Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China: Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels [1. Aufl.] 9783839402580

In der Studie von Dominique Schirmer wird erstens Lebensstilforschung als Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels vorges

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German Pages 248 [249] Year 2015

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Table of contents :
Cover Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China
Inhalt
Einleitung
Gesellschaftlicher Wandel, Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China
Forschungsstand und Forschungsgegenstand der chinesischen Soziologie und soziologischen Lebensstilforschung
Teil I: Lebensstilforschung- eine Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels
Teilll: Die festlandchinesische Soziologie in der Zeit von Reform und Öffnung
Teillll: Soziologische Lebensstilforschung in der Volksrepublik China
Quellenlage chinesischer soziologischer Arbeiten
Glossar, Begriffe, Bedeutungen, Inhalte
Umschrift, Zitierweise, Sprachliches
Teil I: Lebensstilforschung- eine Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels
1. Gesellschaft - Soziologie - Politik: Grundlagen
1.1 Drei Felder
1.2 Was ist die chinesische Gesellschaft? Ein Gesellschaftsbegriff
2. Soziologie und Praxis
2.1 Die chinesische Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft
2.2 Soziologien in der Gesellschaft
2.2.1 Der Streit um Praxisrelevanz in der deutschen Soziologie ( 1): Positivismusstreit und Sozialtechnologie
2.2.2 Der Streit um Praxisrelevanz in der deutschen Soziologie (2): Der Methodologiestreit
2.2.2.1 Methodologie und Methoden
2.2.2.2 Der Methodologiestreit
2.2.3 Angewandte Forschung- sozialistisches Relikt oder Arbeit mit dem soziologischen Werkzeugkasten?
3. Lebensstile als theoretische und empirische Grundlage einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels
3.1 Die subjektive und die objektive Seite von Lebensstilen
3.2 Stilisierung als Formung von Lebensstilen
3.2.1 Stilisierung in den beiden Soziologien
3.2.2 Wahlfreiheit und Wahlnotwendigkeit
3.2.3 Der ungeschminkte Habitus- Stile als Formung oder Überformung?
3.3 Lebensstilsubjekte
3.3.1 Individualisierung und Privatisierung
3.3.2 Die Individualisierungsfalle-das Primat des Individuums
3.3.3 Privatisierung
Teil II: Die festlandchinesische Soziologie in der Zeit von Reform und Öffnung
1. Gesellschaftlicher Wandel und Soziologie in China- Einführung
2. Chinesische Soziologie und Praxis
2.1 Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft (die Makroperspektive)
2.2 Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft (die Mikroperspektive)
2.2.1 Praxisnahe I- im Dienst von Gesellschaft und Politik
2.2.2 Praxisnahe TI- angewandte Forschung
3. Die Praxis der chinesischen Soziologie
3.1 Barfußsoziologie-historischerHintergrund
3.2 Theorie-Enklaven
3.3 Das Methodensystem der chinesischen Soziologie
3.4 Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung
4. Die Chinesische Besonderheit (Zhongguo tese). Sinisierung und Globalisierung der Soziologie?
4.1 Vier Phasen der Auseinandersetzung für die chinesische Soziologie 100
4.2 Fazit- Sinisierung der Soziologie oder chinesische Soziologie?
5. 25 Jahre Soziologie in der Volksrepublik China
5.1 Abschaffung und Wiedereinrichtung
5.2 Wiedereinrichtung und Identitätssuche-die 1980er Jahre
5.3 Spezialisierung, Systematisierung und Professionalisierung: Zusammenfassender Überblick
Teil III: Soziologische Lebensstilforschung in der Volksrepublik China
1. Lebensstile und gesellschaftlicher Wandel in der Volksrepublik China
2. Die Sieben Wandlungen chinesischer Lebensstile
3. Lebensstilforschung und die Volksrepublik China
Begriff Lebensstil und sein Wandel
3.2 Lebensstilforschung als Analyseinstrument für die gegenwärtige chinesische Gesellschaft
4. Tnstitutionalisierung und Einwurzelung- die "doppelte Verpflanzung" der Lebensstiltheorie: Zwanzig Jahre soziologische Lebensstilforschung in China
4.1 Einführung, Bezug zum Alltagsverständnis und politische Legitimation des wissenschaftlichen Gegenstandes Lebensstil
4.2 Marxistische Grundlagen und sowjetischer Einflusssozialistische Lebensstilforschung als Makroansatz
4.3 Lebensstiltheorie und Forschungspraxis
4.3.1 Einwurzelung ...
4.3.2 ... und Verwurzelung?
5. Einführung in die chinesische soziologische Lebensstilforschung
5.1 Überblick
5.2 Wie marxistisch ist die Lebensstilforschung?
5.3 Grundlagen der chinesischen soziologischen Lebensstilforschung
5.3.1 Repräsentative Definitionen von Lebensstil
5.3.2 Lebenstätigkeiten
5.3.3 Die Interdependenz von Subjektivität und Objektivität und die Dynamik gesellschaftlichen Wandels
5.3.4 Qualität und Quantität oder materieller und ideeller Aspekt von Lebensstilen
5.3.5 Gesellschaftlicher und individueller Lebensstil, Gruppenlebensstile
5.3.6 Lebensstil im engeren und im weiteren Sinne
5.3.7 Theorie der Gesamtsumme
5.4 Angewandte Lebensstilforschung
5.4.1 Woran werden Lebensstile festgemacht?
5.4.2 Wen erforscht die Lebensstilforschung?
5.4.2.1lndividuen und Gesellschaften
5.4.2.2 Gruppen
5.4.2.3 Begriffsverwirrung: Die soziale Gruppe
5.4.3 Wo forscht die Lebensstilforschung? "Yi shi zhu xing Je"- Die Erforschung der Lebensbereiche
5.5 Das Verhältnis von theoretischer, empirischer und angewandter Lebensstilforschung
5.6 Auswahl von Arbeiten der theoretischen und der angewandten Lebensstilforschung
Glossar
Wörterliste und Lexikon der festlandchinesischen Soziologie und soziologischen Lebensstilforschung
Literaturverzeichnis
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Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China: Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels [1. Aufl.]
 9783839402580

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Dominique Schirmer Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China

Für Emi

Dominique Schirmer (Dr. phil., M.A.), Sinologin und Soziologin, forscht und lehrt am Institut für Soziologie der Universität Freioburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: VR China im Wandel, Pazifikasien, Qualitative Forschung, Meta-Soziologie, Geschlecht.

DOMINIQUE SCHIRMER

Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels

[transcript]

Die Autorin dankt der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg für die Förderung der Druckkosten-Finanzierung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http:/ jdnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld zugl. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., 2003 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Dominique Schirmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-258-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:/ jwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Gesellschaftlicher Wandel, Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China Forschungsstand und Forschungsgegenstand der chinesischen Soziologie und soziologischen Lebensstilforschung Teil I: Lebensstilforschung- eine Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels Teilll: Die festlandchinesische Soziologie in der Zeit von Reform und Öffnung Teillll: Soziologische Lebensstilforschung in der Volksrepublik China Quellenlage chinesischer soziologischer Arbeiten Glossar, Begriffe, Bedeutungen, Inhalte Umschrift, Zitierweise, Sprachliches

Teil I: Lebensstilforschung- eine Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels 1. Gesellschaft - Soziologie - Politik: Grundlagen 1.1 Drei Felder 1.2 Was ist die chinesische Gesellschaft? Ein Gesellschaftsbegriff 2. Soziologie und Praxis 2.1 Die chinesische Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft 2.2 Soziologien in der Gesellschaft 2.2.1 Der Streit um Praxisrelevanz in der deutschen Soziologie ( 1): Positivismusstreit und Sozialtechnologie 2.2.2 Der Streit um Praxisrelevanz in der deutschen Soziologie (2): Der Methodologiestreit 2.2.2.1 Methodologie und Methoden 2.2.2.2 Der Methodologiestreit

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2.2.3

Angewandte Forschung- sozialistisches Relikt oder Arbeit mit dem soziologischen Werkzeugkasten? 38 3. Lebensstile als theoretische und empirische Grundlage einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels 43 3.1 Die subjektive und die objektive Seite von Lebensstilen 44 3.2 Stilisierung als Formung von Lebensstilen 47 3.2.1 Stilisierung in den beiden Soziologien 48 3.2.2 Wahlfreiheit und Wahlnotwendigkeit 54 3.2.3 Der ungeschminkte Habitus- Stile als Formung oder Überformung? 58 3.3 Lebensstilsubjekte 60 3.3.1 Individualisierung und Privatisierung 61 3.3.2 Die Individualisierungsfalle-das Primat des Individuums 62 3.3.3 Privatisierung 67

Teil II:

1. 2.

3.

4.

5.

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Die festlandchinesische Soziologie in der Zeit von Reform und Öffnung Gesellschaftlicher Wandel und Soziologie in China- Einführung Chinesische Soziologie und Praxis 2.1 Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft (die Makroperspektive) 2.2 Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft (die Mikroperspektive) 2.2.1 Praxisnahe I- im Dienst von Gesellschaft und Politik 2.2.2 Praxisnahe TI- angewandte Forschung Die Praxis der chinesischen Soziologie 3.1 Barfußsoziologie-historischerHintergrund 3.2 Theorie-Enklaven 3.3 Das Methodensystem der chinesischen Soziologie 3.4 Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung Die Chinesische Besonderheit (Zhongguo tese). Sinisierung und Globalisierung der Soziologie? 4.1 Vier Phasen der Auseinandersetzung für die chinesische Soziologie 4.2 Fazit- Sinisierung der Soziologie oder chinesische Soziologie? 25 Jahre Soziologie in der Volksrepublik China 5.1 Abschaffung und Wiedereinrichtung 5.2 Wiedereinrichtung und Identitätssuche-die 1980er Jahre 5.3 Spezialisierung, Systematisierung und Professionalisierung: Zusammenfassender Überblick

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Teil 111: Soziologische Lebensstilforschung in der Volksrepublik China 10 Lebensstile und gesellschaftlicher Wandel in der Volksrepublik China 20 Die Sieben Wandlungen chinesischer Lebensstile 30 Lebensstilforschung und die Volksrepublik China 301 Der Begriff Lebensstil und sein Wandel 302 Lebensstilforschung als Analyseinstrument für die gegenwärtige chinesische Gesellschaft 40 Tnstitutionalisierung und Einwurzelung- die "doppelte Verpflanzung" der Lebensstiltheorie: Zwanzig Jahre soziologische Lebensstilforschung in China 401 Einführung, Bezug zum Alltagsverständnis und politische Legitimation des wissenschaftlichen Gegenstandes Lebensstil 402 Marxistische Grundlagen und sowjetischer Einflusssozialistische Lebensstilforschung als Makroansatz 403 Lebensstiltheorie und Forschungspraxis 40301 Einwurzelung 000 40302 000 und Verwurzelung? 50 Einführung in die chinesische soziologische Lebensstilforschung 501 Überblick 502 Wie marxistisch ist die Lebensstilforschung? 503 Grundlagen der chinesischen soziologischen Lebensstilforschung 50301 Repräsentative Definitionen von Lebensstil 50302 Lebenstätigkeiten 50303 Die Interdependenz von Subjektivität und Objektivität und die Dynamik gesellschaftlichen Wandels 503.4 Qualität und Quantität oder materieller und ideeller Aspekt von Lebensstilen 50305 Gesellschaftlicher und individueller Lebensstil, Gruppenlebensstile 50306 Lebensstil im engeren und im weiteren Sinne 50307 Theorie der Gesamtsumme 5.4 Angewandte Lebensstilforschung 5.401 Woran werden Lebensstile festgemacht? 5.402 Wen erforscht die Lebensstilforschung? 5.40201lndividuen und Gesellschaften 5.40202 Gruppen 5.40203 Begriffsverwirrung: Die soziale Gruppe 5.403 Wo forscht die Lebensstilforschung? "Yi shi zhu xing Je"- Die Erforschung der Lebensbereiche

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5.5 Das Verhältnis von theoretischer, empirischer und angewandter Lebensstilforschung 5.6 Auswahl von Arbeiten der theoretischen und der angewandten Lebensstilforschung

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Glossar Wörterliste und Lexikon der festlandchinesischen Soziologie und soziologischen Lebensstilforschung

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Literaturverzeichnis

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Einleitung

Gesellschaftlicher Wandel, Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China Das Jahr 1978 ist der offizielle Beginn einer neuen Zeitrechnung in der Volksrepublik China, der Beginn der Politik von Reform und Öffnung. Im folgenden Jahr, 1979, wurde an chinesischen Universitäten und Forschungseinrichtungen die Fachrichtung Soziologie wieder eingerichtet, die in den 1950er Jahren abgeschafft worden war; sie war endgültig 1957 nach längerem Disput aus ideologischen und machtpolitischen Gründen verboten worden. Im Jahre 1981 begann die Entwicklung eines neuen Forschungszweiges: der Lebensstilforschung. Die Lebensstilforschung ist eine Teildisziplin der Soziologie, ihre wissenschaftliche Bedeutung reicht aber über das Teilfach hinaus. Die zeitliche Nähe des Beginns der Ära von Reform und Öffnung, 1 der Wiedereinrichtung des Faches Soziologie und der Begründung der Lebensstilforschung ist kein Zufall, denn die drei Aspekte - der gesellschaftliche Wandel, Soziologinnen und Soziologie sowie die Lebensstilforschung - stehen in einem direkten, sehr engen Verhältnis zueinander. Soziologie und Lebensstilforschung sind Produkte

In der chinesischen und internationalen Literatur gilt allgemein eine Zeitrechnung, die mit der neuen Politik der sozialistischen Modernisierung der KP China beginnt, welche auf dem 3. Plenum des XI. Zentralkomitees im Dezember 1978 formuliert und beschlossen wurde. In den hier verwendeten - überwiegend soziologischen - Quellen ist dabei sowohl bezüglich der Politik als auch in Bezug auf das Zeitalter (in dem wir uns heute noch befinden) in der Regel von Reform und Öffnung (gaige kaifang) die Rede. Gerade in Bezug auf die Öffnung passt dieser Ausdruck gut auf die gesellschaftliche Perspektive, das wird im Buch deutlich werden. Im Gegensatz z.B. zum soziologischen Modernisierungsbegriff beschreibt er einen wichtigen Aspekt des gesellschaftlichen Wandels.

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

des gesellschaftlichen Wandels und gleichzeitig dessen aufmerksame Beobachterinnen und dessen Produzentinnen. Die vorliegende Arbeit untersucht die Makroperspektive dieses Verhältnisses, also die Hintergründe dieser Situation, und die Mikroperspektive, d.h. die einzelnen Vernetzungen und Prozesse, die dieses Verhältnis abbilden und den Wandel ausmachen. Grundsätzlich ist das Verhältnis der einzelnen Elemente von der Wechselwirkung aller Aspekte geprägt. Ein weiteres Wechselverhältnis, das die Situation grundlegend bestimmt, ist die enge Verknüpfung gesellschaftlicher Felder, wie Politik, Recht, Wissenschaft usw., die hier vor allem in der Beziehung der drei Felder Gesellschaft, Soziologie und Politik zum Ausdruck kommt. Die Verknüpfung der gesellschaftlichenFelderist von derVormachtstellungder Politik geprägt. Zu deren wesentlichen Charakteristika gehört der Wille zur Planung. Die Konzeption einer konkreten Politik, die Formulierung politischer Ziele und die Suche nach Wegen, diese Ziele zu verwirklichen, sind wesentlich ausgeprägter als z.B. in Deutschland. 2 Wenn auch viele Maßnahmen der chinesischen Regierung mehr Reaktionen als Aktionen sind und die Politik dann der Regulierung näher kommt als der Planung, so sind der Plan und der Wille zur Planung dennoch kennzeichnend, und sie sind ein auffallendes und bestimmendes Merkmal chinesischer Politik. Die Rolle der Soziologie war und ist ebenfalls von der politischen Planung gekennzeichnet. In dieser Rolle befindet sie sich zwischen Politik und Gesellschaft, denn sie liefert Theorien und vor allem Daten aus der Gesellschaft, die politischer Planung und Planbarkeit dienen sollen. Damit kommt die Hauptrichtung der Betrachtung der Gesellschaft von "oben", von der Politik, top-down (Politik-+ Soziologie-+ Gesellschqft). Insofern sind die Soziologlnnen Planerinnen (Gao Bingzhong 1997: 33), sie werfen einen planenden Blick auf die Gesellschaft, und die Lösung ihrer Forschungsfragen wird als maßgeblich für eine "gesunde Entwicklung der sozialistischen Modernisierung" 3 erachtet. Die festlandchinesische Soziologie ist nach ihrer Wiedereinrichtung im Jahre 1979 doppelt neu entstanden; zum einen mit ihrer Wiedereinrichtung von offizieller Seite, zum anderen mit der raschen Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses, sowohl des Faches als auch vieler Fachvertreterinnen. Dieses neue Selbstverständnis manifestiert sich augenfallig in der soziologischen Lebensstilforschung und darin besonders im Wandel

Das Kennzeichen deutscher Politik wäre im Gegensatz dazu der Wille zur Regulierung. 3 Wang Valin 1995: 48; ähnlich Yu Xintian 1998:257.

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EINLEITUNG

des Begriffes Lebensstil (shenghuo fangshi). Nachdem das Konzept Lebensstil in die Forschung eingeführt und politisch legitimiert war, veränderten sich langsam seine Funktion und seine Bedeutung: Lebensstil wandelte sich von einem Produkt gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse in ein Merkmal der Beziehung zwischen Menschen und Gesellschaft, zwischen subjektivem Tätigsein und objektiven Lebensbedingungen als Ort des gesellschaftlichen Wandels. Damit steht der Ausdruck Lebensstil inzwischen u.a. flir die Pluralisierung der chinesischen Gesellschaft, die Privatisierung des persönlichen Lebens und flir den gestiegenen Stellenwert des Alltags der Menschen in der öffentlichen Diskussion. Lebensstil steht für die vielfältigen neuen Anforderungen, welche die Pluralisierung und die Privatisierung an die Menschen stellen. Die Karriere des Lebensstilbegriffes unterstreicht und untermauert die in anderen Bereichen gemachte Beobachtung der Entpolitisierung und Privatisierung des Alltags. Mit der fortschreitenden Entwicklung einer Theorie der Lebensstile wird dieser individuelle bzw. mikrosoziologische Lebenszuschnitt deutlicher hervorgehoben und intensiver erforscht. Sowohl konkrete Lebensstile als auch die Lebensstilforschung sind Phänomene des gesellschaftlichen Wandels; die Lebensstilforschung ist eine Methode der Erforschung dieses gesellschaftlichen Wandels. Weiterhin besteht zwischen Soziologie und Lebensstilforschung eine wichtige Wechselwirkung in Bezug auf die Rezeption des gesellschaftlichen Wandels. Die Soziologie lässt sich ohne die empirische und theoretische Erforschung von Lebensstilen nicht denken und das Schicksal der Fachdisziplin Soziologie hat die Lebensstilforschung wesentlich mitbestimmt. Somit ist auch die Lebensstilforschung doppelt neu entstanden. Zum einen als neue Teildisziplin, zum anderen als Disziplin, die auf der Grundlage eines Begriffswandels arbeitet, der sich im Einklang mit dem gesellschaftlichen Wandel befindet. Mit dem gesellschaftlichen Wandel und der gewandelten Rolle des Faches wird die Verbindung von Soziologie und Gesellschaft umgekehrt. Zunehmend macht "die Gesellschaft" der Soziologie "Vorschriften". Das bedeutet, dass sich die Art und Weise, wie die Politik auf gesellschaftliche Bewegungen und Veränderungen reagiert, stark verändert. Die Wissenschaftlerinnen haben sich in die Mitte der Gesellschaft begeben, die Planerinnen wurden zu Beobachterinnen (Gao Bingzhong). Damit sieht sich die Soziologie in einer neuen Rolle. Sie gibt zunehmend Anforderungen aus der Gesellschaft an die Politik weiter. Es findet ein Richtungswechsel von top-down (Politik--+ Soziologie--+ Gesellschaft) zu bottom-up (Gesellschaft--+ Soziologie --+ Politik) statt.

