Methoden Philosophischer Praxis: Ein Handbuch [1. Aufl.] 9783839414538

Die Philosophische Praxis ist eine in den letzten Jahren in vielen Formen entwickelte Weise, das Potenzial des Philosoph

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German Pages 280 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort: Methodisches Vorgehen in der Philosophischen Praxis
Dialog zur Methode – Chat zur Bedeutung von Methoden in der Philosophischen Praxis
Eine Philosophische Praxis für unsere Zeit: Ihre Methoden im geistesgeschichtlichen und theoretischen Kontext
Die Philosophische Praxis – Entstehung, internationale Verbreitung und heutiger Stand
Von der Methode der Philosophischen Praxis als dialogischer Beratung
Biografie im gesellschaftlichen Wandel – Methodische Orientierung in der Einzelberatung
Paarberatung und Philosophische Trauungen
Begleiten von Führungspersonen. Führungscoaching als Philosophische Praxis
Die Methodik und Leitung von Philosophischen Gesprächsgruppen verglichen mit Philosophischen Cafés und Sokratischen Gesprächen
Das Experiment des Philosophierens
Irritation und Humor in der Philosophischen Praxis methodologische Gedankensplitter
Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen zum Beispiel über Fragen aus der Ethik
Worum geht’s da eigentlich? Philosophisches zum So-tun-als-ob in der Schule
Eine Frage des Ethos Philosophische Praxis als Lebensform
Autoren
Index
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Methoden Philosophischer Praxis: Ein Handbuch [1. Aufl.]
 9783839414538

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Detlef Staude (Hg.) Methoden Philosophischer Praxis

Detlef Staude (Hg.)

Methoden Philosophischer Praxis Ein Handbuch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Detlef Staude Korrektorat: Susanna Mani Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1453-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort: Methodisches Vorgehen in der Philosophischen Praxis

7

Dialog zur Methode – Chat zur Bedeutung von Methoden in der Philosophischen Praxis FLORIAN HUBER / DETLEF STAUDE

9

Eine Philosophische Praxis für unsere Zeit: Ihre Methoden im geistesgeschichtlichen und theoretischen Kontext EVA SCHIFFER

21

Die Philosophische Praxis – Entstehung, internationale Verbreitung und heutiger Stand DETLEF STAUDE

55

Von der Methode der Philosophischen Praxis als dialogischer Beratung ANDERS LINDSETH Biografie im gesellschaftlichen Wandel – Methodische Orientierung in der Einzelberatung FLORIAN HUBER Paarberatung und Philosophische Trauungen MARTINA BERNASCONI

67

101

133

Begleiten von Führungspersonen. Führungscoaching als Philosophische Praxis ANETTE SUZANNE FINTZ

149

Die Methodik und Leitung von Philosophischen Gesprächsgruppen verglichen mit Philosophischen Cafés und Sokratischen Gesprächen DETLEF STAUDE

173

Das Experiment des Philosophierens IMRE HOFMANN

187



Irritation und Humor in der Philosophischen Praxis – methodologische Gedankensplitter MANFRED JAUD

211

Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen zum Beispiel über Fragen aus der Ethik EVA ZOLLER MORF

219

Worum geht’s da eigentlich? Philosophisches zum So-tun-als-ob in der Schule MARKUS WALDVOGEL

233

Eine Frage des Ethos Philosophische Praxis als Lebensform ANETTE SUZANNE FINTZ

253

Autoren

267

Index

271

Vorw ort: Methodisc hes Vorgehen in der Philos ophisc he n Praxis

Philosophische Praxis ist auch ein „Handwerk“, eine Kunst, eine techné, und in jedem „Handwerk“ – ebenso in einem geistigen – gibt es ein spezifisches Können, gibt es Methoden, Wege, etwas zu erreichen. Was erreicht werden soll, ist in der Philosophischen Praxis allerdings nicht vorgegeben wie bei den meisten Handwerken, wo ein herzustellendes Produkt vor Augen steht. Wollte man dennoch ein allgemeines „Produkt“ der unterschiedlichen Felder Philosophischer Praxis nennen, müsste man es in etwa so umschreiben: Klärung und Orientierung mittels eigenständigen, kritischen Denkens. Eigenständiges, kritisches, klärendes und Orientierung ermöglichendes Denken bedarf in bestimmten Situationen des Gegenübers, in anderen erfreut es sich dessen. Dies ist das Feld Philosophischer Praxis. Orientierung ist jedoch gerade kein Produkt oder Konstrukt, denn jene setzen bewusste, willentliche Herstellung voraus, diese aber erwächst aus der Offenheit für Zusammenhänge auf den Wegen des Denkens. Die errungene Orientierung stärkt die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu verantworten und sichert so die menschliche Freiheit. Philosophie wurde in der traditionellen europäischen, indischen oder chinesischen Tradition immer primär als ein Weg der Selbstkultivierung verstanden, und diese war wichtig, um das für das Führen eines menschenwürdigen Lebens erforderliche Orientierungswissen zu erlangen. Mit der Moderne schien die traditionell große Bedeutung dieses die Reflexivität des Subjekts konstituierenden Wissens überholt zu werden von der Bedeutung des wachsenden Tatsachenwissens. Stand die Reflexion immer auch unter der Leitfrage, was das Gute Leben sei und welche Anforderungen es an mich stelle, so wurde selbst diese Frage vernachlässigt bzw. durch materialistische Antworten verdrängt. Die kritische Reflexion seiner selbst, der eigenen Entwicklung und Bedingtheiten bleibt aber auch heute eine zentrale Herausforderung menschlicher Reifung als Person und nachhaltiger Weiterentwicklung der Gesellschaft. Hier hat

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Philosophische Praxis Denk- und Vorgehensweisen zu bieten, die einen auf diesem Weg gut begleiten können. Wie diese Wege des Denkens in der Philosophischen Praxis begangen werden und wie der „Kunde“, „Klient“ oder „Gast“ sie zu betreten eingeladen wird, hängt stark ab von den jeweiligen Praktikerinnen und Praktikern, von ihrer Praxis, davon, wie sie Philosophie in die Orientierung im existenziellen und alltäglichen Rahmen einfließen lassen. Auch insofern also Philosophische Praxis eine techné ist, bleibt sie immer in erster Linie eine Praxis, die aus sich selbst heraus belebend ist, die einerseits ernsthaft und andererseits lustvoll und spielerisch vorgeht und in ihrer Kreativität Grenzen überschreitet. Gerade deswegen spielt in ihr die Person der Praktikerin bzw. des Praktikers als der- bzw. desjenigen, die bzw. der über die jeweilige Könnerschaft und lebendige Reife verfügt, eine besondere Rolle. Doch Philosophische Praxis wäre nicht philosophisch, wenn sie die implizite Könnerschaft, das Philosophieren im Umgang mit menschlichen Orientierungsbedürfnissen einzusetzen, nicht auch explizit machen könnte. Darum wird es in diesem Buch gehen: um eine Übersicht über wichtige Felder der Philosophischen Praxis und über Methoden, die dort zum Einsatz kommen. Es handelt sich dabei um Methoden, mögliche Wege und Richtungen, wie der Prozess des Philosophierens verstanden und vorangebracht werden kann (je nach Zusammenhang). Nicht zur Sprache kommen Techniken im Sinne von mehrschrittigen Vorgehensweisen, die auf so gut wie jede Situation übertragbar sein sollen, oder Techniken in der Art von guten Kochrezepten. Obwohl der Begriff der techné jene von einer Grundhaltung durchformte „handwerkliche“ Kunstfertigkeit bezeichnet, meint der der Technik doch etwas Engeres, Berechenbareres, das auf die der Offenheit bedürfende Philosophische Praxis nur schwer anwendbar ist. Die Festgelegtheit von Techniken wirkt hier daher blockierend, da sich Philosophische Praxis ins Offene vorwagen muss, um durch das dort Aufscheinende Orientierung zu finden. Methoden, wie sie in diesem Buch im Blick stehen, sind dagegen Anregungen, wie wir in solch offene Räume mit dem Denken gelangen können. Sie stellen vielseitig einsetzbare Sinn-Werkzeuge dar.

Dialog z ur Me thode – Chat zur Bedeutung von Methoden in der Philos ophisc he n Praxis FLORIAN HUBER / DETLEF STAUDE

Abstract Im folgenden Beitrag geht es um den Begriff der Methode im Allgemeinen und seine Bedeutung in der Philosophischen Praxis im Besonderen. Da Methoden angewandt werden, um irgendwohin zu kommen, wird auch reflektiert, wohin die Methoden der Philosophischen Praxis führen sollen. Besprochen wird auch, welche Eigenschaften für die Philosophische Praxis geeignete Methoden haben sollten und welche sie eher ungeeignet machen. Schließlich denken die Autoren auch darüber nach, in welcher Weise die zahlreichen situativ bedingenden Elemente Berücksichtigung erfahren sollten. In möglichst großer Anlehnung an die zentrale Methode der Philosophie, den Dialog, wurde als Form für diese Reflexion der Chat gewählt. Die Vorüberlegungen geben eine Zusammenfassung der per E-Mail ausgetauschten Gedanken wider, die neben der größeren räumlichen Entfernung zwischen den Gesprächspartnern zu diesem Format geführt haben. Die drei nachfolgenden Teile beinhalten den Chat, der an drei verschiedenen Tagen durchgeführt wurde.

Vorüberlegungen E-Mail-Dialog Lieber Florian wir wollten ja gemeinsam einen einleitenden Dialog über das Thema Methode fabrizieren. […] Wir könnten den Dialog als Chat führen [...]Jedenfalls bekäme das Ganze so auch etwas in Maßen Spielerisches. […] Liebe Grüße Detlef

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Lieber Detlef […] Ich hätte alternativ noch einen weiteren Vorschlag, nämlich das Ganze per E-Mail abzuhalten, sozusagen als Projektversuch für einen reflektierten(!) Dialog. Zum Beispiel: Wir nehmen uns vor, 14 Tage lang jeden Tag eine Frage auf die Vorherige zu stellen und die des anderen zu beantworten. Am Ende kommt dabei genauso ein Dialog am Stück zu Stande, nur sind die Antworten vermutlich etwas überlegter […]. Hier stünde eher die Prozessqualität im Vordergrund, weil die Fragen ja 14 Tage lang etwas mit uns machen. Was hältst Du davon? Das Chat-Setting hat hingegen eher die Nähe zu einem gewohnten Gespräch. Ist aber sicher genauso für unser Vorhaben geeignet. Die Frage ist, wie viel Spiel und Experiment wollen wir [...] mit einbringen? Herzliche Grüße in die Schweiz Florian Lieber Florian eigentlich sind wir schon mitten im Thema. Denn die Überlegung, wie wir unseren Dialog jetzt aufziehen, ist ja genau das, worum es im Artikel geht: um die Frage der Methode. Ob wir E-Mail oder Chat als Rahmen nehmen, hat in unserem Fall sicherlich eine Auswirkung auf Form und Art des Dialogs, nämlich größere Lebendigkeit und Kürze der Beiträge im Chat, größere Reflektiertheit und Länge, aber klarere Form der Beiträge im E-Mail. Warum ich den Chat gern ausprobieren möchte, hat folgenden Grund: schriftliche Dialoge, die oft nur Scheindialoge sind, gibt es ja in der Philosophie seit Platon immer wieder. Ich fand sie immer unbefriedigend, weil oft ein „Gesprächspartner“ langatmige Monologe hält, und dann der andere nur ein, zwei kurze Sätzchen antwortet – wie in manchen Platonischen Dialogen – oder die Gesprächspartner ausführlich reflektierte und sprachlich ausgefeilte Überlegungen miteinander austauschen, was mündlich nie vorkommt und die Kraft des Dialogs auch lähmt bzw. zum Erliegen bringt. Daher bin ich für den Chat als Grundform, die vielleicht ergänzt werden kann durch ein paar EMails, wo Vertiefungen unabdingbar sind. [...] Liebe Grüße Detlef Lieber Detlef, [...] Vielleicht könnten wir uns auch auf drei oder mehr verschiedene Episoden einigen: Konkret: Wir vereinbaren drei (oder mehr) Termine, an denen wir zum Thema chatten. So haben wir die Spontaneität des Augenblicks und die nachhallende Wirkung der Reflexion. Was meinst Du? [...] herzliche Grüße Florian

R e f l e x i o n e n z u r M e t h o d e – H au p t t e i l Chat-Dialog 1. Teil Detlef Staude: Guten Morgen Florian, starten wir also unseren Chat-Dialog über die Methode. Ich muss gestehen, ich hab' mich ein wenig vorbereitet und in

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einem alten Begriffswörterbuch mal nachgeschaut, was sie unter „Methode“ schreiben. Das Wort kommt ja aus dem Griechischen und heißt genau übersetzt anscheinend das „Nachgehen“. Das fand ich nun etwas unstimmig. Mir hätte „Vorgehen“ besser gefallen. Florian Huber: Nun, „Nachgehen“ tut man in der Regel einer Sache. „Vorgehen“ verbinde ich persönlich mit der – zugegeben etwas romantischen Vorstellung – von Utopia. Philosophische Praxis und Methode hat also vielleicht etwas mit der Suche nach diesem Land zu tun, in dem noch niemand war. Gleichzeitig habe ich dazu auch den „aufrechten Gang“ im Blick; vielleicht auch etwas, das die Methode mit fördern und unterstützen sollte. D.S.: Ja, das mit dem „Vorgehen“ ist auch doppeldeutig: es könnte heißen, dass einer vorausgeht, der den Weg kennt und die Anderen hinterher – das ist nicht so ganz meine Vorstellung von Philosophie und Philosophischer Praxis. Und „Nachgehen“ könnte man – personal verstanden – auch so interpretieren, nur aus dem Blickwinkel derer, die hinterherlaufen. [...] Könnte man in diese Mehrdeutigkeit von „Methode“ als „Vorgehen“ und „Nachgehen“ nicht auch hineinlesen, dass es mal am einen ist, vorauszugehen, mal am Anderen? – Das würde eigentlich ganz gut passen zur philosophischen Haupt-Methode, dem Dialog. F.H.: Stimmt. […] Man kann das mit der Methode ja auch aus zwei verschiedenen Blickwinkeln sehen. Zum Einen: Mittels einer Methode etwas (einem Sachverhalt) nachgehen (so meint es vermutlich die Definition im Wörterbuch). Zum Anderen: Kraft einer Methode zu einem bestimmten Ziel hinkommen. Also eine zielgerichtete Perspektive. Und das ist eine der notwendigen Wesenheiten einer Methode, wie sie bis jetzt im wissenschaftlichen Diskurs gebraucht wird: Man hat eben eine konkrete Vorstellung davon, wo man hinkommen möchte. Haben wir das in der Philosophischen Praxis auch? D.S.: Das ist eine berechtigte Frage. Was mich angeht, so steht hier die Überzeugung am Anfang, dass die fundamentalen Methoden des Philosophierens gut geeignet sind, in der alltäglichen Lebenspraxis, im lebendigen Alltag, in den besonderen Herausforderungen des Lebens und unserer Gesellschaft weiterzuhelfen. Die entsprechende „Zielvorstellung“ wäre so etwas wie Orientierung und Klärung, und dadurch eine größere Eigenständigkeit und Klarheit im Handeln. F.H.: „Klärung“ von Lebensverhältnissen, das heißt, wie sich das Leben gerade allgemein oder zu einem persönlich verhält, und „Orientierung“ in einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft, finde ich persönlich zwei sehr schöne und kluge Zielsetzungen Philosophischer Praxis. Das große Ziel wäre demnach ein Mensch, der eigenständig, klar und vernünftig handelt. Soziale Muskeln sollte er zudem haben. D.S.: Ja. Aber was an bestimmten Sachverhalten und in bestimmten Situationen für bestimmte Personen nun entscheidend, klärend, orientierend ist, das eben ist ja erst einmal im Prozess des Philosophierens, in der Praxis also, zu entdecken. Das heißt, „Methode“ in der Philosophischen Praxis ist nicht nur als Vor-

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gehensweise zur Wissenserweiterung zu verstehen wie in der Wissenschaft, sondern auch als Weg, das zu finden, was den Anderen erst auf diese Weise anspricht. Was also für ihn/sie entscheidend, klärend, orientierend oder auch nur auf noch unklare Weise innerlich bewegend ist. F.H.: Wenn ich dich richtig verstehe, haben wir es in der Philosophischen Praxis mit einer doppelt ausgerichteten Methode zu tun, die vielleicht einen eigenen Namen verdient. Zum einen muss die Methode gewährleisten, dass die persönlichen Bedürfnisse des Gegenübers in die philosophische Arbeit einfließen und sich die philosophische Arbeit an ihnen ausrichtet. Zum anderen braucht der praktizierende Philosoph darüber hinaus Fertigkeiten, in seiner Methode die zuvor angesprochenen Ziele mit auf den dialektischen Weg zu nehmen. Oder ist es am Ende doch nur eine Methode, die beides können sollte? D.S.: Nun, ich denke, das muss eine einzige Methode sein. Der Dialog ist da ein gutes Beispiel: Er gewährleistet, dass beide Partner persönliche Bedürfnisse einbringen können. Als philosophischer bzw. philosophisch-praktischer Dialog hat er eine klare Ausrichtung und Form und wird so nicht zum netten Geplauder. [...] Dieses beidseitige Vor- und Nachgehen […] passt gut auf den Dialog. Wenn ich einen Vortrag halte – und der kann noch so philosophisch anregend sein – fehlt dieses Element zunächst natürlich. Das ist in der Philosophischen Praxis aber ungünstig, weshalb ich z.B. in diesem Fall die Vorträge gern kurz halte, um der anschließenden Diskussion mehr Raum zu geben. Ich denke, in der Philosophischen Praxis ist dieses Gegenseitige von entscheidender Bedeutung, da nur so die Zuhörer beim Vortrag das Gehörte auch verarbeiten und in ihrem eigenen Leben und Verstehen verankern können. F.H.: Ich halte das bei meinen Vorträgen genauso. Und da wir mit philosophischen Themen nicht unbedingt gleich Stadthallen füllen, bleibt die Diskussionsfähigkeit meist erhalten. Was mich dabei noch bewegt: Das alles funktioniert gut bei Dialog-Teilnehmern, die entweder Erfahrung in Philosophischer Praxis haben oder aber eben selbstbewusst genug sind in einen philosophischen Dialog einzutreten. Was aber ist mit Menschen, die nach Klärung und Orientierung suchen, sich aber schwer tun, ihre Bedürfnisse gleichzeitig mit ihren thematischen Fragen zu äußern? Philosophische Methode muss auch darauf eine Antwort haben. D.S.: Ich finde, wir haben da eine gute Methodenvielfalt. Ich biete neben Vorträgen ja auch Seminare, Gesprächsgruppen, Beratungen, Ferienwochen an. Und es gibt auch noch andere Formen. Da ist schon auch für die was dabei, die sich nach einem Vortrag nicht exponieren mögen. Einige davon werden in diesem Buch ja noch zur Sprache kommen. Aber eine Grundfähigkeit und ein Grundinteresse, Persönliches und Sachliches zu verbinden, müssen da sein. F.H.: Das ist ein spannendes Statement. Denn es gibt sicher auch einige unserer Kollegen, die dafür einstehen, dass es beim philosophischen Dialog in erster Linie um das Erkunden von Sachverhalten und Problemstellungen geht, bei denen das Persönliche keinen Raum hat oder aber sogar stört. Meine Erfahrung

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ist die, dass wenn ich in einem Beratungsgespräch merke, dass mein Gegenüber eine Ermutigung braucht, ich ihm einen kleinen Ausschnitt aus meinem Erleben oder Denken gebe und ihn somit zum Weiterdenken anstoße. Das funktioniert meistens gut. Trotzdem: Im Fokus eines Beratungsgesprächs steht bei mir immer das Erleben meines Klienten; es geht um ihn. [...] D.S.: […] Aber Philosophische Praxis kann nur Erfolg haben, wo es gelingt, das Persönliche, das unmittelbar Berührende auf die Sachebene zu heben und so – sozusagen aus der Distanz – etwas klar werden zu lassen, was man selbst zunächst noch nicht sehen kann. Das fordert heraus im wahrsten Wortsinn – heraus aus dem engen Kreis und sich selbst hinein in die Welt. Somit muss Philosophische Praxis in dieser Pendelbewegung zwischen Weltweisheit und Lebensform bestehen. Das wäre Grundlage jeder ihrer Methoden. F.H.: Das ist eine sehr schöne Erklärung! D.S.: Was meinst Du, sollen wir hier mal für heute abbrechen?

2. Teil F.H.: Am meisten drückt mich ehrlich gesagt die Frage, was denn nun die philosophisch-praktische Methode(n) von anderen Methoden unterscheidet. [...] D.S.: Ich denke, dass Philosophische Praxis mehr ist und sein kann als eine Unterstützung privat verstandener Lebenskunst. Und dass Philosophie das durch den reflektierten Dialog als Basismethode auch ist. [...] F.H.: Ich denke, eine besondere Qualität des philosophischen Dialogs ist eben die Dialektik, in der es möglich wird Widersprüchlichkeiten – seien sie nun auf privater oder gesellschaftlicher Ebene – sichtbar zu machen und anschließend zu verhandeln. Auf diese Bewusstwerdung und Verhandlung sollten philosophische Praktiker meiner Ansicht nach ein besonderes Auge haben. D.S.: Ja, und es geht dabei um die Bewusstwerdung des Entscheidenden. Man kann ja vieles im Bewusstsein haben und sich so vielerlei Wissen aneignen, vieles darunter, was einem im Wesen nicht unbedingt weiterhilft. Die Philosophische Praxis schult uns also in der Fähigkeit zu wählen, in der Fähigkeit, den springenden Punkt zu sehen – und darauf aufbauend ein begründetes, wenn auch – aus dem alltäglichen Mangel an Wissen heraus – vorläufiges Urteil zu fällen. Philosophische Praxis, so könnte man mit Kant sagen, ist Schulung der Urteilskraft. F.H.: So sehe ich das auch. Freiheiten erzeugen Vielheiten, und Vielheiten (z.B. in der Meinungsäußerung) erzeugen Widersprüchlichkeiten, und diese werden gegenwärtig zusehends mehr, ob wir in Familien blicken oder auf die Arbeitswelt oder aber ganz klassisch die Werte befragen. [...] Was ist nun deiner Meinung nach das, was philosophische Methodik auszeichnet? [...] D.S.: Nun, ich hatte ja am Beispiel des Dialogs einige Charakteristika genannt. Seit alten Zeiten bekannt ist aber noch ein weiteres Charakteristikum des Philosophischen Dialogs, nämlich seine Herrschaftsfreiheit: es gilt nur „der

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zwanglose Zwang des besseren Arguments“. Gut, das ist wohl bekannt, aber was heißt das für uns Praktiker und für unsere Methoden? – Es bedeutet natürlich mit Sokrates, dass wir nie etwas im strengen Sinn wissen, d.h. eben auch, dass wir es insofern zur Disposition stellen, als wir es – zumindest prinzipiell – zur Diskussion stellen. Insgesamt, so finde ich, haben wir es also mit einer Dynamik zu tun, die uns – bei guter Urteilskraft – zwar erlaubt, gut begründete Urteile zu treffen, aber eben auch alle Anderen herausfordert zum Mit- und Weiterdenken. Wir Praktikerinnen und Praktiker sind – so leid es uns tut – eben keine Experten, aber dadurch geistig sehr flexibel. F.H.: Das würde heißen, dass philosophische Methodik schon Kraft ihrer Maxime „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ flexibler ist als andere Methoden. Und doch ist sie nicht allein experimentell, hat Grundstruktur und läuft nahezu immer wo man sie trifft – als Dialog – gleich erkennbar ab. [...] Vielleicht ist es erst die Haltung, die der philosophischen Methode ihren eigentümlichen Charakter verleiht. D.S.: Ich habe noch einige Schwierigkeiten mit dem Begriff Haltung. [...] Ich denke, jemand kann, was das angeht, eine sehr unterschiedliche Haltung von der eines Anderen an den Tag legen – und doch funktioniert für beide eine philosophische Methode in gleicher Weise. Allerdings braucht es eine Offenheit für den Dialog, für das Infragestellen, für das begriffliche Denken. Sind die nicht vorhanden, funktioniert Philosophieren kaum. Wenn Du das als philosophische Grundhaltung bezeichnen willst, verstehe ich, was Du meinst. F.H.: […] Was sind nun notwendige Bedingungen dafür, dass sich etwas eine „philosophische Methode“ nennen darf? D.S.: Herrschaftsfreiheit, Offenheit, Gegenseitigkeit, Achtung, Interesse am allgemeinen, begrifflichen Denken. F.H.: Ich hätte noch den Sinn für Widersprüchlichkeiten hinzuzufügen. […] Was meinst Du eigentlich genau mit „Herrschaftsfreiheit“? Freiheit von Autoritäten? Oder sind im Dialog alle gleichberechtigt? D.S.: In der Philosophie gilt ein Argument wie das andere, unabhängig davon, ob es eine gelehrte Autorität, ein Philosophischer Praktiker oder ein Kind vorbringt. F.H.: Ist es nicht besser – im Sinne von erstrebenswerter – wenn die Argumente aus dem eigenen Nachsinnen entstehen? D.S.: Ja klar, aber das ist ja auch ein innerer Dialog. […] Damit also der innere Dialog gut läuft, ist es immer hilfreich, wenn der hin und wieder durch einen qualitativ guten äußeren angeregt wird. F.H.: Aha, verstehe. Ich stelle mir eine philosophische Diskussionsrunde vor. Einige davon denken über die Argumente der anderen nach und bringen eigene Argumente dafür oder dagegen ins Spiel. Dazwischen sitzt nun jemand, der ständig Platon, Aristoteles oder Hegel zitiert, aber nie seine eigene persönliche Meinung einbringt. Verstehst Du, was ich mit Autoritäten meine? Man kann sich

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auch gut hinter ihnen verstecken. Philosophische Methode – soll meiner Ansicht nach – aber gerade das eigene, unabhängige Denken anstoßen und ermutigen. D.S.: Klar, das meine ich auch mit Herrschaftsfreiheit. Nichts gegen Platon und Aristoteles. Wenn der besagte Mensch, dem diese so lieb zu sein scheinen, deren Aussagen in seinen Argumenten z.B. immer wieder verbinden könnte mit Beispielen aus dem eigenen Leben, wäre schon der Dialog wieder lebendig, denn dann sind sie nicht mehr bloß Autoritäten, sondern Ideengeber, mit denen er/sie sich offenbar auseinandergesetzt hat und deren Aussagen er nicht nur übernommen hat. F.H.: Insofern nun philosophische Methode auf die Herrschaftsfreiheit, wie wir sie voran skizziert haben, Wert legt, braucht sie auch Steuerungselemente, damit diese z.B. im Dialog erhalten bleibt. Wie machen wir Praktiker das? D.S.: Die wichtigsten Steuerungsinstrumente sind Frage, Begriff und Zusammenfassung, wobei wir bei letzterer natürlich die Autorität einer besonderen Rolle in Anspruch nehmen. Mittels der Frage kann man Menschen überhaupt erst dazu bringen, nicht nur zu erzählen und Meinungen wiederzugeben, sondern sie zu reflektieren. Mit dem Begriff vermögen wir in die Auseinandersetzung einen Fokus hineinzubringen und Schritt für Schritt größere Klarheit. Mit der Zusammenfassung maßen wir uns selbst die Urteilskraft an auszuwählen, was im vorausgegangenen Dialog entscheidend, was ein springender Punkt gewesen ist. So setzen wir erneut einen Fokus, von dem aus es dann weitergehen kann. F.H.: Das klingt schon sehr klar. Was mir aber noch ein wenig im Magen liegt: Herrschaftsfreiheit einerseits als Prinzip, und doch muss jemand eine philosophische Gesprächsgruppe etc. methodisch leiten, um nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren. Wir können nicht alles im Prozess fließen lassen. Jemand, der zusammenfasst etc. hat doch mehr Autorität als einer der anderen Teilnehmer oder? D.S.: Ja, Rollenautorität als Leiter der Gruppe z.B. oder Leiter eines Philosophischen Cafés. Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass das sehr geschätzt wird, obwohl mir ja bewusst ist, dass so immer auch das Eine oder Andere unter den Tisch fällt [...]. Ich bringe also Ordnung hinein, aber aus welcher Autorität heraus? – Spätestens seit Foucault wissen wir, dass mit der Etablierung von Ordnung immer Herrschaft einhergeht, auch im Diskurs. Doch ich sehe es wie ein Spiel, auf das sich einlässt, wer an einer Philosophischen Gesprächsgruppe, einem Philocafé oder ähnlichem partizipiert: es gibt Grundregeln, und ich bin nicht nur Mitdiskutant, sondern eben auch Leiter und somit derjenige, der auf Einhaltung der Regeln achtet. Ich habe anfangs auch die Teilnehmer gebeten, selber Zusammenfassungen zu machen, doch das fiel ihnen meist sehr schwer, so dass ich es übernahm. F.H.: [...] Herrschaftsfreiheit, wie wir sie hier verstehen, meint also: Jede Meinung zählt, insofern sie sich an einem argumentativen Dialog beteiligt oder dazu ermutigt. Darüber hinaus lassen sich Machtverhältnisse auch in einer philosophischen Diskussion nie gänzlich vermeiden. Vor allem, wenn es darum geht,

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das gemeinsam Erdachte nicht dem Vergessen Preis zu geben und es zu wiederholen oder festzuhalten. Grundsätzlich liegt der philosophischen Methode aber eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe zu Grunde. D.S.: Genau. Gerade bezüglich Gesprächsgruppen oder Philosophischen Cafés ist ja auch nicht unbedingt mit rational-argumentativer Eloquenz bei allen Teilnehmenden zu rechnen. Dass aber trotzdem alles Geäußerte zu seinem Recht kommt und auch eher Zurückhaltende ermutigt werden, von ihrer Perspektive aus etwas beizutragen, ist die Herausforderung an die Leitenden. F.H.: […] Ich denke die Diskussion über Herrschaftsfreiheit hat uns der philosophischen Methode schon ein gutes Stück näher gebracht.

3. Teil F.H.: Wollen wir mit den Begriffen fortfahren, wie letztens? D.S.: Mir wäre fast lieber, wenn wir uns stärker in Richtung Praxis orientieren. Was ist die Funktion von Methoden in einem bestimmten Feld, was ermöglichen sie und welche Grenzen bringen sie mit sich? Wo ist es dann für die Weiterentwicklung eines Feldes wichtig, Methoden zu überschreiten? Wo ist es für die Entwicklung und Bearbeitung eines Feldes/Bereiches aber gerade wichtig, Methoden zu erarbeiten? [...] F.H.: Gut. Für mich sind damit zweierlei Ebenen verbunden. Zum einen die Frage, ob Methodik überhaupt ein zwingend Notwendiges ist, um ein bestimmtes Beratungs- oder Gesprächsziel zu erreichen. Zum anderen, ob es so etwas wie eine Metaperspektive braucht, aus der heraus man entscheiden kann, wie und in welcher Richtung man die Methode auch situativ ändern, drehen oder erweitern kann. D.S.: Für mich ist Methodik prinzipiell, d.h. man verwendet mehr oder weniger von selbst bestimmte Methodiken, oft nur bruchstückweise und inkongruent, manchmal aber auch gerade durch ein Sich-Einlassen auf die Situation dennoch stimmig. Die Reflexion auf die Methodik scheint mir aber trotzdem entscheidend, um sich bewusst zu machen, welche Methodik man benutzt, wo sie inkongruent ist, welchen Grundprinzipien sie folgt usw. Gerade wenn mir Bewusstheit wichtig ist, muss mir wichtig sein, mir bewusst zu sein wie ich arbeite. F.H.: Das bedeutet, dass wir alle implizit einer Methode folgen. Ich glaube, das hängt in erster Linie damit zusammen, dass wir das meiste mit anderen Menschen sprachlich verhandeln und wir daher schon eine gewisse semantische SinnStruktur und Ordnung haben. In gewisser Weise hat also auch das „SchönWetter-Gespräch“ mit dem Nachbarn auf der Strasse ein Stück Methodik. [...] D.S.: Kommt darauf an: wenn ich einfach Smalltalk über das Wetter mache, ist noch nicht so klar zu sagen, ob ich einer Methode folge, wenn ich aber bewusst Smalltalk über das Wetter mache, z.B. zu Beginn bei einem Bewerbungsgespräch während einer Tasse Kaffee, dann ist das klar methodisch. F.H.: Also entscheidet der Kontext, was eine Methode ist?

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D.S.: Ja, die Bewusstheit in der Anwendung. Wenn ich also vorhin sagte, wir benutzen eigentlich immer schon Methoden, zum Teil partiell, zum Teil auch inkohärent, so bedeutete das eher, dass wir uns durch Gewohnheit und Lebenserfahrung bestimmte Verhaltens- und Vorgehensweisen in bestimmten Situationen angeeignet haben, ohne dass diese uns sehr bewusst wären oder wir sie reflektiert hätten und bewusst anwendeten. So kann man natürlich auch vorgehen, vielleicht auch mit gewissem Erfolg, doch die Reflexion darüber und die bewusste Zuhilfenahme dieser Methoden in entsprechenden Situationen gehört zu jedem Bereich, in dem man bewusst und effizient handeln will. F.H.: Halten wir fest: Selbstreflexivität ist ein elementarer Bestandteil methodischen Arbeitens. D.S.: Man könnte sogar noch weitergehen und kritisch fragen – auch gegen die Skepsis bei manchen Philosophischen Praktikern bezüglich Methoden –, ob so gesehen ein Verzicht auf methodisches Arbeiten nicht unseriös und unphilosophisch ist. F.H.: Ja, das kann man durchaus so sehen. […] Könnte es nicht sein, dass das vorbewusste Alltagshandeln aus ritualisierten Methoden kluger Geister der Vergangenheit besteht? Ich meine: Da haben Menschen ein Problem und versuchen ihm mit einer gut darauf ausgerichteten Methode nahe zu kommen. Sie operieren am Nabel ihrer Zeit. Und wenn die Methode glückt und hilfreich ist, geht sie vielleicht ins vorbewusste „Allgemein-Lebens-Handlungs-Wissen“ über. Insofern bereiten wir methodisch das Lebenswerkzeug von morgen mit vor. D.S.: Das sehe ich ähnlich. Und was uns Philosophische Praktikerinnen und Praktiker angeht, so haben wir ja durch unser Philosophie-Studium, durch das Lesen philosophischer Texte, durch die philosophischen Gespräche mit Anderen auch eine methodische Vorprägung, allerdings eine durch das akademische Philosophieren und den universitären Diskurs. Und dessen Methodik ist ja in der Philosophischen Praxis wenig hilfreich. [...] F.H.: Für mich stellt sich zunehmend auch weniger die Frage, „was“ Methode ist als vielmehr „wann“(!) Methode ist. Manchmal suche ich (gemeinsam mit einer oder mehreren Personen) nach „begrifflichem“ Wissen; wir wollen also einem gewissen Sprachverhalten näher kommen, mehr dazu erfahren, eigene Meinungen erkunden. Dafür braucht es Methodik, um nicht aus dem Fahrwasser zu kommen. Andererseits: Einige meiner Klienten suchen nicht nach begrifflichen Antworten, sondern nach künstlerisch-kreativen Fähigkeiten für ihr Leben – sie wollen die Lebenskunst ausbauen und üben. Bei ihnen ist mein Fokus mehr auf dem Prozess der Gegenwart – sehr offen, spielerisch, eklektisch, suchend. Kurz: hier geht es mir darum gemeinsam zu erfahren, dass bewusst Leben auch heißt: „begeistert“ unterwegs zu sein! Also mit Geist und Herz! Dafür braucht es aber eher weniger Methode, weil Methode dafür zu sehr einschränkt. Ihr haftet eine gewisse Starre an. Und Offenheit ist meiner Meinung nach eher ein Prinzip als eine Methode.

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D.S.: Das ist ein wichtiger Punkt, wenn ich auch nicht ganz Deiner Meinung bin. Selbstverständlich ist es zentral, sich erst einmal der Intention eines Dialogs bewusst zu sein. Das ist bei einem Bewerbungsgespräch ein gewisses Setting, bei einem begrifflich-theoretischen Dialog ein anderes und einem Gespräch, wo es darum geht, angerührt und inspiriert zu werden für das eigene Leben, wieder ein anderes. Am frustrierendsten sind Dialoge, in denen die Gesprächspartner unterschiedliche Intentionen haben (also implizit Anderes mit dem Gespräch wollen). – Ich habe in meiner Praxis auch vielfach die Erfahrung gemacht, dass das Begriffliche gut ist [...], dass aber das Offene, Humorvolle, Spielerische das bei weitem Wichtigere ist. Das jedoch ist mir bewusst und ich setze das in gewisser Weise auch methodisch ein. F.H.: Das ist ermutigend zu hören! Also braucht es gleichzeitig zur Methodendiskussion eine Grundsatzerkundung, in welchem Setting wir uns eigentlich befinden und vielleicht wichtiger: wir uns befinden wollen. D.S.: Entscheidend ist das bewusste Wahrnehmen und Erkunden von Situationen. Da Situationen sich nicht gleich von Anfang an erschließen, ist eine Anfangsoffenheit, ein gewisser spielerischer Umgang hilfreich. Dennoch muss das ja ein Element in einer weiterführenden Methode sein. Man kann locker, spielerisch und offen beginnen, um sich dann zu fokussieren. F.H.: Damit sind wir – ganz philosophisch – bei einer „ästhetischen“ Methode angekommen. Aisthesis heißt ja wörtlich „Wahrnehmung“. Zur philosophischen Methode gehört als das ganz bewusste Erspüren und Wahrnehmen dessen, was für mein Gegenüber angesagt ist. [...] D.S.: Wenn es in der Philosophischen Praxis um das Reflektieren der eigenen Bedingtheit zugunsten einer Erweiterung der menschlichen Freiheit geht, ist das Wahrnehmen der Situation eine Grundvoraussetzung. Doch diese geschieht natürlich auch auf dem Hintergrund von Begriffen und Konzepten. An denen arbeiten wir in der Philosophischen Praxis natürlich zuvorderst, denke ich. F.H.: Meiner Meinung nach muss der philosophisch-methodische Blick zwischen einem Weitwinkel und einem Makroobjektiv unterscheiden und zudem wissen, wann er welches benutzt. Das Weitwinkelobjektiv brauchen wir für offene, spielerische und humorvolle Erkundungen der Lebenswelt und der jeweiligen Situation. Das Makroobjektiv brauchen wir schließlich für die genaue sprachkritische Betrachtung. Vielleicht ist das typisch Philosophische an der Methodik, dass es notwendig beides braucht?! D.S.: Möglich, ich brauche beides. Ich brauche eben auch die Reflexion darüber, was ich da mache, um hier bewusster und besser zu werden. Und ich denke, dass eine derartige Reflexion über die Methodik auch notwendig ist, um so etwas wie eine Tradition zu ermöglichen. Tun wir das als Philosophische Praktikerinnen und Praktiker nicht, dann haben Philosophen, die nach uns kommen, keine Chance, von dem, was wir gelernt haben, zu profitieren. F.H.: „Tradition“ im Kontext postmoderner Lebenswelten zu erzeugen ist ein beherztes Vorhaben.

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D.S.: Mag sein. Aber auch schon der Austausch untereinander führt ja weiter. Man reflektiert gemeinsam darüber, man schreibt, worin die eigenen Erfahrungen, die eigenen Reflexionen, das eigene methodische Vorgehen zum Ausdruck kommen. All das bildet zwar keinen „Kanon“, aber ist doch ein fruchtbarer Misthaufen für die postmodernen Hühner, die sich ganz eklektisch das Ihre herauspicken. F.H.: Ein sehr schönes Bild! Zählt die zweite Reflexionsebene neben der selbstreflexiven – d.h. der dialektische Austausch mit anderen – deiner Meinung nach auch noch zum notwendig methodischen Repertoire? D.S.: Also, meine Erfahrung ist, dass sich diese im Gespräch zwischen Philosophinnen und Philosophen zwar ständig ergibt, dass aber doch alle den Eindruck haben, dass dies zu wenig der Fall ist. Es muss ja auch dafür ein günstiger Rahmen vorhanden sein, ob auf Konferenzen, auf anderen Treffen unter Philosophischen Praktikern, ob im Rahmen gemeinsamer Projekte. Wichtig aber erscheint mir, immer mal wieder Andere in ihrer Philosophischen Praxis zu erleben. Das ist etwas sehr Faszinierendes und erweitert die Vorstellung davon, was und wie Philosophische Praxis ist. F.H.: Würde ich praktische Philosophen ausbilden, würde ich wohl so etwas wie eine regelmäßige Intervisions-Gruppe als notwendige Voraussetzung für den Beruf machen. [...] den Dialog zu pflegen ist Voraussetzung für philosophisches Arbeiten. Damit stehen wir als Philosophen mit jedem Gespräch in der Lehre des Lebens. D.S.: Da nun die „Lehre des Lebens“, wie Du so schön sagst, aber keine methodische Lehre ist, gibt es zwar sicherlich Wege (also Methoden), ihr gegenüber besonders offen zu sein, manchmal aber auch ganz hilfreich völlig unmethodische Um-wege, die für das eigene Vorgehen letztlich wichtiger werden können. [...] F.H.: Trotzdem darf die Offenheit über der Methode nicht so frei schweben, dass jegliches Sinnen auf die Methode als bloße Beliebigkeit erscheint. Ich denke, es gibt zwei große Wege in dieser Frage: Der Gänger des ersten ist von vorneherein so offen und freiheitsverliebt, dass er sich gar nicht auf eine Diskussion über Methoden einlässt, die vermutlich nur weitere – wenn auch moralische – Verbindlichkeiten nach sich zieht. [...] Der zweite geht suchend durch seine Arbeit und möchte gerne ein wenig mehr Handwerkszeug und lädt dabei die Offenheit gerne als willkommenen Gast ein, fragt sich jedoch, wie und unter welchen Bedingungen sie eingesetzt werden kann. D.S.: Ich denke auch, dass es hie und da Skepsis gegenüber Methoden gibt, weil man sie verwechselt mit 0815-Vorgehensweisen, mit „Tools“, mit Simplifizierungen. Und weil man sich dadurch eingeengt fühlt, einer bestimmten Methode folgen zu müssen. Doch methodisches Wissen zu haben, heißt auch methodisch vorangehen zu können. Es nimmt einem ja niemand den Freiraum für spielerisches Überschreiten. Ich halte also Reserve gegenüber Methoden für ein Missverständnis. Auch muss klar sein: wer methodisch versiert ist, muss deswe-

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gen nicht unbedingt „besser“ sein, vielleicht ist es aber eine Stufe dahin, die Kunst der Philosophischen Praxis (zwischen methodischem und spielerisch-offenem Vorgehen) aus der eigenen Persönlichkeit heraus lockerer zu beherrschen.

Eine Philos ophisc he Prax is für unse re Zeit: Ihre Me thoden im ge istesgeschichtlic hen und the oretisc he n Konte xt EVA SCHIFFER „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ Ludwig Wittgenstein1

Abstract Entscheidende Anregungen für meine Arbeit verdanke ich Hans Krämers Buch Integrative Ethik. Im Folgenden werde ich als erstes ein philosophisches, flexibles, offenes, kooperatives, integratives und nicht-funktionalistisches von einem verkürzten instrumentell-funktionalistischen Methodenverständnis abgrenzen (1). Ein kurzer ideenhistorischer Ausflug in die Antike soll illustrieren, wie in der Moderne alles zunehmend zur Funktion gerät; zugleich wird hier ein Herzstück Philosophischer Praxis vorexerziert: die Arbeit am historischen Bewusstsein (2). Um die gemeinsame Arbeit an einer zeitgemäßen Ethik, welche noch „Desiderat und Programm“ ist (Hans Krämer); und um die Rückgewinnung der aller Ethik angestammten Anwendungs- und Übungsdimension geht es in Abschnitt (3). In Abschnitt (4) argumentiere ich gegen eine starre Abgrenzung zwischen den vielfältigen Aufgaben und Rollen des Philosophischen Praktikers, für fließende Übergänge zwischen Bildung, Beratung und Lebensbewältigungshilfe; zugleich versuche ich, zwischen „Settings“, „Techniken“ und „Methoden“ zu unterscheiden. Thema von Abschnitt (5) ist „das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ - die Welt der Zeichen und Bedeutungen - und seine Bedrohtheit; Methoden Philosophischer Praxis - Lesen, Erinnern, Hermeneutik, Dialog, Erzählen, Sprachkritik werden als Antidote gegen diese Bedrohung vorgestellt. Im letzten Abschnitt (6) verleihe ich, von einigen Zeilen Rilkes ausgehend, der Hoffnung Ausdruck, dass der Mensch - wenn auch „nicht sehr verlässlich zu Haus in der gedeuteten Welt“ - so doch durch philosophische „Arbeit am Selbst“ zu einem freundlicheren Gast auf diesem Planeten werde.

1

Philosophische Untersuchungen, § 133.

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1. Philosophische Praxis sollte „über ein offenes, f l e x i b l e s E n s e m b l e v o n M e t ho d e n ve r f ü g e n , d a s v o n F a l l z u F a l l u n d vo n S i t u a t i o n z u S i t u a t i o n verschieden eingesetzt werden kann“ und das dennoch „kein okkasionelles Experimentieren ist.“2 a) Methoden Philosophischer Praxis – kontrapunktisch Es gibt eine alte Kunstanweisung, die besagt, dass der Gegenstand, von dem man handelt, und die Form, in der das geschieht, miteinander korrespondieren sollten. Diese Anweisung respektierend und im Hinblick auf unseren „Gegenstand“ - die Methoden der Philosophischen Praxis – werde ich hier weniger „über“ diese Methoden sprechen und sie dadurch objektivieren, vielmehr werde ich sie exemplarisch „vordemonstrieren“ und so anschaulich machen. Es soll versucht werden, dem nicht objektivierenden und nicht instrumentalisierenden Charakter dieser Methoden gerecht zu werden. Kontrapunktisch zur herrschenden Tendenz der Instrumentalisierung und Funktionalisierung aller Lebensbereiche werden Philosophische Praktiker also ihre Methoden niemals gedankenlos instrumentalisieren, diese vielmehr immer wieder selbst zum Gegenstand der Reflexion und des Gesprächs mit den Praxisbesuchern machen. Allen utilitaristischen Verkürzungen, allen griffigen Techniken, cleveren Know-hows, eleganten Management-Strategien und simplify-your-lifeRatgebern zum Trotz, biedern sich die Methoden der Philosophischen Praxis weder der gängigen Verwertungs- und Verschleisslogik noch einem verkürzten Mittel-Zweck-Denken an. Fordernde Fragen nach „Zielen“, „Ergebnissen“, „Legitimation“, „Nutzen“ und „Leistung“ ihrer Tätigkeit – „Was bringt sie?“, „Was hat sie zu bieten?“ – werden Philosophische Praktikerinnen nicht kurzschließend beantworten. Ungeduldigen Forderungen nach „Definitionen“ der Philosophischen Praxis gegenüber – „Was machen Sie denn nun eigentlich genau?“ – werden sie nicht allzu eilfertig Rede und Antwort stehen. Denn die „ungeduldige Forderung nach Definitionen verrät ein Missverständnis“, welches „für die Moderne charakteristisch ist“: das Missverständnis nämlich, eine Sache schon verstanden zu haben, wenn man über ihre „Definition“ verfügt.3 Das eben Gesagte bedeutet die ständige Aufmerksamkeit der Philosophischen Praktikerin auf die Gefahr einer Verengung der Perspektive. Gerade weil eine einseitig rational-produktive instrumentelle Vernunft mit ihrem verkürzten Verständnis von „Methoden“, „Zielgerichtetheit“ und „Zweckrationalität„ heute so selbstverständlich scheint, muss sich die Philosophische Praktikerin deutlich von solchen Verkürzungen abgrenzen. Statt dem Zwang zur Rechtfertigung vor utilitaristischen Forderungen nachzugeben, lädt sie zu Nachdenklichkeit ein, um so 2 3

Hans Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt 1992, S. 336-337. David E. Cooper: A Philosophy of Gardens, Oxford 2006, S. 15 und 89.

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auf das eigentlich Philosophische an der Philosophischen Praxis aufmerksam zu machen. Und „Nachdenklichkeit heißt: es bleibt nicht alles so selbstverständlich wie es war“.4 Indem sie für den „historischen Rahmen“ (Charles Taylor) und die „kulturellen Hintergrundbilder“ (Kurt Hübner) sensibilisiert, in deren Kontext moderne Weltdeutungen – wie etwa der Funktionalismus und der Instrumentalismus – allererst verstehbar werden, geht die philosophische Nachdenklichkeit über die gängigen, rundum anerkannten Vorstellungen von Zielen, Effizienz und Nutzen hinaus. Die Philosophische Praxis bemüht sich – wie die Philosophie überhaupt - um ein Denken vor offenem Horizont. Es geht um die ständige Reflexion und Artikulierung von Konzepten; um die Befragung von Theorien, also Weltbildern, Deutungen, Mentalitäten (auch und gerade der eigenen) auf ihren Kontext, ihre Implikationen und ihre Lebensdienlichkeit hin. Dieser Essay kann als Einladung zur philosophischen Nachdenklichkeit gelesen werden und als Versuch, sich „praktizierend in Richtung einer Bestimmung und eines Verständnisses“ Philosophischer Praxis und ihrer Methoden „vorzutasten“.5 So wollen die folgenden Reflexionen zur Philosophischen Praxis zugleich Beispiele für die Arbeitsweise ihrer Methoden sein: Als Horizont erweiternde Arbeit am historischen Bewusstsein; als orientierende Reflexion von Wortgeschichte; als Unsinn enthüllende und Verwirrung therapierende Sprachkritik; als dialogische Text- und Bilddeutung und als Wahrnehmung vertiefende Hermeneutik der Existenz sind diese Methoden integraler Bestandteil von Praxis – und zwar sowohl der Philosophischen als auch der Lebenspraxis. Philosophische Praxis will nicht auf möglichst effiziente Weise irgendwelche festgelegten Ziele erreichen – etwa „Probleme lösen“, indem man sie „beseitigt“. Wohl arbeiten Philosophische Praktikerinnen problemorientiert; dies jedoch im Sinne der Ermunterung zur Arbeit am Selbst. Worum es geht, ist die Fähigkeit, sich reflektierend und übend von seinen Problemen so weit lösen zu können, dass der geistig-emotionale Spielraum entsteht, in dem es überhaupt möglich wird, zu verbalisieren statt zu inszenieren, zu erinnern statt zu wiederholen, sich also zu seinen Problemen und Zielen verhalten, handeln statt nur agieren zu können. Dass diese Fähigkeiten nicht nur für das Leben des Individuums, sondern – angesichts spätmoderner technischer Zerstörungspotentiale – für dasjenige des Kollektivs von nicht zu überschätzender Wichtigkeit sind, ist eine Überzeugung, welche die Philosophische Praxis mit der Psychoanalyse teilt. Das „offene und flexible Ensemble von Methoden“ Philosophischer Praxis besinnt sich auf das ursprüngliche Anliegen der Philosophie: nämlich praktisch, und das heißt Orientierungshilfe in Fragen der Lebensführung zu sein. In seiner spätmodernen Form stellt sich dieses Anliegen wie folgt dar: Nach dem Schwin4 5

Hans Blumenberg: Nachdenklichkeit in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch, Heidelberg 1980, S. 57-61. David E. Cooper spricht von „groping towards a definition by practising“.

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den einer einhelligen und verbindlichen Weltdeutung, in unserer postmetaphysischen und postteleologischen Welt, inmitten der Pluralität von Deutungsmöglichkeiten menschlicher Erfahrung und der Vielheit von Lebensformen, kommt der Einzelne nicht umhin, seine eigene Selbstdeutung und seine eigene Lebensform zu finden. Und dies, ohne in die Beliebigkeit abzudriften. Die Selbstmächtigkeit, welche dem spätmodernen Menschen abverlangt wird, ist die Kunst, Bedürfnisse, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken trotz und angesichts des Verlusts einer einhelligen metaphysischen Welt- und Selbstdeutung nicht isoliert – nicht solipsistisch – zu erfahren, sondern sie in den erweiterten Kontext des „Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“ (Hannah Arendt) einordnen, sein eigenes Leben vor diesem Hintergrund reflektieren, prüfen, verstehen und gegebenenfalls anders deuten zu können.

b) Das Wort Methode Nachdenklichkeit im Sinn von Hans Blumenberg – als Distanzierung vom Gängigen und als Denken vor offenem Horizont – ist das Charakteristikum aller Methoden Philosophischer Praxis. Die Selbstreflexion im Kontext des Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten; die Arbeit am Selbst als Hermeneutik der Existenz; die Arbeit an der Erweiterung und Vertiefung von Wahrnehmung und Imagination; die Arbeit an der Urteilsfähigkeit und am historischen Bewusstsein; die Sensibilisierung für die zentrale Bedeutung von Metaphorik und Sprache – alle sind sie inspiriert von dem Mut zu gewärtigen, dass „nicht alles so selbstverständlich bleibt, wie es war“. Versuchen wir doch gleich, in diesem Sinn und Geist über unseren eigentlichen Gegenstand selbst – die Methoden Philosophischer Praxis – nachzudenken, indem wir die Bedeutungsverschiebungen des Wortes „Methode“ unter die Lupe nehmen: Das Wort „Methode“ kommt von griechisch „methodos“, aus: „meta“: „nach“ ... „hin“ und „hodos“: „Weg“. „Methode“ meint also vorerst nichts anderes als „sich auf den Weg machen“, „in eine Richtung gehen“. Ein Herkunftswörterbuch (Knaur) definiert „Methode“ als „Art und Weise, wie etwas getan wird“, „Verfahren“. Nach Johannes Hoffmeisters Wörterbuch der Philosophischen Begriffe bedeutet das Wort „das Nachgehen“, der „beim wissenschaftlichen Verfolgen eines Gedankens eingeschlagene Weg“, „das Forschungsverfahren“, „die Untersuchungsweise“. Anders stellt sich das Methodenverständnis im Diskurs moderner wissenschaftlicher Disziplinen dar: hier werden Methoden als „Mittel“ oder „Instrumente“ aufgefasst, als „Handlungsanweisungen, welche vorschreiben, welche Handlungen durchgeführt werden müssen, um die von den Methoden erwarteten Leistungen zu erbringen“. Methoden sind „legitimiert dadurch, dass sie zweckmäßige Mittel für fachwissenschaftliche Erkenntnisziele sind“ und „unterliegen der Bedingung

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ausweisbarer Zweckrationalität. Bildlich gesprochen sind sie also wie eine richtige Wegauskunft, die man nur bei Vorgabe eines Ziels erhalten kann.“6 Während also ursprünglich das „Sich-auf-den-Weg-Machen“ als solches interessierte, der Zweck des Gehens im Vollzug selbst lag, betont ein modernes und wissenschaftliches Verständnis von Methoden das „Erreichen“ eines „vorgängig festgelegten Zieles“. Dass Umwege zu vermeiden seien, immer nur geradeaus gegangen oder ausschließlich nach vorn geschaut werden dürfe; dass der kürzeste Weg der beste sei – davon ist im ursprünglichen Sinn von Methode nicht die Rede: man darf im Gegenteil innehalten, mäandern, die Richtung ändern, sogar einen anderen Weg einschlagen. Im modernen Verständnis dagegen liegt der Zweck des „Vorgehens“ nicht im „Gehen“ selbst, liegen Rationalität und Legitimation der Methode nicht in ihr selbst, sondern außer ihr, in ihrer Dynamik auf Ergebnisse und Ziele hin. Mit Methoden, so scheint es, sind ursprünglich Verfahren gemeint, welche als integraler Bestandteil eines Vollzugs, als der Praxis inhärent verstanden wurden, während in der Neuzeit die Reflexion über Zwecke zunehmend zu Gunsten der Effizienz der Mittel ausgeklammert wurde.7 So legitim das moderne Methodenverständnis innerhalb des begrenzten Rahmens einzelwissenschaftlicher Perspektiven sein mag, so undienlich wäre es dem Anliegen Philosophischer Praxis, Leistung und Legitimation ihrer eigenen Methoden im Sinne einer verkürzten Zweck-Mittel-Relation zu denken. Nicht, dass sie „geeignete Mittel zur Erreichung vorgegebener Erkenntnisziele“ sind, zeichnet diese Methoden aus. Ihre Eigenart liegt vielmehr in der Sensibilisierung für individuelle und kollektive Selbst- und Weltdeutungen, im reflexiven Blick auf Zeitphänomene vor dem erweiterten Hintergrund der Geistes-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Die denkerische und emotionale Auseinandersetzung mit Konzepten, Welt- und Menschenbildern schärft die Aufmerksamkeit für die Neigung des Menschen, das jeweils Eigene und Vertraute zu verallgemeinern und zu verabsolutieren. So können uns etwa Bedeutungsverschiebungen von Worten und Metaphern zeigen, dass die Tendenz zur Instrumentalisierung aller Lebensbereiche keine anthropologische Konstante, sondern eines der Merkmale der Moderne ist, das der Verwandlung durch „Anders-Denken“ (Michel Foucault) bedarf und auch zugänglich ist.

6 7

Peter Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt 2009, S. 148. dazu sehr erhellend der Perspektivenwechsel bei François Jullien: Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen. Vortrag vor Managern, 2006.

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c) Ein nicht-instrumentalisierendes, kooperatives und integratives Methodenmodell – und eine Abgrenzung: Im Unterschied zu den „angehobenen Methodenstandards der Wissenschaften“ macht Philosophische Praxis „methodisch den Rückgriff auf praktische Rationalität und Lebenserfahrung“. Sie orientiert sich also an der Alltagsberatung insofern, als sie immer versucht, „der Komplexheit der Entscheidungs- und Handlungsprozesse gerecht zu werden jenseits aller einzelwissenschaftlichen Perspektiven“. Dabei berät die Philosophische Beraterin jedoch „nicht an den Wissenschaften vorbei, sondern durch sie hindurch und über sie hinaus“. Das heißt, die Beraterin lässt sich nicht auf gängige Dichotomien ein – seien es nun die weit verbreitete Wissenschaftshörigkeit oder die ebenso weit verbreitete Wissenschaftsfeindlichkeit – sondern macht vielmehr auf ihre Unfruchtbarkeit aufmerksam. Ebenso wenig wird die Philosophin Öl ins Feuer des eingefleischten und sterilen Streits Natur- gegen Geisteswissenschaften gießen; sie wird sich davor hüten, Allgemeinplätze – etwa der Hirnforschungsdebatte – zu verbreiten. Als Philosophen werden Philosophische Praktiker vielmehr mit interessierten Gesprächspartnerinnen die Fragen, welche solche Debatten aufwerfen, in ihren Implikationen für die Lebenswelt reflektieren; zudem werden sie die Sprache, derer sich solche Debatten bedienen, genauestens auf ihre Mythologisierungstendenz hin prüfen. Anders als die Alltagsberatung, die Wissenschaften, die kirchliche Seelsorge und die Populärphilosophie ist Reflexion in der Philosophischen Praxis auf größere Zusammenhänge und weitere Sinnhorizonte angewiesen, ohne dabei jedoch institutionell oder dogmatisch gebunden zu sein. Ein Anliegen der Philosophischen Praxis ist es, die in der Neuzeit zunehmend ausgeblendete und tabuisierte Dimension der Anwendung und des Übens in die Praktische Philosophie zurückzuholen; dies heißt freilich nicht, dass sie nun ihrerseits den vorliegenden Theoriebestand tabuisieren würde. Als integratives, professionelles und systematisches Beratungs- und Bildungsangebot und im Sinn der philosophischen Nachdenklichkeit wird Philosophische Praxis vielmehr ihr Interesse an der und den Dialog mit der Theorie – auch mit den Theorien, Methoden und Themen anderer Disziplinen und anderer Beratungsformen – aufrechterhalten. Die Philosophische Beraterin interessiert sich für die verschiedensten Theorieansätze; ihr sind auch „übrige Beratungsweisen bekannt und vertraut“; und zugleich versucht sie, „Neues und Anderes anzubieten“.8 Im Sinn ihres kooperativen und integrativen Charakters werden sich die Methoden Philosophischer Praxis also „in doppelter Frontstellung“ von „zwei entgegengesetzten Reduktionismen abgrenzen“:

8

Krämer: S. 337-339; 356-357; 364.

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zum einen von denen der Schulphilosophie mit ihrem „puristischen Selbstmissverständnis“, ihrem „theoretizistischen Intellektualismus“ und ihrer Weigerung, auch nur den geringsten Bezug zwischen ihren Aktivitäten und Fragen der Lebensführung in Betracht zu ziehen; zum anderen jedoch von einer „sich autark wähnenden Philosophischen Praxis“ im Sinn einer „isolierten Popularphilosophie mit unklarem Status“, „systematisch ortlos“9, deren Weigerung in die entgegengesetzte Richtung – der Theorie- und Bildungsfeindlichkeit – geht.

2. Warum uns alles zur Funktion gerät a) Das Glücksstreben in der Moderne Eine wachsende Flut von Publikationen und Angeboten zum Thema der „Lebenskunst“, dem „guten Leben“ und dem „Glück„ scheint Aristoteles recht zu geben: Wenigstens in einer Hinsicht sind sich die Menschen einig, denn „alle Menschen streben nach Glück“. Das Glücksstreben – die Verbindung von „Ziel“ und „Glück“ – ist im europäischen Denken fest verankert. Was allerdings dieses Angestrebte ist und wie es zu erreichen sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. Hier unterscheiden sich moderne Vorstellungen klar von denen der philosophischen Antike. Für den heutigen Menschen scheint das gute Leben mit Lebensstil und Besitz – etwa Wohlstand, Komfort, Status, Erfolg – vor allem aber mit der Abwesenheit von Schmerz, Leid, Schwäche, Beschränkung und Sorge verbunden zu sein. Glück und das gute Leben werden sowohl als Zustand wie Ziel gedacht; als etwas, was wir anstreben und was wir dann „haben“. Zu den „Mitteln“, welche zu diesem Ziel führen sollen, gehören Aus- und Weiterbildung, Wissen, Kommunikation, Information, Effizienz, berufliche Netzwerke, Management, Know-how, Fitness, Einfluss und Geld.10

b) „Glück“ und „Tugend“ bei den antiken Philosophen: Ganz anders die Vorstellung des „Guten Lebens“ bei den Philosophen der Antike. Zwar war das „Glück“ – Hannah Arend übersetzt „Eudaimonia“ mit „das Wohlbefinden des Dämons, der einen Menschen durchs Leben begleitet“11 – auch für Aristoteles das „letzte Ziel“ (das „telos“) individuellen und politischen Handelns. Dieses Ziel jedoch wurde nicht als ein Endzustand vorgestellt, sondern als der dem guten Leben innewohnende Zweck. So besteht nach Aristoteles das „Gute Leben“ wesentlich im Tätigsein: „Sinn“, „Wert“ oder „Zweck“ des Lebens 9 Ibid., S. 335. 10 Der Perspektivenwechsel wirft Licht auf das abendländische Glücksverständnis: Florian Coulmas: Die Illusion vom Glück. Japan und der Westen, Zürich 2010; François Jullien: Sein leben nähren. Abseits vom Glück, 2006. 11 Vita Activa, S. 185-186.

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liegen in einer bestimmten Lebensart selbst, im Vollzug, in der Praxis eines Lebens, sofern diese Praxis eine „Tätigkeit der Seele in Übereinstimmung mit den Tugenden“ ist. David E. Cooper umschreibt die Aristotelische Konzeption des Glücks und des Guten Lebens als „human flourishing or well-being“, „an activity of the soul in accord with the virtues; the telos of human beings is the one thing desired or aimed at only for its own sake.“ Im Gegensatz zu modernen Vorstellungen ist die Sorge in der antiken Konzeption integrativer Bestandteil des guten Lebens und des Glücks. Als „Sorge um sich selbst“ („epimeleia heautou“) gilt sie als „Sporn, der ins Fleisch der Menschen eindringen muss, der in ihr Dasein eingelassen und das ganze Leben hindurch Grund für Bewegung und Bewegtheit ist.“ „Das Wort epimeleia ist mit melete verwandt, das sowohl Übung als auch Meditation bedeutet.“ Der Begriff der Sorge bezeichnet also nicht nur eine „allgemeine Haltung“ oder eine „sich selbst zugewandte Aufmerksamkeit“, sondern darüber hinaus „stets auch eine Reihe von Handlungen, und zwar solche, die auf einen selbst gerichtet sind, Handlungen, durch die man für sich selbst Sorge trägt, durch die man sich verändert, reinigt, verwandelt und läutert. Das beinhaltet eine Reihe von Praktiken, meistens Übungen, die in der Geschichte der abendländischen Kultur, Philosophie, Moral und Geistigkeit ein langes Leben haben.“12 Auch die philosophischen Tugenden („Ethikai aretai“), Sokratisch und Aristotelisch verstanden, unterscheiden sich deutlich vom christlichen und modernen Verständnis. Nicht die Idee eines „belohnenden“ und „strafenden“ Vaters dem man „gehorcht“ klingt hier an; nicht die Gottgefälligkeit „christlicher junger Männer“, nicht diese etwas „muffige Angelegenheit für höhere Töchter“, zu der das Wort „Tugend“ im Laufe der Neuzeit verkommen ist (Böhme), sind gemeint. Dem philosophischen Verständnis zufolge ist man nicht „tugendhaft“, um von einer höheren Macht geliebt oder belohnt, von seinen Mitmenschen bewundert oder als Politiker gewählt zu werden. Tugenden wie etwa Sorgfalt, Freundlichkeit, Gerechtigkeit oder Humor sind nicht „Mittel“ zu irgendwelchen „höheren Zwecken“ oder „Zielen“. Im Kontext des ersten Buches, welches das Wort „Ethik“ im Titel trägt – der Nikomachischen Ethik des Aristoteles – sind die Tugenden und das Glück untrennbar verbunden. Als lebensdienliche Haltungen – „excellences of character, dispositions towards appropriate ways, not only of acting, but of judging and feeling“ – sind die Tugenden integraler Bestandteil von 12 Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004, S. 23 u. 27; derselbe: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt 1986; Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt, 2000; zu einer vergleichbaren Lesart des englischen Wortes „care“ nicht als „lastende Sorge“, sondern als „Mut“, sich um die Dinge zu „kümmern“, siehe Richard Harrison: Gardens, 2009; und grundlegend: Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, 2002.

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gelingender Praxis. Ein Leben ist erst dann „Eudaimonia“ – dieses „Aufblühen“ des Menschlichen, von dem Cooper spricht – wenn es ein tugendhaftes, und das heißt immer auch, ein wahrhaft menschliches und schönes Leben ist. „Tugendhaft sein“ und „gut leben“ ist ein und dasselbe.13

c) „Praxis“ und „Poiesis“: eine Umkehrung der Neuzeit Praxis im Sinne des Vollzug des Lebens, dieses „Tätigsein in Übereinstimmung mit lebensdienlichen Dispositionen“, galt der Antike als vorrangig, wenn es um die Frage ging, was herzustellen sei. Das Herstellen („Poiesis“) bezog sich also auf die Lebenspraxis, orientierte sich an den aus dieser hervorgehenden Problemen und Bedürfnissen. Unser modernes Bewusstsein dagegen ist geprägt von der Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses von „Praxis“ und „Poiesis“: im Laufe der Neuzeit verschob sich die Gewichtung zunehmend in Richtung des Vorranges der Lebensmittel über die Lebenspraxis. Heute sind es „Markt und Produktion“, welche vor geben, „wessen man zu bedürfen und was man gebrauchen muss, um ein gutes Leben zu führen .... Die Diskussion über das gute Leben ist verstummt; und wo dies der Fall ist, können sich echte Bedürfnisse nicht entfalten: Der Mensch von heute ist zum Wünschen nicht fähig.“ Im Bann seiner Instrumente, richtet der Mensch von heute seine ganze Aufmerksamkeit, all sein Können und Streben auf die Optimierung von Mitteln und Funktionen. Die Reflexion über das Menschliche, über Praxis als Bezugspunkt all dieser „Optimierungen“ wird dabei zunehmend ausgeblendet. „Die Forderung, die heute an unsere Zivilisation gerichtet werden muss, ist nicht eine ethische, sondern vielmehr eine vor-ethische zu nennen: Was eigentlich menschliches Dasein heißt, gilt es zu fragen. Aus der Beratung darüber erst wären die Ziele zu gewinnen, auf die hin sich politisches und wirtschaftliches Verhalten zu orientieren hätte.“14

d) „Contemporary Ethics has failed to engage with practical and everyday concerns“15 In der Moderne wurde die „Diskussion über das gute Leben“ und über Fragen der Lebensführung zunehmend aus dem „vernünftigen“, und das heißt dem „wissenschaftlichen“, Diskurs ausgegrenzt und auf spezielle Gebiete verlagert: auf die kirchliche Seelsorge etwa, die populärphilosophische Erbauungsliteratur im 18. und 19. Jahrhundert, auf Esoterik, Astrologie, Ernährungs-, Wellness- und Lifestyle-Beratungen aller Art im 20. Jahrhundert. Die Psychoanalyse und einige Formen der Psychotherapie entdecken zwar die therapeutische Kraft des Spre13 David E. Cooper, ibid., S. 86-90. 14 Gernot Böhme: Ethik der leiblichen Existenz, 2009, S. 41-47. 15 Julia Annas: The Morality of Happiness, 1993, S. 455.

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chens wieder; die philosophische Reflexion über Zwecksetzungen bleibt freilich auch hier ausgespart.16 Um diesem Defizit zu begegnen, wird sich die Philosophie in den Kreis der beratenden Disziplinen wieder einschalten müssen, welche sie im Laufe der Neuzeit zugunsten ihrer Akademisierung verlassen hat. So ist Philosophische Praxis der Versuch, den „Auszehrungsprozess der Ethik der letzten 200 Jahre rückgängig zu machen“, indem sie die Verkürzung der Praktischen Philosophie auf Theorie korrigiert und Fragen der Lebensführung wieder ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt, ohne dabei allerdings die Früchte der Theorie zu negieren. Die Methoden Philosophischer Praxis können als eine Rehabilitierung der von der Philosophischen Ethik lange tabuisierten Anwendung der Ethik angesehen werden – ihrer praxisregulierenden Rolle unter heutigen Voraussetzungen. „Die Rehabilitierung dessen, was sich heute Philosophische Praxis nennt, nämlich der Methodologie Praktischer Philosophie und Ethik, steht nicht isoliert, sondern korrespondiert mit der Behebung anderer Defizite“ des modernen Ethikverständnisses.17

3 . D i e Ar b e i t a n e i n e r z e i t g e m ä ß e n E t h i k „Jeder Einzelne muss im Respons mit der Welt selbst zum Interpreten seines Daseins werden.“18

Epochen des Übergangs und der Krise haben sich seit jeher durch „verstärkten Orientierungsbedarf“ ausgezeichnet: „durchschnittliche Anleitungsformen“ – „das Übliche“ – genügen nicht mehr. In der Philosophischen Praxis werden die geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge erarbeitet, welche ein tieferes Verständnis für das gegenwärtige Orientierungsdefizit ermöglichen. So bewegt sich Philosophische Praxis im Spannungsfeld zwischen historischem Bewusstsein und radikaler Zeitkritik: Welches sind die Defizite, welches die Potentiale der Moderne? Wie ist den Defiziten zu begegnen? Wie sind die Potentiale zu erschließen? Angesichts der neuen Voraussetzungen des postteleologischen oder postmetaphysischen Zeitalters geht es um die Wiederbesinnung auf das ursprüngliche Anliegen der abendländischen Philosophie, Orientierungshilfe in Fragen der Lebensführung zu sein; um die „Rückgewinnung“ der aller Ethik „angestammten“ Beratungs-, Übungs-, Vermittlungs- und Bildungsdimensionen: Philosophische 16 S. dazu meinen Aufsatz: Philosophische Praxis: Eine spätmoderne Rehabilitierung der Philosophie als Lebensform; in Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis (Hg. Gutknecht, Polednitschek, Stölzel), 2009, S. 58f. 17 Hans Krämer, ibid., S. 341. 18 Krämer, S. 129.

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Praxis „kann sich dieser systematischen Zuordnung“ – eben Praktische Philosophie und als solche auch Angewandte Ethik zu sein – nicht entziehen“. Mit der Rehabilitierung der praxisregulierenden Rolle der Ethik knüpft Philosophische Praxis an die ältere Ethik an; diese verwandelnd, arbeitet sie jedoch an einer zeitgemäßen Ethik, einer Ethik, welche heute „noch Desiderat und Programm“ ist.19 Das Bestreben Philosophischer Praxis, den „Auszehrungsprozeß der Ethik der letzten 200 Jahre rückgängig zu machen“, darf also nicht mit den Stereotypen der Rückwärtsgewandtheit oder Nostalgie, nicht mit jener landläufigen Meinung verwechselt werden, wonach die Menschen heute unmoralischer seien als früher. Vielmehr beruht das Gemeinte auf einer geistesgeschichtlich fundierten Diagnose: der Einsicht nämlich, dass heute eine Haltung gegenüber Ethik vorherrscht, welche unzeitgemäß, ja defizitär ist. Eine Haltung, die den Grundtendenzen unserer Zeit – ihren Potentialen sowie ihren Gefahren – und damit den Aufgaben der Spätmoderne in keiner Weise gewachsen ist. Denn die Tatsache, dass der Dialog über das gute Leben im Laufe der Neuzeit „verstummt ist“, blieb nicht ohne Folgen. Da ist einmal die heute weit verbreitete Tendenz, alle Werte als „Projektionen“ auf eine an sich „neutrale Welt“ zu verwerfen oder Werte auf „nichts als egoistische Interessen“ zu reduzieren. In diesem Zusammenhang spricht Charles Taylor vom „Fluch unserer modernen naturalistischen Kultur“; denn die Unfähigkeit, zwischen willkürlichen Projektionen und kulturellen Deutungen zu unterscheiden, führe zur Verarmung von Gefühl und Fantasie: zum „Versiegen vieler unserer geistigen Quellen.“20 In ethischen Fragen – also in Fragen der persönlichen und kollektiven Lebensführung – wird nicht selten regressiv reagiert statt reflexiv argumentiert. So wird beispielsweise reflexartig von verkürzten und veralteten „Moralvorstellungen“ ausgegangen, mit leerer Rhetorik und flachen Stereotypen die eigentliche Frage abgewehrt. Diese Abwehrstrategie äußert sich in Sätzen wie „Ich lasse mir nichts vorschreiben“ oder „man kann doch den Leuten nicht verbieten ...“ Auf dem paternalistischen Missverständnis von Ethik beruht auch die weit verbreitete Tendenz, „to want somebody to occupy the social role formerly held by the priests“, sowie die Tendenz zu „Unmündigkeitstheoremen“, die „dazu verwendet werden, Zustände und Verhaltensweisen, Charakterzüge und Lebensprobleme als fremdbestimmte Wirkungen zu erklären.“21 Die „Arbeit an einer zeitgemäßen Ethik“ ist der Ver-

19 Ibid., S. 323ff; 331-341. 20 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 1992, S. 105ff., 204. 21 Richard Rorty: Toward a Post-metaphysical Culture; in: Philosophers in Conversation. New York and London, 2002; A. Dill in U. Thurnherr, Philosophische Praxis, in: Angewandte Ethik. Eine Einführung (Hg. Annemarie Pieper und Urs Thurnherr), München, 1998.

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such, für solche Defizite zu sensibilisieren, der Abwehr und den Klischees durch Nachdenklichkeit und Adäquatheit des Denkens und Sprechens zu begegnen. So kann Philosophische Praxis beispielsweise auf den grundlegenden Unterschied zwischen Moraltheorie und Strebensethik aufmerksam machen: Während es in der Moral um die Prinzipien und Regeln, die Pflichten und Rechte geht, welche unser Handeln bestimmen und es kritisch limitieren, ist es der Ethik um das zu tun, was wir aus ganzem Herzen und um seiner selbst willen bejahen können – um das „affirmative Gute“. Die moralische Frage lautet: „Was ist erlaubt? Was verboten?“; die ethische Frage dagegen: „was für ein Mensch will ich sein?“ oder – Sokratisch – „Wie ist es gut zu leben?“22. Geht es in der Moral um Gesetze und Normen, so stehen in der Ethik die „Tugenden“ im Mittelpunkt. Gesetze und Normen gelten „kategorisch“ – sie werden oft als „Supernormen“ empfunden, überfordern und erdrücken den Menschen – denn sie sollen „unbedingt“ eingehalten, als Vorschriften „unbedingt“ befolgt werden; die Autonomie im Wortsinne der „Selbstgesetzgebung“ wird dabei gern ausgeblendet. Tugenden dagegen sind existentielle Schlüsselkompetenzen: Wolfgang Schadewaldt übersetzt den griechischen Ausdruck „Tugend“ glücklicher mit „Bestheit“.23 Anders als Normen, deren Einhaltung gefordert ist und die oft mit rigider Selbstüberwindung assoziiert werden, können „Bestheiten“ eingeübt, durch geeignete Praktiken „eingeladen“ werden – wie Gäste, denen man mit Achtung und Freundlichkeit begegnet.24 Auch gehen die Tugenden nicht von der heillosen Dichotomie zwischen „Altruismus“ und „Egoismus“ aus: „Tugendhaft“ leben heißt nicht, „selbstlos“ zu sein. Als „Sorge um sich selbst“ heißt es vielmehr, „lebensdienliche“, dem Leben „freundlich“ gesinnte Charakterdispositionen einzuüben. Es geht nicht um Herrschaft, nicht um reibungsloses Funktionieren, sondern um Selbstmächtigkeit. Im Gegensatz zu den Normen, welche statisch sind und kategorisch gelten, sind Tugenden prozessual und bereichsgebunden: als lebensdienliche Dispositionen des Handelns, Denkens und Fühlens richten sich die Tugenden auf Teilbereiche des Lebens und nicht, wie Normen, „aufs Ganze“. Während der Fokus einer Tugendethik auf den Kompetenzen für das gute Leben und auf der Einübung dieser Kompetenzen liegt, geht es einer Gesetzesmoral mit ihren Normen, Verboten und Geboten um die Begrenzung respektive Auferlegung von Handlungen. Die Kategorie des Übens ist mit der Vorstellung der Unabschließbarkeit eines Prozesses, des ständigen Unterwegsseins verbunden: nicht darum geht es, die Schwierigkeiten ein für allemal hinter sich zu bringen oder die Bedingungen endlich zu überwinden, und auch nicht darum, das Scheitern zu vermeiden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es zum Leben gehört, „es“ ge22 Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, 2007; Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt 1998. 23 Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt 1978. 24 Cooper, ibid., S. 91.

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duldig immer wieder zu versuchen; dass man, im besten Fall, auf etwas höherer Stufe weiterübt. „Eine praktizierbare und praktizierte Ethik der Zukunft wird vermutlich von der älteren ‚Asketik‘ noch manches lernen können“.25 (Das griechische Wort „Askesis“ heißt „Übung“.) Alle Antike Ethik war Strebensethik, ihre Mitte die Frage nach dem guten Leben – eben die Frage, deren „Diskussion“ in der Moderne „verstummt ist“. Selbstverständlich kann es einer zeitgemäßen Ethik nicht um die Wiederholung der alten Ethik „mit ihrer Kanonik, der Geschlossenheit ihrer Zielvorstellung und ihrem naiven Vernunfts- und Freiheitsbegriff“ gehen. Die „Rückbesinnung“ auf die Frage, „was eigentlich menschliches Dasein heißt“, muss immer zugleich eine Neubesinnung auf diese Frage unter den neuen Voraussetzungen der Spätmoderne sein. Nach Krämer bedarf es „geradezu eines dritten Ethiktyps“ – eben einer „integrativen Ethik“ – welche sich sowohl die Normen und Regeln des menschlichen Zusammenlebens als auch die Frage nach dem „affirmativen Guten“ zum Thema macht und beide in eine zeitgemäße Ethik integriert. Dieser zeitgemäße „dritte Ethiktypus“ wird den Grundtendenzen der Moderne und Spätmoderne gerecht werden müssen: etwa der Ablösung absoluter Standards durch Perspektivität und eine Vielheit von Standorten; oder der Erschwerung der „Eruierung des jeweils eigentlichen Wollens und Sollens ... durch die Einbeziehung des Unbewußten und der damit verbundenen inneren Hemmung“. Bei der Rehabilitierung der Praktischen Philosophie handelt es sich nicht um eine heteronome – etwa durch den Praktiker „auferlegte“ – Aufgabe. Worum es geht, ist die „gemeinsame Arbeit an einer zeitgemäßen Güter-, Klugheits- oder Selbstethik“, einer Ethik also, welche nicht auf starre Normen rekurriert, sondern Güter – also „Bejahenswertes“ – Tugenden und Charakterdispositionen in den Blick nimmt. Eine zeitgemäße Ethik mutet dem Einzelnen zu, sich auf einen Prozess des Reflektierens, des Dialogs und des geduldigen Übens einzulassen. Dass eine solche Ethik „noch Desiderat und Programm“ ist, heißt, dass beide, der Philosophische Praktiker sowohl als auch die Besucherin, an dieser Aufgabe beteiligt sind. Hier wird nicht lediglich „über Ethik gesprochen“; es wird versucht, das Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln der Philosophin ebenso wie dasjenige ihrer Praxisbesucher zu berühren und zu verwandeln, auf eine zeitgemäße Ethik hin zu arbeiten. Aufgabe der Praktikerin wird es sein, ihre philosophischen Kenntnisse und Kompetenzen ins Spiel zu bringen, denn Ethik wird „nicht umstandslos und quasi-automatisch praktisch, sondern nur auf Grund ausreichender

25 Krämer, ibid., S. 330-331; S. 80; Alasdair McIntyre: After Virtue.A Study in Moral Theory, 1982; Martha Nussbaum: Nicht-relative Tugenden. Ein aristotelischer Ansatz, in: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, 1988, S. 227-234.

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methodischer Vorbereitung und Hilfestellung, und dies zunehmend und in dem Maße, wie die moderne Welt sich vielgestaltig, ja unübersichtlich erweist.“26

4 . F l i e ß e n d e Ü b e r g ä n g e : L e b e n s b ew ä l t i g u n g s h i l f e , partnerschaftliches Gespräch, Bildung, Beratung a) Lebensberatung und Bildung „Der Besucher erscheint [...] nicht vornehmlich in einer Philosophischen Praxis, um sich der Philosophie zu widmen und sich über Philosophen kundig zu machen, sondern er verlangt von seinem Praktiker, er möge seine philosophischen Fähigkeiten zu seinem, des Besuchers, Wohl anwenden. Der Praktiker soll sich mit Hilfe der Philosophie dem Besucher, nicht aber der Besucher der Philosophie widmen.“ [...] „Philosophische Praxis soll nicht Philosophie verständlich machen – das ist die Aufgabe des Dozenten – sondern Schicksale, Nöte ... kurz: Unverstandenes soll philosophisch verstanden werden.“27

Diese überdeutliche Trennung zwischen dem Bedürfnis des Praxisbesuchers nach Lebensbewältigungshilfe und seinem Wunsch nach Bildung oder Wissenserweiterung entspricht in keiner Weise meiner Erfahrung. Vielmehr wendet sich eine stattliche Zahl meiner Besucherinnen und Besucher mit der ausdrücklichen Bitte an mich, „Philosophie verständlich gemacht zu bekommen“, und zwar, wie sie selbst sagen, aus einem tiefen Bedürfnis nach Reflexion und Horizonterweiterung und weil sie glauben – und mit der Zeit auch erfahren – dass die Beschäftigung mit Philosophie wesentlich zu einem besseren Verständnis der Welt, und damit zu einem besseren Verständnis ihrer eigenen Schicksale und Nöte, beitragen kann. „Wenn es die Philosophie ist, welche uns lehrt zu leben: Warum macht man uns nicht mit ihr bekannt?“ Diese Klage Montaignes ließe sich heute umformulieren: Wenn Philosophie Lebensform28 ist: Warum sollten Philosophische Praktikerinnen nicht versuchen, Philosophie zu vermitteln? Auf keinen Fall sollte das Verhältnis des Praktikers zur Philosophie jenem des Priesters zu „seinen“ Sakramenten gleichen: er sollte nicht wie jener „mit den Schlüsseln zum Geheimnis hantieren“ – wie Martin Buber die Geste gewisser Priester und Gurus verhöhnt; auch sollte er nicht sich unnötig zwischen die Philosophie und den Praxisbesucher schieben. Versuchen Philosophische Praktiker nicht, ihre philosophischen Kenntnisse und Kompetenzen für die eigene Lebensführung fruchtbar zu ma26 Krämer, ibid., S. 127-129; 341. 27 Michael Zdrenka: Konzeptionen und Probleme der Philosophischen Praxis. Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis. Band 4, Köln, 1997, S. 35. 28 Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und Moderne Exerzitien der Weisheit, 2002.

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chen? Das aber sollte heißen, dass sie diese Kenntnisse und Kompetenzen auch vermitteln, und zwar so, dass auch Andere die Quellen dieses Wissens und Könnens erschließen und das Gelernte auf ihre Art in ihr Leben integrieren können. Eine starre Abgrenzung zwischen ihrer Rolle als Berater, Vermittler und „Dozenten“ scheint mir für das Selbstverständnis Philosophischer Praktiker nicht hilfreich zu sein. In diesem Zusammenhang legt es sich nahe – angeregt durch die Psychoanalyse – über die Unterscheidung zwischen den „Settings“, den „Techniken“ und den „Methoden“ Philosophischer Praxis nachzudenken. So würde ich Veranstaltungsformen – wie etwa Cafés Philosophiques, Philosophische Reisen und Ferienwochen, Seminare, Einzel- und Gruppengespräche, Vorlesungen, Philosophische Spiele und Performances aller Art – zu den Settings; das Sokratische Gespräch und die Mäeutik eher zu den Techniken Philosophischer Praxis zählen. Wie immer wir die Unterscheidung vornehmen – und die Übergänge sind fließend – immer stehen solche Veranstaltungen und Techniken im Dienst der eigentlichen Methoden der Philosophischen Praxis: denn immer werden irgendwelche Formen von Sprachkritik, Arbeit am historischen Bewusstsein, Deuten von Texten und Bildern (oder Metaphern) sowie Hermeneutik des Selbst ins Spiel kommen. Das Ethos, welches den breiten Fächer der Vorgehensweisen Philosophischer Praxis beseelt, ist die Idee der (Selbst)Bildung als Arbeit an der ethischen und ästhetischen Sensibilität, der Artikuliertheit und der Urteilsfähigkeit.

b) Bildung – „Sich ein Bild machen können“: In der Philosophischen Praxis wird die Trennwand zwischen Selbstbild und Bildung durchlässig gemacht. So gewinnen wir das Potential für die Selbstgestaltung und die Maßstäbe für die Urteilsbildung. Im Unterschied zur Ausbildung ist philosophisch verstandene Bildung nicht von zweckhaften Interessen geleitet, seien es nun Diplome oder andere Leistungsausweise. Bildung ist nicht mit „Alles- oder Besserwisserei“ (Odo Marquard), nicht mit der „effizienten Beseitigung von Nichtwissen“ (Peter von Matt) zu verwechseln. Bildung, philosophisch verstanden, ist immer Aufklärung und Weltorientierung und als solche zuletzt Selbstbildung – das, was antike Philosophen die „Arbeit am Selbst“ nannten. Leitidee philosophischer Bildung ist die Arbeit am eigenen Welt– und Menschenbild, am eigenen Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln. Als historisches Bewusstsein ist Bildung „eine Art Besinnung auf die Bedingungen, unter denen, soviel wir wissen, Menschen bisher gelebt haben, und diese Besinnung ist geleitet von den Erfahrungen und den Sorgen der gegenwärtigen Situation.“ So fördert Bildung das Bewusstsein, „dass die neuzeitliche Auffassung des Selbst aus früheren Bildern der menschlichen Identität entstanden ist“ und verhilft uns zur Einsicht, dass den Geschehnissen „keine metaphysische Zwangsläufigkeit, sondern historische Zufälligkeit“ zugrunde liegt, dass es also

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„Alternativen“ gibt, was Religionen, Werte, Lebensformen anbelangt, dass „es auch ganz anders“ hätte kommen können. Philosophisch verstandene Bildung fördert Zweifel und Zögern gegenüber dem scheinbar Selbstverständlichen: „Wie ist es dazu gekommen?“; „Wie könnte es anders sein?“; ermöglicht als Nachdenklichkeit eine „spielerische Einstellung zur eigenen Kultur“ und schafft die Distanz, welche uns befähigt, diese uns „noch einmal neu anzueignen“. So lernen wir, unser eigenes Welt- und Selbstverständnis, unsere eigene Lebensform, nicht mehr als „unverfügbares Schicksal“ zu verstehen, sondern als bedingte „freie Wahl“. Wer sich bildet und bilden lässt, wird „nicht Opfer sein“, denn er wird Persönliches im erweiterten Rahmen zivilisatorischer Phänomene reflektieren, viele seiner Nöte als Zeitphänomene verstehen können. So werden vor dem Hintergrund der abendländischen Geistesgeschichte Nöte wie Stress, das viel beklagte Orientierungs- und Sinndefizit oder die Empfindung von „Zwängen“, welche einen an der eigenen Entfaltung hindern, ihrer quasi-kausalen Gesetzmäßigkeit enthoben und als kulturelle Erscheinungen verstehbar. „Nur wenn wir den Zugang zur Vergangenheit und ihren verschiedenen Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, offen halten, können wir in eine kritische Distanz zur Gegenwart treten und uns vor dogmatischer Verblendung bewahren“. Im Dialog mit dem schon Gedachten erst sind wir in der Lage, sowohl die Potentiale als auch die Defizite und Gefahren unserer Zeit richtig einzuschätzen; zu beurteilen, was zeitgemäß und was veraltet ist und welche Bedeutung, welches Gewicht den Ereignissen beizumessen ist. Ein „möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten, ein menschliches Leben zu leben“, die Fähigkeit, sich Alternativen für sein eigenes Denken, Fühlen und Handeln vorzustellen sind Voraussetzungen dafür, im Dialog mit Anderen, über das jeweils geltende Wirklichkeitsverständnis und die gängigen Sinn- und Wertangebote hinaus, sein eigenes Erleben und seine eigenen Deutungen zu reflektieren, gegebenenfalls zu korrigieren, und so Verantwortung für das eigene Denken, das eigene Leben zu übernehmen.29 Als Arbeit an der Sprache sensibilisiert philosophische Bildung dafür, dass Worte keine leeren Hülsen sind, welche beliebig mit Bedeutungen gefüllt werden könnten; dass wir den Wörtern nicht – wie Humpty Dumpty meint30 – „befehlen“ können, was sie zu bedeuten haben. Bildung macht aufmerksam auf die verbind29 Zu Gedächtnis und Gegenwart Kurt Hübner: Aufstieg vom Mythos über den Logos zur Wissenschaft? Eine wissenschaftstheoretische Frage, 2003, S. 9; zur Entstehung der neuzeitlichen Identität Charles Taylor: Quellen des Selbst; zum Thema Bildung hervorragend Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? NZZ am Sonntag, 6.11.2005. 30 Von Humpty Dumpty, der berühmten Figur aus Lewis Carroll's Alice's Adventures in Wonderland, stammt der süffisante Satz: „When I use a word, it means just what I choose it to mean - neither more nor less.“

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liche und verbindende, auf die Welt schaffende und Welt erschließende Kraft der Sprache. Indem wir „die Reichweite und den Stellenwert unserer Fähigkeit“ kennen lernen, „zu verstehen, Begriffe, Bilder, Ausdrucksformen zu entwerfen und zu gebrauchen“, werden wir sensibel für die „Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Begriffen“ und so auch fähig, Begriffsverwirrungen richtig einzuschätzen. Wir erkennen, dass es sich in Fragen des Gebrauchs von Wörtern und Metaphern nicht um „rein verbale“, und auch nicht um „rein private“ Angelegenheiten“ handelt. Zum einen sind Begriffe für unser Selbst- und Weltverständnis zentral, und dieses beeinflusst unsere Vorstellung von unserer Situation und von unseren Handlungsmöglichkeiten; dies wiederum „macht einen Unterschied für das, was ich tue oder unterlasse“. Zum anderen ist es die Sprache – die Fähigkeiten, Erleben differenziert artikulieren, sensibel mit Metaphern umgehen zu können – welche den Zugang zur menschlichen Welt der Zeichen und Bedeutungen eröffnet, jenem „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, von dem Hannah Arendt in der Vita Activa spricht.31 Nicht Leistungsausweise, Erfolg oder Beherrschungsmacht kann philosophische Bildung also versprechen. Jedoch „belohnt“ sie den, der die Mühe und Arbeit des „Sich-Bildens“ nicht scheut, „mit besonderen Erfahrungen des Glücks“, indem sie ihn „zur Orientierung in dem vielschichtigen Gewebe an menschlicher Aktivität, das wir Kultur nennen, befähigt“.32

c) Das Negativbild der Beratung: ein „überholtes Vorurteil der Neuzeit“ – und der gegenwärtige Coachingboom „Wenn Praktische Philosophie und Ethik praktisch werden sollen und dies im Interesse aller Beteiligten in optimaler Weise geschehen soll, dann ist das philosophische Beratungsgespräch unverzichtbar.“33

Die Form, in welcher die Methoden Philosophischer Praxis sich am besten entfalten können, ist das philosophische Gespräch. Neben der Mäeutik – der Sokratischen „Geburtshilfe“, welche den Gesprächspartner durch indirekte Appelle zu sich selber bringt – und dem quasi-partnerschaftlichen Gespräch mit seinen indirekten Klärungseffekten, bei dem es vor allem um das empathische Zuhören und um die sensible Anteilnahme geht – scheint mir das philosophische Beratungsgespräch im eigentlichen Sinne des Wortes „Beratung“ von durchaus zentraler Bedeutung zu sein. 31 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 1958; dt. 1977; Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens, 2009, S. 55-57; Hans Julius Schneider: Der Philosoph behandelt eine Frage - wie eine Krankheit, in: Schobert und Schobert (Hg.): KircheEthik-Öffentlichkeit, 2002, S. 190-203; siehe auch Abschnitt 7 des vorliegenden Aufsatzes. 32 Peter Bieri, ibid. 33 Hans Krämer, ibid., S. 323ff., 333-334.

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Nun ist unter Philosophischen Praktikern das oft „ängstlich beteuerte Verhältnis der Egalität und Parität“ zwischen Praktiker und Besucher, die Ablehnung von „konkreten Direktiven, Ratschlägen oder auch nur Vorschlägen“ weit verbreitet. Während der Missbrauch des Beratungsverhältnisses selbstverständlich jederzeit möglich ist und bedauerlicherweise auch vorkommt; während also die Achtsamkeit gegenüber dieser Verzerrung seitens der Beraterin so wie der Ratsuchenden unabdingbar ist, beruht doch der Argwohn gegenüber aller Beratung als Indoktrination, Überfremdung, Bevormundung, Manipulation, und Autonomiefeindlichkeit auf einem nicht reflektierten Vorurteil der Neuzeit. Das Negativbild der Beratung geht von einem – für die Neuzeit charakteristischen – überzogenen Autonomieverständnis und damit von überholten Voraussetzungen aus: Die Verwechslung von Beratung mit einer „paternalistischen Pädagogik“ entspricht einer veralteten „teleologischen Anthropologie“ mit ihren Vorstellungen von „klerikaler Bevormundung“ und „Betreuungsverhältnissen“; auf der Verwechslung von Beratung mit den „strengen Direktiven einer auf Außensteuerung beruhenden Moral“.34 Diesem veralteten Missverständnis von Beratung entspricht auf der Gegenseite das verflachte Verständnis des gegenwärtigen Beratungs- und Coachingbooms: Weder die Verwechslung von Beratung mit Bevormundung, noch ein ausuferndes Expertentum mit seinen eindimensional ergebnis- und lösungsorientierten Angeboten wird dem eigentlichen Sinn von Beratung gerecht. Das Antidot gegen Missverständnisse, ideologische Deformierungen und „Begriffsverwirrungen„ – gegen die „Krankheit“, welche die Philosophie nach Wittgenstein „behandelt“35 – ist Sprachkritik. Denn leere und deformierte Begriffe sind immer mit Störungen des Selbst- und Weltempfindens verbunden. Es legt sich also nahe, die Verwirrungen im Umkreis der für ein richtiges Verständnis von Beratung zentralen Begriffe wie „Autorität“, „Macht“ und „Gewalt“ etwas genauer anzusehen: Thomas Gutknecht macht darauf aufmerksam, dass „Autorität“ von lateinisch „auctoritas“, „auctor“, „augere“ kommt. „Augere“ heißt „vermehren, fördern, bereichern, wachsen lassen“. Das lateinische „auxilium“ – dem das deutsche Wort „Hilfe“ entspricht – ist auch von „augere“ abgeleitet. Wer „auctor“ ist, also Autorität besitzt, ist „Urheber, Schöpfer, Förderer, Mehrer“; jemandem „auctor“ sein hieß raten; hieß „die von einem anderen auszuführende Handlung maßgeblich und wirkungsvoll“, „verantwortungsvoll gutheißen“. Max Horkheimer spricht von „bejahter Abhängigkeit“, Theodor Geiger von „Ansehensmacht“. Echte Autorität „bewirkt freiwillige Unterwerfung unter den helfenden Rat eines anderen im Vertrauen auf dessen Überlegenheit“ und Kompetenzen. Die „höchste Macht34 Ibid., S. 333-338; 323ff.; 353-354. 35 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §123; §255.

