster Interpretationen in der eigenen Gemeinschaft überprüft. Für praxistheoretische Forschungen kommt noch hinzu, dass die teilnehmende Beobachtung es ermöglicht, die Körperlichkeit und Artefaktabhängigkeit sozialer Praktiken nicht nur beobachtbar, sondern auch erleb- und erfahrbar zu machen. Das praktische Wissen wird in den Forschenden wirksam und befähigt sie, sich in die Praktiken zu involvieren. Wissen wird so nicht nur kognitiv wahrgenommen, sondern auch über den eigenen Körper zugänglich. In der Zusammenführung dieses praktisch erfahrenen Wissens mit anderen Wissensquellen, wie verbalen Äußerungen in Interviews oder der Analyse von Dokumenten, ergibt sich ein breites Spektrum des Zugangs auch zu implizitem Wissen. Die Methodenpluralität ermöglicht es darüber hinaus, auch die spezifische Zeitlichkeit von Praktiken der Analyse zugänglich zu machen. Die Problematik liegt hier im fortlaufenden Vollzug, der neben vergangenen Erfahrungen auch auf zukünftige Erwartungen verweist. Dieses Problem stellt sich allerdings ›Praktiker_innen‹ ebenso wie ›Forscher_innen‹, denn z.B. auch Neueingestellte in einer Firma treffen auf bereits vorhandene Praktiken, die ihnen größtenteils nicht geläufig sind. In Organisationen haben sich je eigene Praktiken zur Einführung und Einpassung ›Neuer‹ entwickelt, an denen auch die Forschenden teilhaben werden oder zumindest diese beobachten können. 6 | Zur Differenz zwischen Distanzierungs- und Befremdungspraktiken sei auf Knoblauch 2013 verwiesen.

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Zudem können Dokumente über die Firmengeschichte eingesammelt und in Gesprächen auf vergangene Verfahrensweisen geschlossen werden.7 Ein wesentlicher Bestandteil des ›Ethno-Graphierens‹ liegt in der Produktion von Textdokumenten  – »Denn was wäre ein Bemerken, ohne Notiz zu nehmen« (Tyler 1991: 291). Die Textdokumente sind unterschiedlichster Art: Neben selbst angefertigten Feldnotizen und Forschungstagebuchaufzeichnungen reichen sie auch von Raumbeschreibungen bis zu analytischen Notizen. Hierbei steht weniger das Rekapitulieren von Aktivitäten im Fokus, sondern deren Rekonstruktion. Textproduktionen mit unterschiedlichem Informations- und Reflektionsgehalt werden systematisch verdichtet, um zu tiefer liegenden Sinn- und Bedeutungsschichten vorzustoßen (Hitzler 2003: 51). Dazu werden weitere »natürliche« Textdokumente hinzugezogen, die im Feld (ein) gesammelt worden sind. Den Prozess des Verdichtens und Vorstoßens gilt es wiederum in Texten festzuhalten und nachvollziehbar zu machen. Ethnografische Beschreibungen »sollen nicht nur die textimmanente Nachvollziehbarkeit einer theoretischen Interpretation sichern, sondern auch die Möglichkeit des sekundären Mitvollzugs einer Erfahrung und einer Praxis eröffnen« (Hirschauer/Amann 1997: 35). Dies erfordert, dass die Forschenden die Bedeutungen von Ereignissen erfassen müssen, was im Postulat der »dichten Beschreibung« von Clifford Geertz (1983) zum Ausdruck kommt (Breidenstein 2006: 24). Die Verbindung von Textproduktion und Erfahrungen der Forschenden erfordert während des gesamten Forschungsprozesses eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der Prozess der Analyse und der Beschreibung von Erfahrungen diese mit konstituieren.8 Zentral ist hierbei die Vorstellung, dass die Praktiken der Forschenden situierte Praktiken darstellen, die kontextspezifische und partikulare ›Wahrheiten‹ produzieren (Winter 2001: 44). In der Methodenliteratur häufig als selbstverständlich vorausgesetzt, stellt die Praxis des Anonymisierens oder des Beseitigens von Erkennbarem in der Ethnografie einen komplexen Prozess des Unkenntlichmachens dar. Es gilt, nicht nur personenbezogene Daten zu anonymisieren, um Persönlichkeitsrechte zu schützen, sondern auch Lokalitäten, Situationen, Technologien nachvollziehbar zu beschreiben, ohne Rückschlüsse auf Organisationen oder z.B. Kunden zu ermöglichen. Dabei müssen Anonymisierungspraktiken immer 7 | Ein grundsätzliches »Zugänglichkeitsproblem« (Reckwitz 2008: 1995 ff.) zur Erforschung sozialer Praktiken lässt sich aus meinen forschungspraktischen Erfahrungen nicht ableiten. Dass der Zugang zum Sozialen grundsätzlich unvollständig sein muss − für ›Forscher_innen‹ ebenso wie für ›Praktiker_innen‹ − lässt sich mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2006) im Sozialen selbst begründen: Das Soziale selbst hat kein Wesen, das Soziale ist in sich immer unvollständig. 8 | Siehe dazu die Debatte des writing culture-Ansatzes (perspektivisch: Holmes/Marcus 2007).

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wieder überprüft und neujustiert werden, denn mit zunehmender Kenntnis der Relevanzen des Feldes ändert sich auch der Bedarf an Beseitigung: Was gestern noch ein unwichtiger Name war, kann morgen schon ein bedeutendes Differenzierungskriterium im Feld sein. Auch bei Anonymisierungen ist die Distanzierung ein wichtiges Kriterium. Das ›Zu-Viel-Beseitigen‹ steht dem ›Zu-Wenig‹ gegenüber und muss in der Praxis immer wieder bewusst gemacht und überprüft werden.

E rkenntnisse aus der eigenen E rkenntnisstr ategie Im Rahmen der Studie über den Arbeitsalltag in einer Internetagentur konnte ich einige zentrale Erkenntnisse der Erforschung sozialer Praktiken aus dem ethnografischen Vorgehen gewinnen, die sich vor allem auf die Frage der Relevanz und des Akteurs richten. Im Forschungsprozess drängt sich von Beginn an immer wieder die Frage auf, wie Praktiken erkannt werden und wie vor allem die Grenzziehung zwischen relevanten und nicht-relevanten Praktiken auszumachen ist, denn für das zu untersuchende soziale Phänomen werden nicht alle Praktiken gleichermaßen relevant sein. Die praxistheoretische Perspektive setzt hier bei den Praktiken selbst an: Sie sind es, die anzeigen, wer oder was in welcher Weise für sie relevant ist. In Anlehnung an Ralf Bohnsack, der diesen Zusammenhang für menschliche Forschungsgegenstände beschrieben hat, kann formuliert werden, dass den sozialen Praktiken Gelegenheit gegeben werden muss, ihre Aktivitäten zu entfalten (Bohnsack 2008: 24). Erst wenn sie sich auch für die Forscher_in ereignen, können sie entdeckt werden. Dabei haben Praktiken eine andere Empirizität (Hirschauer 2004: 73), denn sie laufen immer schon, sind dabei vollständig öffentlich und beobachtbar. Es gilt, den sozialen Praktiken in den Handlungsfluss zu folgen (Hörning 2004: 22) und hier ihr Wirken zu analysieren. Im Mittelpunkt steht das Wirken, das Bewirken sozialer Praktiken. Da ihr Wirken immer unvollendet bleiben muss, einmal auf Grund ihrer Bewegung zwischen Wiederholung und Neuerschließung und des Weiteren auf Grund ihrer Verkettung zu Praktikenkomplexen (Reckwitz 2003: 294 f.), kann auch eine Erforschung ihres Wirkens nicht abschließend erfolgreich sein. Was wir hingegen analysieren und auch in Form von Phänomenen beobachten können, ist, was soziale Praktiken möglich machen bzw. wozu sie imstande sind, in der Internetagentur z.B. zur Konstruktion von Kollektivakteuren, zur Normalisierung von neuen Mitarbeitern oder zur Überordnung der männlichgrammatikalischen Form im gesprochenen Wort und in Texten. Praktiken eröffnen Möglichkeitshorizonte, innerhalb dessen sie sich ereignen können, innerhalb dessen angemessen und erwünscht gehandelt werden kann. Damit richtet sich der forschende Blick auf das, was möglich ist. Eine Analyse von

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Praktiken bringt demnach weniger Erkenntnisse über Vollzugswirklichkeiten, sondern über Möglichkeiten, innerhalb dessen Wirklichkeit vollzogen werden kann. Da soziale Praktiken sich nicht isoliert voneinander ereignen (Reckwitz 2003: 295), muss eine praxistheoretische empirische Forschung zum einen Komplexe von Praktiken als Komplexe erkennen, sowie die einzelnen Praktiken aus dem Komplex ›herauspräparieren‹ können. Dies ist notwendig, da der Praktikenkomplex über eine eigene innere Geregeltheit verfügt, die über die Logik der ›Einzel‹-Praktik hinausweist, sich vielmehr aus dem spezifischen Gewebe der lose miteinander verbundenen Praktiken ergibt (Reckwitz 2003: 295, Hillebrandt 2009: 83). Anderseits muss die Logik der ›Einzel‹-Praktik erkannt werden, um ihren eventuellen Verknüpfungen mit anderen Praktikenkomplexen folgen zu können. In der eigenen Untersuchung nahm das Analyseverfahren zur Klärung der Frage des ›Wie?‹ (vollziehen sich die relevanten sozialen Praktiken des Feldes) seinen Ausgangspunkt bei der von Reckwitz (2003) vorgeschlagenen Fundierung des Verständnisses sozialer Praktiken als ein typisiertes, routinisiertes und sozial verstehbares Bündel von Aktivitäten. Bevor in der Analyse jedoch davon ausgegangen werden kann, dass es sich um ein relevantes und zusammenhängendes ›Bündel‹ handelt und dass dieses sozial verstehbar – und soziologisch relevant – ist, spreche ich nicht von Praktiken, sondern von Aktivitäten. Der Begriff der ›Aktivität‹ wird hierbei zunächst auf alle Betriebsamkeiten im Feld angewandt. Dazu zählt menschliches Tun ebenso wie technologisches Auf blinken. So wurden in einer ersten Interpretationsphase zunächst die Forschungstagebücher nach ›Aktivitätssituationen‹ thematisch gegliedert. Der Begriff der ›Aktivitätssituation‹ verweist auf den Umstand, dass die Relevanz und Sinnhaftigkeit der hier vollzogenen Aktivität noch ungeklärt ist und man daher (noch) nicht von einem Ereignis sprechen kann (Hillebrandt 2009). Diese wurden nun zu Gruppen wiederkehrender Aktivitäten zusammengefasst, wie dies z.B. beim Unterschreiben von Glückwunschkarten der Fall war, wie die wiederholenden Einträge im Forschungstagebuch zeigen: »Wieder kommt ein Kollege (den ich noch von früher kenne) zum GeburtstagspappenUnterschreiben vorbei. Ob ich auch unterschreiben wolle, werde ich gefragt. ›Darf ich denn, auch wenn ich nicht bezahlt habe?‹ ›Ja, wenn Du zum Singen kommst.‹ Damit erkläre ich mich bereit und unterzeichne.« (FT007) »Wieder kommt ein Kollege vorbei mit einer Pappe (die gleiche Größe wie immer) zum unterschreiben. […] Philipp und auch ich unterschreiben. Ich kündige an, dass ich dann auch wieder singen werde.« (FT008)

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Die Aktivitätsgruppen wurden ausgewählt, um sie einer ausführlichen Interpretation zu unterziehen.9 Die Auswahl richtet sich auf erste erkennbare Relevanzen für den Arbeitsalltag. Zur Beurteilung der Relevanz der so gewonnenen Aktivitätsgruppen war es notwendig, ein Konzept von ›Relevanz‹ zu entwickeln, dass diese im Vollzug von Aktivitäten erkennen lässt. Hierzu entwickelte ich das Konzept des ›Zur-Bedeutung-Bringens‹, das sich auf die Hervorbringung von Bedeutung und ihrer Organisation, ihrer Anordnung bezieht. Der Vorgang ist nicht kognitiv-intentional oder reflexiv. Ob etwas Sinn ergibt oder wichtig wird, ›zeigt‹ sich im fortlaufenden Vollzug aufeinander bezogener Praktiken und weist dabei auf Angemessenheit und Erwünschtheit. Diese Konzeption von Sinn setzt sich von einem subjektiv gemeinten Sinnverständnis ab und verlegt den Fokus von Sinngehalten auf Sinnerzeugung. Sinnlos ist demnach eine unangemessene Aktivität, die irritiert, stört und zu Reflexionen herausfordert, sprich in der die Erzeugung von Sinn nicht reibungslos ablaufen kann. Relevante Aktivitäten lassen sich nun als soziale Praktiken beschreiben, die über die einzelne Situation hinaus Bestand haben und auch in anderen Situationen gleichermaßen Sinn ergeben. Die ausgewählten Aktivitätseinheiten werden zunächst einer formulierenden Interpretation unterzogen, indem eine Feingliederung der Handlungsvollzüge vorgenommen wird. Die zweite Phase zielt auf eine Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen sich die Praktiken ereignen. Hierzu wird weiteres Datenmaterial hinzugezogen. Für den Fall der Glückwunschkarten stellen sich hier die Fragen: Zu welchen Anlässen werden Glückwunschkarten unterschrieben, wie sehen die Karten aus, sind sie immer aus dem gleichen Material, wer kommt mit der Karte vorbei, geht er in jedes Büro, wer oder was erstellt die Karte usw. Dabei werden die Grenzen des Möglichen der Praktiken herausgearbeitet, die sich aus dem Angemessenen und Erwünschten ergeben. So war es für die untersuchte Internetagentur »völlig unmöglich«, eine gekaufte Karte zu verschenken, vielmehr musste es eine Karte sein, die von der Kreation eigens gestaltet wurde. Dies eröffnet einen geteilten Erfahrungsraum, innerhalb dessen sich Praktiken vollziehen können. Dieser Erfahrungsraum ergibt sich zum einen aus dem Wissen über die spezifische Anordnung der Praktiken und ihrer Abfolge und zum anderen aus dem Knowhow, wie die Praktiken auszuführen sind und wer weiter zu involvieren ist. Es handelt sich demnach nicht um einen konjunktiven Erfahrungsraum in einem engen Mannheimschen Sinne, sondern um einen ›praktischen Erfahrungsraum‹, der in den weiteren 9 | Das Interpretationsverfahren ist an die dokumentarische Methode der Interpretation (vor allem Bohnsack 2008) angelehnt. Bis dato steht eine Diskussion des Einsatzes der dokumentarische Methode, die sich mittlerweile als Forschungsprogramm versteht, für praxistheoretische Forschungen noch aus. Interessant wäre hier vor allem eine Diskussion des Verständnisses von ›Praxis‹ innerhalb der dokumentarischen Methode.

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Analysen ein zentraler analytischer Bezugspunkt bleibt. Im weiteren Verlauf der reflektierenden Interpretation wird nun die Organisation des Handlungsvollzugs rekonstruiert, die Frage, was die Vollzüge am Laufen hält (Hirschauer 2004). Hierbei werden verschiedene Praktiken miteinander verglichen, so dass es zu einer Abhebung vom einzelnen Vollzug kommt und die Verschränkung ineinander deutlich wird. Die Geburtstagskarte ist in weitere Aktivitäten eingebettet, wie man der interpretativen Beschreibung entnehmen kann: »Im Falle eines Geburtstages wird Geld eingesammelt und eine Karte (DIN A3 Präsentationspappe) zum Unterschreiben vorbereitet. Zuständig dafür ist der Büronachbar, wie mir durch einige Äußerungen deutlich wird. Wir erhalten einen Termin per Mail als Benachrichtigung, wann sich alle im Büro des ›Geburtstagskindes‹ einzufinden haben. Die meisten Mitarbeiterinnen gehen zum Büro des Gratulanten. Dieser sitzt auf seinem Platz. Alle anderen kommen in den Raum und versuchen einen Platz möglichst weit in Tür- und Wandnähe zu ergattern. Die Leiterin der Kreation bemerkt, dass wir jetzt anfangen könnten. Niemand singt. Sie zählt vor: ›Eins, zwei, drei‹. Alle singen verlegen und sehr tief ›Happy Birthday‹. Nach dem Singen wird geklatscht und eine große Geburtstagspappe […] und ein Geschenk […] überreicht. Sobald das Geschenk ausgepackt ist […] löst sich die gesamte Gruppe fluchtartig auf.« (IN002)

In der dritten Interpretationsphase werden die so am einzelnen Fall gewonnenen Erkenntnisse aufeinander bezogen und verschiedene Typen von Praktiken rekonstruiert, die als Praktikenkomplexe beschrieben werden können. Auch hier erfolgt die Interpretation gemäß einer komparativen Logik, bei der weitere Fälle als Vergleichshorizonte hinzugezogen werden. Innerhalb dieses Vorgehens werden demnach interpretative Verfahren bedeutsam, zum einen, um verschiedene Praktiken und Praktikenkomplexe voneinander getrennt betrachten zu können, und zum anderen, um das ›einfache Miteinandertun‹ von sozialen Praktiken zu unterscheiden. Denn nicht »jede Hantierung, nicht jedes Tun ist schon Praxis. Erst durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die soziale Praktiken ausmachen« (Hörning/Reuter 2006: 12). Es müssen demnach ›Regel-Mäßigkeiten‹ erkannt werden: dies einmal in einer Wiederholung des Vollzuges, aber auch in den zugrunde liegenden Kriterien und Maßstäben, die sich mit vollziehen. Interpretative Verfahren schaffen einen Zugang zu geteilten Kriterien und Maßstäben, auch solchen, die sich einer reflektierten Aussage entziehen bzw. nicht explizit geäußert werden (können). Kriterien und Maßstäbe sind in praxistheoretischen Forschungen allerdings nicht allein auf ›Objekte‹ gerichtet, sondern setzen auch beim Akteur an. Um dies zu elaborieren, ist es lohnend, sich an Schütz zu erinnern, denn mit Alfred Schütz lässt sich formulieren, dass zu unserem verfügbaren Wissensvorrat das Wissen darum zählt, dass die Welt, in der wir leben, eine Welt

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von mehr oder weniger genau umrissenen Gegenständen ist, zwischen denen wir uns bewegen, die uns widerstehen und auf die wir einwirken können. So machen wir Erfahrungen, die zu offenen Horizonten erwartbarer ähnlicher Erfahrungen werden können. Zu den Erfahrungen zahlreicher Soziologinnen und Soziologen gehört zunehmend, dass die Gegenstände ihrer Forschungsbemühungen eher weniger als mehr genau umrissen sind. Es wird zu einer erwartbaren Erfahrung, dass Grenzmarken theoretisch unschärfer werden, wie zwischen Männern und Frauen aber auch zwischen kognitiv-reflexivem Weltverstehen und unbewusst-körperlichem Welterfahren. Damit stellen sich Fragen z.B. nach dem, was einer Person wichtig ist, neu (Lengersdorf 2012). Denn weder haben wir ein umrissenes Wissen über die ›Person‹ an sich, noch können wir davon ausgehen, dass dieser ›Person‹ ihr Wissen um die Wichtigkeiten ihrer Welt kognitiv oder gar sprachlich verfügbar ist. Mit den Praxistheorien wird es möglich, noch vor dem Erleben und Erfahren anzusetzen und die Analysen mit dem Ereignen zu beginnen: dem Ereignen sozialer Praktiken (Hillebrandt 2009: 54). Praxistheorien setzen demnach am Ereignen von Sozialität an, sie analysieren die konstitutiven Ereignisse der Sozialität. Forschungsstrategisch hat dies den Vorteil, dass ›Ereignen‹ die Forscherin nicht nötigt, die Lebenswelt von Personen aus – ob von der eigenen Person oder den Personen des Untersuchungsfeldes – zu erkunden, sondern selbst diese wahrgenommenen Personen als Kreuzungspunkte unterschiedlicher Wissensbestände zu rekonstruieren. Akteure existieren in dieser Perspektive nur im Vollzug der Praktik. Man könnte formulieren, dass jede Praktik eine andere Stromlinienform anfordert. ›Stromlinienförmig‹ ist nicht als Disposition einer Person oder als Persönlichkeitsmerkmal zu verstehen, sondern als Handlungsanforderung. Soziale Praktiken produzieren subjektive Eigenschaften bzw. spezifische Subjektformen (Reckwitz 2008b: 135). Eine Ethnografie praxistheoretischer Provenienz setzt demnach nicht an der Welterfahrung von Akteuren, ihrer subjektiven Perspektive an, sondern weitet das Postulat des ›Erkundens‹ auch auf ebendiese Akteursformationen aus. Denn nicht jeder Akteur verfügt über das praktische Wissen und Können, um sich in die relevanten Praktiken des Feldes involvieren zu lassen. Die Frage, ob etwas oder jemand in Praktiken involviert wird, ist dann eine Frage des Passend-seins (Reuter/Lengersdorf 2015; Lengersdorf/Motakef 2010). Wie voraussetzungsvoll die Erzeugung einer Passung und von ›persönlichen‹ Merkmalen ist, können wir den Erkenntnissen der Geschlechterforschung oder den Postcolonial Studies entnehmen. Mit dem Verweis auf weitere praxistheoretische Forschungsbereiche, vor allem jenen, die sich als interdisziplinär verstehen, möchte ich mit der Frage anschließen, ob nicht gerade die lose Verbindung der Theorien sozialer Praktiken ermöglichend auf den Forschungsprozess wirkt. Dies einmal, da sie eine Heterogenität der theoretischen Zugänge zu den Forschungsgegenständen

Ethnografische Erkenntnisstrategien zur Er forschung sozialer Praktiken

gewährleistet. Und des Weiteren, da so eine immer wieder aufs Neue stattfindende Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Rahmen und eine immer wieder neue Standortbestimmung in dem sich aufziehenden Feld gesichert bleiben (Hillebrandt 2009: 12). Nur so, um mit Stefan Hirschauer zu sprechen, können wir überhaupt Schritt halten mit der Raffinesse und dem Reichtum an Varianz, mit der kulturelle Praktiken unseren Forschungsgegenstand erfinden (Hirschauer 2004: 89). Die Produktivität der Art und Weise, wie Theorien sozialer Praktiken miteinander verbunden sind, als »ein Bündel von Theorien mit ›Familienähnlichkeit‹« (Reckwitz 2003: 283) stimmt einen skeptisch gegenüber den Bemühungen, eine Praxistheorie zu entwickeln.

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Praktiken kartografieren Was bringt Clarkes Situational Analysis für Praxeografien? Göde Both

Adele E. Clarkes Situational Analysis ist im deutschsprachigen Raum angekommen. Davon zeugen die Erwähnung von Situational Analysis in aktuellen Lehrbüchern (vgl. Keller 2012; Strübing 2013) und die Übersetzung (2012) ihres Hauptwerkes »Situational Analysis: Grounded Theory After the Postmodern Turn« (2005). Bislang erfolgte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Situational Analysis im deutschsprachigen Raum überwiegend1 im Rahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (vgl. Keller 2013; Truschkat 2013). Damit konzentriert sich die Rezeption auf die Integration von Methoden zur Analyse von Diskursen in die Grounded-Theory-Methodologie (GTM). Rainer Diaz-Bone (2013) kritisiert beispielsweise, dass Michel Foucaults Diskurskonzeption nur unzureichend von Clarke umgesetzt wird, weil Situational Analysis die pragmatistischen Grundlagen der GTM beibehält. Die Integration der Analyse narrativer, visueller und historischer Diskurse in die GTM stellt ohne Zweifel einen der Hauptpunkte der Situational Analysis dar. Durch die Fokussierung der Rezeption auf den Umgang mit Diskursen geraten andere Aspekte außer Blick, insbesondere die Potenziale der Situational Analysis für Praxeografien (zum Konzept vgl. Knecht 2012), der ethnografischen Untersuchung von Praktiken. Die Organisatorinnen der Tagung »Methoden einer Soziologie der Praxis« regten mich dazu an, Clarkes Werk mit einer gänzlich anderen Frage zu konfrontieren: Welche(n) Nutzen und Mehrwert haben ihre methodischen Vorschläge für Praxisforschungen? In diesem Beitrag2 geht es weniger um die theoretische Begründung3, sondern um den praktischen Nutzen der Situations1 | Ein Beispiel für eine Rezeption aus den deutschsprachigen STS ist Tom Mathars Rezension in der Zeitschrift Forum: Qualitative Sozialforschung (2008). 2 | Ich danke Vanessa Krogmann sehr für das aufmerksame Lesen des Manuskripts und die wertvollen Korrekturvorschläge. 3 | Hierfür verweise ich auf die ersten beiden Kapitel in Clarke (2005) und ein Interview von Keller mit Clarke (Clarke 2011).

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analyse als Planungs-, Orientierungs-, und Analyseinstrument für die empirische Praxisforschung. Insbesondere beschäftige ich mich mit der Frage, ob Adele Clarkes drei wichtigste Karten-Typen (messy map, social worlds/arena map und positional map) ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse von Praktiken bieten. Praxistheorie hat traditionell einen Schwerpunkt im Diskussionszusammenhang der transdisziplinären Science, Technology, Society oder Science & Technology Studies (im Folgenden STS). Auch die Situational Analysis kann in diesem Kontext verortet werden. Dies wird zum einem deutlich durch Clarkes Bezüge zu STS durch ihre eigenen Publikationen in diesem Feld und zum anderem durch ihre Auszeichnung mit dem »J. D. Bernal Prize for Outstanding Contributions« durch die Society of Social Studies of Science im Jahre 2012. Es liegt folglich nahe, Clarkes Werk in Bezug auf STS zu diskutieren. Ich möchte dies in diesem Beitrag nicht nur konzeptionell leisten, sondern auch anhand eines empirischen Beispiels ihren Gebrauchswert aufzeigen. Mein Zugriff auf die Situational Analysis ist bedingt durch meine Sozialisation in der Informatik und mein laufendes Forschungsprojekt, einer Praxeografie der Forschung an selbststeuernden Autos. Aus diesem Grund illustriere ich Clarkes Ansatz mit »Schnappschüssen« aus dem Analyseprozess. In diesem Beitrag verwende ich bewusst die englischsprachigen Originalbegriffe, die ich kursiv auszeichne. Bei der Übersetzung ins Deutsche gehen viele sprachliche Nuancen verloren und es finden ungewollte Bedeutungsverschiebungen statt. Zum Beispiel indem Situational Analysis mit »Situationsanalyse« (Clarke, 2012) übersetzt wird, übersieht man, dass situational u.a. die Situationsbedingtheit der Analyse betont. Außerdem führt die Übersetzung »Situationsanalyse« leicht zu einer Verwechslung mit militärischen, betriebswirtschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Vorgehensweisen, die situation analysis genannt werden. In den Fällen, wo mir eine Übersetzung weniger problematisch erscheint, habe ich die Originalbegriffe in Klammern angefügt, weil ich mit der englischsprachigen Ausgabe (Clarke 2005) und nicht mit ihrer deutschen Übersetzung (2012) arbeite.

D ie E rweiterung der G rounded -Theory -M ethodologie Bis zu ihrer Emeritierung war Clarke Soziologie-Professorin an der University of California in San Francisco. Mit ihrer Berufung beerbte sie 1989 den Lehrstuhl ihres Doktorvaters Anselm Strauss. Sie betrachtet, wie im Untertitel ihres Buches »Situational Analysis: Grounded Theory after the Postmodern Turn« deutlich wird, ihren Ansatz als eine Erweiterung des Forschungsstils der GTM. Ihren Ansatz entwickelt sie aus der eigenen empirischen Forschungspraxis und

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der Betreuung von Dissertationen4 an der Schnittstelle von STS, Public Health, Medizinsoziologie und Feminist Studies. Gerade letzteren Forschungs- und Diskussionszusammenhang hat sie in Zusammenarbeit mit anderen feministischen Forscherinnen, wie Susan Leigh Star und Joan Fujimura, verfolgt. Star und Clarke, die beide bei Strauss studierten, sahen einen Weiterentwicklungsbedarf der GTM. Clarke macht dies an einer Reihe von Problemen fest. So sei die GTM zum Teil in den positivistischen Wurzeln ihres Entstehungskontextes in den 1950er und 1960er Jahre behaftet. Dies gilt auch für die Annahmen, GTM-Forscher*innen könnten und sollten unsichtbar sein oder die naive Auffassung, den Ungehörten eine Stimme aus ›ihrer‹ Perspektive zu geben (Clarke 2005: 11). Untersuchungen im Stile der GTM neigten dazu, simplifizierende und universalisierende Meistererzählungen zu produzieren, indem Gemeinsamkeiten und Kohärenz im Sample betont werden, ›abweichende‹ Fälle jedoch als Ausreißer bzw. negative Fälle interpretiert werden. Kurzum, Clarke kritisiert einen grundsätzlichen Mangel an Reflexivität in Bezug auf den Forschungsprozess und deren Ergebnisse, aber auch ein Defizit in der Repräsentation von Verschiedenheit (difference), Komplexität und Multiplizität bei der klassischen GTM. Die Erweiterung der klassischen GTM um die Analyse von visuellen, narrativen und historischen Diskursen, hat nicht nur das Ziel, dem gegenwärtigen Trend zu multi-sited Forschungen gerecht zu werden. Es geht vor allen Dingen darum, das erkennende Subjekt (knowing subject) als privilegierte Datenquelle zu dezentrieren. Explizit verweist sie hier auf das Werk von Michel Foucault, um eine Konzeptionalisierung von Diskursen sowohl auf der Meso-Ebene als auch in der historisch-institutionsübergreifenden Weise zu entwickeln (2005: 52 ff.). Konzeptionell bleibt sie jedoch im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus, den sie als Bestandteil ihres Theorie-Methoden-Pakets (theory/methods package) begreift. Doch es sind nicht nur die theoretischen Probleme und Lehrstellen der klassischen GTM, welche sie durch die Situational Analysis lösen bzw. füllen möchte. Ihre methodischen Vorschläge versprechen auch Erlösung vom Gefühl der Überforderung, welches sich bei Forschenden während laufender qualitativer Untersuchungen einstellen kann. Situational Analysis ermöglicht es, den scheinbar unübersichtlichen Berg an Datenmaterial und möglichen Forschungsfragen strukturiert zu visualisieren. Wenn die Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand der zentrale Grundsatz und die Stärke qualitativer (Sozial-)Forschung ist, ergibt sich zugleich die Schwierigkeit, den Forschungsprozess nur unzureichend planen zu können. Clarke entwickelt 4 | Eine umfangreiche Liste mit Veröffentlichungen, die mit der Situational Analysis arbeiten, findet sich auf dem Blog von Clarke: http://clarkessituationalanalysis.blog​spot.de/p/ sa-in-action.html

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Vorschläge, um die Übersicht und Kontrolle über das Datenmaterial und den Forschungsprozess zurück zu erlangen, aber zugleich den so wichtigen Prozess der Generierung und Verwerfung von Hypothesen zu unterstützen und zu dokumentieren.

D ie situational matrix : K onte x te anders denken und erforschen »There is no such thing as ›context‹« (C larke 2005: 71).

Deutlich zeigt sich die Abgrenzung zur klassischen GTM auch in der Verschiebung des Untersuchungsgegenstands vom »basic social practice« (der klassischen GTM) hin zur »situation of action« (ebd.: 66) von Situational Analysis. Doch was genau meint sie mit ›Situation‹? Dieser Begriff ist bewusst »elastisch« (Clarke, 2011:  120) gehalten. An einer der wenigen Stellen, an denen sie ihr Verständnis von Situation expliziert, schreibt sie: »Situations, then, are particular configurations of conditions – temporal, geographic, interactional, sentimental, and so on« (2005: 298). Erstens ihr Konzept von Situation ist ein relationales. Die Beziehungen der Elemente untereinander machen eine Situation aus. Zweitens was eine Situation konstituiert, wo sie anfängt und aufhört, ist für sie eine »empirische Frage« (2011: 120). Das heißt, ihre Grenzen werden bestimmt durch das konkrete Forschungsprojekt, die Untersuchungssituation, das Datenmaterial und ihre Analyse. Auch wenn Clarke den Begriff ›Kontext‹ ablehnt, handelt es sich bei ›Situation‹ nur um eine besondere Metapher für Kontexte. Mit Sampsa Hyysallo (2010) halte ich es für erhellend, ›Situation‹ als ein spezifisches Verständnis von ›Kontext‹ zu begreifen. Mit der Vermeidung des Kontextbegriffes stellt sich Clarke in das irreduktionistische Programm von STS (siehe dazu Asdal/Moser 2012). Irreduktionismus tritt einer Reduzierung von Aktanten und Akteuren auf äußere oder gar unsichtbare Faktoren (z.B. ›Gesellschaft‹, ›Kapitalismus‹, ›Kultur‹ oder ›Natur‹) entgegen. Beispielsweise verbietet es sich, naturwissenschaftliche Fakten sozialwissenschaftlich zu erklären, indem man sie auf etwas zurückführt, was außerhalb der Praktiken liegt, in denen sie produziert werden. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Auch die Naturgesetze müssen, um ein Teil einer sozialwissenschaftlichen Erklärung naturwissenschaftlicher Fakten zu werden, als Effekte und Aktanten der Praktiken verstanden werden und nicht als äußere Faktoren. Clarke grenzt sich mit ihrer Verwendung von Situation als einer Metapher für Kontext von Strauss/Corbins conditional matrix (Strauss, Corbin, 1990: 163) ab. Strauss/Corbin gehen von einer zwiebelartigen Struktur des Kontextes aus,

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welche das soziale Phänomen umgibt. Kontext wird dabei in Form von Schichten gedacht, welche das lokale Phänomen mit den globalen Bedingungen verknüpfen. Hieraus ergibt sich das methodische Problem, wie sich empirisch die Verbindung zwischen dem sozialen Prozess und dem umgebenen Kontext untersuchen lässt: Wie beeinflusst der Kontext das Handeln und umgekehrt, wie bringt das Handeln den Kontext hervor? Zugleich stellt sich die Frage, wie sich bestimmen lässt, welche globalen Bedingungen für das spezifische soziale Phänomen (ir-)relevant sind. Clarke geht mit dem irreduktionistischen Programm einen anderen Weg, der sich mit der Analogie zu einem Gewebe veranschaulichen lässt. Für sie sind die Bedingungen der Situation in der Situation verwoben (2005: 71). Mit ihrer situational matrix entwirft sie ein Gegenmodell zu Strauss/Corbins conditional matrix. Abbildung 1: Situational matrix angelehnt an Clarke (2005; 2012)

Clarke fasst in ihrer situational matrix eine Liste von heterogenen Elementen und Diskursen (vgl. Abb. 1). Der Kreis mit der gestrichelten Linie deutet die imaginäre Grenze der Situation an. Ausgehend von der Annahme, die kontextuellen Elemente befinden sich in der Situation, fragt sie: »How do these conditions appear – make themselves felt as consequential – inside the empirical

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situation under examination?« (Clarke 2005: 72) Der empirischen Frage, wie sich die Elemente in der Situation bemerkbar machen, kann mit den Karten nachgegangen werden, die ich im folgenden Abschnitt vorstellen werde. Inwiefern trägt nun die situational matrix zur Darstellung von Komplexität bei? Ich möchte hier lediglich zwei Konzepte hervorheben: die implizierten bzw. stummen (implicated/silenced) Akteure/Aktanten und die nicht-menschlichen Elemente. In einem Interview sagt Clarke, sie habe den Ausdruck der ›Nichtmenschlichen‹ (nonhumans) lediglich von der Akteur-Netzwerk-Theorie (im Folgenden ANT) »geklaut« und der Bezug zur ANT sei ansonsten »minimal« (2011:  116). Die Situational Analysis begnüge sich damit, die Bedeutung von Dingen für das soziale Geschehen anzuerkennen, wie dies bereits in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus getan wurde. Konzepte der ANT 5, wie etwas das der Übersetzung (translation), des reversiblen blackboxing und der Reinigung/Hybridisierung, finden keinen Eingang. Mit dem Konzept der implizierten bzw. stummen Akteure/Aktanten erfasst Clarke jene Akteure/Aktanten, die keine eigene ›Stimme‹ in der Situation haben, für die jedoch die Aktivitäten der sozialen Welten folgenreich sind. Clarke unterscheidet zwischen zwei Arten von stummen Akteuren/Aktanten (2005: 46). Erstens jene, die physisch präsent sind, jedoch von machtvolleren Elementen unsichtbar gemacht werden, und zweitens jene, die nur zum Zwecke von anderen diskursiv konstruiert werden. Die Berücksichtigung nicht-menschlicher Elemente sowie stummer oder implizierter Akteure/Aktanten erhöhen die Komplexität der Darstellung.