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Forschungsstand und Forschungsgegenstand der chinesischen Soziologie und soziologischen Lebensstilforschung In der deutschen- und westlichen- Chinaforschung sind häufig konkrete soziologische Forschungen, z.B. zur Situation Nationaler Minderheiten oder zur Urbanisierung, sowie die chinesischen Soziologlnnen, die dazu arbeiten, relativ gut bekannt. Dagegen sind Grundlagen, Theorien und Forschungsmethoden der festlandchinesischen Soziologie nicht systematisch erforscht und nicht allgemein bekannt. Das heißt, es gibt in der deutschsprachigen Soziologie praktisch keine Beiträge oder deren Diskussion im Bereich der Allgemeinen Soziologie, der Metasoziologie oder soziologischer Methoden des chinesischen Faches. Die wenigen westlichen Arbeiten, die sich damit befassen, tun dies überwiegend aus historischer Sicht mit nur sehr knappen Ausblicken auf die Gegenwart oder Zukunft des Faches. Dagegen hat sich die Soziologie in China im letzten Jahrzehnt rasant entwickelt und verändert und die umfassende Einführung und die Diskussion von Theorien, Methodologie und Methoden gehört mittlerweile zum gängigen Erscheinungsbild. Ganz anders die chinesische soziologische Lebensstilforschung. Obwohl die Zahl chinesischer Arbeiten zu diesem Thema groß ist, gestaltet sich die Suche nach einführenden Texten, die sowohl systematisch als auch (in sich) vollständig sind, äußerst schwierig. Nur wenige Arbeiten bieten wenigstens einen grundlegenden und ausführlichen Überblick. Der Schwerpunkt in Teil III liegt somit auf der Erarbeitung einer Systematik theoretischer Grundlagen der soziologischen Lebensstilforschung, die aber unter dem Eindruck der grundlegenden These des Kapitels steht: dem Wandel des Begriffes Lebensstil und seinem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Hintergrund. Die westliche Chinaforschung und Soziologie hat sich (auch hier) bislang nicht mit diesem Forschungsansatz befasst. Auch hier liegt deshalb zum ersten Mal eine westlichsprachige Einführung vor. Zu den Schwerpunkten der Arbeit gehört außerdem die Entwicklung und Anwendung von Bausteinen einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels, die ich in Teil I vorstelle und die die Analyse der Themen des gesamten Buches bestimmt.

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EINLEITUNG

Somit ist der vorliegende Band ein Beitrag zu: einer Einführung in die festlandchinesische Soziologie und deren Situation, einer allgemeinen Einführung in die chinesische soziologische Forschung und ihre Forschungsmethoden, einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der chinesischen soziologischen Lebensstilforschung, einer Einführung in die angewandte Lebensstilforschung der chinesischen Soziologie, einer Einführung dieses Themas in die deutschsprachige Soziologie und die deutschsprachigen Chinawissenschaften, der Reflexion methodischer, theoretischer und begrifflicher Fragen der Soziologie und der soziologischen Lebensstilforschung aufgrund komparativer Analysen und deren Weiterentwicklung sowie der Entwicklung und Anwendung von Bausteinen einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels mit dem Analyseinstrument Lebensstilforschung.

Teil I: Lebensstilforschung- eine Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels Teil I entwickelt und zeigt die theoretischen Grundlagen und die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung und stellt die Thesen und Methoden auf ein theoretisches Fundament. Einführend diskutiere ich das Verhältnis der drei Felder Gesellschaft, Soziologie und Politik (Kapitel I). In der Soziologie zeigt sich dieses Verhältnis als Beziehung zwischen Soziologie und Praxis (Kapitel 2). Dieses Verhältnis diskutiere ich allgemein, vor allem auch in Bezug auf die deutsche Soziologie - die entsprechende Auseinandersetzung in der chinesischen Soziologie ist Thema in Teil TI. Die Beziehung zwischen Soziologie und Praxis stellt sich im Fach häufig als Praxisrelevanz dar, die ich anhand der angewandten Forschung diskutiere. Kapitel3 entwickelt Grundlagen der Lebensstilforschung als Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels und analysiert bzw. diskutiert dazu wichtige Elemente, die in beiden Lebensstilforschungen, der chinesischen und der deutschen, Anwendung finden. Um eine funktionsfähige Lebensstilforschung als Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels nutzen zu können, ist die Korrektur und Entwicklung einiger dieser Elemente nötig. Dabei bildet Stilisierung als Formung von Lebensstilen den Kern. Ich werde zeigen, dass Stilisierung kein elitärer oder ästhetischer Habitus ist, sondern dass es vielmehr einen Stilisierungsautomatismus gibt. Stilisierung ist keine Überformung von Lebensvollzügen, sondern sie ist die Formung

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

von Lebensstilen. Sie ist lntegrationshandeln, das die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen markiert. Stilisierung und Lebensstil betreffen die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens und Tätigseins.

Teil II: Die festlandchinesische Soziologie in der Zeit von Reform und Öffnung Zu Beginn der Einleitung habe ich angesprochen, dass die Soziologie und mit ihr die Lebensstilforschung einen engen Bezug zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel haben. Von ihm gingen die Impulse zur Entwicklung des Faches bzw. des Teilfaches aus und der Wandel beeinflusst die Fragestellungen und die Entwicklung von Soziologie und Lebensstilforschung auf der theoretischen, methodischen und inhaltlichen Ebene. Dieser Bezug zum gesellschaftlichen Wandel sowie der Impuls des Wandels gehören zu den zentralen Themen der vorliegenden Arbeit; sie werden in Teil ll aus sehr unterschiedlichen Perspektiven ausführlich behandelt. Im Kapitel zur Soziologie in der Volksrepublik China seit ihrer Wiedereinrichtung 1979 wird der Mechanismus der (oben beschriebenen) Wechselwirkung zwischen den Feldern, v.a. zwischen Soziologie und Politik, untersucht. Der Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung und gesellschaftlichem Wandel zeigt sich zwar an der "Karriere" eines Begriffes- Lebensstil-, aber er manifestiert und realisiert sich in der Soziologie als Fach, in der soziologischen Forschung und in den Soziologinnen selbst. Das Ziel des Kapitels ist es, das Verhältnis von Soziologie, Politik und Gesellschaft - aus der Sicht der Soziologlnnen darzulegen. Das bedeutet im Wesentlichen, den Wandel des Faches und den Wandel des Selbstverständnisses der Soziologie und der Soziologlnnen zu zeigen. Gleichzeitig hoffe ich, damit eine Auseinandersetzung mit der chinesischen "soziologischen Welt" (Feng 2000) in der deutschen Soziologie und Chinaforschung anzuregen. Soziologie und Soziologlnnen sind Subjekte und Objekte des gesellschaftlichen Wandels: Der gesellschaftliche Wandel (in Form der Politik von Reform und Öffnung) setzt die Soziologie wieder "in Gang". Er verändert die Soziologie zudem zweifach: Er produziert einen enormen Anpassungsdruck aufMethoden, Theorien, Verfahrensweisen und das Denken innerhalb sehr kurzer Zeit und hat so beispielsweise eine Präzisierung der Forschungsmethoden zur Folge. Das Fach wird professionalisiert und schließt sich dadurch mehr nach außen ab; außerdem gehört zur Professio-

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EINLEITUNG

nalisierung ein stärkeres Fachbewusstsein, das wiederum mit einem neuen Verhältnis zur Politik einhergeht. Es handelt sich hier aber nicht um monokausale Zusammenhänge, sondern vielmehr um zusammengehörige Aspekte des Ganzen. So war soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Forschung populär und volksnah-die neue Situation der Soziologlnnen sorgt gleichzeitig für eine Annäherung und für eine größere Entfernung von "ihrer" Gesellschaft. Auf der Ebene des Faches lassen sich diese Entwicklungen als Wechselspiel von an gewandter, theoretischer und empirischer Forschung- oder zwischen Theorie und Praxis- beschreiben. Der Austausch zwischen Theorie, angewandterForschungund Empirie war in der sozialwissenschaftliehen Forschung der Volksrepublik China unzureichend. Theorie war in zweifacher Hinsicht weit von der Forschungspraxis entfernt: 1. die Zuständigkeiten für theoretische Forschung und empirische Forschung waren auf unterschiedliche Gruppen verteilt; Theorie war Sache der oberen politischen Ebenen, Empirie die der unteren Ebenen. 2. Theorie war überwiegend starr, ohne einen Austausch zwischen konkreter empirischer Erfahrung und übergeordneter Theorie. Nun, könnte man sagen, kehrt die Theorie in die konkrete Forschung zurück, es findet zunehmend ein Austausch statt. Dieser zunehmende Austausch ist Teil der Professionalisierung der Soziologie. Diese sorgt auch für eine Spezialisierung und damit tendenziell für eine Privatisierung, v.a. im Sinne eines größeren Spielraums gegenüber der Politik. Die Soziologie ist weiterhin Verbindungsglied zwischen Politik und Gesellschaft, dennoch verändert sich diese Konstellation: Die Gesellschaft entwickelt eine neue Definitionsmacht, die sie- auch- über die Soziologie an die Politik richtet. Die Kapitel 1 und 2 zeigen die Position sowohl der Soziologlnnen als Subjekte und Objekte des Wandels als auch die der Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft. Das zeigt sich in einer der wesentlichen Anforderungen, die für soziologische Arbeit in China formuliert werden: der Praxisnähe. Was das bedeutet und dass diese Bedeutung sich wandelt, wird in Kapitel2 ausgeführt. Das geschieht aus der Sicht der Soziologlnnen, einmal als Anforderung, die von außen kommt (2.2.1) und einmal als fachliche, also interne Anforderung (2.2.2). Neben Politik und Gesellschaft gibt es ein weiteres Gegenüber der festlandchinesischen Soziologie: die Bedeutung und den Einfluss nicht-chinesischer Wissenschaft und Soziologie. Dieses Verhältnis wird innerhalb des Faches regelmäßig thematisiert, z.B. indem die Berücksichtigung der "chinesischen Besonderheit" soziologischer Forschung betont und gefordert wird. Beide Auseinandersetzungen, die mit der Politik und die mit ausländischen Wissenschaften, ziehen sich durch soziologische Theorien

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

und F orschungsmethoden. Die häufige Verwendung von Theorie-Enklaven (3.2) - der Nutzung von Elementen (häufig aus legitimatorischen Gründen), ohne sie zu diskutieren- zeugt davon. Für das Verständnis der chinesischen Soziologie zur Jahrtausendwende ist auch der historische Blick wichtig. In Kapitel 3.1 erläutere ich meine These von der "Barfußsoziologie" bzw. von ihrem Einfluss auf die empirische Forschung von heute, in Kapitel3.4 zeige ich die Auseinandersetzung mit westlichen Soziologien am Beispiel der Nutzung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden. Kapitel4 behandelt die Auseinandersetzung mit nichtchinesischen Theorien und Methoden aus historischer Perspektive und von heute und wagt einen Ausblick auf morgen. In KapitelS schließlich erfolgt noch einmal ein kurzer diachroner Überblick über knapp 25 Jahre Soziologie im China der Reform und Öffnung.

Teillll: Soziologische Lebensstilforschung in der Volksrepublik China Im Hauptteil des Buches folgt die eingehende Untersuchung der chinesischen soziologischen Lebensstilforschung. Es wird deutlich werden, in welchem Verhältnis Fach und Teildisziplin zueinander stehen und wie eng gesellschaftlicher Wandel, Soziologie und Lebensstilforschung aneinander gekoppelt sind. In Teilll wird beschrieben, wie sich das Fach Soziologie zur Gesellschaft und zum gesellschaftlichen Wandel ins Verhältnis setzt. Die "gesellschaftliche Position" des Faches Soziologie lässt sich sehr gut an der Entwicklung der Lebensstilforschung nachvollziehen. In beiden Fällen sind die Forscherinnen von der Erfahrung geprägt, Gesellschaft nicht nur zu beobachten, sondern sich auch als Teil davon wahrzunehmen; sie empfinden sich gleichzeitig als Subjekte und Objekte des Wandels bzw. ihrer Forschung. Der Aspekt der Nabelschau in der Lebensstilforschung ist nicht unwichtig, nachdem sich der doppelte Wandel- Wandel des Faches und seiner Situation und Wandel der Forscherinnen und ihrer Situationvollzogen hat. Dass die Akteure der soziologischen und der Lebensstilforschung zugleich auch spürbar Objekte und Betroffene des rasanten gesellschaftlichen Wandels sind, hat diese Forschungsentwicklung nur befördert. Und dass die Lebensführungen einzelner Gruppen und damit Tätigkeiten und Anschauungen der Menschen wachsende Beachtung in der Wissenschaft erfahrt, verleiht ihnen, den Forschungsobjekten, mehr Macht und verstärkt die Integration der Forscherinnen in "ihre" Gesellschaft.

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EINLEITUNG

Wie sich der gesellschaftliche Wandel allgemein in den Lebensstilen der Menschen bemerkbar macht, zeigen die Kapitel 1 und 2. In der soziologischen Forschung wird der Wandel von Lebensstilen häufig mit der Gegenüberstellung von Lebensstiltypen dargestellt, welche eine Entwicklung beschreibt, die mit der Politik von Reform und Öffnung begonnen hat und die fortdauert. Eine gängige Darstellung lehnt sich an Liu Dalins Sieben Wandlungen der Lebensstile in China (s. Teillll, 2.) an. Drei dieser Typen sind auch für das Leben, Denken und Forschungsverhalten der Soziologinnen relevant: der Wandel vom Typ der Normgesellschaft zu gesellschaftlicher Vielfalt, der von einer geschlossenen zu einer offen(er )en Gesellschaft und der von einer häuslichen zu einer außerhäuslichen Gesellschaft. Ich habe betont, dass sich das "enge Verhältnis" von Politik - Soziologie - Gesellschaft in der Lebensstilforschung besonders gut nachvollziehen lässt. Das wird z.B. an der Karriere des Begriffes Lebensstil deutlich, weiterhin an der Einheit von Gesellschaft als objektive Bedingungen, als Ganzes und dem gesellschaftlichen Wandel auf der einen Seite, den Lebensstilsubjekten und dem Leben, den Lebenstätigkeiten der Menschen auf der anderen Seite. Diese Zusammenhänge sind in Kapitel 3 beschrieben. Kapitel 4 behandelt die Entstehung und Entwicklung des soziologischen Teilfaches Lebensstilforschung. Die Grundlagen und Kategorien der theoretischen Lebensstilforschung und ihr Vergleich mit der augewandten Lebensstilforschung sind Thema von Kapitel 5: Welche theoretischen und historischen Bezüge hat dieser Forschungszweig? Wie marxistisch ist die Lebensstilforschung und welches sind ihre wesentlichen Begriffe, Elemente, Merkmale und Definitionen? Bei der Diskussion der theoretischen Grundlagen des Teilfaches wird erneut die enge Verknüpfung von Politik, Soziologie und Soziologinnen sowie Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel- auf der theoretischen Ebene deutlich. Wie schon in Teil TI zeigt sich, dass - neben der Soziologie allgemein - auch die Lebensstilforschung und die Forscherinnen ihren Standpunkt noch finden müssen bzw. ihn gerade finden. Auch bei der hier theoretischen - Rezeption nationaler und v.a. internationaler Forschung decken sich Thesen, Theorien, Strategien und Methoden, die übernommen werden, nicht unbedingt mit jeweils eigenen Erkenntnissen und Zielen. Die Lebensstilforschung und die Forscherinnen lassen häufig einen klaren Standpunkt vermissen. Das wird am deutlichsten an der Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft als theoretisches Konzept. Hier fehlt ein klarer und stringenter Ansatz, ein flüssiges Ineinandergreifen von Theorie, Methodologie und empirischer Forschung. Dieser Aspekt wird noch einmal gesondert zum Verhältnis von theoretischer, empirischer und angewandter Lebensstilforschung diskutiert. Durch den gesamten Teil III hindurch habe ich die Thesen, Entwicklungen 17

SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

und Standpunkte immer wieder an Beispielen erläutert. Kapitel 5.4 zeigt noch einmal aus der Perspektive der augewandten Lebensstilforschung, was und wen das Teilfach erforscht und in welchen Bereichen geforscht wird.

Quellenlage chinesischer soziologischer Arbeiten Die Recherche des Materials: Wie alle wissen, die über oder in China forschen, sind die Bedingungen wissenschaftlicher Recherche - trotz starker und laufender Veränderungen - erheblich schwieriger als in Deutschland. Das Zufallsprinzip, das bis vor einigen Jahren bei der Suche nach Literatur der maßgebliche Faktor sein konnte, spielt heute, dank zunehmender elektronischer Recherchemöglichkeiten, nicht mehr die gleiche Rolle, allerdings ist der Weg zum Buch nach wie vor nicht leicht: Bücher lassen sich auch vor Ort nicht so leicht und systematisch finden wie z.B. in Deutschland (über diverse Buchkataloge ). Das heißt, sie lassen sich oft nicht über den Handel bestellen, sie müssen mühsam gesucht werden. Der einzige relativ verlässliche Fundort wissenschaftlicher Literatur ist die Staatsbibliothek in Beijing, die ich deshalb intensiv für meine Recherchen genutzt habe. Die Beschaffung von Literatur von Deutschland aus kann entsprechend langwierig und schwierig sein. In Deutschland gibt es einige wenige gut ausgestattete Bibliotheken, die aber leider für die vorliegenden Themen kaum von Nutzen waren. Schließlich konnte ich glücklicherweise persönliche Beziehungen und Unterstützung von chinaforschenden und chinesischen Freundinnen und Kolleginnen für die Suche nutzen. Eine radikale Änderung der Lage bei der Bücherbeschaffung ergab sich Ende letzten Jahres, dank digitaler Technik, Internet und der chinesischen Copyright-Philosophie. So konnte ich Im Herbst 2002 eine Zugangsberechtigung zum großen Chaoxing-Portal kaufen, mit dem ich nun -nach Überwindung einigertechnischer Schwierigkeiten auch seitens des Providers- über das Internet Zugang zu Tausenden von wissenschaftlichen Büchern habe. Neben Büchern habe ich aber auch häufig aufverschiedene chinesische soziologische und sozialwissenschaftliche Zeitschriften zurückgegriffen. Die Recherche im Material: Die chinesische soziologische Literatur erhält gegenwärtig ein neues Gesicht und die Arbeit mit Literatur und Theorien wird sich voraussichtlich stark verändern. Die oben beschriebenen Hindernisse bei der Recherche von Literatur, aber auch von Quellen im Text (z.B. Autor Innen, Zitate) und von Theorien begannen und beginnen bisher schon bei der Arbeit mit dem Text. Wer beispielsweise eine Einführung in die

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EINLEITUNG

Soziologie in Händen hält, wird in der Regel vergeblich nach verwendeter oder gar zitierter Literatur suchen oder nur eine sehr begrenzte Auswahl vorfinden. Den "leichten Weg" gibt es in der Regelleider nicht, z.B. dass eine Theorie vorgestellt wird unter Nennung der Urheberirr oder einer Vertreterirr dieser Theorie, möglicherweise gar einer Titel- oder sogar Stellennennung (Autorin, Titel, Jahr, Seiten). 4 Das Anfügen einer Literaturliste zu einem Buch oder Aufsatz war bis vor kurzem nicht üblich. Entsprechend ist bzw. war die in westlichen Wissenschaften übliche intensive Nutzung von Zitaten und bibliographischen Angaben in China nicht gängig. So stellt Ma Rong in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2002 die "Methode der ausländischen ,Reference'-Anmerkung" (guowai "Reference" zhushi fangfa) vor (Ma Rong 2002: 1). Die Zeitschrift Soziologische Forschung (Shehuixue Yanjiu) verwendet allerdings Anmerkungen und Literaturlisten seit Mitte/Ende der 1990er Jahre verhältnismäßig häufig. Weiterhin war in der chinesischen Soziologie der große Abstand von Fach- und Populärliteratur, wie wir ihn kennen, nicht üblich. Entsprechend werden bzw. wurden wissenschaftliche Texte auch in Tages- und Wochenzeitungen veröffentlicht und in sozialwissenschaftliehen Veröffentlichungen spielten und spielen Allgemeininteresse und Allgemeinverständlichkeit eine große Rolle. Das verändert sich gegenwärtig deutlich. Der Fachbezug in den einzelnen Arbeiten wird immer wichtiger. Je nachdem, wie alt ein Text ist (5, 10 oder 15 Jahre) und wo er erschienen ist (z.B. Zeitschrift oder Monographie, als wissenschaftlicher oder explizit populärwissenschaftlicher Text), lassen sich Belege nutzen und prüfen. Auch Stichwortverzeichnisse sind in chinesischen Büchern absolut unüblich, sogar die Inhaltsverzeichnisse von Wörterbüchern oder Lexika, wie z.B. im Neuen Soziologie- Wörterbuch (Han Yumin, Hg., 1998), sind oft wenig hilfreich. Eine Ausnahme ist der Soziologie-Band der Großen Chinesischen Enzyklopädie, der über mehrere, sehr detaillierte Stichwortverzeichnisse verfügt.