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entfaltung geschieht in der Bitte, auf gar keinen Fall im Befehl“; das heißt, dass man sich von dem, der über sie verfügt, „etwas sagen lässt“. Nicht wer „etwas verbieten kann“, hat Autorität, sondern nur, „wer etwas zu bieten hat“36. „Macht“, so Hannah Arendt in ihrem Werk Macht und Gewalt, „entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält“. Die französische Sprache erinnert daran, dass „Macht“ einer „menschlichen Fähigkeit entspricht“: das Wort „pouvoir“ steht sowohl für „Macht“ als auch für „können“. Wer über Macht verfügt, verfügt über die Fähigkeit, Handlungsspielräume zu öffnen, eben „vermehrend“, „fördernd“ und „bereichernd“ zu wirken. Im Gegensatz zur Gewalt, welche zerstörerisch wirkt, indem sie jeden Spielraum zunichte macht, „öffnet Macht den Raum“, in dem überhaupt gehandelt werden kann.37 Das „asymmetrische Verhältnis“ zwischen der Beraterin und dem Ratsucher – „die oft verdrängte Grundstellung Praktischer Philosophie und Lebenspraxis“ – sollte nicht einer „abstrakten Parität und Symmetrie“ geopfert werden. Das „Kompetenz-, Erfahrungs- und Autoritätsgefälle vom Ratgebenden zum Ratsuchenden“ ist ein auf bestimmte Bereiche begrenztes: Was der Praktiker der Besucherin anbietet, ist ein „zu vermittelndes Mehrwissen“ in philosophischen Dingen, ein „Prius und Überhang an philosophischer Reflexion“ – Kompetenzen, die der Besucher einer Philosophischen Praxis zu recht erwarten wird. Dabei verstehen sich Philosophische Praktiker nicht als „Experten“, sondern als selber Suchende und „immerfort Lernende“. Den Ratnehmer ernst nehmen heißt, davon ausgehen, dass „Ratschläge (geben und erhalten) und Autonomie keine Widersprüche sind“.38 Wenn also Macht ein Verhältnisbegriff ist, heißt das, dass die Praktikerin nur insofern Macht besitzt, als dies auch auf den Besucher zutrifft. Dieser hat den Besuch in der Praxis aus freiem Willen, also selbstverantwortlich, gewählt; die Qualität seines Rezeptionsverhaltens und seiner Gesprächspartnerschaft sind ebenso grundlegend für das Gelingen oder Misslingen der Begegnung wie die Kompe36 Thomas Gutknecht: Die beste Art zu lehren - immerfort Lernender bleiben, in: Gutknecht, Polednitschek, Stölzel (Hg.), Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis, 2009; Erich Fromm unterscheidet zwischen einem schädlichen und einem lebensdienlichen Autoritätsverständnis: das „nekrophile“ Verständnis legitimiere Autorität durch Herkunft oder Geschlechtszugehörigkeit, während das „biophile“ Verständnis immer nur begrenzte Autorität „kraft Kompetenz“ zulasse; Man for Himself, 1948 (dt. Psychoanalyse und Ethik). 37 Hannah Arendt, zitiert nach Hans-Martin Schönherr-Mann: Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen, 2008, S. 53; Byung-Chul Han: Was ist Macht?, 2005. 38 Krämer, ibid., S. 323ff.; 333ff; 353ff.

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tenzen der Philosophischen Beraterin. Zudem kann das Verhältnis von beiden Seiten jederzeit gekündigt werden. Der „dogmatische Verzicht auf Beratung“ ist also überholt: er leugnet die Beratungsbedürftigkeit des modernen Menschen; lässt außer acht, dass das Bedürfnis nach Weltanschauung, Orientierung und Beratung in Fragen der Daseinsbewältigung zugenommen hat. Denn in dem Maße, als es in unserer postteleologischen Welt nicht mehr um Entscheidungen „für oder gegen ein bestimmtes vorgegebenes Selbstsein“ vor dem Hintergrund einer absoluten und einhelligen Güter- und Werteordnung mehr gehen kann, müssen Fragen der Lebensführung erneut ins Zentrum der Reflexion und des Gesprächs gerückt werden. Das Schwinden einer objektiven Hierarchie von Werten und Lebenszielen zugunsten einer „Pluralität von Lebenskunstformen und -Lehren“; die Komplexität und Uneinheitlichkeit von Vorstellungen, Welt- und Menschenbildern; die Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsfreiräumen erfordern also gerade ein „Mehr an Aufklärung und Beratung“, und nicht den Verzicht darauf. Zudem gehört die „konsiliatorische Grundstellung“ zur „Definition Praktischer Philosophie und Ethik“: Beratung ist Philosophischer Praxis inhärent. „Keine Ratschläge erteilen wollen heißt, ihre Funktion verfehlen“, nämlich „Praktizierende Praktische Philosophie“, und damit auch „handlungsleitend“ zu sein.39

d) Der Ratschlag zwischen „Direktive“ oder „Weisung“ und „partnerschaftlicher Kommunikation“40 Beratung ist – im Gegensatz zur „tätigen Hilfestellung“ etwa der medizinischen Therapie – „Hilfestellung durch Kommunikation“. Es geht um Klärung und „entscheidungsverbessernde, problemorientierte kommunikative Vorgaben“. Der Ratschlag nimmt „eine mittlere Position“ ein zwischen Direktive und gemeinsamem praktischem Diskurs: Während moralische Weisungen und Direktiven „kategorisch“, also „alternativenlos“ sind, sind Ratschläge „hypothetisch“. Sie gewähren mehr autonome Freiräume als die Direktive oder Weisung, weniger als das „Sich-Miteinander-Beraten“. Ratschläge sind „problemorientiert“, nicht unbedingt „problemlösend“. Besonders in der Philosophischen Beratung sollen Probleme überhaupt als solche allererst in ihrem Kontext erkannt, eröffnet, artikuliert, und neue, unerschlossene Horizonte aufgezeigt werden, welche „über den subjektiven Problemfall hinaus“ weisen. So geht es in der philosophischen Beratung vorrangig um die Stimulierung der „Spontaneität für eigenes Problemlösungsverhalten“ des Ratnehmers und um das Ernstnehmen des eigenen Erlebens. Über die „Klärung von Eigenerfahrung“ hinaus aber geht es um die Vermittlung von Erfahrungen und „Überlegungen, 39 Ibid. S. 94-97; 130; 323ff., 333-334. 40 Ibid., S. 323ff.; 342ff.

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Gedanken, Hypothesen“ Dritter, um das Erschließen „fremder Erfahrungen und Überlegungen“: des schon Gedachten, des großen Reichtums an Bildern, Gedanken und Lebensbewältigungskompetenzen aus Gegenwart und Traditionen. Soweit Philosophische Praxis also Praktische Philosophie ist, „wird sie mit der ‚Praxis‘ Ernst machen müssen“; das aber heißt, dass sie, indem sie im richtigen Sinne berät, auch an die Dimensionen der Anwendung und Einübung heranführt.41

e) „Können“ als „Primärgut gelingenden Lebens“: Die Aktivierung und Einübung von existentiellen Schlüsselkompetenzen – etwa der Selbstdistanzierung, der Selbstfindung, der Entscheidung, der Urteilskraft oder der Sprachkompetenz – und die „Regulierung und Optimierung von Lernund Gewöhnungsprozessen“ nehmen im „professionellen philosophischen Beratungsgespräch ihre optimale und effizienteste Form an.“42 Die Erneuerung der Populärphilosophie ist zwar „durchaus wünschenswert“, jedoch erreicht sie niemals die „methodischen Vorzüge der Philosophischen Praxis“: die „Direktheit, Individualisierung, Langfristigkeit und Gegenkontrolle“ durch „geeignete Vermittler und Berater“. Mit der Rehabilitierung der Beratungsdimension kann die Philosophische Praxis auch der lange zu Unrecht vernachlässigten Übungsdimension wieder ihren Platz im Alltag einräumen. Dass Könnerschaft im Sport und in den Künsten nur durch geduldiges Üben zu erreichen und zu halten ist, scheint jedermann gern zuzugeben; dass es sich bei den – auf den ersten Blick – weniger spektakulären existentiellen Kompetenzen ebenso verhält, widerstrebt dem modernen Autonomieverständnis dagegen eher. Zwar gebrauchen wir noch Redewendungen wie „sich in Geduld üben“ oder „Zurückhaltung üben“. Der eigentliche Gedanke des Übens wird dabei jedoch nicht mehr lebendig. Innehalten, die Geistesruhe erlangen; eine schwierige Wahl treffen; seine Kräfte richtig einsetzen; mit Verlusten umgehen; erlittenes und begangenes Unrecht in den Lebenslauf eingliedern; Reichtum und Glück nicht verschwenden; die Zeit gebrauchen; in den verschiedenen Lebensbereichen angemessen handeln; Wichtiges von Unwichtigem, Verfügbares von Unverfügbarem unterscheiden; sich zu seinen Gefühlen verhalten; mit der inneren Vielstimmigkeit umgehen; die Lüste gebrauchen; Ambivalenzen aushalten .... Dass es sich hier um wünschenswerte Fähigkeiten handelt, würde wohl niemand bestreiten; dass diese Fähigkeiten dem Menschen weder angeboren sind, noch ihm einfach „anerzogen werden“ können oder sich gar „mit dem Alter von selbst einstellen“, dass sie

41 Krämer, ibid., S. 341; 337. 42 Ibid., S. 323ff; 331ff.

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vielmehr geduldig und immer wieder einzuüben sind – diese Tatsache wird gern ausgeblendet. Diesem für das individuelle und kollektive Selbstverständnis verheerenden blinden Fleck kann die Philosophische Praktikerin begegnen, indem sie auf eine reiche Palette von Lebensbewältigungsstrategien der philosophischen Tradition aufmerksam macht; auf den großen Reichtum an Techniken – techné als Kunstfertigkeit, Können und Wissen – welche die Weisen verschiedener Epochen und Kulturen sowie zahlreiche abendländische Philosophen seit der Antike reflektierten und lehrten43. In formaler Hinsicht kann die Philosophische Praktikerin zur Förderung der Reflexionskompetenz beitragen; zur Schärfung der Urteilskraft; zur richtigen Anwendung von Begriffen; zur Unterscheidung von guten und schlechten, gültigen und ungültigen Argumenten, von Sprachebenen; zur Fähigkeit, Implikationen zu erkennen und korrekte Schlussfolgerungen zu ziehen; zur Sensibilisierung für ideologische Formeln, erstarrte Stereotypen, Klischees und leere Rhetorik. Auf der inhaltlichen Ebene lehrt die Philosophie die Offenheit, über verschiedene Welt- und Menschenbilder, schöpferische Konzeptionen, herausfordernde Fragestellungen und unvermutete Lösungsversuche nachzudenken.

5 . „Das Bezugsgew ebe menschlicher Angelegenheiten“ a) „Die Frage der richtigen Lebensführung ist nicht solipsistisch strukturiert: sie ist nur im Medium einer Sprach- und Zeichenwelt darstellbar (und dargestellt).“44 Die Probleme, welche in der Philosophischen Praxis besprochen werden, sind so individuell wie die Menschen, welche sie uns Praktikern vorlegen. Jedoch sollte das, was die Praxisbesucherin mitbringt, nie auf eine „rein persönliche“ oder „rein private“ Angelegenheit reduziert werden. Denn „zum Problem werden“, „zur Sprache kommen“ können Erlebnisse erst im Kontext jener Zeichen- und Bilderwelt, jener Welt des Sinns und der Bedeutungen, welche wir Kultur nennen. Als sprachlich verfasstes Wesen geht der Mensch in der Fülle seines unmittelbaren Erlebens nicht auf; er verwandelt alles, was ihm widerfährt, in Zeichen: Sprache, Symbole, Metaphern; erst Sprache macht mitteilbar, was sonst nur Eindruck – solipsistisch, dumpf und eingesperrt – bliebe.

43 Pierre Hadot, ibid.; Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt 1986; ders.: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004; Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt, 2000. 44 Krämer, ibid., S. 343.

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So muss jeder Einzelne „anknüpfen“ an ein Netz von Bedeutungen, muss „seinen eigenen Faden“ in das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ schlagen. Um sich nicht „in einer Masse unverbundener, zusammenhangloser Daten zu verlieren“, muss es immer wieder gelingen, „einen Ariadnefaden zu finden, der uns durch“ das „Labyrinth“ der überwältigenden Flut von Reizen, Eindrücken und Zeichen leitet“.45 So heißt zur Welt kommen für den Menschen zweierlei: einmal biologisch geboren werden und dann anknüpfen an das Gewebe und Gespinst der Deutungen, welche die spezifisch menschliche Welt ausmachen. Die Metaphern des „Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“ oder der „spinnenden, webenden, zeichenknüpfenden Vernunft“46 machen aufmerksam auf die verbindende Kraft, und damit auf die Verbindlichkeit von Sprache, Bildern, Zeichen. Das Wort „Text“ heißt „Gewebe“: Die „Operationen der zeichenknüpfenden Vernunft“ schaffen ein komplexes Netz von Symbolen – verbal, visuell und akustisch – eine Struktur, welche „lesbar“, „deutbar“, „verstehbar“ ist und in der wir uns sowohl orientieren als auch verirren können. „Sich auskennen“ – so Wittgenstein – können Menschen nur innerhalb des großen Bedeutungszusammenhangs einer Sprach- und Zeichenwelt, in der gedeuteten Welt des Menschen; ohne diese Art der Orientierung sind Menschen verloren. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen erfolgt die menschliche Überlieferung nicht ausschließlich durch genetische Vererbung, sondern durch Sprache, Bilder, Zeichen, eben kulturell. So sind Bildung, Geschichte, Arbeit an der Sprache für den Menschen durchaus schicksalhaft.47

b) „Die Arbeit in der Philosophie ist eigentlich mehr Arbeit an Einem selbst. An der Art, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)“48 Die „Arbeit an Einem selbst“ ist zunächst Arbeit an der Sprache, an der Achtsamkeit auf die Macht von Bildern und Bedeutungen. Die Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen Sprache und Weltbezug bedarf der Schulung und der geduldigen Übung. Sprache wird vorerst als ein neutrales Instrument empfunden, mit dessen Hilfe wir unser eigenes Weltbild zusammen zimmern können; die in der Sprache immer schon enthaltene Weltdeutung wird nicht wahrgenommen. Der Zusammenhang zwischen der „Art, wie man die Dinge sieht“ und dem, „was man von ihnen verlangt“ erschließt sich erst in der reflexiven Distanzierung 45 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, zitiert nach Schönherr-Mann: Miteinander Leben Lernen, 2009, S. 82. 46 Hannah Arendt: Vita Activa, S. 164ff; Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte (1998), S. 309. 47 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen §§ 38, S. 132; Gerald Hüther: Die Macht der Bilder. Wie Visionen das Gehirn und die Welt verändern, 2002. 48 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg. v. G. Henrik v. Wright, 1977, S. 38.

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vom Eigenen. Durch Reflexion erst entsteht der Spielraum, die „Art, die Dinge zu sehen“ und das, „was man von ihnen verlangt“, überhaupt wahrzunehmen, sich in der Distanznahme vom scheinbar Selbstverständlichen Sprache allererst neu anzueignen. Die „Arbeit an Einem Selbst“ steht im Dienste einer neuen Sehweise, einer „Re-Vision“ seiner selbst, seiner Lage und der Welt. So müssen auch die Kompetenzen geduldig eingeübt werden, um die Dinge „anders“ sehen zu können; aufmerksam zu werden auf das, „was man von ihnen verlangt“; und schließlich sogar imstande zu sein, „anderes“ – Vernünftigeres, weniger Überzogenes – von ihnen zu „verlangen“. In den hoch industrialisierten Ländern des Westens scheint eine solche „Re-Vision“ besonders dringlich zu sein. Zahllose Studien belegen49, dass zwischen der Erreichung des „Telos“ der Moderne – ihrer erklärten Ziele des Wohlstands, der Wissenschaftlichkeit und der Freiheit – und der Zufriedenheit der Menschen kein Zusammenhang zu bestehen scheint: das Glücks-, Orientierungs- und Sinnbedürfnis des modernen Menschen bleibt überschwänglich, die Glückssuche geradezu frenetisch. Die Menschen scheinen immer mehr „von den Dingen zu verlangen“, immer weniger das Gefühl zu haben, dass das, was sie bekommen, dem entspricht, was sie „Glück“ nennen würden. Versuchen wir, an einem Beispiel sichtbar zu machen, in welchem Sinne Wittgensteins Arbeit an der Sprache als „Arbeit an Einem Selbst“ den Blick schärfen, das Verständnis für solche Phänomene vertiefen kann50. Mit dem Schwinden der kulturellen Verbindlichkeit der christlichen Weltdeutung ist die Kraft der Symbole, Bilder, Gefühle und Erwartungen, welche im Religiösen Kontext wirkten, noch lange nicht erledigt. So ist etwa das Bild vom Heil auch heute noch hoch wirksam, gerade weil es unerkannt bleibt: Alles Geschehen im Hier und Jetzt ist ein Prozess in Richtung eines höchsten und einzigen Ziels, eben des Heils. Der Sinn dieses Prozesses liegt außerhalb ihm, nämlich in seiner Aufhebung am Ende der Zeiten, im Jenseits. Sinn, so verstanden, überschreitet als absolute Transzendenz alles Diesseitige. Die Abschaffung des Jenseits durch Aufklärung und Moderne bedeutete, dass nun alle Hoffnungen, alle Erwartungen ins Diesseits verlegt wurden. Die Schlüsselbestrebungen der Moderne – Emanzipation von allen geschichtlichen Lebensordnungen, Beherrschung der Natur, Freiheit des Individuums – sind deklarier49 Florian Coulmas: Die Illusion vom Glück. Japan und der Westen, 2009; François Jullien, Sein Leben nähren, abseits vom Glück, 2006. 50 zum folgenden siehe meine Miniatur: „Dann leben wir eben später“. Philosophische Praxis als Schulung der Endlichkeits-Kompetenz. Reflexionen zu einer Zeichnung von Meret Oppenheim, in: Th. Gutknecht, Th. Polednitschek, Th. Stölzel (Hg.): Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis 2009.

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termaßen diesseitig. Zum „nicht deklarierten Gepäck der Moderne“ gehören die „Quellen“ (Charles Taylor) aus denen sie ihre Werte und die Inbrunst schöpft, mit denen sie ihre Ziele verfolgt. Eine dieser nicht erkannten Quellen aber ist das Bild des Heils. Die grenzenlose Inflation der Sinnerwartungen im Diesseits, das, was Hans Blumenberg denn „überschwänglichen Sinn“ nannte, ist eben Ausdruck dieser quasi-religiösen Aufladung des Diesseits, welches nun all das leisten soll, was einst vom Jenseits erwartet wurde. Nun ist der „Wichtigkeitsgewinn des Diesseits“ in der Moderne51 durch den Wegfall des Jenseits sowohl Chance als auch Fluch. Als Chance schafft er die Möglichkeit zu „Biophilie“ (Erich Fromm) und „amor fati“ (Nietzsche, Hannah Arendt): einer Haltung der Weltfrömmigkeit und tiefen Akzeptanz des Lebens mit all seiner Verletzlichkeit, Hinfälligkeit und Sterblichkeit; einer humanistischen Ethik im Dienste des Lebens ohne Rekurs auf ein Jenseits. Zum anderen scheint der „Diesseitsgewinn“ auch einen Fluch zu enthalten: die Dynamik der religiösen Suche nach dem Heil ist zur säkularen Dynamik der rücksichtslosen Verfolgung von Zielen geworden. Man kann die unfassbaren Verwüstungen und Massenmorde des 20. Jahrhunderts als eine Art unbewußter Rache deuten: als „Umschlagen in Weltzorn“ (Hans Blumenberg) der Enttäuschung des modernen Menschen über die Nichterreichbarkeit seiner Absolutheitsansprüche. Dieser Gedanke kann auch ein Licht auf die ökologische Frage werfen. Angesichts des Schwindens von Wesenszielen und absoluten Zwecken in der Moderne ist diese Art von „Arbeit an Einem Selbst“ – als Arbeit an „der Art, wie man die Dinge sieht. Und was man von ihnen verlangt“ – unabdingbar. Es gilt, abzuspecken, sich, was überzogene Sinn- und Glückserwartungen anbelangt, einer „Sinndiät“52 zu unterziehen. In Ermangelung einer vorgegebenen höheren Ordnung mit ihren absoluten Zielen und Zwecken stellt sich die Aufgabe heute anders dar: jeder Einzelne muss seine Ziele im Kontext des menschlichen Bezugsgewebes und im Respons zu schon Gedachtem immer wieder selbst reflektieren, artikulieren und bestimmen. Diese neue Aufgabe ist bescheidener und zugleich sehr viel anspruchsvoller als die traditionelle.

c) „Der Philosoph behandelt eine Frage: wie eine Krankheit.“ „Ich kenne mich nicht aus“ – das ist die „Krankheit“, von der Wittgenstein spricht. Das gemeinte Orientierungsdefizit ist ein sprachliches, jedoch kein rein verbales: Begriffsverwirrungen beeinträchtigen das Selbst- und Weltempfinden, sind Störungen in der Auseinandersetzung mit dem Begegnenden.53 Denn Wörter 51 Odo Marquard: Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie, in: H. Lübbe (Hg.), Wozu Philosophie? 1978. 52 Odo Marquard: Zur Diätetik der Sinnerwartungen, in: Apologie des Zufälligen, 1986. 53 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen §255; §§ 38,132; s.a. Schneider, S. 6.

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leisten wichtige „Arbeit“ innerhalb des Symbol- und Bedeutungsnetzes der menschlichen Angelegenheiten. In den „richtigen“ Bereichen dieses „Bezugsgewebes“, dort, wo sie hingehören, „arbeiten“ die Wörter, das heißt, sie stellen Zusammenhänge her, transportieren verstehbare und mitteilbare Bedeutungen, gewährleisten Verbindlichkeit und Orientierung, stiften Sinn. In Bereichen jedoch, wo sie nicht hingehören, „feiern“ die Wörter: sie liegen funktionslos herum, stiften Unordnung, Unsinn und Verwirrung, etwa indem sie stillschweigende Botschaften vermitteln, die, von niemandem bemerkt, umso wirkungsvoller sind. „Sinnloses sagen“ heißt hier also beispielsweise: Den Grenzen der Übertragbarkeit von Metaphern gegenüber blind sein. Dass diese Art von „Sinnlosigkeit“ in bestimmten Zusammenhängen eine „Krankheit“ ist, soll an drei gegenwärtig aktuellen Beispielen verdeutlicht werden. 1. Der viel zitierte Satz eines populären Hirnforschers lautet: „Wir sollten endlich aufhören, von Freiheit zu sprechen; denn unsere Verschaltungen legen uns fest.“ Die Übertragung, welche hier vorgenommen wird, ist eine aus dem „Bereich einer zweckgerichteten, handwerklich-technischen Erzeugungspraxis von Artefakten auf natürliche Objekte wie Zellen und ihre Fortsätze.“ Die Rede von den „Verschaltungen der Neurone“ – die Behauptung, dass „Menschen von Natur aus verschaltet“ sind – erinnert an „die Rede der Elektriker, die von Schaltplänen mit Leitungen, Verdrahtungen und weiteren Komponenten handelt. ... Wichtig ist die elektrotechnische Metaphorik insofern, als sie die Assoziation befördert, die Hirnforschung fände Schaltpläne im Gehirn heraus.“ So sind gemäß dieser Metaphorik „die Kaskaden durchlaufender elektrischer Impulse“ durch den „Verschaltungsplan“ des Gehirns „genau so festgelegt wie ein Leitungsnetz nach einem bestimmten Schaltplan“. Die „stillschweigende Botschaft“, welche dieses Bild mit transportiert, ist die Vorstellung der „Festlegung unserer hirngesteuerten Handlungsweisen“.54 Es ist eine krankmachende Botschaft weil sie – ganz abgesehen davon, dass sie unhaltbar ist – das Selbstempfinden vieler heutiger Menschen zutiefst verunsichert, indem sie das heute für die Lebensführung unabdingbare differenzierte Verständnis von Freiheit blockiert.55 2. „Beschleunigung“: Der Begriff der Beschleunigung hat seinen Ursprung in der klassischen Mechanik von Galilei und Newton. Er bezeichnet eine präzise und messbare Größe: Einen „pro Zeiteinheit gemessenen Wert, in dem sich die Größe

54 P. Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 2009, S.61f. 55 Als Antidot gegen den Mythos der „Festlegung“ siehe Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit (2001).

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einer auf einen Körper einwirkenden Kraft ausdrückt.“ Im Kontext der klassischen Physik wurden die Bewegungen der Gestirne zu einer berechenbaren Himmelsmechanik; für die Bewegungen des Alltags jedoch hatte diese Berechnung vorerst wenig Bedeutung. Dies änderte sich, als Voltaire sich mit den Theorien Newtons auseinander zu setzen begann und die Übertragung des Begriffs der Beschleunigung auf die menschliche Geschichte vornahm. Das Anliegen des Aufklärers war es, den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) – eben die Aufklärung – zu beschleunigen, denn der „Fortschritt der Menschheit“ konnte nicht der Trägheit des Weltlaufs überlassen werden.56 3. Ein drittes Beispiel sei die sogenannte „Finanzkrise“. Dieter Thomä57 macht darauf aufmerksam, dass der gegenwärtig geradezu pandemisch verbreitete Ausdruck verschleiert, worum es sich bei diesem Phänomen tatsächlich handelt: nämlich um das „massenhaft unverantwortliche Handeln so genannter Leistungsträger, die sozusagen gar nicht mehr wussten, wie Verantwortung geht. Mit Wittgenstein könnte man sagen, diese „Leistungsträger“ beherrschen das „Sprachspiel“ der Verantwortung nicht; in den Kontexten, in denen sie das Wort verwenden, „arbeitet“ das Wort nicht, es „feiert“. Das heißt, sie verwenden das Wort unter Ausblendung dessen, was es impliziert: nämlich eine handelnde Person, welche sich erinnert und welche die Folgen ihres Handelns sich selbst zurechnet – auch die nicht beabsichtigten. Worum es also in Wahrheit geht, ist eine Verantwortungskrise, eine Störung der Fähigkeit, den Begriff der Verantwortung zu verstehen, und also auch Verantwortung zu erleben. Die „Sprache des Erlebens“ nicht „beherrschen“ heißt, nicht „differenziert empfinden“ können.58 Bei allen drei Beispielen – den „Verschaltungen der Neurone“, der „Beschleunigung“ und der „Finanzkrise“ – handelt es sich um Übertragungen aus dem Bereich der unbelebten Materie auf den Bereich des Denkens, Handelns und Fühlens; in allen Beispielen verschwindet das handelnde Subjekt als Entscheidungs- und Verantwortungsträger hinter anonymen Abläufen und Funktionen. Diese Art der Verdinglichung und Anonymisierung stört das Selbst- und Weltempfinden des Menschen in unserer Zeit zutiefst. Wörter, die „feiern“ statt zu „arbeiten“, deformierte Symbole, fehlerhafte Konzepte, nähren – wenn unerkannt – den individuellen und den kollektiven Wahn. Aus dieser Perspektive betrachtet gehört Sprachkritik zu den „Therapien“, welche nach Wittgenstein die „Methoden der Philosophie“ sind.59

56 Lothar Baier: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung 2000, S. 16ff.; Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, 1986, S. 219. 57 Rede und Antwort stehen. Die Finanzkrise läßt sich auch als Verantwortungskrise begreifen. Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2009. 58 Peter Bieri in den erwähnten Thesen zur Bildung. 59 Philosophische Untersuchungen, §133.

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d) „Der Zusammenbruch des Symbolischen“ „Der Anblick des Menschen macht müde ...“ Nietzsche

Deuten ist eine Fähigkeit „des menschlichen Geistes, ohne die der Mensch zu keiner kohärenten Sicht der äußeren und seiner eigenen inneren Wirklichkeit käme.“ Es heißt ursprünglich nichts anderes als „mit dem Finger auf etwas zeigen, den Blick auf etwas anderes richten, als was gerade das Blickfeld beherrscht. Man sieht dann neue Dinge, oder Dinge neu, oder was am Rande des Blickfelds war, tritt ins Zentrum.“ So „verleiht Deuten Bedeutung und verändert die Sicht der Wirklichkeit, fügt Getrenntes zusammen, integriert einzelne Elemente zu einem Gesamtbild. Das Gesamtbild lässt wiederum einzelne Elemente in neuem Licht erscheinen. Deuten heißt eine Sache einkreisen und ist ein Prozess, der nie zu Ende kommt.“60 Wenn die Urteile einiger der bedeutendsten Medizinsoziologen, Psychologen, Psychoanalytiker, Neurowissenschaftler und Bildungsforscher zutreffen, scheint heute eben diese Fähigkeit des Deutens und „Sinn-Machens“ gefährdet. Die Fähigkeit, Erleben in Bilder und Sprache zu verwandeln, sich an kulturellen Bedeutungszusammenhängen zu orientieren, sich als mitwirkend im Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten zu erfahren – die deutenden und narrativen Kompetenzen – seien bei vielen Menschen, so lauten die Verdikte, stark eingeschränkt. „I think the crisis we are living through is deeper than anything since the beginning of our era, the beginning of Christianity...“sagte die Psychoanalytikerin Julia Kristeva in einem Gespräch in der Tate Gallery in London. Was vor dreißig, vierzig Jahren noch den Psychosen vorbehalten gewesen sei: die Unfähigkeit, Metaphern und Symbole zu „lesen“, einzuordnen oder selbst zu bilden; die Gefährdung der Grenze und des Austauschs zwischen innen und außen; die Unfähigkeit, zwischen Selbst und Nicht-Selbst, Zeichen und Realität zu unterscheiden, sei heute „an increasingly common symptom.“

Das Wort Metapher heißt „woanders hin tragen“: es weist auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes hin, „den Blick auf etwas anderes zu richten, als was gerade das Blickfeld beherrscht“, sich nicht vom Unmittelbaren vereinnahmen zu lassen, sich vielmehr deutend von ihm zu distanzieren und damit jene Differenz zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu schaffen, welche die Voraussetzung für die Beziehung zu einem Anderen ist und dafür, Erleben zu einer symbolischen Ordnung zusammenfügen. Durch den „Verlust der Symbolisierungsfähigkeit“, so der Psychoanalytiker André Green, werde alles gleich-gültig und damit „bedeutungslos... das Individuum fällt aus der Welt des Symbolischen und damit aus der Beziehung zu seinem Anderen heraus“. Das Individuum wird „zum Objekt im Sinne 60 Heinz Müller-Pozzi: Psychoanalytisches Denken. Eine Einführung, 2002, S. 40.

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einer Sache“, „identisch“ mit seinem Leiden, unfähig zur Distanzierung und also dazu, sein Erleben in Worte und Bilder zu fassen, „eine Geschichte darüber zu erzählen“.61 Der Medizinsoziologe Alain Ehrenberg spricht in der Einleitung seines Buches „Das erschöpfte Selbst“ vom „Zusammenbruch des Symbolischen“ und zitiert das Fazit vieler Psychoanalytiker und Psychotherapeuten: „Wie sollen wir wissen, um was für ein Leiden es sich handelt, wenn die Bilder und Worte fehlen, es zu beschreiben?“62 Ähnlich eindringlich warnt der Neurobiologe Gerald Hüther davor, Bildung durch Ausbildung – das Herantrainieren marktkompatibler Leistungsträger – zu verdrängen. Die Gefahr einer biologischen und emotionalen Regression – so Hüther – sei sehr ernst zu nehmen. Denn nur die kulturelle Überlieferung enthalte das, woran Menschen sich orientieren können: die Vor- und Leitbilder, von denen wir ausgehen, die wir annehmen oder verwerfen, in deren Kontext wir allererst zu Personen werden, die sich selbst ein Bild zu machen imstande sind. „Menschen ohne Orientierung stiftende innere Leitbilder sind verloren. Um sich in der Vielfalt der auf sie einprasselnden Wahrnehmungen und der vom Gehirn erzeugten Bilderwelten zurechtzufinden, bleibt ihnen am Ende nur eine Möglichkeit: Sie müssen sich wieder stärker auf das verlassen und sich an dem orientieren, was schon ihre tierischen Vorfahren durchaus erfolgreich benutzt hatten, um sich im Leben zurecht zu finden“: sie werden „zurückgreifen auf alte, nicht kulturell, sondern biologisch überlieferte“ und sehr früh im Hirn herausgeformte „Instinktprogramme“; ihnen bleibt nichts als der Regress auf „frühe Kindheitserfahrungen“ oder „angeborene Triebstrukturen“. Der „Schatz der inneren Bilder“, so Hüther, sei „vielleicht das Wertvollste, was wir besitzen“. Dieser „Schatz“ dürfe keinesfalls zu Schaden kommen, müsse gepflegt, immer wieder erneuert werden: denn es sind die überlieferten Metaphern und Symbole der Menschheit, welche für Menschen „Sinn machen“, das, woran Menschen sich orientieren können. 63 Von der Gefahr der Regression – der Möglichkeit, dass ein „phylogenetischer Prozess“, der sich „über Millionen von Jahren entwickelt“ hat, „rückgängig“ gemacht werde – ist auch bei der Bildungsforscherin, Literatur- und Neurowissenschafterin Maryanne Wolf die Rede:

61 „Alles Leid wird erträglich, wenn man eine Geschichte darüber erzählen kann.“ Hannah Arendt beruft sich in der Vita Activa auf die dänische Schriftstellerin Isaac Dinesen. 62 Julia Kristeva: in einem Gespräch anlässlich der Ausstellung ,Rites of Passage’, Tate Gallery, London, 2005; s. auch ihr Buch Les Nouvelles Maladies de l’Âme, 2001; André Green spricht von „Desobjektalisierung“ und „Desubjektalisierung“, zitiert nach Heinz Müller-Pozzi: Eine Triebtheorie für unsere Zeit, 2009; Alain Ehrenberg: La fatigue d'être soi (deutsch: „Das erschöpfte Selbst“, 2004). 63 Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, 2006, S. 39.

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Eines Tages, so erzählt die Wissenschafterin, habe sie mit Schrecken festgestellt, dass sie „nicht mehr lesen konnte“: „Ich las zwar“, aber „wie eine Maschine, wie ein Prozessor, ohne Gefühl, ohne Phantasie. Es war ein Schock.“ Durch die eigene Erfahrung sensibilisiert, spezialisierte sich Wolf auf Bildungsforschung, besonders auf das Lesen. Die Forscherin kam zum Schluss, dass heute fast ausschließlich „informationelles Lesen“ („digital reading“) gelehrt, geübt und praktiziert werde. Dabei gehe es nur noch darum, möglichst schnell möglichst viele Informationen aufzunehmen. Dieses eindimensionale rein „informationelle Lesen“ jedoch lasse Geist, Gehirn, Emotionalität und Imagination in einer Weise verkümmern, welche uns erschrecken müsste, wären wir zum Eingeständnis bereit. Das „digitale Gehirn“ („digital brain“), so die Forscherin, würde das „klassische Lesegehirn“ langsam verdrängen. Denn die Fähigkeit, angeregt durch die Metaphern und Symbole der Mythen und Märchen, durch das Lesen von Texten der Weltliteratur, der Philosophie und von Biografien eine „eigenständige symbolische Ordnung bilden“ zu können, sei nichts „Natürliches“, sondern etwas „Kultürliches“. Diese Kompetenz müsse ständig praktiziert und geübt werden, wenn sie nicht verkümmern solle. Dem „digital brain“ – einer gut funktionierenden „Maschine“ – werden Worte zu „Spielmarken“: dieser Maschine gilt nur das als wirklich, „was wir durch die Dinge erreichen können“, nicht die Dinge und das Erleben selbst. Worte als „Spielmarken“ instrumentalisieren sowohl die Dinge wie das Erleben; sie entbehren der Anschaulichkeit ebenso wie der Kraft, die Begriffs- und Sinnfäden der Sprache in einen verstehbaren Zusammenhang zu bringen. Das digitale Gehirn benützt die Welt; Welt zu stiften vermag es nicht.64 Das Antidot gegen das Verkümmern des Menschlichen sei „vertieftes Lesen“ („deep reading“), „jener phantasiebildende, freudvolle Lesestil“, welcher „die ganze Person betrifft“ und dessen „intellektuelle Spannung darin liegt, immer weiter über die Bedeutung des Autors hinauszugehen und eine eigene Welt der Vorstellung und Einsicht aufzubauen“, seine eigenen Geschichten zu erzählen. Mit dem Schwinden der Fähigkeit, „vertieft“ zu lesen, der Lust, durch Berührung mit anderen Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen den eigenen gedanklichen, emotionalen und imaginären Resonanzraum zu aktivieren, verschwinde auch die „Aktivierung“ gewisser „semantischer Systeme“, welche zur „Erweiterung unserer biologischen, intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten“ beitragen. So wären „deep reading“ und das Erzählen von Geschichten jenes „die Zeit durchquerende Verfahren des Zusammenhaltes, das weit auseinander liegende ...

64 Maryanne Wolf: „Ist unser Gehirn in Gefahr, Mrs. Wolf?“, ein Gespräch mit Thomas Thiel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 2009; zur Instrumentalisierung von Sprache und zu den „Spielmarken“ siehe Charles Taylor, ibid., S. 797.

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Augenblicke in der Erinnerung miteinander verbindet“, von dem Proust spricht. Es beruht auf der Einsicht, dass nur durch Anknüpfen der Faden weiter gesponnen, Zusammenhang geschaffen, „dem Leben Sinn gegeben werden kann.“ Proust versuchte „die Wiedergewinnung der Vergangenheit“, um „der Vergeudung der Zeit Einhalt“ zu bieten.65 Was wir Philosophische Praktiker – angeleitet von Proust und über ihn hinausgehend – versuchen sollten, ist die Wiedergewinnung des Symbolischen durch Ermunterung zur Artikulierung des eigenen Erlebens, zum Erzählen von Geschichten, zum Lesen und Interpretieren von Texten, zum Betrachten und Deuten von Bildern und zum Gedankenaustausch im Gespräch, um der Bedrohung des Menschlichen „Einhalt zu bieten“.

6. „Nicht sehr verlässlich zu Haus“ Als professionelle philosophische Unterstützung bei der „Arbeit an Einem Selbst“ ist Philosophische Praxis der Versuch, zur Selbstbestimmung, Weltorientierung, Aufklärung, Artikuliertheit, Metaphernfähigkeit und zur moralischen Sensibilität vieler spätmoderner Einzelner beizutragen. Ihre Methoden – als Arbeit am historischen Bewusstsein und an der Sprache, als Bild- und Texthermeneutik – orientieren sich am ursprünglichen Wortsinn von „Methode“: nicht effiziente Mittel zur Erreichung irgendwelcher vorgegebener Ziele; nicht ergebnis- und lösungsbeflissene Strategien; nicht Anleitung zu reibungslosem Funktionieren wollen sie sein. Vielmehr versuchen sie, Erstarrungen zu lösen, Blockaden zu beheben, Entwicklungen in Gang zu setzen, zu vivifizieren, indem sie den Einzelnen ermuntern, sich auf seine Weise „auf den Weg zu machen“, „unterwegs zu sein“ – und das heißt auch: Auf alle abschließenden Erklärungen, alle Festlegungen zu verzichten. Es geht um den Versuch, angesichts des Schwindens der Überzeugungskraft totaler Weltdeutungen – des „ganz großen Sinns“ – nicht in die Reduktionismen des Naturalismus und in die Dimensionslosigkeit des Funktionalismus zu verfallen; der Versuchung zu widerstehen, durch maßlosen Konsum und ausuferndes Glücks- und Herrschaftsstreben die Nichterfüllbarkeit metaphysischer Sehnsüchte zu kompensieren. Die Methoden Philosophischer Praxis fordern dazu auf, sich auf einen Prozess einzulassen, welcher uns lehrt, „die Dinge“ anders zu „sehen“, anderes „von ihnen“ zu „verlangen“. An das Netz von Zeichen und Bedeutungen anknüpfend – an schon Gedachtes, schon Gedeutetes – tragen die Methoden Philosophischer Praxis dazu bei, nicht in der Sprachlosigkeit zu erstarren, sondern dem viel beklagten Orientierungs- und Sinndefizit zu begegnen, indem sie „Sinn“ nicht als „Heil“, sondern als Zusammenhang sichtbar werden lassen. Sie erinnern daran, „dass zum Blick nach vorne auch der Blick zurück gehört, dass das, was kommt, 65 Proust: „A la recherche du temps perdu“; s. Taylor, ibid., S. 804.

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mit dem, was war, in Zusammenhang steht, dass Geschichte und Gedächtnis das Fundament dessen sind, was in der Zukunft geschieht.“66 Als Ermunterung zur philosophischen Skepsis – das Wort „Skepsis“ heißt „spähen“, „genau hin sehen“ – schärfen die Methoden Philosophischer Praxis den Blick für Deformierungen, Verwirrungen, Widersprüche, Verzerrungen und Verblendungen aller Art; sie sensibilisieren für jene „Krankheit“ des Sprachgebrauchs, welche nur durch Aufmerksamkeit auf Sprache zu therapieren ist. Sie fordern auf zum Verzicht auf den Absolutheitsanspruch von Weltdeutungen. Zugleich appellieren sie an den Mut, die Welt schaffende und Welt erschließende Kraft des Deutens und Erzählens, die schöpferische Arbeit an der Sprache und der Metapher nicht preiszugeben. Denn „wer den Faden nicht weiterspinnt, verdirbt das ganz Geflecht“ (Konfuzius). So kann das Schwinden des „ganz großen Sinns“ auch anders gedeutet werden: nicht als Verlust, sondern als „Entlastung vom Absoluten“ (Hans Blumenberg). Auf diese Weise „entlastet“, gewinnt der Mensch den Spielraum für eine spätmoderne „Arbeit am Selbst“. Denn geht es heute nicht darum, sich in den existentiellen Kompetenzen zu üben, um, wenn schon „nicht sehr verlässlich zu Haus“ zu sein „in der gedeuteten Welt“, so doch vielleicht – diese Unverlässlichkeit akzeptierend – verträglichere und freundlichere Gäste auf diesem Planeten zu werden? „Die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt.“ 67

Literatur Es folgt eine Bibliografie zum vorliegenden Essay und zugleich eine Auswahl aus dem breiten Spektrum von Texten, welche in der Philosophischen Praxis gelesen, erläutert und besprochen werden:

Julia Annas: The Morality of Happiness, Oxford 1993. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1977. Lothar Baier: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung, 2000. Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? in: NZZ am Sonntag, 6.11.2005. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, 2001. Hans Blumenberg: Nachdenklichkeit, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch, Heidelberg 1980. 66 Theodora Vischer: Prolog zum Schaulager-Heft: Holbein bis Tillmans, Basel 2009. 67 Erste der Duineser Elegien.

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Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, 1986. Gernot Böhme: Ethik der leiblichen Existenz, Frankfurt 2009. David E. Cooper: A Philosophy of Gardens, Oxford 2006. Florian Coulmas: Die Illusion vom Glück. Japan und der Westen. Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens, Berlin 2008. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt 2004. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt 1986. Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen 1981-1982, Frankfurt 2004. Thomas Gutknecht: Die beste Art zu lehren – immerfort Lernender bleiben, in: Gutknecht, Polednitschek, Stölzel (Hg.): Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis, Münster 2009. Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und Moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt 2002. Byung-Chul Han: Was ist Macht? Stuttgart 2005. Richard Harrison: Gardens, London 2009. Jeanne Hersch: Das philosophische Staunen. Einblicke in die Geschichte des Denkens. München 1981. Kurt Hübner: Aufstieg vom Mythos über den Logos zur Wissenschaft? Eine wissenschaftstheoretische Frage, München 2003. Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, 2006. Peter Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt 2009. François Jullien: Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen. Vortrag vor Managern, 2006. François Jullien: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück, 2006. Hans Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt 1992. Julia Kristeva: Of Word and Flesh. An Interview with Julia Kristeva by Charles Penwarden, in: Katalog zur Ausstellung 'Rites of Passage', Tate Gallery, London 2005. Julia Kristeva: Les Nouvelles Maladies de l'Âme, 2001. Odo Marquard: Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie, in: H. Lübbe (Hg.): Wozu Philosophie? 1978. Odo Marquard: Zur Diätetik der Sinnerwartungen, in: Apologie des Zufälligen, 1986. Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte, München 1998. Alasdair McIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory, London 1982. Heinz Müller-Pozzi: Psychoanalytisches Denken. Eine Einführung, 2002. Heinz Müller-Pozzi: Eine Triebtheorie für unsere Zeit. Sexualität und Konflikt in der Psychoanalyse, 2009.

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Martha Nussbaum: Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz, in: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt 1988. Dieter Thomä: Rede und Antwort stehen. Die Finanzkrise lässt sich auch als Verantwortungskrise begreifen, in: Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2009. A. Pieper und U. Thurnherr: Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998. Richard Rorty: Toward a post-metaphysical Culture, in: Philosophers in Conversation, New York 2002. Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt 1978. Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt 2000. Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt 1998. Hans Julius Schneider: Der Philosoph behandelt eine Frage – wie eine Krankheit, in: Schobert und Schobert (Hg.), Kirche-Ethik-Öffentlichkeit 2002. Hans-Martin Schönherr-Mann: Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen, 2008. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt 1992. Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, 2007. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1979. Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlas, hg. v. G. Henrik v. Wright, 1977. Maryanne Wolf: Ist unser Gehirn in Gefahr, Mrs. Wolf? Ein Gespräch mit Thomas Thiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 17. Oktober 2009. Michael Zdrenka: Konzeptionen und Probleme der Philosophischen Praxis. Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis, Band 4, Köln 1997.

Die Philos ophisc he Prax is – Entstehung, internationale Verbreitung und he utiger Sta nd DETLEF STAUDE

Abstract Der folgende Beitrag informiert über die Geschichte der Philosophischen Praxis, ihre Entwicklungsrichtungen und die Hauptäste ihrer Spielarten. Wichtige Personen in diesem Zusammenhang werden dabei ebenso erwähnt wie Gesellschaften für Philosophische Praxis weltweit und deren gegenseitiger Austausch. Er vermittelt so Philosophischen Praktikern und an der Philosophischen Praxis Interessierten einen ungefähren Eindruck von der Vielfalt der Philosophischen Praxis.

Die Wurzeln der Philosophischen Praxis Ist philosophisch zu denken elitär, etwas für wenige, die erst nach sorgfältiger Schulung und Übung Einsicht zu gewinnen vermögen? Und dient es dann lediglich zur Erbauung dieser intellektuellen Elite in ihren Mußestunden? – Oder ist es Allgemeingut? Und hat das Philosophieren sogar darüber hinaus weltveränderndes Potential? Oder zumindest lebenspraktische Relevanz? Diese grundsätzlichen Fragen sind alt, Gegenstand und Bedeutung des Philosophierens waren immer umstritten. Stets neu diskutiert wurde ebenso, was zum Philosophieren dazugehöre oder dessen Kern ausmache. Philosophie wurde immer als vielerlei verstanden, und in der Philosophischen Praxis ist es ebenso. Und gerade weil sie Philosophische Praxis ist, wird auch in ihr immer wieder diskutiert werden, was das eigentlich Philosophische an ihrer Praxis ist. Die Idee zur Philosophischen Praxis reifte zu Beginn der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in einem geistigen Klima, das aus den Nachwehen der 68er-Bewegung vom Elan der Marxschen Pro-vocation geprägt war: „Die Philosophen haben die Welt nur

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verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“1 – Wenn wir die Geschichte anschauen, ist es zwar unstimmig zu behaupten, Philosophie hätte die Welt nicht verändert. Dennoch schien Philosophie als akademische Veranstaltung im Elfenbeinturm vielen Philosophen der damaligen, vom Klima konkreter Veränderungen geprägten Zeit, keine erstrebenswerte Perspektive zu sein. Philosophie hatte doch mit dem Leben zu tun, musste wieder, wie zur Zeit der Sophisten und von Sokrates, auf den Marktplatz! Das Philosophieren durfte nicht Beschäftigung einer Elite sein, sondern sollte sich in der Gesellschaft verbreiten und zu konkreten Veränderungen beitragen. Diese würde so – Schritt für Schritt – philosophischer, d.h. in der Breite vernünftiger in einem tieferen, nicht nur rationalistischen Sinn. Und die Philosophischen Praktiker würden in ihrem Philosophieren geerdeter, stärker geprägt von den Fragen des alltäglichen Lebens und der Gesellschaft. So war die Ausgangslage in Europa, als die Philosophische Praxis aus der Studentengeneration der 60er- und 70er-Jahre, die stark durch die Frankfurter Schule, durch Sartre und Foucault geprägt war, zu Beginn der 80er Jahre (neu) entstand. Sie konnte sich dabei auf Philosophen wie Hadot und Foucault berufen, welche die Askesis, die Übung, und im Falle der Philosophie die geistige Übung als wesentliche Komponente in den Philosophischen Schulen der Antike wiederentdeckt hatten. Vernunft und philosophisches Bewusstsein waren also nicht einfach da, sondern mussten geübt werden, auch gesellschaftlich.

D i e An f ä n g e d e r P h i l o s o p h i s c h e n P r a x i s 2 Derjenige, der zu Beginn der Achtziger Jahre diesen Begriff prägte und durch die Gründung einer Philosophischen Praxis, durch entsprechende theoretische Schriften und schließlich durch Konferenzen und die Gründung der GPP (Gesellschaft für Philosophische Praxis) diesen neuen Ideen einen Focus gab, war Gerd B. Achenbach (www.achenbach-pp.de). Achenbach, der 1981 seine Philosophische Praxis eröffnete, war zwar der wichtigste und konsequenteste, aber nicht der einzige Philosoph, der sie in jener Zeit propagierte. Bereits 1980 erschien ein Aufsatz des Beraters Seymon Hersh „The Counseling Philosopher“. Und in den USA hatte es auch schon zuvor Ansätze in eine ähnliche Richtung gegeben, z.B. von der existenziellen Psychoanalyse her beim Philosophischen Praktiker J. Michael Russell (http://jmichaelrussell.org). Ebenfalls zu Beginn der Achtziger Jahre eröffneten Joachim Koch (www.philosophers-today.com), Alexander Dill 1 2

K. Marx (1845),Thesen über Feuerbach. MEW 3, S. 7. Mit guten Gründen kann man die Ursprünge der Philosophischen Praxis zurück in die sophistische Bewegung der griechischen Antike verfolgen und die Stoiker und Epikureer hinzufügen. In dieser Einführung in ihre Geschichte beschränke ich mich allerdings auf die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und lasse auch das in den Zwanziger Jahren in anderen Zusammenhängen entstandene Sokratische Gespräch weg.

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(www.philosophieundwirtschaft.de), Steffen Graefe, Günter Witzany (www. mitdenker.at) und Otto Teischchel (www.teischel.com) ihre Philosophischen Praxen. Um Achenbach, der bereits 1982 die GPP (Gesellschaft für Philosophische Praxis) gegründet hatte, blieb das Zentrum der neuen, vielfältigen Bewegung, vor allem im deutschsprachigen Bereich. Die GPP wurde 1997 in Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGGP, www.igpp.org) umbenannt, deren Präsident Achenbach bis 2004 blieb. Danach wurde Thomas Gutknecht Präsident der IGPP, woraufhin Gerd Achenbach die GPP (www.g-pp.de) wiederbelebte und dort nun weiterhin Präsident ist. Dem internationalen Anspruch beginnt die IGPP seit kurzem immer mehr gerecht zu werden.

Der erste „Boom“ Philosophischer Praxis Die spannendste Zeit in der Geschichte der Philosophischen Praxis ist wohl diejenige vom Ende der Achtziger Jahre bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend. Hier fand eine stürmische Entwicklung und Ausdehnung statt. Man begann die Philosophische Praxis immer häufiger öffentlich wahrzunehmen, die von Marc Sautet angestoßene Bewegung der Philosophischen Cafés kam hinzu. Mit „Sophies Welt“ avancierte ein Philosophiebuch in Romanform zum Bestseller und zog viele auf ein breites, philosophieinteressiertes Publikum ausgerichtete Veröffentlichungen nach sich. In den letzten Jahren schließlich setzte die Konsolidierung ein, und auch auf dem Buchmarkt finden die Themen „Philosophie“ und „Philosophische Praxis“ nicht mehr eine ähnlich breite Aufmerksamkeit wie in den Boomzeiten.

Die frühe Internationalisierung der Philosophischen Praxis Gegen Ende der 80er-Jahre begann die Internationalisierung der Philosophischen Praxis, besonders in Holland, dann in Israel und den USA, schließlich in anderen Ländern auf allen Kontinenten. Wie bei solcher Vielfalt normal, führte die Internationalisierung und Vermehrung der Philosophischen Praktiker zu unterschiedlichen Gesellschaften weltweit, verbunden mit vielfältigen Ansätzen bis hin zu einer drohenden Unübersichtlichkeit. Dieser Entwicklung versuchte man schon frühzeitig zu begegnen mittels internationaler Kongresse. Der erste fand, von Lou Marinoff (www.loumarinoff.com) und Ran Lahav (www.trans-sophia.net) vorbereitet, 1994 in Vancouver statt (‚First International Conference on Philosophical Counseling‘), darauf folgten etwa alle zwei Jahre weitere Internationale Kongresse in verschiedenen europäischen Ländern. Die Stärke der Bewegung in Europa und Nordamerika sollte einen allerdings nicht die Schwierigkeit vergessen lassen, über große Distanzen und Sprachgrenzen hinweg intensiveren Kon-

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takt zwischen einer größeren Zahl von Praktikern in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten aufrechtzuerhalten. Der Wille, dieser Herausforderung entgegenzutreten, ist jedoch deutlich: Die internationalen Kongresse sind trotzdem durch Besucher vieler Weltgegenden geprägt, und der nächste Internationale Kongress für Philosophische Praxis wird in an der Kangwon National University (www.kangwon.ac.kr) in Südkorea stattfinden und somit die Möglichkeit bieten, eine neue Weltgegend in die Entwicklung dieses professionellen und geistigen Anliegens besser einzubeziehen. In gemeinsamen Büchern, auf einem Blog (http://groups.yahoo.com/group/phil-counsel/) oder mit gegenseitigen Einladungen zu kleineren Veranstaltungen werden diese Kontakte ebenfalls gepflegt. In den ersten beiden Jahrzehnten stand die Philosophische Praxis weitgehend unter dem Zeichen der Philosophischen Beratung. Auf diese und deren Methodologie konzentrierte sich auch intensive Entwicklung in den Niederlanden, dem Land, in dem die 2. Internationale Konferenz stattfand. Die Methoden, die Qualifikation und die Rolle des Beraters sowie die Frage der Theorie standen im Mittelpunkt der Diskussion.3 Hier thematisierte man bereits zu Beginn der Neunziger Jahre die Frage nach der Notwendigkeit einer fundierten Ausbildung in Philosophischer Beratung und bot entsprechende, praxisorientierte Einführungskurse an. Getragen wurde diese Entwicklung ab den Achtzigern von Ida Jongsma (www.hotelfilosoof.nl), Dries Boele (http://home.kpn.nl/boele097), Ad Hoogendijk, Eite Veening und Will Gerbers. Sehr früh wurde bereits die vereiniging for filosophische praktijk (vfp; www.verenigingfilosofischepraktijk.nl) gegründet. Neben der Beratung standen in dieser frühen Zeit Angebote für die Wirtschaft, für die Verwaltung und zum Teil für die Politik im Mittelpunkt der Arbeit einiger Philosophischer Praktiker. In der 2. Hälfte der Achtziger Jahre kamen in den USA neue Ideen Philosophischer Praxis zum Vorschein, zunächst unabhängig von den europäischen Entwicklungen wie bei William Angeletts „Ontischer Therapie“, dann, zu Beginn der Neunziger, inspiriert durch die israelische Philosophische Praktikerin Shlomit Shuster (http://sites.google.com/site/thephilosophicalcounselingweb). Sie orientierte sich an Achenbach und bietet in Ergänzung zu ihrer 1989 eröffneten Praxis seit 1990 einen nicht-kommerziellen Telefondienst – philosophone – als „ErsteHilfe-Anschluss“ und für Informationen zur Philosophischen Praxis an. Die Entwicklungen in Israel und den USA blieben in der Folge eng verknüpft. Im Jahre 1996 wurde ‚The Israel Society for Philosophical Practice and Counseling‘ (http://sites.google.com/site/thephilosophicalcounselingweb/home/inhebrew/theisraeli-society-for-philosophical-practice, ISPPC) gegründet. Unter den die internationale Entwicklung prägenden Praktikerinnen sind in Israel weiterhin Ora Gruengard (seit 1992) und Lydia B. Amir (seit 1992) zu erwähnen. Vergleicht man die Entwicklung in den USA mit derjenigen in Europa, insbesondere in den 3

Jongsma, Ida (1995): Philosophical Counseling in Holland: History and Open Issues in: Lahav/Tillmans (1995), 297-310.

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deutschsprachigen Ländern, so fällt ein Unterschied deutlich auf: die Anbindung an Universitäten ist in deutschsprachigen Ländern bei weitem am geringsten. Hier gedeiht die Philosophische Praxis vor allem als Einzelinitiative und ist daher bei sehr vielen Praktikern, aber auch bei den entsprechenden Organisationen, konfrontiert mit Finanzierungsproblemen. Für die überwiegende Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen aus den USA, und aus anderen Ländern, erlaubt die akademische Tätigkeit im Hintergrund hier mehr Freizügigkeit und ermöglicht bessere organisatorische Ressourcen. Es bildeten sich in den USA zwei unterschiedliche Organisationen, die ‚American Society for Philosophy, Counseling, and Psychotherapy‘ (www.aspcp.org) und die ‚American Philosophical Practitioners Association‘ (www.appa.edu). Ebenfalls im Bereich Philosophischer Praxis von Bedeutung ist die seit 1991 existierende ‚Association for Practical and Professional Ethics‘ (APPE; http://www.indiana.edu/~appe). Sie gibt das ‚International Journal of Applied Philosophy‘ heraus. Die ASPCP das ‚International Journal of Philosophical Practice‘ und die APPA ‚Philosophical Practice. Journal of the APPA‘. Im deutschsprachigen Bereich gibt es statt einer Zeitschrift die als Jahrbücher herausgegebene Schriftenreihe der IGPP, von der inzwischen 3 Bände erschienen sind. Dem Aufrechterhalten des Diskurses und der Information über die eigene Tätigkeit als Philosophischer Praktiker dient natürlich auch dieses Buch und dienen frühere Bücher von philopraxis.ch. Daneben erfüllt der erwähnte fachlich und allgemein reflexiv ausgerichtete englischsprachige Blog diese Rolle. Doch begeben wir uns zurück in die Neunziger Jahre, und zwar in die USA und nach Kanada. Außer Ran Lahav und Lou Marinoff spielen neben vielen anderen James A. Tuedio (www.csustan.edu/Philosophy/Data/Tuedio), Pierre Grimes (www.openingmind.com) und der Kanadier Peter Raabe (www.ufv.ca/ faculty/philosophy/raabep) eine wichtige Rolle. Raabe gehört zu den Mitgründern der ‚Canadian Society for Philosophical Practice‘ (www.philosophical practice.ca). In Schottland beschäftigte sich bereits seit 1970 die Philosophin Cathrine McCall mit der Anwendung von Philosophie im täglichen Leben (http://strath. academia.edu/CatherineMcCall) und entwickelte die Methode Philosophical Inquiry, die sie mithilfe der kinderphilosophischen Ansätze von Lipman weiterentwickelte. Ebenfalls eine große Bedeutung in der Bewegung der Kinderphilosophie hat Karin S. Murris, die zurzeit an der Universität Witwatersrand in Südafrika lehrt. Weitere aktive Praktikerinnen und Praktiker in Großbritannien fanden sich in der ‚Society for Philosophy in Practice‘ (SPP, www.practicalphilosophy.org.uk), so Tim Lebon (www.timlebon.com), Susan Wright, Sam Brown und Stephen R. Christie (http://philosophicalcounselling.co.uk). Die SPP gab bis vor kurzem ein internationales Journal heraus mit dem Namen ‚Practical Philosophy‘. In Zukunft scheint sich eine intensive Zusammenarbeit der SPP mit der IGPP zu ergeben.

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In Südafrika gab es ebenfalls eine Anzahl Philosophischer Praktiker und eine eigene Organisation, die SAPCA, die in Verbindung zur VFP aus den Niederlanden steht. Deren Gründungsmitglied und Präsident ist Tobias Louw (www.ufh.ac .za/Philosophy).Von Dirk Jacobus Louw wurde 2009 eine Dissertation mit dem Titel ‚Towards a Definition of Philosophical Counseling‘ zur Erwerbung der Doktorwürde in Klinischer Psychologie vorgelegt (http://uir.unisa.ac.za/ bitstream/10500/2949/1/dissertation_louw_%20dj.pdf). Anhand dreier namentlich nicht explizit erwähnter Philosophischer Praktikerinnen und Praktiker werden deren Methoden untersucht. Helen Douglas betreibt eine Philosophische Praxis in Capetown (www.philosophy-practice.co.za). In den Anfängen waren in Südafrika Stefan Segal und Barbara Norman für die Philosophische Praxis ebenfalls bedeutend. Ansonsten sind Philosophische Praktiker in Afrika zurzeit nur vereinzelt anzutreffen, so z.B. Ikpe Ibanga aus Botswana. In Australien und Neuseeland finden sich ebenfalls nur einzelne Philosophische Praktiker. Hingegen ist in beiden Ländern die Kinderphilosophie verbreitet. In Asien bietet unter anderem die Humanities Therapy ( ) ein Sammelbecken für Ansätze, die in die Richtung von Philosophischer Praxis gehen. Sun-Hye Kim und Young Eui Rhee von der Kangwon National University in Südkorea sind nur zwei der in diesem Umfeld Tätigen.

Die weitere Entwicklung der Philosophischen Praxis in Europa Kommen wir zurück nach Europa und schauen uns an, was in den anfänglichen „Boomjahren“ entstanden ist. Um zunächst die deutschsprachigen Länder abzurunden, wenden wir uns nun Österreich und der Schweiz zu. In Österreich gibt es seit 2005 die „Gesellschaft für Angewandte Philosophie“ (gap, www.gap.or.at). Für die Philosophische Praxis in Österreich wichtige Personen sind in ihr vertreten, so bspw. Eugen-Maria Schulak (www.philosophische-praxis.at) und Eckart Ruschmann. An der Universität Klagenfurt haben Prof. Dr. Peter Heintel, Prof. Dr. Josef Mitterer und Prof. Dr. Alice Pechriggl einen Bachelor-Studiengang Philosophische Praxis ausprobiert, welcher zurzeit ausläuft. In der Schweiz eröffneten 1994-1995 beinahe zeitgleich Willi Fillinger (www.kopfvoran.ch), Urs Thurnherr (damals Uni Basel, heute PH Karlsruhe) und Harry Wolf (www.philopraxis.ch/99/Mitglieder/Harry_Wolf.html) Philosophische Praxen. In den folgenden Jahren kamen einige andere hinzu, 1997 der Autor des Artikels (www.philocom.ch), darauf Eva Schiffer (www.philo.ch/ tithenai), Heidi Pfäffli und Roland Neyerlin (www.philopraxis-luzern.ch), Martina Bernasconi (www.denkpraxis.ch), Dominique Zimmermann (www.philochora. ch) und andere. Seit langem in der Kinderphilosophie tätig ist Eva Zoller (www. kinderphilosophie.ch). 2002 wurde das Netzwerk für praktisches Philosophieren

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philopraxis.ch (www.philopraxis.ch) gegründet, dem inzwischen über 30 Mitglieder angehören. Einen entscheidenden Impuls gab der bereits 1998 verstorbene Marc Sautet aus Frankreich der Bewegung der Philosophischen Praxis mit der Methode des Philosophischen Cafés und seinem 1997 erschienenen Buch „Ein Café für Sokrates“. Hatte die Philosophische Praxis ihre Wurzeln in der Beratung, so war nun eine neue Form gefunden, mit einer größeren Zahl von Menschen zu philosophieren, die meistens philosophische Laien waren. Philosophische Cafés weckten das Interesse einer breiten Bevölkerung und sind bis heute ein fester Bestandteil im Repertoire der Philosophischen Praxis geblieben. In ihrer Form und ihrem Impetus wurden sie ebenfalls von anderen Richtungen (Café Scientifique, Café Litteraire) aufgenommen. In Frankreich haben sich besonders das Philosophische Café und die Kinderphilosophie weit verbreitet. Des Weiteren werden spezielle Formen der Beratung praktiziert. Mit der Methodik des Nachverfolgens von logischen und begrifflichen Unstimmigkeiten versucht der Philosophische Berater Oscar Brenifier (www.brenifier.com), den Beratenen zum präzisen Fassenkönnen seiner eigenen Problematik zu geleiten. Diese von Oscar Brenifier auch anderen Praktikern gelehrte Methode ist zwar umstritten, findet allerdings etliche Nachahmer. Weiterhin ist von Frankreich aus das Engagement in der Philosophischen Praxis in das französischsprachige Afrika vorgedrungen, wohin z.B. Isabelle Millon zu diesem Zweck reist. In Italien existieren die 2003 gegründete und in ihren Wurzeln bis 1999 zurückreichende Associazione Italiana per la Consulenza Filosofica PHRONESIS (www.phronesis.info) und seit 2001 die Società Italiana per il Counseling Filosofico SICoF (www.sicof.it). Eine zweijährige Ausbildung bietet das Centro di Formazione Pscicofilosofica (www.psicofilosofia.eu) in Genua an. Bei PHRONESIS steht den Mitgliedern der Gesellschaft ein personalisierter Ausbildungsweg offen. Im Rahmen eines Masterstudienganges sind unterschiedliche Universitäten und Organisationen verknüpft und bieten hier einen 2-3 jährigen Studiengang mit 30-100 ECTS-Punkte. Einen Überblick gibt www. consulenzafilosofica.com. Auf der Iberischen Halbinsel existieren die Associació de Filosofia Pràctica de Catalunya (www.afpc.es), die Asociación Espaňola para la Práctica y el Asesoramiento Filosóficos ASEPRAF (www.asepraf.org), die Asociación de Estudios Humanísticos y Filosofia Práctica (www.grupoetor.es), die Associação Portuguesa de Aconselhamento Ético e Filosófico APAEF (www.apaef.pt) und der Grupo Internacional de Investigación en Práctica Filosófica (www.ub.edu/ practicafilosofica/epimeleia). Man merkt bereits an dieser großen Zahl, wie vielfältig die Aktivitäten hier sind. Von Spanien aus ergeben sich gute Kontakte nach Lateinamerika, so zur Fundación colombiana para la práctica y asesoramiento filosóficos (Kolumbien) (www.fundacionfilosofarte.com) mit einer sehr ansprechend gestalteten Webseite und zur Sociedad Peruana de Consejeria Filosofica y Practica Filosofica (Peru) (www.practicafilosofica.de/sopecprafil). Bekanntere

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Praktikerinnen und Praktiker aus diesen Ländern sind: Roxana Kreimer (Argentinien), Carmen Zavala (Peru), Manuel Abraham Paz-y-Meno (Peru), Miguel Mandujano Estrada (Mexiko), Hernán Bueno Castañeda (Kolumbien), Rayda Guzmán (Spanien), José Barrientos Rastrojo (Spanien), Joan Méndez Camarasa (Katalonien), José Antonio Leira (Spanien), Jorge Umberto Dias (Spanien), Jorge Dias (Portugal) u.a. In Spanien bietet die ASEPRAF relativ regelmäßig Ausbildungen an. In Skandinavien gab es ebenfalls eine rege Entwicklung der Philosophischen Praxis. Es existieren zurzeit der Norsk Selskap for Filosofisk Praksis (www. nsfp.no) in Norwegen und der Dansk Selskab for Filosofisk Praksis (www.dsfp. dk) in Dänemark unter der Leitung von Finn Thorbjørn Hansen. Der norwegische Verband wird geleitet von Gry Solbraa. Hier und im übrigen skandinavischen Raum sowie in Deutschland tätig ist Anders Lindseth, Vorstandsmitglied der IGPP. Er hat viel zur Philosophischen Beratung veröffentlicht. Näheres zu seinem Verständnis Philosophischer Beratung kann seinem Beitrag in diesem Buch entnommen werden. Sicher habe ich bei dieser Aufzählung viele Praktikerinnen und Praktiker nicht genannt, und man mag sich manchmal fragen, warum ich die eine Person erwähnt habe, eine andere aber nicht, und warum überhaupt so viele Einzelpersonen im Beitrag vorkommen. Allgemeine Entwicklungen im Bereich der Philosophischen Praxis sind jedoch immer mit den Namen von Personen verbunden und oft ist es schwer, diese Entwicklungslinien herauszudestillieren aus den vielen persönlichen Geschichten Philosophischer Praxis. Wahrscheinlich habe ich sogar einige Länder vernachlässigt, in denen es durchaus Philosophische Praktiker gibt. Trotzdem hoffe ich, dass ich durch diese skizzenhaften Erwähnungen die Entwicklung der gesamten Bewegung habe veranschaulichen können. Die Namen weiterer Praktiker findet man selbstverständlich über die Webseiten der entsprechenden Gesellschaften.

Zentrale und periphere Äste der Philosophischen Praxis Aus meinen Recherchen hat sich folgendes Bild für die Entwicklung herauskristallisiert: entstanden und gewachsen ist Philosophische Praxis um die Philosophische Beratung herum, und aufbauend auf diesen Bereich der Philosophischen Beratung finden sich auch die meisten vorhandenen Ausbildungsangebote. Bei ihrer weiteren Entwicklung hat auch der Rückgriff auf das Sokratische Gespräch hier und da eine wichtige Rolle gespielt. Hinzugekommen sind die Philosophischen Cafés, die heute weltweit einen wichtigen Bestandteil Philosophischer Praxis ausmachen. Ein starker Stamm teils parallel, teils verschlungen mit der Philosophischen Praxis ist die Kinderphilosophie, die heute ebenfalls weltweit zu finden ist. Eine größere Bedeutung hat die Philosophische Praxis in Wirtschaftsunter-

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nehmen und Institutionen. Diese Bereiche sind recht häufige Arbeitsgebiete Philosophischer Praktikerinnen und Praktiker. Es gibt aber, wie dieses Buch zeigt, auch manche andere. Seit Beginn spielte naturgemäß der unter „Bildung“ zusammengefasste Bereich eine große Rolle, also Seminare, Vorträge, Philosophische Ferienwochen, Philosophische Reisen etc. Hier liegt der Schwerpunkt überwiegend auf der Vermittlung von philosophischen Gedanken und/oder Philosophiegeschichte. Da dies das Selberdenken und den Dialog so anregen kann, dass sich „Bildung“ als einen Impuls gerade dazu verstehen lässt , wird auch dieser Bereich – entsprechend umgesetzt – den Zielen der Philosophischen Praxis gerecht. Der Dialog allein hat es schwer auf dem Freien Markt, denn es ist nicht immer einsichtig, warum man allein hierfür schon Geld bezahlen soll. Somit setzen sich naturgemäß Formen durch, in denen der Dialog (für den es durchaus ein Bedürfnis gibt) zwar enthalten ist, man jedoch noch mehr bekommt. Wie philosophisch das dann im Einzelfall noch ist, ist allerdings eine Frage, die Philosophische Praktiker niemals ad acta legen können. Die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Institutionen hat sich als sehr nützlich erwiesen, teils um neue Felder Philosophischer Praxis und Ressourcen zu erschließen, teils um Philosophieren dorthin zu bringen, wo es noch auf viel breitere Weise wirksam sein kann, teils aber auch, weil nur so gewisse Einnahmen sichergestellt werden können, auf die Philosophische Praktikerinnen und Praktiker insbesondere als Freiberufler angewiesen sind.

D i e Au s b i l d u n g z u m P h i l o s o p h i s c h e n P r a k t i k e r Im Zusammenhang mit der Seriosität und gesellschaftlichen Relevanz der Philosophischen Praxis ist die Ausbildung Philosophischer Praktiker ein bedeutendes Thema. Vor allem dort, wo Philosophische Praxis primär als Philosophische Beratung verstanden wurde, ist man die Ausbildung früh angegangen und eine solche zum Teil bereits seit Jahren eingeführt. Der deutschsprachige Bereich hatte hier mit mehreren Nachteilen zu kämpfen: 1) Gerd Achenbach, allgemein als Gründer der heutigen Bewegung der Philosophischen Praxis eingeschätzt, bot kurze Zeit nachdem er nicht mehr Präsident der IGPP war, eigene Studiengänge für angehende Praktikerinnen und Praktiker und andere Interessierte an, denen er zuvor immer sehr skeptisch begegnet war. Seine zweijährigen Studiengänge sind zwar durchaus solide, aber ganz von Perspektive und Methode einer Person geprägt. 2) Im deutschsprachigen Bereich ist die universitäre Anbindung der Philosophischen Praxis gering, so dass der Aufbau einer mit der Universität verknüpften Ausbildung ebenfalls schwierig war. 3) Die Eigeninitiative und Erfahrung, auch ohne Ausbildung eine Praxis eröffnet und geführt zu haben, prägt viele Praktikerinnen und Praktiker der ersten Generation, und sie sehen oft nicht, warum eine Ausbildung notwendig sein sollte. Manche finden sogar, sie bedrohe die Eigenständigkeit und Freiheit des Berufes bzw. sie ziehen manchmal sogar in

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Zweifel, dass es sich um einen Beruf handle. 4) Der Aufbau einer Ausbildung steht vor etlichen organisatorischen und konzeptionellen Herausforderungen, wenn man möglichst viele der vorhandenen Ressourcen (sprich erfahrenen Lehrpersonen) nutzen will. Die unterschiedlichen Verständnisse davon, was diese Ausbildung beinhalten und wie sie durchgeführt werden soll, erfahren dabei ebenso Berücksichtigung wie die Frage, ob es sich überhaupt um eine Ausbildung handelt. Trotz all dieser Schwierigkeiten hat sich inzwischen der Berufsverband für Philosophische Praxis e.V. (www.bv-pp.eu) gegründet, der sich vor allem der Planung und Durchführung einer solchen Ausbildung annimmt. Ihr Beginn ist für den Herbst des Jahres 2011 vorgesehen. Auf der 10. Internationalen Konferenz für Philosophische Praxis in Leusden (Niederlande) die Bildung eines Netzwerks beschlossen, das den Austausch über die Ausbildungen in den entsprechenden Ländern und die Kooperation erleichtern und in Zukunft auch die (zumindest partielle) gegenseitige Anerkennung von Ausbildungen ermöglichen soll.

Schluss Man kann davon ausgehen, dass die Philosophische Praxis weltweit auf einem guten Weg ist. Sie hat zwar, wie unter Philosophen zu erwarten, häufig mit Skepsis aus den eigenen Reihen zu kämpfen – schließlich ist das kritische Infragestellen ein philosophisches Werkzeug –, doch in ihr findet sich auch immer wieder eine begeisternde Kraft, welche die unterschiedlichen Auffassungen überwindet. Es ist ihr jedenfalls in den letzten Jahren an vielen Orten gelungen, die Potentiale des Philosophierens in den Alltag zu bringen und ihn so geistig lebendiger zu machen. Jetzt steht sie vor der Herausforderung, nicht den bekannten negativen Folgen einer Globalisierung zu erliegen, sondern zu einer stimmigen Mondialisierung hinzufinden, d.h. zu einem Weltbegriff Philosophischer Praxis, in dem die Bewusstheit der kulturellen Differenzen im Philosophieren ebenso wichtig ist wie die Sorgfalt in einem weltweiten philosophisch-praktischen Dialog.

Literatur Badura, Jens (Hg.) (2006) Mondialisierungen. „Globalisierung“ im Lichte transdisziplinärer Reflexionen. Bielefeld: transcript-Verlag. Berg, Melanie (1992) Philosophische Praxen im deutschsprachigen Raum. Eine kritische Bestandesaufnahme. Essen: Verlag Die Blaue Eule (Phil. Praxis, Bd. 4). Foucault, Michel (1984) Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3; Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 1989 (orig.: Le souci de soi).

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Gaarder, Jostein (1992) Sofies Welt. Carl Hanser Verlag, 1994 (Originaltitel: Sofies verden, übersetzt von Gabriele Haefs). Hadot, Pierre (1981) Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin, Verlag Mathias Gatza, 1991 ; (orig: Exercices spirituels et philosophie antique). Lahav, Ran, Da Venza Tillmanns, Maria (1995) Essays on Philosophical Counseling. University Press of America. Sautet, Marc (1995) Un Café pour Socrate; dt: Ein Café für Sokrates, 1999. Ruschmann, Eckhart (1999) Philosophische Beratung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag; hierin v.a. Kap. 2, S. 86 ff. www.icpp10.org Webseite des 10. Internationalen Kongresses für Philosophische Praxis in Leusden (NL) im August 2010. Zedrenka, Michael (1997) Konzeptionen und Probleme der Philosophischen Praxis. Köln: Dinter 1997. Ferner finden sich viele Informationen auf den angegeben Webseiten der jeweiligen Philosophischen Gesellschaften und Gruppen. Außerdem habe ich mehreren Kolleginnen und Kollegen für weitere Informationen zu danken.

Von der Methode der Philosophischen Praxis a ls dialogisc he r Beratung 1 ANDERS LINDSETH

Abstract Auf dem Wege des Lebens geraten wir – früher oder später – in Lebenslagen, in denen wir nicht so recht wissen, wie oder wohin wir weitergehen sollen oder können. Um Orientierung im Leben zu finden, kann dann Philosophische Praxis als dialogische Beratung besonders hilfreich oder erforderlich sein. Die Vorgehensweisen solcher Praxis sind dabei nicht festgelegt, wie etwa die Methoden der modernen Technik oder des modernen Managements, sondern sie müssen offen für die jeweilige Sache bleiben, die im Gespräch zum Ausdruck kommt und auf dem Spiel steht. In diesem Aufsatz versuche ich, die Methode der Philosophischen Praxis als dialogische Beratung in drei auf einander aufbauenden Schritten, die allerdings im Gespräch nicht strikt nacheinander erfolgen müssen, zu beschreiben: 1) Als Philosophischer Praktiker verzichte ich darauf, den Ausdruck meines Gastes sofort meinem Vorwissen unterzuordnen (epoché). Ich muss es wagen, zuerst seinen Ausdruck auf mich auf ungeschützte Weise Eindruck machen zu lassen. Dadurch eröffnet sich im Gespräch ein Raum der Aufmerksamkeit, in dem der Ausdruck des Gastes erklingen kann und auch ausklingen darf, so dass der Gast gehört wird und auch sich selbst neu hören kann. 2) Im Aufmerksamkeitsraum des Gespräches entsteht ein Ort, zu dem die folgenden Gespräche zurückkehren und den sie weiter untersucht werden können. An diesen Ort gilt es, die Eindrücke, die im Gespräch bildlich entstehen, zurückzuführen (eidetische Reduktion). So kann Philosophische Praxis durch Auskundschaften dieses Ortes Lebensorientierung geben. 3) Am Ort des Lebens des Gastes, der im Gespräch entsteht, geht es immer um eine Sache, die auf dem Spiel steht. Auch auf diese Sache gilt es, die Eindrücke des Gespräches zurückzuführen (transzendentale Reduktion). Sie erscheint vor allem als unumgängliche Lebensthematik, die eine Herausforderung darstellt, weil wir im Leben eben häufig ver1

Der Text ist eine vom Verfasser durchgesehene Übersetzung aus dem Norwegischen von Geralda Kuhn Lindseth.

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suchen sie zu umgehen. In Krisenerfahrungen gelingt uns aber das Umgehen nicht mehr so recht und eine Offenheit für Lebenszusammenhänge entsteht, die zu vermehrter Weisheit und gestärkter Könnerschaft im Leben führen kann.

Die Philosophische Praxis als neue Diskursform Im Jahre 1981 eröffnete Dr. Gerd B. Achenbach seine Philosophische Praxis in Bergisch Gladbach. Das war weltweit die erste Praxis dieser Art. 1982 brachte er die Gründung einer internationalen Gesellschaft in Gang, die nach wie vor besteht, jetzt unter dem Namen Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP)/International Society for Philosophical Practice (ISPP). Nach 1981 haben eine Reihe von Personen über die ganze Welt philosophische Praxen eröffnet, in vielen Ländern wurden Gesellschaften für Philosophische Praxis gegründet und nationale wie internationale Konferenzen über Philosophische Praxis fanden statt.2 Man diskutierte darüber, was das eigentlich war, was Achenbach 1981 getan hatte. Als er Menschen zu Gesprächen über Fragen ihres Lebens empfing, verstand er diese Gespräche als philosophisch und nicht als therapeutisch. In zunehmendem Maße wurde er auch als Berater im Kultur- und Wirtschaftsleben, im Gesundheitswesen und bei pädagogischer Arbeit aktiv. Damit trug er dazu bei, eine Tätigkeit ins Leben zu rufen, die viele Philosophen später aufgriffen, – eine Arbeit, die geografisch und in verschiedene Berufsfelder und soziale Bereiche expandiert hat. Philosophen haben begonnen, sich in einer Reihe von Lebensbereichen geltend zu machen. So bleibt es Achenbachs Verdienst, gezeigt zu haben, dass Philosophische Praxis möglich ist. Er tat es auf eine solche Art und Weise, dass es für eine Reihe von Personen natürlich wurde, sich in Philosophischer Praxis zu engagieren. Dass Achenbach Vorreiter einer Entwicklung war, darüber herrscht Einigkeit. Aber leitete er etwas Neues ein? Das möchten wohl manche bestreiten, indem sie darauf hinweisen, dass Philosophen schon vor 1981 Berater und Betreuer waren. Und es ist nicht nötig, zu den Philosophieschulen der Antike zurückzugehen, um philosophische Betreuer zu finden. Auch in unserer Zeit, bevor Achenbach seine Philosophische Praxis eröffnete, haben Philosophen beraten. Das ist zweifellos richtig. Aber meiner Ansicht nach leitete Achenbach dennoch etwas Neues ein.3 Er erschloss eine neue Diskursmöglichkeit, die es vor 1981 nicht gab: nun war es möglich zu philosophieren, indem man von Erfahrungen und Fragen ausging, die Menschen zu Gesprächen mit einem Philosophen mitbringen. Das Neue war, dass man diesen Diskurs als genuin philosophische Tätigkeit ernst nahm, als Phi2

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Die 9. internationale Konferenz wurde 2008 auf Sardinien arrangiert. Die 10. internationale Konferenz fand vom 11. bis 14. August 2010 in Leusden, in den Niederlanden, statt. (Siehe www.icpp10.org). Siehe Lindseth, 2005, S.165-180.

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losophieren, nicht nur als angewandte Philosophie. Das bedeutet, dass die Gespräche zur Entwicklung philosophischen Denkens beitragen können, und nicht nur den Menschen helfen und nützen, die eine Philosophische Praxis aufsuchen. Worum es bei solchem Denken geht, versuchte Achenbach in seinem ersten Buch, Philosophische Praxis, zu erklären. Er schreibt da: „An die Stelle der Fragen Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? – treten die Fragen der Philosophischen Praxis: Was weiß ich? Was tue ich? Was hoffe ich? Wer bin ich? Und damit ist der Philosophie eine andere Aufgabe gestellt: Sie denkt nicht mehr vor, sie denkt mit. Und auch wir, als Philosophen, sind mit einer neuen Anforderung konfrontiert: die Frage ist jetzt nicht mehr, ob ich auch lebe, was ich denke – sondern: ob ich denke, was ich lebe. Indem ich aber denke, was ich weiß, tue, hoffe, indem ich mich besinne, wer ich bin, wird mir mein Leben selbst zur Frage: und auf diesem Wege belebt es sich und kommt es voran.“4

Im Leben voranzukommen bedeutet, ein Verhältnis zu dem Lebensweg zu gewinnen, auf dem wir uns befinden, um damit diesen Weg überdenken und vielleicht zu Ende führen zu können. Das ist ein philosophisches Anliegen, das die Psychologie nicht in gleicher Weise hat. Sie befasst sich mehr mit eventuellen Problemen funktioneller Art, die wir auf unserem Weg des Lebens erfahren können. Wollen wir uns jedoch auf dem Weg zurechtfinden, wollen wir verstehen, was wichtig ist oder wohin der Weg führt, dann stellen sich Fragen ethischer, politischer, erkenntnistheoretischer und metaphysischer Art. Dann stehen wir im Leben vor einer philosophischen Aufgabe, die jeder Einzelne auf seine Weise lösen muss. Kurze Zeit, nachdem Achenbach seine Philosophische Praxis eröffnet hatte, wurde er in einem Interview gefragt, was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte. In seiner Antwort führt er drei Umstände an: Erstens hätte sich die Philosophie in ein akademisches Ghetto zurückgezogen, wo sie die direkte Beziehung zu den Problemen der Menschen verloren hätte, wie diese sie konkret erleben.5 Zum Zweiten sei in unserer Zeit der Psychologie die Aufgabe zuteilgeworden, Menschen mit ihren Problemen zu helfen; diese Aufgabe oblag früher der kirchlichen Seelsorge. Jetzt erleide die Psychologie das gleiche Schicksal wie die Seelsorge, indem sie versuche, für individuelle Probleme allgemeine Lösungen anzubieten. Zu den Fragen, welche die Menschen mit sich tragen, soll es also (mehr oder weniger) fertige Antworten geben, allgemeine Lösungen – die die Psychologie durch empirische Forschung zu begründen versucht, während die Seelsorge die Antworten mit der Glaubenslehre begründet. In beiden Fällen kann es damit aber leicht geschehen, dass dem Hilfesuchenden nicht in seiner individuellen Geschichte begegnet wird. Hier – und das ist Achenbachs dritter Punkt – besteht die traditionelle Aufgabe der Philosophie, sich zu menschlicher Erfahrung zu verhal4 5

Achenbach, 1984, S.20. Siehe Achenbach, 1984, S.5f.

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ten und zu versuchen, Worte zu finden, welche die Erfahrung in eine Perspektive setzen und ihre innewohnenden Gegensätze versöhnen können. In Philosophischer Praxis begegnet der Philosoph verschiedenen Menschen mit deren konkreten Fragen und Problemen; deshalb kann diese Praxis der Philosophie helfen, einen Weg aus dem akademischen Ghetto heraus zu finden und zurück in einen öffentlichen politischen Raum und in eine Kommunikationsgemeinschaft – wo die Philosophie nicht mehr ein Thema für Experten ist, sondern ein Anliegen für alle erfahrenden und denkenden Menschen, die sich auf dem Weg des Lebens orientieren wollen.

Der Gang des Nachdenkens in der Philosophischen Praxis: die Frage nach der Methode In der Mitte der 1980er-Jahre waren wir eine Reihe von Personen im Kreis um Achenbach, die fasziniert waren von dem Gedanken einer philosophischen Praxis, - davon, dass philosophisches Denken von Gesprächen mit gewöhnlichen Menschen ausgehen könnte, die versuchten, sich im Leben zu orientieren. Endlich sollten wir uns als Philosophen zu Lebenserfahrungen verhalten können, nicht nur zu Texten, die von solchen Erfahrungen handeln, oder zu Texten, die von anderen Texten handeln, die (bestenfalls) Erfahrungen in Worte fassten. Jene von uns, die selbst Philosophische Praktiker werden wollten und bei Achenbach in Lehrpraxis gingen, ließen sich auch von den Erfahrungen begeistern, die wir hier machten. Ich erlebte eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit des Philosophen Achenbach für das, was ich bei den Praxisgesprächen sagte, und eine verblüffende Fähigkeit, das Erzählte in einen erhellenden und spannenden Zusammenhang zu stellen.6 Dabei fühlte ich mich in einem Maße verstanden, wie ich es vielleicht nicht für möglich gehalten hätte. Ich verstand, dass meine eigenen Erfahrungen, die ich wohl als nicht besonders großartig erlebte, nicht weniger interessant und wesentlich waren, als die menschlichen Erfahrungen, die wir auf einer Bühne, der Kinoleinwand, in der Literatur oder der Philosophie sehen können. Das war in erster Linie dadurch persönlich bereichernd, dass ich erlebte, besser meinen Platz im Leben zu finden, aber auch dadurch, dass sich eine Reihe von Lebensperspektiven auftaten. Und mit dieser Erfahrung war ich nicht alleine. Nichtsdestoweniger war zu dieser Zeit im „Achenbach-Kreis“ eine Unsicherheit zu spüren. Ich erinnere mich, dass einer der „Schüler“ die Unsicherheit in folgende Worte fasste: „Gerd sagt ja nicht, was er tut.“ Was heißen sollte: Wie sollen wir Philosophische Praktiker werden, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen? Aber diese Unruhe ging vorüber. 1991 spürte ich einen deutlichen Unterschied; in jenem Jahr hielten auf dem jährlichen Kolloquium der IGPP mehrere 6

Siehe Lindseth, 2005, S.171.

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von Achenbachs Schülern gute Vorträge mit Wiedergaben aus der eigenen Praxis und mit eigenen philosophischen Ansätzen. Fred Gebler war mit seiner Familie aufs Land gezogen und berichtete von seinen Erfahrungen als Philosophischer Praktiker in einem ländlichen Milieu, um dann eine Wittgenstein-inspirierte phänomenologische Analyse des Zuhauses darzustellen. Martina Winkler-Calaminus brachte ihre Praxiserfahrungen in Verbindung mit homöopathischen Vorstellungen. Will Heutz schilderte Begegnungen mit Menschen mit schweren psychiatrischen Diagnosen – und legte dann seine Erfahrungen und östlich inspirierten Gedanken über das Unvergängliche und Unverletzliche im Menschen dar. Was war geschehen? Ich möchte es so ausdrücken, dass Philosophen zu wagen begonnen hatten, das gleiche zu tun, was Achenbach getan hatte: als selbstständig denkende Philosophische Praktiker aufzutreten.7 Heißt das, dass wir nun wussten, was wir tun sollten? Hatten wir eine Vorgehensweise, eine Methode gefunden, der wir als Philosophische Praktiker Folge leisten konnten? Oder hatte jetzt jeder einzelne Praktiker den Mut, seine PraxisGespräche ganz nach eigenem Gutdünken zu führen, völlig frei von methodischen Erfordernissen? Es ist oft behauptet worden, dass sich Achenbach und seine Schüler in der Philosophischen Praxis von Methoden distanzieren. In seinem Artikel „Beyond method, Anders Lindseth style: The quest to open up philosophical space in the consulting room“ schreibt z.B. Morten Fastvold, dass ich und andere Philosophische Praktiker in der Achenbachschen Tradition darauf Wert legen, unabhängig von Methoden zu sein. Wir verträten einen „beyond method approach“.8 Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht treffend. Zweifellos ist es richtig, dass wir nicht nach einer Vorschrift praktizieren, nach einem im Voraus festgelegten Plan. Aber es ist doch auch nicht so, dass wir in unseren Praxisgesprächen ganz ohne Überlegung handeln. Im Folgenden möchte ich versuchen, die Methode der Philosophischen Praxis zu beschreiben, wie ich sie durch meine Erfahrungen als Philosophischen Praktiker zu verstehen gelernt habe.9 Ich denke, Methodenreflexionen sind eine Voraussetzung für die Verbreitung Philosophischer Praxis. Jeder praktizierende Philosoph, auch jener, der im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich oder sonstigem Berufsleben tätig sein möchte, muss sich Gedanken über die Methode machen. Und natürlich wird die Methode der Philo7

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Es kann sein, dass die besagten Vorträge von Martina und Will in anderen Zusammenhängen gehalten wurden; da bin ich mir nicht hundertprozentig sicher. Aber ich bin sicher, dass sie zu der Bewegung beitrugen, die seit dem Kolloquium 1991 in Gang war. Zu dieser Bewegung kann ich auch meinen eigenen Einsatz zählen; ich eröffnete meine Philosophische Praxis im Herbst 1989 in Tromsø in Nordnorwegen. Fastvold, 2005, S.180; In dem Artikel wird auf ein Wochenendseminar Bezug genommen, das ich im Februar 2005 in Oslo für Philosophen durchgeführt hatte, die eine Ausbildung zu philosophischen Praktikern gemäß den Richtlinien machten, welche die Norwegische Gesellschaft für Philosophische Praxis ausgearbeitet hat. Es ist wichtig zu betonen, dass Philosophische Praktiker, die von Achenbach gelernt haben, weder Anhänger einer vorgegebenen „Methode“, noch einer bestimmten „Lehre“ sind.

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sophischen Praxis ausführlich in Schulungsprogrammen für werdende Philosophische Praktiker diskutiert.

Momente: hodos, krisis, methodos Das Wort „Methode“ ist altgriechisch: methodos. Es ist zusammengesetzt aus den Wörtern hodos, was Weg bedeutet, und meta, was zu übersetzen ist mit zu, hin, über usw. Das Wort meta ist als Vorsilbe in Fremdwörtern in unsere Sprache eingegangen: Wir sprechen z.B. von Metasprache und Metatheorien, wir können eine Metaperspektive haben usw. In der Logik ist eine Metasprache eine Sprache, die wir gebrauchen können, um etwas über die gewöhnliche Sprache, die Objektsprache auszusagen.10 Entsprechend geht es in Metatheorien nicht um dasselbe wie in den Theorien, sondern um die Theorien selbst. Und eine Metaperspektive ist eine Sicht auf unsere Perspektiven. Wir nehmen also eine Meta-Ebene ein, von der aus wir die Überlegungen und Bewertungen, die wir auf einer anderen, praxisnäheren Ebene vornehmen, betrachten und beurteilen können. Ganz entsprechend ist eine Methode ein Metaweg, ein meta-hodos, ein methodos. Ein Thema der antiken griechischen Dichtung, v.a. bei Hesiod, war die Vorstellung, dass das Leben ein gefahrvoller Weg ist. Auf diesem Weg möchten alle Menschen Glück und ein gutes Leben erlangen, aber die wenigsten finden dorthin. Die meisten streben nach kurzfristigem Gewinn oder unmittelbarer Lustbefriedigung, nach Lob, Anerkennung, Ehre, Ruhm, Macht und Reichtum. Sie gehen auf dem breiten Weg, dem Weg, der am leichtesten zu begehen ist. Dass er nicht zu echtem Glück und einem guten Leben führt, wird auf dem Weg nicht so schnell bemerkt. Anfangs scheint alles gut zu sein. Aber nach einiger Zeit kann man zu spüren beginnen, dass etwas nicht stimmt, dass der Weg nicht zum angestrebten Ziel führt. Indem man nach Lustgewinn strebt, wird man eher von ihm abhängig als wirklich zufrieden. Ehre und Reichtum sichern nicht die Gesundheit, Ruhm lockt Neider auf die Bahn, Macht kann zu Konflikten führen und Geld und Güter sind nicht dasselbe wie menschlicher Reichtum. Nach einiger Zeit auf dem breiten Weg kann man also merken, dass Gefahr im Verzug ist, wenn der Kurs nicht korrigiert wird. Man kommt zu einem Punkt, wo das Schlimmste zu befürchten ist , aber gleichzeitig ist diese Stelle auf dem Weg des Lebens eine Grundlage für Hoffnung, denn jetzt ist es möglich, einen besseren, einen mehr konstruktiven Lebensweg einzuschlagen. Gerade in der Gefahr eröffnen sich Möglichkeiten, und diese doppelsinnige Stelle auf dem Weg des Lebens, dieser Ort, der sowohl Gefahr wie Chance darstellt, hat im Griechischen einen eigenen Namen: krisis. Das ist selbstverständlich auch unser Begriff Krise. In der Krise kann es richtig schlecht gehen, aber es gibt auch Hoffnung auf Rettung. Es ist möglich, aus einer Krise herauszukommen, eine Krise zu überwinden (ohne 10 In der Logik benötigen wir die Metasprache, weil objektsprachliche Aussagen, in denen es nicht nur um die Objekte der Welt geht, sondern die sich auf die Objektsprache selbst beziehen, zu formallogischen Widersprüchen führen.

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diese Möglichkeit können wir eigentlich nicht von Krise sprechen, wie es heutzutage schon vielerorts geschieht. Wenn etwas „voll die Krise“ ist, ist es nicht immer gegeben, dass es einen guten Ausgang aus der „Krise“ gibt). In der Perspektive von Hesiod kann die Krise es mit sich bringen, den breiten Weg zu verlassen und den schmalen einzuschlagen. Diesen kennzeichnet der Wille, langfristige Ziele zu verfolgen, und die Fähigkeit, auf dem Weg zum Ziel jede Art von Verdruss auszuhalten. Deshalb ist dies ein schwieriger und beschwerlicher Weg. Es ist der Weg, dem im Leben die wenigsten folgen. Dieses Thema, der schwierige und beschwerliche Weg des Lebens, ist ein zentrales Thema in Platons Philosophie. Als er im Jahre 385 v.Ch. die Akademie gründet, das Vorbild für alle späteren Einrichtungen für höhere Bildung in unserem Kulturkreis, ist sein Motiv, den Weg des Lebens zu verbessern und zu sichern. Die Akademie ist nichts weniger als ein Projekt zur Verbesserung der Menschheit. Gemäß dem griechischen Denken ist der Mensch ein vernünftiges Tier, aber die Vernunft realisiert sich im Menschenleben nicht von selbst. Wir müssen lernen, die animalischsten Neigungen durch körperliche Disziplinierung unter Kontrolle zu halten; deshalb sind Leibesübungen in Platons Akademie ein wichtiges Fach. Und gleichzeitig gilt es, den Geist zu stärken, die Vernunft. Das sollen die Akademieschüler dadurch tun, dass sie erbauliche Literatur lesen, wie Homers und Hesiods Werke, und durch Studien von Philosophie, Logik und Mathematik. Vor allem aber gilt es, den Weg des Lebens kritisch zu hinterfragen. Hier kommt der „Metaweg“ ins Spiel. Platon hatte eine Vision, die große Konsequenzen für die westliche Philosophie, Wissenschaft und Kultur hatte: es sollte möglich sein, den Weg des Lebens durch Gespräche sicherer zu machen, in denen dieser Weg kritisch erörtert wird. Solche Gespräche machen einen eigenen argumentativen Weg aus, einen Metaweg, eine dialektische Methode, die den Weg des Lebens näher in Augenschein nimmt. Als Namen für diesen argumentativen, dialektischen Weg nahm also Platon das Wort methodos, Methode, in Gebrauch.11 Ein Wort, das bis dahin ganz ungewöhnlich war, aber später in der Geschichte, bis zum heutigen Tage, ein zentraler Begriff in allen möglichen Tätigkeitsbereichen geworden ist. Es gibt viele Beispiele der dialektischen Methode in Platons Dialogen. Sokrates zeigt hier immer wieder, wie der Weg des Lebens argumentativ hinterfragt werden kann. Wenn Kallikles, ein Schüler des Sophisten Gorgias, z.B. behauptet, dass das höchste Glück im Leben ein Maximum an Lust sei, tritt Sokrates mit seinen kritischen Fragen hinzu.12 Dann müsse wohl ein Zunehmen von Lust auch größeres Glück bescheren, fragt er sich zunächst. Selbstverständlich, sagt Kallikles, eben das ist seine Meinung; wenn das Lustgefühl größer werde oder von längerer Dauer, wachse auch die Glückseligkeit. Aber wenn es jucke, sagt Sokrates, sei es doch lustvoll sich zu kratzen. Das sei richtig, stimmt Kallikles etwas auf11 Siehe Ritter, 1980, S. 1304f. 12 Siehe Platon, Gorgias, 494c-e.