Die Karten der Situational Analysis In ihrem Buch präsentiert sie fünf verschiedene Typen von Karten: messy situational map, ordered situational map, social worlds/arena map, positional map und project map. Für diesen Buchbeitrag habe ich entschieden, mich auf die Darstellung der aus Clarkes Sicht wichtigsten Karten-Typen (messy situational map, social worlds/arena map, positional map) zu beschränken. Bei den beiden übrigen handelt es sich um einen abgeleiteten Typ (ordered situational map) und eine Misch-Form (project map). Gemein haben alle diese Karten, dass sie immer nur als analytische Schnappschüsse verstanden werden. Sie dienen weniger der Präsentation von Befunden – wobei ich dies auf einer Konferenz 5 |  Nach Clarke und Susan Leigh Star (2008) unterscheiden sich Situational Analysis und ANT in ihren analytischen Ausrichtungen. Situational Analysis erlaube beispielsweise Studien, die Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen sozialen Welten über größere Zeiträume untersuchen. Die analytischen Vorzüge von ANT lägen hingegen darin, entstehende Verknüpfungen zu erfassen, welche sich dann unter Umständen zu sozialen Welten verfestigen können.

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erlebt habe –, sondern in erster Linie als Prototyp, welcher im Laufe des Forschungs- und Analyseprozesses iterativ weiterentwickelt wird. Die Karten können sowohl mit Stift und Papier als auch mit einer geeigneten Software erstellt werden. In meiner eigenen Erfahrung bevorzuge ich jedoch eine Mischung von beidem. Computer machen nicht nur die Archivierung von Diagrammen leichter, sie bieten auch die Möglichkeit, Elemente der Karten schnell neu zu positionieren. Eine spezielle Software für Situational Analysis gibt es zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht. Es wäre sicherlich wünschenswert, wenn Programme zur computergestützten, qualitativen Datenanalyse die Karten mit den passenden Stellen im Datenmaterial verknüpfen könnten. Ich schätze persönlich jedoch den spielerischen Umgang mit den Karten auf Papier. Ich erstelle meine Exemplare mit der Software »Draw« aus der freien Produktivitätssuite LibreOffice (Document Foundation, 2014).6 Um den Gebrauchswert der Karten zu demonstrieren, habe ich mich entschlossen, Schnappschüsse aus meiner eigenen laufenden Forschung zu verwenden. Ich betone, dass es sich bei den nachfolgenden Beispielen nur um erste, vorsichtige Interpretationen handelt, weil mein Projekt noch nicht abgeschlossen ist. Im Rahmen dieses Projektes untersuche ich anhand einer akademischen Arbeitsgruppe, wie die Forschung an selbststeuernden Autos vollzogen (enacted) wird. Unter selbststeuernden Autos, auch autonome Fahrzeuge oder fahrerlose Autos genannt, verstehe ich Roboter in Gestalt modifizierter PKWs. Diesen Robotern wird zugeschrieben, dass sie »autonom« – d.h. ohne menschliche Einwirkung – am Straßenverkehr teilnehmen können. Der Gegenstand meines Projektes sind die materiell-diskursiven Praktiken (zum Konzept siehe Barad 2007) der Forschung an selbststeuernden Autos, beispielsweise die Praktik der Erprobungsfahrt im alltäglichen Straßenverkehr. Um die materiell-diskursiven Praktiken zu untersuchen, bediene ich mich einer praxeografischen Forschungsstrategie. Die Daten, die ich generiere und akkumuliere, kommen aus unterschiedlichen Quellen: Teilnehmende Beobachtung, Videografie, ethnografische Interviews und Dokumente (Videos, Websites, Artikel, Qualifikationsarbeiten, Radiobeiträge usw.), die einen Bezug zur Arbeitsgruppe aufweisen.

6 | LibreOffice, welches aus OpenOffice hervorgegangen ist, entspricht grob dem Leistungsumfang von kommerziellen Produktivitätssuites, wie dem dominierenden Microsoft Office. Im Gegensatz hierzu ist LibreOffice jedoch für alle aktuell gängigen DesktopBetriebssysteme verfügbar und kann gebührenfrei genutzt werden. Diese Graphiken lassen sich auch mit kommerziellen Produkten wie Microsoft PowerPoint oder Microsoft Visio erstellen. Ich empfehle, sich für das Programm zu entscheiden, mit dem man am besten vertraut ist, sodass das kreative und reflexive Arbeiten mit den Karten nicht durch lästiges – wie ging das jetzt noch einmal? – gestört wird.

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Relationale Analysen mit messy situational maps Die erste Karte, die ich vorstellen möchte, ist die messy situational map. Hier habe ich eine Auswahl der wichtigsten Elemente der Situation versammelt. D.h. alle Elemente, die einen Unterschied (make a difference) innerhalb der Situation machen. Zu Beginn habe ich sowohl die Elemente, die von Interviewpartner*innen und anderen Mitgliedern des Feldes selbst thematisiert werden, eingefügt, als auch diejenigen Elemente, die nach meiner vorläufigen Einschätzung als Analyst unbedingt dazugehören. Hierzu ist es hilfreich, die Kategorien der situational matrix durchzugehen und sich zu fragen, ob noch Elemente übersehen wurden. Dabei verwende ich sowohl theoretische als auch in-vivo Kodes. Eine messy situational map ist immer eine vorläufige. Im iterativen Prozess der Kartenerstellung konnte ich dann verfolgen, dass bestimmte Elemente auftauchen und verschwinden. Einige Elemente habe ich zusammengefasst, andere dagegen ausdifferenziert. Der Prozess der Kartenherstellung wird durch intensives Erstellen von Memos begleitet, um wichtige Einsichten nicht zu verlieren. Aus diesem Grund habe ich die Karten immer archiviert, um zu einem späteren Zeitpunkt analytische Entscheidungen nachvollziehen zu können. Auch wenn das Kartografieren bereits eine analytische Übung ist und hilft, das Datenmaterial »aufzubrechen« (break up), so dienen messy situational maps ferner als Basis für relationale Analysen (vgl. Abb. 2). Dazu drucke ich mir die Karte aus. Ich beginne ein Element auszuwählen und kreise es mit einem Stift ein. Nun frage ich mich, was das bereits generierte Datenmaterial über die Beziehung dieses Elementes zu den einzelnen anderen Elementen aussagt. Wenn sich im Datenmaterial Hinweise finden lassen, verbinde ich sie mit einer Linie. Dann versuche ich die Beschaffenheit und Ausprägungen dieser Verbindung zu beschreiben. Hierzu empfiehlt Clarke ein Audioaufnahmegerät zu verwenden, um so eine spätere Verschriftlichung zu erleichtern. Danach gehe ich jedes weitere Element durch. Am Ende wird klar, wo im Datenmaterial Beziehungen hergestellt werden und wo nicht. Messy situational maps können so helfen, eine Auswahl zu treffen, welchen Erzählungen und Beziehungen ich weiter folgen möchte. Zugleich unterstützen sie die Planung von Artikeln/Kapiteln und das theorieorientierte sampling (theoretical sampling). Sie helfen zu spezifizieren, welches Datenmaterial noch benötigt wird, um offene Fragen zu beantworten. Sie können aber auch als Platzhalter für Fragen dienen, die vorerst unbeantwortet bleiben und möglicherweise erst später bearbeitet werden.

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Abbildung 2: Messy situational map als Beispiel für eine relationale Analyse mit dem Fokus auf Erprobungsfahrten

Da in Clarkes situational matrix Praktiken keine eigene Kategorie bilden, mich aber die materiell-diskursiven Praktiken als analytische Einheit interessieren, habe ich der messy situational map Praktiken hinzufügt (Erprobungsfahrten, die Kontrolle »übergeben« und das Forschungsfahrzeug präsentieren). Dabei habe ich mich von Clarkes ehemaliger Doktorandin Carrie Friese inspirieren lassen (vgl. Clarke 2013). In meiner Beispielkarte habe ich eine relationale Analyse mit Fokus auf die Praktik Erprobungsfahrten durchgeführt (vgl. Abb. 2). Als Datenbasis dienen mir hier Beobachtungsprotokolle, Videomaterial und mein Immersionswissen. Unter Erprobungsfahrt verstehe ich die Routine, in der das Forschungsfahrzeug mit seinen IT-Systemen während einer Fahrt im Straßenverkehr von zwei Mitgliedern der Arbeitsgruppe auf Funktionstüchtigkeit überprüft wird. Unter praxistheoretischer Perspektive sind die beiden Akteure als Produkte von Praktiken zu verstehen. Ihre Eigenschaften leiten sich aus den Anforderungen ab, die Praktiken an sie stellen (Lengersdorf 2011). Neben einer großen Anzahl nicht-menschlicher Aktanten erfordern Erprobungsfahrten zwei menschliche Akteure, für die mehr oder weniger klar abgegrenzte »Rollen« (Callon 2006) definiert sind: der 7 »Sicherheitsfahrer« am 7 | Während meiner bisherigen Beobachtungen habe ich nur männliche Sicherheitsfahrer und Co-Piloten erlebt.

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Steuer des Autos und der »Co-Pilot« am Laptop. Die relationale Analyse mit messy situational maps ermöglicht es, die Verkörperung und zeitlich-räumliche Situierung von Praktiken zu analysieren. Die relationale Analyse veranschaulicht nicht nur, wo sich  – möglicherweise unerwartete – Verbindungen im Datenmaterial ergeben, sie zeigt auch auf, wo sich keine Zusammenhänge erkennen lassen oder aber für welche Beziehungen bisher kein belastbares Datenmaterial generiert wurde. Die diskursive Konstruktion des Selbstbildes der Forschungsgruppe habe ich mit dem vorläufigen Konzept »High-Tech Cowboys« belegt.8 Dieses Selbstbild konnte ich in der Analyse von Interviews und Video-Demonstrationen rekonstruieren. Überraschenderweise lassen sich in meinen Beobachtungsprotokollen und Videoaufnahmen von Erprobungsfahrten keine expliziten Verbindungen zu diesem vorläufigen Konzept nachweisen. Wenn ich das Konzept »High-Tech Cowboys« weiterverfolgen möchte, muss ich entsprechend weiteres Datenmaterial generieren, um überprüfen zu können, ob es in dieser Praktik Relevanz erhält. Die relationale Analyse zeigt mir so auf, wo sich die Leerstellen in meinem Datenmaterial befinden und unterstützen so die Planung des theorieorientierten samplings. Doch wann weiß ich, dass meine Karte »fertig« ist? Das heißt, dass die Elemente auf der Karte  – empirisch belastbar  – einen Unterschied machen in der Situation? Die Antwort lautet wie in der klassischen GTM: Sättigung. Durch den iterativen Prozess der Kartenerstellung und -modifikation soll sich Clarke zu Folge im Laufe des Forschungsprozess immer weniger ändern. Wenn keine Elemente mehr dazu kommen oder verschwinden, ist eine Sättigung erfolgt. Während die relationale Analyse die Beziehungen einzelner Elemente der Situation untereinander erhellt, konzentriert sich die social worlds/arena/discourses analysis, zu der ich nun komme, auf das kollektive Handeln (collective action).

Social worlds/arena maps: Kollektives Handeln analysieren In einer arena map werden die wichtigsten sozialen Welten innerhalb der Situation erfasst. Sie erhalten Relevanz, indem sie die Diskurse innerhalb der Arena produzieren und an den kollektiven Aushandlungsprozessen beteiligt sind. Soziale Welten sind für Clarke Diskursuniversen (universes of discourse). Soziale Welten konstituieren Diskurse und werden durch diese aufrechterhalten. Ihre Grenzen können – müssen aber nicht – mit den Umrissen konkreter Organisationen übereinstimmen. Die arena map hält alle vorkommenden kollektiven Akteure fest und ebenso die Arena oder die Arenen, auf die sie sich beziehen, das heißt, die Arenen, in denen die kollektiven Akteure in fortlaufen8 | Insgesamt ist die Forschung an selbststeuernden Autos ein von Männern dominiertes Feld.

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den Aushandlungen engagiert sind. Das kollektive Handeln zeigt sich jedoch nicht nur in sprachlichen Diskursen, sondern auch in der Domestikation und Herstellung von nicht-menschlichen Aktanten – insbesondere Technologien. Kollektives Handeln wird als ein »people doing things together« (Becker z.n. Clarke/Star 2008: 113) verstanden. Mit der arena map will Clarke den Gegensatz von Struktur und Prozess (structure/process) und die Binarität von modernistischen und postmodernistischen Konzeptionen des Sozialen vermeiden (Clarke 2005: 109–110). Clarke stellt damit holzschnittartig die modernistische Fokussierung auf erkennende Subjekte und ein essentialisiertes Objektverständnis einerseits und die postmodernistische Fragmentierung und Zusammenhangslosigkeit des Sozialen andererseits gegenüber. Clarke geht davon aus, dass es vermittelnde und unerbittlich soziale Räume und Orte (relentlessly social spaces and places) gibt, welche durch die social worlds/arena/discourses analysis erfasst werden können. In einer arena map geht es jedoch nicht um die Repräsentation von Diskursen, sondern die Visualisierung kollektiven Handelns. Abbildung 3: Social worlds/arena map – die Arena der Forschung & Entwicklung der Robotik und Künstlichen Intelligenz

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Die Arena habe ich Forschung & Entwicklung (FuE) der Robotik und Künstlichen Intelligenz (KI) genannt (vgl. Abb. 3). Dem liegt eine analytische Entscheidung zu Grunde, dass ich der Selbstpositionierung der Forschungsgruppe folge, welche durch die institutionelle Verortung innerhalb einer universitären Arbeitsgruppe der Robotik/KI gegeben ist. Tatsächlich gibt es noch eine zweite Arena, die FuE der Fahrzeugautomatisierung. Zu Illustrationszwecken habe ich die Darstellung vereinfacht. Die Arena FuE der Robotik/KI ist eingebettet in die Domäne (domain) FuE Technologie in Deutschland. Auch hier habe ich eine bewusste Simplifizierung vorgenommen. Mit dieser Entscheidung werden die trans- bzw. internationalen Zusammenhänge der FuE der Robotik/ KI ausgeblendet, mit denen die Mitglieder der Gruppe, sei es durch Auslandsaufenthalte, Gastwissenschaftler*innen, Wettbewerbe oder Konferenzen verbunden sind. Die Forschungsgruppe befindet sich in der Schnittmenge von universitärer Forschung und privatwirtschaftlicher FuE, also bei den Automobil-Zulieferern und -Herstellern. Durch die Überlappung (vgl. Abb. 3) bilde ich u.a. die doppelte Zugehörigkeit von Doktorand*innen ab, welche zwar von der Privatwirtschaft bezahlt werden, aber im Rahmen ihrer Promotion auch Teil der Arbeitsgruppe sind. Die gepunkteten Linien verweisen auf die relative Durchlässigkeit sozialer Welten. Für Clarke besteht in der Erstellung einer arena map bereits ein analytischer Akt, indem gefragt werden muss, welche sozialen Welten in die Aushandlungsprozesse involviert sind. In meinem Beispiel zeigt sich, dass Akteure, die sich dem Automobilismus in Deutschland verweigern, nicht am kollektiven Handeln beteiligt sind. Die individuellen Akteure der Gruppe »anderen Verkehrsteilnehmer*innen«, wie ich sie in der messy situational map (Abb. 2) genannt habe, gehören keiner spezifischen sozialen Welt an, die in dieser Arena vertreten ist. Mit der social worlds/arena map kann ich Memos erstellen, indem ich jede soziale Welt im Detail beschreibe (vgl. Clarke 2005: 115): Was sind die gemeinsamen Verpflichtungen (committments) einer sozialen Welt? Wie beschreibt sich die soziale Welt selbst und andere in der Arena? Welche Technologien werden von ihr produziert und/oder angeeignet? Welche Varianz gibt es innerhalb einer sozialen Welt und zwischen ihnen? Anschließend gehe ich zur Arena über und frage mich, was der Fokus jener ist und welche Kontroversen bzw. Debatten in ihr geführt werden. Da es unmöglich ist, alle Geschichten zu erzählen, hilft die arena map dabei auszuwählen, welchen ich folgen möchte. Im Folgenden werde ich das umstrittene Thema der Akzeptanz autonomen Fahrens skizzieren. Hierzu bietet Clarke einen weiteren Karten-Typ, die positional map.

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Positional maps: das erkennende Subjekt dezentrieren Mit der positional map können unterschiedliche Positionen im Datenmaterial zu umstrittenen Themen (contested issues) sprecher*innenunabhängig dargestellt werden (ebd.: 125 ff.). Clarke zu Folge kann dieser Karten-Typ nicht nur zur Analyse von Materialien aus ›klassischer‹ Feldforschung, wie in etwa Beobachtungsprotokolle und Interview-Transkripte, dienen, sondern auch für historische, narrative und visuelle Diskurse. In meinem Beispiel greife ich zusätzlich zu meinen Beobachtungsprotokollen und Interview-Transkripten noch auf Veröffentlichungen in den Medien zurück, die im Zusammenhang mit den Praktiken der Arbeitsgruppe stehen, auf die ich in meiner Forschung fokussiere. Das umstrittene Thema, welches ich als Beispiel vorstellen möchte, dreht sich um die Frage, ob autonomes Fahren ein wünschenswertes und erstrebenswertes Ziel ist. Es geht folglich um die Legitimitätsansprüche dieser Forschung. Mit dieser Rahmung des Themas nehme ich eine agnostische Haltung gegenüber der Frage ein, ob autonomes Fahren im alltäglichen Straßenverkehr technisch und politisch realisierbar ist. Unabhängig davon gilt mein Interesse eher dem Widerstreit in der Konstruktion soziotechnischer Zukünfte. Ich gehe davon aus, dass Zukünfte, so unwahrscheinlich sie auch sein mögen, auch dann ihrer Gegenwart wirkmächtig sein können. Ob der Traum von selbststeuernden Autos jemals in Erfüllung gehen kann, ist für mich sekundär. Abbildung 4: positional map – Akzeptanz in Abhängigkeit zum Automatisierungsgrad

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Die Positionen sollen in der Sprache des Feldes (on their own terms), also emisch, repräsentiert werden. Aus diesem Grund habe ich die Hauptdimension »Akzeptanz« genannt (vgl. Abb. 4). Akzeptanz hat kontinuierliche Ausprägungen: aufgeschlossen gegenüber autonomen Fahrens (++) bis hin zur Ablehnung (– –). Die unterschiedlichen Positionen zur Akzeptanz sind hier in Abhängigkeit zum Automatisierungsgrad abgetragen. Der Automatisierungsgrad gibt nicht nur wieder, welcher Anteil der Fahraufgabe von Informationstechnologien übernommen wird, sondern auch den Grad der Kontrolle durch menschlichen Fahrer*innen (Both/Weber 2013). Damit verbunden ist die Frage der Notwendigkeit von Aufmerksamkeit Seitens der Fahrer*innen: Muss die automatisierte Fahrt überwacht werden, wie es bei heutigen Assistenzsystemen der Fall ist? Ist autonomes Fahren eine zuschaltbare Option oder werden die Passagiere des Autos vollkommen von der Fahraufgabe ›befreit‹ und haben keine Möglichkeit mehr, das Auto direkt zu steuern. Da es sich um unterschiedliche Automatisierungsszenarien handelt, habe ich eine diskrete Skala verwendet. Die Visionen von einer unfallfreien Welt schreiben in der Regel menschlichen Fahrer*innen die Verantwortung für Unfälle zu. Diese Vision setzt autonomes Fahren als Zwang. Die sprecher*innenunabhängige Darstellung in einer positional map versucht nicht individuelle oder kollektive Akteure zu repräsentieren. Clarke will damit dem Problem der Stereotypisierung entgegentreten, welches in den Sozialwissenschaften vorherrsche. Gemeinsamkeiten würden in der Regel privilegiert, durch binäre Wahrnehmungsschemata bestimmt, sodass Heterogenität unsichtbar werde (Clarke 2005: 126–127). Individuelle und kollektive Akteure vertreten oft auch multiple und in sich widersprüchliche Positionen. Positional maps erfassen hingegen die Heterogenität von Positionen. Ferner werden alle im spezifischen Diskurs möglichen Positionen aufgezeigt und als gleichrangig dargestellt. Anstelle des verbreiteten Schemas Norm/Devianz ist jede Position nur eine andere Position (just other positions), auch wenn sie möglicherweise eher marginalisiert ist. Was leistet die positional map in meinem konkreten Beispiel (vgl. Abb. 4)? Indem offensichtlich wird, welche Positionen nicht eingenommen werden, zeigt sich, dass der Diskurs durch eine starke Polarität gekennzeichnet ist. Der von der Automobilindustrie favorisierte Weg, automatisiertes Fahren als zuschaltbare Luxus-Option anzubieten, wird in meinem Datenmaterial nicht eingenommen. Das heißt, dieses Automatisierungsszenario wird nicht unter Akzeptanzgesichtspunkten verhandelt. Die positional map macht ferner deutlich, dass die Frage, ob diese Technologie erstrebenswert ist, fast ausschließlich aus der Perspektive der individuellen Autofahrer*innen beantwortet wird. Lediglich die Position »Manuelles Fahren ist lästig und zu gefährlich« etabliert eine Beziehung zu anderen Verkehrsteilnehmer*innen.

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Situational Analysis: ein Navigationssystem für Praxisforschungen? In diesem Beitrag habe ich die Grundzüge der Situational Analysis skizziert sowie die drei wichtigsten Kartentypen (messy situational map, social worlds/ arena map und positional map) und die dazugehörigen Methoden vorgestellt. Abschließend möchte ich nun den Gebrauchswert der Situational Analysis für Praxisforschungen zusammenfassend darstellen. Mit meinem Verständnis von Praxistheorien orientiere ich mich an Anders Buch (2014) und Jörg Niewöhner et al. (2012). Mit den situational maps und den social worlds/arena maps vermeidet Clarke den Gegensatz von structure/agency, welches ein zentrales Anliegen von Praxistheorien ist (vgl. Niewöhner et al. 2012). Symbolischer Interaktionismus begreift in seiner Prozessorientierung soziale Phänomene als Resultat von Interaktionen. Dies weist zwar eine inhaltliche Nähe zu aktuellen Praxistheorien auf, der Symbolische Interaktionismus steht laut Keller (2012) in der Tradition von Handlungstheorien. Den Gegensatz von Handlungs- und Strukturtheorien umgeht Clarke, indem sie mit Rückgriff auf Strauss’ Theorie der sozialen Welten und Foucaults Diskursanalyse die Situation zur fundamentalen, analytischen Einheit macht. Die Situation ist das Ergebnis des Zusammenwirkens kollektiver und individueller Elemente. Mit ihren Karten wendet sich Clarke so gegen eine analytische Engführung qualitativer Forschung auf die sogenannte »Mikro-Ebene« von Praktiken (Clarke 2011). Die social worlds/arena maps und damit verbundenen positional maps ermöglichen eine praxistheoretische Untersuchung von knowing. Knowing wird produziert in Praktiken und verbreitet sich in bestimmten Praktiken. Die sprecher*innenunabhängige Analyse von Positionen in Diskursen verhindert, Wissen als eine Eigenschaft von Akteuren zu fassen. Die Social worlds/arena maps machen Wissen zum Gegenstand von Aushandlungen zwischen kollektiven Akteuren. Diskurse und ihre Wissen bewohnen keine abgetrennte Sphäre, sondern vollziehen sich in den Arenen. Die sprecher*innenunabhängige Analyse von Positionen mit den positional maps sollte daher in Kombination mit der Analyse von Aushandlungsprozessen in den social worlds/arena maps durchgeführt werden, um eine Engführung in der Konzeption von Wissen zu vermeiden. Die Situational Analysis ermöglicht Analysen jenseits der Dichotomien von Subjekt/Objekt und Körper/Geist. Clarkes Betonung von Situierung, Verkörperung und Materialität geht einher mit der praxistheoretischen Annahme, dass Praktiken an menschliche Körper und dingliche Gegenstände gebunden sind. Demnach vollzieht sich soziales Handeln immer verkörpert und zeitlichräumlich situiert. Dieser Aspekt von Situational Analysis verweist auf eine Gemeinsamkeit von Praxistheorien mit Feminist Studies. Die Situiertheit aller Wissensproduzent*innen und die »partialities and instabilities of knowing« (Pérez/Cannella 2013: 515) werden von feministischen Forscher*innen seit lan-

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gem untersucht. Indem Situational Analysis Differenz und Komplexität sichtbar macht, können Praxisforschungen auch davon profitieren. In diesem Beitrag habe ich die Situational Analysis nicht nur als Analyseinstrument verstanden, welches Interpretationsprozesse unterstützt, sondern auch als ein Theorie/Methoden-Paket, welches durch die Kategorien der situational matrix Orientierung im Forschungsprozess bietet. Als Planungsinstrumente, welche das theorieorientierte sampling visuell unterstützen, helfen die unterschiedlichen Karten-Typen dabei, Lücken im Datenmaterial aufzudecken. Die sichtbaren Veränderungen in den unterschiedlichen Karten erleichtern das Nachvollziehen des Forschungsprozesses. Allerdings ist Situational Analysis im strengeren Sinne keine Praxistheorie. Die fundamentale, analytische Einheit der Situational Analysis ist die Situation und nicht die Praktik. Um Praktiken selbst als Forschungsgegenstand in den Mittelpunkt zu rücken, wie es zum Beispiel Annemarie Mol (2002) in radikaler Weise tut, bedarf es einer Erweiterung der Situational Analysis. Im Abschnitt zur messy situational map habe ich illustriert, wie Praktiken als Elemente der relationalen Analyse operationalisiert werden können. Derzeit arbeitet Clarke zusammen mit Friese an einer zweiten Auflage (Clarke, 2013). Ich bin daher gespannt, ob in der Neuauflage Praktiken als analytische Einheiten in die situational matrix mit einbezogen werden.

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Von Raketenleisten bis zum Leichtmetall Begegnungen einer Praxis des Materials im Einsatz künstlerischer Arbeiten Christiane Schürkmann

1. E inleitung Sowohl EthnografInnen als auch KünstlerInnen beobachten, sammeln, sortieren und archivieren Material oder Materialien, richten Fragen an ihr Material, arbeiten mit Material und bringen etwas mit und durch Material hervor.1 Nicht selten heißt es hierbei, dass zunächst »vom Material ausgegangen wird« oder man sich gar »vom Material überraschen lässt«, um hinter vorschnelle Annahmen zurückzutreten, erwartbaren Perspektiven und Resultaten vorzubeugen und eine empirische Offenheit im künstlerischen wie auch wissenschaftlich forschenden Prozess zu etablieren. Ethnografie und Kunst scheinen in dieser Weise als geradezu materialaffin, mitunter gar materialbasiert in ihrer Disposition, Materialien praktisch und empirisch in ihre Arbeitsvollzüge einzubeziehen. Während in der bildenden Kunst Materialien in ihren unterschiedlichen stofflichen und ästhetischen Qualitäten vielfältig eingesetzt werden, wird Material in der soziologischen Ethnografie als Datenmaterial relevant, von dem Analysen und Interpretationen sozialer Welt und Wirklichkeit ausgehen und das zugleich in Analysen und Interpretationen sozialer Welt und Wirklichkeit eingeht. Material ist in dieser Weise ein geradezu konstitutiver Teilnehmer künstlerischer sowie soziologisch-ethnografischer Praxis, es bildet und begründet die Grundlage dafür, etwas aus etwas herstellen, erzeugen, hervorbringen, entwickeln und zeigen zu können. In der Begegnung eines materialaffinen ethnografischen Forschens mit einem materialaffinen künstlerischen Arbeiten drängt es sich gleichsam auf, Material in seinen praktischen Bezügen zu befragen beziehungsweise gar eine Praxis des Materials in den Blick zu nehmen. Wie findet Material Ein1 | Ein herzlicher Dank für die Zusammenarbeit geht an dieser Stelle an den Künstler Marten Schech, dessen Arbeiten dem folgenden Text mitunter zugrunde liegen.

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gang in künstlerische Arbeitsprozesse, wie geht ein künstlerisches Arbeiten mit seinen Materialien um, wie zeigt sich Material im Einsatz der entstandenen Arbeiten? Vermag eine ethnografisch ausgerichtete Perspektive diese Fragen an das Material im Feld der bildenden Kunst zu stellen, so eröffnet sich ihr zudem ein rekursiver Bezug im Hinblick auf den eigenen Umgang mit (Daten-)Material. Wie kann (Daten-)Material über und mit Material in künstlerischen Arbeiten und Arbeitsprozessen erzeugt werden? Oder anders herum: Wie kann aus künstlerisch eingesetzten Materialien ethnografisches Material werden, an dem sich Überlegungen zu einer Praxis des Materials entwickeln lassen? Diesen Fragen widmet sich der folgende Beitrag, der in eine mehrjährige ethnografische Studie im Feld der bildenden Kunst eingebettet ist, die sich für ein künstlerisches Arbeiten in seinen praktischen Bezügen interessiert. Ethnografische Forschungsweisen zeichnen sich durch die Disposition einer empirisch motivierten Offenheit aus, (Daten-)Material mit verschiedenen Verfahren, Techniken, kommunikativen Möglichkeiten sowie der leiblichen Kopräsenz der Ethnografin im Feld zu generieren.2 Ausgestattet mit dieser Disposition rücken für die Ethnografin im Feld zunächst Begegnungen mit den Materialien eines künstlerischen Arbeitens in den Vordergrund. Der Begriff der »Begegnung« birgt das heuristische Potenzial, dass ihm eine Ereignishaftigkeit innewohnt, dass er von Gelegenheiten ausgeht und er zunächst den Kontakt in den Vordergrund rückt, sodass die Begegnung als solche sich nicht an bestimmte Abläufe oder gar Formeln halten muss (Goffman 1994: 69). Begegnungen können ad-hoc »passieren« oder aber gleichsam forciert werden. Die Begegnung ist demnach offen darin, wer oder was auf wen oder was wie treffen kann. In diesem Sinne offeriert die Begegnung Möglichkeiten und Weisen des in-Beziehung-Tretens der sich Begegnenden; sie ist nicht dogmatisch und methodisch festgelegt, sie bedarf lediglich mindestens Zweier, die sich begegnen. Der Begriff der Begegnung dient zunächst dazu, der ethnografischen Beforschung von Material im Einsatz künstlerischer Arbeiten sowie Arbeitsprozesse eine Offenheit zuzugestehen, die erforderlich ist, um gleichsam auf den Spuren des Materials wandeln zu können.

2 | Wie Breidenstein u.a. (2013: 34 f.) jüngst betont haben, ist Ethnografie keine Methode, sondern vielmehr ein »integrierter Forschungsansatz«, der opportunistisch in und mit dem jeweiligen Feld Datenmaterial erzeugt: »Es gibt also keine Beschränkung auf einen bestimmten Datentypus, man geht vielmehr sehr offen und gelegenheitsgetrieben vor und nimmt alles an Eindrücken und Daten mit, das gewinnbringend scheint.« Eben in und durch diese Offenheit und Gelegenheitsorientierung erhalten Daten ethnografischer Forschungspraxis ihre Plausibilität als »Material«, das als solches nicht nach strengen Methoden erhoben, sondern vielmehr gesammelt, gefunden und hervorgebracht wird.

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Im Folgenden werden drei Weisen des Begegnens mit Materialien exemplarisch aufgezeigt. Diese Weisen des Begegnens werden an einem Beispiel aus dem Feld der bildenden Kunst vorgestellt, das eine Chronologie des Materialeinsatzes veranschaulicht. (1) Material muss zunächst als solches »gefunden« werden, (2) sodann wird es im Zuge verschiedener Verfahren bearbeitet, (3) schließlich zeigt es sich einem Betrachten der entstandenen Arbeiten beziehungsweise Werke, indem diese in ihrer Materialität sichtbar werden und das Material in seinen spezifischen Anmutungen geradezu wahrnehmbar wird. Vorab möchte ich kurz auf die konzeptuelle Einbettung einer an Material interessierten ethnografischen Perspektive eingehen, da diese nicht allein aus der Begegnung zwischen Ethnografie und einem künstlerischen Arbeiten in situ erwächst. Relevante Bezüge für eine derartige Perspektive finden sich auch besonders in praxistheoretisch orientierten sowie anthropologischen und kunstwissenschaftlichen Ansätzen, die sich dem Materiellen und letztere explizit dem Material zuwenden.3

2. V on den D ingen zum M aterial Insbesondere praxistheoretisch orientierte Ansätze haben in unterschiedlichen Weisen das Materielle in das Soziale eingeklammert. Praktiken unterscheiden hiernach nicht zwischen sozialer und materieller Welt und distanzieren sich von Dualismen, die Mensch und Dingliches trennen oder gar in ein dichotomes Verhältnis zueinander stellen. Praktiken begreifen das Materielle vielmehr als Bestandteil von Sozialität (Schatzki 2001: 2; Reckwitz 2003: 289 ff.). Der Einbezug eines im Praktischen ankernden Materiellen sowie einer darin lagernden Materialität bezieht sich oftmals auf Artefakte, Dinge, Objekte und Gegenstände, technische Umgebungen und Apparaturen in ihren Gebrauchsund Umgangsweisen. Der Fokus auf Umgangs- und Verwendungsweisen des Materiellen in dessen praktischer Involvierung findet seinen Ausgang mitunter in Wittgensteins Gebrauchstheorie (Wittgenstein 2003) und in einem »besorgenden Umgang« nach Heidegger (2006: 68). So legen beide philosophischen Konzepte eine starke Befragung der Dinge in ihren Verwendungszusammenhängen nahe. Mensch und Welt plausibilisieren sich erst im alltäglichen Gebrauch von Dingen, die benutzt, verwendet und eingesetzt werden. Wie aber ist es um das Material bestellt, aus dem Dinge und Artefakte, wie auch künstlerische Arbeiten beziehungsweise Kunstwerke entstehen, aus dem sie hervorgehen und gemacht werden?4 3 | Zu erwähnen sind zudem die interdisziplinär forschenden material culture studies. 4 | Heidegger (2006: 70) reduziert das herzustellende Werk nicht auf eine gleichsam teleologisch induzierte Verwendbarkeit, so verweist das Werk nicht nur auf sein »Wozu«,

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In künstlerischen Arbeitsprozessen spielen nicht allein Dinge und Objekte eine bedeutende Rolle, oftmals ist es zunächst das Material, das ein künstlerisches Arbeiten vor Herausforderungen stellt. Hierzu hat sich insbesondere die kunsthistorische und kunstwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren geäußert, indem sie dem Material eine explizit zu berücksichtigende Dimension sowie eine grundlegende Relevanz zuspricht. Ausgehend von der Kritik an einer idealistischen und das Material marginalisierenden Kunstgeschichte haben insbesondere Wagner (2001) sowie Wagner und Rübel (2002) dem Material in der Kunst Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, wobei mittlerweile verschiedene Perspektiven und Ansätze den Einsatz von Material in Kunst und Künsten thematisieren (siehe hierzu beispielsweise Strässle u.a. 2013). Mit Bezug auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Latour führt sodann Lehmann (2012: 73 f.) in ihren Materialforschungen im Bereich der Kunst verschiedene Ansätze aus Anthropologie, Soziologie und Kunstgeschichte zusammen, wobei sie Folgendes festhält: »Tatsächlich sprechen Kunst- und Medienwissenschaftler, aber auch Soziologen und Anthropologen gerne von der Materialität der Dinge. Diese vermeintliche Abstraktion vom Materiellen (die Steinigkeit des Steins, die Digitalität des Digitalen) bedeutet aber meistens nur eine weitere Entfernung von der Auseinandersetzung mit tatsächlichen Materialien«.5 Die Auseinandersetzung mit »tatsächlichen Materialien« ist für die Praxis eines künstlerischen Arbeitens grundlegend. Wie Wagner treffend formuliert, bildet nicht zuletzt das Material einen »Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung« (Wagner 2001: 12). Stoffe, Lösungs- und Bindemittel, organische sowie nicht organische Materialien finden Eingang in künstlerische Prozesse – das Material als solches wird im Zuge seiner vielfältigen Möglichkeiten zu einer permanenten Frage, der sich ein künstlerisches Arbeiten aussetzt. In diesem Sinne sieht sich auch eine ethnografische Forschung im Feld der bildenden Kunst schnell und eingängig dazu aufgefordert, sich den eingesondern auch stets auf sein »Woraus«, was die Materialien im Zuge einer Praxis des Herstellens einbezieht. Hiernach liegt im herzustellenden Werk stets der Verweis auf Materialien begründet: »Das Herstellen selbst ist je ein Verwenden von etwas für etwas« (Heidegger 2006: 70). 5 | Lehmanns Anmerkung beruft sich auf die Gegenüberstellung von Material und Materialität des Anthropologen Timothy Ingold, dessen Anliegen darin besteht, sich gleichsam auf das Material rück zu besinnen, in Ingolds Worten: to »take materials seriously, since it is from them that everything is made« (Ingold 2007: 14). Einer Opposition von Materialität und Material, wie Ingold sie zunächst vorschlägt, hält der Archäologe Christopher Tilley (2007) die soziale Bedeutungsgeladenheit von Materialien entgegen, die er innerhalb eines von den Materialien abstrahierenden Konzepts von Materialität verortet, siehe auch Tilley 2004.