Glossar, Begriffe, Bedeutungen, Inhalte Sehr viele Fachwörter aus chinesischen soziologischen Texten waren bislang nicht übersetzt. Deutschsprachige (bzw. westlichsprachige) Wörterbücher oder Einführungen liegen nicht vor. Das Glossar dieses Buches bietet deshalb eine Auswahl von Wörtern und Fachausdrücken, denen ich häufiger in den Quellen begegnet bin. Ein großer Teil davon ist nicht in 4 Siehe zur Zitierweise in der chinesischen Soziologie- auch im Vergleich mit anderen Wissenschaften- Wei/Xing 1996.

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

den Wörterbüchern zu finden, bzw. die in der gegenwärtigen Soziologie gebräuchliche Bedeutung weicht von der alltagssprachlichen Verwendung ab. Die im Glossar angeführten Fachwörter wurden von mir übersetzt. 5 Zusätzlich habe ich aber auch bekannte (und schon übersetzte) Ausdrücke angefügt, wenn es sich um Bezeichnungen oder Gebrauchsweisen handelt, die in der chinesischen Soziologie häufig verwendet werden. Das angefügte Glossar lässt sich damit als kleines soziologisches Fachwörterbuch verwenden. Die Übertragung von Fachausdrücken ins Deutsche birgt einige Schwierigkeiten. In beiden Soziologien, der chinesischen und der deutschen, werden Ausdrücke in verschiedenen Texten unterschiedlich verwendet, manchmal sogar in einem Text. Das gilt in der gegenwärtigen Phase der theoretischen, begrifflichen und methodischen Konsolidierung der chinesischen Soziologie umso mehr. Es ist gegenwärtig- neben dem Wandel von Inhalten und Bedeutungen, wie im Falle des hier beschriebenen Lebensstilbegriffes -eine Art Begriffe-Diskurs zu beobachten, an dessen Ende dann häufig eine neue Bezeichnung steht. Unterschiedliche Fachwörter haben verschiedene Wege zurückgelegt; sie können in der Anwendung gereift bzw. schon lange üblich sein oder sie können dem Versuch entspringen, ein Verfahren, sei es ein gängiges oder ein neues, mit Verfahren aus einer anglophonen Soziologie in Einklang zu bringen. Beide Soziologien kennen die Verwendung von Theorie-Enklaven, Bezeichnungen und Definitionen, die übernommen werden, deren eingeführte Bedeutung dann aber nicht mehr relevant ist, vielleicht sogar der tatsächlichen Verwendung entgegensteht. Es ist immer ratsam, Bezeichnungen im Zusammenhang des gesamten Textes zu lesen. Wenn Verfahren, Methoden, Bedeutungen oder Bezeichnungen, vor allem aus der empirischen Forschung, im Großen und Ganzen mit den mir bekannten deutschen Verfahren, Methoden, Bedeutungen oder Bezeichnungen übereinstimmten, habe ich das entsprechende deutsche Wort gewählt - eine Deckungsgleichheit gibt es ja, wie schon festgestellt, auch innerhalb der jeweiligen Soziologien nicht, ja oft nicht einmal innerhalb einer Arbeit.

5 Gelegentlich wird in einem chinesischen Text die englische Übersetzung eines Wortes angeführt. In diesem Fall habe ich diese berücksichtigt, aber nicht unbedingt übernommen.

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EINLEITUNG

Umschrift, Zitierweise, Sprach I ich es Für die Transkription chinesischer Schriftzeichen habe ich die in der Volksrepublik China offiziell verwendete Pinyin-Umschrift gewählt. Zitate aus englischen und französischen Texten habe ich in der Originalsprache übernommen und gegebenenfalls mit einer vorangehenden oder nachfolgenden Umschreibung verdeutlicht. Zitate aus chinesischen Texten wurden alle von mir ins Deutsche übersetzt. Alle Titel sind in der Originalsprache angefuhrt, die chinesischen Titel sind von mir ins Deutsche übersetzt oder ich habe den einem Originaltext beigefügten englischen Titel übernommen. In diesen Fällen sind die englischen Titel mit Anflihrungszeichen als Zitate markiert. Auslassungen in Zitaten werden von runden Klammern( ... ) umrahmt, Auslassungen von Zitaten in Klammern stehen in geschweiften Klammern {... }, Einfugungen von mir, die der Ergänzung und Verdeutlichung eines Zitates dienen, sind in eckige Klammern [ ] gesetzt. Bei manchen chinesischen Sammelbänden ließ sich nicht ermitteln, wer die darin erschienenen Beiträge verfasst hat. Verweise auf solche Beiträge sind mit dem Namen der Herausgeberln und dem Zusatz "et al." oder "Hg." zitiert. Die einzige nicht-gängige Abkürzung - Da Baike - bezeichnet den Soziologie-Band der Großen Chinesischen Enzyklopädie (Zhongguo Da Baike Quanshu- Shehuixue Juan), sie ist auch in der Literaturliste angeführt. Da es sich um eine zentrale Quelle handelt, erfolgen Verweise auf Beiträge in der Großen Chinesischen Enzyklopädie sowohl mit dem Namen der Autorln als auch mit dem Zusatz "Da Baike".

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Teil I: Lebensstilforschung- eine Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels

1. Gesellschaft- Soziologie- Politik: Grundlagen In der chinesischen Lebensstilforschung, die zu den Hauptgegenständen der vorliegenden Arbeit zählt, gehören Dynamik und Bewegung zu den zentralen Themen (s. dazu Teil ITT). Das ist kein Wunder, ist doch der gesellschaftliche Wandel Chinas das zentrale Thema in vielen Bereichen, auch und vor allem in der Soziologie allgemein. Wer von chinesischer Forschung spricht, muss deshalb von der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft reden, die eine Gesellschaft des Wandels ist. 1 Wer von chinesischer Forschung spricht, muss außerdem von chinesischer Politik reden, die in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Leben Chinas eine große Rolle spielt. 2 Damit ist der Rahmen dieses Buches aufgespannt, in den die Themen- die Welt der festlandchinesischen Soziologie mit besonderem Schwerpunkt der soziologischen Lebensstilforschung- eingebettet sind. Diese Welt ist nicht denkbar ohne die chinesische Politik, die Gesellschaft und- vor allem- nicht ohne den gesellschaftlichen Wandel. Auf der Grundlage der Hauptgegenstände der Arbeit, der chinesischen "soziologischen Welt" (Feng 2000) und der chinesischen soziologischen Lebensstilforschung diskutiere ich im vorliegenden Teil I die theoretischen

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Gesellschaft ist immer in einem Prozess der Veränderung; das Besondere an der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft ist somit nicht eine ständige Veränderung, sondern Ungleichzeitigkeiten, Ausmaß, Geschwindigkeit und Tiefe der Veränderungen. Das macht die Veränderungen zu sozialem und gesellschaftlichem Wandel (s.u., v.a. 3.). Siehe zur Rolle der chinesischen Politik im Allgemeinen und der Kommunistischen Partei im Besonderen sehr umfassend Heilmann 1996.

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Grundlagen des Rahmenthemas: Die soziologische Diskussion der Beziehungen zwischen Soziologie, Gesellschaft und Politik, gerade auch im Vergleich von deutscher und chinesischer Soziologie. Darüber hinaus möchte ich eine- neue- Lebensstiltheorie als Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels anregen. Ich werde zeigen, dass und warum sich die Lebensstiltheorie für die Beschreibung und soziologische Analyse gesellschaftlichen Wandels besonders gut eignet. Mit der Untersuchung der chinesischen soziologischen Welt wende ich diese Theorie gleichzeitig an. Einleitend stelle ich einige historische, theoretische und methodische Überlegungen zum Bezugsrahmen an, der hier aufgespannt ist: zum Verhältnis von Gesellschaft, Soziologie und Politik.

1.1

Drei Felder

Zur Darstellung der Situation soziologischer Forschung, mit dem Schwerpunkt Lebensstilforschung, in China stelle ich drei Felder gegenüber: die Soziologie, die Politik und die Gesellschaft. Zum Feld der Gesellschaft gehört der gesellschaftliche Wandel. Die drei Felder stehen einander allerdings nicht monolithisch gegenüber; auch der gesellschaftliche Wandel ist nicht personifiziert zu denken. So wird beispielsweise anhand der Sieben Wandlungen (Teil III, 2.) deutlich, wie die "Interaktion" zwischen gesellschaftlichem Wandel und Feldern sowie den Menschen funktioniert; am Beispiel der Bedeutung der Praxisnähe in der soziologischen Forschung und in den soziologischen Diskursen (Teil TI, 2.) zeige ich, wie Politik und wie Gesellschaft in die Soziologie wirkt usw. Alle Verknüpfungen sind immer aus der Sicht der soziologischen Diskurse dargestellt. Hintergrund und ein Thema des Buches sind damit die Wechselwirkungen zwischen Soziologie, Politik und Gesellschaft- aus der Sicht der Soziologlnnen. Politik kommt einerseits als sinomarxistische Theorien zum Ausdruck und andererseits in Form von Partei- und Regierungsbeschlüssen. Gesellschaft erscheint einerseits als "das Ganze", als "die chinesische Gesellschaft" (s.u.) und damit häufig auch als gesellschaftlicher Wandel, zum anderen wird sie in den Lebensstilen der Menschen, also in deren Lebenstätigkeiten und Lebensäußerungen (und in den Darstellungen ihrer Lebenstätigkeiten und Lebensäußerungen) sichtbar. Die Soziologie steht einerseits für die chinesische "soziologische Welt" (Feng 2000), also für Theorien, Untersuchungen, Texte, Tagungen, Universitäten, Forschungseinrichtungen usw., und andererseits für die Soziologinnen. 3 3 Soziologie ist aber mehr, als die "Soziologenschaft", von der Matthes spricht, "RalfDahrendorfs Monitum folgend, daß Soziologie das ist, was Leute, die

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Zentraler Hintergrund dieser Untersuchung ist deshalb das Ineinandergreifen, das gegenseitige Verändern und die Verknüpfungen der Felder, nicht deren Gegenüberstellung. Die Politik ist in der Soziologie und in der Gesellschaft (den Lebensstilen, s.u.), die Gesellschaft (Lebensstile) ist in der Politik und in der Soziologie, die Soziologie ist in der Politik und in der Gesellschaft (den Lebensstilen). Pierre Bourdieu verwendet die Theorie von Feldern, um die Beziehungen, Verflechtungen und gegenseitigen Beeinflussungen von Bereichen in einer Gesellschaft zu konzipieren und aus der Mikroperspektive zu beschreiben. 4 Mit ihm lassen sich Soziologie, Politik und Gesellschaft als solche Felder beschreiben, deren Verknüpfungen oder Interaktionen davon gekennzeichnet sind, dass diese Felder mit ihrer jeweils eigenen Logik und Eigenständigkeit dennoch aus vielen (weiteren) Unterfeldern bestehen, mit deren jeweils eigener Logik und Eigenständigkeit. Das sind "Sub-Universen, die selber als Felder organisiert" sind (Bourdieu/Wacquant 1996: 144) und die ihren eigenen Logiken folgen und deshalb mit Unterfeldern anderer Felder enger zu tun haben können, als mit denen innerhalb ihres Feldes. 5 Entsprechend lassen sich Felder, trotzihrer eigenen Logik, nicht als monolithische Blöcke denken." Das detaillierte Ineinandergreifen der Felder beschreibe ich an mehreren Stellen, um so das Funktionieren der Prozesse zwischen Objektivität und Subjektivität nachvollziehbar zu machen.

sich Soziologen nennen, tun, wenn sie sagen, daß sie Soziologie treiben. Mehr nicht" (Matthes 1992: 91, Hervorhebung im Orig.). - Vielmehr repräsentiert sich die Soziologie in ihren verschiedenen Äußernngen qualitativer und quantitativer Art: eigene Erzählungen, Sekundärberichte (so gut wie keine vorhanden), Sekundärtexte, Texte; und in alledem: Theorien, Thesen, Studien, Themen, Bücher usw. 4 Zu Bourdieus Konzeption von Feldern s. Bourdieu 1985, 1993: 107-114, 1997: 59-78; Bourdieu/Wacquant 1996: 124-147 sowie Fröhlich 1994; zum Feld der Wissenschafts. Bourdieu 1975. 5 Der Manager eines Unternehmens wird beispielsweise in einem politischen Amt engere At1initäten zum Standpunkt von Unternehmen- oder zu seinem Unternehmen- haben, als es die Logik seiner politischen Aufgaben nahe legt. 6 Mit Bourdieu ließe sich das Verhältnis von Feldern und Unterfeldern auch als Kampf um die Macht, bzw. genauer, als Kampf um das Monopol auf die legitime symbolische Gewalt beschreiben, mit der sich Normen und Definitionen durchsetzen lassen (Bourdieu/Wacquant 1996: 124-147, v.a. 142-147). Allerdings spielen in der Feldertheorie das Individuum und das Streben nach Macht m.E. eine zu große Rolle, wenn auch Bourdieus HabitusKonzept, bezieht man es mit ein (und es gehört ja dorthin), zumindest die Betonung des Individualistischen wieder stark relativiert.

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

1.2

Was ist die chinesische Gesellschaft? Ein Gesellschaftsbegriff

Um Gesellschaft gerrauer zu fassen, als "das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens" (Ritsert 2000: 9), bedarf es einer Einschränkung. Es ist zu präzisieren, worum es geht, was gemeint ist, was interessiert. Genügt es, davon auszugehen, dass wir es mit der chinesischen Gesellschaft zu tun haben? Dann können wir uns nach der gängigen Variante der deutschen Soziologie richten, der "Grundvorstellung von , Gesellschaft' als einem System sozialer Beziehungen, dessen Grenzen mit denen des modernen Nationalstaates zusammenfallen" (Ritsert 2000: 115f.; s.a. Matthes 1992). Dafür spräche die Bedeutung der chinesischen Politik, die sehr stark in die anderenFelderhinein reichtimmerhin beobachten wir die chinesische Soziologie als institutionalisiertes Fach, das von der chinesischen Regierung verboten worden warund von einer nachfolgenden chinesischen Regierung wieder zugelassen wurde (Teil TI, 5.1, passim). Außerdem bildet der gesellschaftliche Wandel Chinas, der- zumindest in den Diskursen - mit der chinesischen Partei- und Regierungspolitik von Reform und Öffnung eng verbunden ist, den Rahmen der vorliegenden Untersuchung. Andererseits wird gerade bei der Soziologie deutlich, die ihre Existenz nach 1979 primär der Partei bzw. dem gesellschaftlichen Wandel verdankt (und damit nationalstaatlich gebunden scheint), dass die internationale Welt der Wissenschaft bzw. der Soziologie eine bedeutende Rolle spielt (s. z.B. Teil TI, 3.4, 4.2) und welchen Einfluss die Soziologien westlicher Industrienationen (aber auch internationale chinesische Wissenschaft) hier haben. 7 Aus diesem Grunde spielen seit einigen Jahren kulturorientierte Diskussionen in der VR China eine Rolle, die aus dem Ausland kommen. 8 Aber auch solche kulturorientierten Ansätze sind Gegenstand von Auseinandersetzungen und kritischer Betrachtung; 9 sie sind für die vorliegende Untersuchung ebenso unzureichend, wie der nationalstaatliche Ansatz. Der Untersuchungsgegenstand der chinesischen Soziologie ist einerseits in der Regel die "chinesische Gesellschaft", andererseits analy-

7 Der Einfluss der Soziologie auf Politik und Gesellschaft wird in Teil II an mehreren Stellen diskutiert. Die theoretische Diskussion des Einflusses soziologischer Erkenntnisse, soziologischen Forschensund Denkens erfolgt im vorliegenden Teil I, 2. zum Verhältnis von Soziologie und Praxis. 8 Vgl. z.B. Shambaugh, Hg., 1995; Ong/Nonini, Hg., 1997. 9 Tu Wei-ming (1991: 12f.) diskutiert drei symbolische Welten eines kulturellen China, die nicht nur ethnische Chinesinnen (allgemein ein wichtiges Kriterium) einschließen. In einem Aufsatz über die Globale Chinesische Kultur (Schirmer 2000) zeige ich, wie widersprüchlich - und praktisch kulturorientierte (und andere) Ansätze gehandhabt werden.

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siert das Fach natürlich nur die Aspekte, die untersucht bzw. diskutiert werden. Die Gesellschaft also so umfassend zu definieren wie am Anfang dieses Kapitels oder sie mittels einer soziologiefremden Logik (Nationalstaat) abzugrenzen führt die soziologische Analyse nicht weiter. Tatsächlich ist der einzige Weg, "die Gesellschaft" eingehend zu analysieren, der Rahmen der jeweiligen Forschungsfragen. Mit Weber könnte man sagen, die Qualität einer Erscheinung ist "bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses" (Weber 1988: 161, kursiv im Orig.). Diechinesische - Gesellschaft lässt sich allein auf der Grundlage des vorliegenden Forschungsobjektes begreifen. Gesellschaft ist hier zum einen das Gesamte, das die drei beschriebenenFelderund ihre Verhältnisse zueinander umfasst, und damit auch der gesellschaftliche Wandel, zum anderen und vor allem ist Gesellschaft die Lebensstile, die umfassend Thema der Teile TI und III sind. Was Lebensstile sind, erläutere ich in Kapitel3 dieses Teils. Warum Lebensstile die chinesische Gesellschaft, die im Wesentlichen vom Wandel geprägt ist, umfassend repräsentieren, zeige ich in Teil TI, aber vor allem in Teil III. Zuerst diskutiere ich aber im folgenden Kapitel 2. das Verhältnis von Soziologie und Praxis in der chinesischen und in der deutschen Soziologie.

2. Soziologie und Praxis 2.1

Die chinesische Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft

Die fachinternen und außerfachlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen in Bezug auf das Verhältnis von Soziologie bzw. Sozialwissenschaften und Praxis (Forschungsobjekte, Alltag, Gesellschaft, Politik) weisen in China und in Deutschland sehr große Unterschiede auf, aber ebenso viele Parallelen. Die Hoffnungen und Erwartungen, die von außen an sozialwissenschaftliche Theorie und Forschung herangetragen wurden, die Selbsteinschätzung der Wissenschaft, manchmal überheblich, vielleicht auch oft nur hoffnungsvoll, und die entsprechenden fachinternen Diskussionen, z.B. in Bezug auf den Sinn und den Nutzen bestimmter Methoden, das sind Bereiche, die große Ähnlichkeiten aufweisen, trotz der so unterschiedlichen politischen und historischen Situation, die zu einer sehr unterschiedlichen Sichtweise von Theorie und Praxis geführt haben (s. dazu Teilll).

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Im Vergleich zu Deutschland ist die Trennung gesellschaftlicherFelderwie Politik, Wissenschaft oder Gesellschaft- und damit Lebensstile- in der VR China nicht so scharf. Entsprechend bestehen eine andere Sichtweise und eine andere Wirklichkeit vom Verhältnis zwischen Gesellschaft, Politik und Soziologie. Verfolgt man zum Beispiel die deutsche Berichterstattung zu China, wird für die Bereiche Ökonomie und Recht deutlich, wie viel organischer die Zusammengehörigkeit solcher Teilbereiche zur Politik sind und wie unterschiedlich die Versuche sind, sie neu zu definieren. Soziologie und sozialwissenschaftliche Forschungfungiert/ein China als Vermittlerirr zwischen Politik und Gesellschaft oder als Transmissionsriemen, um einen Ausdruck aus der sinomarxistischen Nomenklatur zu verwenden. Sie soll einerseits die jeweilige Lage vor Ort erkennen und erfassen und andererseits soll sie Mittel entwickeln, entsprechende politische Entscheidungen und Maßnahmen anzuwenden. 1° Für immer mehr soziale Fragen hat die Soziologie zwar weiterhin ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Politik und Gesellschaft inne; die Richtung, in der Themen und Fragen aufgeworfen werden, verändert sich aber von top-down (von der Politik über die Soziologie in die Gesellschaft) zu bottom-up (von der Gesellschaft über die Soziologie zur Politik) (s. Teil TI, 2.1 ). Dazu gehört, dass die Soziologie immer weniger als Instrument der Planung und Lenkung der Gesellschaft verstanden wird. Die Gesellschaft besitzt eine "neue Definitionsmacht", welche die Position der Soziologie stärkt (vgl. Gransow/Li 1995: 12-15; Weggel 1997: 179f.). Aus der Sicht der Soziologie lässt sich das engere Zusammenspiel solcher Felder v.a. an der Notwendigkeit des Praxisbezuges soziologischer Forschung zeigen, den ich hier, in Kapitel2, sowie in Teil TI erläutern werde. Der Stellenwert der Praxis bzw. der Praktikabilität oder des Nutzens von Forschung und Wissenschaft ist wesentlich höher als in Deutschland, wo nur in manchen Teilsoziologien oder gar Nischen über einen mangelhaften Bezug zur Praxis geklagt wird. 11 Eine ausführliche Diskussion des Themas und seiner Bedeutung für die chinesische Soziologie erfolgt in Teil TI. Die Notwendigkeit des Praxisbezuges der Soziologie, oder allgemein das

10 Siehe zur methodischen Seite dieser Aufgabe Feng 2001: 65-70; Feng/XuDa Baike 1991: 120f. und Feng- Da Baike 1991: 192f.; 1991 a: 400. 11 Das ist in der Regel in der empirischen Soziologie der Fall; zur metasoziologischen bzw. wissenschaftstheoretischen Sicht vgl. Opp 2002, Kapitel I, und, teilweise etwas widersprüchlich, in Kapitel XI. - Es wäre in China undenkbar, eine Soziologie an sich, ohne Praxisbezug zu fordern.