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gebracht zu, denn es war nicht gerade Kratzen, was er im Sinn hatte. Aber Sokrates fährt konsequent fort: Nehme das Jucken zu, würden wir uns mehr kratzen und damit werde das Lustgefühl größer, was dann bedeuten müsse, wenn Kallikles recht habe, dass auch die Glückseligkeit größer werde. Wenn wir Probleme mit der Haut bekämen so, dass wir uns immerfort kratzen müssten, würden wir doch ein Höchstmaß an Lust durch Kratzen erlangen und folglich müssten wir auch ziemlich glücklich werden. Jetzt wird Kallikles wütend auf Sokrates. Wäre er aber nicht so außer sich geraten, hätte er vielleicht eingesehen, dass etwas falsch ist an seiner Vorstellung vom höchsten Glück. Dann würde er verstehen, dass ein Lebensweg, auf dem man die ganze Zeit nach einem Maximum an Lust als dem höchsten Glück strebt, notwendiger Weise in die Krise führt. Deshalb sollte es möglich sein, einen vernünftigeren Lebensweg einzuschlagen und so die Krise zu vermeiden, bevor sie am Körper zu spüren ist. Es ist viel diskutiert worden, ob sich das Leben durch die dialektische Methode verbessern lässt, oder ob wir nicht eher die Krise am eigenen Leibe erfahren müssen, bevor wir aus den Erlebnissen auf dem Lebensweg eine Lehre ziehen können, so dass wir den Kurs korrigieren und einen besseren Weg einschlagen. Ich denke, unsere Erfahrungen aus Philosophischer Praxis zeigen uns, dass sich Dialektik und Lebenskrise eher voraussetzen als ausschließen. Menschen kommen nicht in Philosophische Praxen, um theoretische Positionen zu diskutieren, sondern sie sind durch (größere oder kleinere) Krisenerfahrungen motiviert. Es sind ja gerade diese Erfahrungen, die es fruchtbar machen, über den Lebensweg nachzudenken. In der Krisenerfahrung liegt schon eine Korrektur, aber ohne das Gespräch kann es schwierig oder unmöglich sein, einen anderen oder veränderten Weg zu finden. Und durch das Gespräch kann sich zeigen, dass gerade die Krisenerfahrung eine beachtliche Möglichkeit der Lebenseinsicht in sich birgt. Wir können den Weg des Lebens nicht noch einmal gehen; wir müssen immer weitergehen im Leben. Aber den Metaweg, das methodische Ausprobieren und Zurechtlegen des Lebensweges, können wir im Prinzip so oft wiederholen, wie wir wollen. „Methodos heißt ‚Weg des Nachgehens‘ “, schreibt Hans-Georg Gadamer13. Das gilt für alle Methoden, sowohl für diejenigen des praktischen Handelns als auch für Forschungsmethoden. In der Metaposition der Methodenreflexion können wir eine Handlung, eine Aktivität oder Tätigkeit argumentativ auf die Probe stellen und herausfinden, wie wir vorgehen werden; und das können wir wieder und wieder machen. Etwas anderes ist es, dass die methodische Durchführung der Handlung selten von Mal zu Mal ganz gleich sein wird, oder von Person zu Person, welche die Durchführung vollzieht. Die wenigsten Methoden sind genaue Vorgehensanweisungen. Und methodisches Handeln hat meistens Raum für Variation, auch wenn es manchmal – und oft innerhalb moderner Technologie – von einem Handlungsschritt zum nächsten festgelegt ist. 13 1993, S.48.

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Der Horizont: poiesis oder Gestell? Eine Methode ist also ein Weg, den wir bei der Planung einer Tätigkeit wiederholte Male gehen können. Diese Tätigkeit kann eine Arbeitsoperation sein oder eine Berufstätigkeit, eine Übung, eine Behandlung oder Therapie, ein Unterricht, eine Produktion, die Anwendung einer technischen Apparatur, eine künstlerische Tätigkeit, ein Forschungsprojekt, ein Gespräch der Philosophischen Praxis und so weiter. Bei der Durchführung der Tätigkeit macht sich die Methode endgültig geltend; wir können mit unserer Handlung zufrieden sein, oder wir denken, dass wir es anders hätten machen sollen. Das rührt auch daher, dass sich die Umstände leicht auf unvorhergesehene Weise wirksam machen. Oft merken wir, dass uns die Situation, in der wir uns befinden, dazu zwingt, „einen Umweg zu gehen“ im Vergleich zu der eher „geradlinigen“ Ergebnisproduktion, die wir uns vorgestellt hatten. „Methode ist Umweg“, sagt Walter Benjamin14 über die Vorgehensweise beim Verfassen einer Abhandlung. Dasselbe kann man wohl über die meisten „Methoden“ sagen, denen wir auf dem Weg des Lebens zu folgen versuchen. Wenn wir mit Macht den Umweg vermeiden wollen, riskieren wir ein Scheitern dergestalt, dass der Weg, den wir deshalb einschlagen müssen, extra lang und beschwerlich wird. Bei näherer Betrachtung von Tätigkeiten, die mit Methode durchgeführt werden, das soll heißen mit Besonnenheit und einem Plan, zeigt sich also, dass sich die Methoden sehr unterschiedlich gestalten können. Der auffallendste Unterschied scheint darin zu liegen, dass manche Methoden Raum bieten und nahezu einladen zu Neuschaffung und unerwartetem Geschehen, während andere Methoden gerade ausschließen wollen, dass während der Durchführung der Aktivität etwas wesentlich Neues eintreten kann, etwas, das nicht geplant war. Um diesen Methodenunterschied zu illustrieren, möchte ich an Heideggers Darstellung des Unterschiedes zwischen altem (Kunst-)Handwerk und moderner Technologie anknüpfen. In einem Vortrag von 1953, „Die Frage nach der Technik“,15 betont dieser, dass Handwerk und Kunst poiesis seien, moderne Technik hingegen Gestell. Dem Handwerk und moderner Technologie ist zwar das Hervorbringen eines Resultates gemein, d.h. – ein geplantes und technisch durchgeführtes Produzieren eines Ergebnisses. Der Handwerker stellt aber seine Produkte in Übereinstimmung mit den natürlichen Möglichkeiten des Materials her. Das bedeutet, dass der Produktionsprozess nicht durch strikte Regeln Schritt für Schritt festgelegt ist. Der Handwerker weiß, was er produzieren will, aber er muss sich sein Material anschauen, und sich von dessen Möglichkeiten leiten und inspirieren lassen. Das bringt mit sich, dass er in einen Dialog mit dem Material tritt, wobei Möglichkeiten Eindruck machen können und ein Eindruck zum Ausdruck kommen kann. Damit wird das Werk, das Produkt, ein Ausdruck für eine Bedeutung des 14 1974, S. 208. 15 Siehe Heidegger, 1954, S.9-40.

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Produktionszusammenhanges, die sich nicht auf bloß subjektive Absicht oder traditionelle Vorstellung reduzieren lässt. Das Produkt wird ebenfalls ein Ausdruck einer naturgegebenen Möglichkeit, nicht nur einer von einem Menschen gehegten Absicht. Und das heißt, dass diese Möglichkeit nicht nur als die eine oder andere denkbare Möglichkeit gegeben ist, sondern als eine Möglichkeit, die „sich aufdrängt“ in dem Zusammenhang und zum Ausdruck kommen darf. Damit ist die Produktion des Handwerkers poiesis, d.h. ein Hervorbringen von etwas Innerem und Wirksamem, wie auch das Werk des Dichters Ausdruck eines inneren Zusammenhanges ist und die Phänomene der Natur immer aus sich selbst erscheinen.16 Und solche poiesis, betonte Heidegger, steht im Gegensatz zu der modernen Technologie, die ihre Resultate nicht so hervorbringt, dass sie natürlich entstehen können, sondern sie durch kontrollierte Maßnahmen erzwingt. In den modernen Technologien gilt es, alles auf seinen richtigen Platz zu stellen gemäß einem im Voraus bestehenden und festgelegten Plan. Dieses auf-seinenPlatz-Stellen nennt Heidegger Gestell (oder Ge-stell), ein Festgelegtsein, das als das Wesen der modernen Technologien zum Ausdruck kommt.17 Wenn Heidegger erklären soll, wie es sein kann, dass moderne Technologien die Natur fest im Griff haben, so dass sie verhindern, dass etwas wesentlich Neues und Unerwartetes entstehen kann, dann verweist er auf ein modernes Kraftwerk. Das entnimmt der Natur Energie und lagert sie, um sie später der Natur zurückzuführen. Das bedeutet aber, dass das Kraftwerk die Energie, die es holt und später zurückführt, unter Kontrolle halten muss. Der Energiefluss muss gesteuert werden und die Steuerung muss gesichert werden. Das geht so weit, schreibt Heidegger18, dass „Steuerung und Sicherung sogar die Hauptmerkmale werden“ für moderne Technologie. Es ist bemerkenswert, dass Heidegger dies mit solcher Klarheit vor über 50 Jahren erkannte, wenn wir sehen, wie Produktionssteuerung und Qualitätssicherung heutzutage um sich gegriffen haben und nicht mehr nur Energie- und Warenproduktion prägen, sondern auch öffentliche Bereiche wie Kommunen, Krankenhäuser, das Sozialwesen, Schulen und Universitäten. New public management hat mit sich gebracht, dass auch öffentliche Bereiche gesteuert werden, als ob sie Produktionsbetriebe wären. Auf der einen Seite ist das eine Form von Wirtschaftssteuerung, die vor einigen Jahrzehnten in Neuseeland begann und bis heute auf aller Herren Länder überschwappte. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung eine Generalisierung des Prinzips der austauschbaren Komponenten, das die moderne Fabrikproduktion seit dem Jahre 1878 kennzeichnet. 16 Das Wort poiesis ist griechisch und kann mit Produktion oder Resultathervorbringung übersetzt werden. Heideggers Punkt ist also, dass poiesis im griechischen Denken ein Prozess ist, in dem ein Produkt auf natürliche Weise entstehen kann. 17 Gestell bedeutet für gewöhnlich so etwas wie Stativ. Heidegger gibt dem Wort eine eher ungewöhnliche Bedeutung, indem er mit der Bedeutung des Verbums stellen spielt. Damit spielt er auf das Wort Gesetz an, welches das Verbum setzen beinhaltet. 18 1954, S.16.

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Als ungefähr 100 Jahre vorher die Industrialisierung vollends in Gang kam (1760 mit Hargreaves Konstruktion von The spinning Jenny, aber v.a. mit James Watts Verbesserung der Dampfmaschine im Jahre 1776), waren es die Handwerker, die alle Produktion planten und durchführten. Eine Maschine wurde nach Zeichnungen hergestellt und der Handwerker musste die Teile der Maschine schleifen und zueinander anpassen, damit das Ganze funktionierte. Der Handwerker hatte die Verantwortung für das Ganze. Aber hundert Jahre später begann sich dies zu ändern. Mit Thomas Edisons Erfindung der Glühlampe im Jahre 1878 waren die Voraussetzungen für eine elektronische Fabrikproduktion gegeben, die den Handwerker überflüssig machte (und ungefähr gleichzeitig kam in Deutschland eine chemische Fabrikproduktion in Gang, die denselben Effekt bewirkte). Das war die Einleitung in “the century of the engineers”.19 Eine neue Berufsgruppe, die Ingenieure, tauchte nun auf. Ihre Aufgabe war es, zwei Wissensbereiche miteinander zu verbinden, die bis dahin getrennt waren: Wissenschaft und Produktion. Besonders eine verbesserte Messtechnik, sowohl innerhalb der Wissenschaft, als auch im Handwerk, machte die Verbindung möglich. Damit wurde es die Aufgabe des Ingenieurs, wissenschaftlich begründete Produktionsmethoden und -verfahren einzurichten. Um die in Massen produzierten Waren herzustellen, musste man kein erfahrener Handwerker mehr sein. Sie bestanden aus austauschbaren Komponenten, die sich verhältnismäßig einfach zusammensetzen ließen. Die Arbeit konnte von technisch geschulten Arbeitern unter der Leitung der Ingenieure ausgeführt werden. In unserer Zeit sieht es jedoch so aus, als ob auch die Ingenieure weitgehend ihre Rolle ausgespielt hätten.20 Es gibt natürlich immer noch Ingenieure, aber das Implementieren von festgelegten Produktionsvorgängen ist weitgehend die Aufgabe der Manager des öffentlichen Lebens geworden. Das kommt daher, dass heutzutage dank der Entwicklung der personal computer und dank der ständig leichter zugänglichen Datenprogramme jedermann das Bestreben haben kann, Produktionsabläufe und -verfahren einzurichten. Wie weit das gehen kann, sehen wir deutlich gerade innerhalb des new public management. Sowohl im Gesundheits- wie im Bildungssektor geht es zur Zeit weitgehend darum, Produktionsverfahren auszuarbeiten, die Qualität der Produktion durch detaillierte Kontrollmaßnahmen zu sichern, die Durchführung der Kontrolle zu dokumentieren, alle Abweichungen von geplanten Produktionsergebnissen anzugeben, und damit eine ständig wachsende Gruppe von Managern damit zu beschäftigen, bessere Abläufe und Verfahren zu garantieren. Ein positiver Effekt dieser Entwicklung (der auch in Neuseeland deutlich war und dazu beitrug, dass sich die Entwicklung von new public management beschleunigte), bestand im Mündigwerden von Patienten, Klienten, Studenten und anderen, weil sie sich selbst als Verbraucher von 19 Gulowsen, 1998, S.163 20 Diese These stellt mein Kollege an der Hochschule in Bodø, Professor Jon Gulowsen (1998) auf besonders instruktive und interessante Weise vor in dem Artikel ”The Engineers: Bridging the Gap between Science and Production“.

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Dienstleistungen verstehen konnten, die von den Behörden produziert wurden. Aber davon abgesehen muss man wohl sagen, dass das Produktionsdenken in öffentlichen Systemen mehr als problematisch ist. In H. C. Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern wird dem Kind Gehör geschenkt, das feststellt, dass der Kaiser gar keine Kleider anhat, denn alle haben ja dasselbe gesehen, wenn sie es nur wagen, sich auf die Beweislast ihrer Sinne zu verlassen. Aber wer findet heutzutage Gehör in den Systemen, wenn er sagt, dass die Behörden eigentlich keine Produktion betreiben, selbst wenn die Wirtschaftssteuerung aus Produktionsmodellen hervorgeht? Wer wagt zu sagen, dass nicht dem Kaiser Kleider fehlen, aber der Produktion handfeste Produkte, dass z.B. Studienabschlüsse nicht Ergebnisse eines amtlich gesteuerten Produktionsprozesses sind, und dass Patienten, die aus dem Krankenhaus entlassen wurden, nicht eine amtlich kontrollierte Produktion von Gesundheitsverbesserungen darstellen? Und wem wird Gehör geschenkt, wenn er sagt, dass das Steuerungsmodell im Großen und Ganzen nicht zu besseren Dienstleistungen führt und auch nicht zu einer besseren Wirtschaft, obwohl wir Beispiele für Verbesserungen finden können? Wir sind doch viele, die merken, dass das Produktionsdenken zu einer Interessenverschiebung führt: der Mensch rückt aus dem Zentrum des Interesses; von der Fürsorge für Patienten und Klienten, für Schüler und Studenten, und von fachlichem Interesse und Vertiefung verlagert sich das Interesse auf Produktionsmenge, Produktionsberechnungen, Produktionskontrolle und Produktionsbedingungen. Als Fachleute im Gesundheits- oder Bildungssektor werden wir damit zu einer Art Techniker reduziert, welche die Produktionsziele realisieren und den Vorgehensweisen folgen sollen, welche die Manager – auf den Spuren der Ingenieure – eingeführt haben.

Das Feld: System und Lebenswelt Aber wenn wir Fachleute sind, können wir doch nicht zu Produktionsmomenten reduziert werden, denn wir können nicht unser Interesse für das Fach und für die Menschen aufgeben, jedenfalls nicht, ohne einen hohen Preis in Form von Gesundheitseinbußen oder Burn-out zu bezahlen. Wir merken doch, dass eine Gefahr ausgeht von einem Produktionsdenken, bei dem „Steuerung und Sicherung“, wie Heidegger aufzeigt, das Wichtigste geworden sind.21 Warum protestieren wir also nicht viel lauter, als wir es tun? Liegt es vielleicht daran, dass wir einem Weltbild verhaftet sind, das uns – trotz unserer Erfahrungen einer herzlosen Interessenverschiebung vom Menschen zur Produktion – dennoch ein tief veranker-

21 Wo das Gestell bestimmt, sind wir in höchstem Maße Gefahr ausgesetzt, betont Heidegger. Aber wir können die Bedingungen, die das Gestell setzt, nicht einfach aufheben und so die Gefahr umgehen. Das Gestell ist ein Schicksal, das wir akzeptieren müssen, um einen Weg aus der Gefahr heraus zu finden. „Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch“, betont Heidegger (1954, S. 32) hoffnungsvoll in Anlehnung an ein Zitat von Hölderlin.

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tes Vertrauen in systematisch durchdachte Produktionssysteme beschert?22 Es kann sein, dass wir, die wir doch moderne Menschen sind, einem Weltverständnis anhängen, das die Wirklichkeit gleichsam als eine große Maschinerie betrachtet, die es gilt zum Funktionieren zu bringen. Eine solche Auffassung – also ein mechanisches (oder mechanistisches) Weltbild – begann sich Ende des 17ten Jahrhunderts durch das Aufblühen der modernen, mathematischen Naturwissenschaft zu verbreiten, wie sie von dem Philosophen und Physiker Galileo Galilei begründet und von dem Philosophen und Mathematiker René Descartes sowie dem Mathematiker und Physiker Isaac Newton weiterentwickelt wurde. Dieses Weltbild eroberte allmählich das Bewusstsein des modernen Menschen – dank der Errungenschaften der Industrialisierung, der Entwicklung der modernen Technologien und dank des Durchbruchs der empirischen Naturwissenschaft (ca. Mitte des 19ten Jahrhunderts) und deren allmählich weltumspannende Verbreitung. Viele werden vielleicht sagen, dass das mechanistische Weltbild bereits überholt ist; aber glauben wir nicht nach wie vor an ein gesetzmäßiges (nomisches) Universum, wenn wir meinen, dass jede Produktion – nicht nur von Waren, sondern auch von (amtlichen) Dienstleistungen – reibungslos erfolgen wird, wenn wir nur die richtigen Produktionsabläufe und -systeme einsetzen?23 Irgendwie wir davon überzeugt, dass es möglich ist, perfekte Produktionssysteme einzurichten; damit glauben wir auch an den Fortschritt und wollen vor allem nicht „rückständig“ sein. Dieser Glaube an Abläufe und Systeme weist eine innere Logik auf. Wir können sie „die Logik der Richtigkeit“ nennen: eine Denkweise, die sicherstellen will, dass wir immer „das Richtige tun“, das heißt, in Übereinstimmung mit den Regeln und Vorgehensweisen des Produktionssystems handeln. Aber die Herausforderung, der wir bei der Beherrschung der Logik der Richtigkeit gegenüberstehen, deckt sich nicht mit der Herausforderung, die das Leben mit sich bringt. In unserer Lebenswelt geht es darum, sich auf dem Weg des Lebens zurechtzufinden. Das erfordert vor allem eine Fähigkeit zu Dialog mit Menschen und mit der Natur. In diesem Dialog können wir uns klug oder unklug verhalten, und wir können aus unseren Erfahrungen lernen. Selbstverständlich können wir auch (Produktions-)Systeme diskutieren und überlegen, ob es klug ist, sie einzurichten und sich nach ihnen zu richten. Die Gefahr besteht aber, dass wir es als so zwingend erleben, uns nach den Systemen zu richten, und als so bedrohlich, wenn wir es nicht täten, dass wir nahezu davon besessen werden, alles richtig gemäß der Vorschriften zu machen. Dabei kann es leicht geschehen, dass wir unsere kritische Urteilskraft und unser selbständiges Urteilsvermögen ausschalten. So können wir aus den Augen verlieren, was Klugheit und Weisheit im Leben aus22 Eine andere Möglichkeit wäre, dass im öffentlichen Dienst angestellte Fachleute nicht über genügend fachliche Sicherheit und Bildung verfügen. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass im öffentlichen Dienst angestellte Fachleute feige Opportunisten sind. 23 Zum Glauben an ein nomisches Universum siehe Lindseth, 2009, besonders S.44ff.

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macht. Auf diese Gefahr weist Jürgen Habermas hin, wenn er in seiner Theorie des kommunikativen Handelns vor der „Kolonialisierung“24 der Lebenswelt durch die Systeme warnt. Die Logik der Richtigkeit soll verhindern, dass wir Fehler machen, aber dadurch werden wir so sehr damit beschäftigt, alles richtig zu machen, so dass wir uns nicht mehr fragen, ob unser richtiges Tun vielleicht unklug oder unethisch ist. So versuchen wir nicht nur, das Dumme zu vermeiden, sondern wir verlieren auch das Kluge aus den Augen. Damit kann systematische Richtigkeit zu konsequenter Dummheit werden. Und ich fürchte, dass diese Konsequenz leichter und schneller eintrifft, als wir meinen.

Die dialogische Methode der Philosophischen Praxis: Begegnung, Raum, Ort, Sache Wir können also unterscheiden zwischen Methoden, die die Möglichkeit bieten, dass in einem geplanten Prozess etwas entstehen kann, und Methoden, die verhindern sollen, dass etwas Neues und Unerwartetes eintrifft. Methoden der ersten Art laden gleichsam das Leben ein, nach seinen eigenen Prämissen zum Ausdruck zu kommen, während Methoden der zweiten Art alle Prämissen selbst setzen und das Geschehen streng kontrollieren. Diese zwei Methodenarten können wir dialogische und monologische Methoden nennen. Wenn wir einer dialogischen Methode folgen, befinden wir uns in einem Gespräch – mit Menschen, mit der Natur, mit einem Material – und in diesem Dialog wird sich zeigen, was möglich oder vernünftig ist zu tun oder zu meinen. Wenn wir in unserem Handeln monologischen Methoden folgen, bestimmen wir selbst, was geschehen soll. Wenn etwas Unerwartetes eintrifft, ist es zwar wichtig, darauf Rücksicht zu nehmen, aber in der Regel versuchen wir dann, die monologischen Methoden zu ändern und zu verbessern, ohne dass wir uns einer Begegnung öffnen, in der wir unmittelbar dazu bewegt werden können, anders zu denken oder zu handeln. Veränderungen werden also immer im Nachhinein durchgeführt – in der empirisch-wissenschaftlichen Forschung in Folge von Falsifikationen, in Organisationen in Folge negativer Auswertung von eingesetzten Verfahrensweisen, usw. Die Methode der Philosophischen Praxis muss dialogisch sein. Da solche Praxis eine Begegnung voraussetzt zwischen einem Philosophen und einer Person, die den Philosophen aufsucht, wird der erste Schritt auf dem Wege darin bestehen, eine gute Begegnung zu ermöglichen. Dafür vermittelt der Philosoph durch seine Haltung dem Gast gegenüber, dass dieser in seinem Raum willkommen ist. Der Philosoph empfängt den Gast in der Regel (aber nicht notwendiger Weise) in seinem Praxisraum, immer aber in einem Raum von Aufmerksamkeit, in dem der Gast eingeladen ist, sein Anliegen vorzubringen. Wer in den Raum des Philosophen eintritt, muss sich willkommen fühlen, vor allem um sich auszu24 Habermas,1981, Band2, S.293.

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drücken. Deshalb finde ich es natürlich, den (oder die) Betreffenden Gast (oder Gäste) zu nennen. Einige Philosophische Praktiker stoßen sich indessen an der Bezeichnung und meinen, dass wohl eher der Philosoph der Gast sei, weil er Einblick in das Leben des Klienten bekäme, während das im Gegenzug nicht (ohne weiteres) der Fall sei. Das ist selbstverständlich richtig, aber dennoch finde ich es problematisch zu sagen, dass der Philosoph der Gast sei, denn der Philosoph kommt nicht, um in der Welt des anderen Platz zu nehmen. Der Philosoph verhält sich zu dieser Welt, aber er kann nicht und soll auch nicht erwarten, als Gast empfangen zu werden. Dagegen ist es eine Herausforderung für den Philosophen, zu vermitteln, dass der andere ein willkommener Gast im Raum des Philosophen ist, ungeachtet dessen, dass er kommt, um etwas Schwieriges anzugehen, etwas, was belastend und besorgniserregend ist, und was für den Betreffenden sehr unklar sein kann. Wenn ich diese Person Gast nenne, will ich damit unterstreichen, dass der Betreffende zu mir mit der Hoffnung gekommen ist, angenommen zu werden, und dass ich den Raum meiner Aufmerksamkeit öffne und mit dem Besten in Empfang nehme, womit ich aufwarten kann. Meine Haltung bringt ein Willkommen! Zum Ausdruck, das kundtut, dass der andere den Schutz und Vorzug des Gastes genießt. Und das braucht der Betreffende, der in meine Praxis kommt, da er zu Beginn nicht sicher sein kann, in seinem Ausdruck angenommen zu werden. Schon bei der Begrüßung vermittelt der Philosoph, dass der Gast willkommen ist. Kommt dieser in einen Wohnraum des Philosophen, kann es natürlich sein, etwas zu trinken anzubieten. Wenn dann das eigentliche Praxisgespräch beginnt, zeigt der Philosoph an, dass er oder sie jetzt offen dafür ist, zu hören, was der Gast auf dem Herzen hat. Jetzt ist es wichtig, dass der Gast den Anfang bestimmt. Er spielt mit den weißen Figuren, sagt Achenbach25 in Anspielung an das Schachspiel. Der Philosoph re-agiert, er verhält sich zu der Eröffnung, die der Gast wählt. Deshalb beginnt der Philosoph nicht damit, nach einem Problem zu fragen. Schon eine solche Fragestellung würde das Gespräch in Bahnen lenken, die es leicht begrenzen können. Der Gast könnte sich verpflichtet fühlen, ein „richtiges“ Problem zu haben, ein genügend klar formuliertes Problem, ein hinreichend wichtiges Problem, ein Problem, das nun das zentrale Gesprächsthema werden soll, usw. Aber oft stellt sich schnell heraus, dass das, was der Gast zu erzählen beginnt, nicht das Wichtigste ist – ungeachtet dessen, ob er ein Problem beschreibt oder eine Erfahrung, ein Ereignis oder eine Beziehung. Etwas anderes und oft weniger Beabsichtigtes drängt sich auf. Deshalb ist es wichtig, dass der Philosoph nicht damit beginnt, nach einem Problem zu fragen, oder damit, eine Bestellung aufzunehmen, worüber der Gast sprechen möchte. Der Philosoph beginnt mit einer Einladung: einer Meldung, dass dem Gast freisteht zum Ausdruck zu bringen, was immer er möchte. Für mich ist das ein Prinzip für den Einstieg in ein Praxisgespräch. Aber es ist keine strikte Regel. Manchmal kann der Philo25 Siehe 1984, S.65.

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soph einen Grund haben, nach einem Problem zu fragen oder eine „Bestellung“ aufzunehmen. Wenn ein Gast schon beim ersten Kontakt erzählt, dass er ein Problem hat, das der Klärung bedarf, oder eine Problemstellung besprochen werden müsse, dann kann es manchmal unnatürlich sein, nicht darauf einzugehen. Entscheidend ist hier nicht so sehr, was der Philosoph tut, sondern welche Haltung er einnimmt. Worum es bei dieser Haltung geht, wissen wir aus eigener Erfahrung. Wir haben alle einmal erlebt, dass wir einen Menschen getroffen oder vielleicht besucht haben, dem wir etwas erzählen oder mitteilen wollten, aber dann zeigte sich: Der andere ist nicht offen für das, was wir sagen. Dann verlieren wir die Lust, uns mitzuteilen. Wenn es nicht etwas Persönliches ist, was wir auf dem Herzen haben, können wir uns wohl meistens ziemlich leicht mit der mangelnden Empfänglichkeit des anderen abfinden; versuchen wir aber etwas Wichtiges zu sagen, kann es beleidigend empfunden werden, wenn uns nicht zugehört wird. Vielleicht hat sich der andere gewillt gezeigt, zuzuhören, so dass wir unsere Erzählung begonnen haben, aber dann merken wir, dass das nicht ankommt, was wir sagen. Das ist verletzend; wir fühlen uns abgewiesen. Manchmal sind wir vielleicht abhängig von der Hilfe oder dem Beistand des anderen; dann können wir uns nicht so leicht dem Gespräch entziehen, sondern müssen versuchen, unser Reden so zu kontrollieren, dass wir unser Anliegen vorbringen können. Hierbei hilft es, gebildet und wortgewandt zu sein. Ein Beispiel dafür kann der Kontakt mit dem Gesundheitswesen sein. Wir wenden uns an ein geschäftiges und komplexes System mit vielen Kenntnissen und Verfahren und treffen eher auf ein Interesse, brauchbare Informationen über Krankheit und Beschwerden zu erhalten, als auf eine Offenheit, sich das anzuhören, was wir auf dem Herzen haben mögen. Wir können das selbstverständlich akzeptieren, umso leichter, wenn man uns freundlich entgegentritt, aber dennoch ist es nicht so einfach, sich zu vertreten. Es geht gleichsam nicht darum, dass wir in unserem Ausdruck zur Geltung kommen. Wir können nur hoffen, dass die Behandlung, der wir uns unterwerfen, zu unserem Nutzen sein wird. Auch die entgegengesetzte Erfahrung kennen wir: uns wird zugehört, mit Offenheit und Aufnahmefähigkeit für das, was wir auszudrücken versuchen. Wir begegnen einem Menschen, der interessiert ist zu hören, was wir zu sagen haben, und dadurch fällt es leicht, zu sprechen. Wir werden in den Raum einer Aufmerksamkeit eingeladen, in dem unser Reden erklingen und auch ausklingen darf. Da finden wir Worte für das, was wir sagen wollen, oft treffende, vielleicht überraschende Worte. Wir finden Gehör und hören uns damit selbst. Das kann bedeuten, dass wir da erst merken, was wir sagen, dass uns richtig klar wird, was uns beschäftigt. Das Leben, das in dem Gesagten zum Ausdruck kommt, erhält damit eine Möglichkeit, sich in dem Gespräch neu zu gestalten. Es kann gut sein, dass wir etwas sagen, was wir schon früher, vielleicht viele Male gesagt haben. Dann kennen wir das ja, was wir sagen. Wir können es aber zu gut kennen. Wir sind damit gleichsam fertig, bevor wir es gesagt haben. „Wenn die Worte aber

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auf einen aufmerksamen Zuhörer treffen, geschieht etwas. Sie bekommen eine neue Bestimmtheit.“26 Wir hören sie auf eine neue Weise. Wir werden gleichsam angesteckt von der Aufmerksamkeit des Zuhörers, der das Gesagte wie etwas Neues hört. „Auf einmal steht das Gesagte im Raum mit der Qualität einer Neuheit. Das kann erklären, was oft in einem solchen Gespräch geschieht, nämlich dass beide Partner danach besser aufgelegt sind als zu Beginn. Und das nicht nur, weil in dem Gespräch etwas Wichtiges berührt wurde, sondern weil man in eine Bewegung gekommen ist, in der Lebenskräfte freigesetzt worden sind. Man fühlt sich belebt. Das steht im Gegensatz zu einem Prozess, in dem man versucht, das Gesagte in dem Rahmen eines Systems von theoretischem Wissen, z.B. medizinischer, soziologischer oder psychologischer Art, unterzubringen.“27 Die Erfahrung eines Raums der Aufmerksamkeit, der sich in der Begegnung eines empfänglichen oder nicht empfänglichen Gesprächspartners öffnen oder schließen kann, ist eine elementare, eine grundlegend menschliche Erfahrung. In dieser Begegnung, die im Raum des Dialoges stattfindet, erhält das Leben seine Gestalt. Die Begegnung bedeutet Hilfe oder Behinderung für unser Zurechtzufinden auf dem Weg des Lebens. Wir versuchen, uns selbst zum Ausdruck zu bringen, wir wagen uns vor in diesen Ausdruck, und erleben, wie ausgeliefert wir der Annahme durch einen anderen sind, insbesondere durch die Annahme derer, die uns am nächsten stehen. Dabei werden wichtige Prämissen dafür gesetzt, ob das Leben glücken wird oder nicht. Es ist deshalb eine ethische Forderung an jeden von uns, den Lebensausdruck anzunehmen, der sich vorwagt. K. E. Løgstrup sagt das auf folgende pointierte Weise:28 „Auf wie mannigfaltige Weise die Kommunikation zwischen uns sich auch gestalten kann, so besteht sie doch immer in einem Sich-Vorwagen auf ein Entgegenkommen zu. Dies ist ihr innerster Nerv und dies ist das grundlegende Phänomen der Ethik. Um die Forderung, die sich daraus ergibt, zu hören, bedarf es daher auch nicht erst einer Offenbarung im theologischen Sinne. Auch ist es klar, dass die Forderung nicht erst durch eine mehr oder weniger bewusste, zum gegenseitigen Benefizium getroffene Übereinkunft entstanden ist.“

Die ethische Forderung, der der Philosoph gegenübersteht, ergibt sich aus dem verwundbaren Sich-zum-Ausdruck-Bringen des Gastes. Wenn im Gespräch das Leben im elementaren Sinne auf dem Spiel steht, stellt sich an jeden von uns die drängende Frage, wie wir den Ausdruck des anderen aufnehmen können. Bei vielen Gesprächen in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen ist es nicht offensichtlich, dass so viel auf dem Spiel steht. Aber 26 Svare, 2002, S.115; ich zitiere hier mich selbst aus einem Gespräch auf Norwegisch mit Helge Svare in der Zeitschrift Samtiden (dt.: die Gegenwart). 27 Svare, 2002, S.115 28 1989, S.17.

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in anderen Zusammenhängen, in denen der Einzelne bei der Begegnung merkt, dass er „etwas vom Leben des anderen Menschen in seiner Hand“ hält,29 können wir uns der ethischen Forderung nicht entziehen, die bei der Begegnung und durch sie gegeben ist. Wie können wir dann den Raum der Aufmerksamkeit öffnen, in dem der andere gehört wird und sich selbst hören kann? Für Philosophische Praktiker ist das die entscheidende Frage. Und es ist diese Bereitschaft berührt zu werden, die den Raum der Aufmerksamkeit öffnet und die Bewegung des Lebens ermöglicht, die Kräfte freisetzt. Ich möchte versuchen, die Vorgehensweise in Philosophischer Praxis in Form einiger methodischer Schritte zu beschreiben:

Epoché Der Philosophische Praktiker öffnet einen Raum der Aufmerksamkeit, indem er darauf verzichtet, im Voraus zu wissen, worum es in der Erzählung des Gastes gehen wird oder kann. Das bedeutet z.B., dass der Praktiker nicht erwarten soll, dass der Gast ein Problem aufgreifen wird, das einer Lösung bedarf. – Was es mit sich bringt, dem Willen eines Praktikers zur Problemlösung ausgesetzt zu sein, bekam ich nach der letzten internationalen Konferenz über Philosophische Praxis zu spüren, die im Juli 2008 in Carloforte auf Sardinien stattfand. Auf dem Weg von Carloforte zum Flughafen in Cagliari war ich in Begleitung zweier netter niederländischer Kollegen. Ich erzählte von meiner Arbeitssituation, die insofern unbefriedigend ist, als ich zu wenig Zeit und zu wenig Ruhe finde, um zum Schreiben zu kommen. Da erlebte ich unerwartet, dass meine Kollegen begannen, mich zu beraten. Zunächst wollten sie herausfinden, worin genau mein Problem bestand. Ich hatte ja nun eigentlich nicht vorgehabt, in eine solche Problembestimmung einzutreten, mit dem Ziel einer möglichen Problemlösung. Ich wollte mich eher über das Leben wundern, das so werden kann, wie ich es beschrieb. Als ich deshalb auf die Fragen meiner Kollegen mit so unbestimmten Wendungen antwortete, dass ich effektiv eine genaue Problembestimmung verhinderte, dauerte es nicht lange bis einer der beiden Kollegen schlussfolgernd annahm, dass ich wohl ein Bedürfnis hätte, mein Problem aufrechtzuerhalten. Ich hatte also Widerstand, eine Lösung zu finden. Diese Erfahrung, die ich hier machte, war vielleicht die, dass ich einem Versuch von Coaching ausgesetzt war. In dem Fall wäre es ein unfreiwilliges Coaching gewesen, ohne mein Einverständnis, und deshalb auch kein brauchbares Beispiel dafür, was Coaching sein kann. Aber unabhängig davon, ob dies ein Coachingversuch war oder ein Versuch einer anderen Art von Anleitung – ich hätte mich in jedem Fall ganz anders verhalten, wenn eine solche Geschichte in meiner Philosophischen Praxis erzählt worden wäre. Ich hätte mich auf die Erzählung eingelassen, um herauszuhören, wovon sie handelt. Aus meiner Erfah29 Løgstrup, 1989, S. 15.

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rung mit philosophischen Gesprächen hätte ich erwartet, dass sich die Probleme, die sich lösen ließen, in dem Prozess natürlicher Weise ihre Lösung finden würden, – oder vielleicht nur teilweise oder noch nicht. Selbstverständlich würde ich mit dem Gast darüber sprechen, aber in erster Linie würde ich mich mit dem Lebenszusammenhang befassen, in dem die Probleme verstanden werden könnten. Von welcher Art Problemen kann hier die Rede sein? Ich würde unterscheiden wollen zwischen Problemen, die gelöst werden können, Problemen, die sich auflösen können, und Problemen, bei denen es sinnvoll oder notwendig ist, mit ihnen zu leben. Vielleicht geht es weniger um ein Problem, als um eine Erfahrung auf dem Weg des Lebens? Es ist natürlich denkbar, dass mein Gast eine Art Interesse daran hätte, ein Problem aufrechtzuerhalten. Aber dann wäre das ja an sich interessant. Was würde das über den Gast aussagen, über seinen Lebensweg und über das Leben im Allgemeinen? Das wären meine Überlegungen und meine Fragen, zunächst an mich selbst, aber dann auch in dem Gespräch mit meinem Gast. Wenn mich der Gast nicht explizit darum gebeten hätte, würde mir nicht einfallen, dass ich zur Findung einer Lösung eines Problems beitragen solle. Wenn ich dächte, dass ich ein Problem lösen sollte, wäre es dann das Problem des Gastes, das ich zu lösen versuchte? Aber was tun wir eigentlich, wenn wir darauf verzichten, im Voraus zu wissen? Die Skeptiker der Antike empfahlen, darauf zu verzichten, mit Sicherheit zu wissen. Wenn wir versuchen, genau zu wissen, worum es im Leben geht, finden wir keinen Seelenfrieden. Von solcher Sicherheit und Genauigkeit abzulassen, das ist epoché. Edmund Husserl nahm diesen Begriff auf und bezeichnete damit ein entscheidendes Element oder einen Schritt in seiner phänomenologischen Methode: Wenn wir die wesentliche Bedeutung der Phänomene entdecken wollen, müssen wir im Ausgangspunkt die gegebenen Auffassungen und Meinungen über das Phänomen in Klammern setzen. Wir müssen darauf verzichten, sie zu gebrauchen.30 Wir verzichten darauf, sofort zu wissen, dass der Gast über ein Problem spricht, das er gelöst haben möchte. Wir verzichten auch darauf, im Voraus zu wissen, dass der Gast über seine Bedürfnisse spricht oder über Krankheit oder etwas anderes, was in ein Wissensgebiet eingeordnet werden kann, das wir beherrschen. Darauf zu verzichten bedeutet nicht, alles Wissen aufzugeben. Es ist eher von einer Haltungsänderung die Rede. Anstatt dem Gast mit unseren Vorkenntnissen zu begegnen, nehmen wir auf, was er zum Ausdruck bringt. Wir sind gewillt, den Ausdruck des Gastes sozusagen ungeschützt auf uns Eindruck machen zu lassen, ohne schon Zuflucht in ein Wissensgebiet gesucht zu haben, in dem wir uns sicher fühlen können. Wir lehnen nicht die Wissensgebiete ab, sondern verzichten auf ihre Beschützung bei unserer unmittelbaren Begegnung mit dem Gast. Das spürt dieser. Begegnen wir dem Gast mit Offenheit und Aufnah30 Bei der Darstellung der Methode Philosophischer Praxis, die ich hier versuche, folge ich über weite Strecken den Schritten der phänomenologischen Methode.

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mebereitschaft, dann öffnet sich der Raum der Aufmerksamkeit, in dem die Rede erklingen und ausklingen kann, und der Gast in seiner Erzählung Orientierung finden kann. Begegnen wir hingegen dem Gast mit der Bereitschaft des Vorwissens, das Gesagte in Kategorien, Erklärungen und Modelle einzuordnen, dann schließt sich der Raum, oder er bleibt verschlossen. Dann reduziert sich der Ausdruck zu einer Information, mit der der Berater oder Helfer etwas anfangen kann oder auch nicht. Damit ist klar, dass der Gast, der Rat und Hilfe sucht, weniger kompetent ist, das Gesagte zu verstehen, als der Helfer oder Ratgeber. In Philosophischer Praxis wäre dann die Rede nicht mehr ein Ausdruck seines Lebens, hinter dem der Gast stehen könnte, sondern der Gast wäre zum Informanten reduziert, wenn nicht sogar entmündigt. Eine kommunikative Gemeinschaft, in der sich der Gast und der Philosoph treffen könnten, um ihre Erfahrungen – speziell die des Gastes – zu erörtern, wird der Richtigkeitsforderung eines Systems unterworfen und bricht zusammen. Eine Systemwelt hat schon die Lebenswelt kolonialisiert. Den ersten Schritt unserer Methode – den Verzicht, im Voraus zu wissen – vollziehen wir also, indem wir den Ausdruck des Gastes Eindruck machen lassen. Dieser Eindruck wirkt auf den Ausdruck – nicht als Folge eines aktiven, eingreifenden Impulses, sondern in Form einer Einladung.31 Erst durch die Aufnahme im Eindruck kann sich der Ausdruck „vorwagen“ als ein Ausdruck des Lebens des Gastes. Erst der Eindruck konstituiert den Ausdruck als Lebensausdruck. Das ist etwas, was wir in unseren Beziehungen zueinander durch körperlichen Ausdruck erreichen. Deshalb können wir uns nicht immer dafür entscheiden, einen Ausdruck Eindruck machen zu lassen; wir haben keine instrumentelle Kontrolle über unsere Eindrucksbereitschaft. Das ist auch etwas, was wir alle erfahren haben: Jemand möchte z.B. gerne hören, was wir zu sagen haben, aber er erweist sich als unempfänglich für das, was wir gesagt haben möchten. Und dadurch bekommen wir unser eigenes Anliegen auch nicht richtig zu fassen. Manchmal können wir die mangelnde Empfänglichkeit eines Menschen bemerken, bevor er ein Wort gesagt hat, und beginnen deshalb nicht, uns zu äußern. Die Bereitschaft, einen Ausdruck Eindruck machen zu lassen, unterliegt nicht einer bewussten Entscheidung, sondern liegt als eine körperlich verankerte Haltung vor. Deshalb können wir eine mangelnde Bereitschaft wahrnehmen, bevor die andere Person ein Wort gesagt hat. Unsere Körper „lesen“ sich gegenseitig, ohne Wort und Schrift, und wenn die nötige Sensibilität vorhanden ist, können sie erkennen, ob der Raum der Aufmerksamkeit offen oder geschlossen ist. Ein Mangel an Willen oder Fähigkeit, einen Ausdruck Eindruck machen zu lassen, kann auf verschiedene Umstände zurückzuführen sein. Manchmal sind es persönliche Dinge, die verschließen: belastende Erfahrungen, psychische Traumen, Vorurteile, fehlendes Interesse, Unempfindsamkeit, Stress oder etwas Ähn31 Eine solche Wirkung ist struktiv, nicht kausal. Siehe Falter, 2005, und Lindseth, 2008a.

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liches. Andere Male verleitet uns ein Systemwissen, die Prämissen für die Begegnung so zu setzen, dass die Empfänglichkeit begrenzt oder behindert wird, trotz aller Beteuerungen von Offenheit und Hilfsbereitschaft. Was können wir als Philosophische Praktiker tun, um eine offene und empfängliche Haltung gegenüber unseren Gästen einzunehmen? Es gibt keine sicheren Methoden, an die wir uns zurücklehnen können, keine „Qualitätskontrolle“, die garantiert, dass der Ausdruck Eindruck machen kann. Aber durch Erfahrung merken wir, dass wir uns auf unsere Fähigkeit zu Empfänglichkeit verlassen können. Offen zu sein ist ja nichts Kompliziertes. Es ist etwas ganz Natürliches, was wir nicht in einem Kurs lernen müssen. Und dennoch ist es leicht zu verschließen. Unerfahrene Praktiker können von eigener Ängstlichkeit gebunden werden: Werden wir das „hinkriegen“? Hier hilft es, durch ein gutes Ausbildungsprogramm erfahren zu werden, mit Beispielunterricht, Supervision von Eigenpraxis, und vor allem durch die Begegnungen mit den Gästen. Dabei erfahren wir, wie bereichernd es sein kann, Praxisgespräche zu führen. Durch die Offenheit des Gastes erhalten wir ein Geschenk, das wir nur mit unserer eigenen Offenheit entgegennehmen können. Dadurch werden wir aber auch herausgefordert. Manchmal können wir spüren, dass uns eine Thematik unruhig macht. Dann kann sinnvoll sein, selbst einen Praktiker aufzusuchen, zu dem wir Vertrauen haben, um unsere Unruhe zu formulieren, damit unser eigener Eindruck klarer und bestimmter werden kann. Zuletzt möchte ich erwähnen, dass wir an unserer Einstellung arbeiten können, bevor der Gast kommt. Erwarten wir, ein Geschenk zu erhalten, das bereichert? Denken wir, dass der Ausdruck des Gastes wichtig ist, und dass es auf die eigene Empfänglichkeit ankommt, dieses Wichtige entgegenzunehmen? Denken wir, dass der Ausdruck selbstverständlich und sinnvoll ist, wenn wir nur nachhören können, wovon er handelt und dies in seinen rechten Zusammenhang setzen? Oder sind wir Opfer einer Art Voreingenommenheit geworden, in der wir nicht mehr erwarten, dass der Gast uns so viel zu geben hat, in der wir nicht mehr glauben, dass uns der Ausdruck des Gastes auf eine solche Weise berühren kann, dass die Bewegung einer wesentlichen menschlichen Erfahrung in Gang kommt? In diesem Falle ist es wichtig, zu einer Offenheit zurück zu finden, die den Ausdruck des Gastes anerkennt, ansonsten begegnen wir dem Gast nicht. Wir öffnen dann nicht den Raum der Aufmerksamkeit, in welchem eine Begegnung stattfinden kann, und wir verlieren den Boden unter den Füßen, auf dem wir stehen müssen, wenn wir an einer dialogischen Klärung dessen teilhaben wollen, was der Gast zum Ausdruck bringt. Damit verspielen wir auch unsere Möglichkeiten, wenn es nötig ist, dem zu widerstehen oder zurechtzurücken, was der Gast sagt. Wir riskieren, als eine Art Therapeutenparodien aufzutreten, die verständnisvoll und sogar „empathisch“ gute Mine zum schlechten (bösen) Spiel machen, als welches wir es erleben. Wir sind aus dem hermeneutischen Zirkel gefallen, den das Verstehen voraussetzt, und wir müssen zu einer Bewegung des Verstehens zurückfinden, die den Ausdruck des Gastes anerkennt. Wir müssen zu einer Einstellung zurückfinden, mit der wir einer Voll-

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kommenheit des Ausdrucks des Gastes vorgreifen,32 das heißt, dass wir erwarten, dass sich der Ausdruck durch den Dialog als sinnvoll, zusammenhängend und konsistent wird darstellen können. – Manchmal kann es dafür aber nötig sein, dass wir an unserer eigenen Haltung arbeiten, bevor der Gast kommt.

Eidetische Reduktion Wir führen den Ausdruck des Gastes an den Ort zurück (aus dem Lateinischen: reducere = zurückführen), der bildlich in unserem Eindruck hervortreten kann (griechisch: eidos = Bild, Aussehen, Form). In Husserls Phänomenologie macht epoché nur im Zusammenhang mit eidetischer Reduktion Sinn. Sollen wir darauf verzichten, im Voraus zu wissen, was ein Phänomen ist, so gerade deshalb, weil es mit größerer Anschaulichkeit auftreten können soll, so dass wir besser untersuchen können, was das Phänomen in seinem Wesen birgt. Epoché wird also eine Voraussetzung für eidetische Reduktion, für das Auftreten eines Phänomens in größerer Anschaulichkeit. Ganz entsprechend verhält es sich in Philosophischer Praxis. Wenn wir darauf verzichten, im Voraus zu wissen, wovon der Ausdruck eines Gastes handelt, indem wir es wagen, den Ausdruck Eindruck auf uns machen zu lassen – sozusagen ungeschützt durch irgendein Vorwissen, so tun wir dies, um die Erzählung und Lebensthematik des Gastes erlebbar und anschaulich erscheinen lassen zu können. Wenn der Ausdruck des Gastes Eindruck machen kann, geschieht etwas Wesentliches (wie wir es in dem ersten Schritt der Methode, beschrieben haben): Ein Raum der Aufmerksamkeit öffnet sich, in dem das Gesagte mit größerer Deutlichkeit auftreten kann. Es ist, als ob die Rede in diesen Raum eingeladen wird, damit das Gesagte eine klarere Gestalt und klarere Konturen bekommt. Dann kann sich der Gast auch auf eine mehr bewusste Weise selbst hören. Das bringt mit sich, dass es ihm möglich wird, eine neue Orientierung in dem zu finden, was er selbst sagt. Es ist, als ob in dem Raum der Aufmerksamkeit ein Ort entsteht, in dem es möglich wird, sich zu orientieren. Dass das Gespräch den Charakter eines Ortes bekommt, ist eine Erfahrung aus philosophischen Praxisgesprächen.33 Wir sehen vor uns, was der Gast erzählt. Im Bewusstsein entstehen Bilder von dem Erzählten, – klare oder unklare Eindrücke von Ereignissen, Zusammenhängen, – eine Art „Landschaften“. Solche Anschaulichkeit lässt sich wohl als Ergebnis von Vorstellungsfähigkeit erklären; wir können ja auch vor uns sehen, was in einem Roman geschieht. Aber was wir in dieser Anschaulichkeit auffassen, hat seinen Ursprung nicht nur in uns. Wir erleben, dass wir mit einem Ort vertraut werden, den wir zusammen mit dem Gast erforschen können. Wir spüren, wovon die Erzählung des Gastes handelt, und in dem Gespräch mit ihm können wir Worte finden, welche die Welt deutlich wer32 Siehe Gadamer, 1993, S.62; Lindseth, 2005, S.189ff. 33 Siehe Lindseth, 2008b.

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den lassen, in der sich der Gast befindet und aus der er spricht. Als Philosophische Praktiker orientieren wir uns an dem Ort, der im Gespräch entsteht, und der Gast bekommt durch das Gespräch eine Möglichkeit zu Neuorientierung. Der Gast beginnt, sein Leben in einem neuen Licht zu sehen. Auch in der Zeit zwischen den Gesprächen können wir als Philosophische Praktiker merken, dass sich der Orientierungsprozess fortsetzt. Ich kann z.B. an dem Tag nach einem Erstgespräch aufwachen, unter die Dusche gehen und dann sehe ich plötzlich eine Armbewegung vor meinem inneren Auge oder einen Blick, und ich lache laut auf und denke: genau! Was das war, was mir klar wurde, kann ich vielleicht nicht genau sagen. Aber meine Bereitschaft, den Ort weiter auszuforschen, der in den Praxisgesprächen vorkommt, ist größer geworden. So habe ich oft den Eindruck, erst richtig in Gang zu kommen beim zweiten Gespräch mit einem Gast. Und wenn der Gast wieder kommt, muss ich mich nicht anstrengen, um mich zu erinnern, was er gesagt hat, denn es ist, als ob ich wieder an demselben Ort bin wie beim letzten Mal und wiedererkennen kann, worum es geht. Das bedeutet nicht, dass alles zutage getreten ist. Um bei dem Bild des Ortes zu bleiben: Ich sehe vielleicht einen Weg und eine Wegkreuzung, mit Häusern an dem Weg, aber ich ahne nur, was sich hinter der Hausecke befindet. Jetzt erfordert es Zeit, herauszufinden, worum es in den Gesprächen mit meinem Gast geht. Gesprächstherapeuten begehen, v.a. wenn sie unerfahren sind, oft den Fehler, dass sie zu schnell wissen wollen, worüber der Klient oder Patient spricht. Da ist die Gefahr groß, dass sich der Raum der Aufmerksamkeit nicht öffnet, in dem ein Ort entstehen könnte, der es möglich machte, Orientierung im Leben zu finden. Die Gefahr ist doppelter Art: Zum einen kann der Therapeut derart mit seinem eigenen Begreifen beschäftigt sein, dass er leicht überhört, was gesagt wird. Und zum Zweiten wird dem Klienten oder Patienten die Möglichkeit genommen, in seiner eigenen Erzählung sich selbst zu finden. Wenn ich mit Therapeuten zusammengearbeitet habe, habe ich gemerkt, wie belastet sie dadurch sein können, dass sie gute Therapiegespräche zustande bringen sollten, also Gespräche, in denen sie herausfinden wollen, wo die Probleme sind und was man damit machen kann. Einige versuchen auch eifrig herauszufinden, was denn vor sich geht. Wenn sie dann – zu ihrer Erleichterung oder Freude – meinen, ein Problem ausmachen zu können, können sie von diesem Problem so besetzt werden, dass sie fast nicht mehr hinhören, was der Patient oder Klient sagt. Auch wenn die Auffassung des Therapeuten nicht falsch ist, reduziert sich dennoch die Empfänglichkeit, d.h. die Bereitschaft, sich berühren und bewegen zu lassen; der Klient kann anschließend dem Therapeuten die bemerkenswertesten Bälle zuspielen, ohne dass sie aufgenommen werden. Wenn dann der Therapeut von einer Therapiesitzung zur nächsten anhand von Notizen ein Problem festhält, oder vielleicht immer neue Problembestimmungen ausprobiert, verwittert das Gespräch als ein Treffpunkt, der in einer gegenseitigen Bewegung lebt und mitreißt, und der Klient kommt so nicht zu seinem Recht. Erfahrenere The-

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rapeuten entgehen oft dieser Gefahr. Sie sind weniger durch Leistungsangst belastet und weniger von Leistungseifer geprägt und verlassen sich mehr darauf, dass sich zeigen wird, was wichtig ist und wozu sie sich deshalb verhalten müssen. Damit hören sie nicht auf, sich bewegen zu lassen. Sie lassen es also in größerem Maße zu, mit dem Ort vertraut zu werden, der im Gespräch entsteht. So helfen sie dem Klienten oder Patienten, in seiner eigenen Erzählung Orientierung zu finden, – auch wenn eine theoretische Verliebtheit wohl viele Male bewirken kann, dass der Ort des Gesprächs in eine im Voraus bestimmte und für den Patienten ziemlich ungewöhnliche Landschaft verlegt wird. Wenn ich betone, dass in dem Praxisgespräch ein Ort entsteht, lässt sich wohl einwenden, dass das Wort „Ort“ nur eine Metapher darstellt. Wir erleben das Gespräch als ob in seinem Rahmen ein Ort entstünde. Aber was ist ein Ort? Als ich 2002 eine Professorenstelle an der Hochschule in Bodø bekam und von Tromsø und der nördlichsten Universität der Welt 500 Kilometer nach Süden zog, in die Stadt meiner Kindheit, da hatte ich zu meiner Verwunderung das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Ich hatte nicht erwartet, dass mir die Landschaft so viel bedeutet. Es war, als ob mich die Børvass-Zinnen, die Bergkette südlich des Saltenfjordes und der Bodø-Halbinsel, jeden Tag zu Hause willkommen hießen. Jetzt kann man vielleicht denken, dass das daran lag, weil die Bergkette so schön ist. Das wäre aber eine oberflächliche Erklärung. Es ist eher so, dass die BørvassZinnen meine Vertrautheit mit dem Ort zum Ausdruck bringen. Obwohl ich nicht genau sagen kann, worin diese Vertrautheit besteht, bringt der Eindruck der Berge ein Wiedererkennen des Ortes und eine Bestätigung seiner Eigenart. Diese Vertrautheit ist der stillschweigende Hintergrund all meines Wissens über den Ort. Aber gibt es nicht einen entscheidenden Unterschied zwischen einem Ort und einem Gespräch? Der Ort des Gesprächs entsteht doch in dem Gespräch, während ein natürlicher Ort, zusammen mit seiner Landschaft, schon da ist. Oder ist es vielleicht so, dass auch der natürliche Ort in einem ursprünglichen Gespräch hervortreten muss, um „da zu sein“, – einem Gespräch zwischen einer Natur, die uns an-spricht, und einer Vertrautheit, die zu Grunde liegt und gleichsam den Eindruck des Ausdrucks des Ortes trägt? Ohne ein solches Gespräch sind wir nicht empfänglich für den Ausdruck des Ortes, der die ganze Zeit auf uns Eindruck machen und etwas Neues erzählen kann. Wir können uns aber der Bewegung des ursprünglichen Gespräches verschließen und an einer Auffassung des Ortes festhalten. Wir wissen dann zu gut, was der Ort ist. Wir denken dann, dass er schon bestimmt ist, als ein Platz in einer gegebenen Landschaft, als eine Ansammlung faktischer Umstände und Dinge, die wir aufzeigen und erklären können. Dabei vergessen wir den ursprünglichen Dialog, in dem der Ort erst hervortreten kann als etwas, das uns bewegt und mit dem wir vertraut sind. Was aber ist diese Vertrautheit? Wenn ich sage, wir sind vertraut mit einem natürlichen Ort oder mit einem Ort, der in einem Gespräch oder bei einer Tätigkeit entsteht, so sage ich damit nicht, dass die Welt als bekannt und sicher erlebt

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wird. Die Wirklichkeit, mit der wir vertraut sind, und zu der wir uns verhalten, kann auch rätselhaft, fremd, unangenehm oder beunruhigend sein. Wesentlich ist, dass wir diese Wirklichkeit – ein Phänomen, ein Lebewesen, eine Situation, eine Tätigkeit, eine Organisation, einen Zusammenhang, einen Ort – aus einem Erleben dieser Wirklichkeit heraus kennen. Erst im Erleben des Wirklichen kann es zum Ausdruck kommen. So werden wir mit der Welt durch den Eindruck vertraut, den sie in unserem Erleben macht. Ohne diesen Eindruck und dieses Erleben würde uns die Welt nichts sagen. Dann hätten wir keine Welt. Die Welt tritt in einem ursprünglichen Dialog und in einer ursprünglichen Vertrautheit in unser Bewusstsein. Vertrautheit ist hier eine Verbundenheit mit der Welt, eine erlebende Teilhabe an der Welt. Im Erleben von Welt sind wir also innerlich verbunden mit ihr. Wir sind abstandslos an ihr teilhabend. Deshalb fühlt es sich oft wie eine Bestätigung von etwas an, was wir schon „wussten“, wenn wir Abstand bekommen und einen Zusammenhang verständlich sehen können. Wir können den Zusammenhang als natürlich oder unnatürlich erleben, als selbstverständlich oder überraschend, als wünschenswert oder unerwünscht, als gut oder schlecht. Aber wenn wir ihn verständlich finden, dann erleben wir, dass eine Vertrautheit, eine Empfindung oder Ahnung bestätigt wurde. Ohne solches Empfinden der Welt wäre diese unverständlich; sie würde uns nichts sagen. Die Vertrautheit, von der ich hier spreche, ist also die Grundlage des Verstehens. Unsere Teilhabe an ihr ist uns vor den Wörtern gegeben, vor den Begriffen, vor allen identifizierten Bildern, Lauten, Gerüchen, Geschmäckern, Gefühlen oder Empfindungen von Druck, Schwere, Gleichgewicht usw. Aber gleichzeitig ist das, womit wir vertraut sind, nichts anderes als was wir verstehen. Das Empfundene steht in keinem äußeren Verhältnis zu dem Verstandenen. Unsere Vertrautheit mit der Welt trägt unser Verhältnis zu ihr von Innen heraus. Diese grundliegende Teilhabe an der Welt nennt Løgstrup Sinnesempfinden (sansning).34 Damit definiert er den gewöhnlichen Begriff von Wahrnehmung neu. In der Regel wird das Dänische sansning mit Wahrnehmung übersetzt. Wir sind gewohnt zu denken, dass Wahrnehmung Rezeptivität ist, eine Aufnahme von Sinnesimpulsen der Welt. Aber eine solche Aufnahme von Eindrücken von außen erklärt nicht unser Verhältnis zur Welt, betont Løgstrup. Z.B. können wir einen Baum sehen. Natürlich sehen wir den Baum als einen materiellen Gegenstand in einem messbaren Abstand von uns selbst, und währenddessen könnte man sicher auch eine Aktivität in den Nervenbahnen der Sinnesorgane messen. Insoweit macht es dem gesunden Menschenverstand einfach Sinn, zu sagen, dass wir von dem Baum, von einem äußeren Gegenstand Sinneseindrücke gewonnen haben. Aber wie wissen wir, dass das, wovon wir Eindrücke bekommen haben, ein Baum ist? Wenn wir sagen, dass wir das wissen, weil uns die Sinneseindrücke darüber informierten, so ist doch einzuräumen, dass wir keine informierenden Eindrücke erfahren, die etwas anderes wären als der Baum. Es ist der Baum, 34 Siehe 1994, Erster Teil.

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den wir sehen; es ist der Baum, von dem wir Eindrücke haben. Und Menschen um uns herum, die in dieselbe Richtung sehen, wie wir, können auch einen Baum sehen und wir können miteinander über das sprechen, was wir sehen. Was für ein Baum ist es? Hätten wir ihn gerne in unserem Garten? Stellt er geeignetes Material dar, um davon etwas herzustellen? Niemand findet solche Überlegungen merkwürdig. Beginnen wir aber, darüber nachzudenken, was die Vorstellung von Wahrnehmung als Rezeptivität mit sich bringt, wird es doch höchst merkwürdig, dass wir mit solcher Selbstverständlichkeit miteinander über den Baum sprechen können und über die Möglichkeiten, die er uns bietet. Das wird nahezu unbegreiflich, denn wir setzen ja dann voraus, dass der Baum da draußen ist, außerhalb deines und meines Bewusstseins, und dass das Bewusstsein über eine Art Impulse Information über den Baum erhält, welche die Netzhaut treffen und weitere Impulse in den Nervenbahnen in Gang setzen, die dann zum Gehirn gelangen, so dass wir Bewusstsein über den Baum bekommen. Dann müssen wir ja glauben, dass wir nicht dank des Baumes und der erlebten Eindrücke denselben Baum sehen und darüber sprechen können, sondern dank unserer gleichen biologischen Ausstattung. Mit diesem Glauben haben wir ein bestimmtes Weltverständnis vorausgesetzt. Wir sagen zwar, dass wir den Baum erleben, aber wir sind fast gezwungen, uns dieses Erleben als „bloß subjektiv“ vorzustellen – als etwas, das in deinem und meinem Gehirn entsteht und in deinem und meinem Bewusstsein – als etwas, das getrennt ist von der objektiven Welt an sich. Wenn wir so denken, haben wir stillschweigend eine bestimmte Wirklichkeitsauffassung, eine bestimmte Metaphysik gelten lassen. Wir haben uns dem herrschenden modernen Weltbild angeschlossen, das scharf zwischen dem Bewusstsein und der Welt trennt. Wir haben eine Wirklichkeitsauffassung akzeptiert, in der das Bewusstsein letzten Endes ein Zuschauer der Welt geworden ist, – eine auf sich selbst beruhende Auffassung der Welt als etwas ganz anderes als die Auffassung und als etwas Äußeres im Verhältnis zu der Auffassung. Diese Denkweise wird mit René Descartes’ bahnbrechender Philosophie aus dem 17. Jahrhundert verbunden. Diese Philosophie ist für die Zeit danach, für das Zeitalter der Moderne bestimmend geworden; sie teilt die Wirklichkeit in zwei getrennte Wirklichkeitsbereiche ein: das Denken, eine reine Kognition, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die Ausdehnung, in der sich jede Art von Prozessen in Zeit und Raum abspielen. Diese dualistische Philosophie und die mit ihr verbundene Denkweise sind aber in vielerlei Hinsicht und aus vielen Gründen problematisch. Das Problematischste ist die Vorstellung der Welt als Etwas außerhalb des Bewusstseins. Durch diese Vorstellung platziert sich der Mensch „an den Rand des Universums“, sagt Løgstrup.35 Aber diese Vorstellung von der „Randexistenz des Bewusstseins“ ist „die formidable Illusion der Modernität“36. Die Illusion zeigt sich v.a. in der Vorstellung von Wahrnehmung als 35 1994, S. 23. 36 Løgstrup, 1994, S. 8.

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Rezeptivität. Denn Aufnahme von Sinneseindrücken kann nicht die Grundlage unseres Weltverständnisses und Weltverhältnisses sein. Das Verständnis setzt ja eine sinnliche Vertrautheit mit der Welt voraus, die nicht äußerlich sondern innerlich mit der Welt verbunden sein muss. Wenn wir etwas verstehen, befinden wir uns in einer zusammenhängenden Bewegung vom Sinnesempfinden zum Verstehen. Eine Vertrautheit mit der Welt kommt zum Ausdruck im Verstehen, und zeigt sich als Verbundenheit mit der Welt, die wir verstehen. Deshalb kann Sinnesempfinden nicht Rezeptivität sein; es muss Abstandslosigkeit sein, folgert Løgstrup. „Im Sinnesempfinden … gibt es keinen Abstand“.37 Løgstrup stellt damit keine kühne Hypothese vor und keine empirische Erklärung, die durch empirische Daten falsifiziert oder verifiziert werden kann. Er stellt eine Einsicht vor, die notwendigerweise richtig sein muss, wenn unser erlebtes Weltverhältnis Sinn geben soll. Solches Wissen wird in der philosophischen Tradition üblicherweise a priori genannt.38 Die Einsicht, die Løgstrup mit seiner These der Abstandslosigkeit des Sinnesempfindens ausdrückt, ist nichts anderes als die Grundannahme und Grundvoraussetzung der Hermeneutik und der Phänomenologie, nämlich dass unser Bewusstsein der Welt keine außenstehende Beobachtung der Welt sein kann, sondern sie muss vorausgesetzt werden, eine Teilhabe an und Bewegtheit von der Welt zu sein. Diese erlebte Welt stellt Wilhelm Dilthey als die Herausforderung der Hermeneutik dar und Edmund Husserl nennt sie eine vorwissenschaftliche Lebenswelt, die alle wissenschaftlichen Untersuchungen der Welt notwendigerweise voraussetzen müssen. Alles Verständliche, ob Text oder Lebenswelt, können wir nur aus einem Erleben des Verständlichen heraus verstehen, aus einer Teilhabe und Berührtheit, in der ein Text, ein anderer Mensch, eine Tätigkeit oder die Natur Eindruck auf uns gemacht und uns so in unserem Bewusstsein in Bewegung gesetzt hat. Der Gedanke eines auf sich beruhenden und grundlegend unbewegten Bewusstseins – in Form einer Art Spiegel oder Medium der Welt – ist eine formidable Illusion. Als Philosophischer Praktiker erlebe ich, dass ich schon bei der ersten Begegnung mit dem Lebensausdruck eines Gastes innerlich verbunden bin. Ich kann sogar sagen, dass da sofort eine Vertrautheit mit dem ganzen Lebensausdruck zugegen ist. Ich merke aber auch, dass ich nicht zu allem gleich guten Kontakt habe. Und das Verständnis des Empfundenen kann tastend, unzulänglich, schwach sein.

37 Løgstrup, 1998, S. 117. 38 Løgstrup scheint die Abstandslosigkeit des Sinnesempfindens phänomenologisch begründen zu wollen, aber man kann diskutieren, ob seine phänomenologische Beschreibung die Abstandslosigkeit nicht eher voraussetzt, als dass sie sie begründet. Wie ich ihn lese, ist er sich dessen bewusst, dass seine Beschreibungen des Sehens und Hörens Explikationen einer metaphysischen Pointe sind. Zum Beispiel schreibt er: „Was wir geneigt sind zu vergessen – theoretisch zu vergessen – ist, dass das Universum in der vorbehaltlosen Offenheit des Sinnesempfindens in unser Dasein einbezogen ist“ (Løgstrup, 1998, S. 117).

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Fassen wir zusammen: Das Praxisgespräch muss ein Prozess werden, in dem eine Lebensthematik hervortreten kann. In diesem Prozess ist Vorwissen jeglicher Art hilfreich oder hinderlich. Sogenanntes wissenschaftliches Wissen über die Erfahrungen oder Reaktionsweisen des Gastes, über seine Persönlichkeit, Rollenmuster usw. kann besonders hinderlich sein, gerade weil es „richtig“ ist (oder erwartet wird, dass es richtig ist). Das kann mich dazu verleiten, ”zu gut“ zu wissen, wovon ein Ausdruck handelt, so dass ich nicht länger den Ausdruck des Gastes Eindruck machen lasse – und damit schließe ich den Raum der Aufmerksamkeit und verhindere, dass sich ein Ort erschließt, an dem der Gast Orientierung auf seinem Lebensweg finden kann. Ich kann zwar unglücklicherweise voreilige Schlüsse ziehen, aber das braucht nicht so schlimm zu sein, es sei denn, dass ich an ihnen festhalte und damit unbeweglich werde in der Begegnung mit dem Ausdruck des Gastes. Wenn ich offen bin für die Bewegung in meinem erlebten Eindruck vom Ausdruck des Gastes, dann kann der Gast eine entscheidende Hilfe bekommen, um selbst aus verschiedenen Eindrücken herauszufinden, mit denen der Betreffende gerungen hat, um sie zum Ausdruck zu bringen. Damit wird der Gast wichtige Erfahrungen machen können. Eine (vielleicht mangelhafte oder beängstigende) Vertrautheit mit der Welt wird sich klären und in bessere Übereinstimmung mit dem Lebensausdruck des Gastes kommen. Eine Erfahrungsbewegung wird vollzogen werden können, so dass der Gast auf der Reise durch sein Leben besser seinen Platz findet. Aber eine solche Entwicklung verläuft nicht reibungslos. Sie ist anspruchsvoll. Denn der Gast muss (zusammen mit dem Philosophen) die unumgängliche Lebensthematik auf sich nehmen, die in den Gesprächen aufkommen wird. – Und damit bin ich zu dem dritten und letzten „Schritt“ der Methode gekommen, die ich zu beschreiben versuche.

Transzendentale Reduktion Wir wollen den Ausdruck des Gastes „zurückführen“ zu der Sache, die bei dem Gespräch auf dem Spiel steht: die unumgängliche Lebensthematik, die uns an dem Ort des Gespräches begegnet. Nach dem norwegischen Philosophen Hans Skjervheim ist jedes echte Gespräch dreigliedrig:39 Eine Person, A, spricht mit einer anderen Person, B, aber gleichzeitig müssen sich beide zu der Sache verhalten, um die es in dem Gespräch geht. Nicht nur A und B beeinflussen den Lauf des Gespräches, sondern auch die Sache tut es, da beide, A und B, ihr gerecht werden müssen. Tun sie das nicht, wird das Gespräch schnell unsachlich. Es kann dann von A’s oder B’s zufälligen Meinungen geprägt werden. Oder es wird zweigliedrig, indem einer der Gesprächspartner den anderen zum Thema des Gespräches macht. Dazu kann es kommen, wenn A meint, dass B etwas Merkwürdiges sagt. Es geschieht auch im Gesundheitswesen, wenn sich ein Patient an einen medizinischen Fachmann 39 Siehe Skjervheim, 1996, S. 71f. (Der Titel auf Deutsch: Teilnehmer und Zuschauer – und andere Essays).

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wendet, der herausfinden soll, was dem Patienten fehlt. Da wird der Patient in erster Linie ein Informant des Experten, nicht ein Gesprächspartner. Solche zweigliedrigen Gespräche können nützlich sein, aber sie stellen keinen dialogischen Prozess dar, bei dem sich beide Gesprächspartner in dem Versuch bewegen, einer Sache gerecht zu werden, die in dem Gespräch auf dem Spiel steht. Das einfachste Beispiel eines dreigliedrigen Gesprächs liegt vor, wenn zwei Personen ein Thema diskutieren, das beide interessiert. Aber auch das Gespräch zwischen Gast und Philosophen ist dreigliedrig. Dabei ist die Sache nur selten ein im Voraus gegebenes Thema. Die Erzählung des Gastes von seinem Leben und seiner Lebenssituation bringt eine Sache zum Ausdruck, die zunächst unklar ist und sich deshalb durch den Verlauf des Gespräches klären muss. Dabei steht eine Lebensthematik auf dem Spiel, die weder der Gast, noch der Philosoph nur nach eigenem Gutdünken bestimmen kann. Deshalb hat das Gespräch den Charakter einer Untersuchung, einer Erkundung eines vertraulichen Ortes und eines Ausprobierens eines Lebensweges. Aber es ist kein empirisches Forschen im Sinne von science. Das sehen wir aus dem Folgenden: Wenn der Gast oder der Philosoph meint zu erkennen, was Sache ist, dann hat seine Auffassung nicht den Charakter einer erklärenden Hypothese (H), die sich durch neue Ereignisse oder erhobene Daten falsifizieren oder verifizieren ließe. Sie ist dagegen eine Einsicht (E), die sich mehr oder weniger treffend ausdrücken kann. Sehen wir uns ein – nicht ganz einfaches – Beispiel an: die Bulimie des Gastes. Ein Gast meiner Praxis erzählt, wie sie aus Verzweiflung und Frustration Essen kauft, das geeignet ist zum Erbrechen, und wie sie es dann zubereitet und isst, um eine Art Befriedigung zu erleben durch das Erbrechen. Worum geht es dabei? Gehen wir mal davon aus, dass es um eine natürliche Selbstbehauptung (S) geht – die aus verschiedenen Gründen, in der Regel in der Kindheit oder Jugend behindert wurde und deshalb einen ungewöhnlichen Ablauf finden musste. Diese Antwort können wir sowohl als eine empirisch-wissenschaftliche, erklärende Hypothese (H) betrachten – oder als eine Einsicht (E) in eine eigene Lebenssituation und Lebensthematik. Wollen wir eine Hypothese innerhalb der Rahmen der empirischen Forschung annehmen, stoßen wir sofort an methodische Anforderungen. Die Hypothese muss so formuliert werden, dass sie sich nachprüfen lassen kann. Die Prüfung besteht in erster Linie darin, Konsequenzen der Hypothese abzuleiten, die unter bestimmten Versuchsbedingungen eintreffen müssten. Dann führen wir die gedachte empirische Untersuchung durch und halten das Ergebnis fest. Wenn das vorhergesagte Ergebnis eintrifft, haben wir einen positiven Beleg dafür (oder – wie es in den letzten Jahren üblich geworden ist, zu sagen – positive Evidenz), dass die Hypothese richtig sein kann. Vielleicht fühlen wir uns in unserem Glauben an ihre Richtigkeit bestärkt; wir sagen gerne, dass die Hypothese verifiziert worden ist. Aber wir wissen nicht sicher, ob sie wahr ist. Wir tun sogar gut daran anzunehmen, dass weitere Forschung zeigen wird, dass die Hypothese mangelhaft oder verbesserungswürdig ist. Wenn das vorhergesagte Resultat nicht ein-

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trifft, haben wir einen negativen Beleg (negative Evidenz) für die Richtigkeit der Hypothese bekommen (d.h. also positiven Beleg für ihre Unrichtigkeit). Damit wissen wir aber auch nicht sicher, ob die Hypothese stimmt oder nicht. Wir wissen wohl, dass etwas nicht stimmt, aber es muss nicht immer die erklärende Hypothese sein, die falsch ist. Es ist denkbar, dass etwas in ihr richtig ist, aber dass sie unglücklich formuliert ist. Oft mussten wir Zusatzannahmen machen (wir haben Hilfshypothesen aufgestellt), um die Überprüfung durchführen zu können, und vielleicht haben wir dabei etwas für gegeben angenommen, was wir nicht hätten voraussetzen sollen. Oder es stellt sich heraus, dass die Versuchsbedingungen nicht so waren, wie gedacht. Wir können uns auf dem Weg der Forschung in einer unübersichtlichen Situation befinden, in der es schwierig ist zu sagen, was stimmt oder nicht stimmt. Aber wenn wir die Untersuchung wiederholen, dabei vielleicht die Vorgangsweise etwas variieren, und jedes Mal bestätigt bekommen, dass H nicht zu dem erwarteten Resultat führt, dann sagen wir gerne, dass H falsifiziert ist, und wir beginnen zu überlegen, ob sich eine andere und bessere Erklärung finden lässt. Diese für empirische Forschung charakteristische Vorgangsweise wird gerne hypothetisch-deduktive Methode (HDM) genannt. Die Antwort S, dass es um natürliche Selbstbehauptung geht, kann auch eine Einsicht (E) ausdrücken, zu welcher der Gast gelangt ist. Dann geht es nicht darum, Belege zu finden, die zur Verifizierung oder Falsifizierung einer Hypothese beitragen. E ist keine Hypothese, sondern eine versuchsweise Beschreibung einer gelebten Erfahrung. Und die methodische Anforderung an die Erforschung solcher Erfahrung unterscheidet sich von der Anforderung der HDM. Erforderlich ist, Worte und Beschreibungen zu finden, welche die Erfahrung auf treffende Weise einfangen und damit bessere Lebensorientierung geben. Es ist nicht die Rede davon, E infolge einer Untersuchung oder eines Testes zu verwerfen oder zu akzeptieren. E ist eben eine Einsicht und benötigt als solche keine Verifizierung (in Form eines positiven empirischen Beleges) und sie lässt sich nicht falsifizieren (infolge eines negativen empirischen Beleges). Das bedeutet nicht, dass notwendigerweise die Formulierung von E wahr ist. Manchmal merken wir deutlich, dass die Beschreibung von E fehlerhaft oder unglücklich wird, während wir nicht gleichermaßen deutlich den Eindruck des Stimmens haben. Hier gibt es Analogie zu der Situation in der HDM, in der eine Falsifikation sicherer ist als eine Verifikation.40 Aber wenn wir merken, dass die Einsicht nicht ihren besten Ausdruck gefunden hat, dann merken wir das von innen her, aus der Einsicht selbst. Es gilt nicht, Belege zu finden, die der Argumentation ein Moment von außen her zuführt. Manchmal merken wir, dass etwas, das wir für eine Einsicht hielten, doch keine ist. Wir haben uns geirrt. Wir unterlagen vielleicht einer Illusion, einem 40 Falsifikationen bauen auf der Form einer gültigen logischen Schlussfolgerung auf, während Verifikationen dies nicht tun.

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Vorurteil, einer verführerischen Ideologie, hin und wieder vielleicht einer Fehlwahrnehmung. Aber wenn wir das bemerken, ist das eine Einsicht an sich. Einsichten sind nicht notwendigerweise wahr oder unfehlbar. Sie sind in sich verwoben, in gespürtem Kontakt mit verschiedener Thematik, die auf dem Spiel steht in Gesprächen, in Philosophischer Praxis, in Tätigkeiten, in unserer Vertrautheit mit der Welt, in gelebter Erfahrung. Äußere Belege können nicht zu solcher Vertrautheit oder Verbundenheit mit der Welt und mit den Lebensthemen, den „Sachen“ führen, die auf dem Spiel stehen. Und äußere Belege können auch nicht zu dem Prozess beitragen, in dem sich Vertrautheit in ausgedrückter Einsicht zeigt. Alle Einsicht ist also in gewissem Sinne „unabhängig von Erfahrung“, insofern empirische Daten in Form positiver oder negativer Belege nicht zu der Einsicht beitragen können, sondern im Gegenteil: sie setzen die Einsicht voraus. Das aber bedeutet, dass die Lebensthematik, die in Philosophischer Praxis auf dem Spiel steht, a priori ist, nicht empirisch (oder a posteriori, „nach der Erfahrung“, im Sinne von: begründet durch ein nachträgliches Besserwissen, für das empirische Belege den Anlass geben).41 Was können Beispiele für a priori Wissen sein? Wie ich den Begriff klargestellt habe, sind viele, vielleicht die meisten Kenntnisse, auf die wir uns im Leben stützen, apriorischer Natur. Empirisch-wissenschaftliche Kenntnisse haben weniger Bedeutung als wir glauben. Wir lassen uns durch diese und durch die technischen Möglichkeiten, die sie eröffnen, beeindrucken, aber dieses Wissen alleine versetzt uns nicht in die Lage, ein geglücktes oder gutes Leben zu führen. Zuallererst ist mathematisches Wissen ein Beispiel für a priori Wissen. Niemand kann behaupten, dass 2+3=5 eine Aussage ist, die empirischen Beleg benötigt. Das mathematische Wissen ist nicht in gleicher Weise „evidenzbasiert“ wie das medizinische Wissen. Es ist von einer Gewissheit und Notwendigkeit gekennzeichnet, die sich als Strenge und Folgerichtigkeit darstellt, wie wir sie nicht von anderem a priori Wissen kennen. Kenntnisse der Humanwissenschaften, soweit sie Lebensorientierung geben, sind a priori. Und die Evidenz, die das Wissen begründet, ist kein empirischer Beleg, sondern die Konsistenz und Überzeugungskraft einer beweglichen und erhellenden Einsicht, die in gelebter Erfahrung verankert ist.42 Solche Klarheit und Deutlichkeit, ist mit der Evidenz der Mathematik verwandt, aber sie lässt sich nicht in Form von regelkonformen Beweisen vorführen, die Schritt für Schritt die Einsicht rekonstruieren. Hermeneutisches 41 Ich habe oben versucht darzulegen, was ich unter a priori Einsicht oder a priori Wissen verstehe. Es ist a priori, „vor Erfahrung“, weil es sich nicht auf empirische Daten stützt. Aber es entspringt natürlich gelebter Erfahrung. Ich bin mir völlig klar darüber, dass viele diese Definition für zu weit halten werden. Aber ich möchte betonen, dass Einsicht aus gelebter Erfahrung heraus eine Lebensgrundlage darstellt, die mit unserer Klugheit steht und fällt, nicht mit empirischen Belegen. – Auf die umfangreiche und begriffstechnisch komplexe Diskussion über a priori Aussagen und a priori Begründungen gehe ich nicht ein. (Siehe Kompa, Nimtz&Suhm, 2009). 42 Über verschiedene Formen von Evidenz siehe Martinsen & Eriksson, 2009. (Der Titel auf Deutsch: Zu sehen und einzusehen).

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Herangehen an Texte, Handlungen und Kultur und phänomenologische Annäherung an Lebensphänomene sind nicht axiomatisch-deduktiv, aber gleichwohl ein a priori Wissen in Form von lebensorientierender Einsicht. Die Einsichten, die ich in diesem Artikel versucht habe auszudrücken und zu entwickeln, sind a priori Wissen: von dem Raum des Bewusstseins, der sich im Gespräch öffnet – von dem Ort, der in diesem Raum erscheint – von unserer inneren Verbundenheit mit der Welt durch eine ursprüngliche und sinnliche Vertrautheit – von unserer ungesicherten Reise auf dem Weg des Lebens – von der unumgänglichen Lebensthematik, die dabei auf dem Spiel steht und sich in allen echten Gesprächen meldet – usw. Und alle Einsichten in unumgängliche Lebensthematik, die in den Gesprächen der Philosophischen Praxis aufkommen und sich entfalten, sind ebenso apriorischer Natur. Es gibt zahlreiche Beispiele für unumgängliche Lebensthematik. Sie wird unumgänglich in den Zusammenhängen, in die uns das Leben bringt. So ist es nicht überraschend, dass Marianne Walderhaug, die als Philosophin im Bjørgvin Gefängnis in Bergen angestellt ist, in ihren Gesprächen mit den Insassen sich ständig zu bestimmten Themen verhält: Was bedeutet es, ein „normales Leben“ zu führen? Was ist „ordentliches“ Leben? Was bedeutet es, gleichgültig zu sein im Leben? Was heißt es, dass wir wählen, was wir tun? Wählen wir nur etwas, was uns angeboten wird, oder wählen wir auch die Wahl? Was ist Freiheit? Ein Thema, das in meiner eigenen Praxis ständig aufkommt, ist die Problematik, die damit verbunden ist, dass wir in Gemeinschaft und nahen Beziehungen leben wollen, gleichzeitig aber die eigene Selbstständigkeit bewahren möchten. Ein anderes, sehr verwandtes Thema ist Verpflichtung und Liebe. Eine Thematik, die mich speziell interessiert, ist die Frage, was es bedeutet, in Unversöhnlichkeit zu leben. Wir können uns in einem unversöhnlichen Verhältnis zu anderen Menschen befinden, aber auch – und vielleicht zuallererst – zu uns selbst – oder zum Leben. Die Unversöhnlichkeit kann als eine Bewegung fort von einem Lebensschmerz verstanden werden, die jedoch nicht glücken kann und deshalb zu einem Kreisen um sich selbst wird. Auf welche verschiedenen Arten können wir Kreisende bleiben – und damit unser Leben in dem Unversöhnlichen einrichten? Wie ziehen wir andere in unser unversöhntes und unversöhnliches Kreisen hinein? Was heißt es, Versöhnung zu finden? Letztendlich glaube ich, dass es bei meiner eigenen Praxis darum geht, Versöhnung zu finden oder zu ermöglichen. Mein Versöhnungsthema ist so gut wie nie sofort ein explizites und ausgesprochenes Thema der Praxisgespräche. Dasselbe gilt für alle anderen unumgänglichen Lebensthemen, die sich melden können. Implizit kann die Thematik vom ersten Augenblick an vorliegen, aber es braucht Zeit, oft länger als die Gespräche dauern können, um die Thematik zu explizieren und deutlich zu machen – und sie vielleicht zu einer Art Ende oder Erlösung zu bringen. Ein Lebensthema muss zuerst in einem Erzählen zum Ausdruck gebracht werden. In den Praxisgesprächen erscheint es auf unterschiedliche Weisen, immer wieder, und allmählich kann eine Verwunderung über implizite Lebensthemen Raum finden.

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Wo ist ein solches Thema dort am Leben, wo sich der Gast auf seinem Lebensweg befindet, und wie wird es da bestimmend? In diesem Rahmen kann der Philosoph, wenn die Zeit dafür reif und der Gast offen ist, die Thematik beleuchten, indem er Gedanken von Philosophen, Theologen, Dichtern und Forschern einbringt. Die Methode der Philosophischen Praxis soll also nicht sicherstellen, dass ein vorausgeplantes Ziel erreicht wird, sondern sie soll ermöglichen, dass drängende Themen des Lebens besprochen werden können. Dieses Besprechen von unumgänglichen Lebensthemen ist ein Finden des eigenen Lebensweges und zugleich ein Bewusst-werden des Wesentlichen im Leben. Das Klären der Fragen des Lebens, die in den Praxisgesprächen mit Methode angegangen werden, ist eine Aufgabe Philosophischer Praxis, die über jede Vorgehensweise hinaus reicht. Solches Klären muss zu einer narrativen oder systematischen Darstellung der Lebensthemen führen.

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Biografie im ges ellsc haftliche n Wa ndel – Methodisc he Orie ntierung in der Einze lberatung FLORIAN HUBER

Abstract Der Tenor gegenwärtiger Gesellschaftsdiagnosen ist nicht zu überhören. Die spätmodernen Lebenswelten der westlich-kapitalistischen Kulturen sind von einem strukturellen Wandel ergriffen, der uns vor ganz besondere Herausforderungen stellt.1 Insofern philosophische Praxis als ein methodischer Beitrag gelingender Lebenskunst verstanden wird, ist auch sie davon betroffen. Der folgende Beitrag spürt den Herausforderungen und Anforderungen nach, die sich aus dem gesellschaftlichen Wandel für praktisch arbeitende Philosophen ergeben. Am Beispiel der Einzelberatung werden einige Grundcharakteristika philosophisch-methodischer Arbeit herausgearbeitet und ihr Bezug zur spätmodernen Lebenswelt verdeutlicht. Philosophische Praxis muss eine Antwort auf die Fragen ihrer Zeit haben und sie kann diese – so die Annahme dieses Beitrags – nicht unabhängig von einer gesellschaftssensiblen Haltung formulieren.

Sinn und Unsinn gesellschaftlicher Diagnosen Nahezu alle gegenwärtigen Zeitdiagnosen – seien sie nun von Philosophen, Psychologen, Soziologen oder Pädagogen gestellt – verweisen auf besondere Herausforderungen, die uns mehr oder weniger in unseren alltäglichen Lebenswelten begegnen. Folgt man den Sozialdiagnostikern, ist das spätmoderne Leben ein komplexes Sammelsurium an „Isierungen“: Globalisierung, Individualisierung, Mobilisierung, Flexibilisierung, Pluralisierung, Technologisierung, Digitalisierung und viele andere solche Etiketten reihen sich um das Verständnis unserer Zeit. 1

Im Folgenden wird der Begriff „Spätmoderne“ für die Zeit nach der „organisierten“ Moderne verwendet. Für eine genauere Unterscheidung, die hier zu weit führen würde, siehe: Wagner (1995), Welsch (2002), Schmid (1998, S. 95ff.) und Kraus (2000, bes. S. 22-30 u. S. 223ff.).

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Die zahlreichen Versuche, das gegenwärtige Leben und seine Eigentümlichkeiten zu beschreiben, haben mittlerweile eine erstaunliche Vielfalt an Begrifflichkeiten hervorgebracht, die noch dazu immer stärker aus den fachlichen Diskursen in private Lebenswelten vordringen. Und schon hier zeigt sich die erste Überforderung. Viele der oben genannten Begriffe sind im Sprachgebrauch mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass man es sich gar nicht mehr leisten kann, sie nicht zu gebrauchen. Doch was genau meint eigentlich „Individualisierung“?2 Was ist „Mobilisierung“ und welche Auswirkungen hat sie auf meine private Lebenswelt? Außerdem stellt sich grundlegend die Frage, ob nicht all die „Isierungen“ eher zu einer allgemeinen „Irritierung“ beitragen? Sind sie denn mehr als ein gut gemeinter Versuch, die kollektive Orientierungslosigkeit zu verdecken? An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob es im Interesse der Lebenskunst als praktisch-philosophischer Disziplin nicht ohnehin klüger wäre, aufzuhören, das Leben in ständig neuen Variationen zu beschreiben, anstatt es einfach zu leben. Doch genau hier hat die Sache ihren Kern. Das „einfache“ Leben scheint es eben so nicht mehr zu geben. Und sollten wir doch jemandem begegnen, der es geschafft hat sich das Einfache in seinem Leben zu bewahren, so erkennen wir an dem romantischen Gefühl, das uns dabei begleitet, dass seine Lebensform bereits eine vergangener Zeiten sein muss. Gelassen, geordnet, zuversichtlich – all diese Qualitäten gibt es auch heute noch. Doch sie sind nicht einfach. Im Gegenteil: Sie sind das Ergebnis einer aufwändigen und zunehmend mehr zu initiierenden Lebenskunst. Lebenskunst als Lebensarbeit. Eine Kunst, die nicht auf Rezepten basiert – das wiederum wäre „einfach“ –, sondern auf Erfahrungen des Tastens und Experimentierens. Spätmoderne Lebenskünstler haben sich daran zu gewöhnen, dass sich ihr Leben an Veränderungen und nicht an Unverrückbarem ausrichtet. Diagnosen – und so auch Zeitdiagnosen – sind Momentaufnahmen, die mithilfe einer Anamnese, wörtlich der „Wiedererinnerung“, einen besonderen Zustand beschreiben. Diagnosen gehen vom Bekannten aus. Es ist schwer vorstellbar, etwas zu diagnostizieren, was man nicht vorher schon einmal gesehen oder eben „diagnostiziert“ hat. So haben gesellschaftliche Diagnosen einen besonders schweren Standpunkt. Denn anders als in der Medizin, müssen sie einen Zustand beschreiben, den so zuvor vermutlich noch niemand erlebt hat. Gesellschaftliche Verhältnisse waren noch nie derart komplex strukturiert, wie sie es gegenwärtig sind und sie sind darüber hinaus zu aktuell und vermutlich auch zu existenziell, als dass sie mit dem kühlen Blick eines Historikers beschrieben werden könnten. Dennoch haben verallgemeinernde gesellschaftliche Diagnosen ihren Sinn. Sie sind ein wichtiger Bestandteil reflexiver Lebenskunst. Der spätmoderne Mensch will wissen, woher er kommt, damit er weiß, wohin er auf gar keinen Fall gehen 2

Eine sehr lesenswerte Einführung dazu mit einer kritischen Bestimmung des soziologischen Standpunkts findet sich in: Kron & Horacek (2009).

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will. Der Weg zurück ist ihm durch die Natur der Dinge versperrt, der zukünftige ungewiss. Doch irgendwo dazwischen gibt es einen Pfad, der es ihm erlaubt, um Ziel und Tempo seiner Gegenwart zu kämpfen. Diagnosen haben das Potenzial, die notwendige Kraft dafür zu mobilisieren und ist der Diagnoseschock erst einmal überwunden, wird der Horizont frei für neue Perspektiven. Philosophische Praxis braucht also, wenn sie gelingen will, einen horizontalen Blick für die sich gegenwärtig wandelnden Verhältnisse. Die grundlegendsten davon werden im Folgenden zur Sprache kommen. Weiterhin braucht sie aber auch ein Bewusstsein für die vertikale Achse; den Mut und die Gewissheit, die aus der Historie kommen, ebenso wie die Vorstellung eines nahen, zukünftigen Lebens. Denn ohne „utopische Energien“, so weiß Habermas, droht auch die stärkste Motivation im Gewirr gesellschaftlicher Verunsicherungen zu erschlaffen.3 So braucht es vermutlich ein wenig mehr als nur das Wissen um einen besonderen Zustand. Es braucht die Annahme der Herausforderung, die noch im selben Moment um den Schauplatz eines besseren Lebens ringt. Das ist der Kern spätmoderner philosophischer Praxis und ihn gilt es im Folgenden mit seinen methodischen Herausforderungen näher zu beschreiben.

H e r a u s f o r d e r u n g e n s p ä t m o d e r n e r L e b e n sw e l t Herausforderung Individualisierung oder: Wie unteilbar ist das Individuum? Die Freisetzung des vormodernen Menschen aus seinen ökonomischen, sozialen und ideologischen Bindungen hat uns Schritt für Schritt in eine modernere, aufgeklärtere Welt geführt und der Prozess dauert noch immer an. Die Individualisierung, d.h. die Herauslösung des Einzelnen aus seinen großen, alles überspannenden Kontexten – den „Metaerzählungen“ wie Lyotard sie nennt – bildet den Kern der Modernisierung. Diese Herauslösung hat zusammen mit der technologischen Entwicklung das moderne Leben um jene Strukturen bereichert, deren Folgen wir allmählich zu verstehen beginnen. Die „Nebenfolgen“ dieser Prozesse sind mittlerweile so spürbar geworden, dass sie bis in die Lebenswelt des Einzelnen zurück schwingen. „Unteilbar“ zu werden, d.h. einzigartig zu sein in dem Sinne, dass man eine eigene Meinung vom Leben und Sterben im Allgemeinen und von der eigenen Biographie und den damit verknüpften Erwartungen im Besonderen haben kann, ist heute schon fast zu einer paradoxen Bürde geworden. Unteilbar zu sein bedeutete in den Anfängen der Modernisierung frei zu werden von den vormodernen Zwängen, von einem identitätslosen Dasein im Schatten übermenschlicher – und zuweilen unmenschlicher – Ideen. Heute hat uns genau dieses Streben nach Unteilbarkeit in eine von Vielheiten und Widersprüchlichkeiten durchzogene Welt 3

Vgl. dazu auch den Aufsatz von Habermas (1996).