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setzten Materialien zuzuwenden beziehungsweise an und mit den sich zeigenden Materialien ethnografisches (Daten-)Material zu erzeugen. Nicht eine abstrahierte oder konzeptualisierte Materialität der Dinge, sondern zunächst die Materialien vor Ort zeigen sich in ihrer Präsenz, in ihrem Einsatz in Verfahren und Techniken, aber auch in Auseinandersetzungen und Fragen, die das Ästhetische als wahrnehmbares Potenzial von Materialien betreffen. Die ethnografische Forschungspraxis in ihrer Disposition, (Daten-)Material als eine Art »empirischen Ausgangsstoff« zu generieren, muss zunächst auf einer methodischen Ebene mit der Frage umgehen, wie sie Material in seinen praktischen Verstrickungen, Einsätzen, Verwendungen und seiner Präsenz für ihre Interpretationen und Argumentationen zugänglich machen kann. Hierbei zeigt sich, dass gerade der Einbezug des Materials Facetten einer Praxis zum Vorschein bringt, die sich nicht allein an Verwendungs- und Gebrauchsweisen ausrichtet, sondern die zudem leiblich-sinnliche Zugänge zur materiellen Welt einschließt. Dispositionen, Material zu erblicken, der Einbezug von Wissen im Umgang mit Materialien sowie auch das Wahrnehmen von sich zeigendem Material eröffnen einer ethnografisch orientierten Materialforschung Möglichkeiten, eine Praxis des Materials ausgehend von unterschiedlichen Begegnungen zu erschließen.

3. W eisen des B egegnens : B eobachten , B eschreiben , B e tr achten Im Feld der bildenden Kunst ist das Umgehen mit Materialien beobachtbar, der Einsatz von Materialien wird im Hinblick auf Materialverfahren und Materialwirkungen beschreibbar. Die sodann materialisierten Arbeiten zeigen sich schließlich im Vollzug ihres Betrachtens. So schöpft eine ethnografisch ambitionierte Forschung zu Material in künstlerischen Arbeitsprozessen aus verschiedenen Weisen, dem Material zu begegnen, diese Begegnungen aufzubereiten und schließlich zu vermitteln. Hierbei möchte ich im Folgenden auf drei verschiedene Weisen eingehen, wie ethnografisches Material mit und über das Material im Einsatz künstlerischer Arbeiten und Arbeitsprozesse generiert werden kann. Anhand der Entwicklung und Herstellung zweier künstlerischer Arbeiten wird den verschiedenen Begegnungen im Folgenden nachgegangen. Eine der Arbeiten (Block) besteht aus Holz, das von abgebrannten Feuerwerksraketen stammt. Die zweite Arbeit (Block 2) wurde aus Aluminium hergestellt. Beiden Arbeiten liegt eine langjährige Auseinandersetzung des Künstlers mit monolithisch anmutender Architektur sowie Fachwerkstrukturen zugrunde. Die Arbeiten wurden zeitlich nacheinander angefertigt und thematisieren bezugnehmend aufeinander Material in geradezu naheliegender Weise, da sie auf Ähnliches in Form und Struktur – genauer Fachwerkstruktur – referieren,

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wobei ihre offensichtliche Differenz in den verwendeten Materialien liegt. Im Folgenden wird zunächst eine Beobachtung des Umgangs zwischen Künstler und Material in den Blick genommen (3.1). Auch werden die Beschreibungen des Künstlers einbezogen, der mit und an den Materialien gearbeitet hat (3.2). Eine dritte Perspektive bezieht sich auf meine Beziehung zu den entstandenen und sich zeigenden Arbeiten als ihre Betrachterin (3.3).

3.1 Beobachten: Zum »Finden« von Material »Auf dem Weg zum Restaurant bleibt M. plötzlich stehen und hebt einen Holzstab vom Boden auf. Schnell erkenne ich, dass das Holz von einer abgebrannten Feuerwerkrakete stammt. ›Die sammle ich schon lange. Da kann man noch was mit machen‹ sagt er und steckt das Hölzchen in seine Tasche.« (Protokollausschnitt, Protokoll von Christiane Schürkmann)

Die Frage, welches Material Eingang in ein künstlerisches Arbeiten nehmen kann, zeigt sich in dieser Situation eng verbunden mit Gelegenheiten, die das Alltägliche bietet – hier das alljährliche Widerkehren der Silvesterraketen, die regelmäßig Holzreste nach ihrem Abbrennen in den Straßen hinterlassen. Material wird hier quasi als solches »gefunden«, es bietet sich dem dar, der es in seinen Möglichkeiten sieht und der es im Sehen mit seinen Überlegungen dahingehend anreichert, was aus ihm werden kann. Material zeigt sich hier als situativ. Es wird ad-hoc er-blickt und sodann mitgenommen, wobei das Erblicken des Raketenholzes als Material für ein künstlerisches Arbeiten schon mit einer gewissen Disposition ausgestattet und demnach situiert zu sein scheint (»Die sammle ich schon lange«). Ein Material-Sehen im Zuge künstlerischer Arbeitsprozesse ist sensibilisiert für Gelegenheiten, wo Material sein kann, wo es gesucht und gefunden werden kann, wo und auch wann es eingehen kann in den Prozess des Arbeitens. Es richtet seine Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten von Dingen, die es mitunter abseits ihrer regulären Verwendungs- und Umgangsweisen für ein Arbeiten benötigt, das etwas aus etwas macht. Ein Raketenholz, das seinen Dienst nach dem Abbrennen des Feuerwerkkörpers getan hat, wird hier nicht als zu entsorgender Abfall oder Rest relevant, sondern als Holz, das zuvor in einer standardisierten und normierten Weise behandelt wurde, das von einer bestimmten Länge und Breite sowie von Brandspuren und Papierresten gekennzeichnet ist. Das Holz tritt im Sehen, im Er-Blicken als Material für etwas, für ein künstlerisches Arbeiten mit ihm, hervor. Bezugnehmend auf ein etwas, das aus ihm werden kann, lagert dem Material im Einsatz eines künstlerischen Arbeitens zunächst eine Offenheit ein. Es wird für etwas relevant, das sein »was« zuvor nicht zwingend festlegen muss – es wird nicht als Ding, sondern als Material für ein Arbeiten eingesetzt, das immer wieder sein »was« und »wie« befragt. Material zeichnet sich hier-

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nach gegenüber Dingen dadurch aus, dass es sich in einem gleichsam roheren Zustand befindet. Dieses Rohe mag sich darin begründen, dass Material stets auch eine potenzielle Ver- und Bearbeitbarkeit sowie Veränderbarkeit und demnach ein gestalterisches Potenzial innewohnt. So spricht beispielsweise Stieve (2008: 31) von Materialien als »›rohe‹ Dinge«, die im Umgang mit ihnen weiter verändert werden. Auch ein künstlerisches Arbeiten ist an Veränderungen interessiert. Es zeigt sich hier gar in der Lage, ge- und sogar scheinbar verbrauchte Dinge für sich in Material zu transformieren und wieder in einen geradezu rohen Zustand zu versetzen. Ein verbrauchtes Ding – hier ein in dieser Weise nacktes Raketenholz, das in seiner, ihm vom Hersteller zugewiesenen Verwendung »mit der Welt fertig« ist – wird in der Begegnung mit der Disposition eines nach Material suchenden künstlerischen Arbeitens wieder zu etwas »Unfertigem«, zu etwas Anfänglichem, von dem Weiteres und Anderes ausgehen kann. Trifft ein vermeintlich unbrauchbares Ding auf ein nach Material suchendes und Ausschau haltendes Sehen und Blicken, so kann es als Material er-blickt und »gefunden« werden. Im Moment des »Findens« erhält es seinen Materialstatus und wird eingespeist in einen Prozess, der an weiterer Zusammenarbeit mit ihm interessiert ist. Was zeigt sich an diesem Beispiel für eine Praxis des Materials? Im Hinblick auf die Möglichkeiten von Material wurde insbesondere das Konzept der »affordances« prominent (Gibson 1979), das auch die ANT in ihrer Theorie dinglicher beziehungsweise nicht-menschlicher agency aufgreift (Latour 2005). Hierbei wird auf die anbietende beziehungsweise auffordernde und somit wirkmächtige Kraft von Materialien, Objekten, Dingen und Artefakten rekurriert. Materialien, Dinge, Objekte sowie Artefakte bieten an und fordern auf, Handlungen mit und an ihnen auszuführen und sie verschiedentlich zu verwenden, zu benutzen und mit ihnen umzugehen.6 Mit Bezug auf Gibson sowie Latour hat beispielsweise Lehmann (2012) den auffordernden Charakter von Öl in ihrer Materialtheorie für Bindemittel beschrieben und gezeigt, dass auch Materialien der Kunst Handlungen evozieren und dass ihnen bestimmte Möglichkeiten des Umgangs innewohnen. Auch das hier angeführte Beispiel ließe sich dahingehend interpretieren, dass das Raketenhölzchen den Künstler dazu auffordert, es aufzuheben und einzustecken, um es sodann im Weiteren für ein Arbeiten zu verwenden. Ein Aufforderungsgehalt des Hölzchens mag in seinen Maßen, in seiner hölzernen Erscheinung und in seiner vormaligen 6 | Im Zuge einer Praxis der Dinge spricht Röhl (2013: 117) von Aufforderungen, in dem Sinne, »dass Dinge sinnlich dazu einladen, sie in bestimmter Weise zu gebrauchen und über sie der Welt zu begegnen.« Für eine Praxis des Materials zeigt sich weniger eine Welt vermittelnde, als vielmehr eine Welt hervorbringende Begegnung zwischen Schaffendem und Material, wobei beide einer Welt angehören, die im Zuge dieser Begegnung gestaltbar und veränderbar wird.

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Verwendung liegen. Jedoch erscheint mir, dass ein Auffordern seitens des Materials einem künstlerischen Arbeiten mit Material, einem »Finden« von Material, nur bedingt gerecht wird. Zu einseitig würde die Initiative an das Material delegiert. Das hier skizzierte Beispiel weist auf eine weitergehende Komplexität hin, die nicht allein von einem Aufforderungsgehalt des Dings, des Hölzchens ausgeht, sondern die sich zudem in einem zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten begründet. Insbesondere ein zeitgenössisches künstlerisches Arbeiten ist darin gefordert, sich nicht nur auf kanonisierte Materialien der Kunstgeschichte zu verlassen und sich nicht unhinterfragt an konventionellen, tradierten, etablierten und disziplinierten Materialien zu orientieren.7 Materialien, die in künstlerische Arbeitsprozesse eingehen, können zunächst potenziell überall im Alltäglichen und Profanen gefunden, gesammelt und aufgelesen werden. Sie sind oftmals von Gelegenheiten und Situativität inspiriert.8 Material für künstlerische Arbeitsprozesse zeigt sich in dieser Weise als kontingent. Im Zuge dieser Potenzialität von einsetzbaren Materialien besteht eine Herausforderung für ein zeitgenössisches künstlerisches Arbeiten mitunter darin, seine ihm eigenen Materialien zu suchen und zu finden, nicht zuletzt um sich auch durch das Arbeiten mit bestimmten Materialien als eine eigene Position zu qualifizieren und auszuweisen. Ein künstlerisches Arbeiten erfordert quasi das Entwickeln eigener Materialselektionen. Wie aber findet ein derartiges Arbeiten sein Material? In Bezug auf unser Beispiel: Wie wird die Raketenleiste in der Situation als Material relevant – ein anderer Künstler hätte sie als solche womöglich gar nicht zur Kenntnis genommen. Anders als das Öl in Lehmanns Fall, dem in seinem Einsatz der Malerei eine hunderte Jahre alte Geschichte innewohnt, gehen der Raketenleiste keine historisch gewachsenen Verfahren plastischer oder bildhauerischer Techniken und Arbeitsweisen voraus. Einem Raketenhölzchen scheinen zunächst diverse Möglichkeiten innezuwohnen, mit ihm künstlerisch zu arbeiten, da es auf keine Geschichte in der Kunst zurückblicken kann und es sich auch nicht allein in seinen stofflichen Qualitäten als Material für einen bestimmten Einsatz plausibilisiert – Öl als Material der Malerei ist vornehmlich als Bindemittel zum Einsatz gebracht worden. Ein Hölzchen dieser Art als Material eines künstlerischen Arbeitens gibt zwar seine Maße und seine hölzerne Erscheinung vor, jedoch verweist es 7 | In Bezug auf die geradezu erforderliche Dynamik im Umgang mit Konventionen im Bereich künstlerischer Arbeitsweisen siehe auch Becker 2008. 8 | Prominente Konzepte und Bewegungen der bildenden Kunst, die den Einsatz alltäglicher und profaner Materialien und Dinge betonen, sind beispielsweise die Arte Povera oder Fluxus. Auch findet sich ein offensiver Einsatz profaner Materialien und Dinge in der Geschichte der Collage und Assemblage, das »Finden« von Dingen als solches thematisieren zum Beispiel das Objet trouvé nach Meret Oppenheim oder die Ready-mades nach Marcel Duchamp.

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als solches weniger auf spezifische Einsatzmöglichkeiten. Es mag somit zunächst zu einem was, zu einem etwas anregen, das sich als solches durch eine gewisse Offenheit qualifiziert. Die Situation des »Findens« von Material für ein künstlerisches Arbeiten scheint sich hiernach nicht allein durch die Wirkmächtigkeit beziehungsweise den Aufforderungsgehalt eines Materials per se beziehungsweise eines Materials als solches zu plausibilisieren. Das Aufforderungspotenzial des Raketenhölzchens in dieser Situation trifft vielmehr auf eine bereits »mitgebrachte« Disposition eines künstlerischen Arbeitens, das die Bereitschaft an es heranträgt, aus ihm Material zu machen und in ihm Material für sich zu sehen. Es muss in seinem Aufforderungsgehalt dazu aufgefordert werden, Material für ein bestimmtes Arbeiten zu sein. Nach Gibson (1979: 129) verweist eine »affordance« sowohl auf die Umwelt als auch auf den Beobachter, sodass der Begriff der »Begegnung« auch im Hinblick auf seinen konzeptuellen Gehalt relevant wird. Eine Begegnung lebt von der Beidseitigkeit, von der Bewegung der sich Begegnenden aufeinander zu. Erst in der Begegnung eines Dings mit einem nach Material suchenden künstlerischen Arbeiten wird Material in situ »gefunden«. Material wird somit im Zuge dieser Begegnung praktisch erzeugt und begründet sich nicht allein in einer auffordernden Stofflichkeit und Dinglichkeit, der bestimmte Inskriptionen innewohnen. Erst in einem Aufeinandertreffen mit einem Beobachter, involviert in ein herstellendes, materialbedürfiges Arbeiten, wird das gediente Ding zu Material. Material zeigt sich hiernach eingebettet in eine an Veränderbarkeit interessierte, arbeitende und herstellende Praxis, die stets auf der Suche nach ihren Materialien ist. Eine Praxis des Materials ist somit geradezu umsichtig und von einer »Aufgeschlossenheit« (Heidegger 2006: 75) gegenüber dem, was ihr an potenziell Fehlendem für ein Arbeiten an und mit etwas, für ein Erarbeiten aus etwas begegnen kann. »Imgleichen ist das Fehlen eines Zuhandenen, dessen alltägliches Zugegensein so selbstverständlich war, daß wir von ihm gar nicht erst Notiz nahmen, ein Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge.« (Heidegger 2006: 75)

So vermag ein künstlerisches Arbeiten sich in seinem Alltag geradezu in diesem Bruch einzurichten, da es in seiner stetigen Materialbedürftigkeit mit einem permanenten Fehlen umzugehen hat, wobei es das, was ihm fehlt, mitunter erst in der Begegnung mit diesem erblickt. Material als stets Fehlendes wird für ein künstlerisches Arbeiten zu einem alltäglich zu Suchenden, was eine andauernde Umsicht in Bezug auf sich zeigende Dinge etabliert. Diese Umsicht ist sensibel für mögliche Verweisungszusammenhänge von Dingen und werden-könnenden Materialien, die potenziell überall aufscheinen und hervorscheinen können. Das gleichsam potenzielle Fehlen von Material im Alltag eines stets materialbedürftigen, materialhungrigen künstlerischen Arbei-

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tens führt jedoch nicht zwingend zu einer Störung oder Krise, sondern wird vielmehr zu einer Ressource, um Dingen stets aufgeschlossen begegnen zu können, sodass ein Arbeiten seine Materialien in seiner Umwelt zu erblicken vermag. Auch ein ethnografisches Beobachten ist während seiner Aufenthalte im Feld auf der Suche, in seiner mitgebrachten Disposition Datenmaterial zu erzeugen. Es zeigt sich sensibel für Gelegenheiten, die sich ihm ad-hoc bieten, um Beobachtbarkeiten zu sehen und zur Kenntnis zur nehmen. In diesem Beispiel begegnet es der Begegnung zwischen Künstler und Raketenleiste, die erst in dieser Begegnung zu Material für ein künstlerisches und sodann auch für ein ethnografisches Arbeiten wird. So bringt auch ein ethnografisches Beobachten die Disposition mit, die sich ihm darbietenden Gelegenheiten wahrzunehmen, um sein Material  – fieldnotes und Protokolle  – hervorzubringen und das Gesehene in seine Auseinandersetzungen einzuspeisen. Für eine Praxis des Materials zeigt sich dem ethnografischen Beobachten diesem Beispiel folgend, dass Material geradezu hergestellt wird und es als solches artifiziell ist. Material wird dort relevant, wo sich bereits eine Disposition entwickelt hat, etwas herzustellen und hervorzubringen. Material wird gleichsam zu einem »Treibstoff« herstellender und somit auch künstlerischer Praktiken.

3.2 Beschreiben: Zum Einsatz von Material Ein künstlerisches Arbeiten speist oftmals neue und andere Materialien in seinen Arbeitsprozess ein, um Unterschiedliches hervorzubringen, um Möglichkeiten auszuloten und Veränderungen zu etablieren. Sodann heißt es dem Material mit Verfahren, Werkzeugen und Techniken zu begegnen, um mit ihm zu arbeiten. Was geschieht in unserem Fall mit den gesammelten Raketenleisten, wie ist was aus ihnen geworden? Derartige Fragen nach dem weiteren Herstellungsprozess können Beschreibungen evozieren, die von der Annahme einer Beschreibbarkeit praktischer Materialeinsätze ausgehen. Anhand der Beschreibung von Praktiken der Kräuterproduktion hat beispielsweise Schatzki (2002: 73 f.) gezeigt, dass »production practices« in ihrem Umgang mit Materialien beschreibbar sind: »In the herb production practices, for instance, any of the following actions might have been constituted – on different occasions – by different sets of doings and sayings: getting the herbs up to the drying rooms, drying them, transporting them downstairs, and pressing them. […] Herbal production practices involved the regular performance of such doings as pulling hoists, placing green herbs and roots on drying sheets, picking up these sheets, turning them over, pouring the dried herbs and roots into tins, lifting these tins, placing them in cupboards, and so on.«

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Schatzki beschreibt die Produktionspraktiken der Kräuterproduktion in ihren Regel- aber auch weitergehend Unregelmäßigkeiten sehr allgemein und generalisierend, so geht er weder auf spezifische Verfahren der Produktionsweise noch auf verschiedene Kräuter ein, die einen unterschiedlichen Umgang mit ihnen erfordern würden. Ein praktisches Arbeiten mit Materialien vor Ort beziehungsweise in situ ist jedoch gefordert, sich auch den Besonderheiten der jeweiligen Materialien zuzuwenden, um überhaupt mit und aus ihnen etwas herstellen zu können. Diese Verfahren gehen nicht selten mit einer Komplexität einher, die ihnen spezifisches Wissen abverlangt. Das Wissen über den Umgang mit den eingesetzten Materialien mobilisiert nicht zuletzt semantische wie auch rhetorische Ressourcen für die Souveränität einer Beschreibung, die sich zu Verfahren und Spezifitäten der Materialbearbeitung und -behandlung zu äußern vermag. An dieser Stelle erscheint eine Kooperation zwischen Ethnografin und Künstler in der Erzeugung ethnografischen Materials sinnvoll. So beschreibt derjenige den Einsatz der Materialien, der mit ihnen arbeitet, der Vorhaben und Verfahrensweisen mitunter initiiert und der den Arbeitsprozess – vom Sammeln, Finden und Auswählen der Materialien bis zur Präsentation der entstandenen künstlerischen Arbeiten – über Monate, mitunter auch Jahre, nah am Material erlebt hat. Eine ethnografische Perspektive auf Material wird hier auf die Zusammenarbeit mit dem Künstler erweitert, der auf meine Anfrage (»Kannst du mir die Abläufe schriftlich skizzieren, wie die Arbeiten gemacht/gebaut/gegossen wurden und woher das Material kommt?«) folgende Beschreibung anfertigte: »Für Block sind Raketenleisten das Material, die ich jedes Jahr sammle und die mittlerweile schon viele für mich sammeln. Sie stellen einen perfekten Maßstab dar, ohne zu viel verräterische Maserung zu besitzen. Das Gerüst ist auf alten Einlegeböden von Möbeln montiert, die waren damals einfach da. Darauf basieren im Prinzip die Maße […] Die Leisten sind verklebt und genagelt, sie wurden nicht weiter gereinigt und auch das Raketenpapier klebt zum Teil noch daran, auch Ruß. Montiert ist das Gefüge auf einen 125 cm hohen – wie das Gerüst, 3 m langen und, ich glaube, 30 cm breiten Sockel, der aus Gipskarton auf Holzrahmen besteht. […] Orientiert an der Arbeit Block entstand eine Aluminiumguss-Version in ähnlicher Weise [Block 2]. […] Für Block 2 wurden aus Raketenleisten Wände gebaut, geklebt und genagelt. Jede Wand einmal, insgesamt fünf. […] Von diesen fünf Wänden wurde ein Silikonabguss genommen, der drei Seiten abbilden konnte. In dieser Form wurden dann Wachswände gegossen und zum Block 2 montiert – durch verlöten des Wachses. Die Deckenbalken wurden immer einzeln eingebracht und hatten ebenfalls eine Silikonform, die von ein paar Raketenleisten abgenommen wurden. Das Erdgeschoss war aus abgeformten Siebdruckplatten, die in Silikon abgeformt waren und von denen ein Wachsabguss entstand, montiert. Der Keller ebenso, nur dass das Silikonnegativ von einem, in einer Erdwanne gegossenen Gipskeller abgenommen und mit Wachs ausgepinselt, statt ausgegossen wurde. Das hat

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Die Beschreibung thematisiert das Material in seinem Arbeiten an und mit ihm sowie in seinem Einsatz in den entstandenen künstlerischen Arbeiten im Hinblick auf vier Bereiche: Erstens in Bezug auf die Herkunft der Materialien, zweitens in Bezug auf die dem Material inhärenten Eigenschaften und Qualitäten, drittens in Bezug auf die technischen Behandlungen und Umgangsweisen sowie viertens in Bezug auf ästhetische Auseinandersetzungen mit den eingesetzten Materialien. Die Raketenhölzer beziehungsweise Raketenleisten in ihren spezifischen Maßen sowie in ihrer Erscheinung zeigen sich für ein Arbeiten mit ihnen als bekannt und vorteilhaft  – das Arbeiten scheint sich gleichsam mit der Zeit auf die Hölzer eingestellt zu haben, es kennt sein Material und weiß, wie es mit ihm umzugehen hat. Die Hölzer werden zusammengeklebt und genagelt beziehungsweise verbaut. Ein Sockel aus Holzrahmen und Gipskarton trägt das Gerüst, das wiederum auf einem Einlegeboden fußt, der von Möbeln stammt, die »da waren«. Als Material eines künstlerischen Arbeitens profilieren sich die Raketenleisten besonders in ihrem Aussehen: Spuren ihrer vorherigen Nutzung wie Papierfetzen und Ruß werden explizit nicht beseitigt. In dieser Weise wird die Verwendungsgeschichte der Hölzer als Raketenleisten nicht verborgen, sondern in ihrer Sichtbarkeit geradezu offensiv einbezogen. Ganz andere Züge impliziert das Arbeiten mit Aluminium, das in seinen Verfahrensweisen sehr voraussetzungsvoll ist und einen wesentlich höheren Einsatz an weiteren Materialien und Techniken einfordert. Ausgehend von den zu Fachwerk-Wänden verbauten Raketenleisten sind zunächst Negative mittels Silikonabnahmen anzufertigen, die wiederum Bestandteil eines Positivs der Gesamtform werden, das aus Wachs teilweise gegossen, teilweise gepinselt und sodann zusammengelötet wird. Das Gebilde aus Wachs ist Grundlage dafür, eine Negativform der gesamten Gussform mittels Formstoff anzufertigen, sodass ein Monolith – ein Objekt aus einem Guss – entstehen kann. Bis zum eigentlichen Aluminiumguss müssen demnach verschiedene Umformungen mit unterschiedlichen Materialien durchgeführt werden, die jeweils anderer Verfahren und Behandlungen bedürfen, was einen aufwändigen und energieintensiven Prozess bedeutet. Die anschließende Behandlung des Aluminiums nach dem Guss erscheint hier geradezu diametral zu

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der der Hölzer. Werden bei den Hölzern Unregelmäßigkeiten in Form von Rußspuren und Papierresten explizit nicht beseitigt, wird die Oberfläche des Aluminiums in der Weise bearbeitet, als dass die Gusspuren entfernt werden, wobei die Struktur der abgenommenen Raketenleisten weiterhin im Abguss sichtbar bleibt. Hier zeigt sich ein unterschiedlicher Umgang mit der Verwendungsgeschichte der Materialien. Bleiben Gebrauchsspuren des Holzes in seiner Vorgeschichte im Zuge der entstehenden Arbeit sichtbar, werden Arbeits- und Gebrauchsspuren des erhitzten, geschmolzenen, gegossenen und sodann erkalteten Leichtmetalls entfernt, wobei der Verweis auf das dem Guss vorausgehende gebrauchte Holz in der Oberflächenstruktur des Aluminiums erhalten wird. Das »gefundene« Holz scheint sein ihm eigenes Aussehen, bedingt durch seine Vorgeschichte, als Ressource in beide Arbeiten einzubringen. Dem Aluminium und seiner für die Wahl des Materials entscheidenden »Wertigkeit« wird in der Weise zugearbeitet, als dass durch das Ziselieren seine glänzende, metallen silbrig-weiße Erscheinung verstärkt wird.9 Auch tritt durch die Homogenisierung der Aluminiumoberfläche der Monolith in seiner Einheitlichkeit hervor, während die Hölzer in ihren Differenzen zueinander das Gerüst als Zusammenfügung betonen. Nicht nur bezüglich technischer Umgangs- und Verfahrensweisen auch im Hinblick auf ästhetische Auseinandersetzungen werden Holz und Aluminium mit jeweils differenten Behandlungen begegnet. Welche Anschlüsse bieten sich hier für eine Praxis des Materials? Im Hinblick auf das »Dasein« der Möbel thematisiert sich ein »Finden« von Material hier aus Sicht des Findenden,10 der zugleich Material-Sammelnder beziehungsweise Material-Suchender (Raketenleisten) und Material-Wählender (Aluminium) ist. Material begegnet dem Künstler hiernach als etwas Vorhandenes sowie als etwas zu Besorgendes, sodass der Eingang des Materials in den Arbeitsprozess von weiteren Möglichkeiten des Materialbezugs 9 | Baudrillard (1991: 50 ff.) spricht gar von einem »Stimmungswert Material«, der die kulturell bedingte Bewertung von Materialien betrifft. Die in dieser Weise kulturell und auch sozial eingebettete Wertschätzung von Materialien veranlasst dazu, sich für oder gegen den Einsatz bestimmter Materialien zu entscheiden und bestimmtes Material als besonders und erhaben gegenüber anderen Materialien zu attribuieren. Siehe hierzu auch Rübel u.a. (2005: 29 ff., weitergehend 94 ff.). In dieser Weise thematisieren künstlerische Arbeiten in ihrer Berücksichtigung dieser »Stimmungswerte« Material auch als kulturellen Bedeutungsträger. 10 | Nach Heidegger (2006: 132) liegt gerade in dem »Da«, in der Räumlichkeit des Daseins die Bestimmung eines »Ich-Hier« zu einem »zuhandenen ›Dort‹«, das »die Bestimmtheit eines innerweltlich Begegnenden« ist. Dass etwas »einfach da ist«, mag sich hiernach in einer gemeinsamen, füreinander räumlich erschlossenen Welt der sich Begegnenden begründen.

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profitiert. Verschiedene Materialien evozieren nicht nur verschiedene Weisen des Eingehens in den Arbeitsprozess, sondern zudem unterschiedliche Verfahren, Behandlungen sowie Umgangsweisen und etablieren differenzierte Abläufe eines Arbeitens mit und an ihnen. Während ein Arbeiten mit Holz ein Trennen (die Hölzer wurden teilweise auch in bestimmte Längen gesägt) und Zusammenfügen (kleben, nageln, montieren) des Materials umfasst,11 ist Aluminium beziehungsweise Leichtmetall in andere Aggregatszustände zu versetzen, sodass es gegossen und geformt werden kann. Hierzu ist es notwendig, auch andere Materialien hinzuzuziehen (Silikon, Wachs), um aus ihnen zunächst Gussformen herzustellen. Eingespannt in ein »Um-zu«, gar ein »Dazu« (Heidegger 2006: 74) verrichten sie ihren Dienst für die Materialien, die sich später im Kontext der Arbeit zeigen. Sie kommen lediglich als Mittel zum Zweck der Bearbeitung der später sichtbaren und in die Arbeit eingehenden Materialien zum Einsatz, sodass sie hiernach im Bereich technischer Notwendigkeiten verbleiben. An dieser Stelle erscheint es für eine Praxis des Materials relevant, über einen auffordernden Charakter von Material hinauszuweisen. Materialien beinhalten in ihrer unterschiedlichen Stofflichkeit, in ihren Qualitäten und Eigenheiten nicht nur evozierende Potenziale. Mit ihnen gehen auch Restriktionen einher, die ein Arbeiten rahmt, einschränkt und orientiert – Holz zu schmelzen ist beispielsweise unmöglich, Aluminium mit Hammer und Nagel zu montieren mag Schwierigkeiten mit sich bringen. Eingebunden in ein Arbeiten mit und an Materialien kann Material für den mit ihm Arbeitenden gar er-fordernde Züge annehmen, sodass es ein Arbeiten phasenweise zu dominieren vermag. Möglichkeiten des Umgangs mit ihm bietet das Material insofern an, als dass es bestimmte Determinanten in das praktische Arbeiten mit ihm implementiert. So gehen Möglichkeiten als solche erst aus den Grenzen hervor, die das Material in seinen Eigenheiten mitunter setzt. Wird das Aluminium nicht zuvor Temperaturen ausgesetzt und geschmolzen, ist kein Gießen möglich. Materialien begegnen in dieser Weise Werkzeuge, Verfahren und Manipulationen, die sich auf ihre jeweiligen Qualitäten und Eigenheiten geradezu spezialisiert haben und die auf ihre Erfordernisse eingestellt sind. Eingebunden in ein künstlerisches Arbeiten evoziert Material jedoch nicht allein verfahrens- und umgangstechnische, sondern auch ästhetische Auseinandersetzungen. Das Metallene des Metalls zu einer homogen erscheinenden Oberfläche zu ziselieren sowie das Hölzerne, hier speziell das Hölzerne des Raketenholzes, in seinen Gebrauchsspuren zu belassen, plausibilisiert ein künstlerisches Arbeiten, das sein Material nicht nur als Teil einer produzierenden 11 | Die zusammengefügten beziehungsweise verbauten Materialien werden in der Ausweisung der Arbeiten als »Baustoffe« gebündelt, was sodann auch Nägel, Klebstoff beziehungsweise alle verwendeten Materialien einschließt.

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Praxis begreift, sondern stets auch als etwas, das sich als solches zeigt. Material wird hier in einer Sichtbarkeit relevant; im Zuge der entstehenden künstlerischen Arbeiten zeigt es sich in seinen Oberflächen. So werden die hier zur Sprache gebrachten Arbeiten beziehungsweise die eingesetzten Materialien nicht etwa durch Lackierungen oder Anstriche verdeckt. Die spätere Arbeit offenbart das Material als Bestandteil ihrer, sodass es stets auch um das AusSehen des Materials geht, seine Wirkung, seine Präsenz und seine Bedeutung im Kontext der jeweiligen Arbeit. In dieser Sichtbarkeit thematisiert Material für ein künstlerisches Arbeiten sich nicht nur aus einer Verfahrens- und an der Verwendung interessierten Perspektive, sondern auch im Hin-Blick auf seine Materialität, die den Bereich des Wahrnehmens berücksichtigt. Materialität plausibilisiert sich im Sehen als das Materiale des Materials, das sich zeigt – wie das Hölzerne des spezifischen Holzes sowie das Metallene des Metalls, das ein künstlerisches Arbeiten berücksichtigt und auf das es in seinem Umgang mit den verschiedenen Materialien einzugehen vermag. Die Sichtbarkeit des Materials lagert somit der Sichtbarkeit der im Werden begriffenen und sich in ihren jeweiligen Zuständen zeigenden Arbeiten ein und ist bereits im Prozess ihrer Hervorbringung präsent. Mit Heidegger (2006: 70 f.) ließe sich gar sagen, dass die Sichtbarkeit des Materials sich schon innerhalb des Verweisungszusammenhangs der zu betrachtenden Arbeit begründet. Das Betrachten wird von Beginn an durch ein künstlerisches Arbeiten einbezogen, das sein Material selbst betrachtet und es in seinem Aussehen zur Kenntnis nimmt. Wird das Material des »Woraus« nicht überstrichen oder in anderer Weise »unsichtbar« gemacht, so zeigt es sich im Kontext der Arbeit als Teil dieser. Im Einsatz künstlerischer Arbeiten tritt Materialität somit nicht als »vermeintliche Abstraktion« auf, sondern zeigt sich im Zuge eines Sehens, für welches Material in dessen Sichtbarkeit es relevant wird. Materialität geht hiernach aus einer Praxis des künstlerischen Arbeitens hervor, die dem Material seine materialen Sichtbarkeiten und Wahrnehmbarkeiten mittels des Arbeitens an und mit ihm zu entlocken vermag.12 So zeigen die zu betrachtenden Arbeiten beziehungsweise Werke das sich in ihrem Kontext zeigende Material als Bestandteil ihrer selbst. Materialität als das Materiale des Materials ist hiernach eingebunden in eine Praxis des Sehens, Wahrnehmens und Betrachtens.

3.3 Betrachten: Zur Sichtbarkeit von Material Kommt die Sichtbarkeit des Materials, sein Aussehen, seine Wahrnehmbarkeit und Erfahrbarkeit im Zuge der sich zeigenden künstlerischen Arbeiten ins Spiel, so mag es für eine am Praktischen interessierte ethnografische Perspektive nicht ausreichen, allein von der Beobachtbarkeit und Beschreibbarkeit von 12 | So spricht Wagner auch von Material als »ästhetische Kategorie« (Wagner 2001: 12).

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Praktiken auszugehen. Vielmehr sieht sich die Ethnografin zudem in persona gefordert, sich zu den Arbeiten zu begeben, sie anzuschauen und zu betrachten. In dieser Weise begründet sich ein praktischer Zugang zum Materialen auch in der leiblichen Begegnung mit ihm und seiner Sichtbarkeit. Wie lässt sich die Begegnung mit den sich zeigenden künstlerischen Arbeiten und ihren Materialien mittels ethnografischen Materials vermitteln? Um die materiale Präsenz im Einsatz der Arbeiten nicht hinter den Zeichen der Schrift, hinter dem Text und seiner Performativität, hinter dem Lesen in seinen sequenziellen Vollzügen verschwinden zu lassen, bietet es sich in besonderer Weise an, die Fotografie als bildgebendes Verfahren einzubeziehen,13 um Sichtbarkeit sodann im Vollzug des Sehens zu transformieren und zu transportieren. So wird der Leser des Textes im Folgenden zum Betrachter von Bildern, genauer von Fotografien gedruckt auf Papier, die die beiden Arbeiten, Block und Block 2 zeigen. Im Vergleich der abgebildeten Arbeiten zeigt sich eingängig die fast kontrastive Wirkung der unterschiedlichen Materialien. Das hölzerne fachwerkartige Gerüst offenbart die Spuren des Holzes, zeigt sich in einer Leichtigkeit, referiert auf Handwerk und historisches, hölzernes Fachwerk im Kontext einer blockhaften Architektur. Die Arbeit entwickelt gleichsam eine einladende Wirkung. Der Monolith aus Aluminium dagegen wirkt kühl, fast kalt in seiner metallenen Erscheinung und verweist auf Gerüste im Zuge von Industrialisierungsprozessen. Er zeigt sich in einer Schwere und Abgeschlossenheit und zugleich in silbrig-weißer Eleganz, die eine gewisse Distanz zu ihm nahelegt. Die Auseinandersetzung mit dem Betrachteten vor Ort wird hierbei vornehmlich im Bildnerischen forciert. So mögen die Fotografien einen visuellen Eindruck der Arbeiten und den zum Einsatz gebrachten Materialien vermitteln, wobei ihnen die Situation des Betrachtens der Arbeiten vis-à-vis vorausgeht. Zunächst erblickte ich den Monolith aus Aluminium im Kontext einer Ausstellungssituation, die ermöglichte, dass er in weitem Abstand zu anderen Arbeiten und Dingen auftrat und somit von weitläufigem Raum umgeben war, der seine distanzierende Wirkung noch unterstützte – vor weiß gestrichenen Wänden sowie auf grauem Boden, gestellt auf eine schwarze Lackfläche zeigte er sich. Das Gerüst aus Holz begegnete mir hingegen in einem Atelier, in dem es auf einem Sockel angebracht war, der es auf Augenhöhe direkt in das Blickfeld geraten ließ. Umgeben von Dingen und anderen Arbeiten schien die Arbeit den Raum geradezu einzunehmen und die Blicke anzuziehen, gar in sich hineinzuziehen. Das in dieser Weise zeitliche Nacheinander des Betrachtens beider Arbeiten lud in nachvollziehbarer Weise dazu ein, beide 13 | Dass die Fotografie verschiedentliches Potenzial für die ethnografische Forschung beinhaltet, zeigt beispielsweise Pink (2010).