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stärkere Ineinandergreifen einiger gesellschaftlicher Felder, vor allem aber das von Soziologie, Politik und Gesellschaft, hat dafür gesorgt, dass die Grenzen zwischen diesen Bereichen fließend und niedrig waren. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft sind bzw. waren insofern fließend, als die Verschränkung mit politischen Zielvorgaben und vor allem die Notwendigkeit des direkten Nutzens für die Ueweils betroffene) Allgemeinheit ein Sich-Verschließen von Sozialwissenschaften verhinderten. Sozialwissenschaftliche und Sozialforschung war in vielerlei Hinsicht eine volksnahe angewandte Forschung. Konkrete Fragen sollten zum Nutzen der entsprechenden Bevölkerung, mit deren Teilnahme und zu ihrer direkten Verwendung, und damit auch für sie verständlich, gelöst werden. Deshalb ließen sich beispielsweise sozialwissenschaftliche und populäre Texte häufig überhaupt nicht oder nicht deutlich unterscheiden. Die Veröffentlichung von Theorien, Thesen und Forschungsergebnissen in der allgemeinen Presse war nicht nur üblich, diese Artikel sind auch Teil des wissenschafliehen Kreislaufes, sie werden in der nachfolgenden wissenschaftlichen Arbeit gelesen, verwendet und zitiert. Heute ist ein deutlicher Professionalisierungsschub zu beobachten, der für diejenigen, die sich mit einem soziologischen Thema befassen, eine immer höhere Spezialisierung verlangt. Die "Volksnähe" der Soziologie wird entsprechend mit der steigenden Professionalisierung der wissenschaftlichen Disziplin in Frage gestellt. In Bezug aufihre "Öffentlichkeit" schließen die Soziologinnen ihren Kreis und sind zunehmend "unter sich". Das heißt, die Verwendung und somit das Zitieren von fachintern entwickelten Theorien, Begriffen und Methoden wird immer wichtiger, Verweise werden immer häufiger, die Sprache wird spezifischer und komplizierter. Der Spezialisierungsgrad derer, die einen Text verstehen wollen, muss entsprechend steigen. In der gegenwärtigen chinesischen Soziologie sind sehr viele Widersprüche zu beobachten, deren Weiterentwicklung offen ist. Es wird sich in den folgenden Jahrzehnten zeigen, welche neue Stellung sich die Soziologie in öffentlichen Diskursen schaffen und wie sich das im Detail auswirken wird. Gleichzeitig bedeutet die Öffnung und Pluralisierung der Gesellschaft eine deutliche Entwicklung der Soziologie scheinbar in die entgegengesetzte Richtung: Die Wissenschaftlerinnen blicken intensiver "um sich", setzen sich in ein neues, engeres Verhältnis zu ihrer Umwelt und stellen so eine ganz neue Verbindung zu dieser Öffentlichkeit her. Dennoch sind, wie oben dargelegt, die gesellschaftlichen Systeme in China enger beieinander und folglich sind Soziologie und Sozialwissenschaften wesentlich deutlicher in politische und gesellschaftliche Prozesse "verwickelt", als das in Deutschland der Fall ist. Aus diesem Grund sind das Verhältnis und die Wechselwirkung von Soziologie, Gesellschaft und Politik in ganz anderer Weise von einem Wandel der wissenschaftlichen

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Disziplin Soziologie betroffen. Was das für die Disziplin Soziologie in der Volksrepublik China bedeutet, ist ausführlich in Teil ll diskutiert; im Folgenden werden die Definitionen und Entwicklungen zum Praxisbezug der deutschen und der chinesischen Soziologie verglichen.

2.2

Sozioiegien in der Gesellschaft

Die Entwicklung in China und der Vergleich mit deutschen Vorstellungen von der Rolle der (Sozial-)Wissenschaft werfen allgemein Fragen zum Zusammenspiel, der Verknüpfung und dem gegenseitigen Einfluss von Wissenschaft und Gesellschaft, hier speziell von Soziologie und Gesellschaft auf. Soziologie (als Wissenschaft) hat- verglichen mit anderen (vor allem nicht-sozialwissenschaftlichen) Fächern- eine besondere Position innerhalb der Gesellschaft. Das Fach betätigt und entwickelt sich "nicht jenseits gesellschaftlicher Praxis, sondern von vornherein als wissenschaftlich-reflexive Auseinandersetzung mit und in dieser selbst" (Bommes et al. 1991: 96). Für Bommes et al. ist damit auch die analysierende und interpretierende Auseinandersetzungmit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Soziologie sehr nahe an der, die in der Gesellschaft "selbst" stattfindet. Deshalb ist für die Autorinnen Soziologie "als eine gesellschaftliche Organisationsform von Reflexionsprozessen zu begreifen, welche die Hervorbringung und Tradierung sozialwissenschaftliehen Wissens in relativer Distanz zu gesellschaftlichen Handlungsproblemen und Interessenlagen ermöglicht." (Bommes et al. 1991: 96). Und zwar, so muss man noch hinzufügen, nur in relativer Distanz. Somit ist Soziologie "nur ein Teil des gesellschaftlichen Wissens" von sich selbst (Evers/Nowotny 1987: 19). Entsprechend geschieht "[ d]ie Wahrnehmung und Artikulation gesellschaftlicher Probleme und Interessen ( ... )nicht vor und jenseits der Auseinandersetzung mit korrespondierendem soziologischem Wissen, sondern dieses geht bereits in diese Prozesse selbst ein" (Bommes et al. 1991: 97f.). Die Autorinnen sprechen hier grundlegende wissenschaftssoziologischeoder erkenntnistheoretische- Bedingungen soziologischen Wirkens (also soziologischer Wirkung) an. So, wie soziologisches Wissen Teil des reflexiven Wissens der Gesellschaft ist, sind die Soziologinnen Teil der Gesellschaft. Das ist der zweite Aspekt der besonderen Stellung der Soziologie als Wissenschaft: die besondere Stellung der Soziologlnnen in und außerhalb der Gesellschaft, oder, in China, die besondere Lagen der Soziologinnen als Subjekte und Objekte des gesellschaftlichen Wandels (s. Teilll, 1.). Es wird den chinesischen Soziologlnnen nicht gelingen, sich "neben" ihre Gesellschaft zu stellen und sie unbeteiligt und emotionslos zu beschreiben und zu beurteilen. In einer

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Gesellschaft, die sich von großer Homogenität zu steigender Pluralisierung wandelt, hat dies für das Fach und schließlich für die Zusammengehörigkeit der gesellschaftlichen Systeme Konsequenzen. Praxisbezogenheit und damit politische Verwertbarkeit waren für die chinesische Soziologie- und andere Fächer- nicht nur wichtige Legitimationsgründe nach ihrer Wiedereinrichtung im Jahre 1979, als die Angst vor der erneuten Abschaffung des Faches sicher sehr präsent war (s. Teil TI). Mit dem Nutzen des Faches für Politik und Gesellschaft sollte auch dessen Existenzberechtigung bewiesen und unterstrichen werden. Der Bezug zur Praxis, zum realen, praktischen Alltagsleben, war im Kampf um die politische Herrschaft in China, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der politischen Ideologie der KP China insgesamt und auch in den chinesischen Wissenschaften ein wesentliches Merkmal kommunistischer Haltung. Auf diese Weise haben die Kommunisten China erobert 12 und die kommunistische Soziologie hat sich so von der "bourgeoisen" Soziologie abgegrenzt. 13 In der deutschen Soziologie gab es einige Höhepunkte der Diskussion um (politische) Verwertbarkeit und Praxisrelevanz: der Werturteilsstreit vor dem Ersten Weltkrieg, im Zuge dessen von Weber, Simmel und anderen auch ganz grundlegende Fragen zu den Aufgaben einer Sozialwissenschaft diskutiert wurden; der Positivismusstreit, der seinen Höhepunkt in den 1960er Jahren hatte; und als Konsequenz feministischer sozialwissenschaftlicher Forschung seit den 1980er und 1990er Jahren ein Methodologiestreit, dessen Gegenstand die Frage nach der Objektivität empirischer Daten ist. Für den Vergleich mit der chinesischen Soziologie bzw. sozialwissenschaftliehen Forschung sind vor allem der Positivismusstreit und der Methodologiestreit interessant.

12 Die Kommunisten haben damit 1. ihre Sorge und Zuständigkeit für die Situation der (Bauern)Massen demonstriert; sie haben so 2. das Bewusstsein "der Massen" dafür geweckt, dass die Situation der Menschen nicht primär in deren eigener Zuständigkeit liegt und sie konnten 3. gewisse Erfolge in der Verbesserung dieser Situation erzielen. 13 Die bourgeoise Soziologie der Herrschenden wurde - und wird - der revolutionären und kritischen marxistischen Soziologie gegenübergestellt (Zheng Hangsheng 1994: 557, 559; Schmutz 1993: 123, 131).

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

2.2.1 Der Streit um Praxisrelevanz in der deutschen Soziologie (1): Positivismusstreit und Sozialtach nolog ie Der im Wesentlichen wissenschaftstheoretische Positivismusstreit 14 (der 1960er Jahre) fand seine praktische Basis vor allem in den 1970er Jahren. Viele Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen stellten sich Sozialwissenschaften als eine Art Sozialtechnologie vor, die mit den richtigen Griffen an den richtigen Stellen Gesellschaft und gesellschaftliche Entwicklung verändern und positiv beeinflussen kann (vgl. Kromrey 2002: 15). Im Grunde ist ja die Gründung der Soziologie als Wissenschaft schon dem Ziel geschuldet, Gesellschaft (besser) zu organisieren. 15 Grundlage war der "Glaube() an die universale Mission der naturwissenschaftlichen Denkweise und Methode", von dem "Comtes geistige Umwelt durchtränkt" war (Bock 1999: 42). Tm Positivismusstreit war die Kehrseite des Positivismus die Kritische Theorie, der von manchen vorgeworfen wurde, sie wolle eine "Sozialtheologie" betreiben; statt von Erkenntnismöglichkeiten gehe sie von Erkenntnisinteressen aus (vgl. Atteslander 2003: 373f.). Der Aspekt der Werte und der politischen Zielsetzungen, so würden es chinesische Soziologinnen ausdrücken, spielte für die Vertreterinnen der Kritischen Theorie die wesentliche Rolle und sollte eine reiftzierende empirische Sozialforschung in den Hintergrund drängen. Die große Gesamttheorie, welche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit umfasst, 16 stand der Handhabung kleiner Detailfragen gegenüber. 17 In der chinesischen Soziologie stehen beide Positionen in einem Spannungsfeld. Zur Zeit des deutschen Positivismusstreits gab es in China einen ähnlichen Streit, im Zuge dessen der Widerspruch zwischen politischer Theoriebildung und sehr konkreter, kleinteiliger und direkter Sozialforschung vor Ort in den ersten Jahrzehnten der Volksrepublik zu einem Meinungskampfzwischen zwei Lagern flihrte (s. Teil TTT, 5.3.7). Die "Sozialtheologen" waren dort allerdings die Bewahrer, während die "Positivisten" Sozialforscherinnen waren, die überwiegend mit qualitativen Methoden versuchten, konkrete Verbesserungen zu erzielen.

14 Siehe v.a. Adorno et al. 1969. 15 Dabei widerspricht Erfindung allerdings der Theorie des Erfinders, Auguste Comte, der die Entwicklung der Soziologie im Sinne einer Sozialtechnologie als eine Art Naturgesetz sah. 16 Zur Un-Möglichkeit, "Gesellschaft" in ihrer Gesamtheit zu erfassen vgl. Teil I, 1.2. 17 Siehe dazu auch die Theorie der Gesamtsumme in der chinesischen Lebensstiltheorie (Teil III, 5.3.7); zur Deutung der Totalität des sozialen Daseins/Sozialtheologie s. Atteslander 2003: 273f.

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LEBENSSTILFORSCHUNG ALS MIKROTHEORIE

Praxisrelevanz ist für einige Soziologinnen bzw. Sozialforscherinnen ein Legitimationsgrund für ihre Forschung. Als Legitimation soziologischer Forschung wird sie gegenwärtig in Deutschland im Methodologiestreit (s. u.) diskutiert. Allerdings lässt sich in den Bereichen, in denen Praxisrelevanz diskutiert wird, eine zurückhaltendere Art feststellen als im Positivismusstreit, die "Ansprüche" in dieser Hinsicht sind gesunken. Ist die Überschätzung und Selbstüberschätzung der 1970er Jahre vorüber, als die Soziologie eine Politik vom "sozialwissenschaftlichen Reißbrett" ermöglichen sollte (Beck!Bonß 1989: 13)? Heute sollen "Think-tanks" und Beratungsforschung Ideen und Praxishilfen liefern, Soziologie und Sozialforschung sollen sich mit konkreten Detailfragen auseinander setzen, Soziologie soll - oft genug - "gesellschaftliches Orientierungswissen" bieten (Schimank 2000a: 17). Was bedeutet das? Verkriecht sich die Soziologie in einem Elfenbeinturm oder wird die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten nur realistischer? Gibt sich das Fach damit zufrieden, dass seine Erkenntnisse mit populären, politischen und gesellschaftlichen Beobachtungen und Erkenntnissen zusammenfließen? Immerhin ist zu viel Popularität außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde, zu viel Nähe zu Wirtschaft Politik verpönt (vgl. Bommes et al. 1991: 62f.). 1s Wo in China angewandte Forschung oft als die einzige bzw. als die richtige Forschung beschrieben wird, hat angewandte Soziologie in Deutschland, die dann häufig als (angewandte) Sozialforschung wahrgenommen wird, bis heute den Status des Anrüchigen nicht so ganz verloren. Einerseits hat das Fach schon immer- und in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit auch im akademischen Bereich noch dringlicher- eine größere bzw. direktere Akzeptanz und damit Verwertung und Verwendung soziologischen Wissens und soziologischer Techniken erwartet, andererseits lässt sich das Gespenstund die Gefahr- politischen oder marktwirtschaftliehen Diktats aufwissenschaftliches Denken und wissenschaftliche Arbeit wohl nicht vertreiben. Legitimierung und Kommerzialisierung (manchmal auch Popularisierung) stehen sich damit als Gegenspielerinnen gegenüber. Wenn also in Deutschland soziologische Fragen einen direkten Praxisbezug haben, und zwar mit dem Ziel einer mehr oder weniger direkten Integration der entsprechenden soziologischen Forschung, gilt das als ein Aspekt der Soziologie und zwar vor allem als Resultat und nicht als Grund soziologischen Arbeitens. In Festlandchina hingegen gehört das, als angewandte Forschung, zum Selbstverständnis soziologischen Arbeitens; die Interpretation eigener Forschungsarbeit geschieht häufig vom Standpunkt der Unterscheidung von theoretischer (Grundlagen-) und an gewandter Forschung aus. 18 Ulrich Beck ist hier eine Ausnahme und seine Arbeit ist nicht direkt an-

wendbar.

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

2.2.2 Der Streit um Praxisrelevanz in der deutschen Soziologie (2): Der Methodologiestreit Manche würden es vielleicht vorziehen, den Streit um und über qualitative oder quantitative Forschungsmethoden Methodenstreit zu nennen, ist doch innerhalb dieser Ansätze häufig eben von Methoden die Rede. Aber dieser "Methodenstreit" ist mehr als ein Streit über Methoden. Die Wahl und Entwicklung von Methoden wird vielmehr als Konsequenz wissenssoziologischer und wissenschaftssoziologischer Überlegungen begriffen und diskutiert. Bevor ich den Methodologiestreit hier kurz als die gegenwärtige deutsche Auseinandersetzung um Praxisrelevanz einfuhre, unternehme ich deshalb einen kleinen Ausflug zur Verwendung von Methoden und Methodologie.

2.2.2.1 Methodologie und Methoden Die Bezeichnung Methoden wird zwar häufiger definiert, erfahrt aber eine unerschöpfliche Bandbreite von Inhalten. Wiswede benutzt Methoden als Oberbegriffvon Forschungslogik und Forschungstechnik, die wiederum aus jeweils verschiedenen Methoden bestehen: z.B. die verstehende Methode als Methode der Forschungslogik oder die Befragung als Methode der Forschungstechnik (Wiswede 1998: 79f.; 50-I 06). Das ist zwar logisch, wenn man Methode mit Verfahrenstechnik oder Verfahrensweise gleichsetzt, aber es ist sehr verwirrend. Kromrey definiert Methode- korrekt und wortgetreu- als "sämtliche systematischen, d.h. nach festgelegten Regeln ablaufenden Vorgehensweisen der Sozialforschung" und enthebt sie damit ihres Status als Fachterminus (Kromrey 2002: 309, kursiv im Orig.). Häufig ist mit Methode ganz allgemein empirische Forschung gemeint (vgl. Haller 1999: 616-621): Die Vertreterinnen qualitativer Forschungsansätze grenzen sich oftvon den Methodologien und Methoden ab, die in der quantitativen Forschung üblich sind, aber ihre Ansätze gelten dennoch häufig als "qualitative Methoden". Im Gegensatz zu Methoden spielt in der deutschen Soziologie die Methodologie und die Auseinandersetzung mit Methodologie als Teil konkreter Forschungsarbeit keine besondere Rolle. Entsprechend hält sich die definitorische Auseinandersetzung mit dem Begriff in Grenzen. Für die einen meint Methodologie eine Sammlung von empirischen und theoretischen Methoden und Techniken (wobei aber Methoden in den meisten Fällen empirische Methoden meint), die anderen setzen Methodologie mit Wissenschaftstheorie gleich (explizit z.B. Opp 2002: 10). So spricht beispielsweise Haller (der sich verhältnismäßig ausführlich mit Methodologien befasst) in seinem Kapitel zu Grundprinzipien einer soziolo34

LEBENSSTILFORSCHUNG ALS MIKROTHEORIE

gischen Theorie von einer spezifischen (hier soziologischen) Methodologie als spezifischem Regelwerk, das bei der Entwicklung von Theorien und Hypothesen beachtet werden muss (Haller 1999: 528). Tm Schlusskapitel über die soziologische Theorie als Wirklichkeitswissenschaft betont der Autor die Bedeutung methodologischer Prinzipien und definiert Methodologie "in einem umfassenden Sinne" (ebd. 616), indem er eine in vielen qualitativen Ansätzen übliche Definition übernimmt/ 9 ohne allerdings näher auf die Bedeutungvon Theorien und Theoriebildung einzugehen, die zu den Diskursen über qualitative Ansätze gehören (ebd. 617 u. 620). In der chinesischen Soziologie bezeichnet Methodologie (fangfalun) 20 in der Regel ausschließlich wissenschaftstheoretische Grundlagen. Sie bildet die logische und philosophische Forschungsgrundlage, also die Standards eines wissenschaftlichen Faches bezüglich seiner Grundsätze, Prinzipien und Methoden. Feng Xiaotian fUhrt unter Methodologie wissenschaftssoziologische Prinzipien wie philosophische Grundlagen, Logik, Form, Werte, Objektivität an (Feng Xiaotian 2001: 9). Der Methodologiestreit ist also kein Methodenstreit, sondern eine Auseinandersetzung mit der "Arbeit des Sozialwissenschaftlers" und mit "sozialwissenschaftliche[r] Praxis" (Opp 2002: 15). Es ist die Auseinandersetzung mit wissenstheoretischen Grundlagen einerseits (z.B. der Objektivität von Wirklichkeit und von Forschung) und mit konkreter Forschungspraxis andererseits (der Anwendung von Methoden der Datengewinnung und -analyse).