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geführt, in der nicht wenige aufbegehren, da sie sich „ja nicht in der Mitte teilen können“. Die zunehmend mobil und flexibel strukturierten Arbeits- und Lebenswelten tun ihr übriges dazu, die Teilnehmer der spätmodernen „Lebens-Rallye“ (F.H.) zu fordern.4 Folgt man den gegenwärtigen sozialen Studien, sind „Verstörungen“ (Heitmeyer), die sich in privaten Gefühlen des Kontrollverlustes und der Unbeeinflussbarkeit, aber auch in gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit zeigen, mittlerweile ein ernst zu nehmendes Problem innerhalb der westlich-kapitalistischen Gesellschaften.5 Auf diese Herausforderungen muss Philosophische Praxis eine methodische Antwort haben, wenn sie das Individuum weiter in seinem Prozess der Individualisierung unterstützen will. Nicht zuletzt war das ideelle Herzstück der modernen Welt – die Aufklärung – ein philosophisches Projekt, das es nun gilt in seinen Konsequenzen verantwortungsvoll weiterzudenken. Die Arbeit in der philosophischen Einzelberatung ist dafür ein guter Übungsplatz.

Herausforderung Pluralisierung oder: Herzlich willkommen in der »Zuvielisation«!6 Die Pluralisierung einer Gesellschaft und ihrer Werte ist keine unerwartete Nebenfolge, sondern eine logische und im Projekt der Aufklärung bereits angelegte Folge der Individualisierung. Dass sich dies durch die technologische und politische Entwicklung so verschärfen würde, wie wir es gegenwärtig erleben, war damals freilich schwer vorstellbar. Folgt man den scharfzüngigen Kommentaren der Gegenwartsdiagnostiker, haben wir in unserer vielseitig sortierten Angebotsgesellschaft bereits den Zustand der „Zuvielheit“7 erreicht. Je nach Ausstattung unserer materiellen Ressourcen, können wir heute selbst in schlecht sortierten Supermärkten zwischen mindestens zwanzig verschiedenen Zahnpasten wählen. Gleichzeitig finden wir ebenso viele Modelle vor, wie man sein Kind erziehen kann. Auch lange Zeit unverrückbare Bedeutungsräume wie „Familie“ oder „Heimat“ werden zunehmend dehnbarer.8 Die vielfältigen Angebote unserer Gesellschaft sind also nicht allein materieller Art. Sie betreffen im Kern möglicher und unmöglicher Lebensformen – und das ist vielleicht der bewegendere Aspekt – auch unsere Normen und Wer4 5 6 7 8

Vgl. dazu auch Sennett (2000) und Englisch (2001). Vgl. dazu Heitmeyer (2006). Eine Begriffsschöpfung von Manuel Philipp auf www.regional-wissen.de Eine Begriffsschöpfung von Stefan Kaiser in: Du, das Kulturmagazin, 794, März 2009, S. 3. So hat sich der Familienstand, wie er z.B. in einem Versicherungsantrag der HanseMerkur abgefragt wird, von „ledig“, „verheiratet“ oder „verwitwet“ auf „ledig“, „verheiratet“, „verpartnert“, „eheähnliche Gemeinschaft“, „geschieden“ oder „verwitwet“ ausgedehnt. Zur Wandlung und Variationsfülle des gegenwärtigen Heimatbegriffs liegen von Englisch (2001) und Keupp (2002) sehr sensibilisierende Analysen vor.

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te, und führen so von kurzen Momenten der Verunsicherung bis zu chronischen Zuständen der Erschöpfung und der Überforderung.9 Schon Kierkegaard sieht den „Möglichkeitsmenschen“ in Zusammenhang mit der Verzweiflung und auch Robert Musil attestiert dem modernen Menschen: „Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im Geringsten kennt.“10 So sind wir heute in einer „liquiden“ (Zygmunt Bauman) Gesellschaft angekommen, in der Möglichkeiten durchaus als Tyrannei erscheinen können.11 Vor allem kommende Generationen werden sich zunehmend vor die Herausforderung gestellt sehen, gesellschaftlich produzierte, „inflationäre Beliebigkeit“ gegen sinnvolles Gut einzutauschen.12 Doch was ist gut und was ist schlecht?

Herausforderung Widersprüchlichkeit: Von der »Entweder-oder«- zur »Sowohl-als-auch«-Gesellschaft „Nichts lässt sich mit Sicherheit wissen, und alles, was man weiß, lässt sich auch anders wissen“. Zygmunt Bauman13

Insofern Individualisierung zur Pluralisierung von Gütern, Werthaltungen und Lebenskonzepten führt, ist in ihr auch Widersprüchlichkeit als Disposition angelegt. An sich sind Widersprüchlichkeiten keine beklagenswerte Sache. Sie sind ein essenzieller Bestandteil sich entwickelnder Organisationen und Systeme und zudem der beste Hinweis darauf, dass das Diktum der freien Meinungsäußerung noch gilt. Denn Widersprüchlichkeiten treten – wenn sie nicht bewusst instrumentell erzeugt werden – in der Regel dort auf, wo verschiedene Meinungen und Ordnungen auf einander stoßen. Die gegenwärtig beobachtbaren Widersprüchlichkeiten sind jedoch weitaus mehr als das Ergebnis vielfältiger Meinungsäußerungen. Gesellschaftlich gesehen, zeigen sich immer mehr moderne Errungenschaften, die zueinander widersprüchlich strukturiert sind. Ein Beispiel: Als eine der bedeutenden Errungenschaften der modernen Welt kann sicherlich der medizinische Fortschritt gelten, der sich nicht zuletzt am steigenden Lebensalter der westlichen Bevölkerung zeigt. Dem nebenan steht ein soziales Sicherungssystem – wie wir es in Deutschland z.B. mit der Rente (noch) haben –, das ebenfalls als bedeutende Errungen9

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In diesem Zusammenhang sei exemplarisch Alain Ehrenbergs Buch „Das erschöpfte Selbst“ erwähnt, das die Depression als nahezu logische Folge gesellschaftlicher Umbruchs- und Unsicherheitserfahrungen nachzeichnet. Musil (1957, S. 66). Vgl. Hanna Arendts Ausdruck „Tyrannei der Möglichkeiten“ zit. In: Bolz (2009, S. 49). Siehe dazu die Studie von Grünewald (2007). Bauman (1999, S. 48).

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schaft des zivilen Fortschritts betrachtet werden kann. Beide für sich bilden sinnvolle Strukturen und bereichern das spätmoderne Leben an Sicherheit und Lebensqualität. Aufeinander bezogen fördern sie jedoch eine Widersprüchlichkeit zu Tage, die zunehmend mehr Unsicherheit als Sicherheit erzeugt. Konkret: Wie will man eine immer älter werdende Gesellschaft materiell versorgen ohne sich der Menschenunwürdigkeit schuldig zu machen?14 Strukturelle Widersprüchlichkeiten wie diese spielen sich im Weiteren nicht allein auf der politischen Ebene ab. Insofern sich individuelle Lebensentwürfe immer in einem gesellschaftlichen Rahmen strukturieren, schlagen die Widersprüchlichkeiten der politischen Welt auch auf die individuelle Lebenswelt der Menschen zurück. So finden wir heute bereits eine Vielzahl an Identitätsmodellen, d.h. Schablonen auf dem „gesellschaftlichen Markt“, in die wir uns und unsere Biografie hineinerzählen. Viele davon sind widersprüchlich. Einige lassen sich nur unter bestimmten Umständen realisieren und für zunehmend mehr Menschen ist spätmoderne Identitätsarbeit längst eine Aneinanderreihung von Provisorien und experimentellen Lebensentwürfen geworden.15

Herausforderung beschleunigte Zeit oder: Wie schnell ist Gelassenheit? „Eilen hilft nicht viel, zur rechten Zeit aufbrechen ist die Hauptsache.“ Jean de la Fontaine

Sieht man sich auf dem Markt der Lebensratgeber um, ist die beschleunigte Zeiterfahrung wohl eines der beliebtesten Themen gegenwärtiger Lebenskunstangebote. Mit einer ganzen Fülle an Anregungen und Rezepten wartet die Lebenskunst-Produkt-Maschinerie auf, um der abhanden gekommenen Zeitsouveränität entgegenzusteuern. Derweilen scheint die Gegenwart weiter zu schrumpfen, weil sie immer kürzere Zeitspannen umfasst und immer schneller veraltet.16 Dabei sind wir längst im Zeitalter der Gleichzeitig angekommen. Gleichzeitigkeit, so scheint es, ist der letzte Zug, um Prozesse zu beschleunigen, die an ihrem Limit angekommen sind und die Computertechnologie führt es uns täglich vor.17 Um sich für das Thema „Zeit“ zu sensibilisieren, gibt es eine ganze Menge an alten und neuen Texten. Von Senecas berühmtem Von der Kürze des Lebens, dessen Grundideen noch immer eine wachsenden Anhängerschaft einer „Lebe-

14 Als Beispiel ähnlich in: Kron & Horacek (2009, S. 131). 15 Für einen Überblick zur aktuellen Diskussion der Identitätsforschung siehe meinen Beitrag in: Huber (2008, S. 17-46). 16 Vgl. dazu den Ausdruck der „Gegenwartsschrumpfung“ von Hermann Lübbe zit. in: Horn (2008, S. 86). 17 Zur beschleunigten Zeiterfahrung siehe die ausführliche Studie von Rosa (2005). Zur Diskussion der Gleichzeitigkeit: Morgenroth (2004).

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Jetzt!“-Philosophie finden, bis hin zu historisch sehr aufmerksam recherchierten Büchern wie diejenigen von Karlheinz Geißler und seinen Kollegen von der Tutzinger Zeitakademie.18 Bei der Quersicht der Angebote fällt dabei ein zunehmend wachsendes Ringen um die richtige Begriffswahl auf. Dem anfänglich mehr wirtschaftlich orientierten Begriff des „Zeitmanagements“ stehen mittlerweile Begriffe wie „Zeitkompetenz“ oder „Zeitsouveränität“ gegenüber, die mehr eine gemäßigtere, gefühltere Zeitphilosophie repräsentieren. Zeit scheint eben nicht allein etwas zu sein, das sich nach den eigenen Vorstellungen biegen oder „managen“ lässt. Darüber hinaus hilft es auch nicht, seinen Terminplaner optimaler zu füllen, um das überfordernde Pensum zu erreichen. Im Zentrum einer zu übenden Lebenskunst stehen demnach eher die Fragen: Wie kann ich mich selbst in einer zunehmend hektischeren Zeit wahrnehmen? Welcher Zeit folgt mein eigener biologischer, seelischer und geistiger Rhythmus? Wann ist welches Zeitverhalten angebracht und wie lässt es sich am besten in Passung mit meiner eigenen Vorstellung von einem gelingenden Leben bringen?

M e t h o d i s c h e s S e l b s t ve r s t ä n d n i s Bevor wir uns den einzelnen methodischen Zugängen widmen, wie Philosophische Praxis im Spannungsfeld der genannten gesellschaftlichen Grundherausforderungen zu einem gelingenden Beitrag individueller Lebensarbeit werden kann, sei vorweg das methodische Selbstverständnis skizziert, wie es in der Praxis des Autors zu finden ist. Jeder Philosophische Praktiker wird seine eigenen Wege und Techniken entwickelt haben, um mit den Effekten gesellschaftlicher Veränderungen und ihren Auswirkungen auf die individuelle Lebenswelt umzugehen. So lassen sich die folgenden Vorgehensweisen wohl am Besten als Anregung verstehen, die eigene Arbeit daran abzuspiegeln.

Therapeutische Haltung Methode beginnt mit der Haltung. Wenn es einen Weg – eine Methode – gibt, die zu etwas führt, gibt es auch jemanden, der diesen Weg mehr oder weniger bewusst geht. Viel auf diesem Weg hängt davon ab, welche Haltung die „Reisenden“ einnehmen. Denn sie entscheidet, was auf dieser Reise alles gesehen und erlebt wird, wann es sich lohnt innezuhalten und wann der gemeinsame Weg zu Ende ist. Was die Praxis des Autors anbelangt: Das Wesentliche meiner Methode besteht bereits darin, dass ich das Einzelschicksal immer als eines verstehe, das 18 Eine gelungene Literaturzusammenstellung gegenwärtiger Zeitforschung findet sich im Anhang der Publikation Hör’ mal schnell – Zeiten der Aufmerksamkeit, die von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, dem bayerischen Rundfunk und der Evangelischen Akademie Tutzing 2008 im Anschluss an die gleichnamige Tagung herausgegeben wurde.

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seine Sinnfindung nicht unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen, Erwartungen und Dynamiken hervorbringen kann. Die romantische Vorstellung eines modernen Eremiten, der seine Sinnfindung allein mit Gott und ohne die Welt aushandelt, ist eine Illusion; und dort wo sie Wirklichkeit wird, wo Menschen unfreiwillig an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, Barbarei.

Von Mensch zu Mensch Ein zweiter Aspekt, der das methodische Vorgehen der hier beschriebenen Praxis rahmt, ist die Vorstellung, dass sich dort nicht allein Berater und Klient bzw. Philosoph und Ratsuchender in ihren professionellen Rollen und Erwartungen begegnen. Vielmehr noch als eine professionelle Beziehung, ist die Begegnung in der Philosophischen Einzelberatung eine von Mensch zu Mensch. Daher sollten auch die Leidenschaften nicht zu kurz kommen. Es mag überheblich klingen, aber: Wenn mich das Thema eines Menschen nicht interessiert (was freilich nicht oft vorkommt), lehne ich die Beratung ab. Therapeuten wie Sheldon B. Kopp haben mich ermutigt, jede Stunde meiner philosophischen Arbeit auch als Stunde meines Lebens zu verstehen. Eine gute Beratung, bereichert – wie ein sinnvolles Gespräch – immer beide Teilnehmer. Wer sich dagegen zu sehr von materiellen Aspekten leiten lässt, läuft Gefahr den ethischen Duktus der Freiheit gegen jenen der Abhängigkeit einzutauschen. Sicher, Philosophie als Praxis ist auch ein Geschäft, aber eben auch eines, in dem Aufrichtigkeit und Authentizität als spürbare Qualitäten stets am Rande mitverhandelt werden. Der Philosophische Praktiker sollte leben, was er theoretisch praktiziert, denn sein Leben ist das Meisterstück, an dem sich seine Beiträge messen lassen, vielleicht die einzige Referenz, die zählt. Ein Beispiel: Wenn ich „Tasten“ und „Experimentieren“ als fruchtbare Wege zur Wiederaneignung von Sinn in einer zunehmend schwerer zu verstehenden Gesellschaft denke, sollte dieses Verhalten auch in meinem Leben auffindbar sein. Der Philosoph sollte in seiner Identität als Lebenskünstler erkennbar sein und seinem Gegenüber – wenn er dies wünscht – mit seiner Biografie als Diskussionsbeispiel dienen. So haben einige Klienten in meine Praxis gefunden, weil sie mich auf einem Vortrag erlebt hatten und (wie sie mich später wissen ließen) überzeugt waren, dass ich lebe, was ich erzähle. Solche Rückmeldungen erinnern und ermutigen mich als Praktiker, das Praktische der Philosophie nicht nur in den Räumen von Vortragshäusern und Praxen zu leben, sondern eben immer wieder auch in den eigenen Lebensräumen zu suchen und zu prüfen. Selbstverständlich ist unsere Biografie nur eine von vielen möglichen, aber indem sie bewusst gestaltet wird, wird sie zum Probebild einer spätmodernen Lebensführung; ein Wachsbild, das unter der Hitze gesellschaftlicher Veränderungsprozesse einer ständigen Überarbeitung bedarf. Korrekturen an der eigenen Biografie sind heute nicht mehr allein der Ausdruck eines selbst-

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bestimmten, nach Selbstverwirklichung strebenden, kreativen Lebensstils, sondern – wenn man sie im Netz gesellschaftlicher Veränderung denkt und erfährt – bereits zur Notwendigkeit geworden.

Das Leben als erzählte Geschichte „Auf die Frage ‚wer?’ antworten, heißt [...] die Geschichte eines Lebens erzählen.“ Paul Ricoeur19

Ein dritter Aspekt, der den Standpunkt meiner theoretischen und praktischen Haltung markiert, ist – im Anschluss an die Positionen der narrativen Philosophie und Psychologie – die Annahme, dass Menschen ihr Leben als Aneinanderreihung von Geschichten verstehen. Wie ich an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt habe, wird Sinn und biografisches Selbstverständnis wesentlich über Geschichten konstruiert, die wir uns und anderen mehr oder weniger bewusst erzählen.20 Diesen Sinn gilt es in der Einzelberatung mit fragendem Blick auf die Lebenswelt zu ergründen. Erzählen stiftet Sinn und das umso mehr, wenn damit das eigene Leben in Passung zur Umwelt gerät. In diesem speziellen, erzählenden Sinn ist Philosophische Praxis ein Prozess, in dem sich „Verstehen“ und „Verstanden werden“ die Hand geben. So ist es ein wesentlicher Bestandteil meiner philosophisch beratenden Arbeit, gemeinsam mit dem Klienten biografische Möglichkeitsräume zu erkunden, in die es sich im Rahmen lebensweltlicher Veränderung sinnvoll hineinerzählen lässt. Der zunehmende Verlust großer gesellschaftlicher Rahmenerzählungen und der fortschreitende Wandel von Normen und Wertvorstellungen fordert diese Arbeit zusätzlich heraus. Der strukturelle Wandel der spätmodernen Lebenswelt fordert uns immer mehr dazu auf, eigene Antworten auf die Lebenspraxis zu finden. Sei es nun das Arrangement mit zunehmend flexibler zu gestaltenden Arbeitswelten, den notwendig kreativen Entwürfen von Familie oder Partnerschaft, Fragen der Ethik oder ganz konkret der eigenen Identität – Wer bin ich und wer kann ich in diesem Leben noch alles sein? Gleichzeitig muss ein Teil dieser Antworten formuliert werden, ohne schon den größeren Überbau zu sehen, mit dem die einzelnen Lebensgeschichten in Passung zu bringen sind, will man sich nicht an der Anerkennung Anderer vorbeierzählen. Zum anderen besteht gerade darin der Ausdruck spätmoderner Freiheit. Das Hineinerzählen der eigenen Lebensgeschichte in unsichere Verhältnisse ist somit Bürde und Chance zu gleich.

19 Ricoeur (1991, S. 395). 20 Siehe Huber (2008).

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Setting Für die Erarbeitung biografischer Perspektiven hat sich folgendes Setting als hilfreich erwiesen. Es findet hier Erwähnung, weil Rahmenbedingungen in philosophischen Praxen – wie nicht zuletzt dieses Buch zeigt – nie selbstverständlich oder gewöhnlich sind. Für die Einzelberatung ist in der Regel eine Gesprächsdauer von 50 bis 60 Minuten angesetzt. Für die Begrenzung der Dialogzeit spricht neben organisatorischen Gründen wie der Terminplanung vor allem der „Zugzwang der verstreichenden Stunde“. Wie im Leben, dessen einzige wahre Begrenzung der Tod ist, treibt gerade das Wissen um die Endlichkeit die Suche nach der besten Haltung an. Die Frequenz der Sitzungen hingegen variiert nach Dringlichkeit und Sache. Klienten, die nur einen externen „Input“ brauchen und schon mit einer konkreten Frage kommen, reichen manchmal mit ein bis fünf Sitzungen, die über einen Beratungszeitraum von ein bis drei Wochen verteilt sind. Unspezifischere Fragen, die sich der Suche nach dem guten Leben widmen, ethische Haltungen betreffen oder einem Lebens-Unmut entwachsen, der erst noch näher zu bestimmen ist, nehmen mehr Zeit in Anspruch. Hierfür hat sich eine Frequenz von wöchentlichen Sitzungen bis hin zu Abständen von einem Monat als fruchtbar erwiesen. Die längeren Abstände dienen vor allem dazu, therapeutische Abhängigkeiten zu vermeiden und dem Leben Gelegenheit für neue Ereignisse zu geben, sowie genügend Raum für eigenes Tasten und Experimentieren zu lassen. Letztendlich ist auch Philosophische Praxis nur ein „provisorisches Laboratorium“, in dem Einstellungen und Haltungen zum Leben erprobt werden. Gelebt werden muss es dort, wo die (anderen) Menschen sind; in den Irrungen des alltäglichen Seins, das zwischen Kummer und Freude stets nach dem Glück Ausschau hält. Die Sitzungen finden in der Praxis statt, das Honorar ist festgeschrieben.

Zugänge Allgemeine Methodik Die Grundausrichtung philosophisch-methodischer Praxis in der Einzelberatung ereignet sich im Dialog und konzentriert sich auf das Denken. Spezifisch: Das Erwarten, Planen, Hoffen, Befürchten, Erkennen, Urteilen und Erkunden von Situationen, Ereignissen oder Lebensumständen. Zudem ist Philosophische Praxis, meinem Verständnis nach, immer auch „Archäologie der Sprache“ und daher stets auf der Suche nach treffenden Beschreibungen für das gegenwärtige Erleben. Ein Bestandteil davon ist die Suche nach gehaltvollen Sinn- und Sprachbildern, die man als therapeutische Meta-

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phern beschreiben könnte. Der Ausdruck „therapeutisch“ ist hier wörtlich zu verstehen im Sinne von (gr.) therapon: Diener, Gefährte. Demnach ist auch Philosophische Praxis „therapeutische“ Arbeit, wenn der Philosoph seine Klienten auf dem Weg einer bewussten Lebensführung begleitet. Therapeutische Metaphern dienen uns in der Beratung dazu, unsere eigene Sprache zu finden und Zusammenhänge, die wir erdacht haben, festzuhalten. Fragen, die solche Metaphern anregen sind z.B.: In welchem Bild könnten wir diesen Sachverhalt für uns fassen? Oder: Welches Bild kommt Ihnen dazu? Im Anschluss daran lässt sich das Wort-Bild in seiner Aussage und in seinen Konturen im Dialog weiter schärfen. Im schlechtesten Fall spricht man einem Bild hinterher, das die Frage oder das Problem nicht weiter erhellt oder gar verschleiert. Im besten Fall lässt sich in der Metapher etwas begreifen, das so vorher nicht zum Ausdruck kommen konnte. Metaphern haben eine Quelle, eine Wurzel, eine Sphäre aus der sie sich nähren und einen Zielbereich nach dem sie greifen. Dieser Weg, der Erkenntnisweg der Metapher, lässt sich im Dialog nutzen, um Zusammenhänge zwischen zwei Bedeutungssphären herzustellen, die so bisher nicht zu sehen waren. So lässt sich die Tätigkeit Philosophischer Praxis beispielsweise als „Übersetzungsarbeit“ verstehen.21 Die bildliche Vorstellung von „Übersetzung“ zeigt uns die Teilnehmer Philosophischer Praxis, wie sie an einem Flussufer stehen. Philosophierend wollen sie „über-setzen“, d.h. die Philosophie in ihrer praktischen Gestalt als Vehikel zur Fortbewegung im Lebensparcours nutzen. Nun bietet dieses Bild mehrere interpretative Zugänge: Der Fluss, den es zu überqueren gilt, kann als Symbol für das Problem gesehen werden, das bewältigt werden will und er hat eine Gestalt, nach der man weiter fragen kann: Wie sieht der Fluss aus? Ist er harmlos mäandernd oder ein reißendes Gewässer, das auch hartnäckige Vorurteile unterspült? Im ersten Fall ist das Ufer etwas, an dem man sich wohlfühlen und die Existenz genießen kann, im zweiten eine Herausforderung, die viel Motivation und auch Bereitschaft zu Frustration und Irritation verlangt, nach dem Motto: Praktisches Philosophieren geht nicht ohne nass zu werden. Darüber hinaus bietet das Bild der philosophischen Flusslandschaft die Annahme eines gegenüberliegenden Ufers nach dem man ebenso fragen kann: Wie sieht dieses Ufer aus? Wo wollen wir mit unserer gemeinsamen Arbeit in der Philosophischen Beratung hin? Was ist die Utopie, die uns ans andere Ufer treibt? Die therapeutische Metapher der „Übersetzung“ hat noch ein weiteres Bild: Philosophische Praxis ist auch Übersetzung im Sinne der Bewegung von ›Zahnrädern‹. In ihrer fortdenkenden Art setzt sie ein logisches Argument an das andere, um so in ihren Denkbewegungen ineinander zu greifen und ihre Kraft weiter-

21 Diese Metapher ist in meinem Seminar Therapie der Sprache, Sprache der Therapie – Sprachspiele der Erwachsenen, 2009/2010 aus dem Dialog mit den Teilnehmern heraus entstanden.

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zugeben. Philosophische Praxis ist diesem Bild nach kontrollierte Bewegung, die weiß, dass das hektische Tempo spätmoderner Geschäftigkeit Menschen zum ›Durchdrehen‹ bringen kann. So ist Philosophische Praxis ein Ort, an dem man das richtige Tempo (nicht nur im Denken) üben kann, um sich anschließend gelassener und kraftvoller in der Welt fortzubewegen. Wenn Philosophische Praxis in diesem Sinne eine aktive und kreative Hilfestellung zum Leben sein will, muss sie auch ihre Grundelemente – die sprachliche Verhandlung von Sinn und Bedeutung in erzählerisch konstruierten Lebenskontexten – als kreativen Zugang erfahrbar machen. So ist es schwer vorstellbar, jemanden für die potentielle Gestaltbarkeit seiner Biografie zu begeistern, wenn eine kreative Haltung nicht schon in der sprachlichen Verhandlung von herausfordernden Lebenslagen in der Beratung als Qualität spürbar ist. Die Arbeit mit therapeutischen Metaphern ist dafür ein guter Zugang. „Archäologie der Sprache“, wie sie in meinen Einzelberatungen als Basisinstrument zum Einsatz kommt, umfasst demnach: a) die Analyse von Begriffen b) das Finden und Konturieren therapeutischer Metaphern und c) die Kunst des richtigen Fragens. Erstere und Letztere sind bereits ausführlich in der Literatur beschrieben und gehören zur methodischen Grundausstattung jeder Philosophischen Praxis.

Fokus Individualisierung Ein besonderes Augenmerk kommt in der biografischen Einzelberatung der Wahrnehmung der eigenen Person und dem Verständnis der Biografie als potentiell formbare Geschichte zu. In dieser Hinsicht gibt Philosophische Praxis Antwort auf die Herausforderung der Individualisierung – wie sie oben skizziert wurde – und versteht sich damit als Beitrag einer gelingenden Identitätsarbeit.22 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Individualisierung ja immer eine Bewegung aus bisher einbettenden Strukturen heraus ist und – insofern der Mensch grundlegend als soziales Wesen veranlagt ist – wieder in (gewünschte) neue Strukturen führt.23 Der Fokus bei der philosophischen Begleitung von Menschen im Kontext der Individualisierung liegt also in erster Linie auf der Bewusstwerdung, und im Anschluss daran, auf der konstruktiven Analyse verlassender und neu zu gestaltender Lebensbezüge.

Analyse alltäglicher sozialer Beziehungen Die Analyse der alltäglichen, sozialen Beziehungen lässt sich z.B. mit Hilfe von Netzwerkkarten oder vergleichbaren Methoden der sozialen Diagnostik realisie-

22 Zur Einführung in die aktuelle Identitätsforschung siehe Keupp et al. (2002), sowie das 1. Kapitel meiner Studie (2008, S. 19-46). 23 Siehe Kron & Horacek (2009, S. 25).

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ren.24 In Netzwerkkarten werden die einzelnen Kontakte gleichsam einer Sternenkarte graphisch repräsentiert. Dabei steht i.d.R. die betreffende Person (der Klient) im Zentrum. Sie bildet die „Sonne“ ihres Beziehungsuniversums. Um sie herum reihen sich die familiären, beruflichen, freundschaftlichen und professionellen Kontakte. Anhand des Abstands zur Mitte lässt sich die gefühlte Nähe der einzelnen Sterne zur Person (Sonne), sowie ihre Beziehung zu anderen Sternen graphisch darstellen. Um das Beziehungsgeflecht überschaubar zu halten, kann die Sternenkarte zusätzlich in Bereiche wie „Familie“, „Beruf“, „Freizeit“ oder „Professionelle Beziehungen“ eingeteilt werden, so dass auch Mehrfachnennungen möglich sind. Gleichzeitig wird damit sichtbar, welche Lebensbereiche gut und welche eher spärlich mit sozialen Ressourcen belegt sind. Wichtig ist, meiner Erfahrung nach, dass der Klient seine Beziehungen benennt, während er sie in der Karte skizziert und der Berater ihn durch interessiertes Fragen zur Exploration seiner Beziehungswelt anregt. Das so entstehende Beziehungsbild gibt einen ersten Überblick über die gegenwärtige soziale Situation des Klienten, darf jedoch nicht als absolute Repräsentation missverstanden werden. Vielmehr gleicht die Arbeit mit Netzwerkkarten einer Momentaufnahme – gleichsam einem Polaroid – das in einem anderen Setting, zu einer anderen Zeit, wenn auch nicht gänzlich anders, so doch verschieden sein kann. Im Bewusstsein dieser Eigenheit kann die Arbeit mit Netzwerkkarten als Voraussetzung für die Ermittlung des Ist-Zustands eines gegenwärtigen Lebensstils betrachtet werden. Philosophische Arbeit, die sich im Näheren der individuellen Lebenskunst widmet, tut gut daran, den zu beratenden Menschen als soziales Wesen mit all seinen gelingenden und noch auszuhandelnden Beziehungen zu verstehen. Demgegenüber birgt die rein mündliche Verhandlung sozialer Beziehungen die Gefahr, „spannende“ Kontakte oder Beziehungen zu übersehen, vor allem wenn der Beratungsaufwand nur auf wenige Stunden begrenzt ist. Da lebensweltliche Rahmenerzählungen wie „Partnerschaft“ und „Familie“ aufgrund ihrer zunehmenden Gestaltungs- und Interpretationsmöglichkeiten immer mehr zu bewegenden Themen in der Philosophischen Praxis werden, zeigt sich die Arbeit mit Netzwerkkarten als vernünftiger Ausgangspunkt zur Exploration des Lebensstils und den damit verbundenen Moral- und Wertvorstellungen.

24 Sinnvolle Suchbegriffe in diesem Zusammenhang: „Soziale Diagnose“, „Soziale Diagnostik“, „Soziale Netzwerke“, „Netzwerkanalyse“. Zur Einführung in die Diskussion siehe zudem Keupp & Röhrle (1987), sowie Straus (2002). Zum Verhältnis von „Identität und soziale Netzwerke“ siehe: Keupp et al. (2002, S. 153ff.). Nicht zuletzt findet sich auf der Webpräsentation von Peter Pantucek (Wien) eine leicht verständliche Einführung zur Anwendung von Netzwerkkarten: www.pantucek.com [letzter Zugriff: 7.3.2010].

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Der große Rahmen – Glaubensgrundsätze Ergänzend zur Erhebung der sozialen Situation, zeigt sich die Frage nach den grundlegenden Glaubenssätzen des Klienten als weiterer möglicher Weg zur Erkundung des Lebensstils. Philosophische Praxis zielt an der Frage der Individualisierung vorbei, wenn sie sich nicht für die „Glaubenswelt“ ihres Gegenübers interessiert. Es macht eben einen Unterschied, ob ein Klient an einen Gott oder eine andere Schicksalsmacht glaubt, oder sich ganz auf sich allein und seine weltlichen Beziehungen zurückgeworfen sieht. Früher oder später wird jede philosophische Beratung, die sich dem gelingenden oder guten Leben widmet, auf diese Fragen stoßen. Abgesehen davon lassen sie sich jedoch jederzeit bewusst durch sokratisches Philosophieren in den Beratungsprozess integrieren. Harlich Stavemann hat dazu bereits ein ausführliches Konzept vorgelegt, das sich auch für die philosophische Praxis gut nutzen lässt.25 Besonders häufig treten Fragen der Glaubenseinstellung im Kontext lebensweltlicher Widersprüchlichkeit zu Tage und nicht selten entsteht die gedankliche Konzentration auf eine „kosmische Ordnung“ aus dem Wunsch nach einer besser verstehbaren, geordneteren Welt. Fern jeglicher aufklärerisch-missionarischer Absicht, sollte dem Philosophischen Praktiker daran gelegen sein, sein Gegenüber zu motivieren, mit ihm gemeinsam auch andere Interpretationen seiner Problemstellung zu erkunden. So besteht im philosophischen Dialog die Möglichkeit, Widersprüchen bewusst zu begegnen. Im besten Fall hilft das übende Gespräch die Angst vor Widersprüchlichkeiten zu verlieren und zu erkennen, dass diese im Kontext globalisierter und zunehmend pluralisierender Lebenswelten eher eine notwendige als zufällige Begleiterscheinung sind. Im Anschluss daran zeigt sich die Frage nach dem Glauben nicht selten aus einer anderen Perspektive. Erkundung kollektiver Gegenwartswelten Neben der Analyse primärer sozialer Netzwerke und der Prüfung grundlegender Glaubenseinstellungen stellt sich der Philosophischen Praxis im Weiteren die Erkundung kollektiver Gegenwartswelten als fruchtbares Arbeitsfeld dar. In diesem Teil der Gesprächsführung widmet sich die Aufmerksamkeit der Reflexion gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Die grundlegende Idee dieser Haltung ist die Annahme, dass es schwer vorstellbar ist, einen eigenverantwortlichen Kurs im Leben zu finden, ohne zu wissen, in welchem Boot man eigentlich sitzt oder noch besser: in welchem Boot man sitzen möchte. Folgt man Wilhelm Heitmeyers groß angelegter Studie zur Erhebung der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland, geben immerhin zwei Drittel der Bevölkerung an, nicht (mehr) zu verstehen, was in ihrem Land gesellschaftspolitisch geschieht und ebenso viele Menschen haben darüber hinaus auch

25 Stavemann (2008).

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nicht das Gefühl, dass sie an den Zuständen etwas ändern können.26 Die Philosophie findet hier ein wahrlich drängendes Arbeitsfeld vor. Methodisch lässt sich dieser Fokus aufgreifen, indem der Philosophische Praktiker mit seinen Beiträgen, Ergänzungen und Einwürfen die individuelle Problemlage des Klienten umbaut und ihn anregt, sein Problem in einem größeren gesellschaftlichen oder sozialen Rahmen zu betrachten (induktive Perspektive). In diesem Kontext werden auch aktuelle Pressemeldungen oder Allgemeinwissen Gegenstand des Dialogs, der auf diese Weise auch die Vorurteile (Befürchtungen, Ängste, Erwartungen etc.) und damit auch die bestehenden Denkgewohnheiten des Klienten zu Tage bringt. Sind diese erst bewusst, lassen sich gemeinsam alternative Interpretationen und Positionen erkunden, die vielleicht besser mit den Vorstellungen des Klienten von einem guten Leben vereinbar sind. Eine andere Möglichkeit ist die Heranziehung von Alternativbeispielen – Lebensgeschichten aus dem näheren Umfeld des Klienten, Biografien bekannter Persönlichkeiten oder als Gedankenexperiment: die Entwicklung anderer, denkbar möglicher Biografieverläufe, die z.B. unter ganz anderen Umständen zu ähnlichen Problemlagen oder aber gelingenderen Lebensentwürfen gelangen. So entsteht im Dialog eine Perspektive des „Aus-sich-heraus-tretens“, die im Idealfall beim Zurückschwingen in die eigene Denkgewohnheit, das kognitive Tor der kritischen Prüfung passiert. Gleichzeitig macht diese Art des Vorgehens den Klienten mit der Vorstellung bekannt, dass auch andere Menschen mit ähnlichen Problemen zu ringen haben und es aus philosophischer Sicht nicht allein darum geht, derartige Erfahrungen grundsätzlich zu vermeiden oder schnellst möglich zu „behandeln“, sondern sie vielmehr als Übungsraum einer reflektierenden Haltung zu nutzen.

Erkundung lebensweltlicher Utopien Als vierter Zugang einer für Individualisierung sensibilisierten Praxis, hat sich die Erkundung persönlicher und gesellschaftlicher Utopien als hilfreich erwiesen. Während der Fokus in der psychologischen und psychotherapeutischen Praxis bei Zukunftsentwürfen mehr auf der realitätsorientierten Perspektive liegt, gehört es seit den Anfängen der Philosophie zu ihrem Geschäft, gesellschaftliche Utopien zu entwickeln. Eine wesentliche Aufgabe von Utopien besteht darin, einen Kontrast zur Gegenwart herzustellen und neue Möglichkeitsräume zu eröffnen. Außerdem lassen sich gerade moralische Fragen anhand utopischer Inszenierungen und Gedankenexperimente oft besser verstehen und tiefer ergründen. In Ergänzung zu gruppenorientierten Settings, zeigt die Einzelberatung im Hinblick auf die Erkundung utopischer Lebensentwürfe zwei näher unterscheidbare Orientierungsmöglichkeiten:

26 Vgl. Heitmeyer (2006, S. 18).

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Zum einen lassen sich in der Einzelberatung, wie auch im Gruppengespräch, gesellschaftliche Utopien, d.h. die Vorstellung einer gelingenderen, besseren Welt im sokratischen Dialog27 diskutieren (Alternativ: Die Gegenentwürfe dazu). Als Frage formuliert: „In welcher Welt, glauben Sie, werden Sie in 30 Jahren Leben?“ Alternativ: „In welcher Welt wollen Sie in 30 Jahren leben?“ Der Zeitrahmen von 30 Jahren hat sich dabei bewährt, weil er (je nach Alter des Klienten) einen potentiell erlebbaren Lebensraum in den Blick nimmt und gleichzeitig die Spanne einer Generation umfasst. Anders als die Gruppenarbeit kann die Einzelarbeit jedoch stärker auf die individuelle Passung der persönlichen Lebensgeschichte des Klienten zu seiner Umwelt eingehen. So steht in diesem Kontext vor allem die persönliche Lebenszielplanung im Fokus, wie sie u.a. bei Stavemann konzeptuell formuliert wurde.28 Methodisch lässt sich dieser Weg zum Beispiel mit konkreten Fragen nach dem zukünftigen Lebensraum angehen: „Wer glauben Sie, werden Sie in einem Jahr, in 10 oder in 30 Jahren sein?“ Alternativ dazu können je nach Alter und Lebensthema auch kürzere Zeitabschnitte gewählt werden. Ein passender Dreischritt dafür wäre z.B.: „Wer werden Sie in 5, in 10 und in 15 Jahren sein?“ Wichtig dabei ist, dass der Klient die Fragen für sich in der Ich-Form formuliert, d.h.: „Wer bin ich in 5, 10 oder 15 Jahren?“ Als weiteres Gestaltungselement in der Erkundung zukünftiger Lebensräumen, lässt sich das Rollenspiel anführen, bei dem grundsätzlich zwei Variationen zur Verfügung stehen. Zum einen kann der Philosophische Praktiker den Widerpart einer realistischen Position einnehmen und seinem Gegenüber somit als Kontrast zur Entwicklung seiner biografischen Utopie dienen. Fehlt dem Klienten der Zugang zur phantastischen Exploration, kann der Philosophische Praktiker auch zuerst diesen Teil übernehmen und seinem Klienten damit als Modell dienen. Sind die Rollen in ihren Haltungen gesättigt, können sie getauscht werden, so dass jeder Dialogpartner einmal das phantastisch-utopische und einmal das realistisch-konfrontierende Lebenskonzept vertritt und verteidigt. Mithilfe dieses Vorgehens ist es für den Klienten möglich, ein bewussteres Gespür dafür zu entwickeln, inwiefern seine Vorstellungen von einer gelingenden Biografie realistisch oder utopisch sind. Im Anschluss daran kann gemeinsam erkundet werden, welche verdeckten Ziele die einzelnen Positionen für den Klienten erfüllen. So ist es denkbar, dass eine stark utopische geprägte Haltung den Klienten vor zu viel belastender Realität schützt und ihm gleichsam als Fluchterzählung dient. Andererseits steckt vielleicht gerade darin ein Gefühl der Begeisterung, das er in der Gegenwart schmerzlich vermisst. Dann wäre die Aufgabe der verbleibenden Beratungszeit 27 Die Methode des sokratischen Philosophierens wurde bereits an anderen Stellen ausführlich beschrieben. Exemplarisch seien hier für den Fokus der Einzelberatung die Publikation von Stavemann (2002) und für den Schwerpunkt der Gruppenarbeit das Buch von Horster (1994) empfohlen. 28 Stavemann (2008).

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gemeinsam nach Dingen im Alltag Ausschau zu halten, die annähernd an diese Begeisterung heranreichen. Denn philosophisch leben heißt immer auch begeistert unterwegs sein.

Frei assoziative Zugänge Im Anschluss an die genannten Wege, lässt sich die Fokussierung der eigenen Biografie auf vielfältige Weise anregen. So nutze ich im Erstgespräch die Gelegenheit einer leeren Tafel (white board), auf der ich am unteren Rand mittig einen Hügel und darauf in „Strichmännchenmanier“ eine Person skizziere. Im Anschluss daran bitte ich meinen Klienten mir zu sagen, was diese Person von ihrem „Lebenshügel“ (der die reflektierende Position des Klienten in der Philosophischen Praxis repräsentiert) aus sieht. So lassen sich kreativ, in spielerischer Weise die verschiedenen Perspektiven der (geplanten) Lebensentwürfe, aber auch die Ziele der Beratung, z.B. durch das Finden einer passenden Überschrift, erkunden. Grundkenntnisse in der Bildinterpretation sind dabei hilfreich, jedoch nicht notwendig, da es in der Beratung ja nicht vorrangig um das Freilegen unbewusster Anteile geht. Alternativ dazu ist die Arbeit mit einem Blankobuch, das symbolisch die Biografie des Klienten repräsentiert. So reiche ich meinem Klienten eines dieser leeren Bücher und bitte ihn eine bestimmte Seite aufzuschlagen und mir zu sagen, welches „Kapitel“ er aufgeschlagen hat. In dem beidseitigen Wissen, dass dort nichts geschrieben steht, gibt die Antwort des Klienten Auskunft über das gegenwärtige „Lebenskapitel“ oder dem näheren Problem, dem sich die Beratung widmen soll. Die assoziative Arbeit mit Blankobüchern lässt sich im Verlauf der Beratung auf vielfältige Weise weiter nutzen. So kann man diesen Vorgang in einer späteren Sitzung wiederholen, um zu sehen, ob sich der Standpunkt verändert hat oder neue Themen das Problembild überlagern. Zum anderen besteht die Möglichkeit dem Klienten das Buch zu überlassen, um es als Notizbuch für die in der Beratung entwickelten Gedanken zu nutzen. Wiederum andere schreiben darin ihre Biografie fort, indem sie es als Tagebuch führen. Die Arbeit mit leeren Tafeln oder Büchern ist also „Anamnese“, „Zielfindung“ und „therapeutisches Vehikel“ zugleich. Das bewegende Buch Ein letzter Zugang, der hier im Rahmen einer philosophisch orientierten Biografiearbeit im Kontext der Individualisierung Erwähnung finden soll, ist die Arbeit mit Literatur. Literarische Texte (Erzählungen, Romane, Biografien, Märchen, Gedichte etc.), die Menschen sehr bewegt oder nachhaltig geprägt haben, erzählen immer auch etwas von den eigenen Fragen ans Leben. Dabei hat meine Forschung gezeigt, dass es sich dabei nicht unbedingt um „hohe“ oder anspruchsvolle Literatur handeln muss. Wichtig ist vielmehr, dass die literarische Geschichte die Identitätsthemen des Lesers widerspiegelt und ihm Raum und Anregung gibt, seine eigenen Fragen und Lebensentwürfe zwischen die Zeilen hineinzuerzählen.

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Die Frage „Welches Buch hat Sie in ihrem Leben nachhaltig bewegt oder begeistert Sie gerade?“ liefert so nicht selten einen Zugang zu spannenden Phasen der Identitätsentwicklung und -findung, der sich methodisch gut für die Biografiearbeit nutzen lässt. Für weitere Anregungen zum methodischen Vorgehen sei hier auf meine Studie „Durch Lesen sich selbst verstehen“ verwiesen, die 2008 ebenfalls beim transcript-Verlag erschienen ist.

Fokus Pluralisierung Biografiearbeit im Bewusstsein zunehmend pluralisierender Lebenswelten zeigt grundsätzlich zwei große Perspektiven: Zum einen sehen sich die Erzähler spätmoderner Lebensgeschichten von einer vielschichtig strukturierten Umwelt umgeben, die immer weniger festgeschrieben ist und in der sie immer mehr Entscheidungen zu treffen haben. Zum anderen berühren diese Umstände auch die Frage des eigenen Selbst und nehmen somit die Diskussion der Teilidentitäten in den Blick.

Die reflektierte Wahl Was die Perspektive der Umwelt betrifft, befinden wir uns auf einem Weg, der im Grunde nur eine methodische Leitplanke kennt: Die reflektierte Wahl, wie sie z.B. bei Wilhelm Schmid zur Sprache kommt.29 Sie ist das eigentliche große Übungsfeld einer „anderen“, „reflektierten“ Moderne. Schmid stellt in diesem Kontext auch eine kleine Methodik vor, die sich sinnvoll in die praktische Arbeit integrieren lässt: Schmids ästhetische Ethik gestaltet sich aus zwei Grundfragen, die das Wahlverhalten prägen und folglich auch in der Praxis geübt werden können:30 Die erste Frage richtet sich sinngemäß an dem aus, was einem persönlich gefällt (und selbst sie ist angesichts überbordender Angebote an Gütern und Lebenskonzepten bereits eine beachtliche Herausforderung). Die philosophische Haltung stellt sich jedoch erst mit der „Perspektive der Anderen“ ein, in dem man fragt: „Welche Konsequenzen hat meine Wahl für meine soziale und ökologische Umwelt?“ Diese Haltung lässt sich in der Philosophischen Praxis nun mit Klienten anhand alltäglicher Situationen spielerisch erproben. Dabei ist es hilfreich dieses Vorgehen zuerst an einem allgemeineren Beispiel zu trainieren, um es dann auf die konkrete Lebenslage des Klienten zu übertragen. Einen möglichen Einstieg bietet folgende Frage (an den Klienten gerichtet): Stellen Sie sich vor, sie gehen Montagabend nach Ihrer Arbeit noch schnell in den nächstgelegenen Supermarkt, um die wichtigsten Lebensmittel für die Woche zu besorgen. An der Kasse bemerken Sie, dass Sie doch mehr eingekauft haben als sie wollten und die Einkäu29 Schmid (1998, S. 188 ff.). 30 Vgl. Schmid (2006).

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fe unmöglich nach Hause tragen können ohne etwas zu verlieren. Die Verkäuferin streckt Ihnen lächelnd eine Plastiktüte entgegen. Was tun Sie? An diesem Beispiel – und noch mehr an seiner Antwort – zeigt sich im Sinne einer ästhetischen Ethik, dass nur derjenige das Etikett des „Philosophischen Lebenskünstlers“ für sich beanspruchen kann, der den mühsamen und nicht selten frustrierenden Weg durchdachter Konsequenzen auf sich nimmt. Denn: Wer sagt, dass diese Plastiktüte nicht aus einem Öl produziert wurde, das gerade einen Krieg finanziert, den man garantiert nicht haben will? Ein einfacher Hedonist würde sich mit der Tüte begnügen. Hier zeigt sich auch das ethische Potential, das einer gesellschaftssensiblen Praxis innewohnt. Ihre Hauptaufgabe im Kontext pluralisierender Lebenswelten ist es, ihre Klienten in ihrer „Wahlpersönlichkeit“ zu unterstützen. Denn mehr noch als unsere Person, sind es unsere alltäglichen Entscheidungen, die uns zeigen, wo wir in der Gesellschaft stehen und ob wir in diesem Zusammenhang auf dem Weg einer gelingenden Lebenskunst sind. Der „Partikelfilter“ der ökologischen Diskussion liefert uns dafür ein passendes Bild. Was finde ich persönlich schön und welche möglichen Konsequenzen hat meine Wahl? So bildet sich in Übung allmählich ein neuer, sensibler Filter heraus, der sich kritisch an die moralischen Herausforderungen seiner Umwelt anpassen kann. An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch Enthaltung eine Wahl ist. Keine Meinung abzugeben ist aus philosophischer Sicht eben auch eine. Zudem zeigt eine bewusste Wahl nicht allein an, wo man sich gerade hin bewegen möchte, sondern eben auch von welchem Zustand man sich wegbewegen will. „Hin-zu“- und „Weg-von“-Bewegungen sind aus dekonstruktivistischer Perspektive nur zwei Seiten derselben Medaille.

Erkundung von Teilidentitäten Die zweite Perspektive im Kontext pluralisierender Normen und Werte nimmt die Herausforderung der Teilidentitäten in den Blick. So schwingt die Frage der Wahl auf die eigene Person zurück: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“31 „Zauberer und Gaukler, Priester und Philosoph, Redevirtuose und Universalgelehrter und, vor allem anderen, aber nicht von ihm zu trennen, ein Dichter“ so schreibt Steinmann in seinem Nachwort zu „Amor und Psyche“ über Apuleius und skizziert damit einige Teilidentitäten des Autors.32 Wir alle haben solche Teilselbste und sie alle wollen – ob nun bewusst oder unbewusst – mit der Welt verhandelt werden. Ja sie zwingen uns gerade dazu, immer neue Perspektiven gegenüber der Welt einzunehmen und die Gesellschaft gibt uns ständig neue Schablonen dafür zurück. Eine Möglichkeit diese Anteile in der Beratung sichtbar zu machen, ist, konkret nach ihnen zu fragen. Im Anschluss an eine Gruppenübung, wie sie ähnlich 31 In Anlehnung an den gleichnamigen Titel von Richard David Precht. 32 Steinmann (1978, S. 126).

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bei Yalom zu finden ist, rege ich den Klienten an, seine Identitätsbausteine in mehreren Schritten selbst zu erkunden.33 Ich reiche ihm dazu fünf bis zehn leere Kärtchen oder Zettel und bitte ihn, sich (still oder laut) verschiedene Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ zu geben und sie auf die Kärtchen zu schreiben. Im Anschluss daran bitte ich ihn, die Kärtchen nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen, so dass am Ende die wichtigste Antwort unten im Stapel liegt. Sie bildet den Kern seiner Identität. Alle anderen Teilidentitäten sind weniger wichtig, flüchtiger, oder aber aus dem Bewusstsein heraus weniger eng mit dem Identitätsgefühl verbunden. Im Anschluss daran können die bewussten Teilidentitäten zum Gegenstand des Dialogs und so in ihren Facetten und Beziehungen zueinander erkundet und weiter verhandelt werden. Nicht selten bewerten Klienten die Frage nach dem guten Leben aus jeder Teilidentität ein Stück weit anders und wir können diese Eigenheit im Weiteren nutzen, um bestimmte Anteile des Klienten anzusprechen. (Zum Klienten gewandt): „Ich möchte für den Rest der Stunde gerne mit demjenigen Anteil in Ihnen sprechen, den Sie als ‚Zweifler’ bezeichnen. Haben Sie Lust, das gemeinsam durchzuspielen?“ Eine weitere Möglichkeit ein Bewusstsein für Teilidentitäten zu gewinnen, ist die Einbeziehung von Schablonen, Vorlagen, oder Modellen wie sie beispielsweise mit der Idee der Archetypen aus der Arbeit C.G. Jungs überliefert ist. So kann die Vorstellung von archetypischen Seelenanteilen wie „Krieger“, „Held“, „Amazone“, „Hetäre“, „Magier“ oder „mediale Frau“ als Denkschablone dienen, sich zu fragen, wann heute wohl mehr die eine und wann mehr die andere Qualität zum Einsatz kommt. Manch eine Klientin erkennt darin, dass sie in ihrem Beruf zunehmend mehr die Qualitäten einer Amazone braucht, um zu ihrer Anerkennung und zu ihrem Recht zu kommen. In anderen Situationen wiederum würde dieser stark geprägte Anteil die Lebensführung eher behindern. Freilich lassen sich auch individuelle Typen – vor allem in Kombination mit dem methodischen Vorgehen der therapeutischen Metapher (s.o.) – finden und erkunden: Beispiele hierfür aus meiner Praxis sind die Teilidentitäten „DramaQueen“, „Hunde-Guru“ oder „Donna Quijote“. Und nicht zuletzt seien wir mit Gernot Böhmes „Einführung in die Philosophie“34 daran erinnert, dass auch wir Philosophen verschiedene exemplarische Teilidentitäten besitzen, die wir mehr oder weniger bewusst mit unserem Gegenüber verhandeln. So ist es sinnvoll, sich im Hinblick auf die eigene Arbeit hin und wieder zu fragen, wann wir mehr der Lotse (Weisheit), wann mehr der Experte (Wissenschaft) und wann der Meister (Lebensform) sind.

33 Vgl. Yalom (2002, S. 193ff.). 34 Siehe Böhme (2004).

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Fokus Widersprüchlichkeit Die Zahl möglicher und widersprüchlicher Lebensformen hat in der Spätmoderne deutlich zugenommen. Weniger als zuvor gibt es heute den Weg zum Erfolg und selbst Studium oder Ausbildung sind längst keine Garantie mehr für eine wirtschaftlich sichere Zukunft. Menschen erreichen Anerkennung heute auf vielen verschiedenen Wegen. Zudem kann es nicht mehr allein darum gehen, sich eine einheitliche Biografie mit einer festgeschriebenen Kernidentität zu schaffen. Vielmehr besteht die gegenwärtige Aufgabe lebensweltlicher Erzähler darin, ihre Episoden in Passung mit den wandelnden Anforderungen ihrer Umwelt zu bringen und Identität und Anerkennung über situative Authentizität herzustellen. Ein mühsamer Prozess, der Frustration, Irritation und eine ständige Nivellierung der Lebenspläne und -entwürfe fordert. Im Wissen um diese Verhältnisse, spielt die Reflexion gesellschaftlich hergestellter Widersprüche, sowie das Erkennen eigener Widersprüche in der Lebenszielplanung eine bedeutende Rolle in der biografischen Beratung.

Dialektik als Haltung Wenn man methodisch über Widersprüchlichkeit nachdenkt, liegt die Idee einer dialektischen Konzeption nahe. Dialektik als Kunst fasst die Widersprüchlichkeit im Kern und hebt sie mittels der Reflexion auf eine höhere Stufe, wo sie sich in ihrer Synthese verliert; so lange bis eine neue These auftritt und erneut Widersprüchlichkeiten erzeugt. Ob sich dieser Prozess jemals zu Ende führen lässt, ist fraglich, zuweilen abhängig von der philosophischen Position, und nicht selten erreicht er „göttliche“ Dimensionen. Da wir uns in der Praxis der Beratungsarbeit jedoch nicht allein theoretischen Diskursen hingeben – die mehr an eine akademische Ausbildung erinnern und sehr viel mehr Zeit beanspruchen, als die meisten Klienten investieren wollen – sollte das Augenmerk des philosophischen Praktikers im Kontext der Widersprüchlichkeit mehr auf der Prozessqualität liegen. Sicherlich ist es einer der bewegendsten Momente philosophisch praktischer Arbeit, wenn sich lebensweltliche Widersprüche durch die Kunst der geleiteten Reflexion auflösen, was in den meisten Fällen einem vorangehenden Perspektivenwechsel zu verdanken ist. Ändern sich Haltung und Position, wird eben auch das Gewicht der Themen neu verteilt. Jedoch darf das Ziel einer dialektischen Interaktion nicht allein im Streben nach Widerspruchsfreiheit gesucht werden.35 Vielmehr sollte der philosophisch diagnostische Blick des Beraters darauf liegen, wie es der Klient anstellt, über seine Probleme oder Herausforderungen im Leben nachzudenken. Welche Hürden sieht er, seine Lebensentwürfe in einem vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen zu verwirklichen? Welche davon sind gesellschaftlich mitproduziert und

35 Vgl. dazu auch: Davidson (1993, S. 7-23).

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welche lassen sich durch eine Änderung der Denk- oder Handlungsgewohnheiten überwinden? Philosophische Praxis kann sich das Wissen um gesellschaftlich produzierte Widersprüchlichkeiten und die Erfahrung in dialektischem Denken zu Nutzen machen, um Klienten auf dem Weg ihrer persönlichen Lebenskunst zu begleiten. So kann der Praktiker bewusst sokratisch mit seinem Klienten philosophieren und ihn mit immer neuen, Widerspruch generierenden Fragen zur Übung anleiten. Erfahrungsgemäß eignen sich zum Einstieg dazu eher allgemein gehaltene Fragen, welche die individuelle Lebenswelt des Klienten zunächst nicht zu sehr flankieren. Fragen dieser Art können z.B. sein: „Was ist gut?“ Oder: „Was ist mutig?“ Ist der Klient in diesem Szenario ein wenig geübt, kann der Philosophische Praktiker auch konkrete Fragen und Themen aus der individuellen Lebenswelt des Klienten ins Gespräch bringen. Das Schwierigste am sokratischen Philosophieren ist sicherlich ein Gespür dafür zu entwickeln, wie weit man seinen Klienten in die Verunsicherung treiben kann ohne ihn persönlich zu kränken oder zu demotivieren. Das Interesse philosophischer Praxis liegt ja nicht darin, sekundäre Neurosen zu erzeugen, sondern mithilfe einer vernünftigen, reflektierten Haltung Denk- und Handlungsmuster aufzuspüren, die einem guten, gelingenden Leben unzuträglich sind. Gleichwohl ist die begleitete Irritation – wie sie z.B. im Beitrag von Manfred Jaud in diesem Buch zur Sprache kommt – eines der stärksten philosophischen Mittel, um Widersprüchlichkeiten aufzudecken und ihnen bewusst zu begegnen.

Widersprüche sehen lernen Um Widersprüche sehen zu lernen, ist es notwendig, sich für Widersprüchlichkeit zu sensibilisieren. Einen möglichen Einstieg dazu bietet die wohl älteste Einleitungsformel für Märchen aus dem alten Europa wie sie Clarissa Pinkola Estès in ihrem Buch „Die Wolfsfrau“ noch kennt. „Es war einmal und es war auch nicht...“. Heute hingegen kennen wir nur noch die widerspruchsfreie Version: „Es war einmal...“ Doch wie kann etwas gleichzeitig (gewesen) sein und doch nicht? Für den modernen Menschen, der sich aus dem mythenträchtigen Sumpf vergangener Zeiten herausgerudert wähnt, ein blasses Relikt primitiver Lebenskultur – ein Reflex vormoderner Ängste. Für gegenwärtige Lebenskünstler hingegen ein Zustand, der sich täglich vor ihrem Bewusstsein abspielt. Widersprüchliche Berichterstattung in den Medien, Therapieformen und Expertenmeinungen, deren Widersprüchlichkeit sich selbst Laien offenbart... „Es war einmal und es war auch nicht eine Zeit, in der die Menschen wieder selbst zu denken lernen mussten.“ Als weiterer Zugang in der Arbeit mit Widersprüchlichkeiten zeigt sich die gemeinsame Suche nach Situationen, die der Klient früher schon einmal als „Zerreißprobe“ empfunden hat. Hier findet sich nahezu in jeder Biografie ein Beispiel.

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Ein anderer Zugang zeigt sich in der Suche nach Polaritäten, Situationen und Begriffen, die einen Spannungsbogen aufbauen. Auch dieser Weg lässt sich durch kluges Fragen gestalten: Was glauben Sie ist der Gegenpol von „Liebe“, „Freundschaft“ oder „Glück“? Und lassen sich Situationen vorstellen, in denen Ihre Meinung nicht zutrifft? Wie realistisch sind diese Situationen? Dabei sollten wir uns nicht vorschnell mit reflexartigen Antworten zu Frieden geben. Ist „Pech“ wirklich ein überzeugender Gegenpol zu „Glück“? Wie sieht „Pech“ aus? „In welcher Situation haben Sie schon einmal Pech erlebt?“ etc. Und nicht zuletzt zeigt sich Widersprüchlichkeit überall dort, wo sie die Sprache mit einem „Aber“ kaschiert. Offen und verdeckte Aber-Formulierungen sind häufig ein Hinweis auf lebensweltliche Spannungsfelder. So wird die Analyse unserer alltäglichen Sprache zum Übungsraum spätmoderner Lebenskunst. Doch geht es hierbei nicht allein darum, dem Klienten in akademischer Manier die Unterschiede von Polarität, Widersprüchlichkeit, Ambivalenz und Ambiguität zu lehren. Im Fokus biografischer Lebensarbeit steht die Sensibilisierung für Sachverhalte, die zueinander in Spannung stehen. Im Anschluss daran lässt sich im Dialog gemeinsam erkunden, wie diese Spannung zu Stande kommt, ob sie durch größere politische Entscheidungen bedingt, der eigenen Moral entwachsen oder gar durch eigenes Handeln verursacht ist.

Lebensziele prüfen Nicht selten gründet gegenwärtige Unzufriedenheit in der scheinbaren Sinnlosigkeit geplanter Lebensziele. So zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Ziele an sich, jedes für sich genommen, gar nicht so unsinnig, jedoch in ihrer Kombination widersprüchlich sind. Ein Beispiel: Wer sich auf die Frage „Wer bin ich in 30 Jahren?“ als rüstiger Mann zwischen Enkelkindern sieht, muss in der Gegenwart für Nachwuchs zu sorgen, d.h. die Frage „Wer bin ich in 10 Jahren?“ muss in der eigenen Elternschaft Antwort finden. So banal dieses Beispiel auch klingen mag, in der Romantik eigener Lebensentwürfe finden sich gerne Ziele, die nur dazu dienen, sich irgendwie aus der belastenden, wenig sinnvoll erscheinenden Gegenwart herauszuerzählen. Erst eine Prüfung, die den Ernstfall der biografischen Planung in den Fokus nimmt, bringt diese Strategie ans Licht.36 Da Widersprüchlichkeiten kurz- und langfristiger Ziele in der Lebensplanung von Klienten meist nicht gleich als solche erkannt werden, ist es die Aufgabe philosophischer Praxis im Kontext widersprüchlicher Lebensformen dafür zu sensibilisieren, gleichwohl es aus Sicht der Klienten gute Gründe gibt mit Widersprüchlichkeiten zu leben. Denn: Wer mit widersprüchlichen Lebenszielen lebt, braucht sich keine Gedanken um die Hierarchie der einzelnen Ziele zu machen und muss in Folge dessen auch nicht auf einen der eingeschlagenen Lebenswege mit seinen dazugehörigen Vorteilen verzichten. Und nicht zuletzt verdrängt die 36 Ein methodisch gut strukturiertes Vorgehen zur Prüfung von Lebenszielen findet sich in Stavemann (2008).

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Angst vor (falschen) Entscheidungen so manchen Widerspruch. So macht es in der Beratung Sinn, sich erst in der ästhetischen Ethik zu üben (s.o.) bevor man die Frage nach Widersprüchen und Lebenszielen in Angriff nimmt.

Widersprüche aushalten lernen Vielheiten und Widersprüche führen in manchen Menschen zu seltsamen Denkkonstrukten. Während die einen das spätmoderne Leben (in Anlehnung an den wandlungsfähigen griechischen Meeresgott Proteus) zum „proteischen Mythos“ verklären, in dem jeder die Gestalt annehmen kann, die er will, reagieren andere mit fundamentalistischen Haltungen. Nichts schadet der austreibenden Vielheit so sehr wie eine fundamentalistische Position, die mit Macht und Angst, um eine einzige Wahrheit kämpft. Dabei hat die Überzeugungskraft „großer“ Wahrheiten in der Moderne schwer gelitten. So geht es im lebensweltlichen Kontext heute weniger um Wahrheiten als um Plausibilität, die auch situativ hergestellt werden kann. Plausibel heißt eben auch, angesichts unklarer Herausforderungen, die überzeugendste Lösung zu finden. Eine Lösung, die eine gute Passung zwischen der eigenen Lebensgeschichte und der Umwelt erreicht ohne die Handlungsfähigkeit zu beschneiden. So wird die Fähigkeit Widersprüche auszuhalten zur notwendigen Grundhaltung philosophischer Lebenspraxis, will man die Vielheit spätmoderner Lebenswelten nicht allein fundamentalistischen Positionen überlassen. „Ambiguitätstoleranz“ und „Ambivalenzmanagement“ sind die Zauberwörter der spätmodernen Welt und sie klingen überzeugend humanistisch. So sei an dieser Stelle an Voltaire erinnert als er einem seiner Mitstreiter offenbarte: „Ich halte ihre Meinung zwar für falsch, aber ich bin bereit mein Leben dafür zu geben, dass Sie sie äußern dürfen.“37 Entwurf, Haltung und Ethos fließen in dieser Sentenz zusammen. Und Montaigne reiht sich diesem Bild hinzu, als hätte er die Herausforderungen spätmoderner Identitätsarbeit geahnt: „Alle Widersprüche finden sich in mir.“38 Methodisch gibt es, meiner Erfahrung nach, nur wenige Wege, das Aushalten von Widersprüchlichkeit zu trainieren. Ein möglicher Zugang bildet die Auseinandersetzung mit Paradoxien oder den Koans der Zen-Buddhistischen Tradition (Wie klingt das Klatschen einer Hand?). Damit besteht die eigentliche Übung in der bewussten Wahrnehmung von Widersprüchlichkeiten, wie sie oben bereits beschrieben wurde. Und letztendlich entscheiden – wie bei jedem Training – Häufigkeit und Intensität darüber, ob sie zu einer neuen Haltung führt. Abschließend zum Fokus der Widersprüchlichkeit sei noch einmal dazu ermutigt, gemeinsam mit dem Klienten auf die Suche nach widersprüchlichen Phänomenen zu gehen, die gesellschaftlich mitproduziert sind. So liegt in diesem Prozess die 37 Zit. in: Strasser (2007, S. 35). 38 Zit. in: Schmid (1998, S. 253).

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besondere Möglichkeit individuelle Probleme zukünftig auch als mögliche Reaktion äußerer Umstände zu verstehen. So leistet Philosophische Praxis auch hier ihren Beitrag verunsicherte Menschen in Richtung eines politischen Denkens zu motivieren und sie zur (Wieder-)Teilnahme am demokratischen Diskurs zu ermutigen. Denn wer Gesellschaft als mitkonstituierendes Spannungsfeld für private Lebensphänomene begreift, sieht auch dort Handlungsbedarf, wo andere nur Resignation sehen.

Fokus Zeiterleben Ein letzter Aspekt, der in diesem Artikel zur Sprache kommen soll, ist die oben bereits skizzierte Herausforderung spätmoderner Zeitentwicklung. So besteht ein erster Schritt praktisch philosophischer Arbeit darin, sich für das Thema Zeit zu sensibilisieren. Eine derartige Auseinandersetzung kann z.B. über das gemeinsame Lesen von Texten, Gedichten oder Aphorismen erfolgen, die das Zeiterleben explizit zum Thema haben, wobei kürzere Texte oder Textauszüge hier den Vorzug erhalten sollten, um nicht den ganzen Zeitraum der Beratung lesend zu verbringen.39 Der o.g. Text von Seneca oder ähnliche Bücher (nicht nur aus der Philosophie) können dafür ein fruchtbarer Anstoß sein. Ergänzend dazu macht es Sinn, im Anschluss an den Wittgensteinschen Bedeutungsbegriff, genauer zu betrachten, wie wir über „Zeit“ sprechen. Wittgenstein hat uns die philosophische Erbschaft hinterlassen, Bedeutungen nicht wie seine Vorgänger (Frege u.a.) an Gegenständen festzumachen, sondern sie so zu verstehen, wie sie im Gebrauch vorkommen. Damit hat Wittgenstein den analytischen Sprachdiskurs für eine praxisnahe Methodik sensibilisiert und in gewisser Hinsicht die Grundlagen einer Haltung mitbegründet, die uns hilft, besser zu verstehen, wie wir bestimmte Zusammenhänge in unserer alltäglichen Welt verhandeln – spezifisch: Interaktiv konstruieren, instrumentieren, wahrnehmen und erleben. Diese Haltung sollte uns dazu ermutigen, gemeinsam mit dem Klienten nach seinen eigenen Zeitbegriffen und Bedeutungen zu suchen und so „Zeit“ im Dialog zu konstruieren.

Zeit durch verschiedene Brillen sehen Ein zweiter Aspekt methodischen Herangehens im Kontext einer zeitsensiblen Lebenskunstpraxis besteht in einer stärker aufklärenden Haltung. So kann es für Klienten Sinn machen, sich von bisherigen Zeitvorstellungen zu lösen, in dem sie gemeinsam mit dem Philosophen bestehende Vorurteile ausfindig machen und hinterfragen. Der Philosophische Praktiker kann dafür Erkenntnisse der gegenwärtigen Zeitforschung als Angebote einbringen. So versteht sich eine Biografie 39 Zur Anwendung von literarischen Texten in der Beratung und Therapie habe ich eine umfassende Studie vorgelegt, die auch konkrete Anregungen für die Durchführung eines „identitätszentrierten Literaturdialogs“ gibt. Vgl. Huber (2008).

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ganz anders, wenn man sich etwa vorstellt, dass „die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [...] nicht nahtlos in psychologische Zeit über[geht], weil soziale und psychologische Zeit nicht festgeschrieben ist. Die soziale Zukunft kann die soziale Vergangenheit beeinflussen.“40 Vergangenheit wird demnach aus der Erwartung der Zukunft konstruiert und Zukunft aus der Erfahrung der Vergangenheit. So erst lässt sich z.B. verstehen, warum wir im Hinblick auf die heutige Zukunftserwartung so oft dem vorschnellen Urteil begegnen, dass früher alles „besser“ war. Doch wann ist „früher“, was ist „alles“ und was genau war „besser“?

Raum für Eigenzeit schaffen Zeitforscher wie Karlheinz Geißler u.a. gehen davon aus, dass es in der Spätmoderne keine fixen Zeitpunkte mehr gibt, sondern das Zeiterleben zunehmend von vielen verschiedenen Zeitpunkten bestimmt wird (Stichwort: „Zeitpointillismus“ oder „Multitemporalisierung“), die noch dazu selbst organisiert werden müssen. Im Anschluss daran, stellt sich die Frage, wie diese Herausforderung in die alltägliche Lebenspraxis integriert werden kann.41 Eine Antwort darauf bietet die Diskussion der Eigenzeit wie sie z.B. von Fritz Reheis u.a. geführt wird.42 So besteht ein dritter methodischer Aspekt im Kontext sich wandelnder Zeiterfahrung darin, in der Praxis einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem der Klient sein eigenes Tempo erkunden kann. Ein Effekt, der erst auftritt, wenn auch dem Philosophischen Praktiker bewusst ist, dass jeder Gedanke, jede Geste und jedes Wort seine eigene Zeit braucht, um zum entsprechenden Ausdruck zu kommen. So sprechen manche Klienten anfangs der Sitzung noch in dem Tempo, das sie von der Welt „dort draußen“ mitbringen und nähern sich in der Gegenwart Philosophischer Praxis langsam ihrem eigenen Tempo an. So ist Philosophische Praxis im Idealfall eine Insel – ein ritueller Raum – der Platz genug bietet, um all jene Vorstellungen und Erfahrungen zu erkunden, die man zu einem gelingenderen Leben braucht und die sich so „draußen“ nicht erkunden lassen. Ein Teil davon ist eben die gerechte Erfahrung von Eigenzeit wie sie schon von Herder treffend beschrieben wurde: „...Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maß der Zeit – es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten“.43 Methodisch kann man diese Erfahrung mit verschiedenen Techniken und Fragen unterstützen. So stellt Stavemann im Kontext seiner Lebenszielanalyse immer auch einen Raum bereit, den für die einzelnen Ziele nötigen Zeitaufwand zu erheben. Seine Arbeit folgt dem Grundsatz: Keine Lebenszielplanung ohne sich vorher über die zeitliche Umsetzung der Ziele die notwendigen Gedanken zu 40 41 42 43

Harré & Van Langenhove (1991). Vgl. Geißler (1999). Vgl. Reheis (1998) und (2003). Johann Gottfried Herder zit. in Geißler (1999, S. 161).

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machen. Denn viele Lebensziele scheitern nicht allein an ihrer Widersprüchlichkeit oder an fehlenden ökonomischen oder sozialen Ressourcen, sondern an der vermessenen Zeitplanung, die man ihnen beilegt.44

Den eigenen Zeitstil ermitteln Als weitere Technik auf dem Weg einer gelingenden Zeiterfahrung, ließe sich als Teil einer Lebensstil-Analyse der eigene Zeitstil ermitteln. Im Anschluss an die psychologische Forschung und die Arbeiten von Philip Zimbardo lassen sich beispielsweise drei Zeitstile näher beschreiben: Der „rekonstruierende Vergangenheitsstil“, der „stimulusorientierte Gegenwartsstil“ und der „antizipatorische Zukunftsstil“.45 Jeder dieser Stile und die Mischformen daraus hat seine besonderen Eigenheiten, die sich auf die Betrachtung der Welt und der eigenen Biografie auswirken, und nach ihnen können wir fragend, tastend suchen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass sich jeder Mensch einem dieser drei Lebensstile mit seinen Unterformen zuordnen lässt. Der Ausgangspunkt für diese Betrachtung ist die Annahme, dass der individuelle Zeitstil in Ergänzung zu den kollektiven Entwicklungen und in Wechselwirkung mit ihnen, unsere Vorstellung von unserem Leben und unserer Zukunft prägt. Ein gewonnenes Bewusstsein über den eigenen Zeitstil kann demnach helfen, die persönliche Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr zu verstehen und zukünftig besser zu kontrollieren. Gefühlte Zeit – Neue Erfahrung sammeln Nicht zuletzt lassen sich auch in der Philosophischen Praxis kleine Übungen einbauen. Mit der Übung der „subjektiven Minute“46 bitte ich den Klienten, die Augen zu schließen und sie nach einer gefühlten Minute wieder zu öffnen. Während dessen verfolge ich den Zeitverlauf auf meiner Uhr und zeichne ihn auf einem skizzierten Ziffernblatt mit. So kann mein Gegenüber beim Öffnen der Augen sehen, wo er in seinem individuellen Zeitempfinden liegt. Da die individuelle Wahrnehmung der Zeit zwischen wenigen Sekunden und mehreren Minuten liegt, ist es ratsam, der Skizze weitere Ziffernblätter hinzuzufügen, so dass sich die Übergänge der Minuten mitzeichnen lassen. Diese kleine Übung eignet sich erfahrungsgemäß gut, um im Dialog weiter zu erkunden, welche Situationen im Leben als besonders schnell und welche (gegenwärtig oder in der Erinnerung) als eher zäh oder langsam empfunden werden. Die Zeiterfahrung bestimmter Situationen und ihre bewusste Bewertung ebnen so einen Weg zur Bewertung ihrer potentiellen Sinnhaftigkeit. In Folge dessen lernen Klienten über diesen spielerischen Zugang Zeiterfahrung als Signal 44 Vgl. Stavemann (2008). 45 Eine Zusammenfassung der Zeitstile wie sie im Buch „The Time Paradox“ beschrieben sind, findet sich in: Zimbardo (2009). 46 Diese Übung habe ich 2007 auf der Tagung „Hör’ mal schnell – Zeiten der Aufmerksamkeit“ in der Evangelischen Akademie Tutzing in einem Workshop von Elmar Hatzelmann kennengelernt.

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für Sinnerfahrung zu verstehen. Und erfahrungsgemäß lässt sich im Alltag leichter entscheiden, ob etwas lange dauert oder nicht, als zu beantworten, ob diese oder jene Handlung gerade Sinn macht. Nicht zuletzt steht in diesem Kontext auch die Arbeit an vagen Begriffen als methodischer Fokus zur Verfügung. Denn was „schnell“ oder „langsam“ ist, lässt sich nicht absolut, sondern nur im Vergleich und situativ entscheiden. So regen Diskussionen über schnelle und langsame Zeitverläufe immer auch Gespräche über Parameter an, an denen sich eine Zuordnung messen lässt. So hilft ein kritisches Sprachverständnis, was in der Philosophischen Praxis vermittelt und geübt werden kann, Zeit besser zu beurteilen. In Folge dessen, lernen wir vielleicht unseren Vorgesetzten das nächste Mal zu fragen, was genau er eigentlich meint, wenn er wieder mit einer dieser vagen Fragen zwischen Tür und Angel steht: „Vielleicht können sie mir das noch kurz bearbeiten und morgen ein bisschen länger bleiben?“ Wenn es um Eigenzeit geht, sind wir wie Bäume. Jeder Baum hat seine eigene Zeit, in der er entsprechend den umgebenden Bedingungen reift und wächst. Ebenso hat auch jede Wirbelsäule ihre Eigenzeit, was sich daran bemerkbar macht, dass manche den Drang haben aufzustehen, während andere noch bequem sitzen. Doch was ist „bequem“ und woran erkenne ich einen „Drang“?

Resümee Das folgende Modell soll, zusammenfassend für die oben genannten Überlegungen, einen Überblick geben, wie man in der Einzelarbeit auf Biografien im gesellschaftlichen Wandel blicken kann und welche Positionen darin die besten Veränderungsmöglichkeiten bereit halten. Die Grundannahme – das dynamische Wechselspiel von Auslöser, Gedanken und Konsequenzen – ist dem „ABCModell“ der kognitiven Therapie verwandt und findet hier seine Rückführung aus dem psychotherapeutischen in den philosophisch-praktischen Diskurs.

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Modell: Lösungsorientierte Perspektiven lebensweltlicher Verunsicherung Gesellschaftlich-kultureller Rahmen Klient sucht und erwartet Lösung hier:

Auslöser Situation Problem

Philosophische Praxis sucht und prüft hier:

Gedanken und Glaubenssätze, Meinungen zum Selbst und zur Welt

Konsequenzen Gefühle Verhalten Erleben

Gesellschaftlich-kultureller Rahmen

Offene Fragen Wie mit dem oben genannten Modell noch einmal deutlich wird, hat Biografiearbeit viele Zugänge und die besten von ihnen führen im Optimalfall direkt in die beste Lebenswelt, die sich für den Klienten gegenwärtig herstellen lässt. So ist Kreativität dort angebracht, wo gesellschaftliche Herausforderung nach Flexibilität ruft. Lebenskunst ist damit nicht nur wörtlich, sondern – im Wandel spätmoderner Lebenswelten – auch ernst zu nehmen, will man der eigenen Biografie sinnvolle Strukturen abringen. Die Idee des vorliegenden Beitrags war es, Biografiearbeit in seinen wichtigsten gesellschaftlichen Spannungsfeldern zu skizzieren und Methoden aufzuzeigen, ihnen bewusst zu begegnen. Da die hier beschriebenen Zugänge mit Blick auf die Praxisrelevanz persönlichen Erfahrungen entstammen, bilden sie gleichzeitig nur einen Ausschnitt vieler denkbarer Zugänge. So bleiben zum Schluss einige Fragen offen. Mögen sie als Anregung dienen, die eigene Arbeit daran abzuspiegeln und den Diskurs darüber zu beleben.

• • •

Geht es in der philosophischen Einzelberatung mehr um das Verstehen oder mehr um das Erleben gegenwärtiger Lebenskunst? Wie viel Nähe und wie viel Distanz verträgt die Beziehung zwischen Philosophischem Praktiker und Klient? Wie viel Nähe und wie viel Distanz braucht das anschauliche Denken zu bewegenden lebensweltlichen Themen? Kann zu viel Erlebnisnähe den philosophischen Prozess blockieren?

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• • • •

Geht es in der Philosophischen Beratung mehr um die Erfahrung von „Tiefe“ oder mehr um die Erfahrung von „Weite“? Ist Philosophische Praxis mehr an Themen oder mehr an Prozessen interessiert? Wo steht Ihre Philosophische Praxis in 10, in 20 und in 30 Jahren? Schließen Sie jetzt ihre Augen und öffnen Sie sie nach einer gefühlten Minute! Eigenzeit ist jetzt!

Literatur Bauman, Zygmunt (1999). Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg: Hamburger Edition. Böhme, Gernot (2004). Einführung in die Philosophie. Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bolz, Norbert (2009). Absolutheitshunger. In: Du – Das Kulturmagazin – 794, März 2009, S. 49. Davidson, Donald (1993). Dialektik und Dialog. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Englisch, Gundula (2001). Jobnomaden. Wie wir arbeiten, leben und lieben werden. Frankfurt/New York: Campus. Geißler Karlheinz A. (1999). Vom Tempo der Welt. Am Ende der Uhrzeit. Freiburg: Herder. Grünewald, Stephan (2007). Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft. München: Heyne. Habermas, Jürgen (1996). Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In: Ders.: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 141-163. Harré, Rom & Van Langenhove, Luk (1991). Varieties of Positioning. Journal for the Theory of Social Behaviour, 21/4. Heitmeyer, Wilhelm (2006). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Gesellschaftliche Zustände und Reaktionen in der Bevölkerung aus 2002 bis 2005 in: Ders. (Hg.). Deutsche Zustände. Folge 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 1536. Horn, Christoph (2008). Nachwort in: Seneca: Von der Kürze des Lebens. München: C.H. Beck. Horster, Detlef (1994). Das sokratische Gespräch in Theorie und Praxis. Opladen: Leske + Budrich. Huber, Florian (2008). Durch Lesen sich selbst verstehen. Zum Verhältnis von Literatur und Identitätsbildung. Bielefeld: transcript. Keupp H. & Röhrle, B. (1987). Soziale Netzwerke. Frankfurt: Campus. Keupp, Heiner (2002). My home is my castle – Wohnen und Identitäten. In: Siemen, Hans-Ludwig (Hg.). Gewohntes Leben. Psychiatrie in der Gemeinde. Neumünster: Paranus, S. 19-47.

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Paa rbera tung und Philos ophisc he Tra uunge n MARTINA BERNASCONI „Wenn die Menschen sagen, sie hätten ihr Herz verloren, ist es meistens nur der Verstand.“ Robert Lembke

Abstract Philosophische Trauungen etablieren sich als Tätigkeitsfelder Philosophischer Praxis. In der Philosophischen Theoriebildung ist zwar der Mensch als Individuum omnipräsent, die Reflexion auf die Paarbeziehung hingegen fehlt. Ausgehend von Beispielen aus der Einzelberatungen wird deren Bedeutung in den Blick gerückt. Aufgrund meiner Begleitung vieler Paare in die Ehe durch ein Trauungsritual versuche ich in einem zweiten Teil meines Essays, eine Theorie für philosophische Paarberatungen zu entwickeln.

Beziehungen gehören grundlegend zum menschlichen Dasein. Einen Menschen nicht zu mögen, setzt eine Beziehung voraus. Einen zu lieben genauso. Meine langjährige Erfahrung mit philosophischen Einzelberatungen zeigen eindrücklich: Die meisten Lebensfragen, die wir uns stellen, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit anderen Menschen: Was geschieht, wenn ich meinen Mann nach dreißig Ehejahren verlasse? Warum bin ich in meinen Augen kein guter Vater? Warum leidet meine Frau stärker unter meiner Krebsdiagnose als ich selber? Schlagen wir „Beziehung“ in einem beliebigen Philosophischen Wörterbuch nach, landen wir mit dem Verweis auf „Relation“ in der Logik. Um diese Form von Beziehung geht es hier nicht. Mein Essay behandelt auch nicht die bereits vielbeachtete Psychologie der Beziehung oder die Beziehungssoziologie:1

1

„Beziehungssoziologie“ (Beziehungslehre) ist eine Richtung der deutschen Sozialtheorie der ersten Hälfte des 20. Jh. Nachdem G. SIMMEL im Rahmen einer Theorie des sozialen Raumes festgestellt hatte, dass sich eine «Beziehung» zwischen Menschen herstellt, wo sie zueinander «in Wechselwirkung treten», erhob A. VIERKANDT «Beziehung» zur «Grundkategorie des soziologischen Denkens».

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Mich interessieren zwischenmenschliche (Paar-)Beziehungen aus philosophischer Sicht. Hierzu gibt es meines Wissens fast keine theoretischen Grundlagen.2 Daher wird mein Vorgehen „bottom up“ sein.

Einzelberatung Drei Beispiele aus der Einzelberatung:





2

3

Ein gut 50-jähriger Polier sucht meine Denkpraxis auf. Er ist mit seiner Arbeit unzufrieden. Vor allem hat er Schwierigkeiten mit seinem Chef. Der sei unreflektiert, oberflächlich. Wir diskutieren über verschiedene Philosophen. Von Nietzsche ist er beeindruckt. Auch Edith Stein hat er gelesen. Nach der ersten Beratung sagt er, er würde gerne das 5er Abo beziehen.3 Ich bin etwas ratlos, der Mann gibt wenig von sich persönlich preis. Eine Woche später kommt er wieder. In einem Nebensatz erwähnt er, seine Frau habe ihn und seinen 15-jährigen Sohn verlassen. Ich greife diese Information nicht auf, weil ich finde, der Kunde bestimmt das Thema. Im Rückblick war dies wohl ein Fehlentscheid, denn nach der dritten Stunde kommt der Mann nicht mehr. Eine 40-jährige Architektin kam während fast sieben Jahren anfänglich in Zweiwochenabständen, später monatlich in die Einzelberatung. Ausgangspunkt war der Tod ihrer Mutter. Es sprudelt bei ihr wie aus einem Bach. Sie redet und redet und redet. Aber nie auch nur ein einziges Wort über eine Liebesbeziehung. Erst nach Jahren erwähnt sie beiläufig eine Geschichte mit einem verheirateten Mann. Diese Begegnung scheint jedoch keine Spuren bei ihr hinterlassen zu haben. Ein anderes Mal spricht sie über einen Kuppelversuch einer Bekannten. Sie ist außer sich, wie die das wagen konnte. Im sechsten Jahr dann sagt sie, sie müsse mir schon lange etwas mitteilen. Aber es falle ihr unsäglich schwer. Sie braucht drei Anläufe, dann ist es raus: Sie fühlt sich von Frauen angezogen. Sie beginnt im Internet auf einschlägigen Kontaktseiten zu surfen und wird nach zwei Abenteuern fündig: Innert Monatsfrist ziehen die zwei Frauen zusammen. Die Beziehung klappt auf Anhieb. Historisches Wörterbuch der Philosophie: Beziehungssoziologie. HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 3075 (vgl. HWPh Bd. 1, S. 910). Das einzige philosophische Buch, das ich zum Thema (Paar-)Beziehung ausfindig machte, ist Ferdinand Fellmann (2005): Das Paar. Eine erotische Rechtfertigung des Menschen, Berlin, Parerga. Im erweiterten Sinn schrieb die philosophische Praktikerin Regina Mahlmann (2003) ein Buch über Liebesbeziehungen: Was verstehst du unter Liebe? Ideale und Konflikte von der Frühromantik bis heute. Zum spezifischen Thema von philosophischer Eheberatung erschien 1995 ein Aufsatz, auf den ich später näher eingehen werde: Prins-Bakker, Anette (1995): Philosophy in Marriage Counseling. In: Lahav, Ran/da Venza Tillmanns, Maria: Essays on Philosophical Counseling, Lan-ham, New York, London. Ich biete an: Einzelstunden à CHF 150.- / 5er-Abo à CHF 600 / 10er-Abo à CHF 1000.

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Unsere Gesprächsstunden werden seltener, bis sie schließlich ganz verstummen. Ein 55-jähriger Tierarzt besucht mich. Nach einem Burnout gibt er seine Praxis auf. Er lebt gutbürgerlich mit seiner Frau in einem Haus. Seit dreißig Jahren verheiratet. Zwei erwachsene Kinder. Seit zehn Jahren eine Geliebte. Ohne schlechtes Gewissen. Aber seine Frau verlassen? Auf keinen Fall. Nicht weil er sie trotz aller Gewohnheit noch lieben würde, nein, er verlässt sie nicht, weil seine zwei erwachsenen Kinder ihm das Übel nehmen würden. Die Kinder stünden seiner Frau, also ihrer Mutter viel näher als ihm, dem Vater. Wenn die Kinder sich von ihm abwenden würden, das könne er nur schwer verkraften. Mein Kunde rechnet nicht mit den Ansprüchen seiner Geliebten. Ebenfalls verheiratet, zieht sie die Konsequenzen, verlässt ihren Mann und möchte mit ihrem Geliebten zusammenziehen. Er kommt in Stress und in meine Beratung. Was soll er tun? Seine Frau oder die Geliebte verlassen?

Diese kleine Auswahl aus meiner philosophischen Beratungstätigkeit zeigt eindrücklich: Die intime Beziehung, das Paarleben spielt auch im Einzelcoaching eine zentrale Rolle. Über das methodologische Vorgehen bei Einzelberatungen ist bereits viel geschrieben worden.4 Im Folgenden soll aber die Beratung von Paaren im Mittelpunkt stehen.

Philosophische Trauungen Auf die Idee, Philosophische Trauungen anzubieten, kam ich an einem Treffen des Netzwerkes für philosophische Praxis. Ein deutscher Kollege erzählte von einer lukrativen Anfrage. Ein bikulturelles Paar wollte sich unkonventionell und nicht religiös trauen lassen. Der Akt auf dem Standesamt war ihnen zu wenig und sie fragten den ihnen bekannten Philosophen an. Diese Idee gefiel mir so gut, dass ich Philosophische Trauungen in mein Angebot aufnahm: „Ihnen fehlt der kirchlich-religiöse Hintergrund und Sie möchten trotzdem nicht auf eine Trauungszeremonie verzichten? Sie dürfen von Gesetzes wegen nicht heiraten und möchten Ihrer Beziehung dennoch ein öffentliches Gewicht verleihen oder Ihrer Partnerin / Ihrem Partner ein Versprechen geben?“ Der erste Auftrag ließ nicht lange auf sich warten. Offenbar sind alternative Trauungen gefragt. Das Paar kam ins erste Vorgespräch mit einem Gedicht von Erich Fried:5

4

Ich verweise hier stellvertretend auf Arbeiten von Lou Marinoff (2002), Eckhart Ruschmann (1999) oder Anders Lindseth (2005). Auch ich beschäftige mich in einem Aufsatz (Bernasconi 2005) mit dieser Thematik.

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Was es ist Es ist Unsinn sagt die Vernunft Es ist was es ist sagt die Liebe Es ist Unglück sagt die Berechnung Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst Es ist aussichtslos sagt die Einsicht Es ist was es ist sagt die Liebe Es ist lächerlich sagt der Stolz Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht Es ist unmöglich sagt die Erfahrung Es ist was es ist sagt die Liebe Es wird nicht das einzige Paar sein, das dieses Gedicht für sein Hochzeitsfest auswählt. Philosophische Trauungen – so verschieden sie auch immer sind – haben in ihrer Konsequenz immer Ähnliches zu verzeichnen. Das mag an der Grundstruktur liegen: Zwei Menschen beschließen, künftig den Weg gemeinsam als Ehepaar zu begehen. Die Liebe zur Partnerin / zum Partner stand bei sämtlichen von mir getrauten Paaren im Zentrum. Literatur zum Thema Liebe gibt es zu Hauf, doch meine Erfahrungen zeigen: Ein positives Gedicht oder einen Text über die Liebe wie z.B. denjenigen von Erich Fried sind eher selten. In der Liebeslyrik dominieren nach meinen Recherchen der Schmerz und das Leiden, beides sind nicht gerade geeignete Themen für den sogenannt schönsten Tag im Leben eines Paares. Neben Frieds Gedicht sind auch Auszüge aus Kalil Gibrans „Der Prophet“ oder der Schweizerische Mundartsong „Ewigi Liäbi“ von Mash beliebt. Aber beginnen wir von vorne: Wie laufen meine Trauungen ab? Als erstes kommt eine Anfrage, in der Regel termingebunden:

5

Erich Fried „Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte“, Berlin 1996.

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„Sehr geehrte Frau Bernasconi Wir würden uns für ein Trauungsritual interessieren. Am 20.05.2007 ist unsere standesamtliche Trauung in Dornach, mit anschließendem Apéro. Ab 18.00h befinden wir uns in Therwil, wo wir gerne das Ritual durchführen würden und anschließend feiern.“6

Kann ich diesen Termin wahrnehmen, so lade ich das Paar zu einem unverbindlichen Kennenlern-Gespräch ein. Das ist für das Paar wie auch für mich wichtig. Erst danach entscheidet sich, ob der Auftrag zustande kommt. Einmal lehnte ich beispielsweise ab, weil mir meine Aufgabe bei der Trauung nicht behagte. Die Braut war nicht religiös, der Bräutigam katholisch. Für die Frau stellte es kein Problem dar, sich ihm zuliebe katholisch-kirchlich trauen zu lassen. Damit sie aber ebenso auf ihre Kosten kommt, wollte sie in den katholischen Trauungsgottesdienst ein philosophisches Ritual integrieren. Mir schien dies eine Mogelpackung zu sein und obwohl der Pfarrer grünes Licht gab, sagte ich ab. Verläuft das Vorgespräch beidseitig positiv, wird es verbindlich. Beim zweiten Gespräch geht es vor allem um die Beziehung (Biografie etc. wird gemailt). Ich stelle Fragen wie: Was mögen Sie an ihrem Partner am wenigsten? Nach meiner Erfahrung sind die Paare auf eine solche Frage nicht gefasst, nach kurzem Überlegen sprudelt es dann aber: „Sie ist sehr träge.“, „Er hat keine Geduld.“ „Du gibst zu viel Geld aus“. Als nächste rückt die Frage nach dem Grund der Eheschließung ins Visier. Die Antworten sind so vielfältig wie die Paare. „Es sprach nichts dagegen.“, lautete zum Beispiel die Antwort eines jungen Mannes. „Wir wollen gegen Außen zeigen, dass wir für immer zusammen sein wollen.“ Mehr als einmal kam es vor, dass sich das Paar aufgrund eines einschneidenden Ereignisses für eine Ehe entschloss: Überstandene Krebserkrankung, Tsunamierlebnis oder eine Totgeburt. Die Vorgespräche mit den Paaren sind für das Trauungsritual zentral. Ich versuche die jedem Paar eigene Dynamik zu ergründen. Nicht selten erhalte ich dadurch entscheidenden Einblick in die Beziehungsstruktur. Und es verhält sich hier genauso wie bei den Einzelkunden: Jede Trauung ist anders als die andere, einzigartig. Das spezifisch Philosophische einer Trauung soll am Beispiel des folgenden Paares deutlich werden. Eine Physiotherapeutin und ein Historiker mitten in seinem Zweitstudium Ökonomie kamen ins Vorgespräch. Sie seien an keine Kirche gebunden und möchten ihrer Eheschließung philosophisches Gewicht verleihen. Der Bräutigam setzte sich stark mit den Begriffen „Entscheidung“ und „Ambivalenz“ auseinander und er wollte diese Begriffe in das Trauungsritual eingebettet wissen.

Der Begriff der Entscheidung Eine Entscheidung ist immer eine Wahl zwischen Alternativen oder zwischen mehreren unterschiedlichen Varianten. Sie kann spontan bzw. emotional, zufällig 6

Mailanfrage vom 22.02.2007.

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oder rational erfolgen. Bezogen auf die Eheschließung heißt das, eine Eheschließung beruht immer auf einer Entscheidung. Wie kommt es dazu, dass sich zwei Menschen begegnen, dass sie sich füreinander interessieren, sich ineinander verlieben, zusammenziehen und dann quasi als Höhepunkt ihrer Beziehung heiraten? Ohne Entscheidung für eine Ehe, für diesen künftigen, gemeinsamen Weg als Ehefrau und Ehemann, gäbe es kein Hochzeitsritual. Aus philosophischer Sicht ist der schlechteste aller Gründe für eine Entscheidung der Zufall, das Würfelspiel. Und das merke ich als Ritualgestalterin besonders stark: Diejenigen Paare, die zu mir kommen, haben sich ganz bewusst und meistens aus guten Gründen für die Ehe entschieden. Also rational. Zufällig zu heiraten, weil es sich halt gerade mal so ergibt, das kenne ich aus meiner Praxis nicht. Verlieben kann man sich zufällig. Philosophisch heiraten nicht. Eine philosophische Hochzeit beruht auf einer bewussten Entscheidung. Der Entscheidung, das Leben als Ehepaar gemeinsam zu begehen. Im Duden lesen wir zum Stichwort Entscheidung: “Entscheidung 1. Entscheid; (Amtsspr.): Beschlussfassung. 2. Alternative, Auswahl, Entscheid, Entschließung, Option, Wahl. 3. Beschluss, Entscheid, ...“ Entscheidungen sind meist komplex und vollziehen sich in mehreren Schritten: 1) Feststellen eines Entscheidungsbedarfs: bezogen auf ein Brautpaar heißt das, irgendwann meldet sich bei beiden ein Bedürfnis, an ihrem Ist-Zustand etwas zu ändern. 2) Analyse des Entscheidungsumfeldes: Die aktuelle Situation wird untersucht, z. B. wo stehen wir beruflich? Was haben wir für (familiäre) Pläne? Wo steht unsere Liebe? 3) Ermittlung der Entscheidungsalternativen: Was geschieht wenn wir noch nicht heiraten? Erst in zehn Jahren oder vielleicht überhaupt nicht? Heute kann man ja problemlos unverheiratet das Leben – auch mit Kindern – miteinander teilen. 4) Beurteilung der möglichen Konsequenzen jeder Alternative: Wenn nicht geheiratet wird, so kann die Frau zum Beispiel nicht den Namen des Mannes annehmen und sie müsste sich keine Gedanken darüber machen, ob sie es nicht lieber hätte, ihren eigenen Namen zu behalten. 5) Entscheidung und Umsetzung einer Alternative: Sie haben sich nun für die Ehe entschieden und jetzt darf man dies in die Tat umsetzen: Bestellung des Aufgebotes, Auswahl des Trauungsortes, der Trauungsart, das Fest organisieren, Tragen des Familiennamens, Eheringe ja oder nein. 6) Beobachtung des weiteren Verlaufs und allenfalls Revision des Entscheides bzw. laufende Prüfung nach Bedarf: Ist die Entscheidung zu heiraten wirklich richtig? Doch noch Zweifel? Vielleicht doch noch etwas warten.