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Block. Marten Schech, 2012. Baustoffe; 300 cm × 31,5 cm × (46,5 cm (Gerüst) + 125 cm (Sockel))

Fotografie von Christiane Schürkmann, © Marten Schech, Christiane Schürkmann

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Block 2. Marten Schech, 2013. Aluminium, Lack; 74,5 cm × 25,5 cm × 49 cm

Fotografie von Christiane Schürkmann, © Marten Schech, Christiane Schürkmann

Arbeiten in einen Vergleich, und insbesondere im Hin-Blick auf ihre unterschiedlichen Materialien, in Bezug zueinander zu setzen. In dieser Weise mag das zuvor Betrachtete in die anschließenden Betrachtungen einzugehen und diese zu inspirieren. So offenbaren sich einem Betrachten erst in seinen leiblich, anwesenden Begegnungen mit den sich zeigenden Arbeiten Referenzen und Relationen, erschließen sich ihm Zusammenhänge, erblickt es Kontraste, beginnt es im Vollzug seines Betrachtens das Betrachtete zu

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thematisieren und in seinem »was« und »wie« zu befragen. Ausgehend von einem derartigen Betrachten liegt die Ambition nahe, das Betrachtete fotografisch zu skizzieren, es in eine andere Sichtbarkeit zu überführen – eine Sichtbarkeit, die auf einer bildnerischen Ebene argumentiert, die jedoch erst aus der betrachtenden Begegnung mit dem sich Zeigenden resultiert. Farben, Oberflächenstrukturen, Bearbeitungsspuren, Impressionen von Massivität oder Fragilität, Kälte oder Wärme, Unnahbarkeit oder Nahbarkeit der sich zeigenden Arbeiten treten in dieser Weise in situ hervor, werden gleichsam merkbar, sichtbar, wahrnehmbar beziehungsweise spürbar (Böhme 2001). Das sich zeigende Material wird in und durch die sichtbaren Arbeiten als Phänomen relevant. Es offenbart sich in dieser Relevanz dem sehenden, blickenden Vollzug, indem es seine ihm eigenen Sichtbarkeiten entfaltet. Materialität als die Sichtbarkeit des Materialen zeigt sich hier somit involviert in eine leiblich wahrnehmende Praxis, in der die Ethnografin zur Betrachterin der Arbeiten wird. Im Betrachten der Arbeiten wird Material nicht nur zugunsten seiner Verwendung instrumentalisiert oder thematisiert, vielmehr tritt es in seiner Präsenz in den Vordergrund. Ein Betrachten der Arbeiten in ihrer Materialität, in ihren sich zeigenden Materialien entledigt sich einer vornehmlich an Verfahren, Verwendungen und Gebrauchsweisen interessierten, beobachtenden Perspektive. Auch befragt es das sich ihm Zeigende in seinen Vollzügen nicht vornehmlich mit einem Interesse an dessen Beschreibbarkeit. Der betrachtende Blick in situ richtet sich zunächst auf das Sichtbare, ist gleichsam »Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare« (Merleau-Ponty 2004: 172 f.). Das Sehen selbst wird Zugang. »Es ist so, als bildete sich unser Sehen inmitten des Sichtbaren […]. Gegeben sind also nicht etwa mit sich selbst identische Dinge, die sich dem Sehenden im nachhinein darbieten würden, und ebensowenig gibt es einen zunächst leeren Sehenden, der sich ihnen im nachhinein öffnen würde, sondern gegeben ist etwas, dem wir uns nur nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten […]«. (Merleau-Ponty 2004: 173)

Das Sehen, so auch das Betrachten als ein sich in die Dinge einkörperndes Sehen, ankert in einer Verwobenheit, in der Sehender und Sichtbares nicht als zwei verschiedene Entitäten aufeinandertreffen, sondern vielmehr ineinander übergehen, sich gleichsam bedingen und gar einander bedürfen. In dieser Weise wird die Begegnung zwischen Sehendem und Sichtbaren zu einer Verschränkung beider, indem eines aus dem anderen hervorgeht. Eine Praxis des Materials im Einsatz künstlerischer Arbeiten schließt somit auch den ein, der es wahrnimmt, der sich ihm leiblich zuwendet, der es nicht nur benutzt und gebraucht, sondern mitunter an ihm erst seine Blicke sowie sein Blicken entwickeln kann.

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4. S chluss : Ü berlegungen zu einer P r a xis des M aterials Material im Einsatz künstlerischer Arbeiten und Arbeitsprozesse zeigt sich einer ethnografischen Perspektive als praktisches, situiertes und mitunter gar situatives Erzeugnis, hervorgehend aus einem materialbedürftigen und materialsensiblen Arbeiten, das sein Material permanent finden und selektieren muss. Material begründet sich somit nicht allein in einer Stofflichkeit oder Widerständigkeit per se, sondern etabliert sich im Kontext des Herstellens, Erzeugens und Hervorbringens, was sich gar erst an und mit Material zu entwickeln vermag. In dieser Weise werden Dingen und Materialien eine Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber ihren Spezifika zuteil, denen sich ein jeweiliges Arbeiten zuzuwenden vermag, das seinen Materialien begegnet. Material für ein künstlerisches Arbeiten in seiner »Jeweiligkeit«, in seiner Suche nach den ihm eigenen Materialien ist somit nicht im Generellen oder Verallgemeinerbaren zu verorten, sondern im Aufeinandertreffen der Dinge mit einem Arbeiten, das in seinen jeweiligen Auseinandersetzungen stets an Weiterem und Anderem interessiert bleibt. Material bringt sich als Teilnehmer, mitunter als dominanter Teilnehmer in den arbeitenden Prozess ein – als ein Teilnehmer, der gar individuelle und spezifische Züge bereithält, von denen ein Arbeiten profitiert, das sich in seinen Eigenheiten sodann im Zuge der sich zeigenden Arbeiten sichtbar macht, sich als ein zeitgenössisches künstlerisches Arbeiten in seinen Positionen gar sichtbar machen muss. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Materialien bedeuten demnach nicht nur ein Arbeiten mit Material oder ein Herstellen aus Material – wie in diesem Beispiel Holz und Leichtmetall. Vielmehr beinhalten sie zudem ein Umgehen mit dem Materialen des Materials – hier dem Hölzernen des Holzes und dem Metallenen des Metalls –, das sich in seinem Aussehen, in seiner Sichtbarkeit, in seinen Qualitäten sowie seiner Geschichtlichkeit und kulturellen Einbettung zeigt und thematisieren lässt. Materialität wird in dieser Weise als das sich Zeigende des Materials beziehungsweise des Materialen relevant und involviert den sich ihm Zuwendenden in dessen Blicken sowie in dessen Auseinandersetzungen mit dem sich Zeigenden. Auch belässt ein künstlerisches Arbeiten es nicht bei der Verwendung von Materialien, sondern es bezieht zudem die Verwendung der von ihm verwendeten Materialien ein, wie beispielsweise deren Verwendungsgeschichte oder kulturell eingebettete Wertigkeiten. Im Einsatz eines künstlerischen Arbeitens ist Material somit nicht vornehmlich auf die Herstellung von Produkten abgerichtet, sondern wird vielmehr als Teilnehmer einbezogen mit und an dem Weiteres und Anderes erarbeitet werden kann. In dieser Weise beschreibt ein künstlerisches Umgehen mit Materialien eine Praxis, die eher dem Prozess als dem Produkt zugewandt ist – eine Praxis des Materials im Einsatz künstlerischer Arbeiten bezieht sich immer wieder auf das Unfertige und Rohe und begibt sich auf die Suche nach anderen und weiteren

Von Raketenleisten bis zum Leichtmetall

Materialien und mit ihm arbeitenden Verfahren, um Möglichkeiten zu generieren. Eine derartige dem Material zugewandte Praxis richtet sich demnach im Unabgeschlossenen ein und ist in diesem Sinne niemals »fertig«, sondern bleibt stets an Variationen interessiert. Das Einspeisen von anderem, weiterem, gefundenem und gewähltem Material stabilisiert geradezu das Potenzial einer fortlaufenden Dynamik für ein Hervorbringen, das seine Resultate nicht zwingend vorab definieren und festlegen muss, sondern das seinen Blick auf Nuancen, Details, Spuren, Strukturen, Historizität und Bedeutungen von den eingesetzten und sich im Kontext der Arbeiten sodann zeigenden Materialien zu richten vermag. Ein derartiges Umgehen und Auseinandersetzen mit Material interessiert sich sodann für das Spezifische der Materialien und nimmt Material in seiner Teilhnehmerschaft an der arbeitenden Praxis zur Kenntnis. Wird in dieser Weise das Material als solches berücksichtigt, so zeigt sich ein Hervorbringen nicht weiter in gleichsam anämischen doings und sayings – die von Schatzki beschriebenen produzierten Kräuter riechen nicht, das Kräuterige der Kräuter, das sie in ihren olfaktorischen und geschmacklichen Besonderheiten ausmacht, bleibt zugunsten fortlaufend regulärer und phasenweise nicht regulärer Produktionsabläufe unerwähnt. Wird hingegen auch das sich Zeigende, Ästhetische beziehungsweise Wahrnehmbare der eingesetzten Materialien einbezogen, so wird eine Praxis des Materials nicht nur eine ablaufende, technischen Verfahren unterliegende oder sequenziell organisierte Praxis, die reguläre und nicht reguläre Tätigkeiten aneinanderreiht. Lebendig wird sie zudem als eine leiblich-sinnlich konstituierte Praxis, die unterschiedliche Zugänge und Facetten, Wahrnehmbarkeiten und Sichtbarkeiten von Welt und Dingen einbezieht. Für eine ethnografische Perspektive auf eine Praxis des Materials werden verschiedene Begegnungen mit Material relevant, die in Zusammenarbeit mit den Beteiligten Beobachtungen, Beschreibungen sowie Sichtbarkeiten generieren und Datenmaterial hervorbringen, wobei auch ein in dieser Weise materialerzeugendes ethnografisches Arbeiten dem Unabgeschlossenen und Prozessualen verhaftet bleibt. So wären neben den hier vorgestellten und exemplifizierten Begegnungen zudem andere Weisen des Begegnens mit Material denkbar, bleibt doch die Begegnung stets variabel und materialbezogen  – je nachdem wie die jeweilige Praxis arbeitet, wie sie ihr Material zum Einsatz bringt sowie nicht zuletzt abhängig davon, welche Gelegenheiten sich den Begegnenden bieten. Mit der Heuristik der Begegnung, die sich von formelhaften Konventionen und singulären Abläufen in ihrer Ereignishaftigkeit und Situativität löst, eröffnen sich Möglichkeiten, mit Material in seinem praktischen Einsatz in unterschiedlichen Weisen in Kontakt zu treten. So zeigt sich eine ethnografisch gerahmte Materialforschung – hier im Feld der bildenden Kunst  – in ihrem Vorgehen und in ihrem Umgang mit Material gegenüber Gelegenheiten sowie Kooperationen aufgeschlossen, sodass (Daten-)Material

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in seinem empirischen Potenzial adressierbar wird. Eine Praxis des Materials, die verschiedene Begegnungen zulässt und somit differentes (Daten-)material erzeugt, versteht sich als eine prozessual ausgerichtete Praxis, die in Zusammenarbeit mit dem Material weniger an finalen Resultaten oder begrifflichen Programmatiken, sondern vielmehr an Variationen und Möglichkeiten des Vermittelns, Darstellens und Explizierens interessiert ist. Material als stets Fehlendes, stets zu Suchendes und zu Generierendes – in dieser Weise scheinen sich künstlerische sowie ethnografische Arbeitsweisen zu ähneln –, lässt eine Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zu, Gefundenes, Gesammeltes und Selektiertes in Beobachtetes, Beschriebenes, Betrachtetes und sodann Bildnerisches zu transformieren, um die eigene hervorbringende Praxis »weiterzutreiben« und empirische Offenheit innerhalb des ethnografisch forschenden Prozesses zu etablieren. Ausgehend von der Begegnung eines ethnografischen Arbeitens mit einem künstlerischen Arbeiten plausibilisiert sich Material in seinen Potenzialen und Restriktionen, in seinen Besonderheiten und Herausforderungen als zu berücksichtigender und zu befragender »Treibstoff« erzeugender und hervorbringender Praktiken, die stets weiterer Variationen bedürfen, da sie sich in ihrer Disposition für Anderes und Weiteres nicht in Redundanzen und Wiederholungen ergehen und einrichten können.

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Von Raketenleisten bis zum Leichtmetall

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Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit Ethnomethodologische, poststrukturale und ethnografische Analyseheuristiken Yannik Porsché

1. Z usammenfassung In diesem Beitrag dient eine Fallstudie zu öffentlichen Repräsentationen von ImmigrantInnen in Museumsausstellungen und den Massenmedien in Deutschland und Frankreich dazu, die Kompatibilität dreier methodologischer Ansätze der Diskursanalyse zu eruieren. Ich gehe davon aus, dass eine selektive Verbindung von ethnomethodologischen, poststrukturalen und ethnografischen Methoden in einem praxissoziologischen Ansatz fruchtbar ist, um deren jeweilige Grenzen und blinde Flecken zu überwinden. Neben einem gemeinsamen Bemühen dieser Methoden, dem Desiderat eines »practice turns« nachzukommen, d.h. den Vollzug von Praktiken empirisch zu untersuchen, unterscheiden sie sich in ihrem Zugang zum Kontext. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse, welche die situative und kopartizipative Herstellung von sozialer Ordnung in den Blick nimmt, wird hierbei häufig dafür kritisiert, dass sie den weiteren politischen und materiellen Kontext nicht in Betracht ziehe. Auf der anderen Seite wird diskursanalytischer Arbeit, die sich auf den Poststrukturalismus und/oder ethnografische Arbeit stützt, bisweilen vorgeworfen, einen externen Kontext zu postulieren, ohne eine fundierte empirische Grundlage für ihre Behauptungen zu liefern. In diesem Beitrag zeige ich, dass situierte Kontextualisierung wie auch der weitere Kontext in sozialen Interaktionssituationen im Museumsraum relevant sind. Einerseits untersuche ich Kontextualisierungsaktivitäten wie das Zeigen und sich beziehen auf etwas oder jemanden. Andererseits beziehe ich in die Analyse mit ein, wie der Kontext die Interaktionssituation ermöglicht und begrenzt. Die Analysebeispiele zeigen die Relevanz von Kontextdimensionen der Zeit, Hierarchie und Materialität auf, wenn im Museum Bedingungen für eine Erweiterung des öffent-

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lichen Raums geschaffen werden oder wenn auf eine Öffentlichkeit außerhalb des Museumsraumes verwiesen wird. Dies geschieht z.B., wenn JournalistInnen Interaktionen im Museumsraum in Radiosendungen und Zeitungsartikel übersetzen bzw. wenn ReferentInnen und BesucherInnen Interaktionen im Museumsraum von Diskussionen in der Presse unterscheiden.

2. E thnome thodologische , poststruk tur ale und e thnogr afische M e thodologie In diesem Beitrag argumentiere ich dafür, ethnomethodologische, poststrukturale und ethnografische Heuristiken in einer mikrosoziologischen Kontextualisierungsanalyse zu kombinieren (im Folgenden »Kontextualisierungsanalyse«) (siehe auch Porsché 2014, im Erscheinen; in Vorbereitung). Ich gehe der Frage nach, wie bspw. anstelle Öffentlichkeit als Entität zu postulieren (vgl. Sacks 1992: 42), untersucht werden kann, wie Öffentlichkeit in öffentlichen sozialen Praktiken dargestellt, vertreten und hergestellt wird. Ein Registerwechsel zwischen den genannten Methodensträngen erlaubt es, Praktiken aus folgenden Perspektiven zu konzeptualisieren: Mit ethnomethodologischen Werkzeugen der Konversationsanalyse wird die Komplexität flüchtiger, multimodaler und synchron orchestrierter Interaktionspraktiken einzelner Interaktionsereignisse in Einzelteile »zerlegt«, d.h. der Fokus liegt auf dem »Wie« des Vollzuges sozialer Praktiken. Die poststrukturale Diskursanalyse thematisiert die Möglichkeitsbedingungen von Praktiken im weiteren diskursiven und institutionellen Zusammenhang und zeigt Machteffekte auf, d.h. es wird die Frage nach dem »Wann-Möglich-Sein« von Praktiken gestellt. In der analytischen und »befremdenden« Ethnografie wird in der teilnehmenden Beobachtung auch über längere Zeiträume mit variierender Distanz von Perspektiven gespielt, anhand derer Forschende ganzheitliche, dichte Beschreibungen liefern können, d.h. das Interesse liegt auf den »Wirkungen« (nicht nur im Sinne von Kausalität, sondern auch hinsichtlich menschlicher Wahrnehmung) und Konsequenzen von Praktiken. Im Zentrum dieser Methodologie steht die Frage, wie soziale Interaktionen und geschriebene Texte auf den Kontext angewiesen sind und gleichzeitig diesen mitsamt sozialer Repräsentationen und Machtverhältnisse (re)produzieren. Die drei Forschungsansätze nähern sich der Frage, welche Rolle der Kontext in der Analyse spielen solle, auf sehr unterschiedliche Weise. Üblicherweise kritisieren VertreterInnen der jeweiligen Ansätze einander entweder dafür, dass sie dem Kontext keine Achtung schenken, dass sie ihn postulieren, oder sie ignorieren einander (z.B. Blommaert 2001: 15; Schegloff 1998; Wetherell 1998). Anders formuliert, tendiert jeder der Ansätze dazu, sich auf eine der folgenden Kontextdimensionen zu konzentrieren, ohne deren Inter-

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

aktion genügend Beachtung zu schenken: Zeit, Hierarchie und Materialität. In ethnomethodologischen Analysen liegt der Fokus auf temporeller Sequenzialität, poststrukturale Arbeit ist besonders an Fragen von Macht und Hierarchie interessiert und die Ethnografie unterstreicht die Relevanz von Materialität, menschlicher Erfahrung und transsequentieller Kontextgenerierung. Im Folgenden weise ich darauf hin, in welcher Hinsicht diese methodologischen Ansätze einander sinnvoll ergänzen können und welche Argumente mir in Momenten der Uneinigkeit überzeugend erscheinen. Die Verschränkung zwischen dem spezifischen geschriebenen Text oder der sozialen Interaktion und dem Kontext wird in Kontextualisierungshinweisen (vgl. Gumperz 1982: 131; 1992) ersichtlich. Diese stellen die zentrale Heuristik für den hier vorgeschlagenen Ansatz dar. Anhand von Kontextualisierungshinweisen greifen InteraktionsteilnehmerInnen auf den »Makro-Kontext« als eine Ressource zu und rahmen den lokalen Text oder die soziale Interaktion. Gleichzeitig erscheint die spezifische Funktion der Hinweise je nach »Mikro-Kontext« zentral für die Frage, welcher »Makro-Kontext« wie relevant gemacht wird. In dem hier vorgeschlagenen Ansatz der Kontextualisierungsanalyse nehme ich kollektive Entitäten und Phänomene wie Diskurse, Identitäten, Gedächtnis oder Wissen mit Blick auf die Bedeutung, die sie für TeilnehmerInnen und die Herstellung von Machtverhältnissen haben, ernst. Nichtdestotrotz hinterfrage ich die analytische Unterscheidung zwischen einer »Mikro-« und einer »Makroebene«, der nach die genannten Entitäten auf einer »höheren« oder »dahinter liegenden« Ebene existieren (vgl. Brubaker/Cooper 2000; Latour 1994). Ich gehe in diesem Zusammenhang nicht davon aus, dass es gesellschaftliche Phänomene unabhängig von Verweisen auf diese gibt. Stattdessen nehme ich an, dass dynamische Sprechakte1 jeglicher Art (z.B. in schriftlicher, visueller, körperlicher oder gesprochener Interaktion) zu der (Re)produktion von »Makro-Sprechakten« beitragen, d.h. sie (re)produzieren z.B. ein Genre oder ein gesellschaftliches Phänomen (vgl. Maingueneau 1997: 11 f.). Daher untersuche ich, wie Verweispraktiken in Interaktionen ausgeführt werden. Institutionelle und multimodale Erweiterungen der Konversationsanalyse (Conversation Analysis, CA) stellen den ersten methodischen Baustein für den hier vorgeschlagenen Ansatz dar. Sie liefern überzeugende Argumente und Heuristiken dafür, wie wir die kontext-geformten und kontext-formenden Charakteristiken von sequentiellen Gesprächsabläufen analysieren können. Die Analyse von alltäglicher, formeller und informeller Interaktion basiert auf dem in der Konversationsanalyse und im Anschluss an diese in der Diskursiven Psychologie und der Kontextualisierungsforschung entwickelten Diskursbe1 | Siehe aber Button (1994), Schegloff (1988) und Streeck (1980) für die m.E. einleuchtende konversationsanalytische Kritik an Ansätzen, die Sprechakte a priori und in Abstraktion von spezifischen dynamischen Interaktionen definieren.

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griff – »naturally occurring talk and text« (Edwards/Potter 1992: 28; vgl. Porsché/Macgilchrist 2014, im Erscheinen). In multimodalen Analysen ist damit auch Kommunikation durch den Körper (z.B. Gesten, Mimik, Körperhaltung, Positionierung und Bewegung im Raum) gemeint (Goodwin 2000; Haddington/Mondada/Nevile 2013). Diesem Verständnis nach wird von ForscherInnen keine Pluralität von abgrenzbaren Diskursen postuliert (Potter, et al. 1990).2 Stattdessen werden kleinteiligere, situierte »interpretative Repertoires« identifiziert, d.h. bestimmte stilistische, grammatikalische Anordnungen, die Phänomene wie eine Person, ein Ereignis oder einen Gegenstand in einer Weise beschreiben, die von GesprächsteilnehmerInnen als selbstverständlich erkannt und verstanden wird. Diese Repertoires stellen in einer kulturellen Kommunikationsgemeinschaft eine historische Ressource dar, auf die man sich durch Metaphern, Tropen und Redewendungen bezieht (vgl. Wetherell 1998). Der ethnomethodologische Hintergrund von CA(-inspirierten) Ansätzen liefert eine differenzierte Perspektive auf die sequentielle Organisation von Interaktion, in der Gesagtes oder auf andere Weise Angezeigtes den Kontext für die folgende Interaktion darstellt. Die CA beachtet dabei auch subtile Hinweise, die TeilnehmerInnen üblicherweise in Betracht ziehen, ohne sie zu reflektieren (»seen but unnoticed«, Garfinkel 1967: 36). In der Analyse von Transkriptionen fragt die CA »why that now?« (Schegloff/Sacks 1973). Sie nimmt dabei eine emische TeilnehmerInnenperspektive ein und wendet die ›next-turn proof procedure«3 (Hutchby/Wooffitt 1998: 15; Sacks/Schegloff/Jefferson 1974) an, um zu gewährleisten, dass Befunde nicht auf a priori Annahmen der ForscherInnen beruhen. Für die hier vorgeschlagene Methodologie ist insbesondere ethnomethodologische Arbeit zu Indexikalität, implizit-praktischem Wissen und Konstellationen von TeilnehmerInnen wichtig, da sie die Relevanz und Dynamik des Kontextes und die Spezifik jeder sozialen Begegnung aufzeigt. In der hier vorgeschlagenen Kontextualisierungsanalyse liegt der Fokus jedoch nicht auf der in der CA hauptsächlich untersuchten linguistischen Organisation von Diskurs. Stattdessen interessiert mich zu dem pragmatischen modus operandi von Sprache auch, worüber TeilnehmerInnen sprechen, wie sie soziale Angemessenheit von Verhalten einschätzen und welche Kontextverweise sie tätigen. Das Ziel ist es, Konsequenzen von Praktiken auch über die Sequentialität einer spezifischen Interaktion hinaus aufzuzeigen. Hierfür ist es wichtig nachzuzeichnen, wie politische, kulturelle und institutionelle Kontexte relevant gemacht werden und wie kontextuelle Bedingungen über längere Zeit2 | Der hier verwendete Diskursbegriff ist jedoch von einer Pluralität im Sinne einer Polyphonie und Interdiskursivität jeder Aussage geprägt. 3 | Beispielsweise Peräkylä (2004: 291) beschreibt, dass TeilnehmerInnen jede Äußerung in dem lokalen, sequentiellen Kontext interpretieren und ihr Verständnis der vorherigen turns anzeigen.

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

räume hinweg generiert werden. Studien der institutionellen CA gehen einen Schritt in diese Richtung, indem sie Heuristiken bereitstellen, um die (Re)produktion von institutionellem Kontext zu untersuchen, ohne diesen Kontext zu postulieren (Drew/Heritage 1992; Heritage/Clayman 2010). Um auch der Frage nach Machteffekten nachzugehen, sind neben dem Hauptanliegen der diskursiven Psychologie, nämlich den Kognitivismus in psychologischen Arbeiten zu kritisieren, Analysetechniken interessant, die zeigen, wie alternative Beschreibungen von Phänomenen ausgeschlossen werden und wie Wissen verhandelt wird. Insbesondere Wetherells Einbezug von gesellschaftlichen Machtfragen und ihre Offenheit gegenüber poststrukturalistischer, polyphonietheoretischer und ethnografischer Arbeit im Ansatz der Kritischen Diskursiven Psychologie korrespondiert mit dem hier vorgeschlagenen Ansatz (Wetherell 1998; 2007; Wetherell/Edley 1999; aber siehe auch die Kritik von Parker 2008: 547, dass diese Arbeit weiterhin eine Intentionalität von TeilnehmerInnen postuliert). Letztlich bietet die psychologische Positionierungstheorie (Bamberg 1997; Harré, et al. 2009) einen hilfreichen Rahmen, um die narrative, normative und politische Positionierung von Subjekten auf unterschiedlichen Ebenen der Interaktion zu analysieren. Mit Bezug auf diese Arbeiten zielt der hier vorgeschlagene Ansatz darauf ab, die häufig an die CA gerichtete Kritik aufzunehmen, dass sie sich in winzigen Details einer spezifischen Interaktion verliert. Dadurch, so der Vorwurf, schenkt sie dem weiteren politischen und materiellen Kontext und damit Machtverhältnissen (Billig 1999; Wetherell 1998) sowie soziologischen Konsequenzen von Interaktion ungenügend Beachtung (van Dijk 2006: 167). Den zweiten methodischen Baustein, der Heuristiken einsetzt, die z.T. denen der Konversationsanalyse ähneln (z.B. Marker von Indexikalität), welcher jedoch auf einem weiteren Diskursverständnis basiert und auf soziologische Konsequenzen über die lokale Konstruktion von sozialer Ordnung abzielt, ist die pragmatische und poststrukturale Aussagenanalyse (Angermüller 2007). Im Vergleich zur CA bezieht sich dieser Forschungsansatz der Diskursanalyse (DA) auf Foucault und damit auf eine weitere Konzeption von Kontext als Möglichkeitsbedingungen über die strukturellen Merkmale von Gesprächen hinaus. Aus diesem Grund und da viele DA Ansätze Konzepte eines einheitlichen, intentionalen und autonomen Subjekts in Frage stellen (z.B. Howarth/Torfing 2005), die mancher CA zu Grunde liegt, wird üblicherweise eine Schneise zwischen CA und DA Forschung geschlagen (z.B. Keller 2006; Peräkylä 2005: 881). Auch die Aussagenanalyse hinterfragt Annahmen eines einheitlichen Subjekts. Gleichzeitig ist das Verständnis von Macht nach Foucault (2003a[1977]: 397; 2003b[1977]: 236–243) – als mit Wissen verzahnt, als relationaler Effekt diskursiver Konstellationen und als nur in konkreten Mikropraktiken existent (z.B. in der Zuschreibung von subpersonalen Subjektpositionen)  – kompatibel mit jüngeren CA Arbeiten zur Zuschreibung von Wissen und den damit einhergehenden Rechten und Erwartungen. Heritage und

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KollegInnen untersuchen die durch epistemische Autorität geschaffenen Territorien des Wissens mit konversationsanalytischen Methoden. Sie fassen die relative Wahrnehmung von Wissensasymmetrien als ›epistemic status‹ und die fluktuierenden Statuspositionierungen in der Interaktion als ›epistemic stance‹ (Heritage/Raymond 2005; Raymond/Heritage 2006; Heritage 2012a: 32 f.; 2012b; Mondada 2011). Meinem Vorschlag nach können diese DA und CA Ansätze sinnvoll verbunden werden. Analyseinstrumente der CA mache ich in der Kontextualisierungsanalyse damit für einen Vergleich institutioneller epistemischer Kulturen (Knorr-Cetina 2002) fruchtbar. Mit einer an Foucault orientierten Perspektive kombiniert, erscheint die von Wissensunterschieden angetriebene Interaktion dabei als eine politische Aushandlung, der die Möglichkeit von Widerstand inhärent ist. In dieser Arbeitsteilung übernimmt die DA die Aufgabe, die Polyphonie von Aussagen in Relation zum Sprecher freizulegen (vgl. Nølke/Fløttum/Norén 2004) und, im Unterschied zur CA, auch die einzelnen Aussagen einer Person und diskursive ›Vorkonstrukte‹ (Pêcheux 1975) zu untersuchen, in denen die Verbindung zu einem spezifischen Sprecher nicht relevant gemacht wird. Den dritten methodischen Baustein für die Kontextualisierungsanalyse stellt die analytische und »befremdende« Ethnografie dar. Sie liefert wertvolle theoretische Reflektionen und Methoden der Datenerhebung. Für mich sind insbesondere Überlegungen zu den variierenden Perspektiven, die Forschende auf das Feld nehmen, wichtig. Anhand dieser wird die Ansicht hinterfragt, dass CA-Transkriptionen Realität objektiv abbilden würden (z.B. Hirschauer/ Amann 1997; Mohn 2002). Stattdessen wird in dieser Spielart der Ethnografie die selektive und fokussierte menschliche, erfahrungsbasierte Wahrnehmung als eine Chance dafür begriffen, beispielsweise Atmosphären in die Analyse miteinzubeziehen. Zusätzlich zur Analyse von auf mechanischen Aufnahmen beruhenden Transkriptionen ist es sinnvoll, Feldbeobachtungen durchzuführen, diese zu verschriftlichen und Dokumente zu sammeln. Eine Erhebung über einen längeren Zeitraum und an geografisch verteilten Orten ermöglicht transsequentielle Analysen (vgl. die Trans-Sequentielle-Analyse [TSA] von Scheffer 2010; 2013). Dies erlaubt es nachzuzeichnen, wie (zielgerichtete) Interaktionen Kontexte für spätere Interaktionen im Sinne von Ermöglichungsbedingungen generieren oder zur Formation von sozialen Konstruktionen beitragen. Außerdem ermöglicht der Einbezug der materiellen Umwelt in Mensch und Nicht-Mensch Netzwerken und die Analyse von Eigenschaften und dem Design von Dingen es, ihre Widerständigkeit zu erfassen und diese als Ko-Teilnehmer von Aktionen zu verstehen (Latour 2005; Lash/Lury 2007). Obgleich ich in der Kontextualisierungsanalyse der Umwelt eine aktivere Rolle zugestehe als dies in mancher CA der Fall ist (z.B. Hindmarsh/Heath 2003), liefert auch multimodale CA-Arbeit hierfür eine wichtige Grundlage, da sie die materielle Umwelt mit einbezieht, ohne diese als determinierenden Faktor anzusehen.

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

Kontextualisierungshinweise (Gumperz 1982: 131; 1992)4 dienen der Kontextualisierungsanalyse als zentrale Heuristik, um die drei Forschungsstränge in einer kohärenten Art und Weise zu verbinden. Obgleich es unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der Frage gibt, was als Kontext und Kontextualisierung gelten soll (vgl. Arminen 2000; Pomerantz 1998; van Dijk 2008; 2009), stimmen unterschiedliche Ansätze der Kontextualisierungsforschung im Allgemeinen überein, dass der Kontext für die Interaktion bedeutsam ist und dass dieser nicht vor, außerhalb oder unabhängig von der Interaktionssituation existiert. Aus dieser Perspektive gesehen, beeinflusst oder determiniert der Kontext also nicht die Interkation in einer Weise wie dies in der experimentellen Forschung unabhängige Variablen wie Klasse, ethnischer Hintergrund, Geschlecht, institutionelles, geografisches oder kulturelles Setting tun. Stattdessen wird der Kontext zu einem entscheidenden Maß von den TeilnehmerInnen hergestellt, je nachdem, wie sie die Interaktionssituation definieren (van Dijk 2006: 164 f.; 2008: Xf.). TeilnehmerInnen nutzen Kontextualisierungshinweise, um einander anzuzeigen, was sie in einer spezifischen Interaktion als relevanten Kontext erachten. Da sie nicht darin übereinstimmen müssen, wie sie die Situation definieren und was als relevanter Kontext zählt, unterliegen diese Fragen potenziell einer ständigen Aushandlung. Demnach ist der Kontext dynamisch, zeitlich emergent, variabel und fragil. Kontext als Produkt sowie notwendige Bedingung für Kontextualisierung stellt eine Seite der Medaille dar 4 | Im Unterschied zu Ansätzen, die Kontextualisierungshinweise als einen Ansatzpunkt dafür verstehen, kognitive Schemata zu »entschlüsseln« (vgl. Knoblauch 1991: 453), oder diese als Verweise auf tatsächlich geteiltes Wissen ansehen, verstehe ich diese als Ressourcen für InteraktionsteilnehmerInnen, um die Verbindung von Text und Kontext zu verhandeln (z.B. als Verweise, in denen die Existenz von geteiltem Wissen behauptet wird). Außerdem schließe ich auch explizite Hinweise in die Analyse mit ein, die in mancher Kontextualisierungsforschung ausgeschlossen werden (z.B. Auer 1992). In für mein Forschungsinteresse zu restriktiver Weise beschreibt Gumperz ›contextualization cues‹ folgendermaßen: »[c]ontextualization cues are a class of what pragmaticians have called indexical signs, that serve to retrieve the contextual presuppositions conversationalists rely on in making sense of what they see and hear in interactive encounters. They are pure indexicals in that they have no propositional content. That is, in contrast to other indexicals like pronouns or discourse markers, they signal only relationally and cannot be assigned context-free lexical meanings. Yet they play a major role in transforming what linguists refer to as discursive structures into goal-oriented forms of action. A main aim of my current work on discourse and conversation is to show how indexical signs, including prosody, code- and style-switching and formulaic expressions, interact with symbolic (i.e. grammatical and lexical) signs, sequential ordering of exchanges, cultural and other relevant background knowledge to constitute social action.« (Gumperz in Prevignano/di Luzio 2003: 8).

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(Verschueren 2008: 18, 22). In dem hier vorgeschlagenen Ansatz nehme ich jedoch Kontextualisierungshinweise als Kehrseite der Medaille, soweit möglich 5, als Ausgangspunkt für die empirische Analyse, um Setzungen von Seiten der ForscherInnen zu minimieren. Dadurch ist der Kontext kein »uncontrollable, ever-widening, extralinguistic background« (Verschueren 2003[1999]: 76 f.) einer allumfassenden Welt, die »dort draußen« existiert, sondern Kontextualisierung und »contextual interpretations are actively signaled and/or used, and it is this fact that makes them most useful in linguistic analysis, because it is what makes them traceable« (Verschueren 2003[1999]: 11). Indem ich die empirische Logik der TeilnehmerInnenorientierung in Interaktionen übernehme, folge ich in dieser Hinsicht der CA. Das Element der DA in der hier vorgeschlagenen Kontextualisierungsanalyse, welches den Ansatz von (multimodaler) CA unterscheidet, findet sich in meinem Vorschlag anzuerkennen, dass TeilnehmerInnen unterschiedlichen Orten und Formaten von Diskurs unterschiedliche hierarchische, materielle und zeitliche Eigenschaften zuschreiben. TeilnehmerInnen sind häufig der Ansicht, dass über die spezifische Interaktionssituation hinaus unterschiedliche »Diskurse« existieren (in diesem Beitrag sollen daher abgrenzbare »Diskurse« und auch Begriffe wie »Diskussionen« oder »Debatten« als TeilnehmerInnenkonstruktionen verstanden werden). In einzelnen Interaktionssituationen empfinden TeilnehmerInnen »Diskurse« als ermöglichend und beschränkend. Sie nutzen diese als Ressourcen und beziehen den diskursiven und materiellen Kontext einer spezifischen Interaktionssituation als Möglichkeitsbedingungen in ihre Überlegungen und Praktiken mit ein.