2.2.2.2

Der Methodologiestreit

Objektivität- oder Subjektivität- soziologischen Wissens und Subjektivität - oder Objektivität - sozialwissenschaftlicher Daten werden heute intensiv in der qualitativen soziologischen Forschung in Deutschland diskutiert. Kern der Diskussionen sind damit im Wesentlichen methodische und methodologische Fragestellungen. Im deutschen Methodologiestreit,

19 "Methodologie", so Haller, "wird hier in einem umfassenden Sinne verstanden, nicht nur als Lehre von der Entwicklung und Anwendung spezifischer soziologischer Erhebungs oder Auswertungstechniken wie Interview, Beobachtung, statistische Datenanalyse usw., sondern als Gesamtheit der Regeln, nach denen die Problemformulierung, die Umsetzung einer Fragestellung in ein Forschungsdesign, die Anwendung und Weiterentwicklung geeigneter Erhebungs- und Auswertungsinstrumente und die Interpretation der Daten erfolgt" (Haller 1999: 616f, kursiv im Orig.). 20 In welchem Zusammenhang Methodologie zu Methoden steht und warum fangfalun hier nicht als Methodenlehre, sondern als Methodologie übersetzt wird, s. Teil II, 3.3.

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der allerdings vor allem von den Vertreterinnen qualitativer Forschung geführt wird, geht es um Fragen z.B. des Gesellschaftsbezuges, also des Verhältnisses von Soziologie und Gesellschaft. Ob eine konkrete Methode (strukturiertes Interview, Einzelfallanalyse usw.) in einer konkreten Frage besser zum Ziel führt als eine andere, ist nur ein Aspekt der Auseinandersetzung. Entsprechend sind die "qualitativen Methoden" wesentlich mehr als Methoden, es sind meist vollständige Methodensysteme, die auf bestimmten wissenstheoretischen und gesellschaftstheoretischen Grundlagen aufbauen. In Deutschland stehen diese Diskurse häufig in Zusammenhang mit feministischer Wissenschaft einerseits und mit qualitativen Forschungsansätzen andererseits. Als Forscherinnen "amRande" (vgl. Gao Bingzhong 1997: 32f.; Teil III, 3.2) sahen sich feministische Sozialwissenschaftlerinnen (meistens Sozialwissenschaftlerinnen) häufig mit einer Sozialforschung konfrontiert, die Werturteilsfreiheit, den Anspruch auf Objektivität, quantitative Empirie und den subjektiven Blick einer Mainstream-Kultur aufdie Sozialweltproblemlos in Einklang brachte. 21 Gesellschaftliche "Minderheiten" hatten in der Forschung dieser MainstreamKultur, die ihren- objektiven- Abstand zum allgemeinen Alltagswissen missen ließ, in der Regel keinen Platz. Feministische Forscherinnen haben dagegen deutlich gemacht, dass "wissenschaftliche Forschung( ... ) immer parteilich [ist] und( ... ) sich nie aus den sozialen Kontexten lösen [kann], in denen sie entsteht und auf die sie zurückwirkt" (Brück et al. 1992: 24). 22 QualitativeForschungsansätze waren entsprechend für viele dieser- empirisch forschenden- Wissenschaftlerinnen eine interessante Alternative. 23 Entsprechend ist eine der wesentlichen methodologischen Prämissen dieser Verbindung von feministischen und qualitativen Ansätzen die Ablehnung der Objektivität (sozial-)wissenschaftlichen Wissens. Das heißt, sie lehnen die Annahme, die Möglichkeit und - in der Konsequenz- die Forderung nach Objektivität der Forschung im positivistischen Sinne ab. Positivistische Forschungsansätze, wie z.B. der erkenntnistheoretische Realismus, setzen dagegen die Möglichkeit der Erkenntnis der "objektiven Realität", und damit deren Existenz, voraus (s. Kromrey 2002: 24). 24 In

21 Siehe Behnke-Meuser 1999; Brück et al. 1992: 17 B 43; Fox-Keller 1995: 64-91; Richardson 1996: 1-20. 22 Siehe dazu z.B. Honeggers Arbeit über die "Wissenschaften vom Menschen und das Weib" (1991). 23 Für eine umfassende Diskussion "[t]eministische[r] Methodologien und Methoden. Traditionen, Konzepte, Erörterungen" siehe Althoffet al. 2001. 24 Solche positivistischen Wissenschaftsansätze gehen davon aus, dass sich Daten und ihre Objektivität überprüfen lassen und deshalb letztlich

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diesem positivistischen Ansatz spielt die oben dargestellte Verknüpfung von Soziologie bzw. Soziologlnnen und Gesellschaft keine Rolle- zumindest was die Frage der Objektivität soziologischer Daten angeht -, weil vorausgesetzt wird, dass der objektive Kern herausschälen lässt. Hingegen verändert die Ablehnung der Objektivitätsannahme den Blick auf die Forschungsobjekte und aufdie Forschungssubjekte?5 Sie versucht, in der Konsequenz, bei der Frage der Verknüpfung von Soziologie und Gesellschaft die Subjektivität, sowohl der soziologischen Daten als auch der Forschung selbst, zu berücksichtigen. Flick et al. sehen als "Erkenntnisprinzip qualitativer Forschung( ... ) eher das Verstehen( ... ) von komplexen Zusammenhängen als die Erklärung durch die Isolierung einer einzelnen (z.B. Ursache- Wirkungs-)Beziehung" (Flicket al. 2000: 23). Der Interaktionseffekt von Forschenden und Erforschten wird hier, anders als in der quantitativen Forschung, nicht als Störfaktor angesehen, sondern als expliziter Bestandteil der Erkenntnis (vgl. Behnke/Meuser 1999: 46). Für die Sicherung wissenschaftlicher Qualität haben qualitative Ansätze eigene Gütekriterien (Steinke 2000) für die Datenerhebung und -auswertung entwickelt, die sich einerseits deutlich von denen quantitativer Forschungsansätze unterscheiden, denen aber andererseits die gleichen Werte zugrunde liegen (Vermeidung von Beliebigkeit, Nachvollziehbarkeit usw.). Ob der Methodologiestreit ein Zeichen dafür ist, dass Soziologlnnen in Deutschland zunehmend Wert auf (mehr) angewandte Forschung legen, wird sich zeigen.

unabhängig von den Forschenden sind. Der Forschung zugrunde liegende Annahmen und Theorien, so subjektiv sie auch sein mögen, würden nach objektiven wissenschaftlichen Standards überprüft und könnten so als richtig erkannt oder als falsch entlarvt werden. Kromrey, der sich als Vertreter des Kritischen Rationalismus bezeichnet, weist allerdings selbst nach, dass "eine Vermutung über einen Tatbestand" (Kromrey 2002: 48), wie er die Hypothesen nennt, die der Forschung zugrunde liegen, nie wirklich verifiziert werden kann und so zu einem "logisch nicht auflösbaren Dilemma" (ebd. 46) führt. Der Kritische Rationalismus ignoriert mit dem Argument der objektiven Überprüfbarkeif die Existenz subjektiver Standpunkte der Forschenden und gesteht gleichzeitig ein, dass eine vollständige (und somit überhaupt eine) objektive Überprüfbarkeif forschungsleitender Hypothesen, Thesen oder Theorien nicht möglich ist. Damit diskreditiert sich diese Methodologie, denn die Frage, wie eine Hypothese zustande kommt, wäre nur dann nicht relevant, wenn diese wirklich objektiv überprüft werden könnte. 25 Zum Verhältnis von Forschenden und Beforschten s.a. z.B. Hopf2000.

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2.2.3 Angewandte Forschung -sozialistisches Relikt oder Arbeit mit dem soziologischen Werkzeugkasten? Unabhängig von politisch-ideologischen, philosophisch-ideologischen oder wissenschaftsideologischen Auseinandersetzungen lässt sich die Frage nach dem Praxisbezug bzw. nach der Praxisrelevanz fur die Soziologie an der Auseinandersetzung mit (dem Stellenwert) der angewandten Forschung prüfen. Ich gehe hier von dem chinesischen Konzept an gewandter Forschung aus, weil angewandte Soziologie in Deutschland als explizites Konzept kaum Beachtung findet. Was in der chinesischen Soziologie unter dem Stichwort angewandte Forschung diskutiert wird, kann aber in Deutschland in anderen Formen relevant sein und diskutiert werden. Das haben die vorhergehenden Kapitel gezeigt. In der chinesischen Soziologie ist angewandte Forschung der wichtigste Forschungstyp. Seine Bedeutung im Selbstverständnis chinesischer Soziologinnen lässt sich am wichtigen und viel zitierten soziologischen Nachschlagewerk, des Soziologie-Bandes der Großen Chinesischen Enzyklopädie (Zhongguo Da Baike Quanshu- Shehuixue Juan), ablesen. Dort werden unter dem Hauptbegriff Soziologie Makro- und Mikrosoziologie sowie theoretische und angewandte Soziologie unterschieden. Die Unterscheidung von theoretischer und angewandterForschungistimplizit oder explizit- bei den meisten Autorinnen üblich. 26 In der deutschen Soziologie ist die Auseinandersetzung mit angewandter Forschung selten. Gelegentlich- und in der Regel unsystematisch- wird angewandte Forschung in einem Text erwähnt und dann meist im Zusammenhang mit Auftragsforschung oder empirischer Forschung verwendet. 27 Dagegen ist Soziologie fur Bommes et al. per se angewandte Forschung. Eine Unterscheidung von theoretischer Grundlagenforschung und praxisrelevanter, angewandter Forschung ist für sie im Grunde nicht möglich (Bommes et al. 1991: 96) - und nicht nötig? Tatsächlich spielt der Zeitfaktor bei der Definition von Forschung als praxisrelevant, d.h. in der Praxis angewandt, eine wesentliche Rolle, also "wie schnell" bzw. wie direkt ein Forschungsergebnis in der Praxis relevant werden kann. Dennoch geht ihre, in dieser Hinsicht vor allem wissenstheoretische Analyse am Kern des Konzeptes von angewandter Forschung vorbei.

26 Vgl. Wang Yalin 1995; Feng Zhiye 1998b: 230 usw.; u. Lin/Wang 2000:43. 27 Eine Gegenüberstellung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung liefert Kromrey (2002: 19-21 ).

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LEBENSSTILFORSCHUNG ALS MIKROTHEORIE

Für Bommes et al. sind "Soziologen (... ) Akteure in Handlungskonstellationen, die einen spezifischen Beitrag in den Aushandlungsprozessen leisten, in denen Wirklichkeit in handlungspraktisch folgenreicher Weise definiert wird. Ihnen wird als Wissenschaftlern ein privilegiertes Wissen über soziale Wirklichkeit zuerkannt, womit sie in einer verwissenschaftlichten Kultur ein Deutungsmonopol für soziale Wirklichkeit beanspruchen können, jedoch gleichwohl nicht in der Lage sind, dies auch realiter durchzusetzen." (ebd. 97) Etwas kompliziert und widersprüchlich formulieren die Autorinnen die These, dass soziologisches Arbeiten auch außerhalb der Soziologie zu den Elementen gehört, die unsere Deutung der (Alltags-)Welt bestimmt. Soziologisches Wissen wird also generell angewandt. Sie stellen fest, dass "Soziologie zu einem Moment des Wissenshaushaltes geworden ist, mit dem in gesellschaftlicher Praxis Sichtweisen von Wirklichkeit begründet, Handlungsalternativen evaluiert und die Bewertung der Folgen von Handlungen vorgenommen werden" (ebd. 98). Diese These - der ich zustimme - diskutiert die besondere Stellung der Soziologie als Wissenschaft, die eng- und reziprok- mit ihrem Forschungsobjekt, "ihrer" Gesellschaft, verknüpft ist. Für die Unterscheidung von angewandter und Grundlagenforschung reicht das nicht aus. Schließlich weisen die Autorinnen-zu Recht- daraufhin, dass nur "eine Autonomie gegenüber den interessengeleiteten Strategien gesellschaftlicher Akteure" denNutzen und die Wirksamkeit von Soziologie als Moment in sozialen Auseinandersetzungen garantiert (ebd. 98). Aber sie verwechseln die Ebenen: Wenn sich Soziologie mit konkreten gesellschaftlichen Fragen oder Problemen auseinandersetzt, dann muss - oder sollte - sie das nicht im Auftrag einseitiger Interessen tun. Unabhängige Forschung ist ein wesentliches (ideales) Ziel, das ständigen Einsatz erfordert; sich aus gesellschaftlich bzw. politisch, wirtschaftlich oder sozial relevanten konkreten Fragen herauszuhalten ist dabei der falsche Weg. Augewandte Forschung ist nicht per se interessengeleitete Forschung. Atteslander unterscheidet wissenschaftliche(!) Grundlagenforschungvon empirischer Sozialforschung, wobei letztere in Deutschland kommerziell und interessengeleitet betrieben werde. 28 In diesem Zusammenhang beklagt er eine ungenügende Entwicklung unabhängiger Sozialforschung in

28 Grundlagenforschung sei aber nicht per se neutral und angewandte, empirische Sozialforschung nicht per se kommerziell, betont der Autor (Atteslander 2003: 9).

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Deutschland. Sozialforschung finde in der Regel unter sehr interessen- und zielgeleitetem Auftrag statt (Atteslander 2003: 8f.). Dagegen beschreibt Schimank angewandte Forschung und Grundlagenforschung in ganz anderen Kategorien. Grundlagenforschung lasse sich mit seinen Worten als "Vorarbeiten" bezeichnen während an gewandteForschungdie Bearbeitung "soziologischer Rätsel" vornehme (Schimank 2000: 334 und 335). Der Autor beklagt "die ganze Schlagseite der allgemeinen soziologischen Theorie", die eine Folge davon sei, dass sich zu wenige "soziologische Theoretiker ernsthaft aufsoziologische Rätsel( ... ) einlassen." Mit ihrem "soziologischen Werkzeugkasten" (ebd. 335), gefüllt mit soziologischen Grundlagen, Theorien, Denken, Methoden, sollen sie "Warum-Fragen" (ebd. 334) stellen und bearbeiten. Der Bildung von Theorien, Definitionen und Begriffen sowie der Exegese von Klassikern werde zu viel Platz eingeräumt. Diese seien da wichtig, wo sie als Grundlage bzw. als Werkzeug für das Lösen soziologischer Rätsel benötigt werden (ebd. 334f.). "Hat man sie erledigt, ist die eigentliche soziologische Arbeit noch nicht getan, sondern fängt gerade erst an" (ebd. 334 ). Schimank liefert hiermit die beste Beschreibung des chinesischen Konzeptes angewandter Soziologie. Macht die Unterscheidung von theoretischer vs. angewandter Forschung Sinn? Ist die Gegenüberstellung von theoretischer vs. angewandter Forschung ein folgerichtiges Ergebnis metasoziologischer Betrachtungen, ist sie Nabelschau oder politische Notwendigkeit in den beiden Ländern? Die Dichotomisierung ergibt sichjaaus einer bestimmten Blickrichtung heraus und erlaubt deshalb zuerst einmal Aussagen über die Blickrichtung und erst in zweiter Linie Aussagen über eine bestimmte Forschungsstruktur. Während die Eigendefinition -und auch der Vergleich mit der Gesellschaftder deutschen Soziologie wissenschafts-und professionsbetont ist, zeichnet sich die festlandchinesische Soziologie durch eine politikbezogene Eigendefinition aus. Letztere weist allerdings eine deutliche Tendenz zur wissenschaftsimmanenten Argumentation und Eigendefinition auf. In beiden Fällen besteht die Gefahr einer gewissen Arroganz und Abgrenzung gegenüber "der Gesellschaft": Die Soziologie würde sich dann als etwas Eigenständiges, über der Gesellschaft Stehendes sehen, das diese unabhängig und unparteiisch beobachten, beurteilen und vielleicht "heilen" kann. Die Tatsache, dass das Konzept der augewandten Forschung in der chinesischen Soziologie eine große Rolle spielt, während es in der deutschen Soziologie dagegen praktisch irrelevant ist, sagtviel darüber aus, wie sich die beiden Soziologien jeweils sehen - für die chinesische Soziologie wird dies ausführlich in Teilll besprochen. Es sagt aber wenig über die Relation von angewandterForschungund Grundlagenforschung

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aus und es sagt wenig über die Praxisrelevanz der jeweiligen Forschung aus. Auf der Suche nach einem Pendant in der deutschen Soziologie ist die Unterscheidungvon theoretischer und empirischer Forschung angemessen, weil beide Gegenüberstellungen von der theoretischenForschungals einer abstrakteren Grundlagenforschung ausgehen. Während die Unterscheidung angewandte Forschung vs. theoretische Forschung einen inhaltlichen Bezug hat, geht es in der Unterscheidung empirische vs. theoretische Forschung um eine formale Unterscheidung, die in beiden Soziologien, der chinesischen und der deutschen, üblich ist? 9 Dennoch hat die Empirie "[e]ine wichtige Funktion( ... ) in der Vermittlung von Theorie und Praxis. Zum einen liefert die Empirie gewisse Aspekte der gesellschaftlichen Praxis in wissenschaftlicher Form der Theorie als Analyseobjekt; zum anderen führen dann die empirischen Konsequenzen von Theorien zu praktischen Anwendungsmöglichkeiten" (Schurz2002: 98, kursiv i. Orig.). Deshalb vollzieht sich "[d]er Einsatz empirischer Methoden (... ) somit im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis" (Atteslander 2003: 7). In der vorliegenden Untersuchung diskutiere und vergleiche ich in der Regel alle drei Forschungsarten, die theoretische, angewandte und empirische Forschung, weil jede ihre charakteristischen Eigenschaften hat, die sich nicht einer anderen Art zuordnen lässt. Eigentlich müsste eine vierte Unterscheidung dazu kommen, die Grundlagenforschung. TheoretischeForschung als Gegenüberstellung von angewandterForschungwäre präziser als Grundlagenforschung bezeichnet, weil sich Grundlagenforschung von theoretischer Forschung unterscheiden lässt und weil auch zur augewandten Forschung theoretische Analysen gehören. Ich habe aus zwei Gründen daraufverzichtet; erstens, weil sich Grundlagenforschung unter theoretische Forschung unterordnen lässt und zweitens, weil in den chinesischen Arbeiten in aller Regel die Bezeichnung theoretische Forschung verwendet wird und für eine eingehende Untersuchung nach meiner eigenen Definition an dieser Stelle kein Raum ist. Angewandte und Grundlagenforschung gehören als inhaltliche Spezifizierungen zusammen, empirische und theoretische Forschung sind formale Spezifizierungen. Empirische und theoretische Forschung können sowohl Grundlagenforschung als auch angewandte Forschung sein. Entsprechend können angewandte Forschung und Grundlagenforschung theoretisch oder empirisch sein (oder beides ). Folgende Wortwahl wäre logisch: die Unter-

29 Feng Xiaotian (2001: 21, passim) verwendet in seinem zweiten Kapitel eine hybride Konstruktion, indem er Theorie (lilun) und Gesellschaftsforschung (shehui yanjiu) gegenüberstellt.

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scheidung von Grundlagen- und angewandter Forschung sowie die Verwendung der Bezeichnungen Theorie, 30 theoretisch, Empirie und empirisch. Das entspricht aber - wie gesagt - nicht der Praxis. In der chinesischen Soziologie ist in der Regel von angewandter und theoretischer Forschung die Rede; empirische Forschung wird in beiden Soziologien selten Empirie genannt (wie bei Schurz 2002) 31 • Die Einflihrung der Bezeichnung Grundlagenforschung für den inhaltlichen Aspekt der Erarbeitungvon Forschungsgrundlagen der Soziologie wäre zwar sinnvoll, setzt aber eine Definition voraus. Zur Grundlagenforschung wären dann beispielsweise auch Forschungsmethoden zu zählen. Angewandte Forschung liegt zwischen den Extremen der Beschreibung soziologischer Arbeit insgesamt und empirischer Auftragsforschung, die hier beschrieben wurden. Es ist ein sinnvolles Konzept, um die Beziehung von Soziologie und Praxis zu beschreiben. Dabei reicht es nicht, wie Bommes et al. festzustellen (s.o.), dass soziologisches Forschen immer (irgendwie) mit der Praxis verbunden ist. Die Auffassung vieler deutscher Soziologlnnen, welche ich in den letzten Kapiteln diskutiert habe, dass soziologische Forschung auch oder mehr an Praxisrelevanz orientiert sein soll, hat in der chinesischen Soziologie einen höheren Stellenwert und ist deshalb eingehender diskutiert und ausformuliert. Entsprechend lässt sich mit Feng Zhiye (1998b: 230) von angewandterForschungals Forschung sprechen, "die sich zur Lösung gegenwärtiger gesellschaftlicher Probleme anwenden lässt". Was das jeweils im Detail bedeutet, kann immer nur in Bezug aufjeweils konkrete Fragen bestimmt werden. Die (Entwicklung einer) Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt wird, ist theoriebildende angewandte Forschung. Sie wurde von mir aus der Untersuchung der Soziologie und der soziologischen Lebensstilforschung in der VR China sowie der Wissenschaftlerlnnen, die sie betreiben, entwickelt.