Der Begriff der Ambivalenz Ambivalenz (von lat. ambo „beide“ und valere „gelten“) wurde als Begriff von Eugen Bleuler (1857–1939) geprägt. Darunter wird in der Psychologie, Psycho-

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therapie, Psychiatrie und Psychoanalyse das Nebeneinander von gegensätzlichen Gefühlen, Gedanken und Wünschen verstanden. In der gehobenen Umgangssprache gebräuchlicher ist das Adjektiv ambivalent (zwiespältig, doppelwertig, mehrdeutig, vielfältig). Ambivalenz meint im engen Sinne nicht, dass jedes Ding zwei Seiten haben kann, sondern darunter ist eine Dichotomie von Sichtweisen zu verstehen, die gegensätzliche Reaktionen bedingen und letztlich die Fähigkeit zu einer Entscheidung im weitesten Sinne hemmen. Eine ambivalente Einstellung zur Ehe kann also dazu führen, dass es trotz Bedürfnis gar nie zu einer Hochzeit kommt, dass ich im schlimmsten Fall ein Leben lang mit mir hadere und mich nie zu einer Eheschließung durchringen kann. 7

Philosophische Trauung plus Die Vorgespräche mit den Paaren sind nicht selten äußerst persönlich und ich erhalte einen intimen Einblick in die Biografien, Schicksalsschläge und möglichen Konfliktpunkte eines Paares. Mein Wissen über die Beziehungsstruktur ist in der Regel weitaus größer als für das Trauungsritual notwendig. Das enorme Vertrauen, das mir von Paaren entgegengebracht wird, erfordert ein großes Maß an Sensibilität meinerseits. Heikle Themen wie Abtreibung, Kinderwunsch, sexuelle Bedürfnisse oder Herkunftsfamilienkonflikte sollen in den Vorgesprächen Platz finden, doch gibt es für mich im Rahmen einer Philosophischen Trauung Grenzen. Ich erinnere mich gut an ein Paar, das ich vor zirka fünf Jahren traute. Beide waren um die fünfzig, sie hatte eine erwachsene Tochter aus einem Ferienabenteuer mit achtzehn, war immer alleinerziehend ohne feste Beziehung, er Vater dreier erwachsener Söhne und hatte eine über zwanzigjährige Ehe hinter sich. Ich fragte sie, in welchem Rahmen sie sich ihre Hochzeit vorstellten und die Frau antwortete, sie wolle unter keinen Umständen, dass ihr Vater mit dabei sei. Sie möchte nur mit den Kindern und ein paar Freunden feiern. Ich fragte nicht nach, bekam aber im Verlauf des Gespräches mit, dass es um eine Missbrauchsgeschichte ging. Die darauffolgend gemailte Biografie bestürzte mich tief. In Absprache mit dem Paar formulierte ich die Hochzeitsrede. Ich beschönigte nicht, legte den Fokus jedoch gezielt auf die jetzt geglückte Beziehung und es wurde eine meiner berührendsten Trauungen überhaupt. Meine anfänglichen Befürchtungen, die Vorgespräche würden zu einer verdeckten Therapie, bestätigten sich nicht. Im Gegenteil: Durch die große Offenheit und das Vertrauen des Paares erfuhr ich, wie bewusst sich das Paar mit ihrer Beziehung und Liebe auseinander

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Als Beispiel für eine ambivalente Einstellung zur Ehe mit der Konsequenz, nie zu heiraten und trotzdem zu leiden kann Franz Kafka dienen. S.a. Kafkas Einstellung zur Heirat: http://www.geo.uni-bonn.de/cgi-bin/kafka?Rubrik=frauen&Punkt=heirat abgerufen März 2010

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gesetzt hatte und dass sie sich von mir wirklich nur das Trauungsritual wünschten und nicht eine alternative Beziehungsfähigkeitstherapie. Ein anderes Paar kam ganz aufgestellt zu mir ins unverbindliche Vorgespräch. Sie waren beide jung und beschrieben sich als extrem symbiotisch. Sie würden im Prinzip nichts ohne den anderen unternehmen. Sie wollten heiraten und da beide keinen Bezug zur Kirche hatten, wandten sie sich an mich. Sie überlegten nicht lang und gaben mir Bescheid, dass sie sich freuen, wenn ich sie trauen würde. Ich freute mich ebenso und wir vereinbarten einen weiteren Termin. Wir sprachen viel über Treue und das Paar meinte einhellig, dies sei für sie etwas vom Wichtigsten überhaupt: geistige und körperliche Treue. Ich sah keine Probleme und wollte dementsprechend in der Trauungsrede einen Part zu Begriff und Praxis der Treue formulieren. Ich fragte, was sie jeweils unter Treue verstehen und ob es in ihrer Beziehung deswegen bereits zu Komplikationen kam oder komme. Sie sagte spontan: „Ja, er war mir untreu und ich habe bis heute Mühe damit umzugehen, obwohl er sich mehrfach aufrichtig dafür entschuldigte.“ Hier stellte sich für mich die Frage, ob ich nachhaken soll. Da mich das Paar jedoch wegen einer philosophischen Trauung und nicht wegen einem Beziehungsproblem aufsuchte, beschloss ich, nicht weiter darauf einzugehen. Zu meinem Erstaunen erzählte die Frau von sich aus weiter: „Ich habe ihn beim Onanieren erwischt!“ „Sehe ich das richtig, Onanie ist für Sie ein Treuebruch?“, fragte ich nach. „Unbedingt. Das haben wir so abgemacht und das gilt für uns beide.“ Nach etwa zwei Tagen rief mich die Frau an und wollte einen Termin für eine Einzelberatung. Wohl war mir nicht dabei: Wie kann ich ein Paar trauen, wenn ich unter Umständen von einer Person intime Kenntnisse über ihr Erleben der Beziehung habe ohne die andere Seite zu kennen? Ich bat eine befreundete Psychoanalytikerin um Rat. Sie meinte klar: Entweder traust du die beiden oder die Frau kommt zu dir ins philosophische Einzelcoaching. Beides zusammen gehe nicht. Ich käme in Teufels Küche: Was erwartete die Frau von mir? Wollte sie mich einsetzen um ihrem künftigen Mann gewisse Dinge über sich mitzuteilen? Als Psychotherapeutin wäre für mich der Fall klar gewesen: Ich hätte den Vorschlag meiner Freundin befolgt: Entweder oder, aber nicht beides gleichzeitig. Als Philosophin betrachtete ich die Lage anders: Weshalb die zwei nicht fragen, ob sie zusätzlich zur Trauung als Paar zu mir in ein philosophisches Coaching kommen möchten? Das Paar stimmte zu und unabhängig zu der Hochzeitsgestaltung gingen wir dem Begriff der Treue und der Bedeutung der Eheschließung für die zwei nach. Als drittes Beispiel einer „Philosophischen Trauung plus“ möchte ich von folgendem jungen Paar erzählen: Sie ausgebildete Kleinkindererzieherin, er mitten in seinem Jurastudium mit dem Ziel Jugendanwalt. Als sie mir ihre Biografien zuschickten, erschrak ich: Ihren Lebenslauf bebilderte die Frau mit Fotos von Kleinkindern. Daraufhin fragte ich das Paar wie es bei ihnen punkto Kinderwunsch aussähe. Er antwortete prompt: „Wir wollen damit noch warten. Mindestens bis ich mit der Ausbildung fertig bin.“ Ich wandte mich an sie: „Ent-

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spricht das auch Ihren Bedürfnissen?“ Zuerst zögerlich sagte sie ja, das hätten sie so besprochen, doch in einem zweiten Anlauf räumte sie ein, dass es für sie schon ein großer Verzicht sei, mit dem Kinderkriegen noch zu warten. Daraus entwickelte sich ein intensives Gespräch über das Kinderkriegen und der Mann wie auch die Frau meinten später, dass dieses Thema von mir auf den Tisch gebracht wurde, sei für sie und ihre Beziehung sehr fruchtbar gewesen. Zusammenfassend für „Philosophische Trauungen“ möchte ich festhalten: Jedes Paar ist unterschiedlich, und es ist eine Illusion zu meinen, ein philosophisches Trauungsritual lasse sich nach einer einheitlichen Methode gestalten. Auch die Grenze zwischen Vorbereitungsgespräch und Paarberatung sind oft fließend und es erfordert Fingerspitzengefühl, wie weit sich ein Paar öffnen will und kann und wie intensiv sie ihre eigene Beziehung reflektieren wollen. Trotz dieser Schwierigkeit lassen sich bei der Durchführung meiner Philosophischen Trauungen folgende Schritte festhalten: 1) Unverbindliches Vorgespräch 2) Zwei bis vier intensive Gespräche über ihr Kennenlernen (Liebesgeschichte), die Einstellungen, Wünsche und Hoffnungen des Paares 3) Das Paar mailt mir ihre Biografie, allfällige Texte, die während der Trauung eine Rolle spielen, teilen mir den geplanten Ablauf mit (Ort, Musik, Sitzordnung, gegenseitiges eigenformuliertes Versprechen oder Frage durch mich „Willst du die hier Anwesende zur Frau nehmen?“). 4) Ich formuliere einen ersten Entwurf der Trauungsrede. Das Paar ergänzt, korrigiert, stellt um, bis die endgültige Version steht. 5) Durchführung des Trauungsrituals.

Philosophische Paarberatung Eingangs erwähnte ich, wie wenig Beachtung dem Paar im Gegensatz zum Individuum in der philosophischen Theoriebildung geschenkt wird. Streng genommen stimmt das nicht. Quasi zwangsläufig beschäftigten sich die philosophischfeministischen Werke der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts neben Entwürfen zur Emanzipation von Frauen immer wieder mit der Paarbeziehung und im speziellen mit der unterdrückten Stellung von Frauen innerhalb einer Ehe. Stellvertretend nenne ich hier Carol Pateman “The Sexual Contract“ und darin besonders Kapitel 6 „Feminism and The Marriage Contract“.8 Bei meinen Recherchen für diesen Aufsatz stieß ich lediglich auf einen zeitgenössischen Philosophen, der die Paarbeziehung zentral zu seinem Thema macht. Ferdinand Fellmann formuliert den Mangel an theoretischen Reflexionen 8

Carole Pateman (1988), S. 154 – 188.

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zur Paarbeziehung so: „Der Mensch ist das unbekannte Wesen. Noch unbekannter ist das Paar.“9 Und das sei nicht einleuchtend, denn „die Paarbeziehung (gehe) dem Individuum voran…“10 Er sei sich durchaus bewusst, dass die Vorrangigkeit des Paares gegenüber dem Individuum auf den ersten Blick ein paradoxer Gedanke sei, er erweise sich aber durch genauere Analysen der Art und Weise, wie Mann und Frau im Paar verbunden sind, als haltbar.“11 Georg Simmels Fragment „Über die Liebe“12 thematisiert auch das Paradoxe an der Liebe, er formuliert die Spannung zwischen Paar und Individuum jedoch nicht als Paradox, sondern als „Wunder der Liebe“: „Das eben ist doch das Wunder der Liebe, dass sie das ‚Fürsich-sein‘ des Ich wie des Du nicht aufhebt, ja es zur Bedingung macht, unter der jene Aufhebung der Distanz, des egoistischen Rückkehrens des Lebenswillens auf sich selbst erfolgt.“13

Paarbeziehungen implizieren immer beides: Konflikt und Einheit. „Zwischen dem Ich und dem Du erhebt sich für das menschliche Bewusstsein der erste seiner Konflikte und die erste seiner Vereinheitlichungen.“14 Große Kunst der Paarbeziehung sollte es also sein, eine fließende Harmonie zwischen den Individuen und Verschmelzung zu einem Paar herstellen zu können.

Philosophische Praxis: Paarberatung Es gibt (noch?) nicht allzu viele Philosophische Praxen, die explizit Paarberatung anbieten. Auf der Website der praktischen Philosophin Regina Mahlmann lesen wir unter Paarberatung: „Seriöserweise möchte ich meine Arbeit mit Paaren gegen Psychotherapie im engeren Sinn und deren Sujets abgrenzen (etwa: Suchtprobleme, sexuelle, neurotische, psychotische Störungen). Damit Sie einen Eindruck erhalten, in welchen Horizont meine Arbeit mit Paaren gehört, skizziere ich zwei große Themenkreise, in denen Paare in mir einen hilfreichen Partner finden.“15

Als Themenkreise erwähnt sie: 9 Ferdinand Fellmann (2005), S. 17. 10 Ferdinand Fellmann (2005), S. 22. 11 Vgl. Ferdinand Fellmann (2005), S. 22. Fellmann beschäftigt sich als einer der einzigen Philosophen mit der Paarbeziehung. Schade dabei ist, dass für Fellmann ein Paar zwingend aus Frau und Mann zusammengesetzt ist. 12 Georg Simmel (1923). 13 Georg Simmel (1923), S. 3. 14 Georg Simmel (1923), S. 1. 15 http://www.dr-mahlmann.de/PhilosophischePraxis/Paare-Gruppen.html.

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1) Oft klagen Paare darüber, den anderen gar nicht mehr zu „kennen“, sich voneinander entfernt oder entfremdet und/oder „sich nichts mehr zu sagen“ zu haben. Das Leben sei mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander. 2) Im Themenkreis Konflikte versuchen wir etwa, Motive, Motivationen und Muster offen zu legen, um den Grund für eine neue Verständigungsbasis und einen veränderten Umgang miteinander zu legen.16 Ähnliche Themen bringt Anette Prins-Bakker in einem grundlegenden Aufsatz zur Philosophischen Paarberatung zur Sprache.17 Sie entwickelt ein 6-StufenModell für die Paarberatung.18 Stufe 1„Erzähle mir…“: Die Beratung beginnt mit einer getrennten Sitzung. Beide Partner sollen unabhängig voneinander individuell herausfinden, wo sie Probleme in der Beziehung sehen. Sie sollen die Möglichkeit haben, ihre Partnerschaft aus einem losgelösten Blickwinkel zu reflektieren. Stufe 2 „Wer bist du?“: Das Paar versucht herauszufinden, wer sie unabhängig voneinander sind. Gab es Veränderungen, die ich unabhängig von meinem Partner durchlebte? Verlust einer nahestehenden Person? Geburt eines Kindes? Arbeitslosigkeit? Schwere Erkrankung? Stufe 3 „Wie verläuft dein Leben?“: Welche Werte sind für dich in deinem Leben relevant? Durch was für eine Brille siehst du die Welt? Stufe 4 „In welcher Lebensphase steckst du?“: Kann es sein, dass du und dein Partner momentan in einer unterschiedlichen Lebensphase stecken? Stufe 5 „Die eigene Beziehungsstruktur hinterfragen“: In dieser Phase kehrt man wieder zum eigentlichen Problem zurück, zur Beziehung. Zentral ist hier der gegenseitige Austausch, das Gespräch. Sich nicht als Individuum wahrzunehmen, sondern als Teil einer Beziehung. Stufe 6 „Soll die Beziehung weiter geführt werden?“: In der letzten Stufe der Beratung sollte es zu einer Synthese der ersten fünf Schritte kommen und gemeinsam Bilanz gezogen werden: Will man die Beziehung weiterführen oder sich trennen? Versuche ich meine Erfahrungen mit Paaren und Beziehungen in ein methodologisches Vorgehen einzufügen, so sind die Ausführungen von Prins-Bakker hilfreich. Selbst bei den Vorgesprächen zu den Philosophischen Trauungen denke ich manchmal, es könnte sinnvoll sein, das Paar auch mal getrennt voneinander zu treffen. Ich möchte meine Philosophischen Paarberatungen als Hybride verstehen. Der Ausdruck Hybrid bedeutet „etwas Gebündeltes, Gekreuztes oder 16 Vgl. ebd. 17 Prins-Bakker, Anette (1995): Philosophy in Marriage Counseling. In: Lahav, Ran/da Venza Tillmanns, Maria: Essays on Philosophical Counseling, Lanham, New York, London, S. 135 -151 18 Ich übersetzt „Marriage Counseling“ mit „Paarberatung“, weil es mir geeigneter erscheint als die eingeschränktere Version von „Eheberatung“.

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Gemischtes“. Philosophische Paarberatung besteht für mich sowohl aus Einzelgesprächen wie auch aus Sitzungen, wo beide dabei sind. Freiwilligkeit aller Anwesenden ist für mich oberstes Prinzip.

Zwei gescheiterte Beispiele 1) Eine 60-jährige Frau rief mich an und bat um einen Termin. Ihr Mann hätte seit längerer Zeit schwere Depressionen, die dazu führten, dass er seine Hausarztpraxis aufgegeben habe. Sie hätte zeitlebens ihre eigenen Tätigkeiten denjenigen ihres Mannes untergeordnet. Erzog die Kinder, führte den Haushalt und half in der Praxis tatkräftig mit. Durch die Erkrankung ihres Mannes sei ihr ganzes bisheriges Leben in Frage gestellt. Sie hätte gerne philosophischen Rat von mir, wie sie sich verhalten soll. Auch meinte sie, sie würde gerne eine Stunde gemeinsam mit ihrem Mann kommen. Ich fragte, ob das auch im Interesse ihres Mannes sei. Sie entgegnete, ihrem Mann sei im Moment alles recht, was sie unternehme, damit es ihr besser gehe mit ihm. So hätte er bestimmt nichts dagegen, einmal zu einem Gespräch mit zu kommen. Mich interessierte, ob die Frau mich eher aufsuchte, um sich über ihr eigenes Leben, ihre unausgelebte Individualität klar zu werden oder ob das Wohlbefinden ihres Mannes Vorrang hatte. Sie antwortete, dass sie das eigentlich schon lange nicht mehr unterscheide, sie als Individuum und sie als Teil dieser Ehe. Ohne ihren Mann fühle sie sich nicht vollständig. Das Gespräch mit ihr allein verlief positiv. Sie erzählte, sie würde gerne eine Kunstschule besuchen, sich intensiv mit ihrem jahrelangen Hobby beschäftigen. Sie wäre eigentlich immer am liebsten Künstlerin geworden. Wie ausgemacht war bei unserer zweiten Sitzung ihr Mann mit dabei. Es gelang mir jedoch nicht, das Gespräch auf die Beziehung zu lenken. Der Mann redete fast nichts und die Frau wiederholte im Prinzip dasjenige aus unserer ersten Sitzung. 2) Auf meinem Anrufbeantworter sind zwei längere Nachrichten vom selben Absender gespeichert. Eine sichtlich aufgebrachte Frau braucht offensichtlich Hilfe. Sie halte es nicht mehr aus. Ihr Mann demütige und betrüge sie seit Jahren. Sie schaffe es aber nicht, ihn zu verlassen. Es würde sie interessieren, nach welchen Methoden ich arbeite und ob sie allenfalls mit ihrem Mann mal in eine Beratung kommen könne. Ich rufe zurück und die Frau redet verzweifelt auf mich ein. Erst nach geraumer Zeit kann ich ihr mitteilen, dass ich wohl nicht die geeignete Person für ihr Problem sei. Zwar stehe auf meiner Website Einzel- und Paarberatung, doch sei ich keine Therapeutin und Paarberatungen funktionieren nur, wenn alle Beteiligten aus eigenem Antrieb und freiwillig an ihrer Beziehung arbeiten möchten. An dieser Stelle könnte ich dieselben Unterschiede zwischen Philosophischer Beratung und Psychotherapie anbringen wie bei Einzelberatungen. Philosophische Praktikerinnen sind keine Therapeuten. Wenn eine Beziehung kaputt, resp. krank (was immer das heißt) ist, macht eine Philosophische Paarberatung wenig Sinn.

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Möchte ein Paar aber neue Möglichkeiten in ihrer Gemeinsamkeit entdecken, ihre Beziehung aus einer anderen Perspektive wahrnehmen oder einfach reflektieren und intensivieren, dann lohnt sich der gemeinsame Gang in die Philosophische Praxis. Abschließend möchte ich ein geglücktes Beispiel aus meiner Praxis aufzeigen.

P h i l o s o p h i s c h e T r a u u n g a l s p r ä ve n t i ve E h e b e r a t u n g ? Eines der ersten Paare, das sich von mir philosophisch Trauen ließ, besprach mit mir Jahre später Schwierigkeiten in ihrer Beziehung. Ich erinnere mich gut an unser erster Vorgespräch: Er sportlich-ehrgeiziger Jungakademiker, sie eine attraktive Tochter aus edlem Hause. Auf meine Frage nach Eigenschaften, die sie am anderen nicht so schätzen, gab er zur Antwort: Sie sei etwas träge, mache zu wenig Sport. Sie fand ihn zu unbekümmert und er arbeite zu viel. Auf die Frage, ob sie eine Familie gründen möchten, sagte sie nein und er, nur, wenn sie gerne Kinder hätte. Der Druck lastete jedoch schwer auf der Braut, da sie als Einzelkind ihren Eltern lieber heute als morgen Enkel hätte schenken wollen. Hinzu kam auch, dass die junge Frau beruflich eher unglücklich war und eigene Kinder die Aufgabe einer Erwerbstätigkeit erleichtert hätten. Aber keine Kinder und nicht arbeiten? Kann sie dem Stand halten? Es wunderte mich nicht, dass ich etwa nach einem Jahr die erste, nach zwei Jahren die zweite Geburtsanzeige erhielt. Die junge Mutter war voll ausgelastet. Aufgrund eines beruflichen Aufstiegs wechselte die junge Familie den Wohnort und die Grosseltern lebten dadurch so weit entfernt, dass sie ihre Enkelkinder selten sahen und die Tochter wenig entlasten konnten. Eines Tages rief mich die Frau an und wollte einen Einzeltermin für eine Beratung. Sie erzählte, wie sie es total schön fände mit ihren zwei Kindern, es gehe ihnen sehr gut, sie hätten ein schönes Haus gekauft. Womit sie allerdings etwas Mühe hätte, sei, dass ihr Mann ganz selten zuhause sei und dass sie ein wenig das Gefühl habe, sie sei für ihn als Frau nicht mehr attraktiv genug. Er lobe zwar oft ihre Mutterqualitäten, aber sie fühle sich von ihm als Frau vernachlässigt. Auch der Wohnortwechsel mache ihr zu schaffen, denn fast alle ihre Freundinnen und Bekannte wohnten weit weg und ihr Sozialleben beschränke sich auf ihre Familie. Da sie auch nicht mehr ausserhäuslich arbeite, käme sie sich isoliert vor. Ich fragte, ob sie das mit ihrem Mann besprechen könne. Sie möchte die wenige Zeit, die sie für sich alleine hätten, nicht mit ihren Problemen kommen, antwortete sie. Ich versuchte es mit einer anderen Frage: Inwiefern entspreche ihre jetzige Lebensweise ihren Vorstellungen und Wünschen beim Beginn ihrer Ehe? Offen legte sie dar, dass sie sich das anders gedacht hätte. Die Kinder seien zwar eine Bereicherung, aber sie sei immer eine eigenständige Frau gewesen und momentan fühle sie sich abhängig und eingeengt. Auch hätte sie durch die zwei Schwangerschaften zugenommen und nie mehr ihr früheres Gewicht erreicht. Auch mache sie keinen Sport, obwohl sie

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von ihrem Mann diesbezüglich immer wieder angespornt würde. Wir beschlossen die Stunde ohne klares Ergebnis. Ich meinte, es sei sinnvoll, das Gespräch mit ihrem Mann zu suchen, und wenn sie beide möchten, könnten wir einen gemeinsamen Termin vereinbaren. Der ließ nicht lange auf sich warten, und der Mann war sichtlich erfreut, mich wieder zu sehen und sagte, er sei froh, hätte seine Frau ihn auf ihre Ehe angesprochen. Von sich aus wäre er nie gekommen, aber er hätte doch gemerkt, dass sich in ihrer Beziehung eine Routine eingestellt hätte, die auch ihm nicht behagte. Beide erläuterten sich gegenseitig ihre Wahrnehmungen innerhalb der Ehe. Meine Aufgabe beschränkte sich auf eine Moderation. Ich erteilte eine „Hausaufgabe“: Sie sollten beide unabhängig voneinander aufschreiben, wann / in welchen Situationen und Momenten sie sich vom anderen geliebt fühlten. Bei unserem nächsten Treffen lasen sie es sich gegenseitig vor und ich holte meine damalige Trauungsrede hervor, die unter anderem davon sprach, wann sich das Paar jeweils vom anderen geliebt fühlte. Mich erstaunte die Kontinuität. Die „Geliebt-werden-Momente“ überstanden all die Jahre beinahe unverändert. Was aber litt, war die Häufigkeit der „Geliebt-werdenSituationen“. Bei diesem Beispiel ist es offensichtlich: Durch die Trauung erlangte ich Einblick in die Beziehungsdynamik des Paares quasi auf ihrem Höhepunkt, zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Partner ganz sicher sind, mit dem je anderen Menschen ihr weiteres Leben gemeinsam zu verbringen. Dies bietet bei späteren Schwierigkeiten eine optimale Basis wieder zu vergegenwärtigen, wie das Paar startete. Insofern kann eine Philosophische Trauung als präventive Paarberatung angeschaut werden. Selbstverständlich kann die Philosophische Paarberatung auch ohne vorgängige Trauung fruchtbar sein. Meines Erachtens sollte man nicht erst wenn die Beziehung in einer Sackgasse gelandet ist versuchen, die Beziehung zu verändern. Neue Möglichkeiten und Perspektiven zu suchen und diskutieren tun immer gut. Es braucht dazu keine vorgängige Krise.

Literatur Bernasconi, Martina (2005): Philosophische Beratung und psychoanalytisches Denken. In: Staude, Detlef (Hg.): Lebendiges Philosophieren. Philosophische Praxis im Alltag; Bielefeld. Fellmann, Ferdinand (2005): Das Paar. Eine erotische Rechtfertigung des Menschen. Berlin. Fried, Erich (1996): Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte, Berlin. Gibran, Khalil (2005): Der Prophet, Düsseldorf.

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Historisches Wörterbuch der Philosophie: Beziehungssoziologie. S. 3075 (vgl. HWPh Bd. 1, S. 910). Basel. Linseth, Anders (2005): Zur Sache der Philosophischen Praxis – Philosophieren in Gesprächen mit ratsuchenden Menschen. Freiburg/München. Mahlmann, Regina (2003): Was verstehst du unter Liebe? Ideale und Konflikte von der Frühromantik bis heute. Darmstadt. Mahlmann, Regina (2010): http://www.drmahlmann.de/PhilosophischePraxis/ Paare-Gruppen.html. Marinoff, Lou (2002): Sokrates’ Couch. Philosophie als Medizin der Seele. München. Mash: Ewigi Liäbi, http://247lyrics.blogspot.com/2007/09/ewigi-liabi-mash.html, Abrufdatum: März 2010. Pateman, Carol (1988): The Sexual Contract. Cambridge. Precht, Richard David (2008): Liebe: Ein unordentliches Gefühl. München. Prins-Bakker, Anette (1995): Philosophy in Marriage Counseling. In: Lahav, Ran/da Venza Tillmanns, Maria: Essays on Philosophical Counseling, Lanham, New York, London. Ruschmann, Eckart (1999): Philosophische Beratung. Stuttgart. Simmel, Georg (1923): Über die Liebe (Fragment), http://socio.ch/sim/posthum/ post_liebe.htm , Abrufdatum: November 2009. http://www.geo.uni-bonn.de/cgi-bin/kafka?Rubrik=frauen&Punkt=heirat, Abrufdatum: März 2010.

Begleiten von Führungspersonen. Führungsc oaching als Philos ophisc he Prax is ANETTE SUZANNE FINTZ

Abstract Die Idee, Philosophen könnten Führungspersönlichkeiten begleiten, ist nicht neu: Bereits Aristoteles war Lehrer des jungen Alexander des Großen und auch in der Neuzeit haben etliche Staatsmänner immer wieder das regelmäßige Gespräch mit Philosophen gesucht. Egal, ob man Hofnarren, die sicherlich zu den Klügsten bei Hofe gehörten, und Wesire schon als Ursprünge des Coachings sehen will, oder nur das intellektuelle Gespräch zwischen Staatsoberhaupt und Philosoph als solches werten mag: Die Bereitschaft, sich in strategischen und Führungsfragen zu beraten, war immer schon von der Führungsperson abhängig, nicht von den jeweiligen Situationen. Wie können Philosophen und Philosophinnen Menschen heute in Führungsverantwortung begleiten? Welche Themen werden zum Gegenstand in einem Coaching? Was kann gelernt und standardisiert werden? Was ist das Philosophische an dieser Begleitung? Diese Fragen werden aufgegriffen und sowohl theoretisch reflektiert als auch praktisch beschrieben. Der Beitrag ist in drei Abschnitte aufgeteilt: Die Autorin schildert zunächst die Rahmenbedingungen und das Selbstverständnis für Führungsbegleitung als Philosophische Praxis, um im Anschluss auf das spezifisch Philosophische ihres Beratungsalltags einzugehen. Während die ersten beiden Abschnitte durch Fallbeispiele veranschaulicht werden, gibt sie im dritten Teil sowohl Anregungen für die Vorbereitungen und Rahmenbedingungen einer Praxis als auch Fragen für Praktiker mit auf den Weg. In der Gesamtschau wird deutlich, inwiefern die Qualität einer Führungsbegleitung maßgeblich von der vorgegebenen Situation, der fachlichen Kompetenz und praktischen Erfahrung der Philosophin, sowie deren persönlicher Haltung bestimmt wird.

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Rahmenbedingungen der Führungsbegleitung Zeit und Geist In welche ,,Welt“ taucht eine Philosophin ein, die Menschen in Führungsverantwortung begleiten will? Womit beschäftigen sich Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Sozialwesens in ihrem Alltag? Womit werden sie regelmäßig konfrontiert? Die Herausforderungen mögen von branchentypischer Couleur geprägt sein, aber Führungsfragen und unternehmerisches Denken erweisen sich in den meisten Punkten als identisch. Besonders relevant ist sowohl für Mandanten als auch für Praktiker das Bestimmtsein durch chrónos und kairós: Die Rahmenbedingungen ändern sich, ohne dass die Betroffenen direkten Einfluss darauf nehmen könnten. Ereignisse wie ,,9/11“ (11. September 2001) und die folgenreiche Finanzkrise 2008 sind Beispiele für globale Erschütterungen, die nicht vorhersehbar, aber für alles weitere Handeln bestimmend sind. Was heute gilt – eine Zusage, die Rechtslage, die wirtschaftspolitische Situation – kann sich morgen schon anders verhalten. Diese strukturelle Grundbedingung verknüpft sich mit persönlich herausfordernden Ereignissen und führt zu einer der wichtigsten Führungskompetenzen, dem entschiedenen Handeln. Führungspersonen sollen und dürfen nicht zu früh und nicht zu spät entscheiden, kommunizieren und handeln. Den kairós wahrzunehmen, das heißt im richtigen Augenblick zu reden oder zu schweigen, das gehört vielleicht zu den schwierigsten Aufgaben, die eine Führungsperson bewältigen muss, um langfristig erfolgreich zu sein. Zugleich zeigt sich in der Linearität des chrónos kein stetiges Ansteigen des Tempos; wir bewegen uns in einer sich selbst beschleunigenden Welt. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer gleich schnell bleibt, fällt zurück. Dieser Aspekt der Beschleunigung und Schnelllebigkeit schlägt sich auch auf dem Trainings- und Coachingmarkt nieder. 1998, bei Gründung des ISOB, gab es einige Unternehmensberater und etliche Trainer vornehmlich von Kollegen aus der Betriebswirtschaft und der Psychologie. Wer Coaching als individuelle Beratung wollte, musste suchen. Inzwischen coacht jeder jeden. Auf den Bestseller-Listen findet sich ein oberflächlicher Buchtitel (und Inhalt) neben dem anderen, wobei die enthaltenen Rezepte entweder esoterische Züge tragen, sich aus individuellen Erfahrungen speisen oder originellen Ideen-Gebilden entsprechen. Führungsthemen werden oftmals so abgehandelt, als ob nur der richtige Knopf zu drücken oder die richtige Vorstellung zu imaginieren wäre, und dann liefe alles wie gewünscht. Allein die Aufgabe, sich hier zu orientieren und fachlich fundierte Literatur zu recherchieren, bedarf der Geduld und Zeit. So ähnelt die Coachingszene mittlerweile dem Genre der Pop-Musik, die vom Wechsel lebt, permanent neue Stars hervorbringt (und vergisst), und die der Masse als freundliches Nebengeräusch gefällig bleibt.

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Philosophen tun gut daran, gegenüber dieser Art Trend-Setting Abstinenz zu üben, auch wenn das angesichts des Erwartungshorizontes der potentiellen Mandanten nicht unproblematisch bleibt. Vom Coach wird selbstverständlich erwartet, dass seine Arbeit möglichst bald zu positiven Veränderungen führt, zu denen man ohne ihn nicht gefunden hätte. Was ist der Unterschied zwischen einer Philosophin, die Führungspersonen berät, und all‘ den anderen Kollegen, die sich auf dem Markt tummeln: den Psychologen, Betriebswirtschaftlern, Soziologen, Juristen oder Ingenieuren? Besonders hilfreich ist hier nicht die Abgrenzung zu den anderen, vielmehr die Selbstbesinnung. Wie kann sich eine Philosophin in der Wirtschaft verstehen? Worin besteht die Kraft und damit der Vorteil der Philosophie?

Denken und Nicht-Wissen Die ureigenste Tätigkeit und Aufgabe jedes Philosophen und jeder Philosophin ist das Denken. Dem Denken entspringt Klarheit und manchmal überraschend Unklarheit dort, wo vorher vermeintliche Klarheit herrschte. Das Denken folgt der Logik und erkennt die Grenzen des Wissens an; es ermöglicht ,,Kritik“ im ursprünglichen Sinne, nämlich das begründende Scheiden von dem, was man verantworten will / kann oder eben nicht. Das Denken respektiert die Autorität des vernünftigen Arguments, egal von wem es stammt, und ist dennoch absolut personal. Ein Denken ohne Denker geht nun mal nicht. Daher ist der beratende Philosoph auch nicht einfach durch einen anderen Philosophen zu ersetzen. Hannah Arendt definiert Philosophie als ,,Denken ohne Geländer“. Diese Definition macht nicht nur Mandanten neugierig, sie ist zugleich eine Art Verpflichtung: Selbstzweck, Eigennutz, Wünsche, auch moralische Empfindungen müssen dem Diktum der logischen Verknüpfungen (zunächst) weichen; es bedeutet, ein (auch moralisch) offenes ,,zu-Ende-Denken“ der eingebrachten Argumente und Eindrücke. Nicht selten und oftmals bei den kritischsten Entscheidungsfragen stellen sich bei der Analyse antinomische Strukturen heraus, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft anhand der Themen ,,Welt“, ,,Seele“, ,,Gott“ durchdekliniert und damit darlegt, inwiefern die Logik nicht immer nur eine Lösung ergibt. ,,Richtige“ Entscheidungen werden als zwingend notwendige fragwürdig; umso mehr rückt das stringente Denken, das Subjektiv-Moralische und die persönliche Entscheidung des Einzelnen in den Vordergrund. Die Aufgabe des Selber-Denkens und dann auch Selber-Verantwortens vor dem Hintergrund der antinomischen Struktur (des Daseins schlechthin) bleibt im Laufe des Coachings nicht nur ein sachliches Faktum, das als solches eher wie eine Sackgasse wirken würde. Diese Struktur wird in der persönlichen Aneignung zur Freiheit höchsten Grades: der Einzelne kann (und muss) unvertretbar entscheiden. Seine Entscheidung entspringt seinem Selbst und formt dieses zugleich in Hinblick auf seine Moralität und Identität weiter. Gerade in solchen

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Prozessen geht es um Persönlichkeitsbildung par excellence, die nicht durch Training von Fertigkeiten erzielt werden kann. Das Ur-Prinzip der Philosophie ist das Staunen, das der Position des NichtWissens entspringt. Dieses Nicht-Wissen, das einer Menge an Wissen, Bewusstsein und Reife bedarf, stellt sich den meisten Praktikern als eine der schwierigsten Maxime Philosophischer Praxis dar; wie sehr drängt es Philosophen nach kurzer Erzählung des Gegenübers, ihren Wissensschatz zu entbergen, statt der scheinbaren Banalität des Alltags Raum zu geben und über diese zu staunen. Den Mandanten kann diese Positionierung im Nicht-Wissen als ,,intentionale Naivität“ erklärt werden: das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten, das ErklärenLassen von Alltagshandeln und der jeweiligen Motivation. Häufig tritt Überraschendes zu Tage, wenn Menschen ihre Weltsicht darlegen, die sich letztlich in alltäglichen Denk-, Entscheidungs- und Handlungsstrukturen niederschlägt. Nur durch die Positionierung im Nicht-Wissen, das eine vorurteilsfreie (nicht Wert-freie!) Haltung beinhaltet, können diese Strukturen entdeckt werden. Im Unterschied zu Kollegen aus der Psychologie, die hier psychologische Motivationsfaktoren analysieren, aus der Soziologie, die struktur-dynamische Prozesse im Auge haben oder den Betriebswirtschaftlern, die entweder ,,Fakten“basierte Analysen erstellen oder gerne eine pragmatische Mischung aus vielen Disziplinen zu einer Theorie-Mixtur bündeln, hat der philosophische Berater wenig theoretische Basis (außer der Autorität der Vernunft), mit der er die wahrgenommene Struktur denkerisch nachvollzieht und begrifflich skizziert. Dabei versucht der Philosoph, die jeweiligen Werte, den Sinn und Zweck des Handelns strukturell zu erfassen, um dem Mandanten dessen eigene Prämissen und innere Logik darzustellen. In der Regel zeigt sich eine Vieldimensionalität der inneren Logik, die nicht frei von Widersprüchlichkeiten ist. Diese Logik wird selbst nicht analysiert und erklärt, vielmehr als zentrales Grundmuster für alle Bereiche immer wieder aufgegriffen. Von einer psychologischen Kausalverknüpfung ist der Philosophische Praktiker damit weit entfernt. Der Unterschied zu Beratern aus anderen akademischen Disziplinen ist zugleich das herausragende und wirksamste Merkmal: es geht um das Verstehen von Sinn-Zusammenhängen an Stelle des Erklärens der Kausalitäten. Der Philosophische Praktiker erklärt nicht, warum sein Mandant oder dessen Mitarbeiter so handelt; er hilft ihm, sich selbst und die anderen in ihren Sinn-Bezügen zu verstehen und von dort aus weiter zu denken und zu handeln. Diese Grundhaltung ermöglicht eine größtmögliche Offenheit gegenüber dem Mandanten in dessen Situation. Gerade diese Offenheit im Coaching erfordert Klarheit im Selbst- und Arbeitsverständnis. Andernfalls verbirgt die postulierte Offenheit eine Orientierungslosigkeit und die Anerkennung anderer Werte wurzelt in Beliebigkeit

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Sinn und Zweck Definitions- und Abgrenzungsversuch Die notwendige Vorrangstellung der Nutzenstiftung als wesentliches Verkaufsargument zeigt sich als eine der größten Schwierigkeiten für Philosophische Praktiker.1 Der potentielle Mandant muss sehen können, welchen Wert diese Begleitung für sein Unternehmen oder ihn selbst in seiner Leistung hat, ansonsten wird er als vernünftiger Mensch keine Zeit und kein Geld investieren.2 Begleitung von Führungspersonen überschneidet sich daher kaum mit der Aufgabe, der sich z.B. ein Philosoph in einer Ethikkommission stellt. Zwar kann der Praktiker im Laufe des Coachings (z.B. im Rahmen des Themas Unternehmenskultur) die Frage des gerechten Entlohnungssystems thematisieren, sieht sich dann aber sofort mit den einhergehenden Problemen der Standortfragen und der Wettbewerbsbedingungen konfrontiert. Auch wenn der Berater immer außerhalb des Systems bleiben muss, so hat er dennoch mit dem Unternehmen als Gesamt-Organismus in der Wirtschaftswelt zu tun. Der in diesem Beitrag verwendete Begriff der Beratung als Begleitung unterscheidet sich daher maßgeblich von einer distanzierten Empfehlungs-Mentalität, die sich in diesem Kontext eher als Besserwisserei ohne Verantwortungsübernahme zeigte. Führungsberatung in Philosophischer Praxis bedeutet: Ein Philosoph oder eine Philosophin begleitet eine Führungsperson durch die von ihr vorgegebenen Themen; dabei schöpft der Philosoph aus dem Schatz der großen Denker, der Differenzierungsfähigkeit und seiner Fähigkeit, Verstehen von Erklären zu unterscheiden, sowie das Reflektieren der verwendeten Sprache. Ziel der Arbeit ist nicht, Menschen ,,moralischer„ oder ,,gerechter“ zu machen, vielmehr den Mandanten darin zu unterstützen, seine Persönlichkeit auf eine Weise weiter zu entwickeln, die es ihm erlaubt, selbstverantwortlich, klar durchdacht und im Bewusstsein der eigenen Begrenzung zu führen, anzuleiten und zu kommunizieren.

Vom unmittelbaren und mittelbaren Nutzen ,,Sie haben uns über Führung und Werte vorgetragen. Jetzt habe ich eine Bitte: könnten Sie uns nicht eine Art Rezept geben, wie wir alle erfolgreich führen können?“

1 2

Vgl. hierzu auch den Artikel »Das Ethos des Philosophischen Praktikers« in diesem Band. In diesem Artikel liegt der Fokus ausschließlich auf der Begleitung von Führungspersonen in deren Führungsaufgaben. Themen wie persönliche Orientierungsfragen, Burn-out u.ä. müssen in der Praxis ebenso integriert werden. Ausführungen zu Coaching als integrative Beratung zu Beruf und Leben finden sich in Buer/SchmidtLellek (2008).

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Diese ernst gemeinte Bitte äußerte nicht ein naiver Studienanfänger mit Blick auf schnellen Aufstieg, sondern ein erfahrener Geschäftsführer während einer Fragerunde im Anschluss an einen Vortrag. Ein Rezept zum Nachahmen wünschen sich viele und auf dem oben beschriebenen Markt wird eine Vielzahl davon angeboten. Handlungs-Rezept und Philosophieren widersprechen sich; ein simples Ursache-Wirkungs-Prinzip haben Philosophen nur selten im Angebots-Portfolio. Nicht, dass es keine Möglichkeit gäbe, in einem Nachmittagsworkshop wertvolle Denkanstöße zu geben oder bei einem Wirtschaftsforum bestimmte Zusammenhänge aufzudecken und damit auch Veränderungen anzustoßen. Der Kern jedoch liegt in der gemeinsamen Arbeit am jeweilig individuellen Prozess und an den Herausforderungen, vor denen ein Unternehmen aktuell steht. Immanuel Kant formulierte es in dem prägnanten Satz ,,Sapere aude“, den die Philosophin ihrem Mandanten abfordert. Die Entwicklung zum selbstreflektierten Handeln unter den beiden Aspekten der persönlichen Freiheit und Verantwortung (trotz aller sogenannten Sachzwänge) hat einen mittelbaren Nutzen: Die Führungspersönlichkeit entwickelt einen bewussten Ethos, aus dem heraus gedacht, entschieden und gehandelt wird, und der sich den Antinomien der wahrgenommenen Weltwirklichkeit stellt. Konkret bedeutet das: Menschen in Führungsverantwortung kommen immer wieder in Situationen, in denen sie nicht mehr entscheiden können, ob die ,,weiße Weste“ Flecken bekommt. Ihre Freiheit besteht darin zu entscheiden, wo diese Flecken in welcher Größe sein werden. Durch das Bewusstmachen dieser Antinomie kann Führungshandeln für den Akteur und die Mitarbeiter klar und transparent werden, weil Entscheidungen nicht mehr unter dem Deckmantel der Sachzwänge kommuniziert werden, vielmehr als bewusst vollzogene Entscheidung. Dieser mittelbare Nutzen des Coachings entsteht durch die Verwurzelung einer Denk-, Entscheidungs- und Handlungskultur, die sich nach anfänglicher Anleitung selbstständig fortsetzt. ,,Sie haben uns nicht einfach etwas beigebracht; Sie haben jeden von uns in seiner prinzipiellen Lebenshaltung verändert. Ich sehe mich und meine Welt inzwischen ganz anders.“ Das ist keine ungewöhnliche Rückmeldung am Ende eines Coachingprozesses. Interessant ist dabei, dass es für die Einzelnen verschiedene Aspekte sind, die ihre Haltung inzwischen prägen. Insofern hat Führungsbegleitung ebenso wie Lebensberatung einen starken Begegnungscharakter. Gute Führungsbegleitung hat für den Philosophen deshalb den ,,Nachteil“, mit der Zeit weniger gebraucht zu werden, weil die Mandanten gelernt haben, eigene und fremde Handlungsmuster offen zu analysieren und damit selbstverantwortlich zu arbeiten.

Vom zweckfreien Philosophieren mit Managern Für Coaching als Philosophische Praxis müssen die Mandanten die Bereitschaft mitbringen, nachdenken und hinterfragen zu wollen. Mandate kommen entweder von reifen Führungspersonen oder für sogenannte Young Potentials, in die ein

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Unternehmen investiert, um sie für anstehende Führungsaufgaben zu qualifizieren. Für Philosophie als Disziplin interessieren sich die wenigsten und wenn, dann eher mit populärwissenschaftlichen Themen und Aussagen, die Philosophen eher Mühe machen (,,Es ist doch mittlerweile nachgewiesen, dass Menschen gar nicht frei denken …“). Der Unterschied zwischen einem Philosophen und z.B. einem Ingenieur ist sicherlich im Wesentlichen die Relevanz der Disziplin für die Identität. Nicht, dass Ingenieure, Betriebswirtschaftler, Juristen keine Leidenschaft für das haben (können), was sie tun; Philosophie hat jedoch originär mit sich selbst, mit dem Menschen, mit dem Leben und Sterben zu tun. Wir beschäftigen uns immer wieder mit den großen Fragen der Welt und des Lebens schlechthin und dabei werden Philosophen sich immer wieder selbst zum Gegenstand des Hinterfragens. Wir stellen Fragen, von denen wir von vorne herein wissen, dass wir keine abschließenden Antworten erwarten dürfen, wenn wir nicht in scholastische Spielereien abdriften wollen. Dazuhin haben wir es mit Abstrakta zu tun, um Konkretes systematisch zu reflektieren. Das komplexe Denken im (zunächst) zweckfreien Raum oder das Lesen einzelner Philosophen bedarf dieser beiden Voraussetzungen: einer grundsätzlichen Freude am Denken selbst, sowie der Bereitschaft, fachliches und Erfahrungswissen in neue Zusammenhänge zu setzen und der Gefahr des Hinterfragens auszusetzen. Meiner Erfahrung nach interessieren sich Mandanten mit der Zeit auch für philosophisches Denken. Dort, wo es abstrakt und bis auf weiteres fern der erlebten Realität bleibt, verliert ein Großteil die Lust an der Anstrengung. Die weitere Abwägung des zeitlichen und finanziellen Aufwands in Relation zum Nutzen führt zur Einschränkung einer philosophisch intensiven Arbeit. Philosophisches für Manager (Jan Demas: 2006) ist eines der wenigen Bücher, in denen versucht wird, Grundbegriffe und -strukturen der Philosophie seriös zu erörtern, sie in Unternehmens-Kontexte zu stellen und dennoch die Philosophie im Vordergrund zu behalten. Themen wie z.B. ,,Subjekt“ entlang der Philosophiegeschichte zu durchleuchten, um sie letztlich in aktuelle Bezüge zu bringen, entspricht einer ,,Oberstufe“ im Coachingprozess. Wie wir wissen, reicht den meisten Menschen der mittlere Abschluss durchs Leben.

Philosophietheoretische Grundlagen und Praxis-Beispiele Karl Jaspers hat die Bedeutung der Philosophie für andere Disziplinen grundsätzlich wie folgt fest gehalten: ,,[Das Studium der Philosophie] […] hat erstens einen negativen Wert. Wer kritische Philosophie gründlich durchzudenken sich bemüht hat, ist vor zahlreichen falschen Fragestellungen, überflüssigen Diskussionen und hemmenden Vorurteilen geschützt, die

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bei unphilosophischen Köpfen […] nicht selten eine Rolle spielen. Zweitens hat das philosophische Studium einen positiven Wert für die Art der menschlichen Haltung […] in der Praxis und für die Klarheit seiner Motive im Erkennen.“ (Jaspers 1942: 6)

Wie bedeutsam Jaspers’ Einschätzung für Führungsbegleitung ist, wird bei vier grundlegenden Themen und Denkhaltungen in ihrer Bedeutung für Philosophische Praxis und anhand von Beispielen aus der Praxis erläutert: Sprache, Anthropologie, Dialektik und Selbstdistanz.

Bewusste Sprachverwendung Beratungssituationen bedürfen insofern einer alltäglichen Atmosphäre, als die Mandanten über ihre Arbeit ,,plaudern“, also gerade keine ,,gestylte“ Version ihres Arbeitsalltags schildern sollen. Sprachliche Prägnanz im Sinne der Klarheit ist natürlich von Vorteil; sprachliche Brillanz kann im Beratungskontext hinderlich werden, wenn sie, wie häufig in Politik und Gesellschaft, gerne dem Blendwerk dient. Präzise und verständliche Sprache, die sich nicht dem ,,trendigen“ Business-Deutsch mit seinen Worthülsen anpasst und dennoch dem Führungskontext entspricht, kann als erste praktische und kreative Herausforderung des Philosophen in der Praxis angesehen werden. ,,Von Konfuzius wird berichtet, er habe auf die Frage, was er bei einer Staatsgründung zuerst tun würde, geantwortet: Zuerst die Begriffe klären.“

Konfuzius meint damit nicht zuerst die Sprache des Volkes, die er kritisieren will, sondern die Reflexion der eigenen Begrifflichkeiten. Die Aufgabe des Führungsberaters ist demnach nicht zuerst, das viel beschimpfte ,,Denglisch“ in den Unternehmen anzuprangern, vielmehr bei sich selbst nachzusehen. Mit welchen (deutschen) Begriffen oder Latinizismen geht ein Philosoph in der Führungsbegleitung um? Am Beispiel des marktüblichen Begriffs Führungskraft wird das spezifische Vorgehen eines Philosophischen Beraters expliziert. ,,Wir beraten Führungskräfte“ kann man auf vielen Webseiten lesen. Zur Klärung des Selbstverständnisses greife ich diesen Begriff fast immer im Erstgespräch auf, um zu klären, welche prinzipielle Zielrichtung meine Beratungsleistung hat. Ich berate nämlich keine ,,Kräfte“; ich berate ,,Personen„ in Hinblick auf ihre Persönlichkeit. Was sich zunächst wie eine philosophische Begriffsliebhaberei anhört, lässt sich an den Management-Kontext anbinden, also an die Alltagswelt des Gegenübers: Kraft ist ein Begriff aus der Physik und wird dort als Vektor dargestellt. Vektoren kann man teilen – Arbeitsstellen auch. Allerdings bringen zwei Personen mit je 50 Prozent nicht genau dieselbe Leistung wie eine Person mit 100 Prozent. Es kommt maßgeblich auf den Einzelnen an. Von einer ,,Kraft“ im Sinne einer einsetzbaren Ressource ohne Berücksichtigung individueller Stärken und Grenzen zu sprechen, entspricht einem physikalisch-mathematischen Blick, der an der Realität vorbei geht.

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Ebenso spreche ich nicht von der Führungsposition, vielmehr frage ich, seit wann der Coachingnehmer diese Führungsverantwortung schon inne hat. Damit läuft ein Gespräch nicht mehr in eine Schiene der Befugnisse, vielmehr der Verantwortungen und Entscheidungssituationen, also den persönlichen und auch moralischen Aspekten meines Gegenübers. Die wenigsten Gesprächspartner sind diese bewusste Sprachverwendung gewohnt. Die Sprache als Anstoß für verändertes Denken und bewusste Haltung führt zu einer Kulturarbeit im Unternehmen, die Berater aus anderen Disziplinen so nicht leisten können. „Wir hätten gerne einen Workshop über Moral im Geschäftsalltag.“ „Was erwarten Sie von dem Workshop?“ ,,Dass heraus gearbeitet wird, inwiefern Moral zwar wünschenswert, aber nicht immer möglich ist…“

So oder ähnlich können Aufträge beginnen. Angenommen, man einigt sich darüber, dass die Philosophin den Workshop durchführt, so muss dort zuallererst die klassische Frage behandelt werden: ,,Was ist X?“ – also die Klärung des MoralBegriffs. Wenn Teilnehmern bewusst wird, wie fahrlässig mit ,,großen Begriffen“ umgegangen wird, aber auch, welch unerwarteter Dissens über die Bedeutung alltäglicher Begriffe besteht, bringt es sie regelmäßig zum Staunen. Teammitglied: ,,Moral ist, wenn man gut handelt.“ Dazu nicken alle. Anderes Teammitglied: ,,Das geht aber nicht immer.“ Dazu nicken auch alle. Coach: ,,Wer bestimmt denn, was gut ist?“ … und schon begibt sich ein Team von Ingenieuren auf die Spuren des Moralbegriffs, lernt sich dabei näher kennen und staunt im Laufe der Zeit, welche Definition und welche Konflikte sich dabei heraus schälen.

Manchem Auftraggeber wäre lieber, die Philosophin dozierte den Begriff (falls das überhaupt nötig ist) und käme dann schnell zur Praxis. Auch manchem Philosophen wäre das lieber, denn die philosophische Prägnanz und das dem Thema angemessene Niveau lassen sich schwerlich mit Laien erarbeiten. Die Zeit dazu bleibt selten. So muss man sich häufig mit Deskriptivem zufrieden geben, das den Begriff fachlich nicht verfälscht, aber auch nicht erschöpfend behandelt. Welchen Vorteil hat dieses gemeinsame Erarbeiten eines Begriffs, das von der Coach durch Fragen oder provokative Anmerkungen geleitet wird? Die Coachingnehmer lernen selbst, sich Begriffen anzunähern und diese zu definieren; sie stellen dabei fest, dass das Definieren von Begriffen bereits praktisches Arbeiten ist, weil die selbstverständliche Verwendung z.B. des Wortes „Moral“ für ihren Berufsalltag problematisch sein kann. Durch die Diskussion lernen sie einander kennen, weil das Definieren immer über Beispiele geht. Für das anschließende Coaching ist der Prozess der Begriffserörterung wichtig, weil die Coach sich hier bereits ein Bild der vorherrschenden Konzepte machen und später immer wieder auf die Diskussion zurückgreifen kann.

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Anthropologische Konzepte Alle Menschen haben bewusst oder unbewusst ein implizites Konzept darüber, was den Menschen zum Menschen macht, wie er ,,funktioniert“ und was ihn bildet. Das eigene Konzept (zumindest für sich selbst) explizit zu machen, gehört zu den Grundvoraussetzungen, um als Philosophischer Praktiker solide zu arbeiten. Der Begriff Beratung wird vor allem von Coaches, von vielen Philosophischen Praktikern und erst recht von Psychotherapeuten verworfen. Begründung: Man führe ein Gespräch und wolle den Gesprächspartner keinesfalls im Sinne des Manipulierens beeinflussen. Um dies wirklich zu vermeiden, bleibt eine rein begriffliche Verweigerung unzureichend. Führungsbegleitung auch Beratung zu nennen, halte ich für die Vermeidung von Augenwischerei und zugleich für eine beständige Mahnung, mich selbst zurück zu nehmen. Wer ernsthaft die Meinung vertritt, durch seine Arbeit keinerlei Einfluss auf den Lauf der Dinge zu nehmen, geht einem fatalen Selbst-Missverständnis in die Falle. Ob es dem Berater passt oder nicht: Menschen orientieren sich an seiner Person (und Meinung). Diese Einsicht führt zu einer großen Vorsicht in Hinblick auf persönliche Stellungnahmen und den Umgang mit Mandanten. Im Bewusstsein des Einflusses, den die Philosophin nimmt, sollte vor Beginn des Coachings das anthropologische Konzept expliziert werden, von dem aus sie arbeitet. ISOB-Coaching basiert auf dem Konzept der Self-Decisive-Person: ,,Jeder Mensch ist frei (nicht unabhängig) und verantwortlich für das, was er tut. Er kann täglich neu entscheiden, wer er ab jetzt sein will, wobei er die Verantwortung für die Person übernimmt, die er bisher war.“ Das hat weitreichende Konsequenzen, die am Beispiel des Workshops über moralisches Handeln im Unternehmen verfolgt werden können: Die Teammitglieder sind zu dem Schluss gekommen, im Alltag sei moralisches Handeln, das sie eben definiert haben, schwierig zu verwirklichen. Individuell würden sie gerne ,,gut“ handeln, aber vom Unternehmen her gedacht ginge das oftmals nicht. – Die Frage, die sich durch das philosophische Denken im Coaching ergibt, lautet: ,,Wer übernimmt nun die Verantwortung für das durch Umstände erzwungene unmoralische Handeln?“ Vor der Diskussion hätten die meisten jegliche Verantwortung unter Hinweis auf Sachzwänge von sich gewiesen. Unter der anthropologischen Prämisse, jeder Mensch sei zwar ,,zoon politicon“ und dennoch frei und verantwortlich, stellt sich die Frage nach persönlicher Übernahme von Verantwortung neu. Der Einkäufer im Team schildert daraufhin seine Situation: ,,Zurzeit denke ich viel über einen Zulieferer nach, der für uns punktgenau arbeitet. Ich weiß, dass er bis vor kurzem bei uns geschlampt hat und bei anderen Kunden immer noch sehr unzuverlässig ist. Bei uns strengt er sich zurzeit an, weil er glaubt, im nächsten Jahr einen großen Auftrag von uns zu bekommen. Ich weiß jetzt schon: er wird ihn aus diversen Gründen nicht bekommen. Wenn ich ihm das sage, wird er bei uns wieder nicht mehr pünktlich liefern, worauf wir aber angewiesen sind, um selbst Termintreue zu gewährleisten. Ich genieße

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das Zuvorkommen des Zulieferers, den Status des Premiumkunden – und weiß genau: ich bin keiner. In gewisser Hinsicht lüge ich, halte ihn hin. Das ist unmoralisch.“ Kollege: ,,Was willst Du sonst machen?“ Einkäufer: ,,Nichts anderes! Terminprobleme mit unseren Kunden könnten uns gerade jetzt ruinieren. Aber ich will mich da nicht heraus reden. Nur wenn das ein Stachel bleibt, suche ich nach Möglichkeiten, solche Situationen erst gar nicht wieder entstehen zu lassen. Wir verteilen z.B. ab nächstem Jahr die Aufträge auf mehrere Zulieferer, so dass die Abhängigkeiten schrumpfen. Das ist zwar ein bisschen teurer, aber so eine dumme Sache kommt dann nicht wieder vor.“

Der Einkäufer will sich als Person (nicht als Arbeitskraft) verstehen; Personalität manifestiert sich in der Übernahme von Verantwortung. An diesem Beispiel wird der Fokus der Führungsbegleitung deutlich: Es geht in der Begleitung von Führungspersonen weder um gegenseitige Eingeständnisse (wie in einer Selbsthilfegruppe), noch um ein Schlecht-Reden der Wirtschaft, vielmehr darum, sich der eigenen Handlungen als individuelle Entscheidungsprozesse bewusst zu werden, um den eigenen Spielraum zu erweitern. Fredmund Malik3 will mit seiner Aussage, Führen sei ,,ganz einfach“, zum einen Führungsstars verschiedenster Couleur wie Alfred Herrhausen, Wendelin Wiedeking oder Jack Welch den Glanz nehmen, zum anderen einer überdimensionierten Anforderung an einen Manager entgegen wirken. Das ,,einfache Führen“ geht nach Malik auf solides Handwerk zurück, das geprägt sei von Fokussieren und Fleiß. Allerdings wird auch beim Trendsetter der Management-Theorien alles getragen vom persönlichen Ethos des einzelnen, der die individuelle Freiheit und Verantwortung als anthropologisches Konzept implizit voraus setzt: „Wer nicht zu seiner Verantwortung steht, der ist kein Manager. Er ist Karrierist.“ (Malik 2006: 73)

Dialektisches Denken Als allgemeines Ärgernis oder philosophische Liebhaberei erscheint manchem Coachingnehmer das dialektische Denken, das Prozesse komplexer werden lässt und dadurch verlangsamt. Wer Unterstützung in seiner Führungsaufgabe sucht, will in Kürze und mit wenig Aufwand „korrektes Handeln“ umsetzen können. Das gewünschte Rezept könnte dann so aussehen: „Ein Maß Zielgenauigkeit, ein halbes Maß Kommunikationstechniken, ein halbes Maß Konfliktmanagement, ein Esslöffel Menschenkenntnis und eine Prise Bauchgefühl. Man behandle das

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Fredmund Malik ist Gründer des St. Gallener Managementinstituts und einer der führenden Management-Trainer. In der Unternehmensberater-Szene und v.a. bei Führungspersonen zählen seine Publikationen zu den einflussreichsten im deutschsprachigen Raum. Sein Klassiker „Führen – Leisten – Leben gehört zu den Standardwerken in der Managementausbildung. Vgl. Malik: 2006

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Ganze in Tagesworkshops und lasse es über Nacht reifen, fertig ist das immer gelingende Führungsverhalten.“ Eine Eigenart des philosophischen Begleitens besteht in der Ablehnung jeglicher vorgegebener Rezepte, die ein ,,Richtig“ oder ,,Falsch“ implizieren. Das Coaching soll den Coachingnehmer befähigen, durch das Reflektieren von Theorie-Gegensätzen ein eigenes Führungsprofil zu entwickeln, für das er sich bewusst entscheidet. Nur einfache Sachverhalte lassen sich ,,richtig“ machen; alles andere lässt mindestens zwei Möglichkeiten offen, die jeweils Gefahren und Chancen, Kosten und Nutzen in sich bergen. Die Philosophin bricht die Illusion der ,,zwingenden Verhältnisse“ auf und fordert zum Denken in Gegensätzen heraus. Dadurch wird ein selbst-verantwortender Abwägungsprozess beim Mandanten in Gang gesetzt, der durch eine persönliche Entscheidung zum Handeln führt. Im Vergleich dazu würde ein unreflektiertes Für und Wider in einem vermeintlich objektiven Urteil über besser oder schlechter münden. Wird jedoch der subjektive Nutzen persönlicher Motive und Erfahrungen der jeweiligen Argumente transparent gemacht, so wird der gefällten Entscheidung der Nimbus der Notwendigkeit genommen und zugleich dem Profil der Führungspersönlichkeit zugeschlagen. Das Formulieren inhärenter Gegensätze unterstützt den Mandanten, seine persönlichen Motivationen besser kennen zu lernen, Eigeninteressen in der Argumentation offen zu legen und Einflüsse einzuordnen. Die Metapher der ,,Fleckenwahl“ auf der ,,weißen Weste“ hilft manchem Mandanten, sich diesem Abwägungsprozess offen zu stellen. Am Ende steht keine ,,richtige“ Entscheidung, vielmehr die Entscheidung, die der Einzelne errungen hat und verantworten will. Der Mandant gewichtet also die Argumente, und der Coach unterstützt ihn ,,lediglich“ im ,,zu-Ende-Denken“ und dabei, Themen mutig zu begegnen. Durch diesen Prozess entwickelt sich ein Führungsprofil, das für die Mitarbeiter klar und verlässlich ist. Das Alltagsbeispiel des Einkaufsleiters E (vgl. oben) zeigt solch einen Abwägungsprozess. Hier lassen sich zwei Gegensatzpaare nachvollziehen, die E im Laufe des Prozesses heraus gearbeitet und abgewogen hat. Im Beispiel wird der Dreischritt Denken – Entscheiden – Handeln deutlich. (Dialektisches) Denken 1) Berufsethos 1a) ,,Wahrhaftiges Handeln“ entspricht E’s Ethos; er will nach eigener Aussage ,,guten Gewissens in den Spiegel schauen können“.  E muss die Fehlannahme des Zulieferers korrigieren. 1b) Die Einhaltung von Terminzusagen seitens des Unternehmens an Kunden entspricht E’s Ethos (Argument für den teureren Standort Deutschland).  E darf keinesfalls die Fehlannahme des Zulieferers aufdecken, bevor ein Ersatz gefunden ist, da die Produktion andernfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht termingerecht fertigen kann.

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2) Branchenübliches Geschäftsgebaren 2a) Der Geschäftsführer betont, das Verhalten von E, die Fehlannahme des Zulieferers zum eigenen Vorteil zu nutzen, sei absolut branchenüblich, daher korrekt. Im Grunde handle es sich nicht um eine Lüge. Keiner (auch nicht Außenstehende) werde dem Einkaufsleiter einen Vorwurf machen, wenn er im Interesse des Unternehmens und dessen Kunden handle.  E kann sich auf allgemeingültige Regeln berufen; keiner kann geschäftsschädigendes Verhalten von E erwarten, für das er im Zweifelsfall sogar Sanktionen zu erwarten hätte. 2b) E ist sich im Klaren, dass er selbst zu verantworten hat, wenn er Geschäftspartnern im persönlichen Gespräch wichtige Informationen vorenthält.  E will seine persönliche Verantwortung nicht auf Konventionen abschieben. Entscheidungen E hat sich im Laufe der Argumentation entschieden, den Zulieferer weiter in vermeintliche Auftragsgewissheit zu halten. Zugleich hat er sich entschieden, solchen Situationen allgemein vorzubeugen. Handeln E nimmt die Situation als Vorlage für zukünftige Entscheidungen über Strukturen auf. Die Mitarbeiter im Unternehmen werden über Entscheidungsgrundlagen (Werte, Diversifizierungen) für die zukünftigen Zulieferer informiert.

Selbstdistanziertes Denken Manchmal bedeutet Führungsberatung, schmerzhafte Entscheidungen und kritische Wege zu begleiten, bei denen ursprüngliche Selbstbilder und Weltvorstellungen des Mandanten (oft auch die der Coach) erschüttert werden. Prinzipiell empfiehlt es sich, spielerische Vorgehensweisen zu entwerfen, die in verschiedenen Situationen helfen, die ernste Situation anzugehen, um einen größtmöglichen Freiheitsraum zu erhalten. Im folgenden Fall lassen sich verschiedene Formen und Spezifika eines philosophisch fundierten Coachings nachskizzieren. Eine Schlüsselfigur spielt Meta, die ich im Coaching als ,,Dame mit dem dienstbaren Geist“ bezeichne. Unternehmersohn S hat den Maschinenbau-Betrieb des Vaters mit ca. 1.000 Mitarbeitern übernommen. Das Familienunternehmen steht seit Gründung 1935 für Integrität und Qualität. Geschäfte bis zur Millionenhöhe sind von S‘ Vater bis vor kurzem noch per Handschlag (ohne Vertrag) besiegelt worden, ohne dass es je zu Streitigkeiten gekommen wäre. Personelle Einschnitte sind in den letzten Jahrzehnten des Aufschwungs nicht vorgenommen worden, das Nischenprodukt hat hohe Gewinnspannen ermöglicht. Eine betriebswirtschaftliche Kalkulation wurde bis vor kurzem nicht durchgeführt. Durch hohe Umsatzzahlen und persönliche Beziehungen haben Banken über etliche Jahre bei Investitionen problemlos Kredite gewährleistet. Nach der Übertragung des Unternehmens auf S (dritte Generation) sind die Banken schlagartig nicht mehr zur Verlängerung der Kredite bereit, was zur Fälligkeit eines Betrages von insgesamt 30 Mio.

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Euro in kürzester Zeit führt. Die Verlängerung wird schließlich doch gewährt, als S einwilligt, den seitens der Bank empfohlenen externen Manager (M) einzustellen, der den Betrieb auf ,,Vordermann“ bringen soll. M geht wie mit einer Sense durch das Organigramm und entlässt (meistens unter Vorwand und damit ohne Abfindung) altgediente Mitarbeiter. Täglich gibt er S zu verstehen, dieser habe keine Ahnung vom ,,wirklichen Business“. S rächt sich: Da er weiterhin die Position des Geschäftsführers inne hat, braucht M dessen Unterschrift bei allen wichtigen Entscheidungen. S verweigert seine Signatur immer öfter. Damit wird er bei M und den Banken als ,,Neinsager“ bekannt. Die Banken drohen nun mit sofortiger Einforderung der Kredite, wenn sich S weiterhin den Empfehlungen des M verweigert. S kommt in dieser bedrängten Lage ins Coaching; die Kombination Philosophie und Frau hält ihn zunächst eher ab: zwei ,,softe Faktoren“ (Zitat S!) seien für die Problemlösung eher hinderlich. Andererseits sucht der 40-jährige promovierte Ingenieur keine Dublette von M, die nur andere Tricks im Spiel um die Macht anwendet und großmännisch auftritt. S hatte die vor mir angefragten ,,Erfolgscoaches“ als solche Dubletten eingeschätzt. Er will persönlich darin unterstützt werden, ein integres Führungsprofil zu entwickeln, um damit folgende Ziele zu erreichen: M’s Einfluss soll geschmälert und die ursprüngliche Unternehmenskultur (Vertrauen, Kooperation) wieder gestärkt werden; S soll sich in seiner Führungskompetenz so präsentieren können, dass er von den Banken mittelfristig als alleiniger Geschäftsführer akzeptiert wird; die Führungsleistung muss eine Wirtschaftlichkeit ermöglichen, durch die die Darlehen in machbaren Zeitabschnitten getilgt werden können.

Schlüsselsitzungen kann man nicht ,,machen“. Aber natürlich kann man Wege gehen, die Schlüsselerlebnisse ermöglichen. „Meta“ ist der Name einer virtuellen Figur im ISOB-Coaching, die weder mit dem Mandanten noch mit mir etwas zu tun hat. Meta „sitzt“ über den Dingen, d.h. sie unterstützt beim vorurteilsfreien und emotionslosen Betrachten der Situation. – Meta stellt die Meta-Ebene dar und wird zeitweise als Puppe auf einen erhöhten Punkt gesetzt, von dem aus sie beinebaumelnd auf die Dinge herab blickt. Durch diese ausgelagerte Position kann ich immer wieder fragen: ,,Was meint Meta wohl dazu?“ und damit spielerisch zu einer selbstdistanzierten Betrachtung auffordern, die erst einmal kein Aufgeben eigener, oft starker Positionen voraus setzt. Im geschilderten Fall kann Meta dem Mandanten zeigen, wo M aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll agiert und nicht nur ein „böser Mann“ ist. Meta unterstützt S darin zu sehen, wo er aus Loyalität zu seiner Familie jegliche Kritik am unternehmerischen Handeln des Vaters (das immerhin zu einer hohen Verschuldung geführt hatte) kategorisch ablehnt. Ich kann als Coach im Laufe der Zeit die Frage stellen, worum es S in dessen Verhalten wirklich geht: a) um den Ruf der Familie, b) um den Fortbestand des Betriebs als mittelständisches Unternehmen mit oder auch ohne S (d.h. kein Verkauf an einen Konzern), c) um den Betrieb als Familienunternehmen, d) um die eigene Position im Unternehmen als Geschäftsführer, e) … ? S entscheidet sich für Schwerpunkt b). Das zieht die Erkenntnis nach sich, M habe nicht einfach nur falsch, vielmehr an einigen Stellen im Sinne des Unternehmens gehandelt

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und S‘ Ansinnen (vermutlich ungewollt) unterstützt. Im weiteren Verlauf verschieben sich die Themen der Coachingtage immer mehr in die Richtung, wie S wirtschaftlich orientiert handeln kann, ohne seine Integrität einzubüßen, und gleichzeitig einen Umgang mit M findet, der ihn langfristig begünstigt. An den Coachingtagen verzahnen sich die Lektüre von Gracián, Machiavelli und Han mit aktuellen Problemen im Unternehmen. S entscheidet sich für ein kurzfristig kooperatives Verhalten, um dessen Aggression und Misstrauen zu senken, und sich selbst eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. An Stelle der Unterschriftsverweigerung treten immer häufiger konstruktive Änderungsvorschläge (d.h. S beugt sich nicht, handelt aber im Sinne der Sache), die M nicht einfach abwimmeln kann. Durch eingeübtes souveränes Auftreten und geschicktes Kommunizieren seitens S fühlt sich M einerseits als Sieger (endlich kooperiert S) und wird dabei in seinem unlauteren Verhalten immer leichtsinniger und wagemutiger; in dieser Selbstsicherheit verstrickt er sich nach einigen Monaten in einen großen Versicherungsbetrug, den S durch im Coaching geübte, ,,lockere“ Gespräche mit M heraus findet. Der aufgedeckte Betrug rechtfertigt die Entlassung auch vor den Gläubigern. Bis zur Entlassung von M hat S Möglichkeiten ausgeschöpft, sich bei Kunden und Banken als kompetenter Geschäftsmann zu profilieren. Die Banken schulden die offen stehenden Beträge um, so dass S als Geschäftsführer frei agieren kann.

Das Unternehmen ist damit noch lange nicht aus der Krise. In der anfangs geschilderten Situation drängt die Aufgabe, den Mandanten überhaupt wieder als Akteur ins Unternehmens-Spiel zu bringen. Dazu gehört auch die Erarbeitung von ,,Plan B“: Welche Selbstentwürfe kann sich S vorstellen, falls er sich entschließt (oder dazu gezwungen wird), ganz aus dem Unternehmen auszusteigen? – Ist Plan B vielleicht sogar die präferierte Lösung? Im Laufe des Coachings wird immer wieder thematisiert, wie weit S sich den sogenannten Zwängen beugt und wo er sich taktisch heraus arbeiten kann. Die erarbeitete Prämisse zu Beginn lautete: ,,Wenn ich mein Selbstverständnis leugnen soll, steige ich aus.“ S betrachtet die Begleitung insofern als besonders unterstützend, als seine Positionen und sein Vorgehen auf eine Weise hinterfragt werden, die ihn in die Lage versetzen, Orientierung in seinen eigenen Werten zu finden. Die zeitweise entdeckten Gegensätzlichkeiten führen weder zur Lähmung im Handeln, noch zu einfachen Auflösungen. S lernt, Gegensätze als dialektische Formen zu nutzen. Sein Anliegen, integer zu handeln, wird im Coaching nicht als Sozialromantik abgetan, umgekehrt wird sein Ziel, alleiniger Geschäftsführer zu werden, auch nicht als machthungrig abgestempelt. S erhält die Möglichkeit, sich ohne Selbstverlust zu ändern. Dazu gehört in seinem Fall, die väterliche Unternehmenspolitik der letzten Jahre einerseits postum als ,,naiv“ und ,,schädlich“ zu bezeichnen. Andererseits betrachtet er seinen Vater als einen, der in dessen Zeit das Unternehmen von einer kleinen Werkstatt zur Blüte eines großen mittelständischen Unternehmens geführt hat. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist von Respekt geprägt. Der ursprünglich empfundene Auftrag, zu agieren wie sein Vater und dessen Reputation zu schützen, wandelt sich zum frei gewählten Auftrag, das Unternehmen im ursprünglichen Familiensinn (Integrität und Qualität) wei-

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terzuführen. Durch den Perspektivwechsel kann S sein persönliches Führungsprofil entwickeln und damit zukunftsorientiert und selbstverantwortlich handeln.

Managementthemen in der Philosophischen Praxis Wer im Management beraten will, tut gut daran, sich mit dem Handwerk des Managements auseinander zu setzen. Man muss nicht alles können, sollte aber möglichst viel kennen. Von einem Coach wird auf jeden Fall erwartet, dass er Schlagworte wie Changemanagement nicht nur als Worthülse kritisiert, sondern auch weiß, was diejenigen darunter verstehen und erwarten, wenn sie fragen: ,,Bieten Sie auch Changemanagement an?“ Nicht nur sprachlich bedeutet Coaching, mit dem Rudel zu laufen, ohne mit den Wölfen zu heulen. Grundlegende und branchenübergreifende Themen dieses Handwerks, die sich zu klassischen Trainingsthemen entwickelt haben, sind zum Beispiel Zeitmanagement, Sitzungsleitung, Präsentation, Kommunikation und Konfliktmanagement. Was kann ausgerechnet ein Philosoph hier ausrichten? Viel, wenn er sich auf die Themen einlässt (nicht herab lässt) und das einbezieht, was Management-Handwerker zuvor bereits erarbeitet haben. An einem einfachen „Trainings-Klassikers“ lässt sich darstellen, inwiefern ein Coach zum einen sachlich an Management-Themen arbeitet, zum anderen einen philosophischen Akzent setzt, der die gesamte Weiterbildung beherrscht.

Zeitmanagement Manche der philosophischen Grundlagen, die zu Beginn des Beitrags skizziert wurden, fließen in den Zeitmanagement-Workshop so, wie er im ISOB durchgeführt wird, ein: Die Fragen der allgemeinen Sprachverwendung und die Selbstbesinnung. Um zu zeigen, wie Zeitmanagement von einer Philosophin mit einer Coachinggruppe behandelt werden kann, skizziere ich hier mein Workshopkonzept. Der benötigte Zeitrahmen beträgt 2 Tage, die Teilnehmer sollten ihre Agenden/PDAs/Laptops dabei haben. 1) Was ist X? 1a) Frage an die Teilnehmer: Welche Sprichwörter in Zusammenhang mit Zeit kennen Sie? (am Flipchart wird gesammelt) ‒ ,,Morgenstund hat Gold im Mund“ ‒ ,,Was Du heute kannst besorgen, das verschieb‘ getrost auf morgen“ 1b) Definition des Begriffs Zeit (für die Teilnehmer oft schwierig, weil abstrakt) Es ergeben sich Definitionen wie: ,,Ein von Menschen definierter, regelmäßiger, objektiver Abschnitt, der für alle Menschen gesetzt wird. Maßstab ist der Lauf der Erdkugel um die Sonne.“ 1c) Unterscheiden zwischen chrónos und kairós 1d) Frage an die Teilnehmer: Was wollen Sie ,,managen“?

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 Besinnung auf den Sinn: Es geht beim üblichen Zeitmanagement um ,,chrónos“ und darum, Arbeitsabläufe zu optimieren, aber: wozu? Und welche Rolle spielt der kairós?

2) Selbstentwürfe: Einzel-Aufgaben für die Teilnehmer 2a) Wenn ich am Lebensende eine Autobiographie schreiben würde: welchen Titel sollte sie tragen? (,,Unternehmer des Jahrhunderts“, ,,E, Moral war seine Stärke“, ,,Nicht ohne meine Familie“, „Kinder, Küche, Kader“, ,,Er hatte Verständnis – immer“ usw.) 2b) Dient die Art und Weise, wie ich mein Leben momentan führe, der Verwirklichung dieses Titels? 2c) In welchem ,,Kapitel“ befinde ich mich gerade? Was muss ich bestärken oder verändern, um die noch zu schreibenden Kapitel wirklich werden zu lassen? 3) Alles hat eine Überschrift (≠ Ziel!) Der Satz ,,Alles hat eine Überschrift“ zieht sich bei ISOB durch viele Coachingthemen. Dieses „Überschriften“ entspricht (auch im Zeitmanagement) keiner Zielsetzung und auch nicht nur einer Kategorisierung, sondern vor allem dem grundsätzlichen Verständnis von Situationen und Beziehungen. Dieser Satz könnte also ebenso für Paartherapie oder eine Schreibwerkstatt als Schlüsselthema dienen. Die Teilnehmer werden durch Abschnitt 2) für den Unterschied zwischen einem Ziel und einer Überschrift sensibilisiert. Jetzt geht es darum, in großen (z.B. 5 Jahre) und immer kleiner werdenden Abschnitten (bis zum einzelnen Tag) Überschriften zu formulieren. Die Zeiteinteilung (soweit selbst bestimmbar) richtet sich dann nach dieser Überschrift. Die Teilnehmer reflektieren dabei ihre Dauerbrenner-Probleme und verbinden diese mit ihrem Lebens- und Arbeitsstil. Die Überschriften werden von den meisten sichtbar am Arbeitsplatz aufgehängt und wirken so als Reminder. Beispiele: Eine selbstständige Architektin hat schon länger zu wenig Umsatz, sie hat mehrfach Kredite für notwendige Investitionen aufgenommen, die sie nicht aus ihrem laufenden Gewinn begleichen kann. Ein wesentlicher Grund: sie hält sich häufig und lange mit unbezahlten Beratungsgesprächen auf (sie berät gerne). Rechnungsversendungen schiebt sie so lange auf, bis sie einige Posten bei der Verrechnung vergisst. (Hier sei vermerkt: ein typisches Problem vieler freiberuflich Tätigen – auch der Philosophischen Praktiker). Jahresüberschrift: ,,Zuerst das, was Geld bringt“. Eine Personalleiterin hat eine Woche vor sich, in der sie etliche Gehaltsgespräche führen muss. Sie weiß, dass über die Woche hinweg Tendenzen für oder gegen Entscheidungen entstehen, die maßgeblich durch das vorherige „Ja-“ oder „Nein-Sagen“ bestimmt werden und damit unfair sind. Wochenüberschrift: ,,Balance halten“. Ein Geschäftsführer hat in einer Woche den Auszug der Tochter ins Internat, den 50. Geburtstag seiner Frau und die finanzamtliche Überprüfung im Unternehmen in seiner Agenda stehen. Wochenüberschrift: ,,Ruhe bewahren“. Die Philosophische Praktikerin hat einen Workshop mit Teilnehmern vor sich, die gerne abschweifen. Tagesüberschrift: ,,Fokussieren“.

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4) Zeitmanagement-Tools Erst nachdem die ersten drei Abschnitte bearbeitet und verstanden worden sind, erfüllen die klassischen Zeitmanagement-Tools ihre Aufgabe: die Unterscheidung von wichtig und dringend, das Prioritätensetzen von Arbeitsabläufen, hirnphysiologische Erkenntnisse in Bezug zu Aufgabenaufteilung, individuelle Bedürfnisse zur Zeitgestaltung, Umgang mit Störungen, die große Bedeutung von Zeitpuffern. Als Coach muss ich diese Techniken also kennen, eingeübt und Stolperfallen dieser optimierten Zeitnutzungstheorien erkannt haben, im besten Falle selbst anwenden. Die Teilnehmer haben ihre Kalender (in der Regel im Laptop) dabei und versuchen, nach den Kriterien 1) bis 3) und unter Beachtung von 4) ihre Zeitplanung zu optimieren. Allgemeine Erkenntnis: In der Regel hat die Woche zu wenig Stunden. Tempus fugit – live. 5) Zeitkritik: Arbeit mit Texten Wenn irgend möglich, wird das heutige Phänomen des „Simultanten“ (vgl. Geißler. FAZ) besprochen. Nachdem es nicht mehr gelingt, Prozesse seriell zu beschleunigen, werden sie parallel bearbeitet: das Hörbuch beim Autofahren, Tippen der Mail während des Telefonierens, Surfen und Telefonieren während des Essens in der Mittagspause etc. Viele von uns sind zu Simultan-Arbeitern, zu Simultanten geworden. Sinn und Unsinn, Lebens- und Arbeitsqualität, die Unfähigkeit, Pausen zu machen und der Verlust von Höhepunkten durch ständige Verfügbarkeit werden thematisiert.

Ziel eines solchen Zeitmanagement-Seminars ist die bewusste Lebensführung der Teilnehmer an Stelle des Geführtwerdens durch betriebliche Erfordernisse, durch sogenannte Sachzwänge oder auch gefüllte Terminkalender. Diese bleiben selbstverständlich bestehen, aber der Umgang soll sich ändern: ,,Ich habe den Kalender – nicht umgekehrt.“ Ein anthropologisches Konzept hierzu findet sich bei Helmut Plessners Modell der ex-zentrischen Positionalität. (Plessner 1981: 360ff) Den Teilnehmern wird der Satz voran gestellt: ,,Der Mensch ist das einzige Wesen, das sein Leben führen muss.“ Ergebnis: die meisten Teilnehmer erleben die Weiterbildung in dieser Form als wertvoll in zweierlei Hinsicht: Erstens, weil sie über sich und ihre Lebensführung nachdenken und ihre Haltung überdenken. Zweitens, weil der Workshop in der Praxis ihre Zeitverwendung ändert, sie Prioritäten entschiedener setzen (auch im Privaten) und Berufliches mit ihren persönlichen Bedürfnissen besser zusammen führen können.

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Die Person des Führungsbegleiters Innovation und Alltag Sich selbst erfinden Philosophische Praktiker „erfinden“ sich in ihrem Beruf selbst. Das Feld der Wirtschaft und öffentlichen Gesellschaft stellt eine besondere Herausforderung für Philosophische Praktiker dar: Sie selbst müssen sich immer wieder klar darüber werden, was sie unterstützen können und wollen, und die Mandanten sind in der Regel weder explizit an Philosophie interessiert, noch fühlen sie sich in persönlichen Belangen orientierungslos. Führungsbegleitung erfordert vom Praktiker, sich in der Philosophie zu verwurzeln und auf der praktischen Ebene, sozusagen der ,,Benutzeroberfläche“, zu arbeiten. Der Führungsbegleiter lebt daher in der Spannung, seine Wurzeln weiter zu pflegen und wachsen zu lassen, und zugleich auf praktischem Feld wach zu sein, zu lernen und weiter zu geben. Die Herangehensweise an Probleme, die Erschließung klassischer Managementthemen bis hin zur Zusammenstellung von Unterlagen werden bei einem Philosophen genuin verschieden sein von dem eines Kollegen aus anderen Disziplinen. Sich selbst erfinden bedeutet konkret, Darstellungsmöglichkeiten eines Angebots zu entwerfen, das nicht nur eine Alternative unter vielen sein sollte. Die Frage bleibt immer wieder neu zu stellen: Entspricht dies dem Anspruch eines Philosophen in der Praxis – ist es z.B. zu marktschreierisch oder umgekehrt zu verkopft? Zur Ernüchterung muss erwähnt werden, dass die administrative Arbeit (z.B. für Telefonate, Mails, Buchhaltung), sowie die Akquise häufig 40 bis 50 Prozent der Arbeitszeit beanspruchen, unter anderem weil Führungsbegleitung als Philosophische Praxis nicht kurz und knapp zu vermitteln ist und Kundenwerbung deshalb nur begrenzt an Mitarbeiter delegiert werden kann. Für den eigenen Arbeitsablauf in der Coaching-Vorbereitung und im BackOffice gilt es, sich gut zu organisieren. Es ist ratsam, zu Beginn ein individuelles Schema aufzubauen, in dem die Arbeiten ablaufen und ein durchgängiges Layout für Unterlagen zu entwerfen, in dem ein Angebot, ein Vertrag und auch Seminarunterlagen weiter gegeben werden. Der juristische und steuerliche Rahmen sollte frühzeitig geklärt werden, um Überraschungen von (Finanz-)Amtsseite zu vermeiden. Das regelmäßige Verwenden von didaktischen Tools (wie z.B. Flip Charts oder Filme), die man fast schlafwandlerisch einsetzen kann, helfen der eigenen Konzentration während des Coachings. Die individuelle inhaltliche Vorbereitung des jeweiligen Coachingtags muss durch eine persönliche Vorbereitung ergänzt werden (z.B. durch das Achten auf genügend Ruhe vor dem Coaching oder regelmäßigen Sport). Ein erschöpfter Coach mit hervorragendem Material ist eben kein guter Coach. Die dauernde Präsenz an einem Tag mit einem Mandanten ist psychisch und physisch anstrengend. Ich habe in den ersten fünf Jahren durchschnittlich zwei bis drei Tage Vorbereitung und ein bis zwei Tage Nachbereitung pro Coachingtag verwendet. Wie viel Zeit gebraucht wird, hängt ab von

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den grundsätzlichen Vorbereitungen, die inhaltlich nötig sind, dem didaktischen Aufarbeiten des Themas und der Verzahnung mit bislang Besprochenem. Die Nachbereitung geschieht bei ISOB in Form eines Memos, in dem der Tag thematisch strukturiert aufgearbeitet und zusammengefasst wird. Mittlerweile kann ich auf einen gewachsenen Material-Schatz zurück greifen, den ich je nach Bedarf nutze, Teile ergänze und überarbeite. Die Erfahrung kommt vor allem den Einzelcoachings zu Gute, die sich als fast unberechenbar herausstellen. So kam z.B. ein Mandant, für den ich eine Performance-Arbeit vorbereitet hatte, mit folgender Fragestellung in den Coachingtag: ,,Der Produktionsleiter hat eine Geliebte. Seit gestern erpressen ihn seine Mitarbeiter mit dieser Kenntnis! Welcher Umgang mit ihm passt jetzt in die Führungskultur, die wir erarbeitet haben?“ Egal welches Thema vereinbart wurde: das, was dem Mandanten auf den Nägeln brennt, wird an ,,seinem“ Tag zum Gegenstand des Coachings.

Anregungen für die Praxis Im Folgenden möchte ich in Stichworten einige Eckpunkte nennen, die ich als Rahmen für philosophisch orientierte Führungsbegleitung für elementar halte: • Coaching ist eine Dienstleistung, d.h. sie muss den Interessen des Mandanten dienen. • Der Mandant muss als ebenbürtiger Gesprächspartner geachtet werden. • Die Entscheidung des Mandanten muss von der Philosophin akzeptiert und respektiert werden. Bis zu einer individuellen Grenze muss der Coach die Begleitung fortsetzen können, auch wenn der Mandant anders gehandelt hat, als der Coach geraten hat oder selbst gehandelt hätte. • Das Ethos des Philosophen muss explizit gemacht werden und transparent sein (z.B. das zu Grunde gelegte anthropologische Konzept), zumal Führungsberatung maßgeblich durch die (vom Mandanten stets beobachtete) Lebens- und Arbeitshaltung des Praktikers getragen wird. Authentizität ist unabdingbar. • Der Besuch von klassischen Trainings (Zeitmanagement, Kommunikationstools, Story Board u.ä.) empfiehlt sich zum Erwerb von Grundkenntnissen, die vom Coach erwartet werden. • Führungsbegleitung als Philosophische Praxis erfordert neben der philosophischen Kompetenz kundenorientiertes, qualitätsbewusstes und unternehmerisches Denken. • Eine spezifische Coach-Ausbildung halte ich für dringend ratsam, um nicht nur philosophisch fundiert, sondern auch fachlich seriös und unternehmerisch erfolgreich beraten zu können. • Fortlaufende Case-Studies mit Kollegen, eine Art Supervision der aktuellen Arbeit, halte ich für wichtig, um zum einen ,,blinde Flecken“ in der Praxis klein zu halten, und zum anderen die philosophischen Wurzeln zu pflegen und neue Impulse aufzunehmen.

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Die philosophische Coachingbibliothek Mit einem kleinen Einblick in meine ,,philosophische Coaching-Bibliothek“ zeige ich zugleich, welche Themen häufig Gegenstand in der Führungsbegleitung werden, und wie sich die Themen auch als philosophische besprechen lassen. Es handelt sich hier um einen Teil der Texte, die ich häufig ausschnittweise mit Mandanten zu bestimmten Themen lese: Macht und Gewalt: Baltasar Gracián, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit: Aphorismen Niccolò Machiavelli, Der Fürst Hannah Arendt, Macht und Gewalt Byung-Chul Han, Was ist Macht?

Performance: Aristoteles, Rhetorik Quintilian, Einführung in die Redekunst - institutio oratoria X

Anthropologie: Platon, Politeia (besonders das Höhlengleichnis) Immanuel Kant, Über die Aufklärung Viktor Frankl, Der Wille zum Sinn

Selbstreflexion und Habitus: Bourdieu, Die feinen Unterschiede Martin Suter, Business Class

Anmerkungen zur persönlichen Einstellung Als Freiberuflerin bin ich selbst Unternehmerin. Egal ob ich angestellte Mitarbeiter habe oder nicht, ich muss auf jeden Fall meine Honorare nach wirtschaftlichen Aspekten errechnen, muss mich selbst um Kranken- und Alterssicherung kümmern, Investitionen planen, Materialkosten überschlagen und Rücklagen bilden. Ohne Angestellten-Verhältnis bin ich im selben Boot wie mein Mandant. Das ist gut so: auf diese Weise erlebe ich, wie sich eine wirtschaftlich bedrohliche Situation anfühlt; ich bin selbst gezwungen, mich bei Honorarverhandlungen als Businessfrau zu verhalten; ich komme in dieselbe Zwickmühle von Moral und Gewinn, in die meine Mandanten immer wieder geraten. Meine Mandanten wünschen explizit eine Führungsbegleiterin, die durch ihre eigene unternehmerische Tätigkeit soweit erfolgreich ist, dass sie davon leben kann. Im Grunde gelte ich selbst als lebendiges Indiz dafür, dass nicht alles falsch sein kann, was ich im Laufe des Coachings sage. Die Arbeit beruht insgesamt auf großer gegenseitiger Wertschätzung, bei der flache Vorurteile über „Nieten in Nadelstreifen“ keinen Platz haben. Je länger, je mehr schätze ich meine Mandanten: ihren Mut und ihre Offenheit, sich häufig ohne äußeren Druck das Leben durch Coaching zu ,,erschweren“ und darauf zu vertrauen, dass sich mittelfristig nicht nur ihre Führungsleistung, vielmehr auch ihre Lebensqualität im Sinne einer bewussten Haltung nachhaltig steigert. Ich

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bewundere den unternehmerischen Geist, der sich nur selten in einer ,,makemoney-Mentalität“ ausprägt, vielmehr in einer kreativen und mutigen Lebenshaltung. Und ich sehe die Kraft, die Mandanten brauchen, um nach unverschuldeten oder selbstverschuldeten Niederlagen wieder aufzustehen. Nur in dieser Haltung gegenseitiger Wertschätzung kann Führungsbegleitung gelingen. Nicht nur einmal habe ich (auch von Mandanten) gehört: ,,Wenn alles schief geht, werde ich halt Coach.“ Danach frage ich mich, ob ich etwas falsch mache, wenn das so einfach scheint. Dann fallen mir Beispiele aus der Kunst ein: Der chinesische Kohlezeichner, der mit ,,einfachen Strichen“ Bilder skizziert, die gerade wegen ihrer gekonnten Leichtigkeit und Prägnanz nicht ,,einfach“ nachzumachen sind. Es gilt umgekehrt: Wer sich als Berater zu jemandem entwickelt, ohne den nichts mehr entschieden wird, wer gekränkt ist, wenn Mandanten ihn nicht zu allem befragen, der hat sich zum Guru an Stelle des Begleiters stilisiert. Dieses bewundernde Meister-Schüler-Verhältnis hat in Philosophischer Praxis allgemein keinen Platz. Im Gegenteil: Philosophische Praxis ist der Raum, in dem Menschen sich auf Augenhöhe begegnen; ein Raum des gemeinsamen Nach- und Vorwärtsdenkens. Begleitung bedeutet, gemeinsam ein Stück Weg zu gehen, der nicht ,,gewusst“, sondern gelebt wird. Es bleibt also spannend.

Literatur Arendt, Hannah (2006), Macht und Gewalt. München/Zürich. Aristoteles (1989), Rhetorik. München. Bourdieu, Pierre (2006), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. Buer, Ferdinand / Schmidt-Lellek, Christoph (2008), Life-Coaching. Über Sinn, Glück und Verantwortung in der Arbeit. Unter Mitarbeit von Fintz, John, Schreyögg, Schwartz, Göttingen. Demas, Jan (2006), Philosophisches für Manager. Die Antwort von Philosophen auf Ihre Fragen. Planegg. Fintz, Anette (2006), Die Kunst der Beratung. Jaspers‘ Philosophie in Sinnorientierter Beratung. Locarno/Bielefeld. Frankl, Viktor (1996), Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. München. Geißler, Karlheinz (2005), Verdichtete Zeiten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.2005. Gracián, Baltasar (1967), Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Stuttgart. Han, Byung-Chul (2005), Was ist Macht? Stuttgart.

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Jaspers, Karl (1973), Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen (7. erw. Aufl. 1942). Berlin/Heidelberg/NewYork Kant, Immanuel (1784), Über die Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift, Dezemberheft, S. 481-494. Macchiavelli, Niccolò (2001), Der Fürst. Frankfurt am Main/Leipzig. Malik, Fredmund (2006), Führen Leisten Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, Frankfurt / New York. Platon (1923), Politeia. In: Sämtliche Dialoge. Leipzig. Plessner, Helmuth (1981), Die Stufen des Organischen und der Mensch (1929), in: Ders., Gesammelte Schriften IV, Frankfurt/M. Quintilian, Einführung in die Redekunst. Institutio oratoria X. Suter, Martin (2002), Business Class. Zürich.

Die Methodik und Leitung von Philos ophisc he n Ges prä c hsgruppe n ve rglic he n mit Philos ophische n Cafés und Sokratischen Gesprächen DETLEF STAUDE

Abstract Der Beitrag von Detlef Staude, der seit über zwölf Jahren Philosophische Gesprächsgruppen leitet, reflektiert darauf, was Philosophische Gesprächsgruppen sind, mit welchen Erwartungen die Teilnehmer in solche Gruppen kommen, in welchen Rollen der Gruppenleiter agiert, welche Konflikte hier auftreten können und was bei der Moderation zu beachten ist. Behandelt werden ebenfalls die Fragen, inwieweit Essen und Trinken solche Gruppen auf sinnvolle Weise ergänzen und was bei Wahl und Gestaltung des Raumes zu berücksichtigen ist. Daraufhin werden Struktur und Methodik Philosophischer Gesprächsgruppen verglichen mit der von Philosophischen Cafés und Sokratischen Gesprächen. Abschließend definiert der Autor die in Philosophischen Gesprächsgruppen enthaltene Zielsetzung und bestimmt eine für ihr Durchführen angemessene Grundhaltung des Philosophischen Praktikers.