3. A nalysebeispiele Die folgenden Analysebeispiele stammen aus einer Fallstudie, in der ich die Produktion und Rezeption einer Museumsausstellung untersuche, die in Frankreich und anschließend in Deutschland gezeigt wurde (Porsché in Vorbereitung; siehe auch 2012; 2013). Die Forschungsfrage umfasst erstens, was über, in und durch das Museum gesagt wurde; zweitens in welchem Maße und 5 | Genau genommen, basiert jeder Kontextualisierungshinweis bereits auf gewissem Wissen hinsichtlich des Kontextes. Deixis wird daher folgendermaßen erläutert: »[it] refers to a particular way in which the interpretation of certain expressions (›deictics‹ or ›indexicals‹) is dependent on the context in which they are produced or interpreted« (Levinson 1998: 200). In anderen Worten: »even to determine the deictic center, the point of reference from which the dimension is looked at, information is needed about the deictic context« (Verschueren 2003[1999]: 18). Hier zeigt die in der Aussagenanalyse mobilisierte Polyphonietheorie, wie bereits eine einzelnen Aussage Stimmen von anderen, von anderswo und vorher beinhaltet.

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

wie ImmigrantInnen selbst sprechen oder aber lediglich über sie gesprochen wird; und drittens wie Subjekte dadurch in Relation zueinander und zu der nationalen Öffentlichkeit positioniert werden. Die hier ausgewählten Analysebeispiele zeigen die Relevanz von Kontextdimensionen der Zeit, Hierarchie und Materialität auf, wenn im Museum Bedingungen für eine Erweiterung des öffentlichen Raums geschaffen werden oder wenn auf eine Öffentlichkeit außerhalb des Museumsraumes verwiesen wird. Dies geschieht z.B. wenn JournalistInnen Interaktionen im Museumsraum in Radiosendungen und Zeitungsartikel übersetzen bzw. wenn ReferentInnen und BesucherInnen Interaktionen im Museumsraum von Diskussionen in der Presse unterscheiden. Zu diesem Zweck nutze ich in der Analyse ethnografische Video- und Audioaufnahmen von Führungen durch die Ausstellung sowie Interviewdaten, die Veröffentlichungen der Museen, Arbeitsdokumente der MitarbeiterInnen und die Presseberichterstattung. Die Ausstellung trägt den Titel »À chacun ses étrangers ? France – Allemagne 1871 à aujourd’hui/Fremde? Bilder von den Anderen in Deutschland und Frankreich seit 1871«. Sie wurde zuerst in Paris in Frankreich in der Cité Nationale de l’Histoire de l’Immigration (CNHI, heute Musée de l’histoire de l’immigration) in Kooperation mit dem Goethe Institute Paris (GI) und ein Jahr später in Deutschland im Deutschen Historischen Museum (DHM) und im Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg (KM) in Berlin gezeigt.6 Die Ausstellung wählt das Jahr 1871 (Reichsgründung in Deutschland und erste Wahlen der Dritten Republik in Frankreich) als Beginn beider Nationalstaaten und leitet die BesucherInnen durch eine historische Matrix 7 bis zur Gegenwart, unter der Fragestellung welche Bilder von Immigranten in den beiden Ländern vorherrschten und wie sie repräsentiert wurden. Der Schwerpunkt liegt darauf, wie Immigranten mit unterschiedlicher Herkunft im öffentlichen Raum (re)präsentiert wurden bzw. werden (z.B. auf Postern, in Filmen oder in der Rechtsprechung). In manchen Fällen wird gezeigt, wie ImmigrantInnen sich selbst präsentieren und Fragen zu Identitäten von ImmigrantInnen und der Aufnahmegesellschaft werden angesprochen. Weitgehend geht es in der Ausstellung aber darum, welche Bilder des Fremden (insbesondere, aber nicht nur, von ImmigrantInnen) von der Aufnahmegesellschaft konstruiert wurden und wie. 6 | In dem Zeitraum 16.12.2008–19.04.2009 in Paris und 15.10.2009–21.02.2010 in Berlin. 7 | Obgleich historische Phasen das zentrale Ordnungsprinzip beider Versionen der Ausstellung darstellen, wurde die DHM Version auf einer größeren Ausstellungsfläche um Vertiefungsräume zu folgenden Themen ergänzt: Anthropologie, »schwarze Schmach«, Antisemitismus, Algerienkrieg, »Gastarbeiter«, Islam. Außerdem begleiteten zeitgenössische Kunstwerke die historischen Objekte in der CNHI, welche zum größten Teil in der DHM Version nicht gezeigt wurden.

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Die Institutionen blicken auf eine sehr unterschiedliche (politische) Geschichte zurück, welche sich für die Ausstellung oftmals als relevant herausgestellt hat: die französische CNHI war früher das Hauptgebäude der kolonialen Weltausstellung 1931 und wurde zuvor als Museum für koloniale Kunst und Geschichte genutzt. Im Jahr 2007 wurde das Gebäude, von Kontroversen begleitet, als nationales Museum und Netzwerk für Immigrationsgeschichte in Frankreich eröffnet (Murphy 2007; Stevens 2008). Das DHM wurde im Jahr 1987, ebenfalls von Kontroversen begleitet, als nationales Museum der deutschen Geschichte eröffnet. Die derzeitige permanente Ausstellung wurde der Öffentlichkeit im Jahr 2006 zugänglich gemacht, nachdem das Hauptgebäude (das »Zeughaus«) zuvor als Waffenarsenal, als militärhistorisches Museum, als Gedenkstätte für gefallene deutsche Soldaten und zu Zwecken der nationalsozialistischen Propaganda sowie als Geschichtsmuseum der DDR genutzt wurde (vgl. Heuser 1990; Maier 1992[1988]; Mälzer 2005; Ohliger 2002; Stölzl 1988). In Frankreich wird in der Presse und im Museumsraum vornehmlich diskutiert, welche politische Position die relativ junge CNHI Institution einnimmt und in welchem Maße sie für die nationale Regierung, die gesamte Bevölkerung oder ImmigrantInnen spricht. In der Analyse auf deutscher Seite hat sich herausgestellt, dass sich der Produktionsprozess der Ausstellung auch aufgrund eines politischen Zensurvorwurfes besonders für eine detaillierte Analyse eignet. Das Ereignis wurde von einem bestürzten Mitglied des akademischen Beirats der Presse gemeldet und nach der journalistischen Berichterstattung im Ausstellungsraum diskutiert.8 In dieser Fallstudie lassen sich z.B. anhand dieses Ereignisses Verflechtungen und Spannungen zwischen akademischen, politischen und institutionellen Diskussionen ausgesprochen gut untersuchen.

Beispiel 1: Vom Inter view im Ausstellungsraum der CNHI (bzw. des DHM) zur Radiosendung (bzw. zur Fernsehsendung) Der Nutzen, CA mit DA und ethnografischen Methoden wie der TSA zu kombinieren, wird besonders sichtbar, wenn Objekte und Diskussionen zeitlich und geografisch mitverfolgt werden. Dabei wird sichtbar, welche Rolle die spezifischen Interaktionskontexte in den genannten Diskussionen spielen. In dem ersten Analysebeispiel, in welchem eine Referentin einen Journalisten durch die Ausstellung führt und von diesem für eine Radiosendung interviewt 8 | Die Debatte bezog sich weitestgehend darauf, dass folgende Sätze auf einer Tafel geändert wurden. Die Passage »Während innerhalb Europas die Grenzen verschwinden, schottet sich die Gemeinschaft der EU zunehmend nach außen ab. Die ›Festung Europa‹ soll Flüchtlingen verschlossen bleiben.« wurde durch folgenden Satz ersetzt: »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fördert seitdem staatlicherseits die Integration von Zuwanderern in Deutschland.«

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

wird, kann die Übersetzung einer face-to-face Interaktion und das Lesen des Ausstellungskatalogs aus dem Museumsraum in eine im Internet zugängliche Radiosendung nachgezeichnet werden.9 Dabei wird insbesondere die Relevanz der materiellen Modalität in der Medienberichterstattung deutlich. Für die ZuhörerInnen der Radiosendung erscheinen Kontextparameter wie die Tatsache, dass sie bestimmtes hören, aber nicht sehen können, als gegeben. Ein Vergleich einer ethnografischen Aufnahme der Führung durch den Museumsraum und der letztendlichen Radiosendung macht sichtbar, wie die Kontextänderung vollzogen wurde. Transkription 1, CNHI: Ein Interview für eine Radiosendung 1

Journ: # Peut-être parce que: vous faites parti d’une génération (.) eh: plus Europé↑enne que

Vielleicht weil Sie Teil einer Generation sind, die eh europäischer ist, als

CUT: #---------------------------------------------------------------------------------------------------------------> Allema↑nde pour eh, peut-être, nos grands-parents.# 5



deutsch, für eh, vielleicht, unsere Großeltern.

CUT: ----------------------------------------------------------------------# Ref:

E:h, oui, ça c’est sur. Et ça se, ça se voit aussi dans cette exposition, il y a une



Eh, ja, das ist sicher. Und das wird, das wird auch in dieser Ausstellung ersichtlich, es gibt eine

10



espèce de convergence entre ces deu:x pays, entre la France et l’Allemagne qui sont



Art Annäherung zwischen diesen beiden Ländern, zwischen Frankreich und Deutschland, die



partis (.) de très loin, #eh: de, # d’une opposition eh: totale eh meurtrier



sehr weit voneinander entfernt angefangen haben, eh von, von einer Opposition eh vollkommen mörderisch

15

CUT:

20

#--------#



>et cetera



c’est quelque chose d’extrême  émo(.)tionnel-, fin # extrêmement eh: .h  eh prenant



das ist etwas extreme emotionelles, also extreme eh .h eh packendes

journ:

 nickt 

CUT: -------------------------------------------------------------------# 35



eh dans le sens que (.) comme on voit dans cette exposition (à) d’où on vient, eh



eh in dem Sinne, dass wie man heute in der Ausstellung sieht von wo wir herkommen, eh



c’est un vrai miracle. Que, aujourd’hui eh:# eh # eh ça c’est à un tel point apaisé.



es ist wirklich ein Wunder. Dass, heute, eh eh eh, dass sich das zu einem solchen Maße abgeschwächt hat.

CUT:

#---

Obgleich sich die Radiosendung relativ nahe an die aufeinanderfolgenden Aufnahmen in dem physischen Rundgang durch den Ausstellungsraum hält, machen RadiozuhörerInnen eine andere Erfahrung als die in dem Rundgang Anwesenden. Erstens kann die Erfahrung des Laufens durch die Ausstellung – welche ich als Ethnograf mitsamt visueller und atmosphärischer etc. Eindrücke miterleben konnte – nicht im Medium der Audioübertragung wiedergegeben werden. Stattdessen ist zu Beginn der Radiosendung eine Soundkulisse zu hören, die nicht in dem Ausstellungsraum zu hören war, nämlich Bahnhofsansagen auf Französisch; gefolgt von Grußworten und Gebeten auf Arabisch; jemandem, der über Stadtpolitik redet; und einer Stimme, die über Diskriminierung redet. Diese Audiokontextualisierung oder -rahmung kann als ein (fragwürdiger) Versuch verstanden werden, Assoziation von Migration oder der Ausstellung einzufangen. Zweitens wurden in der Redaktionsbearbeitung mehrere Sequenzen aus der Aufnahme herausgeschnitten und andere hinzugefügt (siehe Transkription 1; Annotationszeichen werden am Textende erläutert). Beispielsweise wurde durchweg die männliche Stimme des Interviewers durch die einer Frau ersetzt, die die Sendung beginnt und beendet. Am Anfang nennt sie die interviewte Referentin »notre guide« [unsere Referentin], als ob die Referentin die weibliche Sprecherin oder das gesamte Radiopublikum, d.h. die weitere Öffentlichkeit, die durch diese mediatisierte Interaktion angesprochen wird, durch die Ausstellung führen würde. Die Fragen des Journalisten sind dem/der ZuhörerIn dadurch nicht direkt zugänglich und es finden sich höchstens Hinweise hierauf im Antwortformat der Referentin. Aus dem unten präsentierten Ausschnitt der ethnografischen Aufnahme (Beispiel 1) sind nur (Teile von) Zeilen 3–9 und 10–12 zu hören und (Teile von) Zeilen 1–2 und 9–10. Außerdem wurden manche »eh« Einschübe (5, 7, 12) herausgeschnitten (durch #--# in der Transkriptionsnotation gekennzeichnet). Dies bedeutet, dass eine suggestive Frage des Journalisten, welche die Richtung, in der das Gespräch weiter verlaufen kann, einschränkt, zum Teil unsichtbar gemacht wird.

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

Ein weiterer Punkt, der für das zuhörende Publikum nicht sichtbar ist und der diese Interaktion als eine besondere institutionelle kennzeichnet, ist, dass der Journalist, während die Referentin antwortet, sie eine Zeit lang nicht anschaut, sondern den Text auf der Rückseite des Ausstellungskatalogs liest, um seine nächsten Fragen vorzubereiten (siehe Screenshot 1). Die Interaktion unterscheidet sich jedoch nicht gänzlich von gewöhnlichen Konversationen: als die deutsche Referentin nach Worten oder einer Antwort sucht, wendet der Journalist seinen Blick vom Katalog zurück zur Referentin und nickt ermutigend, ohne jedoch eine hörbare Rückmeldung zu geben (vermutlich soll seine Stimme nicht in der Aufnahme der Antwort zu hören sein) (vgl. Greatbatch 1988). Dieser Teil und einige »ähms« wurden für die Radiosendung so aus der Aufnahme geschnitten, dass ohne einen Vergleich der Transkriptionen sogar das Löschen einiger Sekunden mitten aus einem Satz der Referentin unbemerkbar ist! Die Interaktion in der Radiosendung unterscheidet sich auch von anderen Momenten der Konversation im Museumsraum, die von dem Journalisten nicht aufgenommen wurden. In diesen beendet der französische Journalist fast alle Sätze der deutschen Referentin für sie. Dies hat zur Folge, dass sie nur dann spricht und in einem zweiten Schritt nur die Teile ihres Sprechens im Radio gespielt werden, die der Journalist und der/die RedakteurIn als für die Radiosendung angemessen ansehen. Screenshot 1 – Lesen des Ausstellungskatalogs während eines Radiointerviews

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In Anbetracht ethnografischer Interviews, die ich mit der Referentin geführt habe, und die zeigen, dass sie häufig eine kritische Perspektive auf gegenwärtige Immigrationspolitik einnimmt, erscheint die rosige Schlussfolgerung in der Radiosendung »c’est un vrai miracle« [das ist ein wahres Wunder] (12) überraschend. Für das Radiopublikum ist nicht zu hören, wie diese Schlussfolgerung später in dem ursprünglichen Interview teilweise relativiert wurde. In dieser spezifischen Sequenz können das für das Publikum unsichtbare Frageformat und der Fokus auf französisch-deutsche Beziehungen (anstelle von z.B. Diskriminierung in Europa) diese Schlussfolgerung erklären. In der Radiosendung wurden die Worte der Referentin aber aus dem Kontext des folgenden Gesprächs genommen und als eine allgemeine Schlussfolgerung rekontextualisiert. Was für die Redaktion der Radiosendung womöglich als ein irrelevanter Teil erscheint, in dem die Referentin ihre persönliche Wahrnehmung der Ausstellung zum Besten gibt, kann auch als eine Spur einer zentralen Debatte innerhalb des Ausstellungsprojekts gesehen werden. Die Referentin verweist auf diese Debatte anhand des Polyphonieindikators »mais« [aber] (7), d.h. die Repräsentation von Fremden soll nicht nur als eine juristische Frage, sondern auch als eine emotionale thematisiert werden. Letztlich kreiert das Ausschneiden des Teils, in dem die Referentin deutlich macht, dass das Thema von Bildern des Anderen ihre persönlichen Gefühle betrifft, eine Rahmung, die untypisch ist für Interaktionen in der CNHI. Anstelle von grandiosen Behauptungen zur Geschichte (welche eher im DHM zu hören sind) wurde auch in anderen Aufnahmen dieser Fallstudie in der CNHI häufig die persönliche Erfahrung und Perspektive thematisiert. In einer anderen Aufnahme von einem Filmteam von Arte im DHM finden sich ähnliche Übersetzungs- und Auswahlprozesse. Hier nickt und lächelt die Interviewerin in solchen Momenten ermutigend, in denen der Interviewte etwas sagt, das die Interviewerin für die TV Sendung als nützlich einschätzt (siehe Screenshots 2 a, b, c). Der Besucher – ein Schüler, der soeben eine Führung durch die Ausstellung mit seiner Klasse beendet hat – wurde hierbei als ein Vertreter der besuchenden Öffentlichkeit angesprochen. Dies geschieht, indem sorgfältig ein Hintergrund für das Interview gewählt wurde, in welchem ein Bild an der Wand auf die weitere Debatte um Moscheen in Deutschland verweist, und indem sein Interview in der TV-Sendung direkt nach einer Aufnahme der gesamten Schulklasse in diesem Bildausschnitt ausgestrahlt wurde. Auf diese Weise hat das lokale management von face-to-face Interaktion, welches für das Publikum der Radio- bzw. der Fernsehsendung nicht sichtbar ist, einen maßgeblichen Einfluss darauf, welcher Sinn in der Radio-/Fernsehsendung generiert wird.

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

Screenshots 2 a, b, c – Arte Interview im DHM

Im Folgenden präsentiere ich Beispiele davon, wie in der deutschen Presse und im Museumsraum des DHM über den erwähnten Zensurvorwurf gesprochen wird. In diesem Fall geht es also nicht um eine Präsentation des Ausstellungsproduktes wie im ersten Beispiel, sondern um Hinweise auf den Produktionsprozess. Wie im vorherigen Beispiel wird hierfür eine face-to-face Interaktion im Museumsraum in einen massenmedialen Kontext übersetzt, diesmal indem in der geschriebenen Presse auf eine Ausstellungsführung Bezug genommen wird.

Beispiel 2: Von der Führung im DHM Ausstellungsraum zur Presseberichterstattung Die Debatte um politische Einflussnahme im DHM wurde in einer Ausstellungsführung aufgegriffen, indem sich ein oder mehrere JournalistInnen unter den BesucherInnen befanden. Die face-to-face Interaktion einer Ausstellungsführung wird in diesem Beispiel auf zwei unterschiedliche Weisen in zwei Zeitungen nacherzählt. Dies hat zum einen zur Konsequenz, dass zwei unterschiedliche Geschichten mit Blick auf die Ereignisse erzählt werden, und zum anderen, dass die Zeitungsausgaben einen unterschiedlichen »Ton« der Berichterstattung anschlagen. Der Referent weist in dieser Führung darauf hin, dass die Texttafel geändert wurde, jedoch nicht der Audioguide. Zwei Journalisten veröffentlichten daraufhin einen Artikel (Tagesspiegel, 12.11.2009) mit dem Titel »Es gilt das gesprochene Wort«. Die ethnografische Methode, die »Karriere« von Objekten nachzuverfolgen (vgl. Lash/Lury 2007; Scheffer 2010, 2013), und die diskursanalytische Vorliebe dafür, Pressekorpora zu untersuchen, ist im Falle des Tagesspiegels äußerst gewinnbringend: In diesem Fall hat eine zweite Zeitung, die Potsdamer Neueste

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Nachrichten (12.11.2009), welche von dem gleichen Verlag herausgegeben wird, weitestgehend den gleichen Text abgedruckt. In diesem hat sie jedoch, wenngleich kleine, doch wirkungsvolle Modifikationen vorgenommen (die Unterschiede habe ich im folgenden Ausschnitt unterstrichen): DHM: Zwei Versionen der Presseberichterstattung • Es gilt das gesprochene Wort. Zankapfel Migration: Hat Kulturstaatsminister Bernd Neumann eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zensiert? • Zankapfel Migration Es gilt das gesprochene Wort. Wie die Behörde von Kulturstaatsminister Neumann Druck auf das Deutsche Historische Museum ausübt. […] Gegenüber dem Tagesspiegel bestätigen Mitarbeiter des Museums, dass Neumanns Apparat [massiven] Druck ausgeübt habe, auch wenn die offizielle Darstellung anders lautet. Man fühle sich gegängelt und empfinde das Vorgehen als Affront, heißt es. Die neue Formulierung auf der Tafel stammt jedenfalls nicht von den Ausstellungsmachern. Aufschlussreich ist auch der Text, den man per Audioguide zu hören bekommt. Denn dieser ist vermutlich nicht überarbeitet worden. […] Sollte DHM-Chef Ottomeyer diese Formulierungen entgangen sein? Sind sie ein Akt subversiven Widerstands? Ein Historiker, der durch die Ausstellung führt, fordert jedenfalls leise [augenzwinkernd] dazu auf, den gedruckten Text gründlich mit dem gesprochenen Text zu vergleichen. Die Exponate selbst zeichnen übrigens ein äußerst kritisches Bild der deutschen Integrationspolitik. […]« (Tagesspiegel, 12.11.2009/Potsdamer Neueste Nachrichten, 12.11.2009)

In dem Artikel erzählen die Journalisten, wie ein Referent während der Ausstellungsführung das Publikum ermutigt, den geschriebenen Text auf der Tafel genau mit dem gesprochenen Text im Audioguide zu vergleichen. Wohingegen im Titel einer Version des Presseartikels gefragt wird, ob eine Zensur stattgefunden hat, wird in dem anderen Titel festgestellt, dass eine Zensur stattgefunden hat (»Hat […] zensiert?« vs. »Wie […] Druck […] ausübt.«). Außerdem beschreiben die Journalisten das Verhalten des Referenten in unterschiedlicher Weise: der einen Version zufolge hat er »leise« zum Vergleich der Tafel und des Audioguides aufgefordert und in der anderen hat er dies zudem »augenzwinkernd« getan. D.h. in nur einer Version hat eine angeblich ironische Sprechweise Eingang gefunden, welche die Diskrepanz und den Hinweis auf diese entsprechend anders kontextualisiert. Es scheint, dass je nach Publikationskontext unterschiedliche Kontextualisierungshinweisen gegeben werden, um die Nachricht interessanter, unterhaltsamer oder dramatischer zu gestalten. Diese These unterstützend wurde in der zweiten Version auch die Qualifizie-

Kontextualisierung am Schnittpunkt von Museumsraum und Öffentlichkeit

rung hinzugefügt, dass »massiver« Druck auf das Museumspersonal ausgeübt wurde, die Texttafel zu ändern. Dieses Beispiel zeigt, dass es weniger darauf ankommt, was »wirklich« in der Interaktionssituation wie gesagt wurde, sondern wie diese Interaktion später konstruiert und mobilisiert wurde. In dem folgenden dritten Beispiel wird im Vergleich zum zweiten Beispiel umgekehrt in einer Interaktion im Museumsraum auf die Presse verwiesen. In diesem Beispiel des Kontextverweises geht es nicht, wie im ersten Beispiel der Generierung einer massenmedialen Sendung im Museumsraum, per se darum, den Interaktionskontext zu ändern oder, wie im zweiten Beispiel, das Geschehen im Museum in einen weiteren diskursiven Kontext zu setzen, sondern darum, den Status unterschiedlicher Interaktionsformate zu unterscheiden. Hier wird im Museumsraum explizit zwischen der öffentlichen Interaktion im Museum und der öffentlichen Berichterstattung »in der Presse« unterschieden und diesen wird eine andere Qualität zugeschrieben.

Beispiel 3: Von der Presseberichterstattung in den DHM Ausstellungsraum In manchen Fällen wurde die Presseberichterstattung wiederum in den Museumsraum übersetzt, einmal z.B., indem ein Artikel ausgeschnitten und in das Gästebuch geklebt wurde (vgl. Porsché 2012). In dem folgenden Beispiel10 wird in einer face-to-face Interaktion im Museumsraum auf die Debatte in der Presse verwiesen und es wird deutlich, welchen unterschiedlichen Status TeilnehmerInnen den unterschiedlichen Interaktionsformaten zuschreiben. Die transkribierte Sequenz beginnt am Ende einer offiziellen Führung einer Schulklasse durch die Ausstellung. Nach einer förmlichen Verabschiedung spricht die Lehrerin die Referentin auf das »umstrittene corpus delicti« (1) an. Die Referentin schlussfolgert umgehend, dass die Lehrerin mit dieser Namensgebung auf die anscheinend in der Öffentlichkeit kursierende normative Kritik an der Modifikation der Texttafel verweist (im Unterschied zu dem unangetasteten Audioguide). Transkription 2, DHM: Verweise auf die Presseberichterstattung 1

Besucherin:

(Wo ist denn jetzt) das eh umstrittene corpus delicti



[zum Thema ] Zensur?

Referentin:

[Ah oui, oui ]

Besucherin:

und ich weiß nicht, ob, ich hab jetzt kein Audioguide, da hieß es der



((walk to the label))

sei ja noch nicht

5

10 | Eine Analyse einer umfassenderen Transkription dieser Sequenz findet sich in Porsché (2012).

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Yannik Porsché Referentin:

C’est vraiment seulement eh la dernière phrase là (.) qui a été changé. C’est maintenant [la]

Besucherin: 10

Besucherin:

Das haben wir, das ist jetzt ausgetauscht hier?

Referentin:

Das ist ausgetauscht.

Besucherin:

Aha.

Referentin: 15

[et] ça c’est plus l’originale

Referentin: No!

ich:

[Das ist

]

[Du filmst ] jetzt nicht mehr, ne? ((☺))

Eh doch, grad noch ((lachen)) filme ich schon, ja, aber das weiß ich sowieso schon, ja, ja ((lachen))

Besucherin:

Ja, ja, das war ja nun in der Zeitung

Referentin: Besucherin: 20

Referentin:

[und

]

[ja, ja

]

Und da war also ein etwas kritischerer Satz, oder wie?= =Also hier stand (.) ursprünglich, >also so< im (.) jetzt eh umformuliert=

[…] Referentin:

Das stand da ursprünglich.

Besucherin: Mhm 25

Referentin: Und eh das musste geändert werden und jetzt steht d↑e:hr Satz hier. Und im Audioguide hört man= Besucherin:

=Das ist ja auch putzig, ne?

Referentin:

Ja, ja

[…] 30

Besucherin:

Ja, ja, schon heftich, ne?

Referentin:

Ehm, was halt interessant gewesen wäre worüber wir uns natürlich auch



unterhalten haben, eh, was im ZDF vor kurzem passiert ist, da hätte man

Besucherin:

=Ach so=

Referentin:

=eine, mit Brender, ne?



da hätte man [ja] auch eine Verbindung ziehen können

ja auch= 35

Besucherin: [ja] Referentin:

eh und sei- und darunter dann die entsprechenden Schlüsse ziehen können.=

40

Besucherin: =mhm= Referentin:

=Das ist schei↑nbar, >soweit ich das mitbekommen habeschneller< schneller gesprochen als umgebene Sprache Spezielle Zeichen Anfang und ggf. Ende einer Gestik (z.B. Blick, Hand)  Blickrichtung des Journalisten # Redaktionsschnitte im Radio kleingeschriebene Initialen zusätzlich in multimodaler Notationslinie, wenn die Bewegung, die mit dem/der SprecherIn korrespondiert, nicht vom/von der SprecherIn ausgeführt wird, sondern von einem/einer Ko-TeilnehmerIn --> Fortsetzung der Geste in den folgenden Linien (>> über den Sequenzausschnitt hinaus)

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Praktiken historisieren Geschichtswissenschaft und Praxistheorie im Dialog Marian Füssel

Praxistheoretisches oder praxeologisches Forschen ist von Beginn an ein interdisziplinäres Projekt, das vor allem zwischen Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie und Philosophie situiert ist (Frietsch 2013). Seine theoretischen Konzepte und empirischen Anwendungen tendieren mittlerweile sowohl zur Bündelung im Sinne eines »turns« als auch zur Unüberschaubarkeit der Ansätze. Eine Konjunktur, der in jüngerer Zeit eine Vielzahl von Synthesen und Überblickswerken Rechnung tragen (Nicolini 2013; Hillebrandt 2014; Schäfer 2014a; Schäfer 2014b; Schmidt 2015). Ein Blick auf die Rezeption einer der jüngeren Synthesen von Seiten der Soziologie zeigt dabei, dass auch Missverständnisse zwischen den Disziplinen im Sinne eines gewollten oder ungewollten ›Verlesens‹ mitunter epistemologisch produktiv sein können. In seiner 2012 erschienenen Soziologie der Praktiken diskutiert Robert Schmidt in einem Kapitel über soziologische Analogien zum Boxen, die Schwierigkeit Gesten zu »lesen« (Schmidt 2012: 116). In einer Rezension in der Soziologischen Revue 2013 heißt es dazu: »Angesichts dieser Schwierigkeiten einer Soziologie der Praxis, das »Gestern« zu »lesen« (116), muss viel konsequenter, als dies Schmidt zu tun bereit ist, festgehalten werden, dass es in der soziologischen Praxisforschung nicht nur darum gehen kann, das wiederzugeben, was gegenwärtig geschieht. Es geht in dieser Forschungsrichtung auch und vor allem darum, gegenwärtige und historische Praktiken ganz im Sinne der Ethnomethodologie überhaupt als Ereignisse sichtbar zu machen, da sie häufig im Verborgenen geschehen (sind)« (Hillebrandt 2013: 303). In der Tat ist die Historisierung von Praktiken »von gestern« nicht Schmidts Problem, er diskutiert methodische Probleme allein anhand der Kategorien Öffentlichkeit, Räumlichkeit und Beobachtbarkeit von Praktiken der Gegenwart. Für die Historikerin und den Historiker stellt sich das Problem jedoch in besonders drastischer Form, denn ihr Gegenstand ist stets das Abwesende, Andere. So ist Geschichtsschreibung für den französischen Historiker und Praxistheoretiker Michel de Certeau grundsätzlich durch die Erfahrung von Ab-

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wesenheit und Alterität geprägt: »Der Diskurs über die Vergangenheit hat den Status, Diskurs über die Toten zu sein. Der Gegenstand, der dort behandelt wird, ist nur das Abwesende« (de Certeau 1991: 67). Die Rekonstruktion vergangener Praktiken ist der historischen Forschung nur durch das noch vorhandene Material möglich, wodurch sich die Perspektive auf Präsenz und Absenz abermals verschiebt. Bereits in einer der theoretischen Gründungsurkunden der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, der 1857 begonnenen Historik, stellte Johann Gustav Droysen, den man im Gegensatz zu Leopold von Ranke mit Fug und Recht als grundlegenden Theoretiker der Geschichtswissenschaft bezeichnen darf, in der Tradition der kantschen Erkenntniskritik fest: »Also weder das Geschehene, weder alles Geschehene noch das meiste oder vieles davon ist Geschichte. Denn soweit es äußerlicher Natur war, ist es vergangen, und soweit es nicht vergangen ist, gehört es nicht der Geschichte, sondern der Gegenwart an. […] Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein«. (Droysen 1977: 8 u. 422). Die Bemerkungen Droysens ließen sich auch mit Überlegungen von Vertretern des radikalen Konstruktivismus in Beziehung setzen, welche die historische Referentialität in den Bereich des intersubjektiven Erfahrungsraums der Gegenwart verschieben. Aus konstruktivistischer Perspektive formulierte beispielsweise Gebhard Rusch: »Die einzige Wirklichkeit, mit der Historiker es zu tun haben, ist die Gegenwart« (Rusch 1997: 47). So erforscht die Geschichtsschreibung aus dieser Perspektive im Grunde nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart »im Hinblick auf eine Geschichte, die diese Gegenwart (als Ergebnis geschichtlicher Entwicklung) eher plausibilisiert und legitimiert als erklärt. Die empirische Basis dieser Forschung ist die Beobachtung und Erfahrung im Umgang mit Quellen und Zeugnissen als jeweils gegenwärtigen Objekten« (Rusch 1997: 70). Die geschichtswissenschaftliche Frage der Historisierbarkeit von Praktiken und die von Schmidt diskutierte soziologische Methodenreflexion treffen sich also offenbar im Begriff der »Beobachtung« bzw. »Beobachtbarkeit«. Diese kann für die Historikerinnen und Historiker jedoch nicht teilnehmend situativ sein, sondern nur eine nachträgliche Deutungsoperation auf Grundlage der Überlieferung. Genau in der praktischen Beschaffenheit dieser Deutungsoperation als regelgeleitetem Prozess sehen praxeologisch arbeitende Wissenschaftshistoriker/innen den eigentlichen Kern historischer Forschungsarbeit. Der historisierende Blick auf die Praktiken identifiziert also zweierlei. Die methodische Reflexion auf den eigenen wissenschaftlichen Modus der »Praxelogisierung« einerseits und die Rekonstruktion von Praktiken der Vergangenheit

Praktiken historisieren

andererseits. Praktiken sind dabei immer historisch, insofern sie auf vorgängige Vollzugswirklichkeiten reagieren und selbst wieder künftige affizieren. Obgleich Theorie und Praxis im Grunde kaum zu trennen sind  – auch sich theorie- und methodenfern gebende Historikerinnen und Historiker folgen impliziten theoretischen Annahmen –, kommt es in ihrem Alltag meist zu einer Art funktionaler Arbeitsteilung. Ein kleiner Kreis diskutiert über die epistemologischen Grundlagen, während die große Mehrheit konkrete historische Narrative verfasst. So erklärt sich möglicherweise die augenfällige Diskrepanz zwischen der erhöhten Frequenz, mit der die Geschichtswissenschaften auf praxistheoretische Ansätze Bezug nehmen oder ihre eigene Arbeitsweise praxeologisch nennen, und dem weitgehenden Verzicht darauf, eine besondere, neuartige Methodik auszuweisen. Die Aufnahme praxistheoretischer Zugänge in die historische Forschung reicht mittlerweile weit zurück. Bereits seit Beginn der 1980er Jahre haben etwa Historiker des ehemaligen Göttinger Max-Plank-Instituts für Geschichte immer wieder praxeologisch ausgerichtete Frühneuzeitforschungen betrieben und initialisiert (Lüdtke 1991). Auch in der Wissenschaftsgeschichte sind praxeologische Zugänge seit den 1980er Jahren erfolgreich angewandt worden, und seit den 1990er Jahren wurden sie verstärkt im Rahmen einer theoretischen Erweiterung des sozialgeschichtlichen Paradigmas diskutiert (Welskopp 2014). Es dauerte aber noch bis zum Beginn der 2000er Jahre, bis die empirische Dichte praxeologischer Forschung so hoch war, dass man von einer »Wende« sprechen und damit das heterogene Feld von praxistheoretischen Ansätzen im Sinne einer übergreifenden Theorieperspektive adressieren konnte (Schatzki/Knorr-Cetina/von Savigny 2001). Der praxeologische Ansatz hat die Geschichtswissenschaft mittlerweile enorm bereichert und eine Vielzahl von innovativen Studien angeregt (Reichardt 2007). Seine diversen Aneignungen bergen gleichwohl das paradoxe Szenario, wie etwa auch die Tagung des Arbeitskreises Frühe Neuzeit im September 2013 in München zum Thema »Praktiken der Frühen Neuzeit« deutlich gemacht hat, einer begrifflichen Nivellierung einerseits und einer latenten Übertheoretisierung andererseits (Gaab/Röder 2014). Genauso gut wie der Diskursbegriff nicht synonym ist für das, was Menschen reden oder schreiben, ist der Begriff der Praktiken nicht synonym mit dem, was Menschen tun, denn dann wäre jede Geschichtsschreibung immer schon Diskursanalyse und Praxeologie. Aus praxistheoretischer Perspektive muss gerade die Übertheoretisierung, verstanden als Applikation eines komplexen Szenarios an Theoriereferenzen auf ein Thema von geringer empirischer Komplexität, besonders paradox wirken, ist ihr Ziel doch nicht, Komplexität mit Komplexität zu begegnen, sondern die Komplexität der Praktiken überhaupt erst empirisch sichtbar zu machen. Auch die Praxistheorie ist mithin nicht frei von Theorieeffekten, die selbst einer wissenssoziologischen Analyse bedürften.

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Praxeologie scheint folglich auch als Signalwort zu fungieren, das eine bestimmte Fokussierung ausdrückt, und daher bereits Kritiker auf den Plan gerufen hat, die darin nichts weiter als die kulturwissenschaftlich verklausulierte Anwendung des gesunden Menschenverstandes sehen wollen (Graf 2008). Um diese Annahme zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen, gehe ich im Folgenden in drei Schritten vor. Zunächst frage ich mit Rekurs auf die jüngere Wissenschaftsgeschichte, was Historikerinnen und Historiker eigentlich tun, wenn sie Geschichte schreiben (I.), dann werde ich anhand eigener Forschungen zur Geschichte symbolischer Praktiken in der Frühen Neuzeit versuchen aufzuzeigen, was eine praxeologische Geschichtswissenschaft von anderen Ansätzen unterscheidet (II.), um drittens einige grundlegende Probleme der Historisierung von Praktiken zu benennen (III.).