30 Für Endruweit (2002) kann Forschung nicht Theoriearbeit meinen, sondern grundsätzlich nur Methoden der Feldforschung und ihre Modifikationen. Damit setzt er Forschung mit Methoden gleich; beides betrachtet er zu sehr losgelöst von einem theoretischen Zusammenhang. 31 Empirische Forschung wird zudem häufig als empirische Sozialforschung bezeichnet.

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3. Lebensstile als theoretische und empirische Grundlage einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels Gabriele Klein sieht in der Erforschung sozialen Wandels eine zentrale Aufgabe der Soziologie (Klein 1998: 164). Gängige Theorien sozialen Wandels - Transformationstheorien - setzen aber in aller Regel das Ergebnis oder zumindest die Richtung der Transformation schon voraus. "Der dabei gewählte normative Bezugspunkt dient einer Transformationstheorie als Anfangs- und Endpunkt einer gerichteten Evolution." (Müller/Schmid 1995: 38) Eines der definitiven Entwicklungsziele vieler solcher Theorien (z.B. Zapf 1996) ist eine demokratische Gesellschaft. Doch was ist eine demokratische Gesellschaft? Und wie lässt sie sich erreichen? Derartige Fragen gehören nicht zum Forschungsziel dieser Arbeit. Vielmehr ist das Ziel eine Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels mittels der Untersuchung sozialer Prozesse. Soziale Prozesse "sind die vielen ineinander wirkenden Vorgänge, die als immanente Bestandteile der dynamischen Bewegtheit des gesellschaftlichen Wirkungszusammenhangs verstanden werden. Der Begriff sozialer Prozess meint also nicht die unmittelbar strukturverändernden sozialen Entwicklungen. Vielmehr dient er der Beschreibung ständiger Vorgänge, die zugleich Auslöser oder Voraussetzung für einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel sein können." (Klein 1998: 174, Hervorh. im Orig.) Mit der Beobachtung von sozialen Prozessen wird sozialer Wandel untersucht. Sozialer Wandel ist dann gegeben, wenn sich typische Elemente eines Sozialsystems verändern (ebd. 174). Ich verwende den Ausdruck gesellschaftlicher Wandel um so- neben der Sozialstruktur oder dem Sozialsystem - das Alltagsleben, Alltagsdenken und die Lebenstätigkeiten der Menschen besonders zu berücksichtigen. Bewegung und Veränderung sind wiederum die wesentlichen Aspekte von Lebensstilen; sie werden über die Beobachtung sozialer Prozesse mittels der Lebensstilforschung erfasst. "Das Leben ist ein dynamischer Zustand [und] Lebensstile sind nicht mehr als dieForm der Lebensaktivitäten. Deshalb ist es notwendig, eine Lebensstiluntersuchung aus einem Blickwindel der Dynamik vorzunehmen, um (... )auf der Grundlage ihrer Struktur und ihrer Eigenschaften das Bewegungsgesetz und die Entwicklung von Lebensstilen zu verstehen" (Li/Wang 1997: 8). Diese Beobachtung und Kontextualisierung von Prozessen, von Lebensstilen, lassen sich als Bausteine für die Weiterentwicklung von Theorien gesellschaftlichen Wandels nutzbar machen. Zur Lebensstilanalyse gehört im vorliegenden Fall auch die Beobachtung der soziologischen Akteurlnnen. Das doppelte Verhältnis von Untersuchungssubjekten, die Bestandteil ihres Untersuchungsobjektes sind (s. dazu 43

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auch Berger/Luckmann 1999: 14f.) ist Teil der Analyse. Es geht um die Frage von wissenschaftlicher, also fachlicher, Erfahrung und Alltagserfahrung und ihren Einfluss aufwissenschaftliche Fragen. Mit dervorliegenden Arbeit diskutiere ich (Bausteine) eine(r) Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels und wende sie gleichzeitig an, denn wie die chinesischen Soziologlnnen Gesellschaft untersuchen zeigt viel von dieser Gesellschaft und vom gesellschaftlichen Wandel in China.

3.1

Die subjektive und die objektive Seite von Lebensstilen

Die Aufgabe der Lebensstilforschung ist es, sich mit der zentralen Frage der Soziologie auseinanderzusetzen, mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und dem Leben der Menschen - in beiden Richtungen. Lebensstile beschreiben die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und Lebenstätigkeiten32 • Bourdieu hat diese Verbindung mit dem Habitus-Begriff beschrieben. 33 Der Kern des Konzeptes Lebensstil ist damit die Einheit von Subjektivität und Objektivität, also von subjektiven Lebenstätigkeiten und objektiven Lebensbedingungen. Die Konzeption von Lebensstil betont also die Verschränkung von objektiver und subjektiver Lage, von Struktur und Handeln, von materiellen und nicht-materiellen Sichtweisen, von äußeren und inneren Bedingungen und von Mikro- und Makroebene. Damit bezeichnet Lebensstil "die Tätigkeitsweisen der Menschen, [wenn sie] einer bestimmten Kultur entsprechend ihre Lebensbedürfnisse befriedigen und die verschiedenen materiellen und geistig-kulturellen Ressourcen handhaben, welche [ihnen] die gesellschaftliche Umwelt zur Verfügung stellt", es bezeichnet "die Art, [wie sich die Menschen] ,einrichten"' (Wang Yalin 1995: 43). Damit ist der Mensch auch das Subjekt, das die Verhältnisse formt, in denen er tätig ist (Li/Wang 1997: 6). Lebensstile zeichnen sich somit dadurch aus, dass sie ständigen Veränderungen unterworfen sind, dass die objektiven Bedingungen, die Erfahrungen, die Stile usw. in den Individuen akkumuliert - aber damit auch verändert - werden. Damit zeigt das Lebensstilkonzept außerdem die Gebundenheit von scheinbar so freien

32 Lebenstätigkeiten sind das alltägliche Tätigwerden von Menschen, sie umfassen Handeln - und somit Denken und Reflektieren -, aber auch Verhalten. Ich benutze diesen Begriff aus der chinesischen Lebensstilforschung (s. dazu Teil II, 5.3.2), weil er für die Diskussion von Lebensstilen insgesamt zutreffender ist, als z.B. der Handlungsbegriff 33 Siehe dazu die Literaturhinweise in Kapitel 3.2.1, Fußnote 42.

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"individuellen" Wahl- und Handlungsmöglichkeiten. Die Stile werden nicht ausgetauscht, sie werden verändert und entwickelt. Alltägliches Tätigsein und Lebensstile sind einerseits Repräsentanten tiefer gesellschaftlicher und kultureller Strukturen und bilden andererseits eine Art Oberflächenstruktur. Beide Seiten, die objektive und die subjektive, werden bzw. wurden in der chinesischen und in der deutschen Lebensstilforschung häufig mit den Ausdrücken Lebensweise (shenghuo fangshi) bzw. Lebensstil (shenghuo fengge) verbunden; die entsprechenden Zuschreibungen waren bzw. sind (in der DDR, der alten BRD, im gegenwärtigen Deutschland und in der VR China) sehr ähnlich. Lebensweise und Lebensstil betonen aufgrunddieser Zuschreibungen jeweils eine der beiden Seiten, Struktur oder Handeln, objektive oder subjektive Lage, das materielle oder das ideelle Substrat (Müller 1997: 377) usw. Soziologisch ist eine solche Schwerpunktsetzung aber unfruchtbar. Das heißt, wenn der Fokus des Interesses auf einer der beiden Seiten liegt und nicht auf deren Zusammenspiel, dann eigenen sich andere Ansätze genauso bzw. besser. Bei der Lebensstilanalyse sollte es deshalb nicht um eine Verteilung von objektiver Seite auf die Lebensweise und subjektiver Seite auf den Lebensstil gehen, denn gerade deren Verknüpfung, der "konstitutive Dualismus" (Müller 1997: 377) im Begriff des Lebensstils, macht seinen Wert erst aus und ist Voraussetzung für alle im Folgenden beschriebenen Theorieelemente, insbesondere zur Konzeptu alisierung von gesellschaftlichem Wandel. Die deutsche Lebensstilforschung konzentriert sich häufig stark auf die subjektive Seite der Lebensstilkonzeption. So auch Hans-Peter Müller, der trotzseiner berechtigten Forderung nach Berücksichtigung des "konstitutiven Dualismus" von Lebensstilen den gängigen, auf das Individuum konzentrierten Lebensstilkonzeptionen folgt und "Ganzheitlichkeit, Freiwilligkeit, Charakter oder Eigenart, Verteilung der Stilisierungschancen und der Stilisierungsneigung [als]( ... ) formale Merkmale der Lebensstilkonzeption, die implizit oder explizit den meisten Lebensstilansätzen zugrunde liegen" beschreibt (s. Müller 1997: 376 und, am Beispiel der Stilisierung, unten 3.2). Die chinesische Lebensstilforschung befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen ihrem "alten" Lebensweisen-Konzept und einem neuen, das von einer vielfältigen Desaggregierung gekennzeichnet ist_3 4 Das alte Konzept betonte fast ausschließlich die objektive Seite

34 Der Fokus der Forschung wendet sich von der Makroebene zur Mikroebene, hin zu konkreteren Details und auf kleinere Untersuchungseinheiten (s. Müller/Weihrich 1991 ). 45

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der Lebensstile und beschrieb sie u.a. häufig nach Gesellschaftstypen (z.B. sozialistischer Lebensstil). Das neue "entdeckt" alte und neue gesellschaftliche Gruppen und immer häufiger das Individuum. In Teil TTT und- auf einer theoretischen Ebene hier in Teil I, 3.3- belege ich, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft eine zu starke Position in den soziologischen (Lebensstil-)Forschungen innehat. Ich werde zeigen, dass eine Stärkung der Position gesellschaftlicher Gruppen ein neues Licht auf Lebensstile und Lebenstätigkeiten wirft und neue analytische und methodische Mittel liefert- zum Beispiel mit einer Theorie der Stilisierung. Eine fundierte soziologische Lebensstilanalyse-die auf der Grundlage von Lebensstilgruppen eine Beobachtung sozialer Prozesse vornimmt- würde, so auch Müller, "über eine Reihe von unbestreitbaren Vorzügen [verfügen]: Sie verknüpft Makround Mikroebene, verbindet strukturelle und prozessuale Aspekte und scheint zu komplexer Sozialstrukturanalyse besonders geeignet, weil sie den Wandel der Schichtung wie der Haushaltsstruktur zu verfolgen gestattet; sie vermeidet dabei jeglichen ,Strukturalismus' oder ,Ökonomismus', indem sie etwa von der sozialstrukturellen Position oder der sozioökonomischen Lage direkt aufspezifisches Verhalten schließt. Vielmehr geht sie Homologien oder Wahlverwandtschaften zwischen dem Raum der Klassen und dem Raum der Lebensstile bzw. Lebenschancen und Lebensstilen nach und verknüpft Arbeit und Produktion mit Freizeit und Konsum. Ferner erlaubt sie es, gleichzeitig vertikale Unterschiede und horizontale Differenzen, Statusunterschiede und Subkulturelle Unterschiede von Gruppen zu betrachten." (Müller 1997: 379f.) Die Stärke des Lebensstilkonzeptes liegt gerade darin, dass es die Einheit beider Seiten bildet, der objektiven Seite und der subjektiven Seite. Um diese Einheit fruchtbar zu machen muss die Ebene der Gruppenlebensstile berücksichtigt werden. Bei der Gegenüberstellung von Gesellschaft auf der einen und lndividuum auf der anderen Seite lassen sich zwar interessante Erkenntnisse über den Zusammenhang von Statischem und Dynamischem gewinnen; das Funktionieren von Makrostrukturen und -mechanismen in Mikrozusammenhängen und umgekehrt kann aber mit dieser sehr modellhaften Gegenüberstellungvon Gesellschaft und Individuum nicht beschrieben werden. Die Bedeutung dieses Mechanismus, der nur unter Berücksichtigung der Ebene der Gruppen( -Iebensstile) geklärt werden kann, wird in dem Kapitel über die Stilisierung (3.2) ausfuhrlieh untersucht und an Beispielen erläutert.

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3.2

Stilisierung als Formung von Lebensstilen

Stilisierung ist die Darstellung eines bestimmten Stils. Sie ist- bewusste und unbewusste- Bedeutungsgebung! Sie ist eine Tätigkeit der Zuordnung, die "neutralen Handlungen" und "neutralen Dingen" Bedeutung verleiht, ohne dass es aber bedeutungsfreie, stilisierungsfreie, reine, neutrale Handlungen gibt,3 5 Stilisierung ist quasi soziales Lebensstil-Handeln, d.h. vom Standpunkt ihrer sozialen Funktion ist Stilisierung 1ntegrationshandeln. 36 Sie geschieht aber grundsätzlich, unabhängig davon, ob eine Person eine "Stilisierungsabsicht" verfolgt oder nicht und sie geschieht unabhängig vom Gesellschaftstyp, also unabhängig davon, ob eine Gesellschaft traditionell oder modern, kapitalistisch oder sozialistisch ist. Das bedeutet, es gibt einen Stilisierungszwang oder besser einenStilisierungsautomatismus. Stil und Stilisierung sind nicht so sehr als Form und Verhalten einzelner Individuen interessant, sondern weil sie Form und Verhalten von und in Gruppen zeigen. Somit markiert ein Stil Gruppen, Stilisierung ist die Zuordnung zu Gruppen. Stilisierung ist deshalb kein Kennzeichen von Individualität bzw. individuellen Verhaltens, vielmehr ist sie einerseits ein Kennzeichen von Gruppenzugehörigkeiteil und andererseits ein Kennzeichen von gesellschaftlichen Gruppen selbst. Sie ist die Referenz des Individuums auf die Gruppe und die Präsenz der Gruppe im Individuum. Stilisierung ist die kulturelle bzw. gesellschaftliche Formung, aber nicht die Überformung von Lebensvollzügen, wie allgemein angenommen wird. Demnach ist Stilisierung der kulturell geformte Aspekt des Lebensstiles von Subjekten. Stile sind Handlungsgesetze und Handlungsgewohnheiten, sie sind Manifestationen von Zugehörigkeit. Die drei wesentlichen Charakteristika von Stil und Stilisierung, den Stilisierungsautomatismus, ihre Funktion als Bedeutungsgebungund als soziale Zuordnung, möchte ich im Folgenden an der Auseinandersetzung mit zentralen Kriterien der chinesischen bzw. der deutschen soziologischen Lebensstilforschung untermauern.

35 Siehe dazu unten zu Formung und Überformung und zum "ungeschminkten Habitus" (3.2.3). 36 Stile bzw. Lebensstile werden internalisiert und mit ihrer Wiederholung, d.h. mit ihrer wiederholten Reaktivierung, der Stilisiernng, wird Konsens oder Zusammengehörigkeit hergestellt und aufrecht erhalten. - Hier passt der Handlnngsbegriff sehr gut, weil es um ein sinnhaftes Tätigsein geht, auch wenn es nicht unbedingt bewusst geschieht.- Zu Stilisierung bzw. Lebensstil als ,.Sozialintegration" s.a. Schwengel (1991 ), der allerdings auf kollektive ldentitäten der nationalen oder gar europäischen Ebene zielt.

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3.2.1 Stilisierung in den beiden Sozioiegien Die Lebensstilforschung in beiden Soziologien, in Deutschland und in der VR China, hat einen überwiegend naiven und vortheoretischen Begriff von Stilisierung. Das stellen- bezogen auf den Stil-Begriff- flir die deutsche Soziologie auch Luckmann (1986) und Hartmann ( 1999) fest_3 7 Das grundlegende Merkmal des Stil-Begriffes ist, dass die Stilisierung als Tätigkeitsweise überhaupt nicht beachtet und damit nicht diskutiert wird. Diskutiert wird lediglich der Lebensstil, selbst der Ausdruck Stil taucht in der Soziologie nur am Rande auf_3 8 Auch die chinesische Lebensstilforschung diskutiert Stilisierung nur implizit. Das heißt, es ist in den Texten nicht von Stilisierung oder Stilisieren (z.B. als fenggehua) die Rede? 9 Dennoch erhält der Aspekt des Handeins wesentlich mehr Aufmerksamkeit, denn es geht in der chinesischen Lebensstilforschung immer um Lebenstätigkeiten, also um Tätigkeiten -und Wertvorstellungen -, wenn von Lebensstil die Rede ist. In beiden Soziologien gibt es, idealtypisch gesprochen, zwei Ideen eines Lebensstilbegriffes, einerseits als einer "strukturellen Determinante" (Hartmann 1999: 42), geprägt von den sozialstruktureilen Bedingungen, und andererseits als einer absichtsvollen Entscheidung für Lebensstile mit dem Effekt ihrer Überhöhung. 40 Stil wird somit alternativ als Ausfluss bzw. Manifestierung objektiver Lebensbedingungen gesehen oder aber als subjektive, gar individuelle Konstruktion. Die Herstellung von Stil, die Stilisierung als Handeln, ist in der ersten Variante nicht existent, in der zweiten Variante bildet sie eine willkürliche Willensentscheidung, die grundsätzlich von der objektiven Umwelt losgelöst ist. In der Konsequenz spricht Yvonne Schroth von der ersten Variante als dem "sozialstrukturellen Lager", das davon ausgeht, dass Lebensstile von Statusgruppen bestimmt werden, und von der zweiten als dem "Entstrukturierungslager", das soziale Aggregate als Produkte von Lebensstilen sieht (Schroth 1999: 59). Im geteilten Deutschland standen sich beide Ideen nahezu unversöhnlich gegenüber: In den DDR war deshalb die Bezeichnung Lebensweise gebräuchlich, in dem sich objektive

37 Beide s. Hartmann 1999: 19. 38 In einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ist der Stilbegriff dagegen teilweise sehr wichtig. 39 In einer Sammlung ausländischer, übersetzter Lebensstiltexte wird der Webersehe Begriff der Stilisierung (fenggehua) thematisiert (Huang Dexing et al. 1987: 40); er findet aber keinen Eingang in die dort vorgestellte Lebensstiltheorie. 40 Dies diskutiere ich an anderer Stelle als Verhältnis von Objektivität und Subjektivität, die in den beiden (chinesischen und deutschen) Lebensstiltheorien unterschiedliche Schwerpunkte haben.

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Bedingungen spiegeln sollten, wahrend in der BRD mit Lebensstilen viel häufiger ästhetisiertes oder zumindest bewusstes und intentionales Handeln in Verbindung gebracht wurde. Vielleicht ist es der Ausdruck Stil, der in beiden Soziologien das Bild aufrecht erhalt, (Lebens-)Stil stehe für frei gewählte Entscheidungen und Stilisierung für einen ästhetisierten Habitus. In Wirklichkeit ist Stil - in aller Regel - gerade nicht, was der alltagssprachliche Begriff impliziert: 41 individuell, einzigartig, möglicherweise sogar aus der Rolle fallend, sondern Stile sind Handlungsregeln der Integration. Die chinesische Lebensstilforschung kennt- prinzipiell- beide Ausdrücke, Lebensweise (shenghuo fangshi) und Lebens-Stil (shenghuo fengge ), die aber zunehmend in einem Begriffintegriert und als Lebensstil (shenghuo fangshi) bezeichnet werden. Die Diskussion der Tätigkeitsweisen des Lebens-Stiles, der Darstellungen des Stils, lassen sich deshalb mit der Diskussion der Stilisierung vergleichen. Die Lebensstilforschung in der VR China hat in dieser Hinsicht eine Veränderung in drei Schritten vollzogen, bzw. vollzieht sie noch: Zuerst wurden beide Begriffe - Lebensweise (shenghuo fangshi) und Lebens-Stil (shenghuo fengge)- diskutiert, wenn auch zu Lasten des zweiten nicht gleichberechtigt. Dann wurde der LebensStil erwähnt, aber abgetan. Inzwischen taucht er fast überhaupt nicht mehr auf. Der jetzt übliche Begriff der Lebensweise hat aber seinen stark "objektiven" Charakter verloren und integriert beide Ideen. Um diese Veränderung zu verdeutlichen und um die Abgrenzung zum "alten" Lebensweisen-Begriff zu gewährleisten, benutze ich deshalb die Übersetzung Lebensstil für shenghuo fangshi. In ihrem theoretischen Modell integriert die chinesische Lebensstilforschung also inzwischen beide Aspekte. Der konsequente weitere Schritt, die Entwicklung einer Handlungstheorie der Stilisierung (z.B. fenggehua), fehlt aber noch. Die vollständige Integration der beiden Begriffe bzw. Ideen würde aber neben der schon beschriebene Integration von objektiver und subjektiver Lage die

41 Hier wird erneut deutlich, wie wichtig es ist, auch die alltagssprachliche Verwendung von Ausdrücken in die Überlegung von Bezeichnungen und Begriffsbildungen mit einzubeziehen. Das ist auch wichtig, um Missverständnisse und die missverständliche Verwendung innerhalb der Soziologie zu vermeiden. Aus folgenden Gründen habe ich mich für die Verwendung des Ausdrucks Stilisierung entschieden: Erstens ist die Bedeutung von Stil im Alltag sehr weit gefasst (Fahrstil, Musikstil, Kleidungsstil u.ä. haben in der Regel nichts Überhöhtes), zweitens werde ich darstellen, dass und warum ich Lebensstil der Bezeichnung Lebensweise vorziehe (s.u.), womit ich den Stil integriert habe, und drittens entspricht die Verwendung der hier dargelegten Stilisierungstheorie.