Das Gespräch Menschen sind soziale Wesen, und somit sprechen sie auch gern miteinander. Und sie sprechen nicht nur miteinander, um sich über Sach- und Sinnzusammenhänge klar zu werden, sondern auch, weil dies einen wichtigen Einfluss auf ihre sozialen Bindungen und ihr Wohlbefinden hat. Somit sind Philosophische Gesprächsgruppen immer unterschiedlichen Erwartungen ausgesetzt: in ihnen will man etwas Neues mitbekommen, es soll einem etwas klar werden, man will etwas über sich selbst erfahren, es soll eine angenehme Erfahrung sein und man will mit interessanten Menschen in Kontakt kommen. Da man hierzu aber einen speziell herausfordernden Raum, nämlich eine Philosophische Gesprächsgruppe

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aussucht, setzt man zu Beginn Prioritäten. Man könnte meinen, es sei somit klar, dass Sinn- und Sachfragen im Vordergrund stehen, doch es sollte nicht vergessen werden, welche stark gemeinschafts-, ja freundschaftsfördernde Kraft die Philosophie besitzt, worauf etliche Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart hingewiesen haben. Das Philosophieren in Gruppen scheint also prädestiniert zu sein, fünf Grunderwartungen (Neues mitzubekommen, Zusammenhänge zu erkennen und zu klären, Selbsterkenntnis zu gewinnen und Selbstvertrauen zu stärken, etwas Angenehmes zu erfahren, Kontakt mit Menschen zu haben) gleichermaßen erfüllen zu können. Philosophische Gesprächsgruppen eignen sich hierfür besonders gut, da aufgrund ihres längeren Bestehens und der regelmäßigen Treffen genug Zeit und ein stabiler atmosphärischer Raum vorhanden sind.

Was sind eigentlich Gruppen? Diese Frage stellt sich, je mehr unterschiedliche Arten von Gruppen philosophierender Menschen man geleitet hat. Ganz allgemein ist es eine gewisse Anzahl (hier: Menschen), die etwas Gemeinsames verbindet. Was sie verbindet, ist in diesem Fall ein – trotz auch unterschiedlicher Erwartungen daran – gemeinsames Ziel: sie wollen gemeinsam philosophieren oder zumindest erfahren, wie das ist. Doch das gilt für alle möglichen Arten von philosophischen Veranstaltungen. Wie aber lässt sich genauer bestimmen, was für eine Art von Gruppe eine Philosophische Gesprächsgruppe ist? Für mich war zu Beginn z.B. ganz klar, was ein Philosophisches Café von einer Gesprächsgruppe unterscheidet: das Philocafé ist eine im Prinzip einmalige Veranstaltung (selbst wenn natürlich Philocafés regelmäßig stattfinden, im Schnitt meist monatlich bis zweimonatlich). Dennoch sitzen immer wieder andere Leute darin und die Themen wechseln von Mal zu Mal. Eine Gesprächsgruppe hingegen ist zwar auch offen, d.h. es können Neue hinzukommen oder Teilnehmende die Gruppe irgendwann verlassen, dennoch besitzt sie als Gruppe eine Stabilität und Konstanz, d.h. man fühlt sich verpflichtet und möchte über einen längeren Zeitraum dabeibleiben und regelmäßig kommen. Zudem behandelt eine Gruppe das Thema, das sie sich vorgenommen hat, bei mehreren Treffen hintereinander (bei mir meist ein gutes halbes Jahr lang). Dennoch ist der Unterschied nicht so grundsätzlich wie er scheint: denn auch regelmäßig stattfindende Philosophische Cafés bekommen nach und nach eine Stammkundschaft. Das heißt, es bildet sich trotzdem eine Gruppe, allerdings mit weniger starker Verpflichtung. Indem sich aber Gruppen bilden, kommen soziale und emotionale Bedürfnisse stärker zum Tragen. Es entstehen mehr oder weniger lockere soziale Gewebe, und so stellt sich die Frage, ob Leute, die mehrmals an ein Philocafé gehen, auch ohne sich sonst zu kennen und ohne immer da zu sein, bereits eine Gruppe bilden. Hier bietet die bewusste Wahl einer Philosophischen Gesprächsgruppe statt eines Philosophischen Cafés die Entscheidung für eine mehr geschlossene Form des philosophischen Dialogs. Es handelt sich also nicht

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nur um den öffentlichen Gebrauch der Vernunft wie in einem Philosophischen Café, sondern es wird in einem bestimmten Ausmass ein Anspruch auf einen „safe place“ erhoben, der sicherlich für das Gedeihen freundschaftlicher Beziehungen zueinander förderlich ist.

Gruppenzusammenhalt und Offenheit der Gruppe Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Frage, wie der Gruppenzusammenhalt gefördert werden kann, wie sich aber umgekehrt die Gruppe offen genug halten lässt für mögliche Neueinsteiger. Besteht eine Gruppe aus Leuten, die sich schon vorher kennen und befreundet sind, kann dies für den Gruppenzusammenhalt stärkend sein, macht es aber vielleicht für Neueinsteiger schwieriger, da sie in der Gruppe bereits Umgangsformen, Beziehungsnetze sowie Sprech- und Denkgewohnheiten vorfinden, die sie zunächst mal nur schwer beeinflussen können. Eventuelle dadurch verursachte Frustrationen oder Unsicherheiten führen manchmal dazu, dass diese die Gruppe wieder verlassen. Um die Offenheit der Gruppe weit zu halten, sollte man vor allem versuchen, die Privatheit im Rahmen der Gruppe in Bezug auf ihre Organisation und Grundlagen gering zu halten, also z.B. neutraler Raum, klare Rollenaufteilungen. Lässt sich das gewährleisten, gewinnt man wie im rational organisierten Staat mit seinen Sozialversicherungen und klar geregelten Machtverhältnissen neue Freiräume und damit Offenheit hinzu, da in Bezug auf die Gruppe das meiste mit den emotionalen Beziehungen der Mitglieder nichts zu tun hat. Das Handeln und Sprechen im Rahmen der Gruppe ist also entlastet, auch von diesem emotionalen Hintergrund. Insoweit das gelingt, ist die Gruppe strukturell offen. Die prinzipielle Offenheit der Gruppe ist eingeschränkt durch Verpflichtungen, die das grundlegende Gruppenziel, das für alle zufrieden stellende gemeinsame Philosophieren in diesem Rahmen, stützen. So kann bei mir jede/r mal vorbeischauen und sich ein Mal unverbindlich in ein Gruppentreffen hineinsetzen, um kennen zu lernen, wie es in dieser Philosophischen Gesprächsgruppe zugeht. Ab dann jedoch legt man sich für jeweils 5 Mal fest und bezahlt dafür. An wie vielen Daten man anwesend ist, liegt in der je eigenen Verantwortung, aber die Daten werden immer gemeinsam ausgemacht, werden also nicht einfach nur von mir vorgegeben. Man könnte eine Gruppe noch offener organisieren, etwa wie ein Philosophisches Café. Das ist in unserer Zeit, in der sich doch viele nicht allzu sehr festlegen wollen, zwar beliebt, bringt aber psychologisch das andere Problem mit sich, dass man sich jedes Mal neu entscheiden muss, ob man diesmal hingeht oder nicht. So wird die entsprechende Gruppe instabiler und tendenziell anonymer – außer der Gruppenzusammenhalt wird durch andere Faktoren, die nicht mit der Gruppe als Gemeinschaft von Philosophierenden zu tun hat, aufrechterhalten.

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Die Offenheit der Gruppe führt auch zu Problemen, wenn man ein Thema/eine Fragestellung intensiver behandeln möchte. Das ist in Philosophischen Cafés nicht möglich, in Gesprächsgruppen dagegen besser, da man sich zwar auch hier nur für kurze Zeit (in der Regel 1 ¾ -2 ½ Std.) trifft, dafür aber regelmäßig. Hier erscheint das Protokoll eine sinnvolle Verknüpfung der unterschiedlichen Treffen zu sein, um aufgrund dieser Erinnerungsstütze die unterschiedlichen Treffen zu verbinden, den Dialog also von Mal zu Mal fortzusetzen und so die Arbeit am Thema zu intensivieren.

Die Rollen der leitenden Person Ich will nun die allgemeinen Bedingungen reflektieren, die zum Gelingen der Gruppe beitragen. Generell scheint klar zu sein, dass die (meist impliziten) Erwartungen dazu halbwegs erfüllt werden müssen. Halbwegs, denn was für die einen neu ist, kann für andere in der Gruppe ja bekannt sein, was eine Erkenntnis neuer Zusammenhänge für die einen sein mag, mag es für die anderen nicht sein, was für die einen eine angenehme Erfahrung ist (ein geistiger Höhenflug z.B.) ist es vielleicht für andere nicht, was für die am Produkt des Gespräches Interessierten besonders interessant sein mag, ist es für die eher am Prozess des Gesprächs Interessierten oft nicht, und natürlich kommt man mit einigen in der Gruppe leichter in Kontakt als mit anderen. Insgesamt müssen aber all diese Erwartungen in hinreichender Weise getroffen werden, um ein Engagement in der Gruppe für das gemeinsame Philosophieren zu bewirken. Und damit dies möglich ist, kommt die leitende Person um die Rolle eines Moderators nicht herum. Das ergibt sich bereits aus der Etymologie des Wortes „moderieren“, das ursprünglich „mäßigen“ bedeutet. Und genau dies ist eben die Herausforderung: das richtige Maß zu finden, d.h. manchmal Gruppenmitglieder, die gern und viel reden, bremsen, manchmal einen Exkurs zurückführen zur Ausgangsfrage, manchmal zu animieren durch Fragen oder Texte und oft begriffliche Klarheit zu unterstützen. Hier offenbart sich schon die erste Zwickmühle: die zwischen Moderation und Teilnahme. Denn jedem Philosoph bzw. jeder Philosophin wird es bei spannenden Themen schwer fallen, sich zurückzuhalten und nicht selbst mitzudiskutieren. Mitzudiskutieren ist durchaus erwünscht – aber ebenfalls nur in Maßen. Wer die Gruppe moderiert, muss auch sich selbst als Teilnehmenden moderieren. Doch der Moderator des Gesprächs ist nur eine von mehreren Rollen, die im Rahmen der Leitung von Philosophischen Gesprächsgruppen vorhanden sind und die meist in Personalunion ausgeübt werden. Ich bin hier gefordert als a) Philosoph, b) als Organisator, c) als „Herausgeber“ (der Sammlung philosophischer Texte zum Thema) d) als Moderator / Gesprächsführer und bei meinen Gesprächsgruppen (die in dieser Hinsicht ein meines Erachtens sich bewährender Ausnahmefall sein dürften) e) als Protokollführer. Darüber hinaus gibt es, wie bereits erwähnt, eine weitere Rolle, in die man in einer spannenden dialogischen

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Reflexion gerät, nämlich f) die des Gesprächsteilnehmers. Insgesamt ist es zwar nicht prinzipiell problematisch, wenn man in unterschiedlichen Rollen auftritt. Sie sollten nur nicht durcheinander gebracht werden und man sollte sich ihrer wie auch ihrer verschiedenen Ausrichtungen und Anforderungen bewusst sein. Es braucht Klarheit, wie viel Aufmerksamkeit, Raum und Zeit ihre Ausübung jeweils erfordert und natürlich, wann man in welcher Rolle agiert.

Beispiel Rollenkonflikte: Organisation – Moderation Rollenkonflikte können immer wieder auftreten und sind ein häufiger Grund für Schwierigkeiten mit der Gruppe oder einzelnen Mitgliedern. Es können Konflikte sein zwischen Organisation und Moderation, zwischen Moderation und Beteiligung, zwischen Beteiligung und Protokollführung oder manchem anderen. Ich möchte an dieser Stelle einige Beispiele aus meiner langjährigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Philosophischen Gesprächsgruppen geben. Es ist von Vornherein nicht immer klar erkennbar, welche Rollen in einer bestimmten Gruppe leicht zusammenzubringen sind und welche größeren Konfliktstoff bergen. Das kann sich von Gruppe zu Gruppe unterscheiden, mit der Geschichte der Gruppe zusammenhängen, mit dem Ort, mit der gesamten Situation. So kann die Kombination Organisator-Moderator, die sicher häufig vorkommt, unproblematisch sein: man kümmert sich sowohl um den Raum, dessen Bezahlung und Herrichten für das Gruppentreffen, um das Einkassieren des Geldes, das dafür anfällt wie um das Abmachen der Termine, an denen man sich trifft. Auf der anderen Seite kümmert man sich um die inhaltliche Leitung des Gesprächs, ist also im Wesentlichen dessen philosophischer Moderator. Der organisatorische ist zwar der weniger philosophische Teil der Sache, erfordert jedoch Aufmerksamkeit, Zeit und Arbeit. Essentiell in diesem Bereich ist die Auswahl des Raumes. Er sollte eine offene, ungestörte Atmosphäre bieten und Konstanz vermitteln, d.h. sich selten ändern. Man sollte sich wohl fühlen dort. Bei einer Änderung sollte der alternative Raum mindestens gleich gut oder besser geeignet sein. Die Grunderwartung „angenehme Erfahrung“ bezieht sich nämlich nicht nur auf das Gespräch, sondern auf die gesamte Situation, also auch den Raum. Bei einer Gruppe ist es günstig, wenn Raum, Tische und Bestuhlung eine Sitzordnung ermöglichen, bei der sich alle Teilnehmende gut sehen können und nicht zu weit voneinander entfernt sind. Jede Gruppe zieht andere Interessierte an. Das ist zu Beginn noch relativ zufällig. Wer mitmacht, wirkt sich darauf aus, wann und wo sie stattfindet bzw. umgekehrt. Sowohl Ort wie Zeitpunkt lassen sich dann nicht mehr beliebig verändern. Somit ist es günstig, eine „eingespielte“ Gruppe auch weiterhin zur gleichen Zeit und am gleichen Ort stattfinden zu lassen – wenn möglich. Die Konstanz hat jedoch auch einen anderen Aspekt: langjährige Gruppen werden zu so etwas wie einem Lebensbestandteil, einer festen Orientierung, sind also nicht nur

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bereichernd, sondern geben durch diese Konstanz auch Halt. Sie werden also zu „Institutionen“ und ihr Ablauf bekommt etwas Rituelles, Wiederkehrendes. Dafür ist verantwortlich wer die Gruppe organisiert. Aus diesem Bereich dürfen keine wiederkehrenden Beunruhigungen oder Irritationen erfolgen. Je mehr die Organisation – sozusagen im Hintergrund – funktioniert, desto besser für die Gruppe als Ganzes. Dieser Bereich muss aber nicht getragen werden vom Leiter/Moderator der Gruppe. Die Organisation kann weitgehend von jemand anderem, einem Gruppenmitglied z.B., getragen werden, was den Philosophischen Praktiker bzw. die Praktikerin von Rollenkonflikten entlastet. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass der Raum eine gewisse Neutralität behält. Wohnzimmeratmosphäre oder gar Privatheit ist zu vermeiden. Auch Sokrates bevorzugte den öffentlichen Raum zum Philosophieren, denn auf dem Sofa verkommt der philosophische Dialog leicht zum Meinungsaustausch. Hierfür sind Kaffeekränzchen und selbstorganisierte Gruppe geeigneter.

Essen und Trinken Apropos Kaffee: hier stellt sich eine weitere, nicht unerhebliche Frage, nämlich die des passenden Getränkes. Natürlich scheint das mit dem Philosophieren wenig zu tun zu haben, aber die Erfahrung zeigt, dass Gruppen ohne Getränke etwas Sprödes an sich haben – oder dass ein großes Bedürfnis entsteht, unmittelbar danach noch gemeinsam irgendwo hinzugehen und dort zum Beispiel in gemütlicher Atmosphäre einen Wein zu trinken. Solche Spaltungen der Bedürfnisse bringen – oft unbemerkt – gewisse Spannungen hervor, die leicht zu verhindern sind, indem man für Getränke sorgt. Was ist hier nun geeigneter: Wasser, Kaffee, Tee, Wein? – Im Prinzip kann man es mit allem Möglichen probieren, jedoch sollte man sich bewusst sein, dass das Getränk die gemeinsame Atmosphäre mitbestimmt. Wasser ist sicher das Neutralste, Kaffee weckt die Sinne und schärft die intellektuellen Fähigkeiten eher, Wein unterstützt die gemeinsame Atmosphäre stark, regt die Spontaneität an und lässt Zusammenhänge sehen. Wann welches Getränk passt, hängt wohl auch von der Tageszeit ab. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass sich in einer „Weingruppe“ am Abend eine völlig andere Art von Gespräch ergeben wird als z.B. in einer „Kaffeegruppe“ am Mittag. In ähnlicher Form lässt sich überlegen, ob man etwas zu essen da haben sollte. Das erfordert organisatorisch gesehen einen weiteren Aufwand, doch wenn es die Räumlichkeiten ermöglichen und etwa eine kleine Küche, Besteck und Geschirr zur Verfügung stehen, ist das eine gute Möglichkeit, die Gesprächsgruppe zur angenehmen Erfahrung werden zu lassen. Auch hier finden wir ja in der philosophischen Tradition gute Vorbilder, und wir sollten die Mahnung des Aristoteles nicht vergessen, dass das Philosophieren eine Mußetätigkeit ist, dass also

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zuvor die zentralen menschlichen Bedürfnisse, also z.B. Wärme, Schutz (Raum), Essen und Trinken erfüllt sein sollten. Allerdings bewegt man sich hierbei auf einem Terrain, das ebenfalls geeignet ist, zu Rollenkonflikten oder zu einem Meinungsaustausch in Wohnzimmeratmosphäre beizutragen. Meine Erfahrung war, dass hierzu insbesondere beiträgt, wenn der Moderator auch Organisator ist und diese Organisation ebenfalls das Bereitstellen von Essen und Trinken umfasst. Am Günstigsten ist es, wenn entweder Organisation und Moderation getrennt sind, dann kann die Person, welche die Organisation übernommen hat, selber entscheiden, wofür an Essen und Trinken sie noch sorgen will. Sind Moderation und Organisation im Prinzip zusammen, so kann eine teilnehmende Person (unter Umständen abwechselnd) für das leibliche Wohl sorgen. Eines ist jedoch wichtig: es sollte klar geregelt sein. Macht man es abwechselnd, so ist die Belastung für jede Person ungefähr gleich groß, übernimmt es immer die gleiche Person, so erhält sie für den Aufwand etwas von allen Teilnehmenden. Insgesamt lässt sich vom gemeinsamen Essen sagen, dass es einer der Faktoren ist, die den Gruppenzusammenhalt fördern.

Der Raum Wer sich fragt, welcher Raum für eine Philosophische Gesprächsgruppe passt, hat es mit drei Aspekten derselben Frage zu tun: denn „Raum“ meint a) den physischen Raum, b) den atmosphärischen Raum und c) den Gesprächsraum, und diese entsprechen verschiedenen Aspekten des Menschseins, nämlich dem Menschen als physischen, als leiblichen und als geistigen Wesen (leiblich bedeutet hier selbst erfahrene, gespürte und gefühlte Subjektivität). Wie der physische Raum ist, beeinflusst natürlich, wie man sich darin fühlt, und das beeinflusst, welche Gespräche darin möglich sind und wie anregend das Gesprächsklima ist. Dass Räume nicht zu stark subjektiv vorgeprägt sein sollten („Wohnzimmeratmosphäre“), sondern auch eine angenehme Neutralität, die Freiräume ermöglicht, darstellen sollten, ist wie erwähnt zentral. Andererseits sollten sie nicht rein funktional sein, sondern ein „Wohnen“ in ihnen ermöglichen. Immerhin ist man nicht nur einmal für eine zielorientierte Sitzung da, sondern lebt an diesem Ort Muße. Ein Raum setzt auch Grenzen, welche Art von Gespräch in ihm gut möglich ist. Einmal durch seinen Umfang, durch seine Form, durch seine Gestaltung, durch die Möblierung. Ein Raum, in dem man sich wohl fühlt und der einen auf das Gespräch hin sich gut konzentrieren lässt, ist daher nicht leicht zu finden.

Die Moderation Die Moderation einer Gruppe gelingt dann am besten, wenn es einem gelingt, das ernst zu nehmen, was ernst zu nehmen wichtig und weiterführend ist. Hat ein Teil-

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nehmer z.B. Schwierigkeiten, das Gemeinte klar auszudrücken, ist es manchmal wenig sinnvoll, auf einer Klärung des Ausdrucks zu beharren. Zwar sind in der Philosophie klare Begriffe etwas sehr Wichtiges, doch eine Intuition beginnt nicht mit bereits fertig ausgearbeiteter Begrifflichkeit. Somit hat der oder die Moderierende hier die Aufgabe, den weiterführenden, philosophisch interessanten Gehalt zu entdecken, durch geeignete Fragen hervorzubringen, unter Umständen selber klarer zu formulieren und so die Diskussion darauf zu fokussieren, insbesondere dann, wenn derjenige, der sich noch unklar ausgedrückt hat, zurückhaltend ist im Gespräch. Dies kann aber im unbeeinflussten Verlauf der Diskussion genauso durch die Beiträge anderer Teilnehmer geschehen. Essentiell ist, dass alle Teilnehmer das Gefühl haben, a) als Personen ernst genommen zu werden und b) mit ihren Beiträgen das Gespräch weiterbringen und anregen zu können. Hier sind mehrere der fünf Grunderwartungen betroffen, vor allem aber die, dass das gemeinsame Philosophieren insgesamt eine angenehme Erfahrung ist. Hierzu tragen das bewusste Ernstnehmen der Person und das Aufnehmen einer gedanklichen Anregung bei. Doch was, wenn die Beiträge von Teilnehmenden nicht weiterzubringen scheinen, wenn sie langfädig, abwegig, selbstdarstellerisch werden? – In einem Philosophischen Café kann und muss man hier oft einschneidend eingreifend, damit der Dialog als Ganzer nicht gefährdet ist und die zweistündige Veranstaltung insgesamt für alle eine angenehme Erfahrung bleibt. In einer Gruppe hingegen, in der man ja über einen längeren Zeitraum bzw. regelmäßig zusammen ist, ist es zusätzlich wichtig, nach Möglichkeit alle einzubinden. Selbst tendenziell langfädige Selbstdarsteller werden, wenn sie wirklich das Gefühl haben, dass man sie ernst nimmt, in ihren Beiträgen konzentrierter und sachlicher. Die Herausforderung hierbei ist, im jeweiligen Beitrag das für das gemeinsame Gespräch Wertvolle zu entdecken, es herauszuheben und so auch im abwegig Scheinenden das zu finden, was weiterführt. Die dahinter stehende Grundüberzeugung ist die, dass nie vorgängig völlig klar sein kann, was vernünftig ist und was nicht, sondern dass Vernunft Produkt eines herrschaftsfreien und – um dies halbwegs zu erreichen – regelgeleiteten Diskurses ist. Das bedeutet, alle tragen im Prinzip ansatzweise Vernünftiges bei; worin dieses liegt, ist manchmal evident, manchmal muss es herausgeschält werden. Es ist meine Aufgabe als Philosoph, am Herausschälen dieses Vernünftigen mitzuwirken und dafür a) einen guten Freiraum und b) eine gute Atmosphäre zuschaffen und c) das Gespräch immer wieder neu auf das Ziel der Erkenntnisgewinnung hin zu orientieren. Aber es ist und bleibt durchaus menschlich, dass die Intentionen im Gespräch nicht nur auf Erkenntnis ausgerichtet sind, sondern beispielsweise auch auf Anerkennung, und diese Intention darf um einer lockeren Atmosphäre willen in Maßen auch zu ihrem Recht kommen.

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Struktur der Gesprächsführung Zunächst gilt es, ein Thema auszuwählen, was meist beim letzten oder vorletzten Treffen des vorigen Themas geschieht. Die Philosophische Praktikerin / der Philosophische Praktiker trägt hierzu in der Regel keine Vorschläge bei, aber er/sie organisiert die Themenwahl dahingehend, dass ein möglich sachorientiertes, philosophisch ergiebiges Thema gewählt bzw. das gewählte Thema möglichst klar formuliert und so die Fragestellung entsprechend gut fokussiert wird. Schwierig ist es häufig, psychologische oder politische Fragestellungen auf ihren philosophischen Kern so zurückzuführen, dass die Person, die das Thema vorgeschlagen hat, darin immer noch ihr Thema wieder erkennt. Eine immer wieder auftretende Herausforderung ist der Umgang mit wissenschaftlichen Themen, da hier die Autoritätsproblematik ins Spiel kommt. Heutzutage argumentiert man schließlich nicht mehr „schon Platon hat gesagt“ oder „schon Kant hat gesagt“, sondern eben in mehrfach variierbarer Form mit „die Wissenschaft hat festgestellt“ (insbesondere die Neurophysiologie). Bei der Wahl des Themas ist häufig Konsens möglich, sonst ist es eine Mehrheitsentscheidung der Teilnehmenden. Die erste Sitzung eines neuen Themas lasse ich immer einen Teilnehmer / eine Teilnehmerin leiten, so dass hin und wieder ungewohnte Formen und Inhaltsaspekte einfließen. Dieses Fenster erlaubt es mir auch, auf neue Ideen zu kommen, was die Leitung und Gestaltung der Gruppe angeht. Sie ermöglicht ebenfalls einen teilweisen Rollenwechsel eines Mitglieds zum Moderator der Gruppe, der die Autonomie aller Teilnehmenden fördert. Bereits zu diesem Treffen (an seinem Ende) oder zu Beginn des zweiten teile ich Textunterlagen aus, in denen sich philosophische Texte befinden, die das gewählte Thema betreffen. Somit wird die Gruppe zwar zur Gesprächsgruppe durch das Gespräch über ein gewähltes Thema, aber die Fokussierung auf philosophisches Denken und Argumentieren geschieht auch durch die Auseinandersetzung mit den zumeist philosophischen Texten. Diese Auseinandersetzung mit der Fragestellung und den Texten wird so moderiert, dass die Fokussierung auf das Thema erhalten bleibt, dass nicht nur Meinungen zum Besten gegeben, sondern An- und Einsichten begründet und dass mögliche Exkurse in ihrer Relevanz für die ursprüngliche Fragestellung erkannt werden. Man kann hierbei sehr nah und eng an der Fragestellung bzw. am Text bleiben oder aber „die Zügel locker lassen“ und so zwar die Gefahr unfruchtbarer Exkurse und selbstdarstellender Ausschmückungen, aber auch die Möglichkeit interessanter neuer Aspekte in Bezug auf das Thema erhöhen. Ich neige zu Letzterem, was mich vor die Aufgabe stellt, die Essenz von Exkursen herauszustellen und so den Zusammenhang zum Hauptstrang des Gesprächs bzw. der ursprünglichen Frage herzustellen. Das geschieht im Gespräch selbst, aber auch in den Protokollen, wenn die Gesprächsdynamik dies während des Treffens erschwerte.

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Variante Lektüregruppen Philosophische Gesprächsgruppen in der erwähnten Form sind vor allem fokussiert durch die darin behandelten Texte und die entsprechende Fragestellung. Beides kann ersetzt werden, wenn man sich in einer Lektüregruppe auf ein Buch einigt, das alle lesen und das dann gemeinsam besprochen wird. Dies fordert die Teilnehmenden mehr heraus, denn die Lektüre eines philosophischen Buches ist nicht immer einfach. Außerdem ergibt sich gerade hier ein weiteres Problem, das der Länge. Braucht die Besprechung zu lang, erlahmt das Interesse häufig. Somit gilt auch hier in den meisten Gruppen, dass ein Buch innerhalb etwa eines halben Jahres besprochen sein sollte. Allerdings ist das bei vielen Büchern größeren Umfangs und einer Gruppenfrequenz von ca. monatlichen Treffen schwierig. So ist es unter Umständen gerechtfertigt, nur einen Teil des Buches zu diskutieren, den der Philosophischer Praktiker / die Praktikerin vorschlägt. In der Gruppe ist es hilfreich, wenn je ein anderer Teilnehmer / eine andere Teilnehmerin ein Kapitel zusammenfasst und vorstellt, was die Fokussierung auf den Teil des Gelesenen, um den es jetzt gehen soll, fördert. Alle Teilnehmenden sind dann aufgefordert, Fragen zu stellen zur Zusammenfassung und zum Text, eigene Bemerkungen zu machen. Es werden Thesen des Textes und spezielle Begriffe hinterfragt, diskutiert und weitergedacht. Die Philosophin oder der Philosoph ergänzen selbstverständlich auch Wissen, das zum Verständnis des Textes nötig ist. Wichtig ist, dass so etwas wie der rote Faden des Buches bzw. des Kapitels, also Thema bzw. Fragestellung des Buches herausgefunden und klar formuliert werden, so dass die fokussierende Funktion nicht nur beim Text ist, sondern auch durch das Thema erreicht wird – wie in den anderen Gruppen. Das erleichtert es auch, in der Diskussion über das Buch das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.

Philosophische Gesprächsgruppen und Sokratische Gespräche im Vergleich Das Sokratische Gespräch ist eine von Leonard Nelson und Ludwig Heckmann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelte, methodisch sehr ausgefeilte Form eines philosophischen Dialogs in Gruppen. Es hat etwa die gleichen Ziele wie Philosophische Gesprächsgruppen, steht jedoch in einer explizit politischen Tradition. „Die wichtigsten Regeln des Sokratischen Gesprächs sind: • Jeder Teilnehmer sagt nur seine eigenen Überlegungen, die Meinungen von ‚Autoritäten’ gelten nicht als Argument.

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Das Thema wird vom Konkreten ausgehend und allmählich abstrahierend untersucht. In der Regel wird daher zunächst ein konkretes Beispiel aus dem eigenen Erfahrungsbereich (eines) der Teilnehmer untersucht. Die wirkliche Verständigung zwischen den Teilnehmern in der Sache hat Priorität vor dem schnelleren finden von 'Ergebnissen'. Es wird Schritt für Schritt vorgegangen unter Beteiligung aller Teilnehmer. Zu den im Gesprächsverlauf aufgestellten Behauptungen, Vermutungen und Fragen soll jeweils das Für und Wider begründet und geprüft werden. Die Teilnehmer bemühen sich gemeinsam um Urteile, denen alle zustimmen können. Wenn die Gesprächsgruppe ein Urteil gewonnen hat, dem alle zustimmen können, ist ein Konsens erreicht.“1

Das Sokratische Gespräch ist intensive geistige Arbeit mit klaren strukturellen Vorgaben und erreicht so eine Art der Vertiefung des Dialogs, die im Philosophischen Café unmöglich und in Gesprächsgruppen der geschilderten Form nur in Ansätzen zu erreichen ist. Das Sokratische Gespräch dient hierbei vor allem der Entscheidungsfindung und ist auf einen Konsens der Gruppe ausgerichtet. Das steht weder bei Philosophischen Cafés noch in Philosophischen Gesprächsgruppen im Vordergrund. Ein Sokratisches Gespräch wird auch eher formal streng geleitet als moderiert. Hierbei äußert der Leitende strikt keine Meinung, während die Philosophische Praktikerin / der Philosophische Praktiker im Philocafé oder in der Gesprächsgruppe nur zurückhaltend ist damit, es aber durchaus vorkommen darf. Ein weiterer Unterschied ist der, dass in Gesprächsgruppen normalerweise kaum Metagespräche geführt werden, so wie sie im Sokratischen Gespräch vorgesehen sind. Metagespräche können allenfalls bei besonderen Situationen in Philosophischen Gesprächsgruppen entstehen, wenn zum Beispiel ein Teilnehmer Kritik an der Art der Gesprächsführung oder anderen Aspekten übt. Sie sind aber situativ und nicht Teil der Methodik, es sei denn man betrachtet die Reflexionen zur Wahl des Themas, der Daten etc. als Metagespräche. Dennoch ist eine Reflexion auf die Gruppendynamik wie in den Sokratischen Gesprächen die Ausnahme. Sokratische Gespräche ermöglichen eine Vertiefung eines Themas und des gemeinsamen Reflexionsprozesses, wie sie sonst nicht möglich ist. Sie erziehen auch zu genauem Zuhören, gerade im Unterschied zum Philosophischen Café, das strukturell besonders bei größerer Teilnehmerzahl den Nachteil mit sich bringt, dass man sich einen eigenen Beitrag überlegt, bevor man ihn aber bringen kann, bereits andere etwas gesagt haben. So wird der Dialog zum Multilog.

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www.Philosophisch-Politische-Akademie.de; die Akademie wurde von Schülern und Weggefährten Nelsons nach dem 2. Weltkrieg 1949 wieder gegründet.

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Ein weiterer Unterschied ist die Frage der Teilnahme: an Sokratischen Gesprächen nimmt man bis zum Schluss teil. Das ist zwar in den kurzen Philocafés auch so, jedoch kann diese Teilnahme nicht selten so aussehen, dass man nichts sagt, sich also streng genommen nicht beteiligt. Das kommt zwar hin und wieder auch in einem Gesprächsgruppentreffen vor, ist dort aber viel seltener. Hier ist eher die Herausforderung, dass die meisten Teilnehmer es nicht schaffen, an allen Treffen anwesend zu sein. Hierfür kann, wie erwähnt, das Protokoll als Brücke dienen. Die Strenge und Verbindlichkeit des Sokratischen Gesprächs stellt viele Anforderungen, die es für die Philosophische Praxis vielleicht faszinierend erscheinen lassen, im Alltag aber wegen dieser hohen Schwellen auch ungeeignet machen. Philosophische Cafés erreichen aufgrund ihrer schwächeren, unverbindlicheren Form des philosophischen Dialogs wesentlich mehr Leute und lassen sie hin und wieder Geschmack gewinnen auf mehr und tieferes. Diese Vertiefung erreichen Philosophische Gesprächsgruppen und können dazu auch einen stärkenden sozialen Raum darstellen. Es wurde zwar auch in meinen Gruppen hin und wieder beklagt, dass ich nicht stärker fokussiere, das Gespräch mehr strukturiere und die Teilnehmenden nicht begrifflich klarer formulieren lasse. All dies sind Qualitäten, die die Veranstaltung dem Sokratischen Gespräch annähern würden. Hierfür braucht es eine große Bereitschaft und Frustrationstoleranz bei den Teilnehmenden, die ich meiner Erfahrung gemäß nicht bei allen voraussetzen kann. Sokratische Gespräche sind ergebnisorientiert; das sind Philosophischen Gesprächsgruppen nur zum Teil, da in ihnen die autonomiefördernde Bereicherung durch das Philosophieren selbst im Vordergrund steht. Es fragt sich auch, ob man beim Sokratischen Gespräch aufgrund der genannten strengen Regeln nicht eher von einer Technik sprechen sollte als von einer Methode Philosophischer Praxis. Philosophische Gesprächsgruppen haben vor allem den Vorteil der Regelmäßigkeit. So werden sie erst wirklich zu Gruppen. Sie bestehen oft über viele Jahre hinweg und werden so für viele Teilnehmende zu einer regelmäßigen askesis, einer geistigen Übung. Sie erscheinen mir persönlich als sehr bunt, lebendig und vielfältig und animieren mich und die Teilnehmenden immer von neuem.

Was ist das Ziel Philosophischer Gesprächsgruppen? Philosophische Gesprächsgruppen schaffen wie andere Veranstaltungen der Philosophischen Praxis geistige und atmosphärische Räume sachorientierter Offenheit, in denen Methoden der Orientierung in Leben und Welt eingeübt werden und so die persönliche Autonomie gestärkt wird. Sie haben durch ihre Regelmäßigkeit mehrere Vorteile: sie können dieses Ziel nachhaltiger verfolgen als einmalige oder zur regelmäßigen Teilnahme nicht „ver-

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pflichtende“ Veranstaltungen wie Philocafés. Philosophische Gesprächsgruppen kommen also zwar auch den eher „regressiven“ Bedürfnissen „angenehme Erfahrung“, „Kontakt mit Mitmenschen“ (flankiert evtl. von Essen und Trinken) entgegen, doch liegt der Schwerpunkt in den „emanzipativen“ Bedürfnissen wie „Autonomie“, „Selbsterkenntnis und gestärktes Selbstvertrauen“, „Klärung von Erkenntnissen und Zusammenhängen“ oder „sinnstiftende Orientierung“. Das Hauptziel ist demnach, dass das Gespräch beiträgt zur Selbstbestimmtheit der Teilnehmenden. Der philosophische Gruppendialog steht hierbei vor der Herausforderung, dass möglichst viele Personen so zu Wort kommen sollen, dass sich für sie etwas klärt und sie sich durch das gemeinsame sachbezogene Gespräch verlebendigt fühlen. Zunächst begegnet man sich in einer komplexen Gesprächssituation in ihrer chaotisch-mannigfaltigen Bedeutsamkeit.2 Die Situation ist jedoch durch das gemeinsame Ziel, die bekannten Regeln und Gewohnheiten ausgerichtet und erhält so eine Grundorientierung, an die sich anknüpfen lässt. Darüber hinaus stellt das von den Teilnehmenden gewählte und vom Leitenden (z.B. durch die Textgrundlage) mit Eckpfeilern versehene Thema einen Rahmen dar, der eine fokussierte Erkundung dieses geistigen Raumes der Bedeutsamkeit ermöglicht. Hierbei werden Entdeckungen gemacht, und im gemeinsamen Gespräch und der kontroversen Diskussion ergibt sich eben jene Aufmerksamkeit und Begeisterung, die zur Verlebendigung der Einzelnen beiträgt und sie sich öffnen lässt für andere Sichten und Erkenntnisse. Somit ist die Aufgabe des Philosophischen Praktikers in Bezug auf das Hauptziel Philosophischer Gesprächsgruppen die Bereitstellung eines Raumes und die Gestaltung einer Dynamik, die einen die Autonomie und die Lebendigkeit der Beteiligten fördernden Dialog begünstigen.

Last but not least: die eigene Grundhaltung In der Philosophischen Praxis haben wir es unmittelbar mit Menschen zu tun. Es scheint dabei nahe zu liegen, dass das Material unserer Tätigkeit die Gedanken dieser Menschen sind, und sie sind es in der Tat. Daran können wir uns immer wieder orientieren, wenn wir uns fragen oder gefragt werden, inwieweit Philosophische Praxis Therapie ist. Sie ist es nicht im üblichen Sinn, eben weil wir in unserer Tätigkeit auf das Denken fokussieren und der Raum des Geistes Freiraum ist. Oft vermag zwar Philosophieren auch betreffend der so genannten „Krankheiten der Seele“ etwas zu bewirken, aber das nur, insoweit ihnen Unklarheiten und Verwirrungen des Geistes zugrunde liegen. Überhaupt zum eigen-

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Ein Begriff des Kieler Phänomenologen Hermann Schmitz.

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ständigen Denken zu ermuntern und es zu stärken, ist schon eine ausreichend tief greifende und würdige Aufgabe. Da braucht es Therapie im üblichen Sinn nicht. Dennoch kann, wie erwähnt, Philosophische Praxis auf eine Weise wirksam sein, wie es auch Therapie zu sein versucht. Wenn etwas hierbei als Heilmittel verstanden werden kann, so sind es nicht bestimmte Gedanken, sondern das durch diese ausgelöste eigenständige Denken. Dieses wirkt, wenn man so will, „salutogenetisch“.3 Da Menschen aber nicht nur rational sind, ist es wichtig, andere Faktoren auch zu berücksichtigen – so wie ich es in den fünf Grunderwartungen zum Ausdruck gebracht habe. Menschen sind zwar Denkwesen, aber auch animalische, emotionale und soziale Wesen, brauchen also nicht nur klares Denken, sondern auch emotionale Wärme, gemeinsame Anerkennung, Essen, Trinken usw. Auf all dies bin ich eingegangen. Worauf ich bislang nicht explizit eingegangen bin, ist die Grundhaltung, die dies beim Philosophischen Praktiker erfordert. Diese hängt sehr stark von Charakter und Hintergrund der jeweiligen Person ab, und sie wird natürlich auch dementsprechend Gruppenteilnehmende haben, die dem entsprechen. Zentral sind eine gewisse innere Reife, empathische Sensibilität, klares Denken und ein Herz für die jeweilige Zielgruppe. Man muss als Philosoph oder Philosophin in der Praxis engagiert und achtsam bei der Sache und den Menschen sein, und je nach Typ gelingt dem einen dies eher in einer Philosophischen Gesprächsgruppe und der anderen eher in der Einzelberatung. Philosophische Praxis hat vor allem deswegen so viele Formen entwickelt, weil sie sehr stark geprägt ist von Persönlichkeit und Grundhaltung des jeweiligen Praktikers. Ich erlebe mich als eher ausgleichend und integrierend, fordere die Mitdenkenden jedoch auch gern heraus, zum Teil auf humorvolle Weise. Ich bin überzeugt, dass in allen das Vermögen zu philosophieren steckt und dass sie, wenn sie sozusagen „eingestimmt“ sind, es auch tatsächlich können. Dieses „Einstimmen“, also das Ermutigen, Verknüpfen, Fokussieren und Nachfragen stärkt die geistige Entdeckungslust. Als Philosophischer Praktiker sollte man geistig offen sein, authentisch, humorvoll und allen Teilnehmenden und ihren Argumenten mit Respekt begegnen. Man sollte in der Lage sein, in der Gesamtheit seiner Rollen die Funktion des Gemeinsinns (des common sense oder gesunden Menschenverstandes) auszuüben. Daher trägt man die Last, auch wirklich aus dieser Position zu agieren und nicht von eigensinnigen oder sonst unstimmigen Interessen geleitet zu handeln. Man ist vielseitig und lebendig gefordert und sollte fähig sein, mit der genügenden Achtsamkeit angemessen zu agieren. All dies wird die Welt mit einer Vernunft bereichern, die tief im Leben verwurzelt ist.

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Salutogenese ist ein von Aaron Antonovsky geprägter Begriff; er bezeichnet die Faktoren, die die Gesundheit fördern und stärken.

Das Ex periment des Philosophierens IMRE HOFMANN

Abstract Das explorative und experimentelle Erkunden neuer Formen und Weisen des praktischen Philosophierens ist ein zentrales Element der Methode der Philosophischen Praxis. Die dieser Auffassung zugrunde liegende Überlegung baut auf der sokratischen Einsicht in die Unabschliessbarkeit und die damit einhergehende ständige Revisionsbedürftigkeit unserer Erkenntnis auf. Diese Einsicht zwingt uns dazu, eine Haltung der Offenheit, insbesondere gegenüber dem begegnenden „Anderen“, einzunehmen. Sie ist die Grundlage der philosophischen Wertschätzung des Dialogs, wie er insbesondere in der Philosophischen Praxis gepflegt wird. Sie führt jedoch darüber hinaus in eine Bewegung der kritischen Selbstreflexion, bei der es auch um die Hinterfragung und Suspendierung vermeintlich für eindeutig und gesichert gehaltener Grenzziehungen geht. Die Philosophische Praxis ist per se ein Unternehmen, das die Grenzen der Philosophie in Frage stellt, indem sie aus den abgesteckten Forschungsfeldern der Akademie hinaus tritt und sich auf Begegnungen einlässt, deren Ausgang ungewiss ist. Mir liegt daran, das positive Moment dieser kritischen Bewegung zur Geltung zu bringen. Mit ihrem Austritt aus der Akademie sieht sich die Philosophische Praxis zu der Freiheit gezwungen, für die unterschiedlichen Ziele und Kontexte ihrer Tätigkeit durch kreatives und experimentierfreudiges Ausprobieren angemessene und daher häufig neue Formen, Techniken und Stile zu entwickeln, in denen sich Philosophie artikulieren kann. Damit werden sowohl das theoretische wie auch das explorative Erforschen ihrer eigenen Praktiken zum wesentlichen Bestandteil ihrer Methode. Philosophische Praxis gerät zur performativen Selbstkritik von philosophischen Diskursgewohnheiten. Wie diese Arbeit aussehen kann, werde ich anhand von Beispielen aus meiner eigenen Tätigkeit demonstrieren.

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1. Die Fraglichkeit der Methode in der Philosophischen Praxis Abstrakte Methode versus integre Persönlichkeit? In der Debatte um die Methode der Philosophischen Praxis1 war es lange Zeit umstritten, ob sich so etwas wie ein systematisches Verfahren oder eine planmäßige Vorgehensweise ausmachen ließe. Die Skeptikerinnen2 machten ihre Bedenken vor allem daran fest, dass sowohl das Philosophieren als auch seine thematischen Gegenstände sich gegen das Regelhafte einer Methode sperren, da es jene zu sehr vereinfache und limitiere. Zum einen (a) könne die Philosophie als solche nicht selber an wissenschaftliche Methodenstandards gebunden sein, die sie kritisch zu hinterfragen und zu entwickeln habe. Zum anderen (b) bringe es der aus ihrem dezidierten Praxisbezug resultierende Umgang mit singulären Anliegen mit sich, dass die Philosophische Praxis dem Vorrecht des konkreten Einzelfalls vor dem theoretischen Gesetz genüge tun und jenen nicht in vorgefertigte Analyseraster und abzählbare Lösungsschemata zwängen solle. Die Methodenskeptikerinnen rekurrierten stattdessen auf die Person der praktischen Philosophin, deren existenzielles Engagement erst die spezifisch philosophische Begegnung ermögliche, die beispielsweise für eine gelingende Beratung nötig sei. Nun mag in der Philosophischen Praxis mehr als anderswo gelten, dass es dafür so etwas wie eine besondere Lebensform und -einstellung braucht. Praktische Philosophinnen benötigen sowohl Leidenschaft für ihren Beruf wie auch eine ethische Haltung, die von Verantwortungsbewusstsein, Offenheit und Anteilnahme geprägt ist. Darüber hinaus benötigen sie auch gewisse kognitive Fähigkeiten wie ein kritisches Urteilsvermögen, Aufmerksamkeit oder Sensibilität. Doch der Verweis auf die Unabdingbarkeit von derlei charakterlichen und ethischen Qualifikationen genügt nicht als Argument gegen den Bedarf nach regelgeleiteten Verfahrensweisen. Er kann bloß darauf aufmerksam machen, dass diese Persönlichkeitsmerkmale vonnöten sind, um die unbestrittenen Schwächen eines rein methodischen Vorgehens auszugleichen. Es ist daher ein Irrtum, die tugend- und wahrhafte Person der Philosophin gegen die zwar begrifflich fassbare, dafür aber seelenlose (weil kalkulierbar-instrumentelle) und zwanghafte (weil simplifizierend-standardisierte) Methode auszuspielen und dabei die Komplementarität von beidem außer Acht zu lassen. Philosophischer Praxis wird weder

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Ich verwende den Begriff der Philosophischen Praxis hier im Sinne einer spezifischen philosophischen Praxis, die sich durch ihre Tätigkeit außerhalb von Forschungs- und Bildungsstätten kennzeichnet. Wie die Sprache schon nahe legt, handelt es sich dabei um eine philosophische Praxis im engeren Sinn. Zugleich möchte ich den Begriff nicht an eine bestimmte Institution wie die ursprüngliche, sich vor allem als beratend verstehende Philosophische Praxis knüpfen. Ich verwende in diesem Text ein generisches Femininum. Selbstverständlich sind auch immer Männer mitgemeint, wo sie mitgemeint sein können.

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mit dem Konzept der verantwortungsvollen arete, noch jenem der lebensklugen phronesis (geschweige denn der weisen sophia) allein hinreichend Rechnung getragen, da sie eben auch eine techne im Sinn einer praktischen Fertigkeit, eines systematischen Handlungs- und Verfahrenswissens ist. Als solches muss es zwar zu weiten Strecken auf individueller Erfahrung basieren, doch braucht das nicht zu heißen, dass diese Erfahrenheit nicht einer Explikation und Systematisierung zugänglich und in der Folge auch an andere vermittelbar wäre. Aus dem Umstand, dass Philosophie auch kritische Wissenschaftsreflexion ist, folgt nicht zwingend, dass sie (a) sich selber an keine Methodenstandards zu halten habe. Sie kann sich, genauso wie die übrigen Wissenschaften, an jene Normen halten, die sich bisher als probat erwiesen haben, ohne diese deswegen gleich absolut setzen zu müssen. Die Gefahr (b) von theoretischen Vorurteilen, blinden Dogmatismen und inadäquaten Vereinfachungen bei der praktischen Anwendung von allgemeinen Verhaltensregeln auf konkrete Einzelfälle ist unbestritten, sie ist jedoch eine Problematik, die sich generell in der Praxis stellt, nicht nur in der philosophischen. Aus der Wertschätzung des Einzelfalls einen Verzicht auf die Allgemeinheit des Theoretischen abzuleiten, würde angesichts der zur Diskussion stehenden Praxis geradezu grotesk anmuten. Philosophie – und mit ihr Philosophische Praxis – ist, wo sie sich der Vernunft bedient und auf begriffliche Klärung abzielt, der Inbegriff einer sich im Allgemeinen und Regelhaften aufhaltenden Tätigkeit. Ihr Umgang mit dem Individuellen ist ein dialektischer, der das Verständnis des Einzelfalls über das Allgemeine anstrebt.

Objektdiskurs versus Metadiskurs! Bei den Kritikerinnen einer Theorie und Methode der Philosophischen Praxis scheint mir bisweilen die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Theorie zu verschwimmen, die nicht zu verwechseln sind. Da sind zum einen die in der Philosophischen Praxis, also der alltäglichen Arbeit beigezogenen Theorien und Philosophien (Objektdiskurs). Ihre Anwendung birgt das besagte Risiko, einem konkreten Anliegen aufgrund seiner Singularität nicht gerecht zu werden. Hier bedarf es des Urteilsvermögens, um zwischen verschiedenen sich anbietenden Theorien fallspezifisch die beste auszuwählen. Davon zu unterscheiden ist die Theorie über die Philosophische Praxis (Metadiskurs), welche die Methodenreflexion beinhaltet. Dabei handelt es sich gerade nicht um eine philosophische Theorie über die Welt oder das gute Leben, sondern um eine darüber, wie man mit solchen Theorien umgehen kann und soll. Es sind zwei verschiedene Fraglichkeiten, ob man in einem berufsorientierenden Beratungsgespräch die Heideggersche Existenzphilosophie beiziehen oder ob man dabei die Griceschen Konversationsmaximen berücksichtigen soll. Die Befolgung gewisser unverzichtbarer Verfahrensregeln bei der Gesprächsführung oder bei der Analyse einer thema-

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tischen Fragestellung impliziert normalerweise noch keine theoretischen Stellungnahmen zu dieser Fragestellung.

Keine Praxis ohne Theorie Der absolute Verzicht auf eine mit bestimmten Konzepten versehene Vorgehensweise ist schlicht unmöglich. Absolute Unvoreingenommenheit und Unmittelbarkeit gibt es auch für die aufrichtigste Philosophin nicht. Jede Philosophin bringt immer ihre eigene kognitive Ausstattung, die eigene philosophische (Ver-) Bildung – Überzeugungen und Verfahrensweisen – sowie die eigene Erwartungshaltung mit in die Auseinandersetzung. Das ist kein Handicap, sondern in diesem individuellen „Standpunkt“ und dieser „Herangehensweise“ liegt die notwendige Voraussetzung, um sich einer Fragestellung überhaupt zuwenden zu können. Ein völliges Absehen von begrifflichen Kategorien würde uns den Blick auf das Gegenüber nicht mehr bloß freistellen, es würde ihn uns geradezu nehmen, denn „Anschauungen ohne Begriffe sind blind“3. Wie Detlef Staude im Einleitungsdialog bemerkt, benutzen wir immer schon Methoden, meist jedoch unreflektiert. Gerade dies birgt jedoch die Gefahr der Inkohärenz und des verkannten Vorurteils. Wer auf einer konzeptfreien und unmittelbaren Ansprechbarkeit beharrt, beraubt die Philosophische Praxis ihres Reflexionsvermögens und entlässt sie in die Naivität. Darum ist ihr Metadiskurs dringend nötig; damit er die Möglichkeitsbedingungen für eine thematische Auseinandersetzung bestimmt, die den Namen philosophisch verdient.4 Das Risiko von Fehlinterpretationen (b) muss somit in Kauf genommen werden. Nicht um Unvoreingenommenheit und Methodenlosigkeit muss es gehen, sondern um ein bewusstes Offenhalten der Auseinandersetzung durch ein kontinuierliches Infragestellen und fallweises Suspendieren der eigenen Theorien und Verfahrensregeln. Das ist jedoch nur möglich, nachdem sich die Philosophische Praxis ihrer Theorie und Methode überhaupt erst reflexiv vergewissert hat.

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Kant, Immanuel. Kritik der reinen Vernunft. KrV B75, A51. 13. Aufl. Frankfurt a. M. 1995, S. 98. Es greift folglich zu kurz, eine Theorie des Gesprächs – als methodischem Herzstück der Philosophischen Praxis – als ein aberwitziges Unterfangen zu bezeichnen, denn selbst die schlichte Aussage „Philosophische Praxis findet im Gespräch statt.“ nimmt ungeachtet ihrer Vagheit den Status einer theoretischen Aussage ein und impliziert eine Reihe von normativen Aspekten.

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2. Die philosophische Methode: das Gespräch Vom Wissen des Nicht Wissens zum offenen Dialog Es scheint mir jedoch angebracht, die intuitive Abneigung gegenüber zu starren und groben Vorgehensweisen ernst zu nehmen. Ihr liegt eine elementare Einsicht der Philosophie zugrunde, das ihr Tun auf allen Ebenen orientiert. Sie lässt sich in der paradox anmutenden Formulierung artikulieren, dass der wohl geringste erzielbare Konsens der Philosophie darin besteht, dass in der Philosophie kein abschließender Konsens zu erzielen ist (woraus sich aber nicht der Verzicht auf das Bemühen um vorläufige Einigungen ableiten lässt). Daher stellt der Antidogmatismus gewissermaßen das Dogma der Philosophie dar. Die Auffassung, dass menschliche Erkenntnis Limitationen unterliegt und damit per se fehlbar ist, wird nicht nur von Relativistinnen und Skeptikerinnen vertreten. Sie findet sich schon bei Sokrates und ist in der philosophischen Tradition durchgängig anzutreffen, bis hin zu Popper und Gadamer. Ungeachtet der bisherigen Bemühungen, gerade besagte Limitationen zur Sicherung absoluter Kenntnisse beizuziehen, hat sich in der Philosophie eine Kultur des Zweifelns und der Kritik am bisher für wahr Gehaltenen etablieren können, die sie gegenüber anderen Erkenntnisweisen auszeichnet. Aus der fundamentalen Einsicht in die anhaltende Revisionsbedürftigkeit menschlicher Erkenntnis hat die Philosophie so etwas wie ein methodisches, wenn nicht gar ethisches Prinzip abgeleitet. Es ist die selbstkritische Haltung der Offenheit gegenüber dem Anderen um der Möglichkeit willen, eines Besseren belehrt zu werden. Sie beinhaltet die Bereitschaft, die Spannung der Ungewissheit, der Vorläufigkeit und des Widerspruchs zu ertragen, die letztlich die Bedingung für die zentrale Methode der Philosophie darstellt: Das vernünftige Gespräch. Es bildet in seinen Grundzügen das Modell für den Diskurs der modernen Wissenschaften. Das Gespräch ist der Ort, wo das bisherige Wissen geprüft und einer kritischen Reflexion mit den Anderen ausgesetzt wird. Um bestätigt, verworfen oder verbessert zu werden. Ein Gespräch führen heißt, etwas „insofern zur Disposition stellen, als wir es – zumindest prinzipiell – zur Diskussion stellen”5. Die dialektische Bewegung dieser kritischen (Selbst-)Reflexion bedeutet daher auch die temporäre Suspendierung von vermeintlich unstrittigen Auffassungen, eindeutigen Unterscheidungen und gesicherten Grenzen.6 Sich auf ein Gespräch einlassen bedeutet, sich freiwillig dem Anderen gegenüber zu öffnen, ihm eine eigene Stimme zuzugestehen und ihm zuzuhören. In dieser Zugänglichkeit für das erfahrbare Andere und die widersprechenden Anderen steckt die Chance auf eine bereichernde Infragestellung 5 6

Staude, Detlef u. Huber, Florian: Dialog zur Methode, 2. Teil, in diesem Band Das Befragen und Hinterfragen von Grenzziehungen gehört geradezu zum Kerngeschäft der Philosophie. Wo, wenn nicht in der Philosophie, wird man sich ernsthaft um eine Antwort auf die Frage bemühen, ob und wie sich eine Definition von „Definition“ leisten ließe?

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und Korrektur bereits verfasster Meinungen. Ihr liegt die Hoffnung auf einen Fortschritt hin zur Wahrheit, nicht jedoch auf eine endgültige Ankunft bei ihr, zugrunde.

Methodische Offenheit im herrschaftsfreien Diskurs In der Philosophie wurde die Reflexion auf das Gespräch und seine Voraussetzungen am weitesten vorangetrieben, indem es zum Konzept des herrschaftsfreien Diskurses zwischen gleichberechtigten und vernunftfähigen Gesprächsteilnehmerinnen ausgebaut wurde, bei dem nur „der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche“7 gilt. Wenn überhaupt irgendwo, dann liegt in dieser Idee das Versprechen auf die Freiheit des Denkens. Es sei dahin gestellt, ob sich in den Regeln des freien Diskurses die transzendentale Letztbegründung von Moral finden lässt, auf jeden Fall kann sich die Philosophie rühmen, dass ihre Kultur selbstkritischer Offenheit gegenüber dem Anderen zu einer ertragreichen Reflexion auf die (nicht zuletzt auch logischen) Ermöglichungsbedingungen des Dialogs sowie zu einer beachtlichen Vielfalt an Theorien und Auffassungen geführt hat, die unter diesen diskursiven Bedingungen um die Gunst des Publikums wetteifern. Wenn die Haltung der selbstkritischen Offenheit die notwendige Voraussetzung eines freien Gesprächs und dieses wiederum die Voraussetzung von Erkenntnisfortschritt ist, so ergibt sich daraus für die Philosophie die prinzipielle Aufgabe, dass sie diese Widerspruchsoffenheit systematisch herzustellen hat. Anders, paradoxer ausgedrückt, dass sie diese Offenheit wo nicht zu ihrem Ethos, so doch zur Methode macht. Und wenn Offenheit eine methodische werden soll, mag man leicht zur Ansicht verführt werden, dass die Methode der Philosophie in der Methodenfreiheit, um nicht zu sagen -losigkeit bestehe.8

Ein Zwerg auf den Schultern eines Riesen Wo die Philosophische Praxis Philosophie ist – sprich zu weiten Teilen –, kann sie somit auf einer langen Tradition philosophischer Selbstreflexion aufbauen und einiges an getaner Theoriearbeit implizit voraussetzen. So kommt es, dass sich die Methodenskepsis bezüglich der Philosophischen Praxis vor dem Hintergrund einer relativ unbestrittenen Grundlage von gemeinhin geteilten und an der Universität eingeübten theoretischen und methodischen Standards, Kriterien und Prinzipien artikuliert. Dazu gehören unter anderen: sprachliche Verfasstheit bzw. Diskursivität; Dialogizität als differenzoffenes Miteinander Nachdenken und Aufeinander Eingehen; vernünftige Reflexion im weitesten Sinn (zu präzisieren 7 8

Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S.123 Ob diese eigenartige methodische Offenheit hinreicht, um die Abgrenzungssorgen gegenüber „geschlossenen“ Methoden der Psychotherapie zu besänftigen, sei dahin gestellt.

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als begriffliche Analyse, Argumentieren, Schlussfolgern, Urteilen und Systematisieren, treffendes, kritisches Fragen sowie dialektische/hermeneutische Synthese und Abstraktion vom Irrelevanten). All diese Merkmale bilden den erworbenen Besitzstand sowohl der Philosophie im Allgemeinen wie der Philosophischen Praxis im Besonderen, von dem ausgehend letztere ihre spezifischen Verfahren und Normen zu entwickeln hat. Und so erstaunt es kaum, dass die Philosophische Praxis ebenfalls das vernünftige Gespräch als elementare Verfahrensweise für sich reklamiert. Schließlich ist das Gespräch dasjenige Moment an der Philosophie, das dem Selbstverständnis der Philosophischen Praxis als prozesshafte und problembezogene Tätigkeit am Nächsten kommt. Es ist daher nur folgerichtig, dass die theoretische Literatur ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf zwei Arbeitsweisen verwandt hat, die sich aus dem generellen Modell des Dialogs ausdifferenziert haben: Das sokratische Gespräch und die philosophische Beratung. Beide basieren auf den prinzipiellen Annahmen des herrschaftsfreien Diskurses, wurden jedoch für die unterschiedlichen Zielsetzungen und die spezifischen praktischen Rahmenbedingungen durch weitere Aspekte konkretisiert. Natürlich trifft man neben diesen schon geradezu klassischen Methoden der Philosophischen Praxis ebenso die traditionellen philosophischen Verfahren wie Unterricht, Vortrag und Textarbeit an. Sie sind jedoch nicht spezifisch für die Philosophische Praxis. Dahingegen scheint mir für die aktuelle Auseinandersetzung die Beobachtung bedeutsam zu sein, dass sich in der Philosophischen Praxis auch eher ungewöhnliche Arbeitsformen wie die Philosophische Reise oder das Café Philo etablierten.

3. Ziele und Kontexte der Philosophischen Praxis Instrumentalisierung für externe Zwecke? Die Suche nach angemessen Methoden bemisst sich nicht zuletzt an den gesetzten Zielen. Während die Ambitionen der akademischen Philosophie sich mit etwas idealistischem Goodwill auf den gemeinsamen Nenner „kommunizierbare Erkenntnis um ihrer selbst willen“ („Wahrheit“), und mit etwas Pragmatismus auf „(Selbst-) Verständigung“ bringen lassen, artikuliert sich der Praxisbezug der Philosophischen Praxis in sehr unterschiedlichen Zielsetzungen. Ihr Anspruch geht dahin, Philosophie für die alltägliche Lebenspraxis, d.h. ethisch, relevant zu machen. Die Erkenntnisbemühung scheint dabei häufig ein Mittel zu einem anderen, brauchbareren Zweck zu sein. Diese explizite Nützlichkeitsorientierung hat nicht zuletzt mit der noch brüchigen Legitimationssicherung der Philosophischen Praxis zu tun.9 9

Diese ist wiederum nicht zuletzt an den externen Zweck der ökonomischen Existenzsicherung der praktizierenden Philosophinnen geknüpft.

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Dadurch scheint die Philosophische Praxis jedoch in einen Konflikt mit ihrem philosophischen Selbstverständnis zu geraten, da sie sich nicht als instrumentelle Zweckrationalität denken mag. Zum einen weil Philosophie nicht vor „gegebenen“ Zwecken halt macht, zum anderen weil sie gemäß ihrem traditionellen Selbstverständnis allein danach trachtet, der Wahrheit nachzugehen, sie daher keine ihr äußerlichen Zwecke verfolgt. Es ist nicht zuletzt diese Opposition gegen eine Instrumentalisierung, die für die teilweise vehemente Ablehnung einer Methode der Philosophischen Praxis verantwortlich sein mag, weist doch die Zweck-Mittel-Diskussion analoge Argumentationsmuster wie die ZielMethoden-Diskussion auf.10 Ich hoffe, diese Problematik durch den Hinweis ein wenig entschärfen zu können, dass auch in der philosophischen Tradition die Zwecksetzung des Philosophierens nicht allein im Streben nach Wahrheit verortet wurde. Tatsächlich ließe sich zwar in Anlehnung an Platon oder selbst Kant argumentieren, dass das Philosophieren als ideenschauende theoria sein Ziel in sich selbst findet kann. Doch neben der auf reine Erkenntnis abzielenden, der praxisfernen Kontemplation und Meditation zugewandten Linie, sieht sich das Denken schon seit seinen Anfängen auch der guten Lebensführung verpflichtet. Und wenn das Nachdenken über das In-Der-Welt-Sein dabei als Mittel zum Zweck erscheinen mag, tut dies seiner Anerkennung als Philosophie keinen Abbruch. Ansonsten hätten weite Teile der so genannt praktischen Philosophie ebenfalls um ihren Status zu fürchten.

Das Mittel, das zum Zweck wird Diese Unschärfe mag damit zu tun haben, dass sich für die Philosophie die Grenze zwischen Selbstzweck und Zweckdienlichem kaum eindeutig ziehen lässt. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass die Begrifflichkeit von Ziel und Methode hier an die Grenzen ihrer Brauchbarkeit stößt. Denn wo die methodische, d.h. vernünftige Reflexion sich über das gute und glückliche Leben Gedanken zu machen beginnt, erkennt sie meistens bald, dass sie selber ein wesentliches Merkmal der angestrebten Lebensweise ausmacht. Eine Lebensführung, die ethische Vervollkommnung anstrebt, wird die Übung des Philosophierens nicht bloß als äußerliches Mittel, sondern als unverzichtbares Element ihrer Alltagspraxis betrachten. Die verpönte Methode wird damit zum ethischen Prinzip, wenn nicht gar zur verinnerlichten ethischen Haltung, denn das gute Leben ist zugleich das kluge und weise Leben (phronesis, sophia); die praktische Vernunft wird zum Selbstzweck. Das wird deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass die oben angemahnte Offenheit für Erfahrung und Widerspruch nicht mehr nur ein metho10 Obschon ich mir vorstellen kann, dass die Klärung der Frage nach dem Verhältnis von Zweck und Mittel im Allgemeinen und für die Philosophie und die Philosophische Praxis im Besonderen der laufenden Diskussion hilfreiche Anregungen beisteuern könnte, kann ich diese Frage hier nicht weiter erörtern.

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disches Prinzip der Philosophie ist, sondern auch eines der alltäglichen Lebenspraxis. Sie bemisst sich an der gegenwärtigen conditio humana, die eine des ständigen Wandels, der Anpassung wie auch der Neuschöpfung ist. Praxisferne Kontemplation und pragmatische Lebensklugheit liegen also näher beieinander, als es zunächst scheinen mag. Sie konvergieren im Begriff der Freiheit. Denn während die theoretische Kontemplation im Absehen von den Zwängen und Notwendigkeiten des Alltags gerade ihre existenziell-praktische Dimension gewinnt, kann selbst eine noch so anwendungsnahe Problemanalyse nur gelingen, wenn sie sich von der unmittelbaren Befangenheit durch das konkrete Anliegen löst und eine minimale theoretische Distanz einnimmt. Es ist ein charakteristisches Merkmal der Philosophie, dass sie zwischen den Denkenden und der direkten Verfolgung ihrer Interessen mittels Abstraktion und Reflexion einen Abstand einführt und dadurch deren unmittelbare Ansprüche temporär suspendiert. Das heißt, Philosophie (wie auch Wissenschaft und Kunst) ist nie – weder in ihrer kontemplativ-theoretischen noch in ihrer pragmatisch-praktischen Ausprägung – unmittelbar nützlich. Selbst eine im Dienste der Zweckmäßigkeit11 arbeitende Philosophische Praxis kann ihre Nützlichkeit nicht unmittelbar unter Beweis stellen, sondern nur indirekt, über den Umweg der abstrahierenden Theorie. Und gerade durch diese theoretische Distanzierungsleistung gewinnt die Philosophie ihren spezifischen praktischen Wert. Sei es, indem sie ein intellektuelles Heraustreten aus sämtlichen existenziellen Bezügen und deren Zwängen ermöglicht, sei es, dass sie über ein reflektiertes und aufgeklärteres Bewusstsein die Voraussetzungen für erfolgreiches und selbstbestimmtes Handeln schafft.

Abhängigkeit vom Handlungskontext Je nach Zielsetzung wird sich eine bestimmte Verfahrensweise zweckmäßiger erweisen als eine andere. Doch die angestrebten Ziele bestimmen nicht alleine die Wahl der Methode, mindestens genauso wichtig sind die verschiedenen Aspekte des gesellschaftlichen Kontextes, in denen die Philosophische Praxis sich ereignen, respektive sich betätigen soll. Dazu gehören so elementare Faktoren 11 Etliche der für die Philosophische Praxis formulierten Ziele gehören wohl in die Kategorie des Zweckdienlichen im Hinblick auf ein gutes und glückliches Leben. Das muss jedoch nicht heißen, dass der rein spekulative Gedankenaustausch nicht auch in der Philosophischen Praxis ein hinreichendes Motiv sein kann. Zu diesen mittelbaren Zielen gehören bekanntlich: (Neu-) Orientierung; (Selbst-) Aufklärung und Einsicht; Bewusstseinsentwicklung; Kritik von Vorurteilen und impliziten Widersprüchen; Begründung von Prinzipien und Überzeugungen; Förderung von vernünftiger Selbstbestimmung bzw. Mündigkeit; Sinnsuche und Trostsuche; Sorge um sich; Bildung der Persönlichkeit und der Urteilskraft; praktische Lebensklugheit und Weisheit; produktive Analyse, Klärung und Lösung von Problemen; Verständigung. Im Fall der Philosophischen Praxis kompliziert sich die Bestimmung ihrer Ziele zusätzlich dadurch, dass die praktizierende Philosophin und ihre Klientinnen noch ihre je eigenen Absichten mit der Philosophie verbinden. Diese divergierenden Zielvorstellungen gilt es zunächst einmal zur Deckung zu bringen.

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wie die finanziellen Möglichkeiten (der Besucherinnen/Klientinnen), aber auch ihre persönlichen Erwartungen, Interessen und Vorlieben, ihr sozialer Background sowie ihre kognitiven und diskursiven Kompetenzen. Eine gleichfalls wichtige Rolle spielen auch technische, organisatorische und soziale oder institutionelle Rahmenbedingungen, insbesondere wenn man nicht nur mit Einzelpersonen arbeitet. Derlei Faktoren sind nicht zuletzt mit verantwortlich für die große Bandbreite an Betätigungsformen, die die Philosophische Praxis in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Diesbezüglich scheint die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kundschaft einen hervorragenden Stellenwert einzunehmen. Wobei es nicht genügt, allein auf ihre intellektuellen Bedürfnisse einzugehen. Um Kundschaft für die Sache der Philosophie zu gewinnen, gilt es das Wohlergehen und die Gewohnheiten der Klientinnen umfassend zu berücksichtigen. Aus dieser Erkenntnis heraus haben sich Veranstaltungsformen wie die nicht nur intellektuell horizonterweiternde Philosophische Reise, das lässig-entspannte Café Philo oder das sowohl Leib wie Geist sättigende Philosophische Gastmahl ergeben.

4. Grenzüberschreitung als produktive Selbstkritik Philosophieren als soziokulturelle Errungenschaft Die folgenden Überlegungen stehen in unmittelbarer Beziehung zu meinen persönlichen Motiven als praktischer Philosoph zu arbeiten. Philosophie, verstanden als eine die menschliche Anlage zum Denken methodisch und systematisch verfeinernde Praxis, nimmt in der modernen Gesellschaft den Status einer herausragenden Kulturtechnik zur Wissensherstellung und Entscheidungsfindung ein. Ihre Leistungen basieren auf dem schon geschilderten Modell des offenen Gesprächs, das einen selbstkritischen, herrschaftsfreien und dissensoffenen, aber auf Konsens, oder zumindest Verständigung ausgerichteten öffentlichen Diskurs zu realisieren versucht. Dieses Modell bildet zugleich die Grundlage für positive Gesellschaftsentwürfe wie jenen einer offenen Gesellschaft oder gesellschaftskritische Bewegungen wie jene der Aufklärung. Daher betrachte ich das Philosophieren als soziale Errungenschaft von weit reichender praktischer Relevanz und somit wiederum als einen Selbstzweck, an dessen Realisierung mir gelegen ist. Zugleich bin ich der Ansicht, dass sich die Philosophie als öffentliche, institutionalisierte Praxis gegenwärtig zu sehr auf ihre universitären Betätigungsfelder beschränkt und daher Gefahr läuft, zunehmend an sozialer Relevanz und Mitsprachemöglichkeiten einzubüssen. Die Ursachen für diesen Ghettoisierungsoder Entkopplungsprozess mögen unterschiedlicher Natur sein, ich halte ihn jedoch nicht für zwingend. Und ich verorte zumindest eine Teilverantwortung auf Seiten der Philosophie und ihrer Vertreterinnen. Wer den praktischen Nachweis der Relevanz seines Tuns für müßig weil evident hält, trägt nicht zuletzt dazu bei,

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dass diese Relevanz über kurz oder lang nicht mehr wahrgenommen wird. Dass dieser Nachweis heute jedoch anders als früher zu leisten ist, scheint meines Erachtens eine der größten gesellschaftlichen Herausforderung an die Philosophie. Ich betrachte meine philosophischen Unternehmungen – wie jene der Philosophischen Praxis im Allgemeinen – als Versuche, diese Herausforderung anzunehmen. Zum einen, indem ich Philosophie performativ denke, als eine Praxis, die sich öffentlich exponiert und gesellschaftlich einbringt. Zum anderen, indem ich nach Wegen suche, Philosophie „auf andere Weise“ zu betreiben.

Philosophie als universitäre Diskurspraxis Die Methoden, Standards, Techniken und Stile, wie Philosophie an der Universität als Wissenschaft betrieben wird, haben sich nicht grundlos etabliert. Sie haben sich in einer langen Tradition herausgebildet und bewährt. Wie jede institutionalisierte Praxis ist auch die akademische Philosophie von unzähligen Verhaltensnormen, Verfahrensstandards, Technologien und Überzeugungen geprägt, die häufig kaum mehr explizit reflektiert, sondern schlicht übernommen werden und ihre Geltung aus der Autorität der Tradition beziehen. Diese formalen und faktischen Produktionsbedingungen des philosophischen Diskurses werden meist nur beiläufig thematisiert, denn wo sie ihren Zweck angemessen erfüllen, tun sie dies meist dadurch, dass sie – wie die Sprache – transparent werden und sich der Aufmerksamkeit entziehen. Diese stillschweigend vorausgesetzten Maßstäbe des universitären Philosophierens sind jedoch genauso kritikwürdig wie jede andere theoretische Annahme und methodische Norm. Denn sie können genauso auf das Bewusstseinsniveau von inadäquaten Vorurteilen und unreflektierten Gewohnheiten herabsinken und zu institutioneller Formalität gerinnen, die andere, neue Weisen des Denkens ausschließt. Das mag angehen, wo die Philosophie sich mit einer Rolle als akademische Spezialdisziplin bescheidet. Doch droht sie damit die Fähigkeit zu verlieren, ihre analytischen und reflexiven Kompetenzen in ausseruniversitäre (öffentliche) Diskurse und Entscheidungsprozesse einzubringen, in denen sie durchaus etwas beizusteuern hätte.12 Es gilt daher die Relevanz und Angemessenheit dieser etablierten Verfahrensstandards für die jeweils fraglichen Handlungskontexte immer wieder zu prüfen, damit sie für Korrekturen, Anpassungen und Überarbeitungen zugänglich bleiben. Damit soll nicht dem leichtsinnigen Überbordwerfen von kostbaren Errungenschaften das Wort gesprochen werden, sondern, im Gegenteil, ihrer Erneuerung im Prozess der kritisch reflektierten Wiederaneignung. Genauso wenig kann es darum gehen, „bessere“ als die an der Universität gelehrten Methoden zu entwickeln, maßgeblich ist vielmehr ihre Angemessenheit im Hinblick auf die

12 Das trifft natürlich bis zu einem gewissen Grad genauso auf die thematischen Inhalte zu, die ja nicht zuletzt auch durch die konkreten sozialen Handlungskontexte und den darin vorfindlichen diskursiven Produktionsverfahren bedingt sind.

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unterschiedlichen denkbaren Kontexte, in denen Philosophie außerhalb der Universitäten zur Anwendung kommen kann.13 Denn es bleibt abzuklären, welche Aspekte und Kriterien sachlich in der Philosophie begründet sind und welche einem bestimmten Wissenschaftsverständnis oder der Institution Universität zuzuschreiben sind.

Praktische Grenzüberschreitung als performative Kritik Mit ihrem Heraustreten aus der Akademie sieht sich die Philosophische Praxis zu der Freiheit gezwungen, für die unterschiedlichen Ziele und Kontexte ihrer Tätigkeit angemessene und daher häufig neue Formen,14 Techniken und Stile zu entwickeln, in denen sich Philosophie artikulieren kann. Dazu muss sie sich der der Philosophie eigenen methodischen Offenheit bedienen, indem sie diese reflexiv auf sie selbst sowie auf ihr Tun und ihre Begriffe wendet.15 Es ist charakteristisch für die Philosophische Praxis, dass sie schon allein durch ihr bloßes Sein und Tun am Rande der institutionell-akademischen Philosophie deren für selbstverständlich gehaltenen Grenzmarkierungen ins Wanken bringt. Diese inhärente Devianz prädestiniert sie dafür, bei der Kenntlichmachung philosophischer „Vorurteile“ eine herausragende Rolle zu spielen. Indem sie aus den abgesteckten Betätigungsfeldern der Akademie hinaus tritt, sich auf Begegnungen mit ungewissem Ausgang einlässt und nach der adäquaten Umsetzung ihrer Tätigkeit sucht, übt sie implizit und performativ Kritik an der etablierten Philosophie. Im besten Fall führt dies zu einer produktiven Selbstreflexion auf die Philosophie und ihre Methoden an den Universitäten. Ich bin der Ansicht, dass die Philosophische Praxis diesen praxisgespiesenen Reflexionsdruck nicht nur als Nebeneffekt ihrer Diffusionsbewegung zu betrachten hat, sondern dass sie ihn auch gezielt herstellen muss. Dabei genügt es nicht, diese Selbsthinterfragung bloß theoretisch zu verhandeln; gerade weil sie sich als Praxis versteht, ergibt sich für sie die Notwendigkeit, die in der philosophischen Tradition entwickelten Methoden, Normen und Techniken der Realitätsprüfung auszusetzen und ihr eigenes Tun sowohl theoretisch wie auch empirisch zu erfor13 Wobei sich die Philosophische Praxis ihrerseits vor dem Missverständnis zu hüten hat, Relevanz und Angemessenheit mit dem Bestehen auf dem ökonomischen Markt zu verwechseln. 14 Ich gebrauche den Formbegriff hier im Sinne der konkreten Ausgestaltung von Methode und in Gegenüberstellung zum thematischen Inhalt philosophischer Fragestellungen, die ja in der Philosophischen Praxis ebenfalls durchaus auch von jenen der akademischen Philosophie abweichen können. Ich bin mir bewusst, dass der Begriff problematisch ist und wohl weiterer Klärung bedürfte. Für das aktuelle Anliegen scheint mir jedoch gerade seine auf die Kunst anspielende Ambiguität fruchtbar. 15 Daher halte ich die (leider häufig von akademischer Seite verlautbarten) Diskreditierungen von Autorinnen wie Nietzsche, Derrida oder Sloterdijk eher für ein Armutszeugnis, das sich mit einem reflektierten Verständnis von Philosophie kaum verträgt.

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schen. Ihr fällt es zu, das Feld der Philosophie bzw. ihrer Relevanz, Geltung und Wirkung in praktischer Hinsicht neu abzustecken und ihren Begriff auch einmal anders zu realisieren, indem sie mit anderen Formen und Weisen des Denkens operiert als an der Akademie üblich und möglich. Explorative Grenzüberschreitung bedeutet somit für die Praxis der Philosophie das gezielte Infragestellen von etablierten Diskurstechniken sowie das Ausprobieren von scheinbar abwegigen und im akademischen Kontext unzulässigen Praktiken des Philosophierens. Das systematische Experiment und das probehandelnde Spiel bilden daher Metamethoden, um bewährte Verfahren in neuen Handlungskontexten auf ihre Tauglichkeit zu prüfen und um neue Formen zu finden. Durch diese nicht bloß diskursivtheoretische Praxis der Grenzüberschreitung kann die Philosophische Praxis zur Selbstverständigung der Philosophie beitragen. Denn erst, wenn man sich auf dieses Abenteuer einlässt und aus dem Elfenbeinturm philosophischer Zivilisation in die Weite des realen Anderen aufbricht, wird einem wieder deutlich, wie vieles man in der geschützten Werkstatt Philosophie als selbstverständlich vorauszusetzen pflegt. Und erst im Erleben der tatsächlichen Unwahrscheinlichkeit und Fragilität der philosophischen Methode, mag einem deren besonderer Wert und Qualität wieder zu Bewusstsein kommen. Ich halte es daher für eine unverzichtbare Strategie der Philosophischen Praxis, dass sie sich darin übt, die Limitationen der etablierten philosophischen Praktiken probeweise zu übertreten, zu verschieben oder sogar aufzuheben.

5. Experimentell Philosophieren – wie geht das? Dipl. Ing. Philosophie Bei der Entwicklung und Umsetzung eines neuen Angebots geht eine Praktische Philosophin im Prinzip sehr ähnlich vor wie eine Ingenieurin oder eine Produktdesignerin. Damit meine ich das Folgende: Wegen ihres Anwendungsbezugs werden ihre Bemühungen viel stärker durch die praktische Zielsetzung und den sozialen Handlungskontext bestimmt als in der Fachwissenschaften. Ziel und Kontext stellen den Ausgangspunkt für die weitere Arbeit dar, das Fachwissen wird zur Lösung der Aufgabestellung beigezogen. Sieht man jedoch von diesen besonderen „Produktionsbedingungen“ ab, ist die Verfahrensweise mit jenen in den übrigen Wissenschaften durchaus vergleichbar, da ihr letztlich abduktives und induktives Schließen zugrunde liegt. Ausgehend von der gegebenen Fragestellung gilt es, „Vermutungen“ zu entwickeln, wie diese beantwortet werden könnte. Daraufhin ist die Vermutung empirisch zu prüfen und je nach Ergebnis weiter zu entwickeln oder durch andere zu ersetzen. Im Kern ist dieser Prozess derselbe, ob es sich nun um die Entwicklung einer neuen biologischen Theorie, den Entwurf eines neuen Autos oder um eine Annahme über die Sitten und Gebräuche in einem fremden Land handelt. Die

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Unterschiede ergeben sich aus den fraglichen Zielsetzungen und dem gegebenen Handlungskontext. In der Philosophischen Praxis kommen noch die Vorlieben und Fähigkeiten der jeweiligen Philosophin hinzu. Auf die Arbeit der Philosophischen Praxis gemünzt bedeutet dies, dass ich mir zunächst einmal Rechenschaft darüber ablegen muss, was und wen ich mit meinem Angebot erreichen möchte. Als Praktischer Philosophin steht mir eine Reihe von erprobten Betätigungsformen zur Auswahl (Individualberatung, Café Philo, Vortrag, Lesegruppe etc.). Diese kann ich zum Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung nehmen, indem ich mich mit jenen näher beschäftige und auch praktisch zu arbeiten beginne, die meinen Zielen und meiner Person am besten entsprechen. Sollte ich feststellen, dass ich mit diesen Arbeitsweisen sowohl meine finanziellen wie auch meine philosophischen Ansprüche bestens befriedige, erübrigt sich ein weiteres Tüfteln. Häufig – und dies entspricht meiner persönlichen Erfahrung – stellt man jedoch auch so etwas wie ein Ungenügen oder einen Mangel fest. Beispielsweise erkennt man die Limitationen der etablierten Formen, wenn sie nur in gewissen Kontexten und nur für gewisse Zielgruppen taugen, oder indem man Vergleiche mit anderen Angeboten und Veranstaltungsformen zieht. So geht die Entwicklung des Zürcher Philosophiemassakers darauf zurück, dass mir das gänzliche Fehlen eines im weitesten Sinne philosophischen Diskurses in gewissen soziokulturellen Milieus wie der Jugendund der Alternativkultur auffiel. Von der Feststellung eines Mangels zur Inspiration von neuen Ideen ist es nur ein kurzer Weg, wenn man sich einmal in der näheren Nachbarschaft umblickt und sich auf einen Austausch mit angrenzenden Tätigkeitsfeldern einlässt. Bisweilen macht die Idee für ein neues Format eine beinahe gänzliche Neuschöpfung nötig, ein andermal kann sie jedoch auch bloß die Adaption von etwas Bestehendem für die Philosophie beinhalten. So habe ich beispielsweise den theory battle in Anlehnung an die literarischen Poetry Slams konzipiert. Sobald die Idee für ein neues Angebot steht, gilt es sie ein erstes Mal zu prüfen. Ist sie in sich stimmig und hält sie einer näheren Betrachtung stand? Dieser Vorgang ist häufig intuitiver als es einer Philosophin lieb sein mag. Angesichts der Schwierigkeiten einer seriösen vorgängigen Evaluation sollte darauf jedoch auch nicht allzu viel Aufwand verwendet werden. Denn die eigentliche Prüfung stellt ja die konkrete Realisierung des Angebots dar.

Philosophisches Gestalten Im Folgenden geht es vor allem um die konkrete Ausgestaltung des neuen Angebots. Dies ist in erster Linie ein organisatorischer und konzeptioneller Prozess, der jedoch auch kreative Aspekte aufweist, insofern als es dabei auch um Formgebung geht. Ausgehend von den abgesteckten Rahmenbedingungen und den vorgenommenen Zielsetzungen, hat man eine erste Skizze für das geplante Angebot zu entwickeln. Dabei ist es wiederum sehr hilfreich, wenn man sich an be-

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stehenden Formaten orientieren kann, sei es, indem man sich kritisch davon abgrenzt, sei es, indem man Impulse davon aufnimmt und weiterverarbeitet. Je nach Vorhaben gilt es unterschiedliche Faktoren besonders zu berücksichtigen. Um ein neues Angebot zu lancieren, muss ich mich zunächst mit der Frage beschäftigen, wo und wie sich dies mit Erfolg bewerkstelligen lässt. Hier kommen nun vor allem die Faktoren des sozialen Handlungskontextes zum Tragen. Je nachdem muss ich mich zunächst einmal fragen, an welchem Ort sich dieses Angebot am besten realisieren lässt, wo die passende Zielgruppe erreicht werden kann. Dabei gilt es wiederum den Blick ein wenig schweifen zu lassen und nach Orten Ausschau zu halten, bei denen sich Berührungspunkte abzeichnen (sowohl hinsichtlich Milieu, Geografie, sonstiges Programm etc.). Als ich daran ging, das Zürcher Philosophiemassaker zu planen, war ich sehr froh, dass ich es im damals erst wieder eröffneten Cabaret Voltaire durchführen konnte, da der Ort passende kulturgeschichtliche Assoziationen weckte16 und zugleich programmatisch noch nicht allzu festgelegt war. Für die kunsttheoretische Diskussionsreihe Ästhesen hingegen, bei der es mir um einen eher informellen und kunstnahen Austausch ging, konnte ich das im Zürcher Rotlichtbezirk gelegene, und einer OffspaceGalerie zugehörige Corner College gewinnen. Diese Situierung meiner Veranstaltungen in einem entsprechenden Milieu ermöglichte mir eine von akademischen Konventionen unabhängige Gestaltung, setzte mich jedoch auch wieder gewissen milieuspezifischen Erwartungen aus. Wo das Entwickeln einer neuen Veranstaltungsform auch an institutionelle Orte gebunden ist, empfiehlt es sich sehr, diese als engagierte Partner ins Boot zu holen, damit gewisse organisatorische, finanzielle und technische Aufwendungen von ihnen übernommen werden können und man von Synergien und Skalierungseffekten bei Werbung und Vertrieb profitieren kann. Auch die zur Verfügung stehende Zeitdauer ist für die Umsetzung maßgeblich. Philosophieren ist zeitaufwändig, daher sollte man keine überrissenen Pläne schmieden, wenn man es mit einem limitierten Zeitraum zu tun hat, wie das beispielsweise bei Abendveranstaltungen der Fall ist. Einen groben Zeitplan zu entwerfen ist aber auf jeden Fall empfehlenswert. Des Weiteren gilt es abzuklären, welche technischen Hilfsmittel benötigt werden und zu welchen Bedingungen man sie bekommen könnte. Das primäre Medium der Philosophie ist die Sprache, was einem unter Umständen den Verzicht auf sämtliche Technik gestattet. Ich bin jedoch der Auffassung, dass man mit etwas Phantasie durchaus auch einmal einen anderen Pfad als jenen des Wortes beschreiten kann. Der Realisierungsprozess kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Je mehr Eigenentwicklung er beinhaltet, desto aufwändiger wird er ausfallen. Wo neue Formate nicht auf regelmäßige Wiederholung hin angelegt werden, können sie dermaßen kostspielig geraten, dass die Philosophische Praxis zur brotlosen Kunst 16 Hugo Ball und andere eröffneten im Februar 1916 das Cabaret Voltaire, das zur Kleinbühne für „dadaistischen Hokuspokus“ wurde.

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wird. Die Finanzierung ist daher eines der Haupthemmnisse, wenn es um das Entwickeln von und Experimentieren mit neuen Formaten geht. Denn wie bei jeder kreativen Arbeit ist das am Schluss sichtbare Resultat nur die Spitze eines Eisbergs von mühsamen Überarbeitungen, Nachbesserungen und Neuanfängen. Zwar macht auch hierbei systematisches Planen und Konzipieren einen Grossteil der Arbeit aus; beispielsweise indem Entwürfe verfasst werden, indem Recherche betrieben wird, indem Konzepte ausgearbeitet und schließlich auch so etwas wie Programmabläufe festgehalten werden. Ebenfalls zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Form der zu behandelnde Stoff aufbereitet werden soll, um den Fähigkeiten und Erwartungen der Besucherinnen zu entsprechen. Möchte ich mit Originaltexten arbeiten, leiste ich Übersetzungsarbeit, oder verzichte ich gänzlich auf fachphilosophische Inputs? Neben der konzeptionellen und organisatorischen Arbeit nimmt jedoch auch das praktische Ausprobieren einen beträchtlichen Stellenwert ein. Vieles lässt sich nur vage im Voraus abschätzen, da hilft es, wenn man vor Ort testen kann, was wie geht. Daher ist es auch unabdingbar, während der Vorbereitungen gewisse Elemente oder ganze Abläufe zu proben. Nicht bloß, um ihre Tauglichkeit zu prüfen und das Risiko des Misslingens zu minimieren, sondern auch um Übung zu erlangen. Wenn ich zum Beispiel ein neues Philosophiemassaker plane, pflege ich es zuvor mit einer Schulklasse zu proben. Und es kommt so gut wie nie vor, dass ich danach nicht noch Änderungen vornehme.

„Was hat das denn noch mit Philosophie zu tun?“ – Das Beispiel des Zürcher Philosophiemassakers Ich möchte meine Vorgehensweise an einer Veranstaltung illustrieren, mit der ich mich relativ weit von den etablierten Formen des philosophischen Diskurses fortbewegt und einen „alternativen“ Umgang mit den gewohnten Normen und Axiomen des Philosophierens gesucht habe.17 Seit 2006 habe ich im Cabaret Voltaire mehrere von mir als Zürcher Philosophiemassaker (Philo mit der Kettensäge) bezeichnete öffentliche Abendveranstaltungen durchgeführt. Der Anlass positionierte sich von Beginn weg über die Distanzierung von tradierten Gefäßen des öffentlichen philosophischen Diskurses; beispielsweise indem er sich marktschreierisch anpreist: „Schluss mit den schöngeistigen Wohlfühl- und Schmuseveranstaltungen! Philosophie muss auch wehtun können. Wir denken bis Blut fließt!“18 Mit dieser martialischen Rhetorik intendiere ich die gezielte Provokation der eingespielten bildungsbürgerlichen Reflexe, die Philosophie als empfindliches hochgezüchtetes Freizeit- und Luxusgut betrachten, das nur in der ge17 Ich habe seither auch andere mehr oder weniger gelungene philosophische Innovationsbemühungen unternommen. Dazu gehören beispielsweise die Lecture Performance „Die große Schau vom Sein“ mit Corinne Maier (Mai 2008) oder zwei „theory battles“ (Jan. u. Juni 2009; Film unter: http://hirnblut.elenchos.ch/?p=166). 18 So der Standardtext der Einladungen.

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schützten Atmosphäre eines gediegenen Salons bestehen (und fruchtbringend gedeihen) kann. Mir liegt daran, durch den Gebrauch einer polemischen und aggressiv energischen Sprache19 die Konventionen des kultiviert-philosophischen „Establishments“ aufzubrechen und einen neuen Raum zu eröffnen, in dem eine andere Form von philosophischer Reflexion stattfinden könnte, die einem jungen urbanen Publikum eher gemäß sein könnte. Das zugrunde liegende Motiv ist daher ein schlicht pragmatisches wie kritisch-emanzipatorisches, und die beabsichtigte Bewegung ist die sokratische, hinaus, auf die Strasse und den Marktplatz. Der Anlass soll nicht zuletzt gängige Vorurteile und Selbstverständlichkeiten der Philosophie irritieren und damit der Reflexion zugänglich machen. Diesen Gestus führe ich auch in der Veranstaltung selber fort. Sei es, dass ich den Anlass jeweils damit eröffne, dass ich vor dem Publikum eine Motorsäge aufheulen lasse, sei es, dass ich das Publikum in den Verlauf des weiteren Programms nicht nur diskursiv, sondern auch szenisch einbeziehe. Ich vermeide bewusst das Klischee des gesitteten Podiumsgesprächs mit geladenen Koryphäen und involviere stattdessen die Besucherinnen. Dabei setze ich mich jeweils von Beginn weg einigen Widersprüchen aus, die das Gelingen der Veranstaltung ständig bedrohen. Dies betrifft insbesondere die Voraussetzungen, die das Zustandekommen eines offenen und freien Gesprächs ermöglichen. Zu den kaum bestrittenen Voraussetzungen eines philosophischen Diskurses gehören die Regeln, welche die geordnete Durchführung des Diskurses ermöglichen. Sie reichen von so schlichten Anforderungen wie der Einhaltung von ethischen Anstandsregeln über die Befolgung von linguistischen Konventionen bis hin zur Berücksichtigung anspruchsvoller Rationalitätskriterien. An allen diesen Regeln hängt wiederum ein Rattenschwanz von theoretischen wie praktischen Implikationen. So bringt allein die Rationalitätsanforderung eine Reihe von weiteren Standards wie Präzision und Differenzierung, Begründung, Relevanz, Vollständigkeit, Stringenz, intertextuelle Referenzierbarkeit und Kohärenz mit sich. Aber auch externe Rahmenbedingungen wie Konzentration und Besinnung, Ruhe und Muße, (ökonomische) Unabhängigkeit, Ereignisarmut und Freiwilligkeit der Teilnahme gehören zu den Erfordernissen des philosophischen Diskurses. Das Philosophiemassaker stellt unter anderem einen Versuch dar, in dem Spannungsfeld, das sich zwischen der idealen Sprechsituation im herrschaftsfreien Diskurs und den chaotischen Faktoren realer Debatten und Denkprozesse auftut, einen öffentlichen Raum für das philosophische Gespräch zu schaffen und zugleich zu problematisieren, indem ich ihn den populistischen und eventmässigen Belastungen zeitgenössischer Öffentlichkeit aussetze. Denn obschon ich jeweils vorgebe, dem Publikum die Möglichkeit zur Partizipation in einem herr19 „Aus Anlass des ersten Zürcher Philosophiemassakers werden wir das tollkühne Abenteuer der totalitären Befreiung wagen. Gemeinsam werden wir dem Monster des entfesselten Kapitalismus in heftigen Diskursgemetzeln zu Leibe rücken, uns der heimtückischen Besatzer unseres Bewusstseins entledigen und wie immer das böse System stürzen.” Aus dem Text zur ersten Einladung.

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schaftsfreien Diskurs zu gewähren, unterlaufe ich diese Möglichkeit vorzu, beispielsweise indem ich ein relativ klar strukturiertes Programm mitbringe, durch das ich die Besucherinnen mit teilweise ans Schmerzhafte grenzendem Rigor hindurch dirigiere. Die Zeiträume, in denen sich tatsächlich ein offenes Gespräch entwickeln kann, werden dadurch auf relativ kurze Zeitspannen beschränkt. Zudem versehe ich die Diskussionen jeweils mit spezifischen Regeln, die das Verhalten zwischen den Teilnehmerinnen beeinflussen. So habe ich schon wiederholt Preise für geleistete Beiträge ausgesetzt, um damit kompetitive und konkurrierende Verhaltensweisen anzustacheln. Damit nehme ich ein zentrales Moment heutiger Diskurs- und Lebenspraxis auf und generiere einen Anreiz, der die sachbezogene Äusserungsmotivation überlagert und die Diskursordnung verzerrt. Des Weiteren bediene ich mich auch anderer Mittel (Musik, Beschleunigung, Lautstärke, Bewegung im Raum, Alkohol etc.) und Techniken (Schlagworte, begriffliche Vereinfachung, polemische Zuspitzung, Rollenspiele etc.), die der Veranstaltung eher den Charakter eines unterhaltsamen Events als einer sachlichtrockenen Vorlesung verleihen. Durch diese Hinwendung zum theatralen Spiel und zur ästhetischen Vielschichtigkeit sowie zur Trivialkultur, zum Populistischen und Eventhaften unterminiere ich jedoch die tradierten philosophischen Diskursgewohnheiten und die freie Entfaltung des Arguments. Damit wird implizit auch die Frage verhandelt, welche Formen von Partizipation und Interaktion einen herrschaftsfreien Diskurs ermöglichen oder behindern. Doch intendiert der Einbezug von emotionaler Erregung, Personalisierung, Verkürzung und Vereinfachung nicht nur, quasi unter den entschärften Bedingungen eines Feldversuchs, das Verheerungspotential des Populären und das Prekäre des gemeinhin für selbstverständlich Gehaltenen wahrnehmbar zu machen. Es geht mir ebenso sehr darum, dieses verpönte Jenseits der philosophischen Hochkultur ernst zu nehmen und danach zu fragen, ob die so selbstverständlichen Grenzziehungen nicht auch verschoben, verwischt oder dekonstruiert werden können, um verdrängte intellektuelle Potentiale freizulegen. Könnte es nicht sein, dass diese veränderten Rahmenbedingungen verbreitete Ängste vor einer falschen Äußerung abbauen, dass der erlebbare Spaß an der Sache tiefsitzende Rede- und Denkhemmungen überwindet, so dass spontanere, unerwartete und authentischere Beiträge zustande kommen, die so etwas wie die Performanz oder das Ereignis des Denkens deutlicher erlebbar und genießbar machen?20

20 Auch wenn ich mir in dieser Angelegenheit nicht wirklich im Klaren bin, so würde ich gegenwärtig doch die Ansicht vertreten, dass die dekonstruktivistische Kritik an der Metaphysik der Präsenz dem phänomenologischen Gehalt unmittelbarer und authentischer Betroffenheit (des Denkens) keinen Abbruch tut.