I. D ie P r ak tiken der W issenschaf t Ein Bereich, in dem sich die Beobachtungsebenen auf die eigene Arbeitsweise und den zu historisierenden Gegenstand treffen, ist die Wissenschaftsgeschichte. Wissenschaftsgeschichte historisiert und rekonstruiert die Genealogie unserer eigenen wissenschaftlichen Praktiken, Normen und Habitusfomen und ist gleichzeitig wohl nicht von ungefähr einer der frühesten Entstehungskontexte eines fächerübergreifenden practice turn (Schatzki/Knorr-Cetina/von Savigny 2001; Soler 2014). Auch Schmidt verspricht sich in seiner Soziologie der Praktiken »weiterführende Einsichten« aus »Untersuchungen zur Organisation wissenschaftlicher Praktiken« und konstatiert, dass »Praktiken des Forschens bislang schwerpunktmäßig in den Laboratorien der Naturwissenschaften untersucht« wurden, während »die alltäglichen wissenschaftlichen Praktiken in den Geistes- und Sozialwissenschaften noch weitgehend unerforscht sind« (Schmidt 2012: 266). Dem kann man wohl weitgehend zustimmen, seltsam ist nur, dass der historisierende Charakter der meisten dieser Studien dabei vollständig ausgeblendet wird. Angesichts einer vor einigen Jahren beschworenen ›Krise der Geschichtswissenschaft‹, die sich an der Dichotomie von Fakten vs. Fiktionen, den unverarbeiteten Spätfolgen des linguistic turn und dem generationalen Wettstreit zwischen Sozial- und Kulturgeschichte entfachte, hat die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston hervorgehoben, dass das eigentliche Fundament historiografischer Praxis durch diese Diskussionen letztlich unberührt bleibt, denn vor allem die Beherrschung der fachspezifischen Praktiken definiere die Zugehörigkeit zum Kreis der Historikerinnen und Historiker: »Die Unterscheidung zwischen Quellen und Literatur, der Kult des Archivs, das Handwerk der Fußnoten, die sorgfältig erstellte Bibliographie, das intensive und kritische

Praktiken historisieren Lesen von Texten, die riesengroße Angst vor Anachronismen – dies sind die Praktiken, die jenseits aller Krise weiterhin ungestört leben und gedeihen« (Daston 2000: 19–20).

So müssen die eigenen Praktiken der Geschichtswissenschaft genauso wissenschaftshistorischer Kritik ausgesetzt werden, wie die Entwicklung der Luftpumpe, der Elektronenmikroskopie oder der Hirnforschung. Untersuchungen wie Anthony Graftons Tragische Ursprünge der deutschen Fußnote verweisen anschaulich auf die Notwendigkeit eines reflexiven Umgangs mit den eigenen Praktiken (Grafton 1998; Jordanova 2000). Grafton schreibt, in den Geisteswissenschaften entsprächen die Fußnoten »in etwa dem, was für den Naturwissenschaftler die Datenbelege sind: Sie sind die empirischen Stützen für die Geschichten, die einer erzählt, und für die Argumente, die er vorträgt. Ohne sie kann man historische Thesen zwar preisen oder ablehnen, aber verifizieren oder widerlegen kann man sie nicht« (Grafton 1998: 7). Grafton weist gleichzeitig darauf hin, dass Autoren niemals in der Lage sind, »die Belege für jede Behauptung in ihren Texten erschöpfend zu zitieren« (Grafton 1998: 30). Noch die »größte Massierung von Anmerkungen« könne nicht belegen, dass »jede Aussage im Text auf einem unangreif baren Berg bezeugter Fakten beruht« (Grafton 1998: 33). Die Anmerkungen erfüllten vielmehr zwei Funktionen: Zum einen wiesen sie – ähnlich dem Meisterbrief in einer Metzgerei – aus, dass man es hier mit einem handwerklich ausgewiesenen Fachvertreter zu tun habe, nicht jedoch, dass man alles bekomme, was man sich wünscht. Zum anderen geben sie »die hauptsächlichen Quellen an, die der Historiker wirklich benutzt hat« (ebd.). Im Sinne einer »Selbstethnologisierung« (Friedrich 2014) haben verschiedene Historikerinnen und Historiker inzwischen autobiografische Reflexionen über ihre Archivarbeit vorgelegt, die einen wichtigen Schritt innerhalb der Historisierung der eigenen Praktiken markieren (Farge 2011; Elliott 2012). Interessant wäre ein Vergleich mit entsprechenden »Selbstversuchen« seitens der Soziologen (Bourdieu 2002). Die historiografischen Selbstbeschreibungen zeigen etwa die enorme Anhängigkeit der empirischen Geschichtsforschung von Fragen der technischen Reproduktion von Archivmaterial (Friedrich 2014). Damit sind wir bei dem, was Historikerinnen und Historiker vorrangig tun: Sie arbeiten mit Quellen bzw. besser mit historischem Material. Der Begriff des historischen Materials habe laut Michael Zimmermann gewiss »den Nachteil prosaischer Trockenheit; dafür vermag er den Eigenbeitrag des Historikers an der Geschichtsschreibung, eben die Formung des historischen Materials, offenzulegen und so virtuell zu einer Analyse der Schreibregeln und soziokulturellen Voraussetzungen der jeweiligen Geschichtsschreibung einzuladen. Die Quellen-Metapher mit ihrer Aura des Ursprünglichen« sei hingegen »eher dazu angetan, die Historiker selbst und ihre durch Geschlecht, Zeit, Ort und soziale Klasse

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geprägten Annahmen und Stereotypen dem kritischen Blick zu entziehen.« (Zimmermann 1997: 282). Die Frage, wie mit dem Material gearbeitet wird und auf welcher epistemologischen Grundlage, ist auch für die übergreifende Problematik der Methoden einer Soziologie der Praktiken aufschlussreich. Obwohl die Grundfragen praxeologischer Ansätze in Soziologie und Geschichtswissenschaft sich ähneln, spielen für Akzeptanz und Legitimation von Theorieimporten innerhalb der Geschichtswissenschaften Übersetzer aus der eigenen Disziplin stets eine bedeutende Rolle. Für die praxistheoretische Seite Michel Foucaults hat etwa der Althistoriker Paul Veyne eine solche Übersetzerrolle eingenommen, während unter anderem die Arbeiten Roger Chartiers die Rezeption Pierre Bourdieus und Michel de Certeaus innerhalb der Frühneuzeitforschung befördert haben (Bourdieu/Chartier 2011). So hat der französische Althistoriker Paul Veyne bereits 1978 in Foucault révolutionne l’histoire die Praktiken als das »Losungswort« seiner »neuen Methodologie der Geschichte« ausgemacht: »Die Praktik ist keine mysteriöse Instanz, keine Basis der Geschichte, keine verborgene Triebkraft: sie ist was die Leute tun (das Wort sagt genau, was es sagen will) […] Die Leute nach ihren Handlungen zu beurteilen, heißt, sie nicht nach ihren Ideologien zu beurteilen; es heißt auch sie nicht nach großen, ewigen Begriffen zu beurteilen, die Regierten, der Staat, die Freiheit, das Wesen der Politik etc., die alle die Originalität der wechselnden Praktiken banalisieren und anachronistisch verflachen« (Veyne 1992: 49 u. 22 f.).

Der methodische Paradigmenwechsel bleibt hier eher implizit, es ist die große Absetzungsbewegung der Sozial- und Kulturgeschichte von der traditionellen Ideengeschichte und ihren großen Texten. Ideengeschichte und Höhenkammliteratur – Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe – bleiben neben der quantifizierenden Sozialforschung die Abgrenzungsfolien par excellence, gegenüber denen sich praxeologische Ansätze zu profilieren suchen. Gleichzeitig reagieren praxeologische Forschungen auf die Gegenüberstellung von Mikro- und Makrogeschichte (Schlumbohm 1998) und versuchen diese durch ein »Spiel mit den Größenordnungen« (jeux d’échelles) zu überwinden (Revel 1996). Ziel dieser Dekonstruktion ist nicht eine Privilegierung der Mikroebene als solcher, obwohl es viele kulturhistorische Arbeiten leider dabei bewenden lassen, sondern eine Veränderung der »Topographie der sozialen Welt«; mit den Worten Bruno Latours: »das Makro beschreibt nicht länger eine umfassendere oder ausgedehntere Stätte, in der das Mikro wie eine Russische Puppe eingebettet ist, sondern einen anderen, gleichfalls lokalen, gleichfalls MikroOrt, der mit vielen anderen durch irgendein Medium verbunden ist« (Latour 2007: 304). Eng gekoppelt an diese Diskussion sind eine Neubewertung von

Praktiken historisieren

Ereignisgeschichte und eine Dynamisierung des vielbeschworenen Gegensatzes zwischen Struktur- und Ereignisgeschichte (Suter/Hettling 2001). Galt die Ereignisgeschichte lange als Inbegriff einer antiquierten, historistischen Geschichtswissenschaft, so hat sich längst eine Verkehrung der Dichotomie eingestellt. Im Zeichen von neuer Kulturgeschichte und Historischer Anthropologie ist vielmehr die Strukturgeschichte mittlerweile zum fragwürdigen und antiquierten Zugang erklärt worden. Anhand der Zugänge, von denen sich Praxeologen abgrenzen, zeigt sich, dass die Geschichtswissenschaft zwar über ein breites Repertoire an Theorien verfügt, letztlich aber nur über ein sehr schmales an alternativen Methoden, versteht man darunter »ein kontrolliertes Verfahren zur Herstellung von historischem Wissen« (Völkel 2003: 211). Die historische Methode wird landläufig untergliedert in Heuristik, Kritik und Interpretation (Rüsen 1986). Heuristik ist dabei gewissermaßen die operative Versuchsanordnung, der Zuschnitt der historischen Frage und die Aufnahme des Materials. Die Kritik bezeichnet die Verfahren der Verifikation und Falsifikation von Daten und Tatsachen, während die Interpretation schließlich die so gewonnenen Informationen zu historischen Sinnzusammenhängen aggregiert. Besteht über diese formalen Schritte des Forschungsprozesses wenig Dissens, so ändert sich dies bei den »substantiellen Operationen«, die den jeweiligen Erfahrungsinhalt ausmachen. Jörn Rüsen unterscheidet sie in hermeneutische, analytische und dialektische (Rüsen 1986: 117–147). Am deutlichsten ist vielleicht die Differenz zwischen den analytischen, quantifizierenden, computergestützten Methoden der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und den unterschiedlichen deutenden Spielarten der Hermeneutik von Hans Georg Gadamer bis Clifford Geertz zu sehen. Computergestützte Verfahren werden allerdings auch in der Historischen Semantik, Lexikografie und Diskursforschung verwendet und unterscheiden sie darin von traditionelleren Formen der Begriffsgeschichte. Oral history bleibt ein Residuum der Zeitgeschichte und unterscheidet sich dabei nur wenig von sozialwissenschaftlichen Fragemethoden (Obertreis 2012). Von der Hermeneutik grenzt sich wiederum die historische Diskursanalyse ab, die aber immer noch selten so radikal empirisch umgesetzt wird, wie sie theoretisch diskutiert wird (Füssel/Neu 2014). Praxeologen grenzen sich wiederum gern von bestimmten Spielarten und Effekten des linguistic turn und der Diskursanalyse ab (Spiegel 2005). Eine sich praxeologisch verstehende Geschichtswissenschaft muss sich daher fragen lassen, was sie eigentlich anders macht, als die nicht praxistheoretisch argumentierenden Leser schriftlicher, visueller oder dinglicher Überlieferungen. In ihrer epistemischen Grundhaltung sind die Praxistheorien der alltäglichen Arbeit des Historikers eigentlich sehr verwandt. Jüngere Einführungswerke tragen dem bereits Rechnung, indem sie nun auch Lemmata zu Fußnoten, Gutachten, Schreibwerkzeugen oder Vorlesung vergeben (Kwaschik/

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Wimmer 2010) oder explizit »Praxeologie der Wissenschaften« zum Thema machen (Frietsche 2013). Im Grunde stellen Praxistheorien keine Theorien im klassischen Sinne dar, die bestimmte Phänomene definieren oder voneinander abgrenzen, sondern vielmehr einen »modus operandi des Forschens« (Bongaerts 2007: 258; Schmidt 2012: 33–37; Hirschhauer 2008). Als Teil der Kulturtheorie sind Praxistheorien eher methodische Dispositionen einer Praxeologisierung, die davon ausgeht, dass die Logik der Praxis sich von der Logik der Theoretisierung grundlegend unterscheidet und dass diese Unterscheidung überhaupt erst einmal sichtbar gemacht werden muss. Gegen eine »Intellektualisierung des sozialen Lebens« gerichtet, geht die Praxistheorie daher von einem sich in Alltagstechniken materialisierenden praktischen Wissen der Akteure aus (Reckwitz 2008: 111; Bongaerts 2007: 249). Ein Großteil praxeologischer Perspektivierung besteht sowohl in der Hinterfragung von Selbstverständlichkeiten als auch in der Erschließung des »normalen Ausnahmefalls« (»eccezionalmente ›normale‹«) (Grendi 1977: 512). Es geht dabei zunächst einmal um die Perspektivierung von Ereignissen und Handlungen als ›Praktiken‹ verstanden als »typisiertes, routinisiertes und sozial verstehbares Bündel von Aktivitäten« (Reckwitz 2008: 112). Im Sinne Wittgensteins kommt es mehr auf den praktischen Vollzug von Handlungen an als auf deren Idee oder Norm. Diesen Zugang teilen die Praxistheorien mit dem in der Geschichtswissenschaft lange so beliebten performative turn (Martschukat/Patzold 2003). Die historische Rekonstruktion von Performativität zeigt, dass die Rede von den Praktiken eben mehr ist als die Rekonstruktion vergangenen Handelns ganz allgemein. Um etwa eine Handlung performativ wirksam werden zu lassen, bedurfte es bestimmter Kontexte, und genau die gilt es zu rekonstruieren. So unterschieden sich zweifellos die zeitgenössische Zeremonialtheorie der Frühen Neuzeit von tatsächlich durchgeführten Zeremonien und der Vollzug eines Festes von der gedruckten Festbeschreibung. Hier zeigt sich jedoch das spezifische Problem der historischen Rekonstruktion von Praktiken. Zum einen müssen Praktiken erst einmal als solche erkannt und lokalisiert werden, zum anderen stellt ja gerade die Rekonstruktion einer »Tätigkeit im Vollzug« eine der Hauptschwierigkeiten empirischer Forschung dar. Während die Soziologie die Beobachtbarkeit von Praktiken zumindest in den meisten theoretischen Publikationen kaum Infrage stellt – im Anschluss an die Debatten der Ethnografie allenfalls ihrer Narrativierbarkeit durch die Praktiken der Forscherinnen und Forscher (Berg/Fuchs 1993) –, stehen Historiker vor einer durch ›Überlieferungschance‹ und ›Überlieferungszufall‹ je spezifischen Quellenüberlieferung (Esch 1985).

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II. D ie P r a xis der P r a xeologie : Z ur H istorisierung ständischer D istinktionspr aktiken Um die historische Arbeitsweise an einem exemplarischen Gegenstand praxeologischer Zugänge zu thematisieren, werden im Folgenden die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Geschichte sozialer Distinktionspraktiken in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit vorgestellt. Mit dem Thema sozialer Ungleichheit ist sowohl ein Klassiker soziologischer wie sozialhistorischer Forschung angesprochen, an deren Analysemethoden aber auch der Wandel im Verhältnis der beiden Disziplinen deutlich wird. Von den 1960er bis in die frühen 1980er Jahre war die Soziologie eine Leitwissenschaft für die sich als historische Sozialwissenschaft neu formierende Geschichtswissenschaft. Historische Einführungswerke diskutierten quantifizierende Methoden, den Widerstreit von Erklären und Verstehen, den Weberschen Idealtypus, den Werturteils- und Positivismusstreit, die Rolle von Strukturen und Modernisierungstheorien (Schulze 1974; Hitzer/Welskopp 2010). Seit den 1990er Jahren änderten sich die Referenzen und die sich als historische Kulturwissenschaft begreifende Geschichtswissenschaft orientierte sich in ihren programmatischen Äußerungen nun eher an Ethnologie, Kulturanthropologie und Literaturwissenschaft. Die Einführungswerke diskutierten nun Fragen der Narrativität, der Alterität und des Sozialkonstruktivismus sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Fallstudien, Alltags- und Mikrogeschichte (Goertz 1998; Eibach/Lottes 2002). Ab den 1980er Jahren kam es auch dadurch zu einer doppelten Distanzierung, dass die Sparte einer historisch arbeitenden Soziologie innerhalb der soziologischen Disziplin rapide an Bedeutung verlor (Schützeichel 2004), während die neuen Theoriereferenzen der Historiker gleichzeitig immer seltener aus der Soziologie kamen. Hierbei muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass letzteres einerseits primär eine Abgrenzung gegenüber einer bestimmten Strömung der Soziologie war, andererseits einer spezifisch deutschen Trennung zwischen Soziologie und Ethnologie geschuldet war (Mergel 1998: 621–623). Ein Soziologe, auf den sich jedoch sowohl Sozialhistoriker wie Kulturhistoriker einigen konnten, war Pierre Bourdieu (Gorski 2013). Dabei ist es wiederum bezeichnend, dass Bourdieu zu den von Historikern neben Weber und Elias wohl meist zitierten Soziologen zählt, seine methodische Vorgehensweise  – etwa der Korrespondenzanalyse oder der Feldanalyse – in der Geschichtswissenschaft bislang allerdings kaum Nachahmung gefunden hat (Bernhard/Schmidt-Wellenburg 2012). Nichtsdestoweniger ist Bourdieu zu einem der zentralen Referenzpunkte für die Rekonstruktion von Ungleichheitsrelationen gerade auch der ständischen Vergesellschaftung geworden, bietet seine Konzentration auf Ehre als symbolisches Kapital doch einen der Schlüssel zum Verständnis einer ständischen Gesellschaft der feinen Unterschiede (Füssel 2011).

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Am Anfang eines Münsteraner Forschungsprojektes unter Leitung von Barbara Stollberg-Rilinger stand der Fund einer juristischen Konsiliensammlung, d.h. einer anonymisierten Sammlung von Rechtsfällen und entsprechenden Sprüchen, also Anweisungen für die Lösung des Konfliktes (Hellbach 1742; Stollberg-Rilinger 2001). In dieser Sammlung ging es ausschließlich um Rangstreitigkeiten, also Konflikten zwischen zwei Parteien, um die Frage, wer vor wem bei zeremoniellen Anlässen gehen, sitzen oder stehen durfte. Die Durchsicht dieses Produktes des zeitgenössischen Rechtsdiskurses im Hinblick auf den sozialen Stand der Streitenden ergab eine überdurchschnittliche Häufigkeit von städtischen Oberschichten und Akademikern. Die Fälle waren jedoch anonymisiert, so dass weder Ort noch Personennamen zu identifizieren waren, ja es ließ sich noch nicht einmal genau prüfen, ob sich diese Fälle tatsächlich ereignet hatten. Das Vorhaben war nun, in Anlehnung an Bourdieu die soziale Praxis von ständischer Distinktion qua Rangstreit und dessen Austragungspraktiken im Alltag vor Ort zu rekonstruieren. Im Sinne des Eingangszitates ging es um die Rekonstruktion von ›Gesten von Gestern‹, um die symbolische Ordnung in actu. Die damit aufgestellte Ausgangshypothese lautete, dass Konflikte im Alltag auf implizite Normen und Strukturen verweisen, die erst im Streit als solche thematisiert und problematisiert werden. Der Weg führte ins Archiv und damit zu einer der von Daston angeführten Schlüsselpraktiken historischer Forschung. Nach der Konsultation eines guten Dutzend Staats-, Stadt- und Universitätsarchive stellte sich heraus, dass die in Akten überlieferten Fälle ein die Erwartungen noch übertreffendes Ausmaß annahmen, das zur Auswahl einzelner Fallstudien zwang. Bis hierhin unterscheidet sich diese Vorgehensweise in keiner Weise von der der meisten anderen Historikerinnen des Aktenzeitalters. Die Akten wurden gesichtet, vor Ort transkribiert oder auf Mikrofiche reproduziert, im Spätstadium des Projektes auch digitalisiert. Die Fälle wurden verzeichnet und ein Sample an zu rekonstruierenden Konflikten wurde gebildet. Ein Handlungsmuster, eine Praktik wurde sichtbar, die für die Zeitgenossen offenbar große Bedeutung besaß und Aktenmeter füllt, von der Forschung aber lange als »bloß symbolisch« abgetan worden war. Um nur ein kurzes Beispiel zu geben: In den protestantischen Universitätsstädten der Frühen Neuzeit war es üblich geworden, dass sich die Studentenschaft sozial nach den Wohn- und Ernährungsbedingungen differenzierte. Während ärmere Stipendiaten an öffentlichen Freitischen, den Vorläufern der modernen Mensa, speisten und gemeinsam in Konvikten wohnten und unter Aufsicht standen, logierten wohlhabendere Studenten bei Bürger- und Professorenfamilien privat und wurden am Professorentisch verköstigt. Letzteres kann wiederum als Vorläufer des modernen Oberseminars gesehen werden. Die damit einhergehende Statusdifferenzierung wurde in der zeitgenössischen Satire auf die »magische« Wirkung des jeweiligen Tisches zurückgeführt, die den einen Studenten in allen räumlichen Situationen (Hörsaal, Kirche, Stra-

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ße) den Vortritt garantierte, während die nicht am Professorentisch sitzenden stets das Nachsehen hatten (Füssel 2014). Die Episode und deren zeitgenössische Karikierung verweist somit auf Praktiken, die als körperliche Vollzüge in Koppelung mit materiellen und räumlichen Arrangement erkennbar werden. Der Tisch wird zum Aktanten stilisiert, der den Grad der Ehrzuweisung determiniert. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Tisch allein bedeutungslos ist, sondern vielmehr entscheidend ist, wer in welcher Zusammensetzung konkret an ihm sitzt, speist und spricht. Vor dem Hintergrund der bourdieu’schen Kapitaltheorie, insbesondere der Rolle von Ehre, der Theorie des Performativen und der performativen Magie sowie der kommunikationshistorischen Konzeption von face-to-face Kommunikation wurden die symbolischen Praktiken zum heuristischen Schlüssel für das Verständnis der Funktionsweise ständischer Ungleichheit (Füssel/Weller 2005; Füssel 2006a; Weller 2006). Während sich also die konkreten Prozesse des Suchens, Erschließens und fallrekonstruktiven Aufarbeitens nicht von der hermeneutischen Standardarbeit der Historikerinnen und Historiker unterschieden, gilt dies nicht für die heuristische Ausgangshypothese und die Interpretation der Befunde. Nicht statistisches Datenmaterial über Einkommen, Besteuerung, Wohnorte oder Mortalität legte offen, wie ständische Ungleichheit reproduziert oder in Frage gestellt wurde, sondern konkrete Alltagspraktiken und Materialitäten. Es wurde deutlich, dass die normativen Vorgaben ständischer Hierarchie wie Kleiderordnungen, Rangordnungen und Policeygesetzgebung im Alltag auf sehr unterschiedliche Art angeeignet oder schlicht ignoriert wurden. Ein Perspektivenwechsel, der ohne die Scheindebatte zwischen Diskurs- und Praxistheorie auskam, denn die Diskurse über Rang, Stand und Ehre waren nicht weniger performativ und wirklichkeitskonstitutiv als die Überlieferung in den Akten: Sie schufen die Dinge die sie bezeichneten (Füssel 2006a: 93). Unser Bild von der ständischen Gesellschaft wurde dadurch dynamischer. Das bedeutet aber nicht, wie es manche bundesrepublikanische Ausgaben einer WhigHistory nahelegen möchten, ein weniger an Ungleichheit, sondern es zeigte vielmehr die Persistenz von Distinktionsmechanismen, die gerade durch den individuellen Statusanspruch den übergreifenden Leitwert der Ungleichheit stärkten. Eine Beobachtung, die auf einen der meistdiskutierten Punkte der Theorie der Praktiken verweist, nämlich den Konflikt von Routinisierbarkeit und Veränderbarkeit bzw. Reproduktion und Widerständigkeit. Sind Praktiken darauf angelegt, soziale Ordnung und Machtverhältnisse zu reproduzieren oder sie zu wandeln? Beide Eigenschaften scheinen unterschiedliche Dimensionen einer bourdieu’schen »Logik der Praxis« zu markieren: »Praxis ist zugleich regelmäßig und regelwidrig, sie ist zugleich wiederholend und wiedererzeugend, sie ist zugleich strategisch und illusorisch« (Hörning/Reuter 2004: 13). Doch werden in einzelnen Theorieentwürfen beide Ebenen unterschiedlich herausgearbeitet. Während für Bourdieu die Grundfrage des Sozialen nicht der Wandel,

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sondern die Herstellung von Kontinuität in Ungleichheitsrelationen ist, setzten sich Denker wie Michel de Certeau bewusst kritisch von den vermeintlichen Determinismen der Machttheorie Foucaults und der Habitustheorie Bourdieus ab (de Certeau 1988: 105–129). So hat Certeaus Bestimmung des Begriffs der »Aneignung« eine Dynamisierung der Analyse sozialer Praktiken ermöglicht, indem sie Praktiken nicht mehr allein als Reproduktion von Machtstrukturen begreift, sondern auch als deren temporäre Subversion (Füssel 2006b). Die praxeologische Vorgehensweise bevorzugt die mikrohistorische Fallstudie, in der Kulturgeschichtsschreibung eng mit dem Begriff der »dichten Beschreibung« im Anschluss an Clifford Geertz verknüpft ist (Geertz 1983). Die »dichte Beschreibung« trägt definitiv den Charakter eines Signalwortes, dessen tatsächlicher Gehalt sich inzwischen recht weit vom ursprünglichen Kontext entfernt hat. So stellte Thomas Sokoll bereits 1997 fest, dass viele Historiker darunter mittlerweile »gleich jede Darstellung [fassen], die besonders eng (»dicht«) an die Quellen angelehnt ist oder auf besonders reichhaltigen (»dichten«) Quellen fußt« (Sokoll 1997: 255). Dies würde zweifellos jedoch auch auf jede positivistische Herrscherbiografie oder Diplomatiegeschichte älteren Typs zutreffen und hätte weder etwas mit Ethnografie noch mit Praxistheorie zu tun. Inzwischen hat jedoch die »mikrohistorisch-anthropologische Gemeindestudie, die auf der Grundlage der gesamten Überlieferung eines Ortes das Alltagsleben einer historischen Gemeinschaft über mehrere Jahrhunderte nachzeichnet« (Sokoll 1997: 257–258) einiges an Reiz verloren. Einerseits sicher durch die praktische Überforderung eines einzelnen an einer Qualifikationsschrift arbeitenden Forschers, andererseits durch die mit den inzwischen vorliegenden Studien eingekehrte Normalität des Zugangs. Eine praxeologische Perspektive bleibt jedenfalls nicht auf eine histoire totale im Kleinen angewiesen. Um die frühneuzeitliche Gelehrtenkultur als symbolische Praxis zu problematisieren, wurde daher nicht eine Universität ausgewählt und »dicht beschrieben«, sondern ein Sample von acht Hochschulen beider Konfessionen und unterschiedlichen Gründungsalters (Füssel 2006a). Innerhalb der archivalischen Überlieferung dieser Universitäten wurden ausschließlich symbolische Praktiken der Statuskonstitution und ihrer Infragestellung ausgewertet. So ergab sich schließlich ein breites Panorama von unterschiedlichen Konstellationen der Praktik des Rangstreits. Ein immer wieder von Mikrohistorikern vorgebrachter Auftrag war dabei eine umfassende Kontextualisierung der Fälle. Im Umgang mit dieser Herausforderung zeigten sich weitere Merkmale eines praxeologischen Vorgehens. Innerhalb der hermeneutischen Rekonstruktion des Handlungsablaufs, wer gegen wen warum und mit welchem Ergebnis, traten die klassischen Probleme auf, wie sie aus der Erforschung von Gerichtsakten bekannt sind. Mit den Worten von Natalie Zemon Davis, wie sollte man mit »fiction in the archives« umgehen, wenn doch offensichtlich ist, dass jede Partei sich im besten Licht darzustellen sucht (Davis 1991). Hier

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wurden Fälle bevorzugt, in denen sich im Idealfall beide Parteien, eventuell weitere Augenzeugen und schiedsrichterliche Instanzen in der Überlieferung zu Wort meldeten. An dieser Stelle ergibt sich für jede Historikerin und jeden Historiker die rankeanische Versuchung, doch noch zeigen zu wollen, »wie es eigentlich gewesen« (Ranke 1885: 7) ist. Um dem zu begegnen, ist einerseits klassische Quellenkritik erforderlich, andererseits eine Bescheidenheit in der Erklärung. Rekonstruieren lassen sich die Geltungsansprüche der Akteure, kaum aber deren tatsächliche Geltung. Der Sinn der Praktik Rangstreit wurde nicht aus vorgelagerten, verborgenen Interessen der Streitenden abgeleitet, sondern allein aus der performativen Praxis selbst und den Argumenten, die innerhalb des Konfliktes ausgetauscht wurden. Zweifellos besteht die Möglichkeit, das andere Rivalitäten, sei es verwandtschaftlicher, finanzieller, administrativer oder wissenschaftlicher Art, den jeweiligen Statuskonflikt beförderten. Letztlich bleibt dies aber solange Spekulation, bis sich die Akteure selbst dazu äußern. In der Analyse ging es nicht um die Herausarbeitung individueller Interessen, sondern deren Artikulationsweisen und Handlungsvollzüge in symbolischen Praktiken. Diese Praktiken zu historisieren, hieß dabei auch, sie nicht vorschnell aus einer modernen Perspektive zu erklären oder gar normativ als bloße Eitelkeiten zu marginalisieren. Es galt, ihren sozialen Sinn zu ermitteln, ohne das Soziale selbst bereits als Erklärung einzuführen, d.h. den Vollzug der Praktiken nicht als Ausdruck vorgängiger sozialer Strukturen zu interpretieren, sondern als die stets neue Herstellung sozialer Ordnung in actu.

III. W as bedeute t es , P r ak tiken zu historisieren ? Ein Phänomen von den Praktiken her zu erforschen oder solche überhaupt erst einmal sichtbar zu machen, heißt auch, einen Schritt zur Historisierung zu leisten. Historisierung bedeutet dabei im Sinne des Zitats von Paul Veyne, nicht von theoretischen Vorannahmen über das Wesen eines Gegenstandes – sei es die Universität, der Staat, die ständische Gesellschaft oder ein Ereignis wie eine Schlacht oder ein Rockkonzert – auszugehen, sondern zunächst zu rekonstruieren, was die Akteure taten und wie sie es taten. Erst auf Grundlage der Praktiken ergibt sich dann die Historizität des Phänomens, denn die Praktiken müssen nicht dem entsprechen, was wir vom Wesen des erforschten Phänomens erwarten. Als die gängigen Feinde der Historisierung gelten die vielgescholtene anthropologische Konstante und der Anachronismus. Während die Anthropologisierung überzeitlich argumentiert, projiziert der Anachronismus Vorstellungen der Gegenwart in die Vergangenheit, also spricht etwa von »Aufklärung im Mittelalter« (Flasch 1997). Gerade mit Blick auf körperlich vollzogene Praktiken ist die Gefahr einer entsprechenden Verzerrung allgegenwärtig. Im Bereich der Sinnes- und Körpergeschichte haben histori-

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sche Forschungen jedoch gezeigt, dass weder die Wahrnehmungsmuster des Sehens, Hörens oder Riechens (Corbin 1984) historisch konstant sind noch die wahrgenommenen Objekte und – das ist wohl am wenigsten intuitiv – die perzipierenden Menschen selbst. Eines der Gegenmittel gegen den Anachronismus und das historistische Einfühlen in die Köpfe großer Frauen und kleiner Männer ist das von der jüngeren Wissenschaftsgeschichte aufgestellte, sogenannte »Symmetriepostulat« (Bloor 1976/1991: 7; Golinski 1998: 7–9). Eine symmetrische Perspektive verweigert sich der Geschichte der Sieger im Wettlauf um die richtige Erkenntnis ebenso wie der vom Ergebnis her denkenden Perspektive der oder des mit einer abgeschlossenen Geschichte arbeitenden Historikerin oder Historikers. Eine Geschichte in diesem Sinne zu erzählen, bedeutet, nicht von der Durchsetzung eines Paradigmas auszugehen, im Sinne von ›es ist klar, dass sich Galileos, Newtons oder Pasteurs Methode irgendwann durchsetzen würden‹, und gleiches gilt für die Nicht-Durchsetzung der heute vergessenen Projekte und Praktiken ihrer Gegner. Ein konsequent historisierender Blick auf das, was und womit Wissenschaftler und Gelehrte etwas taten, kann nicht vollständig vom Wissen des weiteren historischen Verlaufs abstrahieren, wohl aber versuchen, einer teleologischen Narrativierung zu entkommen. Etwas zu historisieren, kann in diesem Zusammenhang zweierlei bedeuten. Es kann einerseits heißen, dass wir Praktiken unserer eigenen Gegenwart genealogisch in ihrer historischen Gewordenheit betrachten. Warum enden akademische Veranstaltungen immer um viertel vor und beginnen um viertel nach? Woher kommt der Unterschied von s.t. und c.t.? Eine landläufige und durchaus praxeologische Erklärung lautet, weil dies die Zeit war, welche die Studenten maximal brauchten, um vom einen Ende einer Universitätsstadt wie Halle oder Göttingen in das andere zu kommen, denn in einer Zeit ohne zentrale Lehrgebäude spielte sich die Lehre noch in den Privathäusern der Professoren ab. Auf diese Weise könnten wir alle Gegebenheiten des akademischen Alltags, von der Einteilung in Fakultäten bis hin zur Praxis des Lehrens und Lernens historisieren, d.h. in den Kontext ihrer historischen Entstehung einordnen. Andererseits kann Historisierung bedeuten, aus der Anerkennung der historischen Alterität heraus Differenz beobachtbar zu machen. Für den modernen Beobachter merkwürdige, irrationale oder gar befremdliche Vorgänge auf ihren »praktischen Sinn« (Bourdieu) zu befragen, legt somit erst ihre spezifische Historizität frei. Wenn Norbert Elias in Die höfische Gesellschaft etwa das höfische Lever in Versailles beschreibt, ist es für den modernen Menschen befremdlich, dass der Herrscher seine Morgentoilette im Beisein der versammelten Hocharistokratie verrichtet oder die Königin nackt in ihrem Zimmer steht und minutenlang wartet, bis die Hofdamen ausgehandelt haben, wer ihr das Hemd reicht (Elias 1997: 126–132). Entsprechende Praktiken dekodiert Elias jedoch als komplexe höfische Herrschafts- und Machttechniken. Ähnliche Verfremdungs-

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effekte stellen sich ein, wenn Michel Foucault am Beginn von Überwachen und Strafen in Gestalt der öffentlichen Vierteilung des versuchten Königsmörders Damien ein Theater der Grausamkeit schildert, das achtzig Jahre später vom System der Einsperrung abgelöst worden ist (Foucault 1977: 9–14). Die narrative wie bildliche Gestaltung von historischem Wandel macht hier die Historizität der Strafpraxis unmittelbar evident. Historisierung hat insofern auch immer etwas mit Alterität zu tun, gerade das Andere, nicht unmittelbar verstehbare, führt den Historiker dazu, neue Fragen zu stellen (Füssel 2001). Historisierung kann jedoch noch etwas anderes bedeuten, wenn wir ein einzelnes historisches Ereignis erforschen. Für Ereignisse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gilt das als weithin unproblematisch, für die jüngere Geschichte zeigt die Debatte um die Historisierung des Nationalsozialismus das Gegenteil (Frei 2007). Mit Historisieren ist jedoch weder ein historisches ›Abhaken‹ im Sinne einer selbstermächtigenden Distanzierung von einem überwundenen Zustand noch ein Relativieren gemeint, sondern Kontextualisierung in den Umständen der Zeit. ›Umstände‹ bedeutet jedoch mehr als eine zeitgenössische Mentalität, Ideologie oder ein Zeitgeist, diese wären im Grunde ja erst praxeologisch zu ermitteln und nicht vorauszusetzen, sondern ›Umstände‹ meint auch die konkrete Materialität in Raum und Zeit. Als Beispiel kann die Geschichte einer Schlacht dienen (Füssel/Sikora 2014). Schlachten gelten landläufig als der Idealtypus eines historischen Ereignisses. An einem Tag entscheiden sich die Geschicke ganzer Nationen, und als auswendig gelerntes Datum kann das Ereignis dann zum Inbegriff eines ebenso langweiligen wie antiquierten Geschichtsunterrichts werden. Doch bei genauerem Hinsehen verliert das Ereignis Schlacht rasch seine scheinbare Eindeutigkeit. Als Praktik betrachtet, löst sich das Ereignis in eine Praxisformation auf, in eine Vielzahl von Einzelpraktiken, aus denen sich erst das Gesamtereignis zusammensetzt (Keegan 1976/1991). In diesem Sinne ist die Schlacht als solche unsichtbar und daher vom Humanismus bis zur Postmoderne ein beliebtes Exempel für epistemologische Fragestellungen (Ginzburg 1993). Was nimmt man wahr, wenn man eine Schlacht wahrnimmt? Wie kann das Schlachtereignis kulturell repräsentiert oder aufgezeichnet werden? Wer handelt eigentlich in einer Schlacht? Wer entscheidet? Für die ältere Generalstabshistoriografie waren diese Fragen einfach zu beantworten oder wurden gar nicht erst gestellt. Der Feldherr hatte den Überblick und traf die Entscheidungen, seine Soldaten führten mehr oder weniger gut seine Befehle aus. Verlässt man den Feldherrenhügel und konzipiert das Ereignis als Verkettung von Einzelvorgängen müssen auch andere Quellen Berücksichtigung finden. Militärische Formationen werden so zu gigantischen Akteur-Netzwerken aus Menschen, Tieren und Dingen. Das Bedienen eines Geschützes, eine Mauer als Schutz, der morastige Boden eines ausgelassenen Karpfenteiches, der in keiner Karte verzeichnet ist, das Laden einer Muskete, der Gebrauch des Bajonetts im Nahkampf oder das vollständige materielle Aus-

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plündern der Toten und Verwundeten am Ende einer Schlacht – all das zeigt nicht nur die komplexe Verknüpfung von Menschen, Dingen und Handlungen, sondern auch die methodischen Schwierigkeiten von deren Rekonstruktion. Ein praxeologischer Zugang zur Schlacht als einer Praxisformation erweitert die Perspektive hingegen jedoch nicht nur, indem alle Akteure des Geschehens gleichberechtigt in den Blick rücken und alle verfügbaren Quellen und Repräsentationen herangezogen werden, sondern die Ereignishaftigkeit selbst historisiert wird. Eine so konzipierte Geschichte denkt nicht vom Ergebnis her, sondern sieht dies selbst als Ergebnis von historisch wandelbaren Praktiken der Zuschreibung. Kontingenz wird nicht zu einem Nebeneffekt des Geschehens, sondern ist konstitutiv für dessen kulturelle Rahmung und Deutung (Bröckling 2003).