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Entwicklung einer solchen Stilisierungstheorie bedeuten. Sie kann letztlich nur gelingen, wenn sich beide Soziologien jeweils mit der Stilisierung befassen. Ansonsten wird die alte Kritik in der deutschen Soziologie weiterhin berechtigt bleiben, die fragt, welche Funktion die soziologische Lebensstilforschung haben soll. Sie sollte eine Funktion haben, die zwischen Sozialstrukturforschung und Marktforschung liegt. Die Stärke des Lebensstilbegriffes liegt ja gerade in seiner Vereinigung von Subjektivität und Objektivität, der Verbindung, die die Dynamik gesellschaftlichen Wandels ermöglicht. Stilisierung(-shandeln) ist dabei konkret erforschbares Handeln, das "objektive" (i.S. von aktuell gültige), verfestigte Wirklichkeit und Bedeutungen verflüssigt, indem sie sie "durchführt", und die objektive Wirklichkeit wieder herstellt. Audehm und Zirfas (200 1: 114-116) argumentieren in diese Richtung, wenn sie nachweisen, welche Integrationsfunktion Stilisierung hat. Ihre Arbeit verfolgt aber eine andere Fragestellung (die Familie als ritueller Lebensraum) und geht deshalb nicht weiter auf den Aspekt der Stilisierung als Integrationshandeln ein. Da Stilisierung als Handlungsform ignoriert wird, befassen sich die Lebensstilforschungen beider Soziologien mit dem Ergebnis von Stilisierungen, mit deren Konsequenzen, d.h. mit Strukturen und Bedeutungen. Sie fragen nicht nach dem Vorgang und nach dem Mechanismus von Stilisierung. 42 Die Folge ist, dass (Lebens-)Stil auch in der Soziologie- anscheinend vom alltagssprachlichen Gebrauch - allgemein mit Ästhetisierung und freiem Willen gleichgesetzt wird, obwohl selbst in der Milieuforschung die beschriebenen Stile doch eher selten den Eindruck elitärer Ästhetisierungen erwecken und die These der Formung nahe liegender erscheinen lassen als die der Überformung. Entgegen dieser Erkenntnisse, die das empirische Materialliefern könnte, wird Lebensstil also als etwas verstanden - und von manchen als relevante Forschungskategorie abgelehnt-, das impliziert, dass wir unsere Biographie bzw. Lebenslagen und Lebensstile nach Belieben "basteln"43 könnten, Stilisierung wird als etwas

42 Bourdieu untersuchte den Mechanismus, den er treffend mit den Begriffen des Habitus und der vier Kapitalformen beschrieb. Obwohl er damit Zugehörigkeit und Ausgrenzung, also die Mechanismen sozialer Differenzierung, untersucht hat, werden überwiegend seine Untersuchungen der Konsequenzen wahrgenommen. Siehe dazu Bourdieu 1983; 1985; 1986; 1987: 97-121 u. 205-221; 1997a: 125-158; 1997b: 59-78; Bourdieu/Wacquant 1996: 147-175 und Fröhlich 1994. 43 Siehe zur Basteiexistenz Hitzier und Honer 1994. Die Autorinnen belegen zwar einen Baste !zwang, der analog zum Wahlzwang zu verstehen (d.h. mit ihm identisch) ist, unterstellen aber insofern Beliebigkeit, als sie von "ständig

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aufgefasst- wenn sie denn überhaupt thematisiert wird-, das sich nur ein Teil der Bevölkerung überhaupt leisten kann (vgl. Schroth 1999: 1-10). Dabei werden die entgegengesetzten Positionen häufig mit dem Nachweis untermauert, ein spezifisches Handeln sei unbewusst (Argument der Sozialstrukturseite) oder bewusst (Argument der Ästhetik-Seite). Diese Unterscheidung ist fur eine Lebensstilanalyse interessant, bei der Analyse von Stilisierungshandeln ist sie aber nicht relevant, denn beides ist in seiner Integrationsfunktion wichtig, das unbewusste und das bewusste Handeln. Ein charakteristisches Beispiel sind die Analysen Hans-Peter Müllers. In seiner Diskussion der sehr unterschiedlichen sozialwissenschaftliehen Lebensstilansätze sucht Müller nach Gemeinsamkeiten und findet sie unter anderem in den Konzepten der Freiwilligkeit, der Verteilung der Stilisierungschancen und der Verteilung der Stilisierungsneigung (Müller 1997: 374f.). Er kommt zu dem Schluss, dass Stilisierung vor allem ein Phänomen der Mittelschichten sei (ebd. 375), während Oberschichten und Unterschichten eben sind, "wie sie sind", die einen weil sie nicht anders müssen, die anderen, "weil sie nicht anders können" ( ebd. 375). Bezeichnend ist dabei, dass der Autor in seiner Argumentation die Ausdrücke Lebensstile, Stilisierung und Stilisierungsexperimente gleichbedeutend verwendet. Zur Stilisierungsneigung fUhrt Müller folgendes aus: "Verteilung der Stilisierungsneigung: So wie es ganz allgemein eine Verteilung von Stilisierungschancen gibt, so existiert auch eine spezifische Verteilung der Stilisierungsneigung, je nachdem, ob man die gesellschaftliche oder individuelle Ebene betrachtet. Auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sich, daß die Stilisierung der Lebensführung in modernen Gesellschaften vor allem ein Phänomen der Mittelschichten ist. Dagegen gerieren sich Oberschichten so, wie sie sind, weil sie nicht unter dem Zwang und Druck stehen, sich nach oben abzugrenzen. Ihr Lebensstil strahlt ,Natürlichkeit' und ,naturwüchsige Freiheit' gegenüber gesellschaftlichen Konventionen aus, der allenfalls durch eigene Tradition in berechenbare Bahnen gelenkt wird. Unterschichten dagegen sind so, wie sie sind, weil sie nicht anders können. Das Diktat der Notwendigkeit und der Zwang der materiellen Verhältnisse oktroyiert eine Lebensführung, die wenig Spielraum für Stilisierungsexperimente lässt. Aufindividueller Ebene sind die Stilisierungsneigungen ebenfalls ungleich verteilt, wenn man Biographie oder Lebenslauf einer Person betrachtet. Die größeren Gestaltungsmöglichkeiten bieten Jugend- und Erwachsenenphase. Im fortgeschrittenen Alter hingegen sind gewisse Lebensstile häufig physisch nicht mehr möglich, der Bewegungs- und Aktionsradius ist eingeschränkt, das

(... ) wechsel[nden]" Orientierungen und Identitätendes modernen Menschen sprechen (Hitzler/Honer 1994: 310).

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Temperament zur Lebensstilisierung lässt merklich nach, biologische Faktoren wie ,Alter' oder ,Gesundheit' dominieren soziale Faktoren wie Schichtzugehörigkeit, Bildung und Ressourcen. In der Kindheit bleibt die Stilisierungsneigung ebenfalls gering, da Lebensstile häufig intellektuell und moralisch noch nicht möglich sind und/oder durch die Enge des häuslichen Erfahrungshorizontes begrenzt bleiben." (Müller 1997: 375f., kursiv im Orig.) Müllers Auffassungvon Lebensstil, Stilisierung, Stilisierungsneigung und Stilisierungschancen erinnert an aufWändiges Agieren oder Extremsport, an Verkleiden, Schminken oder Retuschieren; es erinnert nicht an alltägliches Handeln, Entscheiden und Wählen, das in seiner Summe Hinweise auf einen Lebensstil geben kann. Die fehlende Definition von Stilisierung -und die fehlende Definition von Wählen/Wahl (s.u., 3.2.2)- führt zu einer Vermischung der beiden Aspekte und verleiht der Stilisierung den Charakter von ausschließlicher Freiwilligkeit. Das stellt auch Fröhlich fest: ,Jn der Sekundärliteratur zu Bourdieu und in der aktuellen Lebensstildiskussion lassen sich zwei Positionen feststellen: Die Mehrheit verbindet mit dem Lebensstil-Begriff Wahlfreiheit, Stilisierung des Lebens aufgrund eines Freiheitsspielraums jenseits unmittelbarer Notwendigkeit( ... ). Eine qualifizierte Minderheit( ... ) spricht auch von Lebensstilen der Unterschicht bzw. marginalisierter Gruppen, von Lebensstilen des Mangels, von Kulturen der Armut." (Fröhlich 1994: 46, kursiv im Orig.) Auch in der chinesischen soziologischen Lebensstilforschung bilden die Wahl -und damit bewusstes, aber auch unbewusstes Verhalten-, die Einzigartigkeit eines Stils und die Werteauffassung, oder neutraler, die Bedeutungsgebung den gemeinsamen Nenner bei der Interpretation von Stil. Lebens-Stil beschreibt Verhaltensbesonderheiten, deren Grundlage Interessen, Vorlieben, Neigungen und Wertvorstellungen Einzelner sind (Wang Yalin- Da Baike 1991a: 371; Li Yingsheng et al. 1995: 212). Das Merkmal von Lebens-Stil ist die freie Wahlmöglichkeit des eigenen Handelns. Lebens-Stil ist Bestandteil von Lebensstil und bezeichnet diejenigen Tätigkeiten über die jeder Mensch frei entscheiden kann. V mausgesetzt, wir bezeichnen die Tätigkeitsweise des Lebens-Stils als Stilisierung, lässt sich also feststellen, dass nach dieser Auffassung Stilisierung einerseits etwas ist, das für alle Menschen zutrifft, aber andererseits nur im Zusammenhang mit bewusster- und unbewusster?- Wahl relevant wird. Ob es sich dabei nur auf Situationen bezieht, in denen auf eine Auswahl oder eine Handlung verzichtet werden kann, ist unklar, aber unwahrscheinlich. Auch hier wird "Wahl" als positive Handlungsmöglichkeit beschrieben und übersehen, dass viele Wahlsituationen Umstände notwendiger Wahl sind, die in jedem Fall eine Entscheidung fordern.

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Stilisierung ist aber kein Kennzeichen von Freiwilligkeit, kein Merkmal einer verwöhnten Elite. Sie ist Teil des Lebensstiles jedes Individuums, "ich lebe, also stilisiere ich" Neben dem gängigen alltagssprachlichen Missverständnis, dass Stilisierung bzw. Stil etwas mit Überformung, ästhetischer Überhöhung, vielleicht Übertreibung zu tun haben muss, ist das wesentliche Missverständnis in der soziologischen (Lebensstil-) Forschung das der Parallelität von Wahl und Stil bzw. Stilisierung. Wie aus den obigen Kapiteln deutlich wurde, bleibt die Beziehung zwischen Stilisierungund Wahl unreflektiert. Steigende Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung des Lebens gelten als Voraussetzung für (steigenden) Stilisierungswillen. Menschen, die sich zu einem gewissen Grad in einer Zwangslage befinden, so der Tenor, können eben nicht stilisieren; im Umkehrschluss gelten Gesellschaften, in denen der Stilisierungsleistung der Menschen große Bedeutung beigemessen wird, als moderne, pluralisierte Gesellschaften. Stilisierung wird somit als Konsequenz von Wahlmöglichkeiten und- nachrangig- von Wahlzwängen entwickelt. Diese Annahmen (von denen mindestens eine fast durchweg in der deutschen Lebensstilforschung vertreten ist) sind aber falsch. Das lässt sich an der jüngeren chinesischen Geschichte leicht verdeutlichen: Während der chinesischen Kulturrevolution herrschten strenge Handlungs- und Denkvorschriften. So gab es z.B. eine eng gesetzte Kleiderordnung, 44 dieweltweit ihren Eindruck hinterlassen hat; sie war geprägt von einer Extremform der Stilisierung, wie das gesamte Leben zu jener Zeit (1966-1976) praktisch eine Extremform von Stilisierungen war: Sich "schön zu machen" warnichtnur einfach verpönt, sondern gesellschaftlich sanktioniert - mit Gewalt. Die einzelnen Menschen hatten keine Wahl. 45 Sie waren gezwungen, sich festgelegten Stilen zu unterwerfen. Bestimmte Stile (Kleidung, Verhaltensweisen, Denkweisen) hatten aber eine extreme Bedeutung. Betrachtet man also die chinesische Gesellschaft in jener Zeit mit ihrem Modernisierungsgrad, ihrem Grad von Pluralität und Freizeit, ihren Konsum möglichkeiten, so lässt sich mit den vorhandenen deutschen Lebensstiltheorien die Bedeutung der Stilisierung während der chinesischen Kulturrevolution nicht

44 Auch die "Denk-Ordnung" war extrem eng gesetzt. Dass sich diese DenkOrdnung nicht nur auf die Stile von (Denk-)Äußerungen - also von Behauptungen eines Denk-Stils - auswirkten, sondern tatsächlich auf die Denk-Stile, ist vielfach belegt. Vergleiche dazu etwa Hsia 1971: 163-204; Fairbank 1989: 314-340 oder Sandschneider 2000: 175f.; ftir eine sehr ausfuhrliehen detaillierten persönlichen Berichts. Jung Chang 1993. 45 Strategien des Ausbruchs und Reaktionen daraufzeigen die Bedeutung der Stilisierung.

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erklären, nicht einmal ihr Vorhandensein. 46 Das Beispiel zeigt, dass Stilisierung kein Kennzeichen postmoderner Gesellschaften ist, wie allgemein angenommen wird (vgl. Funke/Schroer 1998). Dagegen ist die Zunahme von Wahlsituationen ein Kennzeichen (post)moderner Gesellschaften. Diese zieht eine Pluralisierung und damit die quantitative Zunahme von Stilisierungs/eistungen nach sich, aber nicht notwendig eine zunehmende Bedeutung von Stilisierung. Das Beispiel der Kulturrevolution zeigt, dass die Bedeutung von Stilen und Stilisierung mit zunehmender Pluralisierung auch abnehmen kann. Stile als soziale Bedeutungsträger und Stilisierung als soziales Integrationshandeln hingegen kennzeichnen jede Gesellschaft, unabhängig von ihrer Qualität oder ihrer Quantität. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass ich keine der beiden gegenüberliegenden Positionen in Bezug auf die Einschätzung von Lebensstilen teile: Wir sind weder schicksalhaft determiniert von der Situation, in die wir geboren werden, noch sind wir autonome Persönlichkeiten, die morgens aufstehen und dann entscheiden, wer oder was sie sein wollen. Gesellschaftliche Pluralisierung bedeutet die Zunahme von Wahlsituationen, aber sie bedeutet nicht (unbedingt) die Zunahme von Freiheit( en). Mit der Trennung der Aspekte Stilisierung und Wahl soll die üblicherweise unterstellte Autonomie oder Freiheit nun nicht dem Konzept der Stilisierung weggenommen und dem Konzept der Wahl zugesprochen werden. Auch hier ist die gängige Gleichsetzung von Wahl mit Wahlfreiheit sehr kritisch zu betrachten. Damit möchte ich mich in dem folgenden Kapitel in vier Punkten auseinander setzen.

3.2.2 Wahlfreiheit und Wahlnotwendigkeit Die Lebensstilforschung wird regelmäßig als Alternative zur Sozialstrukturforschung diskutiert (s. Schroth 1999: 1-10). Hintergrund ist die These, dass es nicht mehr im Wesentlichen wenige (und damit überschaubare ), objektive Voraussetzungen seien, die unsere Lebenshaltung und Lebensstile bestimmen (damit sind meist Klassen und Schichten gemeint), sondern dass wir viel freier unter einer großen Anzahl von Möglichkeiten und Mo-

46 Es ist aber nicht notwendig, so weit in die Ferne zu blicken (aus deutscher Sicht) oder solch ein extremes Beispiel zu wählen (die gibt es auch aus deutscher Sicht); ein Blick auf die schwarzwälder Bauernhöfe des 18. Jahrhunderts (bzw. ihre Bewohnerlnnen) genügt, um Stilisierungen von Herrund Knechtschaften, Frauen und Männern, Alten und Jungen, Wochentagen und Sonntagen zu finden. Um alltägliche Stilisierungen unserer eigenen Umwelt zu bemerken- beispielsweise Geschlechterstilisierungen-bedarfes eines aufmerksameren Blickes.

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dellenwählen könnten, und dass es deshalb überwiegend persönliche Kriterien und Maßstäbe seien, anhand derer wir Entscheidungen treffen würden. Entsprechend seien Ansätze "individueller" Lebensstile besser geeignet, die Gesellschaft zu erklären, als sozialstruktureHe Konzepte. In diese Konzeption von Lebensstilen fließt häufig unbewusst eine Mischung verschiedener theoretischer Ansätze ein, die mit Stichworten wie Individualisierung, Pluralisierung etc. beschrieben werden können (vgl. Beck 1986; Tnglehart 1998; Schulze 1992 usw.). In den meisten Lebensstiltheorien zeigt sich dies vor allem in der Verwendung des Ausdrucks Wahl. Freiwilligkeit und Wahl(-möglichkeiten) sind in der chinesischen und deutschen Lebensstilforschung das wesentliche Kennzeichen im Konzept des Lebensstils der Gegenwartsgesellschaft. Entsprechend stellt Gerhard Fröhlich für die deutsche Lebensstilforschung fest: "Die Mehrheit verbindet mit dem Lebensstil-Begriff Wah(freiheit, Stilisierung des Lebens aufgrund eines Freiheitsspielraums jenseits unmittelbarer Notwendigkeit" (1994: 46). Wählen (können) als Kennzeichen der heutigen Gesellschaft ist eine Prämisse der Lebensstiltheorien in China und in Deutschland. Als Konsequenz werden Vorgänge des Wählens als gegeben betrachtet und mit Laune, Freiwilligkeit und Freiheit verbunden. Gleichzeitig finden auch die klassischen, "harten" sozialstruktureilen Faktoren wie Geschlecht, Alter, wirtschaftliche Situation usw. Berücksichtigung, außerdem ist die Zugehörigkeit zu bzw. Abgrenzung von Gruppen weiterhin ein wichtiges Thema der Lebensstilforschungen. Tm Folgenden werde ich das Verhältnis von Wahl und Lebensstil an vier Punkten erläutern: 1. Wahl wird häufig ausschließlich als Wahlfreiheitverstanden. 47 Dass sie auch Wahlzwang bzw. Wahlnotwendigkeit ist, wird dagegen oft vergessen. Zwar sind die Wahlzwänge (post)moderner Gesellschaften konstituierend für viele Theorien und Thesen (eben die der Individualisierung, Pluralisierung usw. sowie Lebensstiltheorien), sie werden aber in der Regel- wie übrigens die Individualisierungstheorien auch (s.u., 3.3) - als TheorieEnklaven behandelt (s. Teilll, 3.2): Bei der Verwendung des Ausdrucks Wählen wird häufig nur ein Teil seiner Bedeutungen wirklich und durchgängig berücksichtigt, und zwar das Können, nicht aber das Müssen. 47 Hier zeigt sich ein weiterer Konflikt von Fach- und Alltagssprache. Der Ausdruck Wahl wird auch in soziologischen Arbeiten meistens entsprechend der alltagssprachlichen Bedeutung verwendet. "Wählen" kommt von "wollen" (Kluge 1989: 773), es beschreibt eine ,,Möglichkeit der Entscheidung: das Sichentscheiden zwischen zwei od. mehreren Möglichkeiten" (Duden 2001: 1767, kursiv DS). Die zitierten Wörterbücher beschreiben das, was Wahl im Alltagsgebrauch impliziert.