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6. Ein umfassender Begriff des Philosophierens Anders Denken Gerade auch im Hinblick auf den Begriff des Denkens scheint mir eine Perspektiverweiterung über die angestammten Grenzen, insbesondere jene der formalen Logik, angebracht zu sein. Die Qualität eines Gedankens kann sich auch auf anderen Ebenen als jener der Aussagenlogik erweisen. Eine Geschichte besitzt ihre eigene Überzeugungskraft und eine klug gewählte Metapher kann unser Verständnis nachhaltiger verändern als eine argumentative Formel. Gerade wenn es darum gehen soll, mit Ideen aus ausgetretenen Pfaden heraus zu kommen und Neues anzudenken, scheinen mir Denkweisen ergiebiger, die den Ruch des Primitiven und Unsauberen an sich haben mögen. Die Regeln der Logik sind ihrer Natur nach eher limitierend-prohibitiv, sie stellen die Bedingungen kohärenter und konsistenter Theorien auf. Doch muss ein produktives und kreatives Denken nicht über die reine Logizität hinausgehen und sich auch einer „wilden“ Rationalität bedienen können, die rhetorische Figuren verwendet und imaginative und assoziative Gedankengänge generiert? Dieses umfassendere, mythische und rhetorische Denken scheint mir heute nur noch in der Kunst gepflegt zu werden. Ich glaube, dass in spielerischen und szenischen Verfahrensweisen derlei „niedere“ Formen des Denkens besser eingebunden werden können als in einem rein verbalen und rationalen Diskurs. Zunächst weil man sich dabei in konkreten Handlungskontexten befindet, die auch nonverbale und prärationale Persönlichkeitsanteile, insbesondere Einbildungskraft, Emotion und Intuition aktivieren, dann weil das Denken sich dabei sehr erfahrungsnah ereignet und letztlich weil derlei Situationen selber die begreifbare Gestalt von Geschichten annehmen. Dadurch dynamisieren und fundieren solche Erlebnisse das Denken als prozessualer Praxis. So kann beispielsweise szenisch-theatrales Probehandeln mit all seinen sinnlichen, sozialen, intuitiven Erfahrungsmomenten vergleichbare Lern- und Erkenntnisprozesse auslösen wie eine rein diskursive Auseinandersetzung. Es gilt daher nicht zuletzt auch das Verhältnis dieses ganzheitlicheren und praxisnäheren Denkens zum ausdifferenzierten, systematischen und methodischen Philosophieren erneut zu problematisieren. Denn eine Philosophie, die sich derlei „schmutziger“ Techniken und Methoden entledigen will, scheint mir den Grund zu verkennen, auf dem sie fußt.

Erlebnis Philosophieren Wie schon deutlich geworden sein dürfte, halte ich das Einbinden von persönlicher Erfahrung für eine fruchtbare Bereicherung des Nachdenkens. Meist versuche ich dabei thematische Zusammenhänge während der Veranstaltung konkret erlebbar zu machen. Dabei gehe ich häufig so vor, dass ich diese Erlebniskomponente simultan und analog zur sachbezogenen Diskussion inszeniere. Bei-

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spielsweise indem ich die Regeln des Diskurses dahingehend verändere, dass ein zentraler Aspekt der fraglichen Thematik im Gesprächsverlauf konkret erfahrbar wird. Das kann dadurch geschehen, dass beim Thema der Freiheit eine Gruppe von Besucherinnen gefesselt und am Mitreden gehindert wird, beim Thema der Ökonomisierung der Diskussionsverlauf nach Profitkriterien organisiert wird, oder bei der Beschäftigung mit den totalitären Aspekten von Vernunft ein Schauprozess veranstaltet wird. In allen diesen Fällen soll die Auseinandersetzung auf der theoretischen Ebene anhand konkreter Exemplifikation und Betroffenheit verdichtet werden. Diese unmittelbare Erfahrung kann dann die gemeinsam geteilte Referenz für die abstrakte Diskussion bieten. Ich messe dem Sammeln von Erfahrungen für die Philosophische Praxis daher in zweifacher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Zum einen als konkretes Gestaltungselement von philosophischen Formaten, zum anderen, wenn es darum geht, neue Verfahren, Techniken und Formen auszuprobieren. Während es im ersten Fall die Klientinnen oder Besucherinnen sind, deren Erfahrungshorizont erweitert werden soll, ist es im letzteren die Philosophische Praktikerin und die Philosophie selber, die bereichernde Erfahrungen macht.

Erfahrene Philosophie Erfahrung ist meines Erachtens dasjenige Merkmal, worin sich die Kompetenz der Philosophischen Praxis am prägnantesten von jener der akademischen Philosophie unterscheidet. Während letztere sich bestenfalls auf den Austausch mit den empirischen Wissenschaften einlässt, kennzeichnet die Philosophische Praxis, dass sie sich in ihrem Tun auf das Sammeln von Erfahrungen einlässt. Sie arbeitet nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch, d.h. mit konkreten „Fallstudien“. Indem sie Experimente anstellt und daraus Schlüsse zieht, begibt sie sich in die Nachbarschaft der empirischen Wissenschaften. Doch näher als bei den Wissenschaften liegt diese Vorgehensweise beim erfahrungsgesättigten Handwerk (der techné), das sich seine Kenntnisse vor allem durch praktisches Ausprobieren erwirbt. Es sind daher der spielerische Versuch und das gezielte und kontrollierte Experiment, die das Erfahrungswissen der Philosophischen Praxis generieren und die Entwicklung neuer Formen begleiten. Sie beinhalten nicht zuletzt auch das Ausprobieren dessen, was gemeinhin für unmöglich gehalten wird. Essayismus als Prinzip. Aus Sicht des etablierten philosophischen Diskurses ist dieses Vorgehen höchst problematisch. Experimentieren heißt immer auch etwas riskieren, sich auf „gefährliche“ Dinge und Gedanken einlassen. Wo die Philosophie sich auf den Marktplatz hinaus wagt, riskiert sie sich mit giftigen Ideen zu infizieren und schmutzige Erfahrungen zu machen. Auf dem unebenen Pflaster der Realität mag sie bisweilen auch straucheln und stürzen... Solcherlei Unternehmungen können zu unerfreulichen Rückschlägen führen und bei den Beteiligten mitunter auch ein irritiertes Unbehagen zurück lassen. Und es bleibt jeder Einzelnen anheim ge-

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stellt, wie weit sie sich auf derlei Abenteuer einlassen will. Doch ich halte es für verfehlt, aus lauter Furcht vor Verlusten und Beschädigungen den potentiellen Bereicherungen aus dem Weg zu gehen. Gerade aus schmerzhaften Erfahrungen ziehen wir die lehrreichsten Schlüsse und wenig ist einem Immunsystem so zuträglich wie das Spielen im Dreck. Auch Scheitern will daher gelernt sein, und wie, wenn nicht durch regelmäßige Übung?

Philosophieren als integrative und holistische Praxis Es ist offenkundig, dass ich mit dieser „Philosophischen Praxis“ auch ein erweitertes Verständnis von Philosophie zur Diskussion stelle. Indem ich die relativ eng gesteckten Grenzen der akademischen Philosophie in Richtung physischer und szenischer Erfahrungen überschreite, versuche ich aufzuzeigen, was einer rein theoretischen Auseinandersetzung voraus liegt und worauf diese aufbaut. Zudem hoffe ich, durch diese Einbettung in das sie umgebende Andere auch eine Verschiebung oder Auflösung verkrusteter Grenzziehungen in Gang zu setzen. Die Philosophie operiert mit einer Reihe von Differenzen,21 deren Fraglichkeit ihr bisweilen abhanden kommt. In der Regel weist die Philosophie jeweils eine höhere Affinität zu einer Seite dieser Unterscheidungen auf, was dazu führt, dass die „andere Seite“ häufig abgewertet wird. Diese Abwertung geht bisweilen so weit, dass diese andere Seite geradezu unterdrückt oder abgespalten zu werden droht und damit so etwas wie ein blinder Fleck der Philosophie entsteht. Durch den Einsatz von szenischen und nichtdiskursiven Arbeitsformen können nicht nur die Grenzen dieser Unterscheidungen aufgeweicht werden, sondern es wird damit auch so etwas wie die Wiederaneignung von Abgespaltenem möglich und es lässt sich das zugrunde liegende Gemeinsame, Verbindende oder Wechselseitige dieser Verhältnisse in Erinnerung rufen. Und wo eine gänzliche Aufhebung der Differenzen problematisch scheinen mag, kann eine dialektische Beziehung zwischen philosophischen Kernkonzepten (Begriff, Vernunft, Sprache, Dialog, Logik etc.) und ihrem Äußeren und Anderen (Sinne, Wahrnehmung, Erfahrung, Gefühl, Impuls, Herrschaft, etc.) zumindest den Fluss der Gedanken beleben. Letztlich steht hinter derlei Bemühungen der Anspruch,22 das Philosophieren als holistische Praxis in einem umfassenderen Lebenskontext zu situieren, wo Vernunft, Denken, Diskurs und Einsicht in eine Alltagserfahrung und ein emotionales, sinnlich-physisches und soziales Dasein integriert sind, das noch für so 21 Um einige Beispiele zu nennen: Subjekt - Objekt, Zeichen - Ding, Konzept - Ding, Denken (Theorie) - Handeln (Praxis), Sprechen - Handeln, Logos - Mythos, Vernunft - Gefühl, Bewusstsein - Schlaf, Allgemeines - Besonderes etc. 22 Es bleibt eine zu klärende Frage, inwieweit die von mir vorgenommenen Ausführungen den Status deskriptiver Aussagen einnehmen können, und inwieweit sie in jenem von normativen Postulaten verbleiben. Dass Philosophie jedoch nicht hinreichend als eine rein rationale Diskurspraxis beschrieben werden kann, sollte spätestens seit Nietzsches und Heideggers Philosophie- und Wissenschaftskritik kaum mehr Stirnrunzeln auslösen.

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etwas wie Bildung empfänglich ist. Diese Wertschätzung des Integrativen leite ich nicht zuletzt aus dem Praxisbezug ab, den die Philosophische Praxis für sich reklamiert. Ich glaube, dass das Sprachspiel Philosophie seine existenzielle Relevanz nur nachweisen kann, wenn es ihm gelingt, in der übergeordneten Lebenspraxis der Menschen einen Unterschied auszumachen. Zu erbringen ist dieser Nachweis in der Vermittlung der beiden Forderungen, dass jeder Mensch als Denkerin ernst genommen werden muss und dass dessen ungeachtet das Philosophieren als anspruchsvolle Kulturtechnik auch gelernt sein will.

Schwester Kunst Aufgrund des Bisherigen sollte deutlich geworden sein, dass eine so verstandene Philosophische Praxis eine Nähe zur Kunst aufweist. Setzt man den vormodernen Begriff der Kunst als praktischer Fertigkeit und handwerklicher Könnerschaft (techné) an, ist Philosophische Praxis selber als solche zu bezeichnen. Ich glaube jedoch, dass die Analogien darüber hinaus reichen und sich auch einige Berührungspunkte zur modernen Kunst nachweisen lassen.23 Das beginnt schon bei der Feststellung ihrer Wirkungsweise und ihrer Zielsetzungen. Weder Philosophie noch Kunst verfolgen so etwas wie einen nützlichen Zweck. Wenn sie sich als nützlich erweisen, dann mittelbar, beispielsweise indem sie zu so etwas wie Selbstverständigung beitragen. Dass sie sich einem ausbeutenden Zugriff verweigern, hat wiederum nicht zuletzt mit ihrer unabschliessbaren Mehrdeutigkeit zu tun. Die Gemeinsamkeiten der Philosophischen Praxis mit der Kunst gehen jedoch weiter und wären einer eigenen Untersuchung wert.24 Zentrale Begriffe wären dabei wohl Form, Spiel, Reflexion, Innovation und Erfahrung. Eine weitere Parallele findet sich in ihrer Arbeit am konkreten Einzelfall. Selbst wenn die Philosophische Praxis nicht mit der selben immanenten Notwendigkeit zu neuen Formen streben mag, wie es die Kunst tut, so scheint sie mir doch einem ähnlichen Erneuerungsdruck ausgesetzt zu sein, der sie zur kreativen Entwicklung neuer Verfahren und Formen anspornt und sie zur produktiven poiesis werden lässt. Eco hat darauf hingewiesen, dass der Innovation in Forschung und Kunst die „glücklich gelungene Abduktion“25 gemeinsam ist. „Improvisation und Urteilskraft, Denken ohne Geländer, Spontaneität und Kreativität, Spiel-Ernst sind Schnittmengen produktiven künstlerischen Wirkens wie be-

23 Wobei ich an dieser Stelle einmal von der komplexen ästhetischen Qualität absehe, die der Philosophie selbst noch in ihrer akademischen Ausprägung als performativer Praxis zukommt. 24 Vgl. hierzu auch Kathrin Busch: Wissenskünste. Künstlerische Forschung und ästhetisches Denken. In: Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich/Berlin 2009. S. 141-158. 25 Umberto Eco: Die Abduktion in Uqbar. In: Ders: Über Spiegel und andere Phänomene. München 1988. S. 210.

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wegenden Praktizierens im Dialog in der Philosophischen Praxis.“26 Dabei würde es letzterer gewiss kaum schaden, sich vermehrt von der Interdisziplinarität und Transmedialität der Kunst inspirieren zu lassen. Sowohl Kunst als auch Philosophische Praxis müssen sich stilistischer und formaler Experimente bedienen, um gewohnheitsmäßige Wahrnehmungsstrukturen und festgefahrene Denkmuster reflexiv sichtbar zu machen und die Sensibilität für die Wirklichkeit zu verfeinern. Philosophieren lässt sich ohnehin als intellektuelles Probehandeln begreifen, wo es sich aber auf spielerische und kreative Formexperimente einlässt und die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit wendet, gewinnt es den Charakter von Befreiung. Darin teilt es mit der Kunst seine emanzipatorische Qualität als (selbst-)kritische (Meta-)Instanz innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation.

26 Aus dem Ausschreibungstext des XXII. Kolloquium der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP) mit dem Titel „Nachdenken – Nachsinnen: Kunst und Philosophische Praxis“.

Irritation und Humor in der Philos ophisc he n Praxis – methodologisc he Ge da nk e ns plitter MANFRED JAUD

Abstract Es wird zunächst einmal ein Polypragmatismus vorgeschlagen. Die Vorgehensweise wird im anwenden des Prinzips von „Versuch und Irrtum“ gesehen. Wenn der Anwender viel Erfahrung im Bereich der Beratung mitbringt, wird er die Reihenfolge der Anwendungen in Hinsicht einer Erfolgswahrscheinlichkeit variieren können, aber er muss immer offenbleiben und jederzeit bereit sein seine Strategie zu ändern, denn er kann einen Misserfolg nicht dem zu Beratenden zuschreiben (z. B. Verdrängung, Widerstand etc.) Die theoretische Klammer wird in der Systemtheorie und im Konstruktivismus dargestellt.

„Anything goes“, die Überschrift eines Kapitels in Paul Feyerabends Schrift „Wider den Methodenzwang“, sollte ursprünglich zur Leitlinie meiner methodischen Entwicklung werden. Durch einen Zufall wurde ich Berater in einer Klinik für Stoffwechselerkrankungen und Onkologie, und es kamen Menschen zu mir, die mir ihr Leid klagten und Hilfe von mir erwarteten. Aber was genau wollten sie eigentlich? Erhellend für meinen Weg war der regelmäßige Besuch einer interdisziplinären Veranstaltung über Schmerztherapie bei komplizierten Fällen in unserem Zentralkrankenhaus. Die hier dargebotene Theorien- und Methodenvielfalt der anwesenden Therapeuten/Ärzte befreite mich von der Vorstellung, eine richtige Methode finden zu müssen. Ein weiterer Schritt in die Richtung, „welche Methoden“ nützlich sein könnten, war das Gespräch mit einem Klienten, der wegen Dickleibigkeit zu mir kam. Er war schon fünfmal in stationärer Behandlung und betrat mein Büro mit 225 kg Lebendgewicht. Meine Frage, was er denn bei mir wolle, beantwortete er mit

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„abnehmen“. Ich sah ihn mit großen Augen erstaunt an und meinte, ob er sich das auch wirklich überlegt hätte. Schließlich würde er jetzt eine Zeitrente erhalten und wenn er abnehmen würde, dann müsste er arbeiten, und er habe doch nichts gelernt. In der derzeitigen Arbeitslage würde er doch gar nichts finden. Dann warf er ein, dass er eine kleine Tochter hätte, mit der er doch gerne noch spielen wollte. Mein Augenausdruck wurde noch größer und verwirrter, denn, so erklärte ich ihm, bis er die notwendigen Kilo abgenommen hätte, damit er mit ihr herumspringen könnte, würde so viel Zeit vergehen, dass dann seine Tochter schon in der Schule wäre und ihre Freundinnen hätte und vielleicht gar nicht mehr so gerne mit ihm spielen würde. Außerdem sei er heute zeitlich unpassend gekommen und ich hätte keine Zeit mehr, mit ihm darüber zu sprechen. Er solle sich einen Termin geben lassen. Ich hatte Ihn mit einem freundlichen, eher etwas kumpelhaften Ton provoziert, indem ich seinen Standpunkt – es geht nicht, es hat keinen Sinn… – übernommen hatte.1 Ein paar Tage später kam er wieder und gestand mir, dass er etwas verärgert gewesen sei, aber es habe ihm bei mir wegen meines Humors trotzdem gefallen. Daher sei er wieder gekommen. Ich servierte einen Espresso und verstrickte ihn in einen Small Talk. Denn dabei vergessen die meisten Menschen ihre Vorsicht vor Beratern und Therapeuten und erzählen munter drauf los. Daraus ergibt sich dann dem Beobachter die Möglichkeit, Weltbilder, Sprachstruktur, Wortwahl, Körperhaltung zu beobachten, Wünsche (auch heimliche) und Ziele zu erfahren. So erfuhr ich unter anderem, dass er ganz gewitzt war, am Wochenende bevorzugt auf Flohmärkten Geschäfte machte, und den heimlichen Wunsch hegte, einen Wurststand zu betreiben. Ich bestärkte ihn in seinem Wunsch und wir organisierten während seines Klinikaufenthaltes alles, was notwendig war, um diesen Wunsch zu realisieren. Nach vier Wochen hatte er kaum etwas abgenommen, aber er ging mit einer neuen Perspektive nach Hause. Nach Jahren traf ich ihn wieder. Er wog immer noch stattliche 170 kg, war aber inzwischen stolzer Besitzer eines zweiten Wurststandes. Er war ein selbstbewusstes und gut verdienendes Mitglied der Gesellschaft geworden. Welche Gedanken und Hypothesen haben mich beeinflusst, so zu handeln? Da war einmal die Diskussion um Thomas Kuhn und sein Buch über die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“. Mit wissenschaftlichen Revolutionen verändern sich nach Kuhn nicht nur die Theorien, sondern auch das allgemeine Weltbild und die wissenschaftliche Praxis. Es ist, als würde sich nicht die Interpretation des Menschen, sondern die Welt selbst ändern. Aufgrund der kognitiven Dimension von Paradigmen vergleicht Kuhn Paradigmenwechsel mit sogenannten Gestaltwechseln. Diese kennzeichnen einen plötzlichen Wechsel von einer zu einer anderen Wahrnehmung. Wenn über einen längeren Zeitraum an zentralen Stellen Probleme auftraten oder überraschende Entdeckungen gemacht wurden, beginnt eine Krise und es kann dazu kommen, dass das geltende 1

Siehe auch Frank Farelly.

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Paradigma verworfen und durch ein anderes ersetzt wird. Im Rahmen der Diskussionen um Kuhns Theorien vertrat u.a. Imre Lakatos, die Auffassung, dass man bei solchen Paradigmaveränderungen dem neuen Paradigma erst einmal Zeit lassen muss, um sich zu bewähren. Für mich ein wichtiger Gedanke, da die Auseinandersetzungen mit den Klienten oft damit belastet sind, dass jeder aus seinem alten Paradigma heraus diskutiert. Dabei ist das neue Paradigma erst einmal im Nachteil, da es bisher noch keine Erfolge aufweisen kann und die jeweiligen Ausgangstheorien nicht kommensurabel sind. Natürlich hatte mein Klient kein Paradigma im Sinne Kuhns, aber doch eine Art Weltbild, das sein Handeln beeinflusste: „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“2

Und seinen Lebensvollzug betreffend gab es viele Gewohnheiten, die zwar alle – aus der inneren Sicht – erfolgreich waren, aber zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führten, zwar war er dick, aber auch ein erfolgreicher Händler. Einmal hatte Herr X dramatisch abgenommen – 80 kg – als er beschlossen hatte, eine Frau zu finden und zu heiraten. Er fand eine Frau, heiratete, zeugte ein Kind und wurde wieder dick. Die Problemlösung, die für mich hier notwendig erschien, war eine Form von „Lösungen zweiter Ordnung“.3 Zunächst ist dabei ein Wechsel der Sichtweise auf das Problem „Ich bin zu dick“ notwendig. Die Frage wird nicht mehr nach dem „warum“, sondern nach dem „was“ gestellt. Was tut der Betreffende, um das Problem zu erhalten oder sogar zu erschweren und was kann jetzt getan werden, um es zu lösen. Die oft angebotenen Lösungen, die auf dem Konzept „UrsacheEinsicht-Wandel“ beruhen, haben die Struktur: Ein Zustand „dick“ besteht, dieser Zustand ist unerwünscht, die Lösung wird in „nicht-dick“ (abnehmen) gesucht. Dies führt zu Veränderungen erster Ordnung (diese gründen meist auf den „gesunden Menschenverstand“ z.B. auf das Rezept des „mehr desselben“) und ergeben nur eine Pseudo-Lösung. Der Suchende bleibt in der Illusion der Alternativen „dick“ oder „nicht-dick“ gefangen. Solche, für den Augenblick erfolgreiche Lösungen/Strategien und Handlungen werden schnell zu Gewohnheiten und damit auf eine Ebene des Handelns verschoben, auf der sie zwar vom Bewusstsein nicht mehr kontrolliert werden, aber doch jederzeit wieder bewusstseinsfähig werden können. Die Fähigkeit der Generalisierung lässt uns erfolgreiche Lösungen auf Situationen oder Handlungen im Sinne der Ähnlichkeit anwenden. Dies führt oft zu brauchbaren Ergebnissen, was die Gewohnheit noch stärker verankert. Leider merken wir dann oft nicht, dass wir eine neue Strategie/Lösung

2 3

Wittgenstein, Über Gewissheit, 1969 Abs. 94. Siehe Watzlawick et al. 1997.

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brauchen, wenn diese sonst erfolgreiche Gewohnheit in als ähnlich eingeschätzten Situationen versagt, und wir dann mit ad hoc gefundenen Begründungen trotzdem auf dieser Lösung beharren. Und das obwohl wir mit der Situation oder dem Ergebnis der Handlung nicht zufrieden sind oder sogar darunter leiden. Erst die der Vernunft scheinbar widersprechende Lösung zweiter Ordnung bei der sowohl „nicht dick“ als auch „nicht nicht-dick“ zulässig ist, macht einen Wandel möglich. Hierbei verlässt man die Klasse der Alternativen und damit auch die Vorstellung man müsse zwischen den Alternativen wählen. Es geht dabei darum, dass die unerwünschten Auswirkungen einer gegenwärtigen Als-obFiktion – Erfolg durch Essen, z.B. Stressabbau, gern gesehener Gast, Frührentner – durch eine andere Als-ob-Fiktion – Erfolg als Händler – ersetzt wird. Es geht um die bessere Anpassung der jeweiligen Wirklichkeitsfiktion an die zu erreichenden, konkreten Ziele. Als ich damals meinen Klienten Herrn X traf und er mir von seinem Erfolg berichtete, da klopfte ich ihm kumpelhaft auf die Schulter und sagte: „gratuliere, dann werde ich ja bald von einer neuen Fast Food Kette Mac X hören“. Er stutzte und dann lachten wir beide und er meinte: „dann werde ich Sie ja wieder brauchen“. Ich denke nicht, dass wir beide Ähnliches meinten. Ich dachte, dass er zwar seine Perspektive im Hinblick auf sein Lebensziel und den Stellenwert seiner Adipositas geändert hatte, aber noch immer im Rezept erster Ordnung – „mehr von demselben“– verhaftet war. Das ist ja auch kein Wunder, denn im traditionellen Denken gibt es erst einmal keinen Grund, weshalb ausgearbeitete und funktionierende Strukturen nicht beliebig vermehrt oder vergrößert werden können. Im systemtheoretischen Denken dagegen ist bekannt, dass dem quantitativen Wachsen oder Vergrößern neben materiellen Grenzen auch unvorhersehbare Diskontinuitäten qualitativer Art sich ereignen können.4 In der Systemtheorie und im Konstruktivismus werden Lösungen zweiter Ordnung untersucht. Der Mensch wird dabei als ein nicht triviales System mit hoher organisierter Komplexität betrachtet und ist daher nur schwer kalkulierbar. Ein Problem für alle Experten der Intervention, wie Lehrer, Berater, Therapeuten, Unternehmensberater etc. Diese müssen die Erfahrung machen, dass die Beobachtungen, die sie machen und aus denen sie eine Diagnose ableiten, eben ihre eigenen Beobachtungen sind. Auf der einen Seite gibt es gut beobachtbare Handlungen und Entscheidungen, auf der anderen Seite nur indirekt beobachtbare Kommunikationen und Erwartungen, deren Muster über kognitive, semantische und soziale Strukturen strukturiert werden. Diese Strukturen machen die Identität des Systems aus, bestehend aus Selbsterfahrungen, Lernerfahrungen und Traditionen. Will man jetzt wissen, was diese beobachteten Handlungen und Entscheidungen „bedeuten“, muss man auf diese internen Strukturen schließen. Beobach-

4

Siehe auch Watzlawick, Münchhausens Zopf, 1992; Hans Vaihinger; Die Philosophie des als ob, Neudruck 1986; weiterhin: Hegelsche Dialektik, Wittgenstein, Kybernetik.

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ten und Verstehen sind daher Voraussetzung für die Interaktion und die Beeinflussung von komplexen Systemen. Zusätzlich muss man bedenken, dass sich jede Intervention immer im Rahmen von bestimmten, sich historisch entwickelnden und stetig ändernden Gesellschaften abspielt. Die verschiedenen Gesellschaften und die damit verbundenen Modelle von Gesellschaftssteuerungen begrenzen bei den Beratern die Möglichkeiten von Strategien, wenn sie sich nicht darüber im Klaren sind, dass es abhängig von Hintergrund und Interessen der Berater unterschiedliche Gesellschaftsmodelle gibt. Es kommt dabei nicht auf die Richtigkeit solcher Modelle an, sondern um das Wissen und Erkennen unterschiedlicher Vorstellungen. Ich kann dann konkurrierende Modelle einsetzen, um zu sehen, was das für die Entscheidungsprozesse und die Strategien bedeutet und somit den Spielraum möglicher Optionen erweitern. Betrachtet man ein System mit hoher organisierter Komplexität, wie den Menschen, dann fallen einige Besonderheiten auf.5 Im praktischen Leben sind wir darauf angewiesen, dass wir komplexe Zusammenhänge auf einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen, einfache Zweckzuschreibungen und einfache Zeitvorstellungen reduzieren können. In den komplexen Bedingungen unseres modernen Lebens führen uns solche Entscheidungshilfen häufig in die Irre und lassen uns zu Interventionen greifen, welche die zu lösenden Probleme vergrößern. Im Besonderen findet man in komplexen Systemen, dass es zwischen Ursache und Wirkung keine Punkt-zu-Punkt-Zuordnung gibt. Durch die Rückbezüglichkeit von Reizen, Informationen, Kommunikationen und Kräften können Wirkungen auf die Ursachen zurückwirken, kleine Ursachen können kleine oder große Wirkungen haben und die Ergebnisse lassen sich nicht mehr voraussagen. Diese Eigendynamik des Systems lässt eine einfache Ziel-Mittel Relation nicht mehr zu. Daher lassen sich komplexe psychische Systeme nicht mehr von außen erkennen. Geht der Beobachter aber nach innen, dann wird sich die Differenz von Beobachter und System auflösen und der Bereich, den der Beobachter zu sehen meint, ist ein Bereich, der durch die Operationen des Beobachters bestimmt wird. Dies zeigt eine weitere Besonderheit komplexer Systeme, nämlich die operative Geschlossenheit. Das bedeutet, dass solche Systeme vorwiegend auf sich selbst reagieren und mit ihren eigenen Prozessen beschäftigt sind und sich nur noch selektiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Diese intern ablaufenden Regelsysteme sind verschachtelt und stehen in einem aus balanciertem Verhältnis zueinander. Wird von außen eine Regel verändert, kann das variierte Verhalten der Vorstellung des Beraters entsprechen. Kommt aber eine übergeordnete Metaregel ins Spiel, bewirkt diese eine Rückführung der geänderten isolierten Regel in ihren Urzustand. Man kann also sagen, dass die Interventionen in ein komplexes System vom inneren Aufbau des Systems abhängen. Der Erfolg dieser Eingriffe hängt daher vom Operationsmodus des Systems ab. Die Interventionen des Bera5

Genauere Ausführungen über die Besonderheiten komplexer Systeme finden sich bei Willke Helmut, Systemtheorie II, UTB 1800, S70 ff.

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ters müssen sich also auf die Operationsmodi der zu beeinflussenden Menschen beziehen und nicht auf die Vorstellungen des Beraters von richtig, falsch, angemessen oder objektiv. Da nun beide, der Berater und der zu Beratende, selbstorganisierende Systeme sind, besteht deren Kommunikation nicht in der Übertragung „fertiger Informationen“, sondern in der Parallelisierung systeminterner Orientierungsaktionen6. Beratung, Erziehung etc. müssen daher in der „Sprache“ des zu beratenden Systems formuliert werden. Bei der Vorstellung wie „strukturelle Ankoppelung“ funktionieren könnte, findet man viele Beispiele, die geglücktes Ankoppeln anzeigen. So kennt jeder das Erlebnis: man sitzt am Tresen und trinkt mit einem Anderen ein Bier. Bald bemerkt man eine Synchronisierung des Trinkrhythmus. Mehr noch, man kann feststellen, dass man den Anderen leicht non-verbal zum Trinken animieren und damit den Trinkrhythmus beeinflussen kann. Diese Beobachtung ist durch Grinder und Bandler, den Entwicklern des NLP (Neuro Linguistisches Programmieren) weiterentwickelt worden und wird dort „pacing and leading“ genannt. Dazu gehört auch, dass man die Struktur der Sprachinhalte beobachtet. Man geht davon aus, dass jeder Mensch bevorzugte Termini benützt, die sich an den fünf Sinnen – optisch, akustisch, olfaktorisch/schmecken, empfinden – orientieren. Beim Hören von Geschichten, Problemen etc. ist es nun möglich, diese bevorzugten Muster herauszuhören und selber mit diesen Sprachbildern des Anderen zu sprechen. Gleicht man dann noch seine eigene Körpersprache der des Gegenübers an, hat man begonnen sich „strukturell anzukoppeln“. Der nächste Schritt besteht im Beachten der Grammatik des Gegenübers. Hierzu kann man Ausführungen bei Noam Chomskys Transformationsgrammatik finden, pragmatisch angewendet bei Bandler und Grinder in „Struktur der Magie 1 und 2“. Sie gehen davon aus, dass ein Mensch in seiner Muttersprache in einer Tiefenstruktur immer vollständige Sätze bildet, aber in seiner Oberflächenstruktur, mit der er dann kommuniziert, oft unvollständige Sätze ausspricht. Wenn ein Berater dann diese „Verstümmelungen“ (auch die Suche nach wohlgeformten Zielformulierungen gehört dazu) hinterfragt, kommt er dieser Tiefenstruktur immer näher, und damit wird eine weitere Ankoppelung möglich. Gleichzeitig entwickelt der Klient eine veränderte Sichtweise auf seine Geschichte. Diese enge Ankoppelung an den Klienten verlangt vom Berater ständige Beobachter-Distanz. Wir wissen, dass es von „Natur“ aus begabte Menschen gibt, die solche Ankoppelungen beherrschen (jeder Besuch in einem orientalischen Basar kann uns solche Ankoppelungsgenies zeigen, aber auch Klienten in unserer Praxis). Es kann vorkommen, dass der Berater – wenn er ein ähnliches Problem wie der Klient hat – an den Klienten angekoppelt wird und dann sein eigenes Problem beobachtet. Vor allem bei intellektuellen Klienten besteht die Gefahr, dass das Problem auf eine intellektuelle Ebene gebracht und die Lebenswelt des Klienten nicht mehr mit einbezogen wird. Besonders schwierig kann es für Bera6

Maturana, 1982, Erkennen, S. 261 ff., zit. in Willke H.,UTB 1800.

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ter werden, wenn der Klient starke Emotionen zeigt und in Tränen ausbricht. Kann der Berater dabei konsequent die Position des Beobachters behalten, dann sind solche Situationen nur eine weitere Möglichkeit, sich an die innere operative Struktur des Klienten anzukoppeln7. Angenommen, einem Berater gelingt es nun, mit Hilfe solcher Ankoppelungen, brauchbare Modelle von der Operationsweise des Klienten-Systems und der Entstehung des Problems zu rekonstruieren – wie sollte dann der Klient veranlasst werden, die notwendigen Veränderungen zuzulassen? In der Ausgangssituation haben wir zwei operativ geschlossene Systeme (Klient und Berater). Das interne, autonome System des Klienten wird einer Veränderung erst einmal Widerstand entgegensetzen, aber es kann Ereignisse in seiner Umwelt beobachten. Diese Ereignisse werden mit der systemeigenen Sprache interpretiert und mit Sinn versehen. Auch wenn diese selbsterzeugte Realität von außen noch so widersinnig aussieht und der Klient selber darunter leidet, so muss man doch bedenken, dass diese systeminternen Regeln der augenblicklichen Homöostase des Systems dienen. Um dieses Abwehrsystem zu unterlaufen und einen Zugang zu diesem System zu erhalten, gilt es durch Versuch und Irrtum eine nutzbare Vorstellung von der Operationsweise und dem Problem dieses Menschen zu bekommen. Daraus ergibt sich kein Anspruch auf objektive Richtigkeit oder Wahrheit. Der Wert dieser Rekonstruktion misst sich ausschließlich daran, ob das Ausmaß an Leiden reduziert wird. Dazu findet man zahlreiche methodische Hilfsmitteln aus dem Bereich der systemischen Intervention: Paradoxien, paradoxe Intervention, Double Bind (z.B. Milton Erikson, Viktor Frankl, Zen, Watzlawick, Gregory Bateson) das Durchspielen von illusorischen Alternativen, Rollenspiele, das Erzählen von strukturell an die Probleme angepassten Geschichten und Metaphern, außerdem Witz und Humor (Eulenspiegel, Nasredin Hoca). Eine besonders gut strukturierte, einfache, systemische Intervention finden wir bei Bandler und Grinder. Das Ziel ist eine Kontextveränderung, die der Klient selber vollzieht. Dabei wird durch Umdeutung einer Situation oder einem Geschehen eine andere Bedeutung bzw. ein anderer Sinn zugewiesen, und zwar dadurch, dass man versucht, die Situation in einem anderen Kontext (oder "Rahmen") zu sehen. Dieses Verfahren nennt sich Reframing. Als Berater sollte man sich jedoch hüten, all diese Verfahren als feste Rezepte zu nehmen. Sie sind nur Hilfsmittel in einem gemeinsamen Tanz, dessen Ergebnis das Leben des Leidenden erträglicher machen soll, als es vorher war.

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siehe auch Utilisation im NLP, Hypnose, Achtsamkeit in der Meditation

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Literatur Bandler, R. und Grinder, J. (1975) The Structure of Magic I: A Book About Language and Therapy (dt.: Metasprache und Psychotherapie. Die Struktur der Magie I. Paderborn: Junfermann 1981). Bandler, R. und Grinder, J. (1976) The Structure of Magic II: A Book About Communication and Change. (dt. : Kommunikation und Veränderung. Die Struktur der Magie II. Paderborn: Junfermann 1982). Bandler, R. und Grinder, J. (1982) Reframing. Neurolinguistic programming and the transformation of meaning. 1982 (dt.: Reframing. Ein ökologischer Ansatz in der Psychotherapie (NLP). Paderborn: Junfermann 1985). Frank Farrelly, Jeff Brandsma: Provokative Therapie. Springer, Heidelberg 1986. Feyerabend, Paul (1975) Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main: Suhrkamp (stw 597). Lakatos, Imre (1982) Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme, Braunschweig: Vieweg. Kuhn, Thomas S. (1962) The Structure of Scientific Revolutions, Chicago, 2. erw. Ausg. 1970 (dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp STW 25). Kuhn Thomas S. (1977) The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago: University of Chicago Press (dt.: Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1978, STW 236) Maturana, Humberto (1982) Erkennen : Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig. Vaihinger, Hans (1911) Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche; Neudruck 1986. Watzlawick, Paul (1988) Münchhausens Zopf oder Psychotherapie und „Wirklichkeit“. Bern: Huber. Watzlawick, John H. Weakland, R. Fisch (1974) Lösungen – Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern: Verlag Hans Huber. Willke, H. (1982) Systemtheorie I: Eine Einführung in die Grundprobleme, Stuttgart: Fischer UTB. Willke H. (1994) Systemtheorie II: Interventionstheorie. Einführung in die Theorie der Intervention in komplexe Sozialsysteme, Stuttgart: UTB 1800. Willke, H. (1995) Systemtheorie III: Steuerungstheorie, Stuttgart: Fischer, UTB Wittgenstein, Ludwig (1969) Über Gewissheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Philos ophieren mit Kindern und J uge ndliche n z um Beis piel übe r Fra ge n aus der Ethik EVA ZOLLER MORF

Abstract Ob Philosophieren mit Kindern als eine Methode des praktischen Philosophierens bezeichnet werden kann, wird hier untersucht mit dem Ergebnis, dass es sich zumindest um einen pädagogischen Ansatz handelt, der den Heranwachsenden philosophische Gedanken zutraut. Die entwicklungspsychologischen Theorien von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg lassen den Schluss zu, dass die Ermutigung zum Selberdenken schon bei Kleinkindern Sinn macht und sie dem Ziel der Mündigkeit sowohl im kognitiven als auch emotionalen Bereich näher bringt. Mit der Methode des „Caring Thinking“, die seit einigen Jahren beim Philosophieren mit Kindern mit Erfolg angewendet wird, lässt sich die Verbindung von Gefühl und Verstand als „moralische Bildung“ fördern.

„Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht.“ Blaise Pascal

Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, als einige Philosophie-Professoren in den Vereinigten Staaten den Mangel an logischem Denken bei ihren Studierenden beklagten, ist das Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen allmählich bekannt geworden als ein didaktischer Ansatz, der diesen Missständen entgegen wirken sollte. Erste Curricula für Schulen wurden entwickelt und sind seither in vielen Ländern von Amerika bis Australien, von Finnland bis Spanien im Einsatz. In Deutschland wurden vor allem die Ideen von Gareth B. Matthews, einem der amerikanischen Wegbereiter der P4C – Philosophy for Children – rezipiert und insbesondere an der Universität von Hamburg durch Professor Ekkehard

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Martens und mehrere seiner DoktorandInnen und späteren KollegInnen weiter entwickelt. Philosophieren soll als vierte Kulturtechnik neben dem Lesen, Schreiben und Rechnen etabliert werden. Für das Fach „Ethik“ oder „Werte und Normen“ wurden zahlreiche Lehrmittel entwickelt und in einzelnen Bundesländern sogar eine neues Fach „Philosophieren mit Kindern“ eingerichtet. Im Unterschied dazu entstand im österreichischen Graz ein Kinderphilosophie-Institut, das den vorwiegend logisch-argumentativen Ansatz des anderen Pioniers, Professor Matthew Lipman, aufnahm und in wissenschaftlich begleiteten Schulversuchen ausprobierte und noch immer weiter entwickelt. In der Schweiz gibt es das Fach „Mit Kindern philosophieren“ erst an einigen Pädagogischen Hochschulen, wo Lehrpersonen für die Volksschule und den Kindergarten im „Philosophieren“ selbst mit den Kleinsten ausgebildet werden. In Anführungsstrichen steht der Begriff hier, weil man sich zu Recht fragen darf, ob es sich nicht eher um einen pädagogischen Ansatz handle, der zeitweise aber eben auch philosophische Fragen und Themen aufgreift. Als Ermutigung zum Selberdenken, als aufklärerisches Anliegen, sich seines Verstandes zu bedienen, darf solch frühes „Philosophieren mit Kindern“ m. E. aber allemal gelten. Erweitert wird dieser Ansatz um nonverbale, theatrale Methoden und visuelle Medien wie zum Beispiel Bilderbücher, und zusätzlich fließen Kommunikationsansätze aus der humanistischen Psychologie und Pädagogik mit ein. Vor allem im Unterricht der Primarschulen und Kindergärten werden Gedanken nicht nur diskursiv, sondern auch in präsentativer Form ausgedrückt. Kinder malen Bilder, die selbst den Kleinsten helfen, über abstraktere Dinge zu sprechen, oder sie zeigen Erkenntnisse in Rollenspielen vor. Die hauptsächliche Methode aber gleicht der sokratischen Mäeutik: Lehrpersonen und Erzieherinnen – oder auch Eltern und Grosseltern, die diese Methode in Kursen lernen können – leisten durch geschickte „Hebammenfragen“ Geburtshilfe für die „Weisheit“ der Kinder. Mehr über die Geschichte der Kinderphilosophie und deren sich stets weiter entwickelnde unterschiedliche Ausformungen und Methoden habe ich im ersten gemeinsamen Buch des Netzwerks philopraxis.ch „Lebendiges Philosophieren – Philosophische Praxis im Alltag“1 ausführlich beschrieben. Im Folgenden werde ich mich bei der Beschreibung der Methode des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen auf die Ethik konzentrieren.

Moralische Erziehung „auf Philosophisch“ Philosophieren mit Kindern beschränkt sich zwar nicht auf Fragen der Ethik, doch sind es besonders häufig diese Themen, welche im Zusammenhang mit Erziehung sowohl die Kinder als auch deren Eltern und Lehrpersonen im Alltag be1

2005 ebenfalls beim transcript-Verlag, herausgegeben von Detlef Staude und zur Zeit noch erhältlich

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schäftigen. Hatte man früher die Kinder „mores“ gelehrt, ihnen Sitten und Anstand per Machtgefälle beigebracht und allfällige Verstöße ohne lange Diskussionen sanktioniert, so wird dank Reformpädagogik und humanistischer Psychologie heute doch meistens wenigstens an die Vernunft der Kinder appelliert, anstatt sich auf Moralpredigten zu beschränken. Hier liegt die Chance für das Philosophieren mit Kindern, und selbst in der religiösen Erziehung hat man begonnen dessen Möglichkeiten zu schätzen. Man nennt es dann „Theologisieren“, wenn die Basis der christlichen Grundannahmen zwar unangetastet bleibt, die davon abgeleitete Moral jedoch immerhin in Frage gestellt werden darf. Über Werte, Normen und Moral, die unser Leben bestimmen sollen, auch mit Kindern und Jugendlichen nachzudenken, das ist praktisches Philosophieren. Wir diskutieren mit den Heranwachsenden, an welchen Werten wir unsere Entscheidungen und Handlungen messen wollen und sollen. Wir fragen uns gemeinsam: Was ist gut, was ist böse? Und wer bestimmt dies? Mit welcher Berechtigung? Was dürfen oder müssen wir tun? Wie sollen wir leben? Während wir bei Themen der philosophischen Anthropologie umfassend fragen: Was ist der Mensch seinem Wesen nach?, konzentrieren wir uns im Teilbereich Ethik auf die Frage: Wann sind wir gute Menschen? Und: Was ist überhaupt „gut“ zu nennen? Eine religiös geprägte Moral kann sich für Antworten zu diesen Fragen auf Gott und auf heilige Texte berufen, Philosophen und Philosophinnen aber sind auf die Vernunft und die Logik angewiesen, wenn sie über Moralvorstellungen und deren Gültigkeit, Entstehung und Veränderungen im Laufe der Zeit nachdenken und zu begründen versuchen, welche Richtlinien wir eigentlich brauchen und wozu wir ihnen folgen sollten. Aber genügen dazu die traditionellen kritischen und die kreativen Denkwerkzeuge? Für das Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen wird zusätzlich das so genannte „Caring Thinking“ vorzustellen sein als eine wertvolle und meiner Meinung nach sogar unverzichtbare Ergänzung. Weltweite neuste Entwicklungen der so genannten Kinderphilosophie wurden 2007 an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe im Reader „Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter“2 zusammen getragen und bei Peter Lang veröffentlicht. Darin kommen in mehreren Beiträgen die psychologischen und pädagogischen Ergänzungen der Kinderphilosophie-Methodik zur Sprache, weil in einer alltagstauglichen Ethik die Emotionalität des Menschen stärker beachtet werden muss. So schreibt zum Beispiel der australische Philosoph Philip Cam in seinem Artikel „‚Fakt‘ und ‚Wert‘ – ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ im Kontext des Philosophierens mit Kindern“ über ethisches Denken:

2

Eva Marsal, Takara Dobashi, Barbara Weber, Felix G. Lund (Hrsg.): Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter – Konzepte des Philosophierens mit Kindern, Frankfurt am Main 2007

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„Es handelt sich dabei nicht um ein Denken, das sich auf Befriedigung unserer primären Wünsche richtet, sondern um ein Denken dahingehend, die Art von Mensch zu werden, die wir sein wollen – dahingehend, diejenigen Wünsche, Gewohnheiten und Einstellungen zu haben, die wir aufgrund unserer Reflexion haben wollen. Es handelt sich um essentiell moralisches Denken in Richtung auf eine Selbstformung.“ (S.103) „... über uns selbst nachzudenken, (macht) uns zu Menschen mit einer breiteren moralischen Basis.“ (S. 108) „Dies bedeutet, dass in der Communitiy of Inquiry Werte nicht als gegebene, unzweifelhafte Endgültigkeiten angesehen werden, sondern eher als Prinzipien, über die man nachdenken sollte, als Praktiken, die untersucht werden sollten, als Wege, die erforscht werden sollten und als Richtungen, die gewählt werden sollten, während wir lernen, unseren Weg in unser Leben zu finden.“ (S. 110)

Die Bezeichnung „Communitiy of Inquiry“ („Untersuchungsgemeinschaft“) meint dabei die Gemeinschaft der philosophierenden Kinder einer Schulklasse unter der Leitung einer Lehrperson, die als Moderator/in („facilitator“) das Gespräch strukturiert und begleitet. Eine solche Gemeinschaft könnte aber auch aus einer Familie bestehen, bei der sich alle gleich berechtigt um ein Gespräch bemühen, das philosophischen Charakter hat.

„Caring Thinking“ Ann Margaret Sharp, Mitbegründerin der amerikanischen P4C, beschreibt im selben Buch3 eine dritte Art des Denkens neben dem kritischen und dem kreativen: das „Caring Thinking“. Dies lässt sich – zwar etwas unbeholfen – übersetzen als „fürsorglich teilnehmendes Denken“. In ihrem Artikel „Unterrichtsgegenstand Gefühle: das Klassenzimmer als Communitiy of Inquiry“ schreibt sie (S. 205): „Caring Thinking stützt sich auf Kommunikation, aktives Zuhören und Übersetzen, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Verständnis und Dialog. Integriert in gemeinschaftliches dialogisches Fragen stellt es eine Erziehung und Bildung auf der Ebene von Gefühlen dar, einen notwendigen Bestandteil globaler Intelligenz. Durch dieses Denken sollen Bewusstsein für andere, Dialogfähigkeit, Verständnis und forschendes Fragen gefördert werden.“

In Anlehnung an ein Werk ihres inzwischen emeritierten Kollegen Matthew Lipman4 beschreibt Sharp sodann vier verschiedene, wenn auch nicht voneinander zu trennende Aspekte, die ich hier wie folgt zusammenfasse:

3 4

Siehe S. 3 Thinking in Education, New York 2002

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Das wertschätzende Denken zeigt sich, wenn jemand in konkreten Dingen die Schönheit spüren und genießen kann, sich begeistert über Naturereignisse oder Kunstwerke, aber auch in unscheinbaren Kleinigkeiten einen hohen Wert entdeckt und schätzt. Wertschätzung zeigt sich auch, wenn man Abstraktes wie etwa Einstellungen, Verhaltensweisen oder persönliche Eigenschaften wahrnimmt und würdigt. Dies gilt ebenso für den Blick auf andere Gesellschaften und deren Kulturen. Eine Person, die wertschätzend denkt, besitzt intensiv ausgeprägte Gefühle und erhöhte Sensibilität; sie ist sich ihrer eigenen Werte und Maßstäbe bewusst und zeigt die Bereitschaft, diese zu begründen und zu erläutern. Affektives Denken zeigt sich zum Beispiel bei jenen Kindern, die auf Ungerechtigkeiten sowohl emotional als auch kognitiv massiv reagieren. Sie empfinden starke Empathie und empören sich über Unrecht, das unschuldigen Dritten – zum Beispiel Tieren – angetan wird. Damit verbunden ist die Bereitschaft, sich zu engagieren und die Entschlossenheit, einzugreifen, allerdings ohne Gewalt anzuwenden. Aktives Denken haben Menschen, die sich leidenschaftlich einer Aufgabe annehmen und in dieser voll aufgehen. Solche Menschen konzentrieren sich auf die Suche nach einer Lösung für ein Problem, anstatt sich von Hilflosigkeit überwältigen zu lassen. Sie haben ein erhöhtes Bewusstsein des Anderen, denken mitfühlend und zeigen die Bereitschaft, durch Handeln eine Situation zu verbessern Normatives Denken vergleicht das tatsächlich Vorhandene – den Ist-Zustand – mit dem, was sein könnte – dem Soll-Zustand –, um aktiv an einer Verbesserung zu arbeiten. Die globalen Probleme wie Umweltschutz, Tierschutz, Menschenrechte, Armut und Hunger verlangen, dass wir den Egoismus hinter uns lassen. „De-Zentralisierung“ – so nennt es Sharp – ist nötig, um sich an der Ausarbeitung von Lösungen gesellschaftlicher und globaler Probleme zu beteiligen.

Alle vier Aspekte des Caring Thinking gilt es beim Philosophieren mit Kindern bewusst zu machen, einzuüben und zu pflegen, denn „Caring Thinking verleiht den Schülerinnen und Schülern die Macht, ein solides Wertesystem aufzubauen, das als Basis eines vernünftigen, auf Mitgefühl beruhenden Urteils dienen kann. Ausdrucksformen dieses Denkens sind zugleich Urteile und Manifestationen kritischen und kreativen Denkens.“ (a.a.o. S. 206) „Wichtig ist, dass Kinder lernen, alle Seiten einer Angelegenheit zu diskutieren, indem sie die in der Gruppe vorhandenen vielfachen Perspektiven berücksichtigen und darauf achten, wie der Einzelne durch Sprache und Verhalten der andern beeinflusst wird.“ (S. 209)

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„Caring Thinking fördern heißt Gefühlstiefe, Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn zu fördern und Schulkindern Strategien zu vermitteln, wie sie durch Rückgriff auf den Dialog auf konstruktive und gewaltlose Weise reagieren können.“ (S. 211)

Idealerweise geschieht dies mittels Philosophieren in einer schulischen oder privaten „Community of Inquiry“. Um dies zu fördern empfiehlt Sharp (bzw. Lipman) deshalb, in den Schulen ein hohes Maß an Partizipation zu ermöglichen, und ich meine, das Selbe gilt auch für Elternhäuser. Kinder sollen mitentscheiden bei allem, was sie betrifft, so wie es im Übrigen ja auch die Unicef–Charta der Kinderrechte vorschreibt. Das Philosophieren mit Kindern in allen drei genannten Dimensionen ist die dafür geeignetste Methode.

Wie kann das Philosophieren moralisches Denken fördern? Um diese Frage in Bezug auf Kinder und Jugendliche zu klären, müssen zwei entwicklungspsychologische Ansätze kurz beschrieben werden: Der Schweizer Jean Piaget (1896 – 1980) stellte anhand breit angelegter Versuche und Beobachtungen fest, wie sich das allgemeine kindliche Denken stufenweise entwickelt. Auf dieser Theorie aufbauend untersuchte sein amerikanischer Kollege Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) später das moralische Urteilsvermögen. Die beiden Forscher sind sich einig, dass Kinder sich bis zu einem Alter von etwa zwei Jahren noch in einer vor-moralischen Stufe befinden, das heißt, es kommen zwar „Bewertungen“ in Form von „Das macht mir Freude“ (das Kind quietscht vergnügt) oder „Das macht mir Angst“ (das Kind weicht zurück oder weint) vor. Mit Moral aber hat das noch nichts zu tun, weil diese Kinder noch nicht in Kategorien von gut und böse „denken“.

Jean Piagets Stufentheorie des Denkens Mit dem Beginn der ersten Wörter erreicht das Kleinkind die „prä-operationale Phase“. Piaget nannte sie so, weil die kindlichen Denk-„Operationen“ bis zum Schuleintritt immer noch gewissen Einschränkungen unterliegen. Das Kleinkind wird jetzt zwar fähig, Dinge nicht nur zu sehen und zu ertasten, sondern innerlich zu repräsentieren und daher auch zu benennen, selbst wenn sie nicht gerade in seinem Blickfeld sind. Es „denkt“ aber noch eindimensional und egozentrisch. Eine kleine Szene, die ich einst im Nachbarsgarten beobachtete, mag dies illustrieren: Der kaum zweijährige Michael war dabei, auf einem Kindertischchen Teller, Besteck und Tasse bereit zu legen. Die richtigen Plätze für jedes Ding waren auf der Tischplatte markiert. Während der Bub nun alles an seinen Ort legte, begleiteten murmelnde Laute seine Bewegungen. Nur die Tasse fehlte noch, als sich der Klang seiner „Worte“ plötzlich veränderte: Er zeigte nun mehrmals auf das

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Ringlein, wo er die Tasse hätte hinstellen wollen, und dabei machte er fragende Geräusche, die er beim Suchen nach der fehlenden Tasse mehrmals wiederholte. Ich bin mir ganz sicher, dass seine Laute bedeuteten: „Wo ist nur diese Tasse? Da fehlt doch noch die Tasse!“ Noch konnte er das Wort selber zwar nicht sprechen, aber dessen Bedeutung war ihm eindeutig klar. Eine anderes Beispiel zeigt eine von mehreren typischen Einschränkungen des Denkens in dieser Phase: Piagets Versuch mit den Knöpfen. Legt man sieben Knöpfe in eine Reihe und daneben eine zweite Reihe mit ebenso vielen Knöpfen, deren Abstand man dann vor den Augen eines Vierjährigen vergrößert, so wird das Kind sagen, die längere Reihe enthalte mehr Knöpfe, weil es nur die Länge der Reihen in Betracht zieht, aber nicht die Anzahl. Ein weiteres typisches Merkmal dieser Phase ist das Zweckdenken: Die Sonne scheint, damit wir warm haben, das Gras ist grün, damit die Kühe es gern fressen. Dass es auch eine objektive Erklärung dafür gäbe (das Gras ist grün wegen dem Chlorophyll, die Sonne ist heiß, weil sie aus glühendem Gas besteht), liegt seltener im Denk-Horizont eines Kindes auf der prä-operationalen Stufe. Wer dies versteht, wird bei Warum-Fragen der Knirpse eher sinnvoll reagieren können: „Warum schneit es?“ Anstatt Erklärungen über Winter und Temperaturen abzugeben, würde man das Kind dann vielleicht fragen: „Was denkst du denn, wozu es vielleicht gut sein könnte?“ und damit vermutlich seine eigene Sinnantwort provozieren: „Es schneit, damit wir einen Schneemann bauen können!“ Mit solcher Ermutigung zu eigenen Gedanken legen wir erste Grundsteine für das spätere „richtige“ Philosophieren. Ein Vierjähriges hat auch noch Mühe, seine subjektiven Vorstellungen und Fantasien von unserer objektiven, gemeinsamen Wirklichkeit zu unterscheiden: Den Tiger unter dem Bett gebe es wirklich, wird es mit Überzeugung behaupten, Mama sehe ihn nur nicht, weil er sich unsichtbar machen könne! Keinesfalls aber „lügt“ ein Vierjähriges, wenn es behauptet, der Tiger habe es gebissen, denn was es sich vorstellt oder empfindet, ist für das Kind „wahr“ und beinhaltet keine Täuschungsabsicht. Nebenbei sei bemerkt: Nur wenn Sie als Eltern solche Figuren Ernst nehmen und begreifen, dass der Tiger für eine Angst steht, die man notfalls mit einem Besen aus dem Schlafzimmer befördern muss, wird das Kind vielleicht Ruhe geben und endlich einschlafen können. Obwohl in dieser Phase zwar Wertungen vorkommen, handelt es sich dabei nicht um moralische Urteile, da das Kind nicht über gutes oder böses Verhalten reflektiert. Schon ein dreijähriges Kind ist fähig zu erkennen, welche seiner Handlungen erwünscht oder unerwünscht sind. Aber wenn es ausgeschimpft wird oder wütend trotzt, weil es seinen Willen nicht durchsetzen kann, empfindet es nicht sich selbst als böse, sondern nennt eher die Person, die ihm etwas verweigert, z.B. „böse Mama“.

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Die mit 5 bis 6 Jahren einsetzende konkret-operatorische Phase ist noch immer eine Zeit lebhafter Phantasie und für Erwachsene nicht jederzeit leicht nachvollziehbarer Logik. Immerhin beginnt sich jetzt ein Verständnis für moralische Kausalität zu entwickeln. Die von Eltern oder Kindergärtnerin vorgegebenen Werte bilden den Grundstock an wertenden Beurteilungen und moralischen Vorstellungen, aus dem das Kind einen Sinn für gut und böse abzuleiten beginnt. Gutes Verhalten ist vorerst, wofür es gelobt wird. Als böse erlebt es, was gemaßregelt wird. Doch dann erfährt das Kind ab und zu, dass nicht alle das Selbe für gut oder böse halten. Deshalb tauchen möglicherweise jetzt Warum-Fragen zur Moral auf, über die man sogar mit einem Fünfjährigen „philosophieren“ kann, jedenfalls solange man entlang seinen Erfahrungen diskutiert. Der kinderphilosophische „Trick“ dabei ist ganz einfach: Anstatt alle Fragen zu beantworten, geben wir sie – wie oben beschrieben – öfters zurück: „Was denkst du denn, warum man dies oder jenes nicht tun sollte?“ Mit nicht-manipulativer „sokratischer Hebammenkunst“ helfen wir Kindern, eigene Antworten zu finden. Mit etwa zehn oder elf Jahren hat ein Kind nach Piagets Theorie dann die höchste, die formal-operatorische Stufe erreicht: das abstrakte und logische Denken, wie wir es alle mehr oder weniger differenziert benutzen. Nun wird das Schulkind komplexer denken, es versteht Zusammenhänge und Unterschiede, es kann Perspektivenwechsel vornehmen und so ein Problem von mehreren Seiten her angehen. Nun begreift es zum Beispiel auch, warum es gerecht sein könnte, wenn ein Lehrer nicht allen Schülerinnen und Schülern gleich viele Hausaufgaben gibt, obwohl ihm dies auf den ersten Blick doch ungerecht vorkam. Es wird selber Regeln formulieren und logische Schlüsse ziehen können, und es versteht, was eine Verallgemeinerung ist. Piagets Stufentheorie der Entwicklung des Denkens ist in der Psychologie weitgehend anerkannt und wird auch von Eltern, die ihr Kind gut beobachten, in Vielem leicht nachvollzogen und bestätigt werden können. Es ist davon auszugehen, dass die allermeisten geistig gesunden Menschen Piagets Stufen in derselben Reihenfolge (wenn auch nicht unbedingt im selben Tempo) durchlaufen und schließlich im Prinzip alle fähig sind, abstrakt zu denken. Viele von Piagets Nachfolgern halten aber die höchste Phase der DenkEntwicklung für die notwendige Voraussetzung, um „richtig“ philosophieren zu können, doch Kinderphilosoph/innen widersprechen diesen mit dem Argument, dass auch kleinere Kinder mit ihrem Staunen über die Welt und den WarumFragen philosophische Themen berühren, mit denen sie sich – wenn auch mit einer bisweilen etwas eigenwilligen Logik – gern beschäftigen. Für mich ist diese Diskussion aber lediglich ein Streit um unterschiedliche Begriffe von Philosophie, was mir nicht sehr fruchtbar zu sein scheint. Viel wichtiger ist es mir zu verstehen, wie wir selbst kleinen Kindern, die mit Freude und großer Motivation mit „philosophieren“, Hilfen zum Selberdenken anbieten können, und dies auch

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oder gerade bei Fragen zu Werten und der Moral. Dafür bietet die Theorie von Lawrence Kohlberg wertvolle Hinweise.

Lawrence Kohlbergs Stufentheorie des moralischen Urteilens Der amerikanische Psychologe stützte sich auf Piagets Erkenntnisse und stellte fest, dass sich auch das moralische Denken und Urteilen in einem gestuften Ablauf entwickelt: In der vormoralischen Stufe 0 versteht das Kind keine Regeln. Was Spaß macht oder spannend ist, wird als „gut“ erlebt, was mit Angst oder Schmerz verbunden ist, gilt ihm als „böse“. „Du böser Tisch!“ sagt es vielleicht, wenn es sich an ihm gestoßen hat. Präkonventionell nennt Kohlberg die beiden ersten, stark ich-bezogenen Phasen: Stufe 1: Was gutes/böses oder richtiges/falsches Verhalten ist, misst das Kind an den zu erwartenden Folgen. Wie wird es dafür belohnt oder bestraft? Es orientiert sich an der positiven oder negativen Zuwendung, die es erfährt, und akzeptiert fraglos als gut, was die Eltern oder anderen Autoritätspersonen so benennen (was nicht heißt, dass es immer entsprechend handeln will!). Stufe 2: Eine Handlung wird dann als richtig eingeschätzt, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht: Ich gebe dir von meinem Brot und du gibst mir etwas von deinem. Ganz pragmatisch: Hilfst du mir, so helf ich dir. Gut ist, was mir nützt und meinen Wünschen entspricht, allenfalls auch den Wünschen der Nächsten. Diese Haltung ist bei den meisten Schulanfängern anzutreffen. Auch die konventionelle Phase beinhaltet zwei Stufen: Stufe 3: Gut ist jetzt, was Anerkennung findet. Man möchte ein „braves Kind“ sein gemäß den Vorstellungen der Familie oder der Lehrpersonen. Richtiges Verhalten ist das, was „man“ in einer Gemeinschaft tut. Es gefällt den andern, und man findet damit Akzeptanz. Bei manchen Erwachsenen, die ebenfalls auf dieser Stufe des moralischen Urteilens stehen, findet man ein hohes Maß an Konformität. „Das tut man doch nicht!“ oder „Was werden die Nachbarn von uns denken!“ sind typische Sätze von Erwachsenen auf der konventionellen Stufe. Von Kindern wird erwartet, dass sie diskussionslos gehorchen. Sie sollen nicht streiten und schon gar nicht lügen, obwohl es die Erwachsenen offensichtlich auch tun. Beim Philosophieren stellen wir solche allgemeinen Gebote auch einmal in Frage und suchen nach Begründungen, die hoffentlich zu einer differenzierteren Meinung führen oder zumindest den Sinn solcher Wertvorstellungen verständlich werden lassen. Manche konventionellen Eltern schätzen dies vielleicht nicht besonders, aber nach Kohlbergs Theorie wäre genau dies eben die nötige Unterstützung zur Weiterentwicklung des moralischen Urteils, und aus philosophischer Sicht die Chance zur Reflexion und zu selbstständigem Denken! Stufe 4: Hier bildet die soziale Ordnung, die man aufrecht erhalten möchte, den Orientierungsrahmen. Richtiges Verhalten heißt jetzt, in Familie, Schule

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oder Gemeinde seine Pflicht zu tun und den Autoritäten zu gehorchen, damit die ganze Gesellschaft im kleinen oder größeren Rahmen gut funktioniert. Nur wenige Kinder waren laut Kohlberg auf dieser Stufe, bei der geltende Ordnungen den Vorrang haben vor den persönlichen Vorlieben. Ich wage allerdings zu behaupten, dass sich mit der Reformbewegung in der Erziehung einiges geändert hat, und dass auch Neun- oder Zehnjährige heute vermehrt die Stufe 4 erreichen können, besonders wenn man sie partnerschaftlich zu selbstständigem und fürsorglich teilnehmendem Denken erzieht. Die post-konventionelle, autonome oder Prinzipien geleitete Phase: Stufe 5 kann nur ungefähr bei jedem fünften Erwachsenen erwartet werden. Es ist die Orientierung am Gesetz oder am Sozialvertrag, weil man um die Relativität persönlicher Werthaltungen und Meinungen weiß. Doch die Gesetze darf man auch in Frage stellen, solange man mit sachlichen Argumenten und zum Nutzen der Gesellschaft debattiert, und durch Konsensfindung müssten selbst soziale Übereinkünfte abgeändert werden können. Konflikte löst man durch rationales Abwägen der ihnen zugrunde liegenden Werte und Prinzipien, so wie die Philosophen es tun und die mit Kindern philosophierenden Lehrpersonen es in Schulklassen aufzubauen versuchen. In den Jugendparlamenten kann man erleben, wie kreativ und engagiert junge Menschen diskutieren, vor allem, wenn sie nicht nur das rationale Denken gelernt haben, sondern auch das fürsorglich teilnehmende „Caring Thinking“ anwenden. Stufe 6 schließlich orientiert sich an Autonomie und an ethischen Prinzipien, die man als allgemein gültig anerkannt hat, zum Beispiel an der Freiheit, der Gerechtigkeit, den Menschenrechten, dem Respekt vor der Würde des Menschen als individueller Person. Sie alle zählen im Zweifelsfall mehr als bestehende Gesetze, die man ansonsten durchaus achtet. Wer moralisch auf Stufe 6 steht, muss Weitblick und Verständnis für komplexe Zusammenhänge entwickelt haben, um andere überzeugen zu können, dass manchmal selbst Gesetze verändert werden müssen, wenn es um höhere Werte geht. Doch machtvoll ausgeübte Rhetorik ist nicht das geeignete Instrument dazu. Deshalb hat der deutsche Philosoph Jürgen Habermas Kohlbergs Theorie die so genannte „Diskursethik“ als Methode hinzu gefügt. In seinem Buch „Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln“ (1983) über den gewaltfreien Dialog hielt er fest, „dass nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, welche die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“. Und genau in solche gewaltfreien Dialoge wollen wir uns beim Philosophieren im kleinen Kreis der Familie oder einer Schulklasse einüben. Nach Kohlbergs Theorie erreichen allerdings die meisten Menschen gar nie die höchste Stufe, sondern sie bleiben auf der konventions- und gesetzestreuen Stufe 4 oder allenfalls auf der postkonventionellen Stufe 5 stehen. Wie Piaget betont auch Kohlberg, dass keine Stufe übersprungen werden könne. Im Gegensatz zu

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Piaget jedoch, der die Entwicklung des Denkens für kaum beeinflussbar hielt, sah Kohlberg die Möglichkeit, das moralische Denken und Urteilen ein Stück weit voran zu treiben. Er entdeckte, dass Menschen, die man öfters mit Argumenten der jeweils nächst höheren Stufe konfrontiert, dazu neigen, ebenfalls den Schritt dorthin zu vollziehen. Dass dies tatsächlich funktioniert, hat Kohlberg unter anderem in einigen Gefängnissen mit jugendlichen Häftlingen zeigen können, indem er dort so genannte „Just Communities“ (gerechte Gemeinschaften) etablierte, wo Konflikte in einer Gruppe argumentativ angegangen wurden und man gemeinsam nach Lösungen suchte. Dieser Ansatz wurde danach auch auf Schulen übertragen und wird in Form von Klassenräten schon vielerorts mit Erfolg weiter geführt. Auch mit Dilemma-Geschichten können Kinder fast jeden Alters ihre moralische Urteilsfähigkeit steigern. Dabei spielt das ethische Philosophieren natürlich eine zentrale Rolle, und weil in den meisten Diskussionen Argumente verschiedener Entwicklungsstufen fallen, besteht eine gute Chance, dass bei einem Kind der Schritt in die nächst höhere Entwicklungsstufe angebahnt oder sogar vollzogen wird.

V o n d e r T h e o r i e z u r P r a x i s , vo m D e n k e n z u m H a n d e l n Von den eindrücklichen Theorien der Entwicklungspsychologen lernen wir besser zu verstehen, wie Kinder denken. Leider ist es aber eine bekannte Tatsache, dass wir Menschen nicht immer so handeln, wie wir es theoretisch vielleicht für gut befinden! Schon Sokrates hatte sich geirrt, als er meinte, wer das Gute kenne, würde es auch tun! Die Geschichte und eigene Erfahrungen beweisen leider nur all zu oft das Gegenteil! Inzwischen hat auch die Psychologie zahlreiche Gründe dafür entdeckt, wie es kommt, dass wir alle häufig gegen besseres Wissen falsche oder sogar schlimme Dinge tun. Milgrams berühmt-berüchtigtes GehorsamkeitsExperiment ist nur ein – schreckliches! – Beispiel dafür. Wer meint, die Verantwortung für sein Handeln auf jemand anderen – bei Milgram den Versuchsleiter – abschieben zu können, tut unter Umständen Dinge, die er aus persönlichen Prinzipien eigentlich nie befürworten würde. Unreflektierte Gefühle können Ähnliches bewirken: „Blinde“ Wut richtet Zerstörungen an, die wir hinterher bitter bereuen. Ängste können uns lähmen, Ohnmachtsgefühle vom notwendigen Eingreifen abhalten... Wie helfen wir also Kindern, nicht nur Einsichten zu gewinnen, sondern auch angebrachtes Verhalten zu entwickeln und Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen? Es ist meine tiefe Überzeugung, dass altersgemässes „Philosophieren“ mit den Kindern, wie ich es in meinen eigenen Büchern (siehe Literaturliste) beschreibe, viel dazu beiträgt. Die Voraussetzung aber ist, dass Eltern und Lehrpersonen bereit sind, die angestrebten Werte vorzuleben und den Kindern ihrer Entwicklungsstufe entsprechend Verantwortung zu übergeben – auch für ihr Denken.

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In seinem Buch „Moral ist lernbar“5 plädiert Georg Lind, Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität von Konstanz, für eine moralische Bildung, welche die Handlungsfähigkeit mit einschließt. „Moralische Bildung im Sinne der Förderung wirklicher Handlungsfähigkeit kann also nur gelingen, wenn vertraute Arbeitsteilungen zwischen Fach und Moral, zwischen Kognition und Emotion überwunden und eine integrative Bildung angestrebt werden“ (S.25). Lind schlägt zu diesem Zweck in seinem Handbuch Kohlbergs DilemmaMethode mit Einbezug der Habermas’schen Diskurstheorie vor, damit Jugendliche lernen, auch in schwierigen sozialen Konfliktsituationen Probleme vernunftgeleitet zu lösen. Dabei betont er immer wieder das Zusammenspiel von Gefühl und Verstand, welches diese philosophische Pädagogik zu fördern habe. Schulen sollen Fächer übergreifend Impulse zu Kritik und selbstständigem Denken setzen, sie sollen die Heranwachsenden aber auch zur Verantwortungsübernahme anhalten und von ihnen reflektierte Entscheidungen einfordern. Diese „Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion“ gleicht weit gehend jenem pädagogischen Ansatz von Kinderphilosophie, der mit Einbezug des „Caring Thinking“ ganz ähnliche Ziele verfolgt: vernunftgeleitete moralische Urteils- und Diskursfähigkeit, welche von gegenseitiger Achtung und Kooperationsbereitschaft zeugt und an Stelle von Konkurrenzdenken das Miteinander betont. Mit Pro- und Kontra- Argumenten und sorgfältigem Begründen versucht die „Communitiy of Inquiry“ nach Antworten, die nicht nur durch Rhetorik glänzen, sondern auch von emotionaler Kompetenz geprägt sind und sich im alltäglichen Handeln bewähren. Lind gibt in seinem Handbuch nebst der Theorie ganz praktische und nachspielbare Beispiele von Dilemmata, und er zeigt auch im Detail, wie man damit philosophische Gespräche initiiert. Weitere Arbeitsmaterialien für einen philosophischen Unterricht mit Jugendlichen sind z.B. zu finden in einem schweizerischen Philosophie-Lehrmittel. Es heißt: „Lust zu philosophieren? – Philosophische Lebenskunde6“. Im Kommentar dazu listen Heini Grundmann und Simone Lehner die Ziele auf, welche sie (und mit ihnen alle Kinderphilosophinnen und Philosophen) beim Philosophieren mit Jugendlichen anstreben. Erste Schritte in Richtung dieser Ziele können meines Erachtens aber bereits im Kindergarten angeregt und auch erreicht werden, und im Laufe der Grundschule sollten die Kinder immer wieder Gelegenheiten bekommen, sich im Philosophieren zu üben und sich diesen Zielen anzunähern: „Die Schülerinnen und Schüler sollen angeleitet werden zu reflektierendem Denken,

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Moral ist lernbar - Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Oldenbourg Schulbuchverlag, München 2003 2005 bei Orell Füssli Verlag Zürich

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sich klar und richtig auszudrücken, nach Gründen und Beweisen für das, was gesagt wird, zu suchen, Alternativen, passende Vergleiche und hilfreiche Beispiele zu finden, notwendige Schlüsse zu ziehen, voreilige Schlüsse und Verallgemeinerungen zu vermeiden, sinnvolle Analogien und Unterscheidungen zu machen, sinnvolle Fragen zu stellen, welche die Aufmerksamkeit auf das zentrale Problem lenken, beharrlich an der gewählten Frage zu bleiben und sie von vielen Seiten zu beleuchten; Selbstverständliches aus neuem Blickwinkel anzusehen und sich zu fragen: Ist es wirklich so, wie ich es bisher gesehen oder verstanden habe? Meinungen aller Beteiligten anzuhören und nach Gründen zu suchen, welche die Ansichten stützen oder aber auch in Frage stellen könnten, Immer wieder die Wörter und Begriffe, die man benutzt, zu klären. Was versteht man unter diesem Ausdruck?“

Wie man beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen ganz praktisch vorgeht, um sich diesen Zielen zu nähern, ist in vielen weiteren Lehrmitteln und Praxishilfen nachzulesen, die inzwischen auf den Markt gekommenen sind. Einige davon sind hier auf der Literaturliste zu finden, andere biete ich in den Literaturlisten meiner Website www.kinderphilosophie.ch (mit Kommentaren versehen) an.

Literatur Cam, Philip (2007): ,Fakt’ und ‚Wert’ – ‚Sein’ und ‚Sollen’ im Kontext des Philosophierens mit Kindern“. In: Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter – Konzepte des Philosophierens mit Kindern, hs. v. Eva Marsal u.a., Karlsruhe, S. 99-112. Grundmann, Heini/Lehner, Simone (2005): Lust zu philosophieren?– Philosophische Lebenskunde, Zürich (Schülerheft für Sekundarschulen I und LehrerKommentar). Marsal, Eva/Dobashi, Takara/Weber, Barbara/Lund, Felix G. (Hg.) (2007): Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter – Konzepte des Philosophierens mit Kindern, Karlsruhe. Martens, Ekkehard (1999): Philosophieren mit Kindern – Eine Einführung in die Philosophie, Stuttgart. Sharp, Ann Margaret (2007): „Unterrichtsgegenstand Gefühle: Das Klassenzimmer als Community of Inquiry“. In: Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter – Konzepte des Philosophierens mit Kindern, hg. v. Eva Marsal u.a., Karlsruhe, S. 205-220.

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Zoller Morf, Eva (2010): Selber denken macht schlau – Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen / Anregungen für Schule und Elternhaus, Bern. Dies. (2006): Philosophische Reise – Unterwegs mit Kindern auf der Suche nach Lebensfreude und Sinn, Zürich. Dies. (2008): „Die grosse Frage – Mit Kindern und Jugendlichen auf der Suche nach Sinn“. In: Das OrientierungsLos, hg. v. Volkbert M. Roth/Detlef Staude, Konstanz, S.56-66. Dies. (2005): „Philosophieren mit Kindern – Eine zukunftsträchtige Aufgabe für pädagogisch begabte Philosophische Praktikerinnen und Praktiker“. In: Lebendiges Philosophieren – Philosophische Praxis im Alltag, hg. v. Detlef Staude, Bielefeld, S. 57-69. Weitere Literatur siehe insbesondere den Reader von Marsal und das Bändchen von Martens. Teile des vorliegenden Beitrags von Eva Zoller Morf sind mit freundlicher Genehmigung des Verlags Zytglogge, Bern, ihrem neuen Buch „Selber denken macht schlau“ (2010) entnommen.

Worum ge ht’s da eige ntlic h? Philos ophisc hes z um So-tun-a ls-ob in der Schule MARKUS WALDVOGEL

Abstract Praktizierende Philosophen müssen sich per definitionem mit Bildung beschäftigen. Ihre Art zu fragen unterscheidet sich aber von derjenigen der Pädagogen, Bildungspolitiker und Ökonomen. Zudem arbeiten sie oft auch als Lehrer. In den Bereichen der Bildung und Ausbildung besteht nun ein wachsendes Bedürfnis nach gedanklich klar fundierter, mit allen Beteiligten erarbeiteter Orientierung. Bildung ist teuer und rückt deshalb vermehrt in den Blickwinkel der Sparapostel. Dabei obsiegen oft kurzfristige Argumente. Philosophen in der Schulpraxis (und anderswo) müssen auf humanistische Argumentationen mit demokratischer Legitimation bestehen. Ziele, Begriffe und Menschenbilder der aktuellen bildungspolitischen Debatte verlangen nach kritischer Überprüfung. Im Folgenden, grundsätzlichen Text geht es in erster Linie darum. Zusätzlich werden in einem engen Zusammenhang damit fünf methodische Schritte praktisch-philosophischen Coachings beschrieben.

Bildung ist „in“. Zumindest als Thema. In der Öffentlichkeit wird gestritten, was Bildung denn ausmache, wer sie wie organisieren soll und wer sie zu finanzieren habe. Bildungspolitik wird so aktiv wie selten, ja geradezu rastlos betrieben. Wer die Argumentationslinien der Bildungspolitiker verfolgt, bekommt unweigerlich einen Eindruck davon, wie die Bereiche „Schule“ und „Weiterbildung“ gesellschaftliche Auseinandersetzungen spiegeln. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine neue Bildungsinitiative gestartet wird, kaum ein Parteitag geht ohne bildungspolitische Kernaussagen über die Bühne und wer als Industrieführer etwas auf sich hält, gibt selbstverständlich regelmäßig Bildungsratschläge zum besten. Die gesellschaftspolitischen Kämpfe werden auf dem Spielfeld der Bildung ebenso ausgetragen wie in Parlamenten, Verwaltungsräten und betrieblichen Chefetagen.

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Bildung erscheint so als äußerst zentrales Thema der Wissens- und Konkurrenzgesellschaft. Der Begriff „Bildung“, wie wir ihn brauchen, hat sich indes erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt. In der griechischen Antike bedeutete Paideia die Einführung des Menschen in seine Lebenswelt. Paideia hatte sowohl eine sachliche, moralische, „politische“ und eine philosophische Ausrichtung. Letztere stand für die höchste Form menschlicher Praxis. Mit dem Höhlengleichnis und im Anschluss daran kritisiert Platon den Erziehungsbegriff der „Sophisten“, die meinten, man könne den Lernenden Wissen einpflanzen. „… dann müssen wir zu der Überzeugung kommen, dass die Erziehung nicht so ist, wie sie manche (=die Sophisten, der Verf.) in ihren Ankündigungen beschreiben. Sie sagen, das Wissen, das nicht Seele ist, das pflanzten sie ein, wie wenn sie blinden Augen die Sehkraft einsetzten.“1

Dem stellt Platon eine völlig andere „Sicht“ entgegen. Die „geistige Kraft in der Seele“ des Einzelnen muss auf „das Hellste des Seienden“ ausgerichtet werden; „…dies Hellste aber ist, wie wir sagen, das Gute“. Diese Neuausrichtung, diese „Umwendung“, ist das eigentliche Ziel der Erziehungskunst. Die geistige Kraft der Seele muss dem Idealen zugewendet werden. Dies geschieht, körperlichen Übungen verwandt, „durch Gewöhnung und Übung“. Platon hebt nun die „Fähigkeit des Denkens“ hervor, die „etwas Göttliches in sich“ habe und durch die Umdrehung „brauchbar und nützlich“ werde. Ohne die Ausrichtung auf das Gute aber ist das bloße Denken wie ein scharfes Schwert, das wahllos alles vernichten kann, geführt von „armen Seelen“. „Oder hast du (Glaukon) noch nicht die schlechten, verschmitzten, aber sehr klugen (Ergänzung nach dem Kommentar von Karl Vretska) Leute beobachtet? Wie scharf schaut ihre arme Seele und zergliedert genau die Dinge, denen sie sich zuwendet, da ja ihre Sehkraft […] gezwungen ist, der Schlechtigkeit zu dienen; je schärfer sie daher blickt, um so größeres Unheil verursacht sie.“2 Platon lehnt ein nur faktisches Wissen ab, und er glaubt auch nicht, dass die Haltung eines Menschen von seinem Wissensstand abhänge. Dieser ist aber, als (moralische) Einsicht, Voraussetzung, um im Gemeinwesen wirken zu können.

1 2

Platon (2000), S. 332 Platon (2000), S. 333

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Methodenschritt 1: Demokratische Vernetzung Wir praktizierenden Philosophen vergleichen die moderne Ansicht von Erziehung und Unterricht durchaus mit antiken Auseinandersetzungen um die Paideia. Als wichtigste Differenz zu ihr fällt die Instrumentalisierung und Institutionalisierung ins Gewicht. Bildung wurde an Fachleute und staatliche Einrichtungen „übergeben“. Sie erhielt dadurch erst ihren eigentlichen „Dienstleistungscharakter“. Sie wurde handhabbar, lenkbar und leichter an die öffentlichen Bedürfnisse anpassbar. Die darauf bauende Lernschule wurde immer zielgerichteter, bezahlte aber den Preis, ihre umfassende geistige und lebensweltliche Orientierung einer utilitären Verkürzung hintanstellen zu müssen. Das Ausmaß dieser Verkürzung macht den strittigen Punkt in der neuzeitlichen pädagogischen Diskussion aus. Im philosophischen Gespräch mit Lehrpersonen – das können immer auch Behördenmitglieder, Eltern oder Schülerratsvertreter sein; der Einfachheit halber reduziere ich das in der Folge mit dem Kürzel LP– geht es um die Gewissheit, dass die demokratisch legitimierten Bildungsziele (Zweckartikel in Bildungsgesetzen, verfassungsmäßige Aussagen) in vielen Fällen jene LPs stärken können, die sich von der „pragmatischen Wende“ gleichsam überflutet fühlen. Das Beschaffen von Unterlagen zur Bildungsphilosophie der Gemeinschaft ist ein aufklärerischer Akt, der Ressentiments („Irgendwie ist es doch so, dass…“) und Ungenauigkeiten beseitigt und auch aufzeigen kann, wo eine zu technokratische oder alltagspolitische Ausrichtung des schulischen Geschehens sich nicht mit den einmal vereinbarten politischen Positionen verträgt. Es lohnt sich, Bildungsziele genau zu kennen, um die eigene Argumentation zu schärfen und demokratisch schlechter untermauerte „Selbstverständlichkeiten des Alltags“ in Frage zu stellen. Das philosophische Coaching übt mit LPs Fragen für Konferenzen, Arbeitsgruppen, allgemeine Sitzungen, Elterngespräche etc. ein. Wichtig ist dabei, dass diese Fragen nicht rechthaberischen Charakter haben dürfen, sondern voll auf die Sache zielen. Der Einwand: „In Art. 17 steht aber doch…und Sie gehen darauf gar nicht ein…“, sollte ersetzt werden durch die Frage: „Welche Gedanken von Art. 17 haben Sie in Ihrer Darstellung berücksichtigt…?“ Das philosophische Ziel kann nur sein, gleichsam die demokratische Vernetzung einzelner, oft isolierter „Maßnahmen“ der Bildungsbürokratie und durchaus auch konkreter „Vorgesetzter“, ja sogar Kolleg/innen einzufordern. Dadurch wird bestehendes Unbehagen auf eine Ebene der gemeinsamen Vernunft gebracht. In Anlehnung an Kant und Habermas schimmert „Öffentlichkeit“ in die Konferenzräume und Schulstuben mit dem Effekt eines gewissen Schutzes vor Willkür durch Bildungsbeamte und isolierte Entscheidungsträger.

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In den Augen vieler Reformpädagogen sollte sich Bildung ebenfalls nicht auf ein stetes Mehr an Wissen und Fertigkeiten beschränken, weil Effizienz, Klugheit oder auch Sachverstand allein keine Werte „an sich“ darstellten und auch nicht „einfach so“ zu solchen führen, wie das Bildungspolitiker/innen oft suggerieren. Moderne Pädagogen wiesen und weisen mit allem Nachdruck darauf hin, wie wichtig etwa das Unterlassen unerwünschter Handlungen sei. Nicht bei allem mitzumachen, ist in der Tat ein wesentliches Bildungsziel. In einer Angebotsund Verführungsgesellschaft, wird die Fähigkeit, nein sagen zu können, grundlegend. Bis vor kurzem wurde das mit dem ungeliebten Begriff „Disziplin“ umschrieben. Heute spricht man unter anderem von präventiven Fähigkeiten oder von Zivilcourage. Gerade weil sich die Bildungsinstitutionen und ihre Vertreter damit in einem Widerspruch zur allgemeinen gesellschaftlichen Praxis mit ihrem Trend zum „homo consumens“ befinden, ist die Forderung, Bildungseinrichtungen müssten sich dem zu direkten Zugriff gesellschaftlicher Entwicklungen widersetzen können, nachvollziehbar. Die Nichteinmischung des Staates in staatliche Einrichtungen ist indes eine schwer zu erfüllende Forderung. Der philosophische Praktiker tut aber gut daran, deutlich zu machen, dass die Aufgabe, ein kritisches Selbstbewusstsein bei den Schüler/innen zu fördern, immer noch „lehrplanrelevant“ ist und die entsprechend weit formulierte Lehrfreiheit in keiner Weise angetastet werden soll. Es scheint zur Zeit tatsächlich so, als ob die staatliche, öffentliche Bildung sich an Werten orientieren würde, die ihrerseits im politischöffentlichen Raum bereits umgewertet wurden oder im täglichen Kampf um Marktanteile gerade bezüglich erzieherisch höchst fragwürdiger Produkte kaum mehr eine Rolle spielen. Dem und der utilitären Verkürzung von Bildung steht der wertkonservative Bildungsbegriff (z.B. mit Inhalten wie der Bewahrung der Schöpfung) diametral entgegen. Die philosophische Praxis in der Schule aber steht genau in diesem Spannungsfeld.

Methodenschritt 2: Widerstandsverortung In der Arbeit mit Lehrpersonen gilt es, Werte im Unterricht, im Schulentwicklungsprozess (z.B. durch die Arbeit an Leitbildern) und in bildungspolitischen Auseinandersetzungen präzise zu thematisieren und das erwähnte Spannungsfeld als Bezugsgröße sichtbar zu machen. Entscheidend ist dabei, dass Lehrkräfte entdecken, wo sie “ihre Philosophie“ (Berufsethik) verorten resp. wirksam machen können. Dabei geht es in entscheidendem Masse um realistische Gestaltungsräume mit einer bewusst bildungs-ethischen Ausrichtung. Die Burnoutforschung hat diesbezüglich wiederholt festgestellt, dass die große Lähmung (Frustration) einerseits Resultat überhöhter Ansprüche (Perfektionismus) und andererseits nicht anpackbarer Konflikte (z.B. Sparpolitik auf dem Buckel der Schulen) ist. Auszuloten, wann Widerspruch im Schulalltag angemessen sei und wann er klüger auf das (politische) Leben außerhalb der Schule fokussiert werden müsste, ist deshalb eine genuin philosophische Frage.

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Im philosophischen Coaching mit LPs steht zunächst einmal der Freiheitsbegriff im Vordergrund: In Anlehnung an Sartres „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“3 (Warum nicht diese Schrift gemeinsam lesen?) soll geklärt werden, dass keine LP in sich den „authentischen Zustand“, der sie zum Handeln drängt, suchen kann noch von einer pädagogischen Moral „die Begriffe erwarten kann“, die ihr zu handeln erlauben. Es ist vielmehr so, dass Lehrpersonen ein Gefühl für Handlungsspielräume entwickeln müssen, die zu ihrer vorgefundenen Situation passen. Fehlt diese Passung, wächst die Gefahr einer (depressiven) Michael-Kohlhaas-Haltung; in Abgrenzung zu Sartre geht es nicht um „die Freiheit“ sondern um Freiheiten gleichsam in homöopathischen Dosen. Anhand von Einzelfallanalysen kann der philosophische Praktiker im Dialog mit der LP gewissermaßen das Terrain („die Spielwiese“) abstecken, auf der – solange innerhalb einer Institution gewirkt wird – Varianten und überraschende Spielzüge entwickelt werden können. Die komplexere Frage nach der „Erweiterung der Kampfzone“ erfordert politisch-philosophisches Gespür. Nüchternheit im Umgang mit der Profession „Lehre“ ist da wohl angebrachter als ein noch bis vor kurzer Zeit überbordender Idealismus, dem vor allem junge LPs ins offene Messer rannten. Die idealistische Gefahr im Lehrberuf dokumentieren auf sehr eindrückliche Weise Schulfilme wie Der junge Törless, Der Klub der toten Dichter, Entre les murs, Etre et avoir, Die Welle etc., in denen LPs entweder unter- oder überschätzt werden. Gerade aber Botschaften in Richtung „Gelingender Unterricht ist immer möglich, wenn man es nur richtig macht!“, sind eigentliche „killing phrases“, die entmutigen und die einer detaillierten „Aufbereitung“ bedürfen. Die Analyse des Scheiterns in der Lehre birgt oft eine relativierende und ironisierende Kraft. „Kann ich meine Anteile bei bestimmten Schwierigkeiten klar benennen?“, ist eine ebenso wichtige Frage wie die nach den Beiträgen, die Schüler/innen, Familien oder Schulen zu leisten haben. Entscheidend für die Analyse des Scheiterns (wie auch für diejenige des Erfolgs) sind zwei Dinge: Die Begriffe „Scheitern“ und „Erfolg“ müssen ihrer Selbstverständlichkeit beraubt und in Relation zur „begrifflichen Sozialisation“ der LPs und zu einer allgemeinen Terminologie gesetzt werden. Nur so entsteht die kritische Distanz zu den Phänomenen in einem Berufsfeld, die Ausgangspunkt für Burnouts und andere Formen von Berufsverdrossenheit sind. Mindmaps zu „Scheitern“ und „Erfolg“, Collagen und philosophische Standbilder sind günstige methodische Ansätze, weil sie sowohl die Analyse als auch Beobachtung konkreter „Vorfälle“ erlauben. „Der Mensch kann als Sklave in einer heidnischen Gesellschaft oder als Feudalherr oder als Proletarier geboren werden. Was nicht variiert, ist die Notwendigkeit, in der Welt zu sein, in ihr zu arbeiten, inmitten anderer und sterblich zu sein. Die Grenzen sind weder

3

Sartre (1994)

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subjektiv noch objektiv, oder besser, sie haben eine objektive und eine subjektive Seite“,

sagt Sartre4. Das Ausloten „der beiden Seiten“ hilft dann auch für die Klärung, woher die persönliche Störung einer LP kommt. Überwiegt der objektive Anteil, kommt Politik ins Spiel. Wer als LP weiß, wo sie ihren Widerstand verorten kann, also welche „Spielwiese“ für welche Aktivität vonnöten ist, lebt, das zeigen alle diesbezüglichen Umfragen, besser, gerade auch in professioneller Hinsicht. Das vorkritische, systematische Verwechseln beispielsweise einer Lehrerversammlung mit einer Gewerkschaftssitzung kann zu erheblichen Problemen führen. Philosophisches Coaching ist da auch eine Arbeit an der Kultur der Öffentlichkeit. Da die bildungspolitische Diskussion zudem die Sprachregelungen festlegt, mit denen gefochten werden soll oder darf (political correctness), liefert sie auch die Trends der Diskussion. Sachverstand ist dabei weniger im Vordergrund als ideologische Akzeptanz. Die Bildungsdebatte soll sich dem medial ausgerichteten Reden unterziehen. Sie soll eine Leitlinie verpasst kriegen, an der sich Parteigänger, Regierungsmitglieder und Selbständige ebenso orientieren müssen wie Vertreter/innen von NGOs (nicht staatliche Organisationen) oder NPOs (nicht profitorientierte Organisationen).

Methodenschritt 3: Philosophische Begriffsarbeit Philosophische Praktiker resp. ihre „Kunden“ kommen nicht umhin, hier mitzureden und vorgegebene Begriffe (oft „Plastikwörter“ im Sinne Uwe Pörksens) wie Evaluation, Minimal-/Maximalstandards, Prozessorientierung, Harmonisierung, System, Eigenverantwortung, Effizienz etc. nicht sang- und klanglos „passieren“ zu lassen. Dabei geht’s im philosophischen Coaching von LPs um eine zielgerichtete Arbeit einerseits an der eigenen Sprachsensibilität („Warum fielen mir diese Begriffe bisher nicht besonders auf?“/„Was genau nehme ich wahr, wenn ich „Minimalstandard“ höre?“/„Wie kann ich feststellen, dass ich selber mit Worthülsen, Fremdwörtern etc. arbeite und was genau bezwecke (meine) ich mit solchen Begriffen?“) und an den Sprechakten anderer, die in ihrer Intention ja auch benennbare Ziele (z.B. Erreichen von mehr kommunikativer Autorität) verfolgen. Am Beispiel von pädagogischen Fachtexten (s. unten im Lauftext), dominanten Begriffen und Argumentationsmustern kann konkret und präzise deutlich gemacht werden, wie ein bestimmter Umgang mit Wörtern Einfluss auf die tägliche Arbeit nimmt und oft den Blick aufs Konkrete, Vielfältige verstellt.

4

Sartre (1994), S. 125

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Im Coaching soll das Gefühl für die Herrschaft der Abstraktionen wachsen, so wie das Pörksen beschrieb: „Die Kritik an Korns „Sprache in der verwalteten Welt“, den Typus der Verwaltungssprache habe es schon immer gegeben, trifft nicht. Ihn beschäftigte deren Wucherung über den Rahmen ihrer ursprünglichen Verwendung hinaus. Die wissenschaftliche Literatur der Pädagogik z.B. hat sich, seit „Bildung“ zur großen Ressource erklärt wurde und ihre wissenschaftlichen Produktionsplätze in die Höhe schnellten, enorm verwissenschaftlicht, proportional multipliziert und die unvermeidlichen Kennzeichen einer Massenware angenommen, und ihre Sprache ist seltsamerweise oft nicht mehr von der einer Verwaltungsvorschrift zu unterscheiden. Die Übertragung wird einem kaum mehr bewusst und wirkt deshalb umso selbstverständlicher. Die Chance der praktischen Kolonisation unserer Welt beruht nicht zuletzt darauf, dass ihr eine metaphorische vorausgeht. Das stereotypische Besteck steht zur Verfügung. Die Übertragung aber erschließt nicht nur, wie gesagt, sie entstellt und entfremdet auch. Die metaphorische Kolonisation be5 deutet, sprachlich wie sachlich, eine Entstellung der sozialen Welt.“

Methodische Untersuchungen etwa von Komposita wie „Minimalstandards“ oder „Ausdruckskompetenz“ erhellen, was der Wortgebrauch verstellt. Was heißt denn „minimal“? Ist damit eine „conditio sine qua non“ gemeint oder ein Anzustrebendes, neben dem sehr Vieles (Wichtigeres?) Platz hat oder zielt der Begriff Richtung einer zähneknirschend akzeptierten Lehr- und Lernsituation, bei der mit Sicherheit noch „die Schraube anzuziehen wäre“? „Minimal“ hat als Wort durchaus auch euphemistischen Charakter, denn dahinter steckt m.E. eine differentielle Absicht und die Drohung der Exkommunikation resp. Listenplatzbrandmarkung für jene, die das „Minime“ nicht erreichen. In Verbindung mit Standards wird „minimal“ gewissermaßen kristallisiert. Standards huldigen einer Praxis der schriftlichen Evaluation. Wer von Standards spricht, meint Vergleichbarkeit und zwar im statistischen, „harten“ Sinne des Wortes. Angesichts der Tatsache, dass es bezüglich der Sprache eigentlich um „Ausdruck“, um Energie, Mitteilungsbedürfnisse etc. geht, ist eine Standardisierung schlicht sachfremd. Im philosophischen Coaching mit LPs kann durchaus Michael Tomasellos Untersuchung „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ beigezogen werden. Die Kapitel „Konventionalisierung von Sprachkonstruktionen“ und „Sprache als geteilte Intentionalität“ lassen den Abstraktionsapparat, mit dem Kinder und Jugendliche bezüglich ihrer „Sprache“ eingeordnet werden, als vollends absurd erscheinen. Wie im Methodenschritt 2 schon angedeutet, kann es aber nur darum gehen, einerseits die eigene Arbeit mit „Worthülsen“ zu bedenken und persönliche Konsequenzen daraus zu ziehen und andererseits einen professionelleren Umgang mit Termini in der täglichen Arbeit einzufordern. 5

Pörksen (1988), S. 93

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Der pädagogische Schonraum, den man auch im 20. Jahrhundert durchwegs noch als Voraussetzung für gelingendes Lehren und Lernen bezeichnete, gerät nämlich zunehmend unter Beschuss. Bildung soll rasch auf das reagieren, was „in der Welt“ geschieht. Bildung wird gewissermaßen in die Konflikte hineingezogen. Sie verliert dabei, entgegen allen anders lautenden Erklärungen, einen Teil ihrer eigentlichen Qualität, nämlich Zeit und Rhythmisierungshoheit innerhalb eines Gesamtrahmens. Bildung soll verstärkt „an die Leine genommen werden“. Dabei wird unterstellt, dass die Evaluation schon von kleinsten Bildungschritten gleichsam automatisch zu mehr Qualität führe. Bildungsoffensiven seien vonnöten, die Resultate einschlägiger internationaler Studien (PISA etc.) hätten es deutlich gemacht, man stehe vor einem eigentlichen Debakel, was den Rohstoff Bildung betreffe. Nicht angemerkt wird, dass die schulischen Einrichtungen seit Jahrzehnten mit neuen Themen eingedeckt werden, dass „Individualisierung“, „Globalisierung“, „Integration“, „Ökologie“, „Wirtschaft“, „Politik“ (das zumindest als Absichtserklärung), „Sexualerziehung“, „Gewaltprävention“, „Frühfranzösisch“, resp. Frühenglisch“ (=Anspielung auf den Streit in der Schweiz um den Stellenwert der Landessprachen gegenüber der Prestigesprache „Englisch“) oder auch „Soziales Lernen“ und „Informatik“ Themenbereiche sind, die ex officio den Schulen aufgebürdet wurden, ohne dass die pädagogische Verantwortung und vor allem Vorbereitung auch wirklich sichergestellt worden wären. Liest man die vollmundigen EDK (Erziehungsdirektorenkonferenz)-Berichte zu einzelnen neuen Unterrichtsfeldern, hat man den Eindruck, Lehrpersonen müssten mehrere Studien abgeschlossen haben, über Supervision verfügen und eine mentale und psychische Fitness vorweisen können, von der man normalerweise nur träumt.