F a zit In der Geschichtswissenschaft wird die Praxeologie bislang primär als Theorie behandelt, nicht als Methode. Das bedeutet, dass, was Historikerinnen und Historiker tun, wenn sie ihre Daten erheben, in unserer Sprache die Quellen bzw. das historische Material, wird weniger durch einen praxeologischen oder einen nicht praxeologischen Zugang bestimmt, als vielmehr durch Entscheidungen für qualitative oder quantitative Verfahren oder die Ausweitung von Schrift- auf Sachquellen, Bilder oder archäologische Befunde. Ein reflexiver Zugang zu den der Geschichtswissenschaft eigenen Praktiken zeigt, wie Lorraine Daston überzeugend dargelegt hat, dass hier ein stillschweigender Konsens unter Historikerinnen und Historikern herrscht. Worüber gestritten wird, sind die Wahl des ›richtigen‹, d.h. als relevant erachteten Gegenstands und die Theorien seiner Deutung, weniger die Methode. Das Beispiel der Analyse symbolischer Praktiken ständischer Distinktion hat dies bestätigt. Kontrovers war hier nicht, wie die einzelnen Praktiken zu ermitteln und zu rekonstruieren sind, sondern welche Relevanz sie zur Erklärung der Funktionsweise ständischer Ungleichheit beanspruchen können. Was die Geschichtswissenschaften zur Frage nach den Methoden einer Soziologie der Praxis beitragen können, liegt folglich auf einer anderen Ebene, die den Historikerinnen und Historikern selbstverständlich erscheinen mag, im interdisziplinären Diskurs aber wohl keineswegs selbstverständlich ist: der Praxis des Historisierens. Ganz gleich, ob die Geschichte einer Schlacht oder die Gepflogenheiten des akademischen Lebens, die Historisierung von Praktiken bedeutet, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, soziale Mechanismen sichtbar zu machen und näher an das behandelte Phänomen zu kommen. Geschichte als Geschichte der Praktiken zu schreiben, ist dabei nicht allein eine Frage der Überlieferungsdichte, ist jedoch auch nicht unabhängig von

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Überlieferungschance und Überlieferungszufall. Es sollte somit deutlich geworden sein, dass die heuristische Leistungskraft der Praxistheorien für die historische Forschung mehr bedeutet, als die Anwendung des gesunden Menschenverstandes. Gleichfalls kann der soziologische Methodenkanon von der Problematisierung von Historizität profitieren. Historisierung heißt schließlich immer auch, dass ein Phänomen auch anders sein könnte als es gegenwärtig ist. Mit den Worten Pierre Bourdieus: »Wenn man die Geschichte kennen muß, dann weniger um sich daran zu nähren, sondern um sich von ihr zu befreien, um zu vermeiden, ihr zu gehorchen, ohne es zu wissen, oder sie zu wiederholen, ohne es zu wollen« (Bourdieu 2004: 115).

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Methodische Herausforderungen am Beispiel einer Soziologie der Praxisformation des Rock und Pop Anna Daniel, Franka Schäfer Soziologische Praxisforschung stellt Forscherinnen und Forscher vor erhebliche Herausforderungen. Diese sind methodologisch begründet und erfordern in der Empirie methodische Innovationsleistungen. Um die Anwendbarkeit der unterschiedlichen Analyseverfahren, die im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes vorgestellt wurden, nicht nur in methodologischer Perspektive zu diskutieren, sondern auch deren Reichweite hinsichtlich der unterschiedlichen Analyseebenen sozialer Praktiken auszuloten, stellen wir uns im folgenden Beitrag den an anderer Stelle eingeführten methodologischen Herausforderungen (vgl. hierzu den Beitrag Schäfer/Daniel in diesem Band) und vollziehen die Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der praxissoziologischen Methodendiskussion an einem konkreten Untersuchungsgegenstand. Ein aktuelles Forschungsprojekt mit dem Titel Rock und Pop  – Soziologie der Genese einer wirkmächtigen Praxisformation, das momentan unter der Leitung von Frank Hillebrandt am Institut für Soziologie in Hagen vorbereitet wird, bietet sich für eine solche Auseinandersetzung aus mehreren Gründen an: Zum einen liegt dem Forschungsprojekt das Anliegen zugrunde, mithilfe einer Soziologie der Praxis eine historisch informierte Zeitdiagnose zu generieren. Während sich nämlich soziologische Zeitdiagnosen häufig an Schlüsselbegriffen wie Flexibilisierung (Sennett 2006), Eventisierung (Hitzler 2011) oder Kreativität (Reckwitz 2013) ausrichten oder um Labelbegriffe wie Risikogesellschaft (Beck 1986), Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) oder Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) herum gelagert werden, ist es unser Ansinnen, auf der Grundlage einer praxissoziologischen Analyse der Wandlungsprozesse seit den 1960er Jahren eine historisch und empirisch fundierte Diagnose der Gegenwartsgesellschaft anzufertigen, die die theoretischen Engführungen sonstiger Zeitdiagnosen überwindet und der Vielschichtigkeit und Komplexität der Praxis gerecht wird. Forschungsleitend ist hierbei zunächst die recht allgemeine These, dass die in den 1950er/60er Jahren einsetzenden Wandlungsprozesse ge-

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sellschaftliche Grundlagen geschaffen haben, die für die heutige Gesellschaft nach wie vor von großer Bedeutung sind. Wir gehen dabei im Einklang mit Wicke (1987), Büsser (2004), Hecken (2009) und Frith et al. (2013) davon aus, dass sich die Praxis des Rock und Pop in der Zeit der nachhaltigen Transformation der Gesellschaft zwischen 1955 und 1975 als regelmäßige Vollzugwirklichkeit formiert und dabei eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Gegenwart ausübt. So ist Rock und Pop vielen Menschen nicht nur alltägliche Hintergrundmusik, sondern liefert als Klangbett der Gegenwartsgesellschaft fast jedem und jeder den Soundtrack des Lebens. Während die bisherigen Forschungsarbeiten zu Rock und Pop ihren Analysefokus auf einzelne Elemente, wie etwa die Musikindustrie, subkulturelle Gruppierungen oder die Geschichte des Konzepts Pops legen (vgl. Frith 1978; Hebdige 1979; Hecken 2009), ist das primäre Ziel dieses Forschungsprojektes, die vielfältigen Bestandteile der Praxisformation des Rock und Pop in ihrem konkreten Zusammenwirken zu erforschen. Denn erst über die Analyse dieses Zusammenwirkens lassen sich die strukturbildenden Wirkungen und dynamischen Eigenheiten dieser Formation erhellen, durch die die große Präsenz von Rock- und Popmusik in unseren Alltagskulturen möglich ist. Gegenüber der scheinbar vielschichtig angelegten Forschung von Petras (2011) oder Grossberg (1992), die sich in ihrer Empirie auf die Zeichenebene konzentrieren, wird von uns vor dem Hintergrund der Annahme, dass die unterschiedlichen Elemente des Rock und Pop gerade in der Materialität ihres praktischen Zusammenwirkens eine besondere Qualität entfalten, die von strukturbildender Wirkung für die Formation des Rock und Pop ist, eine praxisanalytische Untersuchung vorgenommen. Ein solcher Forschungszugang ermöglicht es, sowohl die Vielschichtigkeit (vgl. Beitrag Daniel/Schäfer im selben Band), als auch die besondere Dynamik der Rock- und Popformation in den Blick zu nehmen (Hillebrandt 2012a). Um die Ursachen für die dadurch dokumentierte Bedeutsamkeit des Rock und Pop zu erhellen, streben wir mit unserem Projekt eine kultursoziologische, am Begriff der Praxis ausgerichtete und zentrale Konstitutions- und Reproduktionsereignisse des Rock und Pop fokussierende Analyse dieser Praxisformation an (vgl. zu diesem Begriff Hillebrandt 2012: 45 f.; 2014: 150–163), die zum einen anhand einer Untersuchung ihrer Konstitutionsphase in den USA und zum anderen anhand einer Analyse ihrer regionalen Formierung und Spezifizierung – nämlich der Formierung und Popularisierung der Neuen Deutschen Welle (NDW) Anfang der 1980er Jahre in Deutschland und speziell in Hagen – untersucht wird. Im Gegensatz zur bisherigen musiksoziologischen Forschung werden wir die vielfältigen Elemente der Rock- und Pop-Praxis gerade in ihrem Zusammenspiel untersuchen. Mittels des praxissoziologischen Forschungszugangs werden wir diese in ihrem praktischen Vollzugsgeschehen analysieren, wobei es uns besonders fruchtbar erscheint, zentrale Konstitutionsereignisse wie das Monterey Pop Festival, das Woodstock-

Methodische Herausforderungen

Festival und das erste, weltweit im Fernsehen übertragene Konzert von Elvis Presley auf Hawaii, welche wir als präzedenzlose Ereignisse mit Anschlusscharakter verstehen, zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Dieser Zugang über die Ereignisse ermöglicht es praxisanalytischen Forschungen nicht nur, die verschiedenen körperlichen, gegenständlichen, diskursiven und symbolischen Elemente zu identifizieren, die sich für die Praxisformation des Rock und Pop als konstitutiv erweisen. Durch die Analyse ihres praktischen Zusammenspiels in vergleichender Perspektive lässt sich auch Aufschluss über die Bedeutung der Ereignisse für die Praxisformation erhalten. Der Anspruch, den wir in dem Forschungsprojekt verfolgen, eine an Foucaults Geschichte der Gegenwart angelehnte Zeitdiagnose zu verfassen, erweist sich zudem für die Methodendiskussion einer Soziologie der Praxis insofern als interessant, als dass die Frage, wie historische Ereignisse und soziale Praktiken retrospektiv analysiert werden können, in der bisherigen praxissoziologischen Diskussion recht stiefmütterlich behandelt wird. Die umfangreiche multimediale Quellenlage, die es zur Formation des Rock und Pop gibt, ermöglicht es außerdem, den Einsatz von visuellen Verfahren bei der retrospektiven Analyse historischer Ereignisse zu diskutieren. Gerade der Forschungsgegenstand der Rockund Popformation ist für die Methodendiskussion gut geeignet, da in dieser Formation den Artefakten eine entscheidende Rolle zukommt und deshalb in besonderer Weise der analytische Umgang mit der physischen Dimension der Praxis und deren Zusammenwirken in Körper-Ding-Assoziationen vor Augen geführt werden kann.

F orschungspr agmatisches B eispiel : R ock- und P opmusik-F estival Aus dem skizzierten Forschungsvorhaben zur Praxisformation des Rock und Pop wird bereits deutlich, dass der praxistheoretische Forschungszugang schon rein methodologisch eine konsequente Empirie verlangt. Den vielfältigen und umfangreichen Forschungsgegenstand der Praxisformation des Rock und Pop nehmen wir dabei deshalb zuerst einmal mittels präzedenzloser Ereignisse, welchen ein gewisser Anschluss-Charakter unterstellt werden kann, in den Blick. Auf diese Weise wird ein konkreter Zugang zum Feld hergestellt. Hierbei kann es sich sowohl um gegenwärtige als auch vergangene Ereignisse handeln, was jeweils unterschiedliche methodische Settings der partizipativen empirischen Sozialforschung bzw. der rekonstruierenden Sozialforschung nach sich zieht. Gegenwärtige Ereignisse ermöglichen methodische Zugänge wie Live-Soziologie oder klassisch ethnografische Konzeptionen wie Beobachtungen und Teilnahmen mit oder ohne videografische Unterstützung. Die

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größere Herausforderung stellen sicherlich praxisanalytische Forschungen zu vergangenen Ereignissen da, die wir im Folgenden näher beleuchten. Um das methodische Desiderat der praxissoziologischen Diskussion und mögliche Arten, diesem zu begegnen, aufzuzeigen, werden wir im Folgenden ein Beispiel aus der Entstehungsphase der Rock- und Popformation herausgreifen und anhand der praxissoziologischen Analyse des Monterey Pop Festivals  – eine für die Rock- und Popformation gerade in ihrer Konstituierungsphase sehr bedeutsame Ereignisform  – diskutieren, wie man sich den herausfordernden Untersuchungsebenen methodisch nähern kann, an welche methodischen Herangehensweisen hierbei angeknüpft werden kann und wie das Methodendesign ausgerichtete sein muss, um nicht nur die unterschiedlichen konstitutiven Bestandteile der dieses Ereignis konstituierenden Praktiken in den Blick zu bekommen, sondern auch Aufschluss über deren Entstehung und Genese zu erhalten. Wenn man von Ereignissen wie dem Musikfestival Monterey Pop von 1967 ausgeht, wird man sowohl der Flüchtigkeit der Sinnproduktionen als auch der Komplexität sozialer Praktiken gerecht, welche eine praxisanalytische Kultursoziologie gerade ernst nehmen will. Indem man nun die unterschiedlichen Bestandteile und Dimensionen identifiziert, die konstitutiv für ein solches Ereignis sind, kann man die Komplexität der Praxis zumindest auf der analytischen Ebene etwas lichten und folgende Dimensionen unterscheiden: die technischen und gegenständlichen Dimensionen, wie etwa Licht- und Verstärkertechnik, aber auch Instrumente und andere materielle Bühnenelemente, die sozialisierten Körper der Musikerinnen, der Organisatorinnen und des Publikums, die medialen Elemente, die sich für das Zustandekommen dieser Ereignisse als konstitutiv erwiesen (Verbreitungs- und Rezeptionstechniken der Popmusik, Massenmedien etc.), die räumliche Anordnung des Ereignisses, also etwa der geografische Ort der Veranstaltung, die Bühnenarchitektonik, räumliche Anordnung der Bestuhlung etc., der zeitliche Rahmen des Ereignisses und dessen Verlauf, die diskursive und narrative Dimension, um die Ikonisierung des Monterey Pop Festivals in den Blick zu bekommen, sowie die visuelle Dimension des Ereignisses, ist die Analyse doch in erster Linie auf dokumentarisches Filmmaterial angewiesen, welches diese Ereignisse jeweils in ein bestimmtes Licht rückt.1 1 | Natürlich handelt es sich hierbei um eine analytische Unterteilung, die in der Praxis so nicht vorzufinden ist. Entsprechend müssen diese Analyseebenen im Rahmen der Untersuchung ständig miteinander in Beziehung gesetzt werden, weil sie sich immer gegenseitig beeinflussen und bedingen. Welche Aspekte hier von Bedeutung sind, ergibt sich aus den Teilergebnissen der einzelnen Forschungen. Zuletzt geht es dann auch darum, die Ergebnisse dieser Forschungen zeitdiagnostisch auszuwerten und mit den Ergebnissen aus anderen Forschungsarbeiten zu anderen Bereichen zu vermitteln.

Methodische Herausforderungen

Die Untersuchung dieses Zusammenwirkens zu unterschiedlichen Aspekten des Festivals ist ein Desiderat der Soziologie. Obwohl Ereignisse wie das Monterey Pop Festival in keiner Chronik der Rock- und Popgeschichte fehlen und ihnen für die Genese, Etablierung und Ausbreitung dieser Praxisformation meist eine bedeutende Rolle zugesprochen wird, sind diese Ereignisse, wie oben bereits gesagt, soziologisch bisher kaum und praxisanalytisch überhaupt nicht in den Blick geraten. Lediglich die filmischen Dokumentationen des Monterey Pop- und des Woodstock-Festivals sind singulär hinsichtlich ihrer ikonisierenden Wirkungen erforscht worden (Kitts 2009). Mittels der skizzierten praxisanalytischen Untersuchung werden wir dieses Forschungsdesiderat einholen, ermöglicht der Zugang über diese bedeutenden Ereignisse der Rock- und Popgeschichte doch in besonderer Weise, die konstituierenden Elemente und Praxisformen der Praxisformation des Rock und Pop in den Blick zu nehmen. Dabei gilt uns das Monterey Pop Festival als ein wichtiger Kristallisationspunkt für die Genese des Rock und Pop. Denn während die erste Welle der durch den Rock ’n’ Roll ausgelösten Euphorie Anfang der 60er Jahre zu verebben drohte, erhielt die Praxisformation des Rock und Pop durch die sich in Monterey ereignende Zusammenführung von britischem Beat und der amerikanischen Szene (Soul, Rock ’n’ Roll, Summer of Love), die sehr genau durch Jimi Hendrix verkörpert wird, neuen Aufschwung und führte erst, so unsere zentrale Hypothese, zur globalen Ausbreitung der Rock- und Popformation. Das Ereignis des Monterey Pop Festivals qualifiziert sich darüber hinaus zur Analyse, da sich die hier beobachtbaren Praktiken, die aus Assoziationen zwischen Körpern und Dingen resultieren und beispielsweise verzerrte E-Gitarren Sounds hervorbringen, noch sehr offensichtlich durch ihre Experimentierfreudigkeit auszeichnen, während diese Körper-Ding-Assoziationen im Folgenden dann zum wesentlichen Bestandteil der Rockformation werden. Das schillerndste Beispiel hierfür ist die E-Gitarre als prägende Körper-DingAssoziation. Ziel ist es somit, über die Analyse dieses durch Filmmaterial und Diskurse gut dokumentierten Ereignisses den präzedenzlosen Praxisformen mit Folgecharakter, die für die Genese und Ausbreitung der Praxisformation notwendig waren, auf die Spur zu kommen.2 2 | Neben der Generierung von Erkenntnissen über die Entstehung und Transformation des Rock und Pop liegen die sekundären Ziele einer solchen Untersuchung in der forschenden Erweiterung einer Soziologie der Praxis, um diese für die Fassung von historischen Wandlungsprozessen und einer Geschichte der Gegenwart fruchtbar zu machen. Über die Analyse der Ereignisse kann außerdem die häufig konstatierte Engführung der Praxistheorie auf Routinen überwunden werden, wird doch gerade das Spannungsverhältnis zwischen etablierten Praxisformen und deren Brüchen und Neuformierungen ins Zentrum der hier avisierten Forschungsarbeit gestellt.

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F eldzugang  – E instieg in die E mpirie des M ontere y P op F estivals Hinsichtlich der Rahmung des konkreten Forschungsgegenstandes ist festzuhalten, dass die Untersuchung des Rock und Pop im Allgemeinen und auch der spezifische Forschungsgegenstand des Monterey Pop Festivals im Speziellen eines empirischen Forschungszugangs bedarf, welcher der globalen Fluktuation und Ausbreitung dieser Praxisformation gerecht wird. Deshalb erfolgt die Erforschung im Stile einer Multi-Sited-Ethnography (Marcus 1998), die einen solchen Analysezugang in besonderer Weise ermöglicht: Gegenüber einer klassisch ansetzenden Ethnografie wird die Multi-Sited-Ethnography gerade dem innerhalb der Rock- und Popformation offensichtlichen Zusammenspiel von Globalität und Lokalität gerecht (vgl. hierzu auch BinasPreisendörfer 2010) und greift aus diesem Grund nicht auf die teilnehmende Beobachtung als zentrale Erhebungsmethode zurück, sondern folgt den Untersuchungsgegenständen mittels Artefakt- und Situationsanalysen durch Raum und Zeit (Falzon 2009: 4). Mit diesem Verfahren gewährleisten wir die dem Forschungsgegenstand geschuldete Flexibilität gegenüber audiovisuellen, textförmigen, fotografischen, dinglichen und körperlichen empirischen Materialien, auf welche man beim Folgen der Artefakte trifft. Die Multi-Sited-Ethnography ist nicht zuletzt aufgrund ihrer dem Gegenstand angepassten Methodenauswahl ein prädestinierter Analyserahmen für die Soziologie der Praxis, welche mit einem differenzierten Methodensetting die Formation des Rock und Pop gemäß einer Geschichte der Gegenwart retrospektiv erforscht. Zum Einstieg in die empirische Arbeit am Forschungsgegenstand des Monterey Pop Festivals eignet es sich insbesondere, eine Clarke’sche Situationsanalyse in praxisanalytischer Erweiterung als Ereignisanalyse durchzuführen, hiermit ist gleichzeitig die Möglichkeit gegeben, den Forschungsprozess dokumentarisch-reflexiv zu begleiten (vgl. hierzu kritisch den Beitrag von Both in diesem Band). Als ersten analytischen Arbeitsschritt sieht Clarke vor, eine sogenannte Situationen-Map zu erstellen, in der alle relevanten Bestandteile eines in praxisanalytischer Perspektive spezifischen Ereignisses  – hier des Monterey Pop Festivals – abgebildet werden. Hierbei werden die empirischen Verweise, mittels derer man sich Zugang zu den unterschiedlichen Elementen verschaffen will, bereits mit aufgelistet. Datengattungen, die wir so in den Korpus aufnehmen, sind: menschliche Körper, die mit dem Festival in Verbindung stehen, der geografische Ort, Interviews und O-Töne von Beteiligten, Texte in Büchern, Zeitschriften, Leserbriefe oder Kommentare, Einträge in materiellen und virtuellen Gästebüchern in Museen oder Gedenkstätten, Filmmaterial, Fotografien, Artefakte wie Kleidungsstücke, die auf dem Festival getragen wurden, Musikinstrumente, Verstärkertechnik und anderes Equip-

Methodische Herausforderungen

ment, Tonträger und Sampler, Merchandisingprodukte usw. Clarke spricht nicht zuletzt auch aufgrund der gewollten Überfrachtetheit von einer Messy Map. Durch das Visualisieren aller möglichen Elemente und Datenformen des Ereignisses kann in einem weiteren Schritt dann eine Eingrenzung vorgenommen werden, um einen konkreten Einstieg ins Feld zu ermöglichen und diese Selektion wiederum reflexiv in der Ergebnispräsentation zu berücksichtigen. Natürlich handelt es sich bei dieser ersten Map des Ereignisses um eine vorläufige Auflistung derjenigen Elemente, welchen aus der Gegenwartsperspektive Bedeutung zugeteilt wird, was von dem Vorwissen und den Wahrnehmungsschemata der Forschenden abhängig ist. Gerade diese erste Kartografierung des Ereignisses ermöglicht es den Forschenden aber gerade, rückwirkend nach Abschluss der Analyse über diese erste Map die Ausgangsposition nachzuvollziehen und auf dieser Folie die Endergebnisse der Analyse einzuordnen und mögliche Zusammenhänge zwischen der Ausgangslage und dem Gang der Forschung sichtbar zu machen. Im weiteren Forschungsverlauf wird in einem zweiten Schritt eine Positionen-Map angefertigt, um auch die relationale Perspektive der Formation in den Blick zu nehmen. Sie dient nicht nur dazu, Relationen zwischen Positionen der verzeichneten Elemente zu visualisieren und auf nicht vorhandene Positionen hinzuweisen. Hier versucht man zudem, die grundlegenden Fragen eines spezifischen Ereignisses zu identifizieren, um dann herauszuarbeiten, welche unterschiedlichen Positionen es hierzu jeweils gibt (Clarke 2012: 167). Die dritte Form der Analyse bilden Karten, in denen Soziale Welten und Arenen grafisch dargestellt werden. Soziale Welten werden bei Clarke als Diskursuniversen verstanden, die dazu führen, dass sich Menschen in einer gewissen Weise organisieren. Sie macht deshalb die Meso-Ebene als Ort des bei Clarke noch soziales Handeln genannten aus. In praxisanalytischer Perspektive werden die von Clarke als Diskursuniversen bezeichneten Analyseeinheiten als vielschichtige Formierungen von Einzelpraktiken zu Praxisformationen untersucht und müssen somit eher als Dispositivuniversen gefasst werden. Dispositive, die aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken entstehen, formieren sich in sozialen Arenen und verhandeln hier bestimmte Fragen der Positionierung von Gegenständen, Körpern und Diskursen. Entsprechend sieht man sich für die Erstellung einer Karte sozialer Arenen, die im Vollzug des Ereignisses des Monterey Pop Festivals zusammenkommen, sogenannte Muster kollektiver Verpflichtungen an: Welche Praxisformen finden sich in welchen sozialen Arenen wieder? Was sind die vorherrschenden praktischen Logiken und durch welche nicht-menschlichen Aktanten und Körper-Ding-Assoziationen werden sie gekennzeichnet? In der Karte könnte im vorliegenden Beispiel des Monterey Pop Festivals z.B. eine Arena verzeichnet werden, in der das Dispositiv um das Konzept des Beeing Groove ausgehandelt wird. Nicht nur diskursiv, sondern vor allem auch durch die Formation von Körpern in

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Assoziation mit Gegenständen wie z.B. Brillen, Ketten, Musikinstrumenten oder Zigaretten wird auf dem spezifischen geografischen Gelände des Veranstaltungsortes die legitime Art und Weise des Groove-Seins materiell ausgehandelt. Als ein weiteres Beispiel für eine soziale Arena kann die Formation von Körpern und Dingen auf der Bühne genannt werden, wenn Diskurse über die Performance der Künstlerinnen, wie sie sich z.B. in Musikzeitschriften manifestieren, im Festivalereignis auf die physische Dimension der Beschaffenheit der Bühne treffen und sich mit Ordnungsdiskursen der Behörden in Form von Sicherheitsbestimmungen und antiautoritären Erziehungsdiskursen zu einem Dispositiv des »Auftritts« vermischen. Ganz im Sinne einer Soziologie der Praxis werden die Grenzen sozialer Arenen dabei von Clarke nicht starr, sondern höchst flexibel gefasst, um Heterogenität und Wandel gerecht zu werden (Clarke 2012: 147). Wie die Soziologie der Praxis möchte Clarke so den Dualismus zwischen Subjekt und sozialen Strukturen überwinden. Dabei muss die Methode des Mappings jedoch stets selbst als prozesshaftes Instrument verstanden werden. Immer wieder sollen während der laufenden Untersuchung weitere Karten erstellt werden, in denen neuere Ergebnisse integriert werden. Um den Prozesscharakter dieser Vorgehensweise zu verdeutlichen und spätere Reflexion von Pfadabhängigkeiten zu erleichtern, erweist sich das konsequente Datieren dieser Maps als wichtige Aufgabe (Clarke 2005: 84), um am Ende eine den gesamten Forschungsprozess abbildende Projektkarte erstellen zu können, in der die Ergebnisse aus den einzelnen Maps dann zusammengefügt werden. Die sich nach dem Feldzugang über die ersten Messy-Maps anschließende empirische Arbeit ist dann insbesondere an der physischen Dimension der identifizierten Praktiken interessiert. Entsprechend liegt der ethnografisch interessierte Blick bei der Untersuchung des Rock- und Popfestivals in besonderem Maße auf der Materialität der sich vollziehenden Praktiken. Neben den menschlichen Körpern bilden die technische Ausstattung (Verstärker, Mikrophone, Scheinwerfer etc.), Musikinstrumente, Bühnen, Absperrungen, sanitäre Anlagen, Mobilität gewährleistende Infrastrukturen, Radiogeräte, Zeitungen, Erste-Hilfe Zelte, Fressbüdchen und Getränkestände zentrale Voraussetzungen, damit es überhaupt zu einem solchen Ereignis wie dem Monterey Pop Festival kommen konnte. Dabei tragen gerade die dinglichen Elemente in grundlegender Weise zur spezifischen Raumaufteilung des Festivalgeländes bei. Nicht nur den Artefakten kommt dadurch eine enorme Bedeutung zu. Auch hinsichtlich des identitätsstiftenden Potenzials von Rock und Pop spielen gerade dingliche Gegenstände in Form von Kleidung, symbolischen Objekten sowie Drogen- bzw. Alkoholkonsum eine besondere Rolle. Hinsichtlich der Untersuchung der facettenreichen physischen Dimension der Praktiken des Rock und Pop des Monterey Pop

Methodische Herausforderungen

Festivals muss man also stets von Assoziationen aus Körpern und Dingen ausgehen.3 Da der Feldzugang bei vergangenen Praktiken nicht mehr unmittelbar erfolgen kann, muss auf unterschiedliche Datenquellen zurückgegriffen werden, wobei sich filmisches Datenmaterial, wie im Folgenden deutlich wird, besonders eignet. In Anlehnung an die Ethnomethodologie geht es in praxisanalytischer Perspektive bekanntlich nicht darum zu erforschen, warum die Menschen so handeln, wie sie handeln, sondern darum, was sozialisierte Körper machen, dass sich in Formation mit Artefakten und Diskursen die Verkettung von Einzelpraktiken ereignet. Die Fragen an das in den Ereignisanalysen zusammengetragene Bild- und Filmmaterial sind dann Fragen nach der Indexikalität von Praktiken: In welcher Art und Weise praktizieren sozialisierte Körper in Assoziation mit Artefakten und Räumen das Sprechen, das Gehen, das Singen, das Tanzen, das Musizieren usw. Um das Doing Festival in den Blick zu bekommen, ist es notwendig, vor allem historisches Bild- und Filmmaterial in Kombination mit Narrationen und Beschreibungen in Textform zu setzen. Vor allem aus dem Dokumentarfilmmaterial zum Monterey Pop Festival können die von Garfinkel und Sacks als glossing practices bezeichneten Umschreibungspraktiken identifiziert werden, die das Festival konstituieren. Umschreibungspraktiken sind hierbei Verfahren, mithilfe derer sich aus Alltagspraktiken in innovativer Konstellation Praktiken formieren, die das Festival hervorbringen. Das ethnomethodologische Forschungsprogramm dient also im speziellen Fall dazu herauszufinden, welche Methoden zur Anwendung kommen, um mithilfe von Praktiken den Alltagsbereich Rock- und Popfestival als solchen zu organisieren. Hinzu kommt, dass mit Garfinkels dokumentarischer Interpretation der Fokus auf den Durchführungsaspekt von Praktiken gelegt und der bereits problematisierte Erklärungsanspruch des Kontexts vernachlässigt werden kann. So kann die unterscheidende Grenzziehung zwischen Situation und Kontext im Sinne des indexikalischen Ausdrucks von Praxis vermieden werden. Denn nimmt man die ethnomethodologische These ernst, dass »Bedeutungen sich nur innerhalb einer unendlichen Sequenz praktischer Handlungen entfalten« (Garfinkel/Sacks 1976: 48), stellt sich die Frage nach dem Kontext nicht, da jeder Akteur seinen eigenen Kontext herstellt. Die Frage ist dann: Wie machen die Menschen ihr Verhalten als Praktiken des Rock und Pop darstellbar, erkennbar und berichtbar? 3 | Nichtdestotrotz soll im Folgenden eine analytische Trennung zwischen menschlichen Körpern (und denen mit ihnen assoziierten Dingen) und Artefakten vorgenommen werden, um zu diskutieren, mithilfe welcher Methoden welche physischen Aspekte der Praktiken am besten analysiert werden können.

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Auf Grund der Vergangenheit des Ereignisses muss die praxisanalytische Soziologie jedoch über die klassischen Erhebungsmethoden der Ethnomethodologie und Ethnografie hinausgehen. Die Forschenden können nicht an der Praxis teilnehmen und die den beteiligten unbewussten Dimensionen der Praxis beobachten. Deshalb wird im Fall des Ereignisses des Monterey Pop Festivals auf vorhandenes Filmmaterial zurückgegriffen. Durch den Einbezug der multiperspektivischen Sichtweise durch die Kamera(s) werden Details sichtbar gemacht, die den teilnehmenden und beobachtenden Akteuren in der Situation selbst nicht zugänglich sind und deshalb nicht über narrative Interviews erhoben werden können. Technische Konserven wie Filme und Bilder sind in unserem Verständnis dann natürlich kein Abbild der Situation, sondern fügen ihr etwas Neues hinzu. Videos sind somit visuelle Notizen, die bei den Betrachtenden mit verbaler Kommunikation verschränkt abweichende Erinnerungen hervorrufen. Filmmaterial vom Monterey Pop Festival liefert uns somit erkenntnisreiche Wissensdifferenzen zu den Praktiken, die in der Vergangenheit vollzogen wurden. Ein Film ist aus dem Kontext gerissen etwas Zusätzliches zu der Situation, in der er aufgenommen wurde. Videos und Fotos schaffen wegen der Isolation und Momentaufnahme von Praktiken, die eigentlich im Fluss sind, Momente, die es so nie gegeben hat, was bei der Analyse reflektiert werden muss. Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt es, hinsichtlich der Analyse filmischen Materials gerade in Bezug auf die visuelle Dimension besondere methodologische Überlegungen anzustellen: In erster Linie sind diese visuellen Praktiken körperliche Praktiken des Sehens, wobei Sehen wiederum eine Form des Wahrnehmens ist, die dem Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung unterliegt, wie Sophia Prinz 2014 in ihrer Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von visueller Ordnung, inkorporierten Wahrnehmungsschemata und visuellen Praktiken des Sehens herausgearbeitet hat. Der Körper ist dabei in der visuellen Dimension Instrument, Produzent und Produkt sozialer Praxis (vgl. Mauss 1978). Angewandt auf die visuelle Dimension von Praxis fällt der Körper also als Instrument des Sehens, als Produzent des Gesehenen und als Produkt des Sehens in den forschenden Blick.4 Wie Sophia Prinz dies nachweisen konnte, bilden visuelle Artefakte ähnlich wie sprachliche Diskursordnungen so etwas wie Wissens- und Wahrheitsregime (Prinz 4 | Hieraus ergeben sich forschungspragmatisch Fragen wie: Welche Machtwirkungen haben Praktiken des Sehens auf den Körper, welche Effekte haben Praktiken des Sehens und Gesehenwerdens auf den Körper (Foucault)? Welche Körper-Ding-Assoziationen generieren bestimmte Praktiken des Sehens (Latour)? Welche Disziplinierungseffekte haben visuelle Praktiken auf die Anordnung von Körpern und Dingen (Foucault)? Welche Rolle spielen Praktiken des Visuellen für die Leiblichkeit als Verbindung zwischen »zur Welt sein« und »für sich sein« (Merleau-Ponty)?

Methodische Herausforderungen

2014). Eine praxisanalytische Analyse des Sehens konzentriert sich deshalb auf die Anordnung der Ding- und Körperwelten sowie der Raumstrukturen und deren Integration in die Wahrnehmungsschemata. Historische und kulturelle Praktiken des Sehens, die das Subjekt auf seine Umgebung anwendet, sind dabei methodisch aus der Logik der visuellen Formationen der empirischen Dingwelt abzuleiten (Prinz 2014: 330). Für die Analyse der Konstitutionsphase der Rock- und Popformation werden die Bedingungen des Sehens aus den sichtbaren visuellen Formationen der Zeit abgeleitet. Die Analyseebene ist deshalb zum einen eng an die Analyse der Diskurse angelehnt, die steuern, was als Gesehenes legitim wahrgenommen werden kann, was die Formen und Inhalte der bildlichen Repräsentationen sind, welche Artefakte und Medien als Körperprothesen der visuellen Praktiken herangezogen werden und die visuellen Formationen sichtbar in Architektonik und Raumstruktur sowie in der Verteilung, Häufung und Relation von Dinggestalten formieren. Zum anderen bieten sich methodisch die Möglichkeiten der Analyse der Wahrnehmungsschemata des Subjekts in Bezug auf visuelle Normen und Anschauungsformen, die durch die visuellen Formationen im Lebensstil als sinnlich visuelle Kontakte sichtbar werden. Hierfür bieten sich z.B. Adaptionen der empirischen Vorgehensweisen der Bourdieu’schen Habitusanalyse an. Vor dem Hintergrund der Wahrnehmungsschemata lassen sich dann konkrete visuelle Wahrnehmungspraktiken erheben: Im Falle des Monterey Pop Festivals z.B. abweichende Praktiken des Sehens von festivalteilnehmenden Konsumentinnen, von Ordnerinnen und Securities, von Musikerinnen, Organisatorinnen, Pressevertreterinnen, der Polizei oder unbeteiligten Anwohnerinnen. Gerade in diesem Bereich der visuellen Soziologie wird die Entwicklung von innovativen Methoden notwendig, weil Ansätze der visuellen Wissenssoziologie (Raab 2008; Schnettler 2013) und die herkömmliche Sozialtheorie des Bildes von Breckner (2010) stets noch auf das Bild an sich enggeführt sind – woraus sich nur mit großer Mühe Praktiken extrahieren lassen. Auch in der neueren praxistheoretisch fundierten Soziologie des Visuellen schließt Burri (2008) mit ihrer Kritik an der visuellen Soziologie die Forschungslücke nur teilweise, wenn sie sich mit sozialen Praktiken der Produktion, Interpretation und Verwendung von Bildern befasst (Schindler 2012: 68). Schindler reagiert deshalb im Rahmen ihrer ethnomethodologischen Beschreibung ethnografischer Praktiken und liefert fruchtbare ethnomethodologische Ansätze zur Analyse von Praktiken in visuellem Material wie Mimiken und Gestiken, visuellen Medien, situationsbezogenem Gebaren, Kleidung und Zeichnung, Körperbewegungen und räumlichen Anordnungen von Körpern (Schindler 2012: 168).5 5 | Bilder haben dabei immer einen indexikalischen Ausdruck und implizieren Praktiken, was für unser Forschungsprojekt Fragestellungen im Spannungsfeld der Trias Mate-

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Im avisierten Forschungsprojekt werden die konkreten Filmausschnitte und Mitschnitte des Monterey Pop Festivals6 in Anlehnung an die Filmanalysen der Cultural Studies (Winter 1992; Denzin 2003) analysiert. Legen die Cultural Studies den Analysefokus meist jedoch vermehrt noch auf die Filmrezeption, liegt der praxissoziologische Fokus eher auf der Filmrealität im Sinne von Fragen danach, welche Praktiken gezeigt werden und in welcher Relation zueinander, ebenso auf der Bedingungs- und Bezugsrealität im Sinne der Frage, in welchem Verhältnis die abgebildeten Praktiken des Festivals zu den Praktiken der Konstitutionsphase der Rock- und Popformation im Allgemeinen stehen. In der konkreten methodischen Umsetzung bietet sich eine Orientierung an Norman Denzins »Prinzipien einer kritischen visuellen Analyse« (Denzin/ Lincoln 2003) an, wie sie auch Gugutzer in Bezug auf den Sportfilm erfolgreich anwendet (Gugutzer 2008: 230 ff.) Im Mittelpunkt unseres Forschungsprojekts steht der offizielle Festivalfilm The complete Monterey Pop Festival von D. A. Pennebaker (1967). Dieser wird mittels einer praxissoziologischen Ausformulierung der Korteschen Filmanalyse (Korte 2004) und unter Hinzunahme der Mappingtechnik der Situationsanalyse in umfassender Weise hinsichtlich seiner konstitutiven Bestandteile untersucht. Dabei liegt der Fokus zum einen auf die das Ereignis konstituierenden Dimensionen der Praxis, die in Einzelpraktiken zusammenkommen mussten, um das Ereignis praktisch zu vollziehen. Zum anderen wird das Zustandekommen des Films als solchem und dessen Stellenwert in der Praxisformation des Rock und Pop zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Zudem werden ausgewählte Sequenzen hinsichtlich der identifizierbaren Praxisdimensionen der sozialisierten Körper, der Artefakte, Symbole und Diskurse untersucht, um die unterschiedlichen Dimensionen des praktischen Zustandekommens der Ereignisse zu analysieren. Die Dokumentation wird gleichzeitig auch mit den Ereignissen, ihrer sozialhistorischen Eingebundenheit und der Rezeptionsgeschichte der Filme in Beziehung gesetzt (Korte 2004: 23). Auf diese Weise können wir die praxissoziologische Analyse mit medienanalytischen und wirkungsgeschichtlichen Aspekten in Zusammenhang stellen, was es uns erlaubt, auch die ikonisierende Wirkung des Films zu berücksichtigen. Nach der ersten Komplettansicht und dichten Beschreibung wird der Film in Sequenzprotokollen transkribiert und Schlüsselsequenzen mit Notationsprotokollen des Verbalen, Akustischen und Visuellen sequenzanalytisch ausgewertet. Dabei werden in einer ersten Map die unterschiedlichen Elemente – die sozialisierten Körper in ihren rialität, Visualität und Praxis nach sich zieht: Wie repräsentieren Bilder Sinnstrukturen? Wie kommt die Sinnstruktur in die Bilder? Wer nimmt die Bilder wahr und wie? Wie strukturieren die Bilder andere Arrangements? Wie erfolgen die Konstituierungsprozesse sozialer Visualität in der Praxis? 6 | The complete Monterey Pop Festival von D. A. Pennebaker (1967).

Methodische Herausforderungen

unterschiedlichen Eigenschaften als Performerinnen, Organisatorinnen und Publikum, die technischen und medialen Artefakte, die Bühnenarchitektur etc. – zunächst dokumentarisch fixiert, bevor diese dann anhand der Analyse markanter Filmsequenzen durch die Anfertigung relationaler Maps in Beziehung zueinander gesetzt werden. Über diese relationalen Maps können dann die Elemente identifiziert werden, die für das singuläre Ereignis, aber auch für die Praxisformation des Rock und Pop von besonderer Bedeutung sind und im Rahmen des zweiten Analyseschritts genauer untersucht werden. Neben der Analyse der konstitutiven Elemente dieses Ereignisses wird auch die Ikonisierung des Monterey Pop Festivals zum Gegenstand der Analyse gemacht. Über die Filmanalyse werden somit die narrativen und visuellen Dimensionen dieser Ereignisse eingeholt: Das Festival kann hier nicht nur in Zusammenhang mit dem sogenannten Summer of Love gestellt werden, welcher das Jahr 1967 in San Francisco prägte und die Lebensform der Hippies massentauglich machte, auch die Rezeptionsgeschichte des Films kann mittels dieses Analyseinstruments eingeholt werden. Im Anschluss an die eigentliche Filmanalyse wird der Film als Ereignis in die situationsanalytische Kartierungsarbeit nach Clarke eingepasst und im Prozess des Kartografierens herausgearbeitet, was alles zusammenkommen musste, damit die Genese des Films sich ereignete. Außerdem wird evaluiert, für welche Praktiken und Diskurse der Film einen Ausgangspunkt bildet. Das Filmmaterial sollte, wie oben bereits erwähnt, auch dazu genutzt werden, die konstituierenden Dimensionen der Praxisform Festival anhand ausgewählter Sequenzen näher in den Blick zu nehmen.

D ie K örper des F estivals Möchte man sich explizit mit der körperlichen Dimension der Festival-Praktiken befassen, bietet es sich an, bei der Analyse zunächst ganz allgemein zu fragen: Was machen die menschlichen Körper auf dem Festival und inwiefern fällt hier insbesondere die körperliche Physis ins Gewicht? Wo bewegen sich die Körper auf das bzw. auf dem Festivalgelände, wo und wie zur Musik? Welche Formen haben die Körper? Wie werden und welche Körperteile sind sichtbar und werden gezeigt bzw. angesehen? Welche Sinne werden bei einem solchen Ereignis besonders in Anspruch genommen? Welche charakteristischen Körperpraktiken lassen sich ausmachen und welche Rolle spielt hier jeweils der einzelne Körper oder die Ansammlung von mehreren Körpern? Wie kommen die Körper zum Festival und wie verlassen sie es wieder? Dies sind zentrale Fragen, die an das dokumentarische Material gerichtet werden und die Körper der Praxis stets als sozialisierte Körper in den forschenden Blick nehmen. Nimmt man in Anlehnung an Schmidt die physische Praxis als kons-

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titutive Ereignisse der Sozialität ernst, kann man über die sich immer wieder vollziehenden Aktualisierungen der Praxis symbolische Formen und andere Verdichtungen der Sozialität erkennen: »Folgt man dieser Sichtweise, dann sind Strukturen und Dispositionen, die in sozialisatorischen Prozessen vermittelt werden, etwa als körperliche Routinen, Haltungen und Bewegungsmuster, als sich zeigende, je besondere Formen körperlicher Auf- und Ausführungen in den Praktiken selbst kodiert. Sie liegen im praktischen Vollzugsgeschehen offen zu Tage« (Schmidt 2012, S. 216).

Da bezogen auf das Beispiel des Monterey Pop Festivals das filmische Material lediglich eine ganz spezifische Repräsentation der Praxis darstellt, die anderen ästhetischen und dokumentarischen Logiken unterliegt, bietet es sich bei diesem Ereignis, das noch nicht in allzu ferner Vergangenheit liegt, an, die am Ort des Geschehens präsenten Körper selbst zu befragen. Bilder und Fotografien des Festivals bieten Anknüpfungspunkte, um die sozialisierten Körpern in den Fokus zu rücken. Bezogen auf die Analyse von Bildern des Rock und Pop formuliert Burri (2008) Orientierung schaffende Anforderungen an eine Soziologie des Visuellen und entwickelt ein praxistheoretisches Instrumentarium zur soziologischen Bildanalyse, das für die Analyse von markanten Symbol-Fotos des Monterey Pop Festivals nutzbar gemacht wird.7 Da soziale Praxis immer als visuell geprägt angenommen wird, werden in der konkreten Analyse drei Dimensionen der visuellen Logik (Burri 2008: 350) untersucht: Erstens der visuelle Eigenwert – Was machen die Bilder sichtbar? Zweitens die Praktiken der Bildkonstitution – Wie ist das Bild dargestellt? Drittens die Bildwirkung und die Frage danach, was die Wirkung und Wahrnehmung prägt. Die visuelle Dimension der Praxis wirkt sich in diesem Verständnis auf ästhetische Schemata der menschlichen Körper aus. Sie wird inkorporiert zu einer Art visuellem Habitus, der auf Bildproduktion und Wahrnehmung wirkt, was im weiteren Verlauf der Transformation und Beharrung der Rock- und Pop-Formation zu verfolgen ist. Für den Stellenwert von Fotografie für empirische Arbeiten der Soziologie der Praxis stehen bereits die Arbeiten Pierre Bourdieus in Algerien stellvertretend (Bourdieu 2009). Bourdieu nutzt das fotografierte Bildmaterial einmal als Form der materialen Ethnografie im Sinne einer dokumentarischen Methode und zum anderen als Instrument, um den forschenden Blick zu schärfen, genauer hinzusehen und einen Zugang zum Thema zu finden (Bourdieu 2007; vgl. auch Brake 2013: 61). Nicht nur für die Konversion des Bli7 | Burri kombiniert auf der Argumentationsgrundlage, dass Bilder erst durch Praxis zu Bildern werden, die drei herkömmlichen Umgangsweisen der Soziologie mit Bildern: als Vorstellung und inneres Bild, als Darstellung und körperlich materielle Inszenierung, als Erscheinung im Sinne von Welt als visuelles Zeichen.

Methodische Herausforderungen

ckes, auch für die Analysen des Habitus und des praktischen Sinns stellt Bourdieu Fotografien als methodische Instrumente in den Mittelpunkt und zieht auch die vorgelagerten Praktiken der Entstehung und Produktion von Fotos, wie auch die nachgelagerten Prozesse der sozialen Verwendung (Ansehen und Zeigen von Fotografien) in den Fokus der Analyse, um Rückschlüsse auf deren Erzeugungsmuster zu ziehen. Wie dies Brake empirisch umsetzt, können für die praxissoziologische Bildanalyse die Methoden der Bourdieu’schen Habitusanalyse nach Wuggenig (1988; 1990; 1994) dahingehend fruchtbar gemacht werden, herauszufinden, was für die Akteure jeweils die relevanten Praktiken von Rock- und Popereignissen waren, wodurch Rückschlüsse auf den Habitus der Bildproduzierenden möglich werden. Hierfür bieten sich Methoden der fotografischen Rezeptionsforschung und Gruppendiskussionen in Erweiterung der dokumentarischen Methode an (vgl. Michel 2006). Brake führt vor Augen, dass der aktive Part der Probandinnen im Produktionsprozess der Fotos die Möglichkeit bietet, Hexis und Physiognomie zu fixieren und den Stellenwert der Körper und Dinge im Raum deutlich erkennbar werden zu lassen. Gleichzeitig wird das soziale Aufeinanderbezogensein der Körper und Dinge systematisch fassbar (Brake 2013: 83). Methodisch können für unseren Forschungsgegenstand Veteraninnen des Monterey Pop Festivals in GruppenDiskussionen aufgefordert werden, sich über Festivals damals und/oder heute an Hand von eigenen Fotomaterialien auszutauschen. Hierbei können mithilfe ethnografischer Techniken Videomitschnitte der Gruppen-Diskussion ausgewertet werden, um zu analysieren, welchen Praktiken Bedeutung zugemessen wird und an welchen Stellen durch Reinszenierungen bestimmte Praktiken als relevant markiert werden. Hierbei sollte der Fokus der Befragung natürlich weiterhin auf die sozialisierten Körper, also die körperlichen Wahrnehmungen und Empfindungen der Teilnehmenden, gerichtet werden, die analytische Schlüsse auf inkorporierte Sozialität zulassen. Für ein solches Unterfangen eignen sich herkömmliche Interviewmethoden nur in eingeschränktem Maße, vielmehr bedarf es eines methodischen Vorgehens, welches diese körperliche Erinnerungsleistung zu aktivieren vermag. Eine fotobasierte Gruppendiskussion (Brake 2009) stellt hier eine fruchtbare Alternative zum narrativen Interview dar, lassen sich hier über ausgewählte Bilder und Artefakte gezielt Impulse hinsichtlich des physischen Erinnerungsvermögens setzen. Mithilfe von fotobasierten Gruppendiskussionen mit Teilnehmerinnen des Festivals wird mittels gezielter Impulse der Analysefokus in der Retrospektive auf die physische Wahrnehmung gelenkt und der Körper als Erkenntnisquelle genutzt. Über eine solche Befragung lässt sich die Dimension des körperlichen und emotionalen Erlebens dieser Ereignisse einfangen. Wenn, wie im Falle des Monterey Pop Festivals, aufgrund der Vergangenheit des Ereignisses keine Live-Soziologie betrieben werden kann, kann mithilfe der physischen Erinnerungsleistung der Teilnehmenden unter-

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sucht werden, wie es sich beispielsweise anfühlt, bei dem großen Rockereignis in der ersten Reihe zu stehen bzw. zu sitzen, welche Sinne hier besonders beansprucht wurden, wie sich die Stimmung während eines Konzertes auf den Körper auswirkte oder welche physischen Empfindungen sich beim Betreten verschiedener Orte wie dem Bereich vor der Bühne bzw. dem Backstage Bereich oder den sanitären Anlagen einstellen. In diesem Sinne kann hier also in zweierlei Hinsicht von Körpern in Praxis die Rede sein – sowohl von Körpern als Forschungsobjekten, als auch von Körpern als Erkenntnissubjekten (vgl. Gugutzer 2004: 10 ff.). Darüber hinaus kann erhoben werden, welchen Körperpraktiken retrospektiv mit verstärkenden Körperpraktiken Relevanz zugewiesen wird und welchen Narrativen mit physischen Verstärkungen Ausdruck verliehen wird.8 Dabei lassen sich nicht nur die Erinnerungsleistungen als solche, sondern gerade auch physische Reaktionen wie die Gestiken und Mimiken analysieren, die die Fotos bei den Befragten hervorrufen, wenn die Diskussion als Ereignis selbst audiovisuell aufgezeichnet und ausgewertet wird. Mit Norman Denzin (1970) wird der performative Charakter der Erhebungssituation selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht, um auf diese Weise das physische Erleben dieser Ereignisse nicht nur mittels der verbalisierten Erinnerungsleistungen analysieren zu können, sondern auch anhand der körperlichen und emotionalen Reaktionen auf die bereitgestellten fotografischen Impulse.9 Für eine Analyse der körperlichen Dimension von Praktiken erweisen sich auch die Arbeiten der Cultural Studies als sehr instruktiv. In zahlreichen Untersuchungen haben sie sich mit unterschiedlichen Aspekten von Jugendund Subkulturen befasst und hierbei gerade auch die körperliche Dimension der Identitätskonstruktionen in den Blick genommen. John Clarke etwa befasst sich mit dem Identität stiftenden Potenzial von Jugendkulturen und hält hierbei fest: »Eine der wichtigsten Funktionen eines eigenen subkulturellen Stils ist es, die Grenzen der Gruppenmitgliedschaft gegenüber anderen Gruppen zu definieren. […] Ihre Reaktion gegen bestimmte Gruppen manifestiert sich nicht primär in den symbolischen Aspekten des Stils (Kleidung, Musik etc.), sondern zeigt sich in der ganzen Skala von Aktivitäten, Kontexten und Objekten, die zusammen das Stil-Ensemble bilden« (Clarke 1979: 141). Gerade bei der Analyse von Festivals bietet es sich an, Formen des Stilensembles bzw. ›Life-Styles‹, die mit spezifischen Musikrichtungen verknüpft werden, in 8 | Interviews mit am praktischen Vollzug der zu untersuchenden Ereignisse beteiligten Personen zu einem späteren Analysezeitpunkt bieten Aufschluss über bisher noch nicht identifizierte, aber möglicherweise wichtige physische Elemente der Praxisformation. 9 | Die Gruppendiskussionen werden somit in zweierlei Hinsicht ausgewertet: Nicht nur die erhaltenen Informationen, sondern vor allem die Arten und Weisen, wie diese vermittelt werden, werden in den Forschungsfokus genommen.

Methodische Herausforderungen

den Blick zu nehmen, um nicht nur die spezifische Ästhetik der Kosmetik und des Kleidungsstils zu analysieren, sondern auch das, was damit zum Ausdruck gebracht wird, also etwa die inhärenten Praktiken der Kritik. Welche Symbole werden zum Einsatz gebracht, welche spezifischen Körperpraktiken lassen sich identifizieren, lässt sich beispielsweise ein charakteristischer Tanzstil ausmachen oder inwiefern lässt sich ein mit einem bestimmten Life-Style gepflegter Umgang mit dem Körper durch Alkohol- oder Drogenkonsums ausmachen?

F estival A rtefak te Möchte man die spezifischen Artefakte und deren Körper-Ding-Assoziationen des Festivals in den Blick nehmen, die eine grundlegende Voraussetzung für das Zustandekommen des Festivals sind, lassen sich diese zunächst auch mithilfe des dokumentarischen Materials über das Festival identifizieren. Es lohnt sich jedoch auch, den spezifischen Artefakten mit Bruno Latour über die Grenzen des Monterey Pop Festivals hinaus zu folgen, sind doch Gegenstände wie etwa die E-Gitarre, Verstärker oder Boxentürme, Eintrittskarten oder Hippie-VW-Busse nicht nur für das Festival von großer Bedeutung, sondern solche dreidimensionalen Objekte nehmen für die gesamte Rock- und Popformation einen entscheidenden Stellenwert ein. Insofern lässt sich gerade über Artefaktanalysen, wie sie z.B. Froschauer und Lueger praktizieren, in praxisanalytischer Erweiterung ein anderes Wissen über die Entstehung und Genese der Rockund Popformation generieren (Lueger 2000: 140 ff., Lueger/Frosch­auer 2007: 435 ff.). Die von uns verfolgte methodische Herangehensweise sieht in Kombination mit dem Denkstil der Akteur-Netzwerk-Theorie wie folgt aus: Über die dreistufigen Clarke’schen Karten werden in der Ereignisanalyse Gegenstände und Körper-Ding-Assoziationen ausfindig gemacht, die für das Monterey Pop Festival von zentraler Bedeutung sind. In der Artefaktanalyse geht es dann darum, die beobachtbaren Mitteilungscharakter des Objekts auf einer akribisch dichten und rein deskriptiven Ebene zu analysieren. Daraufhin können Informationen zu Existenzbedingungen, Produktionsweisen, dem Gebrauch und den Folgen der Existenz dieses Artefakts recherchiert werden. Während in der deskriptiven Dimension die Materialität z.B. der E-Gitarre, deren Differenzierung in einzelne Teile wie den Stecker, das Kabel, die Seiten, die Vorderseite, die Rückseite und die Bedingungen, die vorhanden sein müssen, damit eine solche Gitarre existieren kann, erhoben werden, erfolgt in einem zweiten Schritt eine alltagskompetente Paraphrasierung, mithilfe derer die rein beschreibende Analyse in den Sinnzusammenhang des Alltagsverständnisses eingeordnet wird. Die strukturiert distanzierte Analysearbeit stellt im dritten Schritt auf den Umgang mit den Artefakten ab, darauf, welche Funktion ihnen

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in der Praxisform des Musikmachens zukommt, mit welchen Körpern und anderen Artefakten wie dem Verstärker und den Boxen assoziative Beziehungen eingegangen werden und welche Funktion der E-Gitarre dabei jeweils zukommt. Auch der letzte Schritt der klassischen Artefaktanalyse ist für eine praxisanalytische Forschung gewinnbringend, wenn nämlich komparativ vergleichbare Artefakte wie die klassische Gitarre oder andere Klangkörper, wie ein Kontrabass, herangezogen werden, um Besonderheiten und Andersartigkeiten in ihrer Bedeutung herauszuarbeiten und das Auftauchen der E-Gitarre in der untersuchten Ereignisform des Montery Pop Festivals mit anderen typischen Ereignissen in Kontrast zu setzen. Kompatibel mit dem Forschungsstil der ANT werden die Pfade der Artefakte nachgezeichnet, wie z.B. die E-Gitarre als Artefakt aktiver Bestandteil des Monterey Pop Festivals wurde und im weiteren Verlauf der Praxisformation des Rock und Pop ein wichtiger Bestandteil geblieben ist. Mittels Dokumentenrecherchen können die Karrieren spezifischer Artefakte in historisch zeitlicher Prozessperspektive nachgezeichnet werden. In Bezug auf die E-Gitarre hieße das beispielsweise, zu untersuchen, ab wann die E-Gitarre zum Leadinstrument der Pop- und Rockformation wurde, welche Mittler hierfür von Bedeutung sind, welche technischen Innovationen beispielsweise entscheidend waren und inwiefern sich hieraus neue Körper-Ding-Assoziationen auf dem Festival ergeben haben.10 Die methodologische Prämisse lautet hier: Folge den Praktiken und ihren Artefakten und beschreibe ihre Interaktionen und Relationen. Nach dem Prinzip der methodologischen Symmetrie Latours brechen wir mit der gängigen theoretischen Unterscheidung in menschliches Handeln und dem Operieren und Funktionieren von Techniken und beobachten menschliche Akteure und materielle Artefakte auf der gleichen Ebene mit derselben Optik als Körper-Ding-Formationen, die die Praktiken hervorbringen (vgl. Latour 1995: 127 ff.).

D iskurse und N arr ative des F estivals Auf der Untersuchungsebene der diskursiven Dimension der Praxis werden orale und schriftliche, wissenschaftliche wie populäre Narrative, Thematisierungen der Popindustrie und der Werbung, Diskurse spezieller Musikmagazine sowie massenmediale Inszenierungen der Konstituierungsphase und der gegenwärtigen Rock- und Popformation in den diskursanalytisch forschenden Blick genommen. Sowohl qualitative als auch quantitative Methoden der Dis10 | Neben einer Dokumentenrecherche können hierbei ergänzend auch Expertinneninterviews mit Vertreterinnen der Technologie-Branche, anderer Industriezweige, Konzertveranstalterinnen oder Musikerinnen in halbstandardisierter Form durchgeführt werden.

Methodische Herausforderungen

kurs- und Medienanalyse eignen sich hierfür. Im Bereich der diskursanalytischen Verbreitungen der Rock- und Popmusik in diversen Medien wie Film, Fernsehen, Radio und Internet etc. bieten sich bewährte Methoden der Medienanalyse aus dem Umfeld der Cultural Studies an, um die diskursive Dimension der Praxisformation erheben zu können. Dem normativen Bias des Begriffs der Praktiken der Cultural Studies, wie ihn Urs Stäheli mit genauen Gründen kritisiert (vgl. Stäheli 2004), begegnen wir damit, dass wir nicht an Subversivem und Verborgenem, sondern daran interessiert sind, offensichtliche Praktiken der Genese des Rock- und Popdiskurses zu beobachten. Praxissoziologische Forschung will grundsätzlich nicht aufdecken und ans Licht bringen, sondern den Prozess des Zusammenkommens unterschiedlicher Dimensionen der Praxis zu signifikanten Formationen in Ereignissen erforschen. In dieser Tradition nehmen wir methodisch Genese- und Rezeptionsbricolagen (Göttlich 2004) der diskursiven Dimension des Festivals vor, um die zwischen routinierten Beharrungspraktiken sowie kreativen Praktiken des Wandels aufgespannten relationalen Werknetze aus Diskursen, Rezipierenden, Konsumierenden, materiellen Artefakten, Medien und Text fassen zu können. Bleiben andere diskursanalytische Ansätze jedoch meist der analytischen Trennung von Diskurs und Praxis verhaftet (vgl. Wrana 2012), müssen methodische Werkzeuge erarbeitet werden, die eine Verhaftetheit in der Differenzierung in diskursiv intelligible Praxis und ethnografisch zugängliche implizite Praxis überwinden. Hierbei liefern Wranas Versuche, auf den Schemata-Begriff von Bourdieu zurückzugreifen, erste Hinweise (Wrana 2012), deren Potenziale es weiter auszuloten gilt. Grundsätzlich erfolgt die Analyse der diskursiven Dimension der Praxisformation der Praktiken des Rock- und Pop auf verschiedenen methodisch voneinander zu trennenden Ebenen: Mithilfe der Analyse der diskursiven Dimension der Praxis kann in einer Analyse des physischen Materials von Textseiten und Schriftzeichen Retextualisierungen von Textdokumenten nachgespürt werden, um herauszufinden, wie Texte und Narrative zu Artefakten mit Symbolkraft für das Festival wurden (vgl. Del Percio 2012). Hier gehen wir davon aus, dass im Verlauf von Diskursen Naturalisierungen von Aussagen geschehen und es Diskurspraktiken zu identifizieren gilt, die zur Ausblendung der Geschichte von Texten führen, sodass mit der Rekonstruktion der Genese Schlüsse auf aktuelle Narrative möglich werden. Hinsichtlich des Monterey Pop Festivals bietet es sich in diesem Analyseschritt an zu untersuchen, wie unterschiedliche wissenschaftliche, nicht-wissenschaftliche und dokumentarische Quellen die Entstehung und Genese des Festivals thematisieren bzw. wie etwa die spezifische Geschichte von Rock- und Popfestivals erzählt wird, welche Ereignisse als besonders zentral erachtet werden, welchen Ereignissen, Akteuren oder spezifischen Aktanten ein Symbolstatus zugesprochen wird usw. Dabei greift eine praxissoziologische Diskursanalyse einerseits auf bewährte Methoden der sozialwissenschaftlichen Diskursana-

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lyse zurück, muss aber den Fokus immer auf die Materialität der Diskurse richten und bricht dabei die analytische Grenzziehung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auf, wenn davon ausgegangen wird, dass vor allem körperliche Praktiken in ihrer Zeichenhaftigkeit eine diskursive Dimension enthalten und umgekehrt. Die Materialität der diskursiven Dimension der Praxis steht in der praxistheoretischen Perspektive auf diskursive Praktiken damit außer Frage. Die diskursive Dimension der Praktiken zieht schließlich vergleichbare und physisch greif bare Effekte nach sich, wie die dingliche oder körperliche Dimension. Mit praxissoziologischer Forschung beteiligen wir uns also an dem im Folgenden von Foucault beschriebenen Prozess, wenn er voraussetzt, »dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen« (Foucault 2003: 10). Ebenso wie im vorliegenden Forschungsvorhaben Ereignisse der Konstitutionsphase der Rock- und Popformation wie das Monterey Pop Festival in den Blick genommen werden, interessieren auch Foucault Diskurse als Ensembles diskursiver Ereignisse, die also weder Substanz noch Akzidenz, weder Qualität noch Prozess sind. Obwohl sie Ereignisse sind und keine konsequent haptische Physis aufweisen, sind sie immer auf der Ebene des Materiellen wirksam und deshalb als diskursive Materialität zu untersuchen. Die diskursive Dimension der Praxis muss ebenso wie diskursanalytische Forschung überhaupt über ihren Ereignischarakter bestimmt werden. Ähnlich wie Bourdieu Felder über deren Kraftwirkungen empirisch definiert, bekommt die praxissoziologische Diskursanalyse die Diskurse über deren Machtwirkungen auf der physischen Dimension in den Blick. Diskursanalytische Erhebungen der diskursiven Dimension der Praxis sehen damit durchaus mit Foucault die Aufgabe diskursanalytischer Forschung darin, »nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheit von Zeichen […], sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen Sie sprechen« (Foucault 2008: 525). Spezifischer nennt Foucault als Analysegegenstand die diskursiven Beziehungen an den Grenzen der Diskurse, die Beziehungen, die der Diskurs bedingen muss, um bestimmte Gegenstände wie z.B. Rock und Pop behandeln zu können. »Diese Beziehungen charakterisieren nicht die Sprache, die der Diskurs benutzt, nicht die Umstände, unter denen er sich entfaltet, sondern den Diskurs selbst als Praxis.« (Foucault 2008: 521). Der Fokus diskursanalytischer Erhebungsmethoden liegt damit auf diskursiven Praktiken in der Formation des Vollzugs von Praxisformen. Diskursive Praktiken setzen, wie Wrana dies überzeugend beschreibt, Bedeutungen, Gegenstandsfelder, Materialität und Subjektpositionen zueinander in Beziehung (Wrana 2012). Dies sind Praktiken des Sprechens und Schreibens ebenso

Methodische Herausforderungen

wie Praktiken des Verkörperns von Zeichen. Somit können Texte nur eine Art des Erhebungsmaterials bilden. Körperliche und körper-ding-assoziative Praktiken, die diskursives Material hervorbringen, sind ebenso diskursive Praktiken wie die Produktion von Text, die Aufführung von Musik, die Kundgebung, das Happening, der Protest sowie die Dokumentation all dessen in Bildbänden und Zeitschriften, Filmbeiträgen und Büchern. Neben Diskursanalysen von Texten als Artefakte diskursiver Praktiken werden deshalb zusätzlich Narrationen zur Konstitution des Rock in narrativen Interviews erhoben und es wird ethnografische Feldforschung zur Analyse von aktuellen Erzählungen betrieben, da, so die These, über die Analyse der Herstellung einer erkennbaren, diskursiv markierten und erzählbaren Praxis die physische Dimension der Diskurse des Rock und Pop herausgearbeitet werden kann. Aufgrund seiner Materialität wird der Diskurs in der praxisanalytischen Betrachtung in seinem text- und zeichenförmigen Niederschlag als Artefakt behandelt, welches sich in diskursiven Praktiken mit Körpern und anderen materiellen Artefakten assoziiert. Dabei werden die Wege nachgezeichnet, die diskursive Artefakte sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang der Ereignisse im Rahmen der Praxisformation des Rock und Pop durchlaufen. Die gewonnenen Ergebnisse praxissoziologischer Diskursanalysen werden wie auch die Ergebnisse der im vorangegangenen beschriebenen Analyseschritte durch das Mapping nach Clarke dokumentiert und in den Gesamtprozess der Forschung integriert.

F a zit Mit dem Einsatz des im vorangegangenen beschriebenen methodisch-vielschichtigen Forschungsdesigns ist es möglich, über das durch Filmmaterial, Diskurse und Artefakte gut dokumentierte Ereignis, präzedenzlosen Praxisformen mit Folgecharakter, die für die Genese und Ausbreitung der Praxisformation des Rock und Pop notwendig zusammenkommen mussten, auf die Spur zu kommen. Durch die Kombination verschiedener Erhebungsmethoden und deren praxissoziologischer Erweiterung wurde eine Multi-Sited-Ethnography als adäquater Forschungsrahmen herausgestellt, um systematisch die konstitutiven Praktiken rekonstruktiv beobachtbar zu machen, die aus innovativen Assoziationen zwischen Körpern und Dingen resultieren und sich durch ihre Präzedenzlosigkeit auszeichnen. Ebenso kann auf diese Art und Weise weiterverfolgt werden, welche dieser Körper-Ding-Assoziationen im Folgenden dann zum wesentlichen Bestandteil der Rockformation werden. Am Beispiel der hier skizzierten praxissoziologischen Analyse des Ereignisses des Monterey Pop Festivals konnte gezeigt werden, wie man der herausfordernden materiellen Vollzugswirklichkeit der Praxis und der Vielschichtigkeit der sich formierenden unterschiedlichen Praxisformationen methodisch gerecht wer-

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den kann. Mit den vorgestellten Analyseinstrumenten ist es möglich, trotz der notwendigen Systematisierung gleichzeitig die Ereignishaftigkeit von Praktiken als Folgepraktiken ernst zu nehmen und den Anspruch, den praktischen Sinn in der Relation der Praxiselemente im formierten Vollzug zu analysieren, Folge zu leisten.

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Methodische Herausforderungen

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Methodische Herausforderungen

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Autorinnen und Autoren

Sascha Bark (Dipl. Soz.) lehrt Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der FernUniversität in Hagen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Geschichte und Theorien der Soziologie, Konfliktsoziologie und Akteur-Netzwerk-Theorie. Göde Both (Diplom-Informatiker) lehrt im überfachlichen Bereich Science  & Technology Studies und Gender Studies an der TU Braunschweig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen feministische Technikforschung, (Post-)AkteurNetzwerk-Theorie, Ingenieurskulturen und Wissenschaftskommunikation. Anna Brake (Dr. phil.) lehrt zurzeit das Fach Empirische Forschungsmethoden als Vertretungsprofessorin an der Philipps-Universität Marburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Bildungssoziologie mit Schwerpunkt auf soziale Ungleichheit, die Praxistheorie Pierre Bourdieus sowie die Methoden und Methodologie der qualitativen und quantitativen empirischen Sozialforschung. Anna Daniel (Dr. phil.) lehrt Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der FernUniversität in Hagen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen soziologische Praxistheorie, Postkoloniale Soziologie und Gouvernementalitätsforschung. Marian Füssel (Prof. Dr.) lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Georg-August-Universität in Göttingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Universitätsund Wissenschaftsgeschichte, Militärgeschichte und Geschichte der Gewalt sowie Geschichtstheorie- und Historiografiegeschichte. Frank Hillebrandt (Prof. Dr.) lehrt Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der FernUniversität in Hagen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Soziologische Theorie, Kultur-, Wirtschafts- und Techniksoziologie.

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Methoden einer Soziologie der Praxis

Diana Lengersdorf (Prof. Dr.) lehrt Geschlecht, Technik und Organisation an der Universität zu Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Soziologie sozialer Praktiken, der Geschlechterverhältnisse sowie Arbeits- und Organisationssoziologie, Science & Technology Studies und Qualitative Methoden. Christian Meyer (Prof. Dr.) lehrt Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Interaktionssoziologie, Kultursoziologie, Praxistheorie und qualitative Methoden der Kultur- und Sozialforschung. Yannik Porsché (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Doktorand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Université de Bourgogne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Diskurs- und Interaktionsanalyse, diskursive Psychologie, Migrations- und Museumsforschung. Franka Schäfer (Dr. phil.) lehrt Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der FernUniversität in Hagen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen soziologische Praxistheorie, Diskurstheorie und qualitative Sozialforschung. Christiane Schürkmann (Dipl. Soz.) lehrt im Fach Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Praxistheorie, Kunstsoziologie und Phänomenologie. Daniel Wrana (Prof. Dr.) lehrt Theorie und Empirie von Selbstlernprozessen und Selbstlernarrangements an der Pädagogischen Hochschule FHNW in Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Gouvernementalität von Bildungsprozessen und Wissensfeldern und die Methodologie der empirischen Sozialforschung (Praxis- und Diskursanalyse).

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus 2014, 368 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Auflage) 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7

Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften August 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I 2014, 304 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm August 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Oktober 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen

Karin Kaudelka, Gregor Isenbort (Hg.) Altern ist Zukunft! Leben und Arbeiten in einer alternden Gesellschaft

August 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4

2014, 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2752-7

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft September 2015, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Was ist der Mensch? Vier ethische Betrachtungen. Vadian Lectures Band 1 März 2015, 112 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3032-9

Diego Compagna Postnukleare Handlungstheorie Ein soziologisches Akteurmodell für Cyborgs

Stephan Lorenz Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung

Januar 2015, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2845-6

2014, 144 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2776-3

Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven

Sophia Prinz Die Praxis des Sehens Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung

November 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6

2014, 394 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2326-0

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung

August 2015, ca. 440 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

November 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

Zoltán Hidas Im Bann der Identität Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses 2014, 234 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2727-5

Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven August 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2629-2

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