Methodenschritt 4: Agora oder vom Nutzen der Halböffentlichkeit „Aus der Übersicht über die Felder, in denen heute philosophische Arbeit gefordert ist, um anstehende Probleme zu lösen, ergibt sich, dass Philosophie ihre Metaebenen verlassen muss, will sie noch irgend ‚Weltweisheit’ sein“, sagt Gernot Böhme in seinem Aufsatz „Philosophie als Arbeit“6. Der Einrichtung “philosophischer“ Reflexionsorte (z.B. Runde Tische) kommt demnach höchste Priorität zu. Die Bewegung der “Cafés philosophiques“ steuert dasselbe Ziel an. Philosophie braucht andere Räume als die Politik oder die Standesarbeit. Umgekehrt sind Lehrpersonen derart in fachliche Arbeitsgruppen eingebunden, dass ihnen kaum mehr Zeit für grundsätzliche und genaue Überlegungen bleibt. Die Wichtigkeit, die eigene Berufsarbeit zu überdenken, und zwar nicht „professionell“ im Sinne eines instrumentalisierten Anwendungsknowhows, ist von der Sache her gegeben. Doch was ist diese Sache? Im philosophischen Coaching soll „die Sache“ der pädagogischen Philosophie kritisch überprüft werden. „Erziehung“ wäre, in ihrer Zielgerichtetheit wie „Lehre“, die Nagelprobe 6

Böhme (1991), S. 75ff.

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für Ethik („Werte“) und deren Vermittlung. Die Pädagogik richtet sich immer nach einem bestimmten Menschenbild, sie ist daher Anwenderin eines „SchonBestehenden“, eines gesellschaftlich Gültigen und sie ist auch, gerade angesichts der Wechselhaftigkeit dieses „Gültigen“, mehr oder weniger schonungslos (bildungspolitischen) Moden unterworfen. Die philosophische Bearbeitung pädagogischer Strömungen ist für jede Person, die lehrt, unerlässlich. Nur so kann der Hier-und-Jetzt-Hektik der Bildungspolitik ein in seiner Wirkung verlangsamendes „Es gibt nichts Neues unter der Sonne!“ entgegengehalten werden. Angesichts des Spiegels, den die pädagogischen Ideen der Geistesgeschichte entgegenhalten, ist es notwendig, in Denkateliers die instrumentellen Scheuklappen zu öffnen, um damit vorerst im halböffentlichen Raum ein Stück „common sense“ zu realisieren. Der philosophische Coach kann mit LPs die Struktur philosophischer Cafés (s. Marc Sautet) nachzeichnen, erweitern und spezifischen Bedürfnissen anpassen. Dieser halböffentliche Raum, der die antike Agora ersetzt, ist ein Übungsraum für philosophische Arbeit, die zwar auf die Schule zielt, sich aber dem Korsett von durchstrukturierten Sitzungen und Qualitätszirkeln in ureigenstem Interesse widersetzt. Der philosophische Stammtisch hat Methode. Selbstredend leistet die Volksschule per se einen immensen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung. Ebenso selbstverständlich ist es heute aber auch, dass die Volksschulen in unerhörtem Ausmaß bei der Realisierung dieses elementaren Beitrags behindert werden. Die Konsum- und Migrationsgesellschaft hinterlässt Spuren und verlangt, dass sich zum Unterrichten gleichgewichtig das Basisgeschäft Erziehen gesellt. Es gibt kein Zurück zur heilen Welt der schlichten Lernschule, weil die Welt eben nicht „heil“ ist. Wer nun so tut, als habe sich hier nichts verändert, als befänden sich Schulen lediglich im Zustande des Reformstaus, verkennt die Realität völlig und vermutlich auch absichtlich. Den Stand der Schulreform kann man unterschiedlich beurteilen. Tatsache ist aber, dass seit der Individualisierungswelle vor dreißig Jahren die Schule notwendigerweise zum Gegenstand von Reformen schlechthin wurde, vielleicht als Ausgleich zu einer Gesellschaft, deren Reformtätigkeit sich mehr auf Deregulierung und Privatisierung beschränkt. Die politischen Vertreter der flächendeckenden gesellschaftlichen Deregulierung zeichnen sich dadurch aus, dass sie es zu einer förmlichen Meisterschaft gebracht haben, wenn’s ums Einreißen bestehender Strukturen geht. Grosse Würfe wie die SBB (Schweizerische Bundesbahnen, die über das dichteste Bahnnetz Europas verfügen), das schweizerische Bildungswesen oder das helvetische Forstgesetz wären von ihnen nicht mehr zu erwarten. Wer aber Abbau ohne Alternativen betreibt, muss sich in die Karten schauen lassen. Das Blatt der bildungspolitischen Deregulierer sieht vor allem für diejenigen gut aus, die es auf das im Bildungswesen „blockierte“ Geld abgesehen haben. Das sind primär jene

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Kreise, die der Schule etwas verkaufen wollen. Nachhilfestunden, ganze Ausbildungseinheiten, Sprachkurse, Führungskurse, Schulentwicklungskonzepte und private Schulabschlüsse, bzw. Einschulungsjahre sowie natürlich „Module“ für den gesamten Schul- und Bildungsbereich bilden einen zunehmend privatisierten Markt, der von einer geschickten Segmentierung von Bildungshäppchen lebt und dessen Leader nicht müde werden zu propagieren, dass nur ein schnelles Einsteigen in den bereits fahrenden Zug spätere Anschlüsse garantiere. Interessant ist, dass nicht allein die klassischen Privatisierer dieses Bildungsmarktgeschehen vorantreiben; auch die Individualisierer, die dem staatlichen Schulkorsett wenig abgewinnen können und möglichst autonome Schulen möchten, träumen von der Agora-Schule (Agora = griech. Marktplatz), die mittels Bildungsgutscheinen ein möglichst massgeschneidertes Lernen anstrebt. Im Gegensatz zu den klassischen Privatisierern wünschen sie sich Schulen, die in erster Linie den unterschiedlichen Begabungsprofilen Rechnung tragen. Für die oft aus besseren Kreisen stammenden Kinder ist nur das gut genug, was deren persönliches Wachstum fördert. Schließlich bezahlt man ja viele Steuern und will eine entsprechende Gegenleistung. Diese bildungsbürgerliche Position vertreten heute sozialdemokratisierte, grünliberale Bürger/innen. Das Bildungsbürgertum ist gewissermaßen nach links gerutscht, das Wirtschaftsbürgertum orientiert sich dagegen an effizienten, abgespeckten Lernschulen, die über ein hohes Maß an Standardisierung verfügen. Die philosophische Praxis entwickelt entsprechende Fragen: Ist „Individualisierung“ per se ein Wert? Welches Verhältnis zur öffentlichen Schule wollen und müssen wir einnehmen? Wie kann die Gemeinschaft der „Citoyens“ (Staatsbürger/innen, Republikaner/innen) der mit zunehmenden Schwierigkeiten kämpfenden Volksschule (und dem öffentlichen Bildungswesen überhaupt) „helfen“? Inwiefern sind es die Bedingungen der Möglichkeit des Aufwachsens (nicht zuletzt in größeren Ballungsräumen), die den Lehrberuf per definitionem „schmälern“? Müsste nicht die „Holy Family“ (resp. was von ihr übrig blieb) zum Gegenstand der Diskussion werden? Gibt es Möglichkeiten, bestimmte krank machende, unwürdige Unterrichtssituationen zu verweigern? Welches sind die „Eckpfeiler“ des Unterrichtens und wo wird Schule zu einer Reparaturwerkstatt zerfallender sozialer Einheiten? Worum geht es eigentlich? „Wollen wir, “ sagt Hartmut von Hentig, „dass Kinder Wissen erwerben, müssen erst wir, dann sie zwischen Wichtigem, potentiell Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden; wir müssen dann dafür sorgen, dass sie Fragen haben, diese richtig formulieren lernen und am Ende die Beschaffer – Bücher, Computer, Filme, Auskunftspersonal – bemühen. … Die hier wichtigsten Tätigkeiten sind: wahrnehmen, denken, prüfen, verstehen.“

Diese vier Tätigkeiten können nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Sie bedürfen der Sorgfalt, der Pflege und einer gewissen Bedächtigkeit. Bil-

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dungsmarkt und Ausbildungswissen verkommen rasch zu einem „Edutainment“, wenn wir an den kulturtechnischen Voraussetzungen sparen oder sie zu einem bloßen Spiel des Wissenserwerbs reduzieren. „Für den großen Haufen tritt überall an ihre (der Bildung, d. Verf.) Stelle eine Art Abrichtung: sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr frühzeitiges, festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft dawären, das Werk zu stören. So werden Gedanken eingeimpft, die nachher so fest und durch keine Belehrung zu erschüttern haften, als wären sie angeboren, wofür sie auch oft, selbst von Philosophen, angesehn worden sind.“7

Wenn Bildung sich auf die Widergabe eingeimpfter und evaluierbarer Gedanken konzentriert, verpasst sie ihre eigentliche Aufgabe, Standards so weit wie angebracht zu fassen und nachdrücklich sowohl musische, soziale, politische als auch Artikulationskompetenzen zu formulieren. Wenn sie das nun unter der Flagge der Entschlackung oder Schlankheit nicht tut, entlarvt sie sich als Ideologie der Abrichtung, die alles andere will als wirkliche Reformen. Auch hier setzt die praktische Arbeit des Philosophen an. Er fragt beispielsweise nach der Differenz zwischen „bewährten“ schulischen Konzepten und den andauernden Neuerungen im „Bildungssystem“. Aus der Klärung muss hervorgehen, wodurch „Reformen“ motiviert werden. Fragen wie die folgenden gehören zum Setting philosophischer Arbeit im Bildungsbereich: • Sind die Ziele von Reformen klar umrissen? • Halten die pädagogischen Begriffe einer philosophischen (Lebens-)Prüfung stand? (Elenchos, gr. = „Prüfung“8.) Beispiel 1: „Didaktik ist also die nach bestimmten Prinzipien durchgeführte und auf allgemeine Intentionen bezogene Transformation von Inhalten zu Unterrichtsgegenständen.“ Beispiel 2: „Neben dem Hinweis auf den autofunktionalen Charakter von Bildung gegen ein utilitaristisches Brauchbarkeitskonzept, dessen wesentliches Merkmal eine ökonomisch ausgerichtete Funktionalität darstellt, gilt es schließlich, in einer pädagogischen Handlungstheorie System und Subjekt nicht autopoetisch emergieren zu lassen, sondern mittels Selbstreflexivität zu gestalten.“9 (Raithel u.a.: Einführung Pädagogik; eines der meistgekauften Lehrbücher!!!).

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Schopenhauer (1999), S. 244. Abgeleitet vom Verb elenchein, „prüfen", „beweisen", „widerlegen". Raithel (2007), S. 217.

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Was bedeutet „Didaktik“ genau, wie hat sie beispielsweise Comenius definiert und was blieb davon übrig? Welche Ziele verfolgt sie? Welchen Gewinn erbringt die unter Beispiel 1 zitierte Definition? Was sind „bestimmte Prinzipien“? Gibt es unbestimmte Prinzipien? Wenn ja, was bedeutete das? Wie transferiert man „Inhalte zu Unterrichtsgegenständen“? Was suggeriert diese Formel? Wie ist ein Unterrichtsgegenstand zu definieren? Soll ein Pädagogikschüler diese Definition „lernen“? Wenn nein, wie soll er mit diesem Lehrbuch umgehen? Wenn ja, was hieße das? Warum wird Beispiel 2 nicht verständlich formuliert, steckte in ihm m.E. doch eine der wichtigsten bildungstheoretischen Aussagen? Warum ist gerade die theoretische Pädagogik oft immun gegenüber sprachlicher Präzision? Was soll dieser Jargon? Warum werden Verständlichkeit und Schlichtheit nicht zu einem verbindlichen Bildungsziel erhoben? Dazu eine Hilfestellung von Pestalozzi in Anlehnung an Kant, die für sich selbst spricht und ein Argument im öffentlichen Streit abgibt: „I. Anschauung ohne Sprache macht Menschen, wie wir die große Masse der Landbauer vor Augen sehen, Menschen, die sich, wenn sie auch noch so lebendige Anschauungserkenntnisse im ganzen Kreise ihres Seins und ihres Tuns in sich selbst tragen, sich dennoch in keinem Falle über diese Erkenntnisse bestimmt ausdrücken und verständlich machen können, deshalb auch den ganzen Vorteil entbehren müssen, am Faden ihres bestimmten Wissens durch die Sprache weiter schreiten zu können, daher denn auch sehr leicht erklärlich ist, warum die große Masse dieser Menschen so wenig Reiz und so wenig Willen in sich selbst findet, über irgend etwas, das sie nicht Nutzens oder Schadens halber individualiter nahe berührt, sich viel zu bekümmern, und allmählich dahin kommen, über den ganzen Kreis der menschlichen Einsichten und Kenntnisse, und selbst über Wahrheit und Recht, insofern auch diese Fundamente unserer Glückseligkeit auf Kenntnissen und Einsichten ruhen, gleichgültig zu werden. II. Sprache ohne Anschauung Diese bildet kopflose Redhänser (= Redehänse), die es sich zur Fertigkeit gemacht haben, von Sachen, die ihr Auge nicht gesehen, ihr Ohr nicht gehört, und die noch viel weniger in ihren Herzen aufgestiegen sind, also zu reden, als ob sie selbige mit ihren Augen gesehen, mit ihren Ohren gehört und sogar, wie eine Mutter ihr Kind, unter dem Herzen getragen hätten. Sie bildet Menschen, die von den grundlosen Anmaßungen eines solchen leeren Wortwissens geblendet, in sich selbst allen Reiz verlieren, sich Kopfs und Herzens halber weiter in einen Gegenstand hineinzuarbeiten, über den sie sich nun einmal durch eine solche Maularbeit mit sich selbst ins reine gesetzt haben.“10

10 Pestalozzi (1899-1902), S. 99f.

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Sind schulische Stoffe entwicklungspsychologisch „abgesichert“ oder wird auf der Lehrplanebene das „So-tun-als-ob-Spiel“ gespielt? Werden also schulische Selbstverständlichkeiten postuliert, wo weit und breit keine zu finden sind? Halten Lehrpläne der Idee der sokratischen Lebensprüfung stand? Dazu meint Hartmut von Hentig in seiner Schrift „Bewährung“: „Die großen Reformer haben eh und je der Pädagogik (also der Anleitung der jungen Menschen zum Leben in der Gesellschaft) den Bruch mit der Tradition zugetraut: Platon im aporetischen Gespräch des Sokrates mit der Jugend, das dem eigensinnigen Aufklärer sogar das Leben gekostet hat; Jean-Jacques Rousseau mit dem kühnsten Gedankenexperiment, das sich mit dem Namen ,Pädagogik’ bekleidet hat – der Darstellung davon, wie sein Emile zu einem freien Menschen erzogen wird, der den Contrat Social eingehen kann; John Dewey, der die gesamte ‚education’ (Erziehung-und-Bildung) als ein notwendiges permanentes Experiment der Gesellschaft mit neuen Lebens- und Denkformen aufgrund gehabter Erfahrung verstanden wissen wollte; die Männer und Frauen der Jugendbewegung – und die sich ihnen verdankende Reformpädagogik –, die zum offenen Ausbruch aus der Schulmeisterei und verhockten Moral der Erwachsenen aufriefen; Friedrich Nietzsche, der seine eigene hohe Bildung und Sprache gegen das Philistertum der Bürger und Gelehrten einsetzte; … Ivan Illich, der den jungen lateinamerikanischen Nationen den Weg in die Schulsklaverei ersparen wollte und dabei ganz selbstverständlich auf Bildung setzte: auf freie gegenseitige Wahl des Lehrmeisters und der Schüler, auf Bibliotheken und Internet, auf entinstitutionalisiertes selbständiges Forschen und Lernen; und nicht zuletzt die große Margaret Mead mit ihrem Modell der ,cofigurativen’ Kultur, in der alle von allen lernen, und ihrer Vorhersage der ‚präfigurativen’ Kultur, in der die Personen ,vor’ den erst zu gewinnenden Deutungen (,Sinnfiguren’) da sind, in der die Jungen verstanden und akzeptiert haben, dass sie von den Alten nicht lernen können, welchen Schritt sie als nächsten tun müssen, und in der die Alten wissen: ‚Wir haben keine Nachfahren, unsere Kinder haben keine Vorfahren mehr’.11 Damit müsse man zu leben lernen. Auch diese eher Revolutionäre als Reformer haben die Schule nicht verdrängen oder auch nur zurückdrängen können. Ihnen ist allenfalls eine Beunruhigung des Systems gelungen. Dieses hat sie und ihre gefährlichen Lehren verdaut – es hat sich weder dem platonischen Auftrag gewachsen gezeigt noch dem pragmatischen Experimentieren gestellt. Nach wie vor hat sich die Schule als die eine zuständige Einrichtung behauptet, die die jungen Menschen zwischen ihrem sechsten und sechzehnten oder zwanzigsten Lebensjahr bindet, beschäftigt, belehrt, beaufsichtigt, bewahrt, beschwichtigt (,auskühlt’) und in die beruflichen und sozialen Fächer sortiert, die die Gesellschaft bereithält.“12

11 Mead (1971), S. 78 12 v. Hentig (2007), S. 75f.

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Wird die Frage nach „Bildung“ und „Ausbildung“ in der schulpädagogischen Diskussion überhaupt gestellt? Können sich die Lehrkräfte in staatlichen Schulen in Zeiten der Verwöhnung und Hyperkonsumation noch mit pädagogisch-philosophischen Anliegen durchsetzen? Hat „der Staat“ ein Problem mit seinen Familien? Gibt es eine Pflicht, Kinder zur Unterrichtsfähigkeit zu erziehen? Ist diese Frage zulässig? Wenn nein, warum nicht und inwiefern wird den Lehrpersonen geholfen?



Warum wird der Begriff „Effizienz“ in der bildungspolitischen Diskussion so sehr in den Vordergrund geschoben? Was bedeutet „Wirksamkeit“, was „Wirtschaftlichkeit“? Wird hier bewusst eine Annäherung von Pädagogik und Ökonomie betrieben? Argumentationshilfe leistet diesmal John Dewey in „Demokratie und Erziehung“: „Es ist jedenfalls wichtiger, die geistige Schaffens- und Schöpferkraft des Schülers lebendig zu erhalten, als die äußere Vollkommenheit der Arbeitsergebnisse sicherzustellen, indem dem Schüler eine bis in alle Einzelheiten geregelte Stückarbeit zugewiesen wird. Peinliche Genauigkeit und Vollkommenheit im Einzelnen können insoweit gefördert werden, als sie im Bereich der Fähigkeiten des Schülers liegen. Das unbewußte Misstrauen gegenüber der eigenen Erfahrung des Schülers, wie es in der Übertreibung der äußeren Überwachung hervortritt, zeigt sich nicht nur in dem Arbeitsstoff, den die Schule auswählt, sondern ebenso sehr in den Weisungen, die der Lehrer gibt. Die Furcht vor dem „Rohstoff" tritt ebenso sehr im naturkundlichen Arbeitsraum, wie in der Werkstatt, im Fröbelschen Kindergarten wie in MontessoriKlassen zutage. Überall werden Stoffe verwendet, die der vervollkommnenden Arbeit des Geistes bereits unterworfen worden sind: ein Verfahren, das in der Werkstatt ebenso deutlich ist wie beim theoretischen Lernen aus Büchern. Dass ein so vorbereiteter Arbeitsstoff Fehlgriffe des Schülers verhütet, ist richtig. Falsch dagegen ist die Auffassung, dass der Schüler, der so vorbereitetes Material verwendet, die geistige Leistung, die in dieser Vorbereitung steckt, irgendwie in sich aufnehmen wird. Nur wenn wir mit dem Rohstoff beginnen und ihn zweckentsprechender Behandlung unterwerfen, erwerben wir die geistige Fähigkeit, die sich im vollendeten Gegenstand verkörpert... Eine andere Form, in der uns der gleiche Grundsatz entgegentritt, ist die Forderung, dass die tätige Beschäftigung stets auf ein Ganzes gerichtet sein soll. „Ganz" im pädagogischen Sinne sind jedoch niemals rein äußere Angelegenheiten, Dinge und Vorgänge. Geistig gesehen beruht das Vorhandensein einer Ganzheit auf einem Erfaßtsein, einem Interesse: es ist nicht dem Umfange, sondern der Art nach bestimmt, ist die Allseitigkeit, mit der uns eine gegebene Sachlage anspricht. Übertreibungen in der Entwicklung von Fertigkeiten unabhängig vom jeweiligen Zwecke wirken sich darin aus, dass Übungen lediglich um der Übung willen angestellt werden, nicht im Dienste irgendeiner sachlichen Aufgabe...“.13

13 Dewey (1949), S.227ff.

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Alle diese Fragen orientieren sich an der Leitfrage „Worum geht es da eigentlich?“ Mit welchen Zielen, Begriffen und Menschenbildern wird „unterm Strich“ gearbeitet? Aus Erfahrung weiß ich, dass diese Frage, immer wieder gestellt, nach Argumentationen verlangt, wo Ideologie zu dominieren droht. Es ist klar, dass die oben erwähnte „überfrachtete“ Schule ebenso wie die oft unter Sonderbedingungen arbeitenden Privatschulen bereits Resultat einer bestimmten Ideologie sein können. Der in der Schule oder mit Lehrpersonen (und Eltern) arbeitende Philosoph hat deshalb die klassische Verantwortung, über Ideologien, blinde Flecken und (neue)Tabus zu reden, gerade auch mit seinen Gesinnungsgenoss/innen, die ansonsten allzu leicht einem destruktiven, „gut gemeinten“ Reformeifer anheim fallen könnten. Grundsätzlich gilt diesbezüglich, dass keine Reform angezettelt werden können sollte, die nicht über einen klar ausgewiesenen „Mehrwert“ verfügt. „Im Zweifelsfalle nicht!“, bedeutet hier, als durchaus günstige Aussage, „Hände weg von Reformen, die unserer Leitfrage Worum geht es hier eigentlich? nicht standhalten können“.



Hans Vaihinger (1852-1933), Philosophieprofessor in Halle, hat vor 132 Jahren an der Universität Straßburg eine Habilitationsschrift eingereicht, die später unter dem Titel „Die Philosophie des Als-Ob“ bekannt wurde. Vaihinger unterscheidet darin die objektive Gültigkeit von Erkenntnis und deren Wert für die Lebenspraxis. Was der Mensch vermöge seiner Erkenntnisfähigkeit bilden könne, seien Vorstellungen und Fiktionen; diese ließen sich nur rechtfertigen durch den Erfolg des Handelns, das sich auf sie stützt. Vaihingers Fiktionalismus gleicht damit dem amerikanischen Pragmatismus (z.B. James, 1907; Dewey, 1929). Vaihinger problematisiert die Rolle der Fiktionen, welche gewissermaßen als vorkritische Konstrukte einer Prüfung bedürften, weil sie sonst Gefahr liefen, als „Wirklichkeit“ verkannt zu werden. Deshalb sind sie als Lebenshilfen und vor allem auch Orientierungsgrößen hoch problematisch versagen leicht. („So ist Wahrheit eben auch nur der zweckmäßigste Grad des Irrtums und Irrtum der zweckmäßigste Grad der Vorstellung, der Fiktion. Unsere Vorstellungswelt heißen wir dann wahr, wenn sie uns erlaubt, am besten die Objektivität zu berechnen und in ihr zu handeln; denn die so genannte Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist doch endlich als Kriterium aufzugeben.“)14

Wenn nun die Bildungspolitik mit ihren Auswirkungen in die schulische Lebenswelt von der Fiktion des „homo oeconomicus“ ausgeht, haben wir es mit einem (philosophischen) Reduktionismus zu tun, der in keiner Weise die Hürden 14 Vaihinger (1922), S. 115

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der Demokratie genommen hat. Er wurde vielmehr über raffiniert eingeleitete Umwege („geleitete Schulen“ / „Bildungsstandards“ / „Schulen als Betriebe“ / „Schüler/innen als Kund/innen“ etc.) „scheibchenweise“ institutionalisiert, zu oft und durchaus mit Hilfe der „Lieben und Netten“, die Reformen fast apriorisch als positiv einstuften. Das sollte man entlarven und revidieren, damit größeres Unheil verhindert werden kann. Denn philosophische Fragen wurden auf dem Weg zur sich anbahnenden McKinsey-Bildung bisher in auffälliger Weise keine gestellt. Sie können aber noch gestellt werden, denn mittlerweile regt sich auf der Umsetzungsebene Widerstand: Richard Münch beispielsweise macht mit seinem lesenswerten Buch „Globale Eliten, lokale Autoritäten“ deutlich, wo die Interessen der Verökonomisierung aller Schulen liegen und wo die Interessenvertreter ansetzen. Auf alle Fälle kann mit einer hybriden Modernisierung der Schule kein humanistisches Bildungsideal mehr erreicht werden und wir tun gut daran, nicht so zu tun als ob es heute weltweit bildungspolitisch noch um echte Verbesserungen ginge. Dazu noch einmal Hartmut von Hentig: „Einstweilen bescheiden wir uns mit der Erkenntnis, dass »bessere Bildung« nicht nur heißen muss, was die OECD vorschreibt und ermitteln kann. Wenn sehr viele Absolventen unserer Schulen nicht lesen und nur unsicher schreiben können, wenn sie Schwierigkeiten haben, elementare Erkenntnismittel zu benutzen – die Zahlensysteme, die tabellarische und grafische Veranschaulichung von Verhältnissen, die Computer, die Nachschlagewerke; wenn ihnen grundlegende Tatbestände der Naturwissenschaften unbekannt sind; wenn sie in der lingua franca unserer Zeit nicht mitreden können, dann ist ihre Bildung unzweifelhaft nicht gut genug. An der Beseitigung dieser Schwäche wird gearbeitet. Wie jedoch arbeitet man an der Beseitigung von Mängeln, die nicht mit der gleichen Deutlichkeit und Einmütigkeit erkannt, geschweige denn durch empirische Untersuchungen belegt sind? Wenn es zum Beispiel an Zuversicht und Selbstvertrauen fehlt, an Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl, an Verlässlichkeit und Ausdauer, an physischer Belastbarkeit und psychischer Selbstkontrolle, an Toleranz für andere Lebensformen und Rücksicht auf Schwächere, an praktischem Geschick und nicht zuletzt an der wichtigen Wahrnehmung, nützlich sein zu können, ja, gebraucht zu werden?“15

Wer gebraucht wird, den empfängt man üblicherweise mit einem „Welcome!“ Warum tun wir das heute mit vielen Jugendlichen nicht? Warum fehlen eigentliche Initiationsrituale in die Gesellschaft? In diesen Bereichen können erreichbare Zielvorgaben mit einer philosophischen Untermauerung formuliert werden. Martin Buber, Erich Fromm und Alfred Adler sind nur ein paar mögliche „Philosophen mit pädagogischem Einschlag“, aus deren Werk Zitate gewonnen werden können, die durchaus das Motto für ein Quartal, ein Semester oder eine Arbeitswoche abgeben können. Dies im Sinne einer Strukturierung, Untermauerung und Ausrichtung („Kompass“) der pädagogischen Arbeit. 15 v. Hentig (2006), S. 102f.

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Methodenschritt 5: Klären und Stärken Entscheidend fürs philosophische Coaching ist das Klären von Sachverhalten, das Bewusstmachen des Unterschieds von persönlichen und „politischen“ Problemen und letztlich die Stärkung von Persönlichkeiten (v.a. Lehrpersonen) auch in spiritueller Hinsicht. Kognitive Fitness allein reicht nicht aus, um „über den Berg“ zu kommen. Das Klären von Sachverhalten meint in der philosophischen Praxis ein Verhältnis: Es ist wichtig, dass LP sich klar machen können, was ihnen gut tut, was sie stärkt und wo sie Mängel beheben möchten, um entspannter, freier und zielgerichteter „Lehre“ zu betreiben. Methodisch bedeutete das eine Hinführung zur Mündigkeit, zur Autonomie. Das geht nicht, ohne dass dabei auch das Kostbarste, Innerste angesprochen wird. Mentale Fitness ist zwar ein schöner Begriff, letztlich geht’s aber nicht um Fitness sondern um den aufrechten Gang, und zwar sowohl ganz konkret wie metaphorisch. Wie eine LP hinsteht, atmet, formuliert, „tönt“, schreibt, musiziert, zeichnet, bastelt, verhandelt, nachdenkt oder liest, verkörpert eigentlich nur die Spitze des Eisbergs; hinter diesen Handlungen stecken Lebenseinstellungen und Vorstellungen von den letzten Dingen, von dem, was wirklich entscheidend ist. Im philosophischen Gespräch sollen Nah- und Fernziele gestalterisch dargestellt (durchaus auf Packpapier…), Herausforderungen genau beschrieben, Wünsche ausgedeutscht, ästhetische Vorstellungen aufgegriffen und spirituelle Überlegungen angestellt werden. Das rationalistische Verbrämen der Grenzgebiete zwischen Philosophie, Theologie und Kunst weicht in der philosophischen Arbeit mit LPs einem gestalterischen Umgang: Das Hören von Musik, das Zeichnen, Malen, Schreiben aber auch die Entwicklung von Ritualen zur Lebensfreude haben einen festen Platz bei allen Problemlösungen, die diesem aufrechten Gang verpflichtet sind. Über Francesco Petrarca wird erzählt, wie er in einem Brief an einen Freund die Besteigung des Mont Ventoux am 24. April 1336 kommentierte. Er erlebte die wilde Natur auf dem Aufstieg als beglückend. Er war ergriffen. Auf dem Gipfel schließlich übermannte ihn die Aussicht von den Alpen bis hin zur Rhonemündung. Ihm bot sich ein überwältigendes Bild. Wenig später wandte er sich der Lektüre von Augustinus’ Bekenntnissen zu. Wahllos schlug er das Buch auf und las: “Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfliessenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.“16

16 Augustinus (1982), X/S. 8

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Beeindruckt wandte sich Petrarca von der spektakulären Natur ab, um sich dem Selbststudium, der Einkehr bei sich selbst, zu widmen. Das Wissen über die Natur schien ihm angesichts der brennenderen Fragen nach der eigenen Identität, nach dem eigenen Weg, zweitrangig. Petrarca entschied sich, nach einem „modernen“, neuzeitlichen Blick in die Welt, für den inneren Weg. Er wollte seine Wahrheit mit meditativ-kontemplativen Mitteln finden. Er hätte auch anders entscheiden können. Die Welt lag ihm in ihrem Reichtum und ihrer Gewalt, buchstäblich zu Füssen. Der „Pilger ohne Ende“, wie er sich selbst nannte, suchte sich zeitlebens zu orientieren zwischen der vita solitaria und der vita activa. Glücklich wurde er dabei nicht. Orientierungslos aber auch nicht. Er konnte sich ein Bild davon machen, wie ihm geschah. Er identifizierte seine Zerrissenheit. Er konnte sich selber „über die Schultern blicken“, Selbstbewusstsein „im Scheitern“ aufbauen. Petrarca litt an seiner seelischen Gespaltenheit, die auch Ausdruck der Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit war. Das formulierte Leiden wurde aber zum Ausdruck einer Freiheit, die stumpfe Abhängigkeit hinter sich lässt. Petrarca machte sich ein Bild seiner selbst und seiner Zeit. Petrarca war gebildet. Er war jederzeit fähig, sich einzumischen. Er besaß Visionen und Orientierung. Kant schreibt am Schluss seines Essays „Über Pädagogik“: „In unserer Seele ist etwas, dass wir Interesse nehmen 1) an unserem Selbst, 2) an andern, mit denen wir aufgewachsen sind, und dann muss 3) noch ein Interesse am Weltbesten Statt finden. Man muss Kinder mit diesem Interesse bekannt machen, damit sie ihre Seelen daran erwärmen mögen.“ 17 Kants Vorstellung von einem guten Leben weicht von Petrarcas Leidensweg entscheidend ab. Doch die Überführung eines latent vorhandenen Interesses (u.a. an sich selbst) in ein bewusst gelebtes erinnert an Petrarcas Reaktion auf Augustinus’ „…und haben nicht acht ihrer selbst.“ Das mitteilbare Interesse ist Voraussetzung für alles Reden über Orientierung. Wie man sich zwischen den Dingen bewegt, wie man sich positioniert, wohin man blickt, was Aufmerksamkeit erregt, was man übersieht, nicht wahrhaben will, was man sammeln möchte, begehrt, verachtet, was einen schreckt, beruhigt, verstört und wovon man träumt, das alles macht „Interesse“ aus und wird, in seiner bewussten Formulierung, zur eigenen Spur, die man bisher gelegt hat, resp. zur Ahnung und Vorstellung vom zukünftigen Weg, den man begehen möchte, von seinen Unwägbarkeiten und von all den Dingen, die hinter dem Netz aller erdenklichen Wege sich befinden mögen. Die „Geworfenheit“ in eine Welt, in der es unendlich viel zu entdecken, zu sehen gibt, in der man sich aber auch positionieren muss, in der es auf die eigene Haltung, auf Entscheide ankommt, ist eine Befindlichkeit, die man mit andern teilen kann, der man täglich wieder ausgesetzt ist und die uns zu einer eigenen 17 Kant (1983), S. 761

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Identität, einer eigenen Blickrichtung, zu einer persönlichen Art, „Welt“ zu sehen und zu qualifizieren, zwingt. Die Auseinandersetzung darüber, auf allen erdenklichen Niveaus, zeichnet Bildung aus. Sie anzustoßen ist der Job des praktizierenden Philosophen; in der Schule, in der politischen Debatte, in seiner Praxis. Trotz aller Gefahr, die auch Sokrates drohte.

Literatur Augustinus (1982), Bekenntnisse, Zürich/München. Böhme, Gernot (1991) Philosophie als Arbeit, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 13. Dewey, John (1949) Demokratie und Erziehung, Braunschweig. von Hentig, Hartmut (2007) Bewährung – Von der nützlichen Erfahrung nützlich zu sein, Weinheim und Basel. Illich, Ivan (1972) Entschulung der Gesellschaft, München. James, William (1890) Principles of psychology, New York. Kant, Immanuel (1983) Über Pädagogik, Darmstadt. Kaiser, Arnim und Ruth (2001), Studienbuch Pädagogik, Berlin. Mead, Margret (1971), Konflikt der Generationen, Freiburg. Münch, Richard (2009), Globale Eliten – lokale Autoritäten, Frankfurt. Pestalozzi, Johann Heinrich (1899-1902), Über den Sinn des Gehörs, in Hinsicht auf Menschenbildung durch Ton und Sprache, Liegnitz. Platon, Theaitetos (1940), Sämtliche Werke. Band 2, Berlin. Platon, Politeia (2000), Stuttgart. Pörksen, Uwe (1988) Plastikwörter – Die Sprache einer Internationalen Diktatur, Stuttgart. Raithel u.a. (2007), Einführung in die Pädagogik – Begriffe, Strömungen, Klassiker, Fachrichtungen, Wiesbaden. Schopenhauer, Arthur (1999), Die Welt als Wille und Vorstellung, DB SchülerBibliothek: Philosophie, (vgl. Schopenhauer–ZA Bd. 3, S. 84), Berlin.

Sartre, Jean-Paul (1994), Der Existenzialismus ist ein Humanismus, Hamburg Sautet, Marc (1997), Ein Café für Sokrates, Düsseldorf; Zürich. Tomasello, Michael (2009), Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt. Vaihinger, Hans (1923) Philosophie des Als-Ob, Leipzig. Waldvogel, Markus (2006) Bilder der Bildung – Zehn Bilder – ein Essay, Biel. Waldvogel, Markus (1993), Schule zwischen Stoff, Stress und fehlenden Visionen, München.

Eine Frage des Ethos. Philos ophisc he Prax is als Le be nsform ANETTE SUZANNE FINTZ

Abstract Gibt es einen Handlungskodex oder ethische Prinzipien, denen ein Philosophischer Praktiker folgen sollte? Die Autorin geht die Gratwanderung, „Pfeiler für das Dach Philosophischer Praxis“ aufzustellen, ohne konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Daher wird auch vom Ethos als persönlicher Haltung, nicht von Ethik oder Moral gesprochen. Der Text versteht sich als Anregung zum Nachdenken über eigene Grenzziehungen und will zur Diskussion anregen. Insofern werden neben Statements auch Fragen gestellt, deren Antworten offen bleiben. Die Antwort der Autorin auf die Frage nach ethischen Maßstäben lautet: Ethik in der Philosophischen Praxis wird verwirklicht in der Person und ist daher Freiheit in der Praxis, nämlich die des verantwortenden Lebens.

Vorbemerkungen Die Notwendigkeit dieses Beitrags wurde den Autoren des vorliegenden Buches klar, als wir bei einem Treffen unsere Text-Entwürfe und dabei auch unsere Praxis-Erfahrungen intensiv diskutierten. Wir bemerkten etliche Parallelen trotz der unterschiedlichen Schwerpunkte und Ausrichtungen unserer Praxen: wir sehen uns in ähnlichen Situationen zu Rechtfertigungen herausgefordert, uns beschäftigen die gleichen „praktischen“ Probleme und wir werden – oft gerade von Philosophen – mit denselben kritischen Fragen konfrontiert. Besonders hervorstechend schien das Thema Ethik in Hinblick auf Führungsbegleitung zu sein. Die Diskussion zeigte recht bald die Bedeutung des Berufsethos für alle Philosophischen Praktiker, gleich welcher Couleur. Mit dem Pronomen „wir“ referiert die Autorin im Folgenden teilweise das Autoren-Gespräch, teilweise verfolgt sie auch die angesprochenen Themen vertiefend weiter, um wiederum Diskussionen über Prinzipien anzustoßen, die für jeden Philosophischen Praktiker gelten könnten. Die

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Positionierungen im Text entsprechen also keinem Kodex (z.B. dem eines Berufsverbandes), auf den sich eine Gruppe geeinigt hat; die gestellten Fragen sind „echte Fragen“, deren Antwort durch das Handeln des einzelnen Praktikers gegeben wird. Die oftmals brennende Frage „Was soll ich tun?“, die unsere Kunden als ihr Anliegen zu uns bringen, müssen wir gerade im Kontext der Handlungsspielräume und -maximen erst einmal selbst beantworten. Wir befinden uns also bereits mit der Frage nach dem Ethos eines Praktikers mitten in der Praxis: die wirklich bedeutsamen Fragen sind nur mit begründetem Handeln, nie nur theoretisch zu beantworten. Aus diesem Grund wird das eine oder andere Statement durch ein Beispiel aus der Praxis erläutert; es sei an dieser Stelle betont, dass alle Beispiele authentisch und nicht erfunden sind.

Einleitung: Wie viel Ethik braucht das Berufsethos eines Philosophischen Praktikers? Der Arzt hat den Hippokratischen Eid; einen „Sokratischen Eid“ (falls wir Sokrates als Maßstab wählen wollten), gibt es nicht. Vermutlich wäre ausgerechnet Sokrates einer der großen Kritiker der Philosophischen Praktiker, denn sie verlangen Geld für ihr Philosophieren und ebendies war stets Anlass für den knollennasigen Griechen, die Sophisten als unglaubwürdige Nach-dem-Mund-Redner zu beschimpfen. Nein, Sokrates, der die Agora mit seinen Fragen, Diskussionen und Aporien gerade für die Jugend „unsicher“ machte, wird den heutigen Philosophischen Praktikern nicht Pate stehen, wenn es um das Berufsethos geht. Schwerlich wird sich ein Paradigma finden lassen, unter das alle Praktiker ihr Handeln stellen wollen. Einleitend bleibt daher festzustellen: Philosophische Praktiker/innen haben keinen normativen Handlungskodex, der sie eint. Aus diesem Grunde wird hier der Begriff „Ethos“ herangezogen: Thema wird nicht die theoretische Begriffsbestimmung einer Ethik sein, vielmehr das Herangehen in der Praxis und damit unauflösbar verknüpft die eigene Person und deren Lebensführung. Es geht also um den Philosophischen Praktiker und das, was er für sich persönlich als Handlungsgrundlage und Grenze setzt oder errungen hat. Dieses Berufsethos wird gerade dort bedeutsam, wo der Praktiker „nein“ sagen muss: zu einem Kunden, einem Angebot oder zu sich selbst. Im Artikel werden Anregungen für einen Handlungskodex gegeben, auch wenn sich jeder Praktiker diesen letztlich selbst setzen muss. Das, was wir als Freiheit des Philosophischen Praktikers genießen, wird in Hinblick auf die Profession(alität) zur ersten Aufgabe: die Vorüberlegungen in Hinblick auf das eigene Ethos, und damit die eigene Begrenzung der Freiheit.

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Neun Pfeiler Philosophischer Praxis Bei aller methodischen und persönlichen Freiheit und Offenheit kamen in unserer Autorendiskussion immer wieder zwei Aspekte wie Überschriften auf: Professionalität und Seriosität. Diese Aspekte möchte ich hier als „Pfeiler Philosophischer Praxis“ bewusst pointiert ausformulieren.

Professionalität Pfeiler 1: Philosophische Praxis als Beruf Professionalität bezieht sich explizit auf die Tätigkeit als Beruf in Abgrenzung zum Hobby oder einer intensiv betriebenen Liebhaberei. Zum Beispiel kann ein langjähriger Besucher eines Philocafés keine „professionelle“ Philosophische Praxis eröffnen. Ein Philosophiestudium bildet die Basis für die Eröffnung einer solchen. Je nach Praxisausrichtung ist dringend zu einer fachlichen Weiterqualifikation zu raten. Pfeiler 2: Nähe und Distanz Die Balance von Nähe und Distanz ist ein weiteres Zeichen von Professionalität. Die unterschiedliche Benennung der Praxisbesucher als Besucher, Gäste, Klienten, Kunden, Mandanten weist eine implizite Rollenzuweisung auf. Distanz zeigt sich konkret sowohl in einer klaren zeitlichen Begrenzung, als auch in der finanziellen Entlohnung für das Gespräch. Es bedeutet oftmals auch eine Begrenzung im Ausleben der gegenseitigen Sympathien und Interessen: eine Klientin mag als Freundin in Betracht kommen; solange sie in die Beratung kommt, sollte dennoch die professionelle Ebene gewahrt werden. Diese Regel haben sich nicht nur Vertreter der Psychoanalyse auf die Fahne geschrieben. Sie findet sich in fast allen beratenden Berufen wieder, und das aus gutem Grund: die Freiheit des Besuchers / Mandanten und des Beraters kann sich durch private Kontakte unwillkürlich einschränken. Eine Besucherin kommt wegen Eheproblemen in die Praxis. Es stellt sich heraus, dass der (männliche) Berater und das Ehepaar die Begeisterung für Kinofilme teilen. Der Praktiker nutzt die Gelegenheit und will sich gleich ein Gesamtbild vom Paar machen, indem alle drei zusammen ins Kino und anschließend ins Restaurant gehen. Nach dem gemeinsam verbrachten Abend, spricht die Besucherin argumentativ abwägend über ihre Eheprobleme. Die Besucherin beginnt also, ihre Themen „reflektierter“ anzugehen und kommt dabei immer wieder auf Beispiele aus dem Kino-Abend zurück. Die Emotionalität scheint durch das Reflektieren in konstruktive Bahnen gelenkt, von Streit wird kaum noch berichtet. Der Philosoph freut sich über diesen Erfolg. Wie anders alles ist, stellt sich heraus, als der Ehemann in die Praxis kommt. Grund: er habe an dem Kino-Abend eine gute Beziehung zu dem Praktiker aufgebaut und wolle nun, nachdem seine Frau ausgezogen sei, begleitende Ge-

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spräche für die kommenden Monate. Bei Rücksprache mit der Frau erklärt diese, die freundschaftliche Atmosphäre des Abends hat ihr Vertrauen erschüttert! Sie hat das joviale Verhalten der Männer untereinander plötzlich als Illoyalität ihr gegenüber empfunden. Statt eines „Praktikers“ fühlte sich die Besucherin plötzlich wie einem „gemeinsamen Freund“ gegenüber zur Ausgewogenheit und „Anstand“ verpflichtet. Deshalb deutete der Praktiker den Gesprächsverlauf als Erfolg, und damit falsch.

Pfeiler 3: Idealität Professionalität und Idealismus sind schwerlich zu verbinden. Was hingegen gebraucht wird, ist Idealität im Sinne eines Grundanliegens, das sich zu einem selbst gesetzten „Sollen“ heraus bildet und einen Teil des Lebenssinnes ausmacht. Idealität ist grundverschieden von entgrenztem Idealismus oder Sozialromantik, die zur Selbstausbeutung einladen. Idealität ist weniger an Emotionalität gekoppelt, vielmehr an Entschiedenheit und Leidenschaft und gibt sowohl Kraft, als auch Kreativität zum Anfangen, Aufbauen und Durchhalten. Pfeiler 4: Kompetenzen und Grenzen Professionalität zeigt sich in den jeweiligen Kompetenzen, die der Praktiker teilweise zusätzlich zu seinem Studium erworben hat (z.B. Diagnoselehre bei persönlicher Beratungspraxis; Coach-Ausbildung bei Wirtschaftsberatung) und in der Anerkennung und Benennung der eigenen (fachlichen oder persönlichen) Grenzen. Ein Klient kommt in die Praxis, „… weil ich immer Ärger mit anderen Leuten habe. Die Psychotherapeuten stecken mich in eine Schublade. Die sind einfach nicht so verständnisvoll wie eine Philosophin.“ (Der Klient sieht mich an diesem Tag das erste Mal). Das Gespräch geht in diesem Stil weiter; ich muss mich regelrecht gegen das Wohlgefühl des Gelobtwerdens wehren, denn der Klient hat außerordentlich gute Fähigkeiten, auch Details wahrzunehmen, die mir persönlich wichtig sind. Seine Schilderungen von Familie und (Ex-)Freundinnen sind wenig schmeichelhaft: alle kümmerten sich zu wenig um ihn, dabei sei er selbst doch immer zur Stelle. Er wolle mit mir darüber arbeiten, wie er die „Schlechten“ von den „Guten“ unterscheiden könne – mit mir habe er ja schon einen „guten“ Anfang gemacht. Wir vereinbaren einen weiteren Termin, zu dem der Klient nicht erscheint; dafür ruft er am Wochenende auf meiner Privatnummer an und erreicht dort nur den Anrufbeantworter. Auf dem kann ich später eine Schimpftirade abhören: Ich sei auch nicht da, wenn er mich brauche. Das habe er sich gleich gedacht etc. Nach diesem Ereignis bin ich mir sicher, dass meine Annahme, es handle sich um eine Borderline-Störung, mit großer Wahrscheinlichkeit stimmt. – Bei dieser Persönlichkeitsstörung sind aus meiner Sicht die Grenzen der Philosophischen Praxis weit überschritten; ein Gespräch z.B. über Freiheit und Grenzen der Freiheit zeigt in solch einem Fall überhaupt keine Wirkung. Sobald ich den Klienten wieder sprechen kann, empfehle ich ihm dringend einen

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psychologischen Kollegen. Es stellt sich beim Gespräch heraus, dass er mir seine Klinikaufenthalte bewusst verschwiegen hat und außerdem gerade einen Drogenentzug verweigert. Ohne Ausbildung nach dem ICD / DSM (Diagnose-Manuale), hätte ich mich evtl. auf Gespräche mit dem jungen Mann eingelassen und bei angenehmen (weil schmeichlerischen) Pseudo-Diskussionen Geld verdient. Das wäre nicht nur unprofessionell gewesen, sondern für den Ratsuchenden auch schädlich.

Seriosität Unter Seriosität wird in diesem Kontext das transparente, wertschätzende Arbeiten mit einem Praxisbesucher verstanden. Seriosität ist unabhängig vom Inhalt der Praxis: die außergewöhnliche Vorgehensweise wie z.B. Hofmanns Experimentelles Philosophieren muss ebenso dem Maßstab der Seriosität genügen wie Staudes Philosophische Gesprächskreise. Nach vier Pfeilern, die die Professionalität tragen, werden im Folgenden fünf Pfeiler genannt, die den Begriff der Seriosität im Rahmen der Philosophischen Praxis explizieren sollen.

Pfeiler 5: Transparenz Der Aspekt der Transparenz schließt esoterische Praktiken explizit aus. „Geheimlehre“ ist Philosophie ja gerade nicht, sondern das Gegenteil: Klarheit im Denken, Selbstklärung und Orientierung im Denken und mit den großen Denkern. Pfeiler 6: Denken weiten – denkend wahrnehmen Anleitung zum Selber- und Weiterdenken ist ein wesentlicher Grundsatz Philosophischer Praxis. Die Asymmetrie im philosophischen Wissen kann sowohl den Besucher, als auch die Philosophin dazu verleiten, dass letztere vordenkt und ersterer hinterherdenkt. Gemeinsames Philosophieren bedeutet hingegen, sich mit dem Besucher in die Position des Nicht-Wissens zu versetzen, um mit ihm gemeinsam nachdenkend auf Spurensuche zu gehen. Eine 28-jährige Germanistin kommt in die Praxis, weil sie sich selbst und ihre Zukunft klären möchte. Sie bittet explizit darum, etwas mehr über die Existenzanalyse von Frankl zu erfahren. Sie hat viel von Viktor Frankl gehört, aber noch nichts gelesen. Da sie von Veröffentlichungen aus meiner Feder zu Frankl gelesen hat, bittet sie mich, Abschnitte auszuwählen, um diese zu diskutieren. Ich wähle „Die zehn Thesen zur Person“1 aus, ein Schlüsseltext von Frankl über dessen anthropologisches Konzept. Die Klientin liest den Text zu Hause. In der Sitzung kommt auf meine Eingangsfrage, wovon der Text ihrer Ansicht nach hand1

Frankl, Viktor (1996), Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. München, S. 108ff.

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le, spontan die Antwort: „Von Abtreibung!“ – Ich schnappe nach Luft: das ist textkritisch gesehen völlig daneben! Ich frage, wo sie das sehe. Und in der Tat: in einem Nebensatz erwähnt Frankl einen eigenen Konflikt in Hinblick auf die Abtreibungsfrage – mehr allerdings nicht. Es hat mit der Aussage des Gesamttextes fast nichts zu tun. Nun sitzen wir in der Praxis und nicht im Seminar, d.h. es geht nicht darum, einer Studierenden etwas zu erklären. Nicht Wissensvermittlung, vielmehr das Bedürfnis des Anderen steht im Mittelpunkt. Die Klientin hat natürlich einen Grund, das Ganze so zu lesen: ihre eigene ungewollte mir bis dato unbekannte Schwangerschaft. Dieser Konflikt wird zu unserem Gesprächsthema der nächsten Tage: Soll sie abtreiben oder nicht? Diese Frage hatte sie in meine Praxis bewegt und sie hatte die Frage intellektualisiert und als Selbst- und Zukunftsklärung umschrieben. Die Gefahr, sich nicht um das Thema der Klientin zu kümmern, bestand in dem Augenblick, als ich innerlich empört war, weil eine Germanistin (!) einen einfachen Text so „schräg“ lesen konnte. Wäre ich – sozusagen von Intellekt zu Intellekt – auf diese Fährte gegangen, so wäre ich diejenige gewesen, die das Thema verfehlt hätte! Philosophische Praxis hingegen geht von Existenz zu Existenz.

Pfeiler 7: Offener Raum Die Philosophische Praxis muss ein Ort des fraglosen Daseins für den Besucher sein. Konkret bedeutet das: dem Mandanten muss als Person, mit seinen Werten, Ansichten und Problemen auf Augenhöhe begegnet werden. Hier darf er denken, fühlen und aussprechen, was ihn beschäftigt. Psychologisierendes Anschauen wird gleichzeitig ausgeschlossen. Umgekehrt muss jede Philosophische Praktikerin auch hier eigene Grenzen ziehen: Gibt es Einstellungen, mit denen man selbst nicht umgehen kann? Das können extrem-politische Grundhaltungen sein, Rassismus, Fundamentalismus oder Neigungen, bei denen die Praktikerin keine Offenheit mehr aufbringen will. Das Prinzip der Augenhöhe, das Gespräch von Existenz zu Existenz ist dann prinzipiell nicht möglich. Pfeiler 8: Diskretion Diskretion muss zugesagt und unbedingt eingehalten werden. Diskretion ist problemlos einzuhalten, wenn die Philosophin mit „irgendjemand“ Kant-Texte liest. Spektakuläre Beratungsfälle, in denen eine öffentlich bekannte Person ihre Fragen beim Philosophischen Praktiker bewegt oder ein verworrenes Beziehungsgeflecht von öffentlicher Brisanz in den Gesprächen gelöst werden soll, stellen für manchen Philosophen eine Versuchung dar, sich selbst mit dem Mandanten zu brüsten. Wer dieser Versuchung erliegt, verliert seine Glaubwürdigkeit. Ein Philosophischer Praktiker hält auf einer Tagung einen Vortrag und plaudert aus dem „Nähkästchen“: er erzählt unter Namensnennung von den Gesprächen mit einem aktuell in den Medien viel diskutierten Vorstandsvorsitzenden

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und davon, wie er diesen berät. Exemplarisch wird anhand des berühmten Mandanten dargestellt, inwiefern hier Philosophen auch einen politischen Beitrag leisten können. Sechzig Zuhörer werden in den nächsten Wochen gespannt zusehen, wenn das Konterfei des „besprochenen Falls“ in den Medien erscheint. Keiner der Anwesenden wäre danach mehr mit persönlichen Anliegen zu dem vortragenden Kollegen gegangen.

Pfeiler 9: Unabhängigkeit im Denken – für beide Seiten In einer Philosophischen Praxis ist kein Platz für Jüngerschaft und Fantümelei. Hier liegt eine der größeren Gefahren – sowohl für den Beratenden als auch für den Mandanten. Es mag sich schmeichelhaft anfühlen, wenn eine Mandantin nichts mehr ohne „ihren Philosophen“ entscheidet, und es scheint vielleicht wie ein Erfolg, wenn ein Klient sich mit der Zeit dem sprachlichen Duktus des Philosophischen Praktikers anpasst. Und es gibt diejenigen, die mit „ihrem Philosophen“ quer durchs Land reisen, um ihn überall zu hören. Mit diesem Pfeiler stürzt auch Pfeiler 6 ein: das Anspornen zum Selber-Denken. Statt des philosophischen Denkens ist der Philosoph selber zur Orientierung geworden. Seriosität bedeutet hier Distanz, auch zu sich selbst. Die neun Pfeiler tragen das Dach, unter dem Philosophische Praxis als offener Raum stattfindet. Sie haben mit „tugendhaftem“ oder „moralischem“ Verhalten wenig zu tun, vielmehr mit der Haltung in der Praxis, dem eigenen Sollen und Wollen. Die Frage des Ethos entspricht deshalb der Thematik der Lebensform. Zu dieser Form werden im folgenden Kapitel Thesen, Spannungsfelder und Fragestellungen gegeben, die zum Weiterdenken und -diskutieren anregen sollen.

Der Philosophische Praktiker – individuelle Entscheidungsprozesse Praxis und Authentizität Was erwartet die Besucherin eines Philocafés, einer Führungsberatung, einer Paarberatung, eines philosophischen Gespräches vom Philosophen als Person? Aus der Vielzahl von Antwortmöglichkeiten ragen die Authentizität und das Ernstnehmen der Gesprächspartner sicherlich heraus. Authentizität setzt einen Praktiker voraus, der die jeweilige Praxis mit seiner Persönlichkeit prägt und trägt. In diesem Sinne ist es nicht egal, welche Praxis ein Philosoph betreibt; im Gegenteil: er ist ein Teil seiner Praxis, er ist Vermittler im wörtlichen Sinne. Hofmanns „Philosophie-Massaker“ wäre ohne Hofmann eine andere Veranstaltung; Zoller wirkt bei Kindern und Studierenden durch ihre Weise des Fragens und Vermittelns. Hubers Beratung unterscheidet sich von der, die Schiffer anbietet durch seine Person. Obwohl beide das Thema der Identität in diesem Band

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fokussieren und hochqualifiziert in ihre Beratungsgespräche gehen, wird die Art und Weise, auch der Weg zum Ziel, völlig verschieden aussehen. Um echter Mittler sein zu können, um authentisch zu sein, muss derjenige das, was er tut, mit ganzem Herzen tun. Er muss seine Tätigkeit und die damit verbundenen Menschen lieben, um im Tun ganz er selbst sein zu können. Liebe ist hier in einem unromantischen Sinne gemeint, nämlich im Sinne einer grundsätzlichen Bejahung der Klienten und deren Fragestellungen; Liebe im Sinne einer Hingabe, die den Blick für die Wirklichkeit behält und dennoch bereit ist, über ein geregeltes Maß hinaus zu gehen. Im Gegensatz dazu bedeutet es nicht, jeden einzelnen Ratsuchenden „lieben“ zu müssen. Es reicht, ihn und sein Anliegen bejahen zu können. Diese Authentizität ermöglicht auch das (Er-) Tragen der Vorbildfunktion, die einem Philosophischen Praktiker ungewollt zukommt. Fazit: wer Manager für „Nieten in Nadelstreifen“ hält, der verhält sich als Führungsbegleiter nicht authentisch. Wer keine echte Geduld aufbringt und nur „professionell“ zuhört, der kann/sollte keine persönliche Beratung anbieten. Wen Pädagogik vorrangig als gesellschaftspolitisches Anliegen interessiert, der ist für Kinderphilosophie weniger geeignet. Es geht bei einer Wahl für das Tätigkeitsfeld also nicht nur darum, womit man Geld verdienen kann, vielmehr an welcher Welt man partizipieren will und mit welchen Fragen man sich selbst täglich konfrontiert sehen möchte.

„Ganz“ oder „auch“? Eine Frage, die unter Philosophischen Praktikern immer wieder diskutiert wird, ist die Frage, inwiefern ein Philosoph seinen Lebensunterhalt durch seine Praxis finanzieren soll oder sich durch eine Anstellung die benötigte Grundversorgung sichern kann, um dann – je nach Zeitbudget – seiner Philosophischen Praxis nachzugehen. Für die Variante einer Kombination Angestellten-Verhältnis / Philosophische Praxis (Teilzeit-Praktiker) spricht die finanzielle und organisatorische Freiheit, die sich der Praktiker damit verschafft: er muss sich den Kunden weniger anpassen, ist wenig mit administrativen Aufgaben befasst und hat die Sozialversicherungsleistungen über den Arbeitgeber abgedeckt. (In Deutschland bedeutet das: die Krankenkassen- und Rentenbeiträge sind bezahlt, die Grenze zur Umsatzsteuerpflicht wird nicht so bald erreicht, weshalb innerhalb der Philosophischen Praxis ein realer Gewinn schneller erzielt werden kann oder die Leistungen zu einem wesentlich günstigeren Preis angeboten werden können.) Was gegen eine Teilzeitpraxis spricht, ist die Rollenunklarheit und Authentizitätsfrage, die mit dieser Kombination einher geht. Sicherlich ist das vom Angebot der Philosophischen Praxis abhängig. Ein Lehrauftrag an einer Schule und die Leitung eines Philosophischen Cafés widersprechen sich sicherlich nicht. Führungsbegleitung und eine Fest-Anstellung widersprechen sich schon eher: wenn die Philosophische Praktikerin nicht in der Lage ist, ihr eigenes Unterneh-

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men im Feld der freien Wirtschaft zu behaupten, also von ihrer Praxis leben zu können, dann fragen sich die Mandanten, was diese Beratung in der Anwendung „taugt“. Ethik wird dort praktisch, wo subjektive (Überlebens-)Interessen ins Spiel kommen und den Abwägungsprozess maßgeblich beeinflussen. Der These „Moral ist eine Frage des Geldbeutels oder ein Mangel an Gelegenheit“ kann der Philosophische Praktiker letztlich am besten durch sein persönliches Verhalten begegnen. Ich halte es für glaubwürdiger, wenn ich meine Beratung für Führungspersonen als eigenes Unternehmen wirtschaftlich betreibe und mich en miniature mit denselben Themen befasse, wie meine Mandanten: Wettbewerb, Marketing, Fixkosten, Rechts- und Steuerfragen, Kosten-Nutzenrechnung, Honorarverhandlungen. Ich sitze im selben Boot und kann dadurch ungleich authentischer auftreten als ein Berater, der die Problemlagen nur denkend, aber nicht existentiell nachvollziehen kann. Ethik ist eben leichter gesagt als getan: Die Frage nach Moral fühlt sich plötzlich anders an, wenn ich finanziell am Abgrund stehe und die Möglichkeit erhalte, einen gut zahlenden Mandanten zu begleiten, der gegen meinen Verhaltenskodex steht. Genauso (angesichts der Angestellten und der Fürsorgepflicht noch mehr hin und her gerissen) fühlt sich der Geschäftsführer eines Textilunternehmens, der vor die Wahl gestellt wird, in Europa sein Werk ganz zu schließen oder den Rumpf (Verwaltung, Marketing, Distribution und Design) vor Ort zu belassen und dafür in Fernost durch Kinderarbeit fertigen zu lassen. – Wer die eigenen wirtschaftlichen Gefahren kennen gelernt hat, kann authentisch begleiten und sich solidarisch an der Seite des Mandanten auf den Weg machen. Im wahrsten Sinne des Wortes „Freiberufler/in“ ist, wer sich für das „Ganz“ entschieden hat. Diese Bezeichnung unterstützt in konkreten Situationen, sich die eigene Unabhängigkeit immer wieder vor Augen zu führen. Ein Mandant hat während seiner Ferien nochmals alle geplanten Weiterbildungen seines Unternehmens überdacht, darunter das eigene Coaching und das des Management-Teams (beides mir anvertraut). Er hat ohne mein Wissen die Jahresthemen der Coachingeinheiten geändert, die Leitbildentwicklung im Plan gekürzt und einige andere Veränderungen vorgenommen, die meine Mitwirkung im Unternehmen betreffen. Der geplante Prozess, so erfahre ich im Gespräch, gehe ihm zu langsam voran, das müsse auch schneller gehen. Als ich von der Personalleiterin ein entsprechendes Rundschreiben an die betreffenden Mitarbeiter erhalte, vereinbare ich sofort einen Termin mit dem Geschäftsführer, bei dem ich entschieden gegen diesen Plan auftrete. Mein Mandant zeigt sich irritiert: schließlich sei er mein Auftraggeber und ich die Dienstleisterin. Ich verweise auf meinen Status als „Frei-Beruflerin“ und verdeutliche, dass ich nicht bereit bin wie eine Angestellte die Pläne eines Geschäftsführers auszuführen. Die Diskussion wird fruchtbar und mein Mandant erklärt sich bereit, mit mir gemeinsam ein

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neues Konzept zu erstellen, bei dem erfüllt wird, was ich mit meinem professionellen Anspruch vereinbaren kann. Was dem Mandanten eindrücklich bleibt, ist die „Freiheit“, die ich mir nehme, und dabei auch das Risiko eingehe, das Mandat ganz zu verlieren. „Letztlich hat mich Ihre Haltung überzeugt.“ Eine weitere Spannung zwischen „ganz“ oder „auch“ ergibt sich durch die ungleiche „Startposition“, die entsteht, wenn zwei Philosophen dieselbe Leistung anbieten, jedoch nicht beide ihre Fixkosten in ähnlicher Höhe und ihren Lebensunterhalt damit bestreiten müssen. Wer zum Beispiel im Anstellungsverhältnis auf eine Infrastruktur (Räume, Geräte, Personal) einer Schule oder Hochschule zurück greifen kann, hat vom Vortragshonorar letztlich als Netto-Gewinn mehr übrig als ein freiberuflicher Philosoph, der z.B. das doppelte Honorar in Rechnung stellt. Auch im privaten Bereich gilt: wer außer einem kleinen Gesprächs-Raum weder Umsatzsteuer, noch sonstige Kosten zu tragen hat, kann die Gesprächsstunde ungleich günstiger anbieten und hat dann für die vergleichbare Leistung netto mehr übrig als eine Freiberuflerin. Dieser Umstand führt unweigerlich zu einer Wettbewerbsverzerrung und zu weiteren – auch moralischen – Fragen, um die zu selten gestritten wird. Bei aller Abwägung ist die Kernfrage jedoch nicht die, wie viel Zeit jemand mit einer anderen beruflichen Tätigkeit verbringt. Eher ist es eine Frage von „Sein“ und „Zeit“, d.h. mit welchem Selbstverständnis arbeite ich, welchen Raum soll welche Tätigkeit in meinem Leben einnehmen, wovon lasse ich mich im Arbeitsalltag bestimmen? In diesem Sinne handelt es sich um eine Wahl der Lebensform, bei der monetäre Themen deswegen eine Rolle spielen, weil wir uns als Praktiker mitten in der Welt befinden.

Dienstleistung oder Dienstmagd? Jede Praktikerin bewegt sich in einer Gesellschaft, die vom Dienstleistungsgedanken geprägt ist; „Beratung“ hat sich zu einem wirtschaftlich relevanten Teil des Marktes entwickelt, und damit auch der Anspruch, fachlich qualifiziert (wodurch auch immer) und „kundenorientiert“ beraten zu werden. Zugleich treffen wir auf einen unüberschaubaren Beratermarkt, um dessen Marktanteile heftig gekämpft wird. Muss ein Philosoph an diesem Kampf teilnehmen? Vielleicht muss er nicht kämpfen, aber sich einen Weg suchen, auf dem er von den Menschen wahrgenommen werden kann, mit denen er arbeiten will. Schon früher war der Eremit nur dann hilfreich, wenn andere wussten, dass da einer im Rückzug lebt und im Zweifel zu befragen ist. Was hat aber z.B. Sokrates gegen entgeltliches Philosophieren aufgebracht? Es war die Befürchtung (oder Beobachtung?), sich durch die Bezahlung als Dienstmagd zu verdingen. Die Unterscheidung zwischen Dienstleistung und

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Dienstmagd ist ein hilfreicher Weg, um die feinen, aber wesentlichen Unterschiede des Selbstverständnisses und der Gratwanderung heraus zu arbeiten, die sich in der Praxis ergeben. Praktiker leben mit der Herausforderung, für ihre Kunden, Besucher oder Schüler Nutzen zu stiften, sich dabei persönlich einzubringen, und dabei die eigene Person und ihre Werte zu vertreten, nicht aber zu verkaufen. Wir haben bei der Diskussion als Autorengemeinschaft festgestellt, inwiefern für Philosophen diese Gratwanderung zwischen Sich-Verkaufen und dem Erbringen von Dienstleistungen im Dienste des Menschen und der Gesellschaft immer wieder aufs Neue eine individuelle Herausforderung darstellt. Da die Anfragen in Hinblick auf moralische Grenzziehungen besonders im Bereich Coaching gestellt werden, sei folgendes angemerkt: Den Mandanten aus der freien Wirtschaft und der Politik werden prinzipiell „bedenkliche“ Verflechtungen und finanzielle Interessen unterstellt, die im Coaching unterstützt werden könnten. Daher wird immer wieder die Frage an mich als Führungsberaterin gestellt, welche Mandate ich ablehne. Dabei wird eine unausgesprochene „Regel“ übersehen: Mandanten, die sich für eine Begleitung durch eine Philosophin entscheiden, haben damit bereits eine Vorentscheidung getroffen, die das Manipulieren von Menschen als bedenklich einstuft. Sie suchen einen Sparringpartner, sie suchen Tiefe, das gemeinsame Denken, den Widerstreit im Gespräch. Ich glaube nicht, zumindest habe ich es nicht erfahren, dass „knallharte“ DiscountKetten-Besitzer, denen es ausschließlich um den Profit geht, mich als Führungsbegleitung wählen würden. Und wenn, dann würde es für uns beide eine herausfordernde Zeit. So kam beim Einzelcoaching des Vorstandes eines Rüstungskonzerns heraus, dass dieser meine Begleitung für einen Ausstieg aus seiner Position suchte. Viel unspektakulärer und alltäglicher sind die Fälle, in denen ich funktionalisiert werden soll: Wenn ich zum Beispiel bemerke, dass ich von Seiten der Geschäftsführung mit dem Hintergedanken beauftragt werde, Mitarbeiter auszuspionieren oder das Coaching dazu dienen soll, Mitarbeiter zu beruhigen, stelle ich den gesamten Auftrag in Frage. Ein Mandat habe ich z.B. niedergelegt, weil alles im Coaching Erarbeitete in keiner Weise zu verändertem Verhalten führte. Bei diesem Hinweis gab der Coachingnehmer preis, er wolle gar nicht so intensiv an sich arbeiten, aber das könne mir doch egal sein, er fühle sich nach den Coachings gut und schließlich bezahle mich das Unternehmen für „den Job“. Ich selbst sehe mich nicht als „Wellness-Coach“, also beendete ich das Coaching. Schließlich weiß ich anfangs nicht, weshalb mich jemand wirklich beauftragt und mir bleibt die Freiheit, das Mandat jederzeit niederzulegen. Das allerdings fordert jedes Mal neu Kraft und Mut. Wir finden keine Regel, wann eine Praktikerin ein Mandat ablehnen bzw. die Gespräche beenden soll. Grundlage dieser Entscheidung, darüber, „was wir tun

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sollen“, bleibt die Anstrengung, mit sich selbst identisch zu bleiben, die Integrität zu wahren und damit den größten „Nutzen“ zu stiften, den ein Philosoph individuell und in der Gesellschaft stiften kann. Aus dieser Einsicht erschließt sich, inwiefern Entscheidungs- und Verantwortungssituationen immer wieder und in vielerlei Gestalt entstehen. So ergeben sich beispielhaft folgende Fragestellungen für die unterschiedlichen Praxen:













Kann eine Philosophin ein Paar trauen, obwohl sie im Vorgespräch bemerkt, dass hier schwerwiegende Differenzen zwischen den Partnern unausgesprochen schwelen? Darf sie überhaupt zwei Menschen trauen, ohne intensive Gespräche mit ihnen geführt zu haben? Begleitet ein Philosoph (ohne einschlägige Ausbildung) einen Ratsuchenden weiter, obwohl deutlich wird, dass dieser eine psychische Störung hat? Wenn der Ratsuchende aber signalisiert, dass er sich hier besser aufgehoben fühlt als in einer Psychotherapie? Bricht ein Philosophischer Praktiker das Gespräch ab, wenn er bemerkt, dass er z.B. als Kotherapeut zu einem Psychotherapeuten herangezogen wird, dieser aber uninformiert bleibt? Wie reagiert der Philosoph, wenn er merkt, dass er lediglich als Wellnessoase statt zur Herausforderung zum bewussten Leben dient? Wo endet die Verantwortung im „Philosophischen Massaker“ (Hofmann) in dem existentielle Fragen bewusst aufgerissen werden und der Raum – schon allein begrifflich – für unfaires Verhalten schnell eröffnet werden kann? Wo und bei welchem Verhalten der Besucher endet der „offene Raum“? Kann eine Philosophin sich in einem Schulsystem einbringen, das sie per se als diskriminierend und vom Ansinnen her fehlgeleitet sieht? Welche Rolle spielen die ideologischen Hintergründe für den Philosophischen Praktiker, die bei etlichen Privatschulen identitätsstiftend sind? Wie steuert ein Praktiker die Gruppendynamik während der philosophischen Gesprächsgruppen? Darf oder muss er das überhaupt? Wie balanciert er die Erwartungen und Bedürfnisse der Gruppenteilnehmer, und wird evtl. dabei den einen oder anderen ausschließen? Darf eine Philosophin ein Medienunternehmen beraten, das auch Pornofilme produziert? – Wie viel Prozent Pornos darf eine Ladenkette vertreiben, damit die Philosophin den Geschäftsführer noch beraten „darf“? (Dürfte also ein Philosophischer Praktiker z.B. den Geschäftsführer von Amazon beraten?) Wie überprüft ein Praktiker seine Qualität, außer durch zufriedene Kunden?

Philosophische Praxis als Lebensform Der Philosophische Praktiker kann mit den oben genannten kritischen Fragen verantwortungsvoll umgehen, wenn er die Praxis nicht allein als Beruf sieht,

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vielmehr als Lebensform, aus der sich diese Praxis ergibt. Ohne den bedeutungsschwangeren Begriff der Berufung ins Feld führen zu müssen, lässt sich leicht verdeutlichen, was die Lebensform vom Beruf unterscheidet: Ich „betreibe“ keine Praxis, ich „bin“ Praktikerin, der es durch mein Verständnis von Philosophie schwer fiele, etwas ganz anderes zu tun, bei dem ich mich „ver-dingen“ müsste. Umgekehrt wird es einem Philosophen, der seine Leidenschaft in der theoretischen Philosophie hat, schwerfallen, sich in eine Praxis einzupassen. Es geht mitnichten um ein Ausspielen, wer der eigentliche oder bessere Philosoph sei. Es geht hingegen darum, sich – gerade als Philosoph – nicht zu ver-dingen. Verdingen bedeutet in diesem Kontext, die aus der Philosophie erwachsenen Kompetenzen und sich selbst als Philosophin (nicht) zum Ding, also zum Gegenstand zu machen, der verkauft wird. Diese Form von Verkauf mag in produzierenden oder entwickelnden Berufen möglich sein, aber auch ein Architekt oder eine Ärztin werden hier sehr bald ihre Grenzen ziehen.2 Lebensform bedeutet in diesem Sinne eine unauflösbare Verknüpfung der eigenen Person mit der Tätigkeit als Philosophische Praktikerin. Philosophischer Praktiker zu sein, ist eine Seins-Form. Aus dieser Sein-Form heraus bildet sich das Ethos eines Praktikers, der sich schließlich nicht nur in Bezug auf die oben genannten brenzligen Themen die Frage „Was soll ich tun?“ in aller Tiefe stellt. Das Ethos stellt einen Großteil der Integrität der eigenen Person, daher auch der Glaubwürdigkeit der Person und ihrer Sache dar. Insofern sind wir als Praktiker bezogen auf den Anspruch von außen nicht weit von kirchlichen und anderen gesellschaftspolitischen Einrichtungen entfernt, die gerade an diesem Punkt am angreifbarsten sind. Philosophische Praktikerin-Sein bedeutet, sich in die Welt einzumischen, und zwar dort, wo sie mich „angesprochen“ oder gereizt hat, wo ich vielleicht eine Begabung oder einen biografischen Bezug habe. Sich einmischen bedeutet immer, in Dilemmata zu geraten, die gedanklich durchdrungen und durch Entscheidung praktisch gelöst werden müssen. Die Lebensform eines Philosophischen Praktikers wird von dieser Spannung geprägt und führt zum stetigen Abgleich des eigenen Anspruchs mit und in der Wirklichkeit. Die Praktikerin versteht sich in diesem Sinne als politisch, weil sie sich in der jeweils gewählten Praxis als Philosophin in die gesellschaftliche Wirklichkeit einbringt. Dieses Anliegen teilen die Praktiker, egal welche Praxis sie gewählt haben. Unter diesem Gesichtspunkt wäre das vorliegende Buch auch irreführend, wenn es als Methodenbuch im Sinne anzuwendender Techniken verstanden würde. Das Buch zeigt vielmehr, mit welcher Haltung und auf welchem Weg jeder von uns sich aufmacht, um an verschiedensten Stellen in unserer Gesellschaft als Philosophen zu wirken. Egal, mit wem wir leben und arbeiten, wollen wir zum 2

In Deutschland gibt es hier die juristisch und fiskalisch relevante Unterscheidung von Selbstständigkeit und Freiberuf: Der Status Freiberuf ist verbunden auf die Verknüpfung der Person mit ihrer Dienstleistung (Typische Berufe hier sind: Anwalt, Arzt, Architekt).

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Denken anregen, Grenzen des Denkens erweitern und reflektiertes Entscheiden und Handeln begleiten. Wir alle ringen um die Frage „Was soll ich tun?“ Als Philosophische Praktiker sind wir Grenzgänger der Freiheit, was letztlich auch Methodenfreiheit bedeutet; Methodenfreiheit aber im Sinne eines gewählten Weges, den wir transparent machen können, und den wir immer wieder (auch mit gegenseitiger Unterstützung) unter verschiedenen Aspekten überprüfen. Das allein ist der Grund, warum wir uns bei aller Verschiedenheit in den Personen, Tätigkeiten und Zielgruppen unter dem Dach der Philosophischen Praxis wiederfinden und ein Selbstverständnis teilen, um das wir immer wieder gestritten haben und auch in Zukunft streiten werden.

Au toren

Bernasconi, Martina geb. 1965, lebt in Basel. Studium der Philosophie, Literatur und Medienwissenschaft in Basel, Berlin und New York. Unterrichtstätigkeit an diversen (Hoch-) Schulen. Betreibt seit 2003 in Basel die Philosophische Praxis Denkpraxis. Fintz, Anette Suzanne geb. 1964, leitet das von ihr gegründete ISOB (Institut für Sinn-orientierte Beratung) in Radolfzell, wo sie Führungspersonen in den Bereichen Communication | Performance | Leadership begleitet. Sie promovierte am Institut für Philosophie an der Universität Konstanz zum Thema „Die Kunst der Beratung. Jaspers‘ Philosophie in Sinn-orientierter Beratung“ und hat eine Zusatzqualifikation in Logotherapie, sowie diagnostische und pharmakologische Weiterbildungen. Fintz arbeitete zunächst als Beraterin für Menschen in Lebensorientierungsphasen. Seit ihrer Weiterbildung zur Coach der Wirtschaft begleitet sie Führungspersonen der freien Wirtschaft, des öffentlichen Lebens und sozialer Träger. Veröffentlichungen zu Viktor Frankl und Karl Jaspers, sowie zum Thema Philosophie in Führungsfragen. Hofmann, Imre geb. 1972, lebt und arbeitet in Zürich als praktischer Philosoph (www.elenchos. ch). Er ist Mitglied des Netzwerks philopraxis.ch und führt unter anderem regelmäßig öffentliche Philosophieveranstaltungen wie „Das Zürcher Philosophiemassaker“, „hirnblutung“, „theory battle“ und „Ästhesen“ durch. Seine besonderen Interessen gelten ethischen Fragestellungen an der Schnittstelle zur Gesellschaft, sowie dem Verhältnis von Philosophie und Kunst. Huber, Florian geb. 1979, Magister der Philosophie und Doktor der Psychologie, lebt und arbeitet als freier Philosoph in eigener Praxis mit Schwerpunkt Lebensberatung am Chiemsee. Er ist Initiator und Leiter des „Rosenheimer Instituts Gesundheit &

268 | METHODEN PHILOSOPHISCHER PRAXIS

Bildung“ und dort in der Aus- und Weiterbildung von Menschen in helfenden, beratenden und therapeutischen Berufen tätig. Homepage: www.elarena.de

Jaud, Manfred Studium der Elektrotechnik zum Dipl. Ing., Praktikum in der Türkei im Ministerium für Bebauung und Planung; Studium der Philosophie und der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte zum MA, Nebenfächer: Erwachsenenbildung, Psychologie und Kunstgeschichte; Studienjahr in einem buddhistischen Kloster in Indien; Meditationsausbildung (Zen Richtung); NLP Trainer (DVNLP); verschiedene Ausbildungen im therapeutischen Bereich. Tätigkeiten: 10 J. Unternehmer in der Baubranche, 10 J. in der Touristikbranche, 20 J. in einer Rehaklinik als Therapeut/Philosoph Seit 1995 Mitglied bin ich Mitglied der IGPP und betreibe eine Philosophische Praxis; heute arbeite ich als Philosophischer Praktiker mit den Schwerpunkten Sinnfragen, Stress, burn-out. Lindseth, Anders (geb. 1946) ist in Norwegen Professor für praktische Philosophie am Zentrum für praktisches Wissen der Hochschule in Bodø und in Schweden Professor für praktisches Wissen an der Künstlerfakultät der Universtät Göteborg. Er führt seit 1989 eine Philosophische Praxis. Er ist Mitglied des Vorstandes des Internationalen Gesesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP). Seit 1971 ist er Meditationslehrer der norwegischen Acem-Schule für Meditation. Schiffer, Eva Studium in London und Florenz (Philosophie, Ideengeschichte, Vergleichende Literatur); Ballettausbildung in Zürich, Basel und Graz; Clown bei einer Theatertruppe in London und am 'Edinburgh Fringe Festival'; Übersetzungen für Theater (Karl Valentin) und Philosophie (Karl Popper); langjährige Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und in der Lehrerweiterbildung. Seit 1997 freie Philosophin mit eigener Philosophischer Praxis in Zürich. Verschiedene Veröffentlichungen; zuletzt: – Philosophische Praxis: Eine spätmoderne Rehabilitierung der Philosophie als Lebensform in: H. Burckhart, J. Sikora (Hg.): Praktische Philosophie in Gesellschaftlicher Perspektive. Ein Interdisziplinärer Diskurs, Münster 2005 – „Dann leben wir eben später“: Philosophische Praxis als Schulung der Endlichkeits-Kompetenz; Reflexionen zu einer Zeichnung von Meret Oppenheim, in: Th. Gutknecht, Th. Polednitschek, Th. Stölzel (Hg.): Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis 2009 Staude, Detlef Geb. 1957 in Düsseldorf, seit 1996 in der Schweiz; seit 1997 Philosophische Praxis philocom in Bern; seit 2002 Koordinator des Netzwerks für praktisches

AUTOREN | 269

Philosophieren philopraxis.ch; seit 2009 im Vorstand des Berufsverbands Philosophische Praxis BV-PP. Herausgeber und Mitautor folgender Bücher: Lebendiges Philosophieren. Philosophische Praxis im Alltag, transcript-Verlag Bielefeld 2005; Das OrientierungsLos . Philosophische Praxis unterwegs (zus. Mit Volkbert M. Roth), Hartung-Gorre Verlag Konstanz 2008 (Hardcover) und 2010 (Softcover)

Waldvogel, Markus 1952 geboren, aus Schaffhausen. Zweiter Sohn eines Industrie-Fotographs und einer Verkäuferin. Studium in Zürich. Doktorat über Mörike und Adorno bei Peter von Matt. Therapeutische Ausbildung am Alfred-Adler-Institut in Zürich. Seit 1982 Lehrer am Seeland-Gymnasium Biel. Gründung der Beratungsfirma Pantaris. Lehrauftrag (Philosophiedidaktik) an der PH Bern. Wichtigste Publikationen: Die Schneefallgrenze sinkt; Mit Sicherheit; Sag nichts zum grauen Reiher (Lyrik); Das Einzigartige und die Sprache; Philosophie der Provinz (Essays); Schule zwischen Stoff, Stress und fehlenden Visionen (Pädagogik); Bilder der Bildung (Essay). Zoller Morf, Eva geb. 1947, lebt im Kanton Zürich und arbeitet freiberuflich mit Eltern und Lehrkräften aller Stufen und als Dozentin an Pädagogischen Hochschulen, leitet die von ihr begründete Schweizer Dokumentationsstelle „s’Käuzli“ für Kinder- und Alltagsphilosophie in CH-8479Altikon. www.kinderphilosophie.ch. Sie ist Autorin mehrerer praktischer Bücher zur Kinderphilosophie.

Index

68er-Bewegung

55

a priori 93, 97, 98 Achtsamkeit 186 Achtung 14 administrative Arbeit 167 Agora 240 akademische Philosophie 197 Alfred Adler 248 Alltag 152 Als-ob-Fiktion 214 alternative Formen des Philosophierens 202 alternative Trauungen 135 Ambivalenz 137, 138, 139 Anbindung an Universitäten 59 Andere, das 191, 207 Angemessenheit 197 Anthropologie 158 Antike 27 Antinomie 151 Archäologie der Sprache 110 Argumentationsmuster 238 Asketik 33 assoziatives Vorgehen 117 Atmosphäre 178, 180 Aufklärung 104 Augustinus 249 Ausbildung 58, 63, 168 Ausprobieren 202, 206

Auswahl des Raumes Authentizität Autoritäten

177 259 14

Bedürfnisse soziale und emotionale 174 Begegnung 154 Begegnung auf gleicher Augenhöhe 16 Begleitung 153, 170 Begriff 15, 18 Begriffe vage 128 Begriffsverwirrungen 38 Beliebigkeit 19 Beratung 153 Beratungsgespräch 13 Berufsethik 236 Berufsverband für Philosophische Praxis 64 Beschleunigung 46 Betriebswirtschaft 152 Bewusstheit 16 Bewusstsein historisches 35 Bewusstwerdung 13 Beziehung 133, 134, 135, 137, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 145, 146 Beziehungen 133, 134, 143

272 | INDEX

Beziehungsstruktur Bildung Bildungsgutscheine Bildungspolitik Bildungsziele Blog Buch/Bibliotherapie Burnout Caring Thinking chrónos und kairós Coaching common sense Communitiy of Inquiry

137, 139, 143 34, 63, 234 242 233 235 58 117 237 221, 222 150, 164 233, 235 241 222

das Persönliche 12 Demokratische Vernetzung 235 Denken 151, 257, 266 in Gegensätzen 160 unternehmerisch 168 Denkpraxis 134 Deregulierung 241 Dewey 246 Diagnose gesellschaftliche 101 Diagnostik soziale 112 Dialektik 13, 121, 159, 160 Dialog 12 Die Analyse des Scheiterns 237 Die Philosophie des Als-Ob 247 Dienstleistung 262 Diskretion 258 Diskussion 12 Distanz 13 Ehe 133, 137, 138, 139, 141, 144, 145 Ehepaar 136, 138 Eheschließung 137, 139, 140 Eigendynamik des Systems 215 eigenständiges Denken 186

Eigenständigkeit 11 Eigenzeit 126 Einzelberatung 134, 140 Einzelberatungen 133, 135, 144 Einzelfallanalyse 237 Eloquenz 16 Entscheiden 266 Entscheidung 137, 138, 139, 150, 151, 154, 160 Entwicklung und Umsetzung eines neuen Angebots 199 epoché 85 Erfahrung 205, 206 Erkenntnisziele fachwissenschaftliche 24 Erklären 152 Ermutigung 13 ernstnehmen der Gesprächsteilnehmer 180 Erweiterung der menschlichen Freiheit 18 Erzählen 109 Ethik 241, 253, 261 ästhetische 118 zeitgemäße 30 Ethos 159 Evaluation 239 Existenzialismus 237 Experiment 206 experimentell 14 Experimentieren 108 Fähigkeit des Denkens 234 Fähigkeit zu wählen 13 Finanzen 260 Finanzierung 202 Finanzkrise 47 Foucault 56 Frage 15 Freiheit 46, 108, 109, 151, 154, 159, 266 Freiheitsbegriff 237

INDEX | 273

freundschaftsfördernde Kraft der Philosophie 174 Führungsberatung Definition 153 Funktion von Methoden 16 ganzheitliches Denken 205 Gegenseitigkeit 14 Gegenwart kollektive 114 Gehorsamkeits-Experiment 229 Gemeinsinn 186, 248 Gerd B. Achenbach 56 Gernot Böhme 240 gesellschaftlicher Kontext 195 Gespräch 191 Gestell 75, 78 Geworfenheit 250 Glaubenssätze 114 Glück 27 Gracián, Baltasar 163 Grenze 207 Grenzen 256 Grenzüberschreitung 199 Grundlage 263 Grundregeln 15 Gruppen 174 Gruppenzusammenhalt 175, 179 Hadot 56 Haltung 14 aufklärende 125 Haltung des Praktikers 107 Han, Byung-Chul 163 Handeln 154, 160, 266 Handwerk 206 Hermeneutik 21 herrschaftsfreier Diskurs 192, 203 Herrschaftsfreiheit 13 Hilfen zum Selberdenken 226 homo oeconomicus 247

Homöostase Honorar Humor

217 169 18

Idealität 256 Identität 120, 151 des Philosophen 108 Identitätsarbeit 112 Identitätsmodelle 106 Ideologie 247 Illich 245 Individualisierung 103, 112 Initiationsrituale 248 innerer Dialog 14 Instrumentalisierung 194, 235 Integrität 265 Intentionen 18 Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis 57 internationale Kongresse 57 Intervision 19 Jaspers, Karl

155

Kant Kant, Immanuel Kinderphilosophie klare Begriffe Klären und Stärken Klarheit Klarheit im Handeln Klärung Kommunikation Kompetenzen komplexen Systemen Konfuzius Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion Konstruktivismus Kontext geistesgeschichtlicher und theoretischer

250 154 59 180 249 15 11 11 239 256 215 156 230 214

21

274 | INDEX

Kontextveränderung Konzept Krise Kritik Kultur Unternehmenskultur Kultur der Öffentlichkeit Kulturtechnik Kunst

217 18 68, 72, 74 191 157 238 196 208

Lebensberatung 34 Lebensform 13, 259, 264 Lebensfragen 133 Lebensführung 165 Lebenshaltung 154 Lebenskunst 13, 17 Lebenspraxis 11 Lebensthema 67, 88, 94, 95, 97, 98 Lebenswelt 18, 93 Lebenswerkzeug 17 Lebensziele prüfen 123 Lehrfreiheit 236 Leitung 15 Liebe 134, 136, 138, 139, 142, 147, 260 lingua franca 248 Logik 151 innere 152 Lösung erster Ordnung 213 Lösungen zweiter Ordnung 213 Lou Marinoff 57 Machiavelli, Niccolò Macht Machtverhältnisse Malik, Fredmund Management Manager Manipulation Marc Sautet Martin Buber McKinsey

163 39, 163 15 159 159, 164 260 158 57 248 248

Mead 245 Menschenbilder 233 Metadiskurs 189 Metaebene 162 Metagespräche 183 Metaperspektive 16 Metapher therapeutische 111 Methode 11, 14, 16, 17, 71, 74, 75, 80, 86, 87, 88, 188 der Philosophischen Praxis 99 dialektische 73 dialogische 80 hypothetisch-deduktive 96 monologische 80 phänomenologische 85 Methoden 266 offenes Ensemble von 22 Methodenmodell kooperatives und integratives 26 Methodenskepsis 188 Methodenvielfalt 12 methodische Vorprägung 17 Migrationsgesellschaft 241 Mit Kindern philosophieren 220 Moderator-Rolle 176 Moderne die 22 Mont Ventoux 249 Moral 153, 157 moralische Bildung 230 Moraltheorie 32 Münch 248 Nachdenklichkeit Negativbild der Beratung Nicht-Wissen Norm Nutzen

22 37 152 254 153, 263

INDEX | 275

Offenheit 14, 19, 191 Öffentlichkeit 235 Operationsmodus 215 operative Geschlossenheit 215 Ordnung 15 Orientierung 11, 152, 163, 250 Orientierung in Leben und Welt 184 Ort 67, 72, 88, 90, 95, 98, 201 P4C – Philosophy for Children 219 Paar 134, 135, 136, 137, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 146 Paarberatung 133, 141, 142, 143, 144, 146, 264 Paarberatungen 133, 143, 144 Paarbeziehung 133, 141, 142 pacing and leading 216 Paideia 234 Paradigmenwechsel 212 performative Kritik 198 Person 156, 159 persönliche Autonomie 184 persönliche Bedürfnisse 12 Persönlichkeit 156 Perspektivwechsel 164 Pestalozzi 244 Petrarca 249 philopraxis.ch 61 Philosophieren als Mußetätigkeit 178 Philosophische Begriffsarbeit 238 Philosophische Beratung 58 Philosophische Cafés 57, 61 philosophische Grundhaltung 14 Philosophische Lebenskunde 230 philosophische Methode 14, 15 Philosophische Praxis Geschichte 55 Philosophische Trauungen 133, 135, 136, 141 philosophischer Diskurs 203 Philosophisches Café 174 philosophisches Coaching 140 Plastikwörter 238

Platon 234, 245, 251 Pluralisierung 104 poiesis 75 Poiesis 29 political correctness 238 politisch 265 Pörksen 239 Prinzip 17 Problemlösungen 249 Professionalität 255 Psychologie 152 Psychotherapie 138, 142, 144, 264 Raum der Aufmerksamkeit 83, 84, 86, 88, 89 des Bewusstseins Raum, offener Realisierung Reduktion eidetische transzendentale reflektierter Dialog Reflexion Reflexionsorte Reform Reformpädagogen Reframing Relevanz Rezept Rohstoff Bildung Rollen Rollenautorität Rollenkonflikte Rollenspiel Rousseau

80, 98 80, 82, 98 258 201 67, 88 67 13 18 240 247 236 217 208 159 240 176 15 177 116 245

Sachebene 13 salutogenetische Wirkung eigenständigen Denkens 186 Sartre 237, 238 Scheitern 207

276 | INDEX

Schlüsselkompetenzen existentielle 41 Schopenhauer 243 Schulung der Urteilskraft 13 Selbstbesinnung 151 Selbstdistanz 161 Selbstentwurf 163 Selbsterfindung 167 Selbstkritik 191 Selbstmächtigkeit 24 Selbstreflexivität 17 Selbstzweck 194 Self-decisive-Person 158 Seriosität 255, 257 Setting 110 Sinn für Widersprüchlichkeiten 14 Sinnesempfinden 93 Situationen 18 Sokrates 251, 254 sokratischer Hebammenkunst 226 Sokratisches Gespräch 182 soziale Relevanz 196 sozialer Handlungskontext 201 Soziologie 152 Sparpolitik 236 Spätmoderne 33 Spiel 15, 18, 204, 205 spielerisches Überschreiten 19 Spielraum 52 Spitze des Eisbergs 249 Sprache 156 Sprachkritik 21 Sprachregelungen 238 Sprachsensibilität 238 Sprech- und Denkgewohnheiten 175 Staunen 152 Strebensethik 32 strukturelle Ankoppelung 216 Stufentheorie des Denkens 224 Stufentheorie des moralischen Urteilens 227 Supervision 168

systemischen Intervention Systemtheorie

217 214

techne 189, 206, 208 Themenwahl 181 Theologisieren 221 therapie 111 Tomasello 239 Tools 19 Tradition 18 Transformationsgrammatik 216 Transparenz 257 Trauung 137, 139, 140, 141, 145, 146, 264 Trauungsritual 133, 137, 139, 140, 141 Treue 140 Tugend 27 Unabhängigkeit universitärer Diskurs Utopie

259 17 115

Vaihinger 247 Verantwortung 151, 154, 157, 159 Veranwortung 264 Verlebendigung 185 Verstehen 152 Versuch und Irrtum 217 Verunsicherung als Methode 122 vita activa 250 von Hentig 242, 245 vorbewusstes Alltagshandeln 17 Vorgehensweise zur Wissenserweiterung 12 Vorgespräch 135, 137, 140, 141, 145 Vortrag 12 Wahl reflektierte Wahrnehmung Weltdeutung

118 18 44

INDEX | 277

Weltweisheit Werte Wertschätzung Widersprüchlichkei Widersprüchlichkeit Sensibilisierung für Widersprüchlichkeiten Widerstandsverortung Wiedergewinnung des Symbolischen wildes Denken Wissen Wissen Wittgenstein

13 13 169, 257 105 122 13 236 51 205 13 152 125

Wortgebrauch Worthülsen Zeichenwelt Zeit Zeiterfahrung Zeitmanagement Zeitstil Zielvorstellung Zivilcourage Zufall Zusammenbruch des Symbolischen Zusammenfassung Zweckrationalität Zweifel

239 239 42 150, 164 106 164 127 11 236 138 48 15 22 191

Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen Dezember 2010, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7

Rita Casale Heideggers Nietzsche Geschichte einer Obsession (aus dem Italienischen übersetzt von Catrin Dingler) Oktober 2010, 374 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1165-6

Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹ Mai 2011, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-687-8

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Tatjana Schönwälder-Kuntze Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung und der Effekt Kantischer Moralphilosophie April 2010, 314 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1366-7

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Jörg Volbers Selbsterkenntnis und Lebensform Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault 2009, 290 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-925-1

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