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2. Objektive Wahlmöglichkeiten sind mit subjektiven Wahlmöglichkeiten nicht identisch. Wenn uns auch heute prinzipiell "alles offen steht", sind unsere Möglichkeiten faktisch doch begrenzt. 3. "Entscheidungen" lassen sich oft erst im Nachhinein als solche erkennen bzw. werden im Nachhinein als solche "erkannt" und definiert. Das heißt, es sind keine Entscheidungen, sie gelten aber als solche. 4. Wahl und Stilisierung sind zwei völlig unabhängige Konzepte. Beide sind wesentlich für die Konzeption von Lebensstilen in modernen Gesellschaften, deshalb werden sie meist in eins gesetzt. Das hat für die Theorien entsprechend negative Konsequenzen.

Zu 1. Wahlmöglichkeiten und Wahlnotwendigkeiten Das Zusammenspiel von Wahlmöglichkeiten und Wahlnotwendigkeiten ist konstituierend für viele Theorien und Thesen zu unserer "individualisierten, pluralisierten, (post)modernen Gesellschaft". Sie wird aber in der Regel- wie die Individualisierungsthese auch (s. 3.3)- ihres (so erarbeiteten) Sinns entleert und weitgehend als Wahlfreiheit verstanden. Zu 2. Objektive vs. subjektive Wahl Es gibt viele alltägliche Entscheidungen, die mehr oder weniger bewusst und freiwillig getroffen werden, deren Folgen aber in der Regel nicht schwerwiegend sind (Erdbeere oder Banane, schwarzes oder weißes TShirt, Auto oder Motorrad usw.). Lebensprägende Entscheidungen sind dagegen meistFolge von Situationen notwendiger Wahl, im Zuge derer die Auswahl vielleicht nicht sehr ermutigend sein kann, die aber häufig auch dadurch geprägt ist, dass das Blickfeld der auswählenden Person, verbunden mit der tatsächlichen Chance, eine Wahl auch treffen zu können, sehr eingeschränkt ist. So sind in vielen "Männerberufen" wenig Frauen anzutreffen. Die Gründe dafür sind vielfältig und hochkomplex. Die von mir zitierten Aspekte des Blickfeldes und der Chancen stehen ganz am Ende dieser langen Reihe von Gründen und Ursachen. Die Berufe, die junge Mädchen "kennen", im Auge haben und für die sie sich interessieren, machen nur einen Bruchteil der faktisch wählbaren Berufe aus und auch die Chancen der Mädchen auf einen Ausbildungsplatz sind in diesen Berufen höher, als in vielen "ungewöhnlichen", z.B. in den sog. "Männerberufen".4s Auch ein Blick auf Studien über die deutschen Universitäten

48 So konzentriert sich die "Hälfte aller Mädchen undjungen Frauen( ... ) bei der

Berufs- und Ausbildungswahl noch immer auf zehn typische Büro- und Dienstleistungsberufe miteiner zumeist unterdurchschnittlichen Lohnstruktur und schlechteren Einstiegs- und Aufstiegsbedingungen" (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Pressemeldung vom 21.05.200 1).

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zeigt, dass der Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien unter den Studierenden relativ gering ist, obwohl dochjede undjeder (noch und fast) die gleichen Chancen in unserem hoch entwickelten Bildungssystem hat. 49 Mit ihrer Darstellung der Wahl und individuellen Gestaltung unseres Lebens vermitteln viele soziologische Arbeiten zu Unrecht den Eindruck, wir hätten "die Dinge in der Hand", wir könnten vor einer Wahl bequem und rational, bewusst und in Ruhe über das eigene Handeln und die eigene Zukunft entscheiden. Dieser Eindruck ist falsch. Auch die sog. "Basteibiographie" (Hitzler/Honer 1994, s.o.), die irrfolge der "Individualisierung" und damit der Loslösung von Klassen und Schichten und den in ihnen vorgegebenen Stilen den Zwang und die Möglichkeit schafft, die eigene Biographie - innerhalb eines Rahmens - selbst zu wählen, diese Basteibiographie gibt es nicht. Die These von der Loslösung von vorgegebenen Stilen und die These von der "Bastelbiographie" vermitteln den Eindruck, es sei im Wesentlichen das Individuum, das bei der Lebensgestaltung bewusst und relativ autonom ans Werk geht.

Zu 3. Wahl als Entscheidung im Rückblick Oft zeigen sich "Entscheidungen" erst im Nachhinein. Rückblickend lässt sich ermessen, welcher der verschiedenen Wege gewählt wurde und welche Konsequenzen das hatte- ohne zu wissen, welche Konsequenzen ein anderer Weg bzw. andere Wege gehabt hätten; dieser Weg wurderückblickend - "eben" gewählt. Oft bleiben Entscheidungen und ihre Konsequenzen sogar unbemerkt. Entscheidungen in diesem Sinne sind keine Willensentscheidungen. Auch beim Rückblick auf Entscheidungen und deren Konsequenzen sollte deshalb nicht davon ausgegangen werden, die Individuen hätten diese Konsequenzen- hätten ihr Schicksal- in der Hand gehabt. Zu 4.

Wahl ist unabhängig von StilisierungStilisierung braucht keine Wahl Steigende Wahlnotwendigkeiten und Wahlmöglichkeiten (insgesamt) sind ein Kennzeichen von gesellschaftlicher Pluralisierung und Privatisierung. Bei der Bewältigung der Alltagsorganisation werden habitualisierte soziale Regulierungen genutzt, wie z.B. Stilisierungen nach bestimmten Mustern.

49 Schnitzer et al. (2001) stellen fest, dass die Bildnngsbeteiligungsquote der Arbeiterkinder stagniert (99-102); insgesamt haben sich die Anteile der niedrigen nnd mittleren Herkunftsgruppen (von vier Herknnftsgruppen B nach Schulabschluss und Beruf eines Elternteils) an den Studierenden zwischen 1982 und 2000 deutlich verringert, während sich die der höchsten Herkunftsgruppe verdoppelt hat (I 09).

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Die Wahl, als Zwang und als Möglichkeit, ist ein Indikator für die Pluralisierung der Gesellschaft, für den gesellschaftlichen Wandel. P luralisierung bedeutet deshalb eine Zunahme von Wahlnotwendigkeiten und -möglichkeiten für eine Gesellschaft als Ganzes und für eine zunehmende Anzahl von Individuen. Als Folge von zunehmender Pluralisierung verknüpfen sich Stilisierungen immer enger mit Wahlnotwendigkeiten. Das verringert den Stilisierungsdruck, erhöht aber den Wahl-Druck auf den einzelnen Menschen. Das heißt der Zwang konkreter Stilisierungen, wie etwa während der Kulturrevolution, wird verringert, weil sich die (Aus-)Wahl an Stilisierungen erhöht. Inwiefern sich der Wahl zwang oder Wahldruck tatsächlich beträchtlich erhöht, wie es viele soziologischen Theorien nahe legen, ist- wie gesagt- fraglich. Subjektiv ist die Auswahl an kleinen und großen Lebens(stil)-Alternativen in der Regel wesentlich begrenzter, als diese das glauben machen. Das Argument gilt damit zuerst einmal für die objektiven, die prinzipiellen Wahl-Alternativen.

3.2.3 Der ungeschminkte Habitus- Stile als Formung oder Überformung? Stilisierung bzw. Stil werden also in der Soziologie als elitärer Habitus aufgefasst, der ästhetisiert, elitär, hedonistisch ist, als ein Verhalten, das sich nicht nach den Maßstäben desNotwendigen richten muss und das nur dann möglich ist, wenn eine Gesellschaft vielfältige Wahlmöglichkeiten bietet bzw. wenn Einzelne in der Lage sind, ihr Leben (weit) über das Notwendige hinaus nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Soeffner spricht nur dann von Stil, wenn zu den alltäglichen typisierten und typisierenden Handlungen und Wahrnehmungen eine ästhetisierte Überhöhung hinzu kommt (Soeffner 1986: 317-319 und 332). Wenn wir aber davon ausgehen, dass Stilisierung eben keine willkürliche Willensentscheidung ist, dass sie nicht auf Freiwilligkeit beruht und dass "die Wahl haben" nicht bedeutet, auf etwas auch verzichten zu können, dann kann die logische Konsequenz nur sein, dass es einen Stilisierungsautomatismus gibt, dass Stilisierung alltägliches Handeln ist und sich nicht, wie Soeffner meint, vom alltäglichen Handeln aufgrund ihrer ästhetischen Komponente unterscheiden lässt. Was bedeutet das? Die gerade beschriebene- und gängige- Auffassung von Stilisierung setzt voraus, dass es neben den stilisierten, also überhöhten Handlungen unverfälschte, "echte" Lebensstile und Tätigkeiten gibt, dass sich zwischen Notwendigem und Nicht-Notwendigem (Konsum) unterscheiden lässt. Das ist aber nicht der Fall; es gibt keine "reine", nicht-ästhetisierte, nichtüberhöhte, "natürliche" Ausdrucksform. Es gibt keine alltägliche Typenbil-

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dung, wie Soeffner sie skizziert, die frei von Überhöhung und von einer möglichen Ästhetisierung zu trennen wäre. Umgekehrt gibt es auch keine Ästhetisierung, die frei von sozialen, kulturellen oder ökonomischen Bezügen wäre. Das heißt, es gibt keine "natürliche" vs. "künstliche" Typenbildung, um in Soeffners Sprache zu bleiben. Deshalb lässt sich Stilisierung nicht per sealshedonistischer oder ästhetischer Habitus auffassen. Im Gegensatz zu Soeffner ist bei Fröhlich und Mörth Stilisierung kein exklusiver Habitus. Die Autoren unterscheiden selbstverständliche Lebensformen, Lebenslagen, thematische Einzelstile und Lebensstile. Für sie sind "alle Lebensvollzüge symbolisch ,überformt' bzw. ,überhöht' (... )(wenn auch in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Spielräumen) (... ) auch noch ,alternativlose soziale Positionierungen' [bieten] Stilisierungsmöglichkeiten ( ... ),alle [finden] jedoch in den Tiefenstrukturen der jeweiligen (Gruppen- bzw. Klassen-) Habitusformen die Grenzen ihrer Optionen" (Fröhlich/Mörth 1994: 13, kursiv im Orig.). Hierwird einerseits deutlich gemacht, dass es- wie schon beschrieben- keine "natürlichen" Lebensstile gibt, die sich "stilisierten" Lebensstilen gegenüberstellen ließen. Dennoch bleibt der Stilisierungsbegriffundeutlich, vermittelt den Eindruck, doch wieder ästhetisiert und künstlich zu sein. Die verwendete Sprache zeigt, dass Stilisierung doch mit Überformung, mit der Voraussetzung von Möglichkeiten gleichgesetzt wird. Das würde bedeuten, es gibt eine unverfälschte Grundform, eine Art Mindestform, eine Annahme, die die Autoren eigentlich ablehnen. Der nicht-reflektierte (nicht-definierte) Stilisierungsbegriff der Autoren verstellt ihnen den Weg zu ihrer eigenen Theorie. Ähnlich unklar ist die Auffassung, die Li Yingsheng et al. (1995: v.a. 212) von Stil und Stilisierung haben, 5° sie haben keine explizite These der Überformung oder Ästhetisierung: Lebens-Stil ist dort fur alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zuständig, er wird als Ergebnis von Verhalten und Denkweise definiert. Weiterhin sei Lebens-Stil überall wirksam und lasse sich nicht auf einzelne Bereiche begrenzen. Die Autorinnen weisen damit die anscheinend gängige Annahme zurück, Lebens-Stile würden nur in der Freizeit wirksam, eine These, die der Vorstellung von Stil(isierung) als hedonistischem Habitus sehr nahe kommt. Es bleibt zwar unklar, ob Li Yingsheng et al. Lebens-Stile als Oberformung von Lebensvollzügen sehen oder ob es für sie, entsprechend der hier entwickelten These, einfach die Formung, also die individuelle Form der Lebensvollzüge bezeichnet, aber die Autorinnen richten ihre Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Individualität und Vorlieben sowie Gewohnheiten der Lebensstile.

50 Zudem orientieren sich die Autorinnen stark an den Auffassungen Wang Yalins, der dazu in der Großen Chinesischen Enzyklopädie veröffentlicht hat (Wang Yalin- Da Baike 1991: 369-371).

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3.3

Lebensstilsubjekte

Um von den Stärken der Lebensstilforschung als Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels zu profitieren muss das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität als deren Kern berücksichtigt werden. In Kapitel3.1 habe ich diese These eingeführt und den Mainstream der deutschen und der chinesischen soziologischen Lebensstilforschungen gegenübergestellt. Ein weiterer Aspekt des Lebensstilkonzeptes, der eine wichtige Rolle spielt, ist das Lebensstilsubjekt Bei der Analyse des Lebensstilsubjekts ist im Wesentlichen das Verhältnis der drei Ebenen Gesellschaft, Gruppen und Individuen von Bedeutung. Die Subjekte von Lebensstilen sind in der Regel Gruppen; wenn Lebensstilforschung Individuen oder eine Gesellschaft fokussiert ist das - flir die soziologische Perspektive - irreflihrend. Lebensstile und Stilisierungen sind als Phänomene der Integration und Gruppenzugehörigkeit interessant; entsprechend ist die Analyse von Stilisierungen und Lebensstilen zur Erforschungvon Gruppen und der Integration von Gruppen geeignet. Doch selbst da, wo der Forschungsgegenstand eine Gruppe ist, richtet sich der Blick häufig auf die Individuen. Zwar gehört ein Individuum verschiedenen Gruppen an, d.h. eine Einzelperson vereint eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen in sich/ 1 aber die Analyse von Gruppen mittels der Untersuchung von Individuen ist in Frage zu stellen. So ist bei Eigenschaften von Gruppenlebensstilen immer interessant, in welchen Gruppen Stile auftauchen- sich etablieren, um einen Hinweis auf (auch zukünftige) gesellschaftliche Relevanzen zu erhalten. Latente Sinnstrukturen, also qualitative Entscheidungsgründe (s.u.) haben nicht nur dadurch kollektiven Charakter, dass sie generativen Regeln unterliegen, sondern auch, weil sie immer "innerhalb eines systematischen Handlungszusammenhanges stehen, der über die einzelnen Individuen hinausweist. Letztlich ist jede Handlung oder Äußerung in einer historisch bestimmten gesellschaftlichen Struktur situiert." (Loos/Schäffer 2001: 34f.) Das wirft erneut die Frage auf, welches Forschungsziel mit dem "Einsatz" des Individuums als Erhebungseinheit erreicht werden kann. Methodisch ist es nur auf den ersten Blick einfacher, sich auf eine vermeintlich klare Erhebungseinheit, das Individuum, zu beziehen; wir sind es gewohnt, empirisch Individuen als kleinste (?) oder relevante Einheit der Erforschung gesellschaftlicher Tatbestände zu betrachten; genauso ist es aber möglich und häufig ange-

51 Vgl. Die Kreuzung sozialer Kreise von Simmel ( 1992:456-511 ). Siehe auch Goftinans Untersuchung der verschiedenen Identitäten einer einzelnen Person und ihr Verhältnis zur Gruppe (1967: 9-11, passim).

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bracht, eine andere Einheit oder andere Einheiten zugrunde zu legen. Je nach Fragestellung ist eine Erfassung, die auf einer anderen Einheit beruht, sicher sinnvoller, vielleicht sogar einfacher und besser zu bewerkstelligen. Insgesamt verspricht eine Kombination von beiden Ansätzen, die Analyse von Individuen einerseits, die Analyse von Gruppen andererseits, den größten Gewinn. Für die Lebensstilforschung ist allerdings die Gruppe als Subjekt von Lebensstilen interessant, sind Gruppenlebensstile darüber hinaus verallgemeinerbar. Im Folgenden stelle ich anhand der Konzepte der Stilisierung und der Individualisierungwesentlichevon der Lebensstilforschung benutzte Konzepte vor, die zu diesem Zweck revidiert werden müssen. Das heißt, es ist erforderlich, die maßgebliche Untersuchungs- und Erhebungseinheit soziologischer Forschung zu überdenken.

3.3.1 Individualisierung und Privatisierung Gerade im Zusammentreffen von "westlichen" und "östlichen" Werten ist häufig davon die Rede, dass erstere individualistisch, letztere kollektivistisch geprägt seien. Dies ist ein eigenes- großes- Thema, das aber m.E. wesentlich davon geprägt ist, dass wissenschaftliche Definitionen und Begriffe gegen die alltagssprachliche Bedeutung von Bezeichnungen oder deren Rezeption (falls es diese Ausdrücke bisher in der Alltagssprache nicht gab) selbst innerhalb der Wissenschaft kaum ankommen. Beispielsweise wird die Rede von der kollektivistischen Prägung in weiten Bereichen des Alltags und der Wissenschaft als die These missverstanden, dass Menschen kollektivistisch geprägter Gesellschaften weniger egoistisch oder weniger rücksichtslos seien und dass dem Gemeinwohl, dem Wohl aller Mitmenschen mehr Bedeutung zugeschrieben würde, als dem eigenen. Derartige- gängige- Missverständnisse zeigen, dass es nicht genügt, sich möglichst gerrau mit einzelnen Thesen auseinander zu setzen, sondern es muss geprüft werden, wie ein Ausdruck oder eine These rezipiert wird. In diesem Kapitel gehe ich näher auf die Bedeutung und Verwendung von Individualisierung in der soziologischen Theorie ein, kläre den Begriffund stelle eine Alternative vor, die für die konkrete Situation des gesellschaftlichen Wandels in China geeignet ist. Anschließend werde ich mich kritisch mit den theoretischen und methodischen Konsequenzen des Individualisierungskonzeptes auseinander setzen und fragen, ob auch hier Alternativen zur gängigen Praxis möglich sind.

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3.3.2 Die Individualisierungsfalle-das Primat des Individuums "Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben." (Mephistopheles)52 In seinem Buch Risikogesellschaft hat sich Ulrich Beck 1986 ausführlich mit der These und der Bedeutung von Individualisierung beschäftigt (Beck 1986: 121-253). Dabei diskutiert er ein bedeutendes Missverständnis: "Viele assoziieren mit ,Individualisierung' Individuation gleich Personwerdung gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation. Das mag zutreffen. Vielleicht aber auch das Gegenteil." (ebd. 207) Becks Ausführungen helfen anscheinend nicht, denn einige Jahre später stellt er fest: ",Individualisierung' meint vieles nicht, von dem viele meinen, daß es es meint, damit sie meinen können, daß es gar nichts meint" (Beck 1993: 149). In Deutschland geht Individualisierung mit einer Standardisierung und zunehmender Institutionenabhängigkeit einher (Beck 1986: 21 0): "In der fortgeschrittenen Moderne vollzieht sich Individualisierung unter den Rahmenbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses, der individuelle Verselbständigungen gerade in zunehmendem Maße unmöglich macht: Der einzelne wird zwar aus traditionalen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst, tauscht dafür aber die Zwänge des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein. An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen." (ebd. 211, kursiv im Orig.) Becks Analysen sind in manchen Details kritikwürdig, so z.B. wo und was er in primäre und sekundäre Instanzen sozialer Bindungen einteilt oder welches Konzept der Gegenseitigkeit von Bewusstseinsform und realer Situation zugrunde liegt. Wesentlich ist hier aber Becks grundlegende Analyse der häutig bemühten Individualisierungsthese. In dieser Analyse schreibt der Autor den Einzelnen gerade nicht mehr Freiheit von Bindungen und Zwängen zu, sondern er spricht von anderen, vielleicht größeren Zwängen und Bindungen. Entsprechend argumentiert Beck:

52 Goethe 2000: 119.

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"Individualisierung bedeutet Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung". Das heißt, "Individualisierungen liefern die Menschen an eine Außensteuerung und -Standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten." Und: "Die entstehenden Existenzformen sind der vereinzelte, sich seiner selbst nicht bewußte Massenmarkt und Massenkonsum für pauschal entworfene( ... ) Lebensstile." (alle ebd. 212, kursiv im Orig.) Entsprechend sind Lebensstile für Michailow neue soziale Integrationsformen (Michailow 1994: 108). Während die traditionellen identitätsverbürgenden Großformationen einen erheblichen Bedeutungsverlust erfahren hätten, würden auf neue Art und Weise soziale Formationen, neue soziale Integrationseinheiten konstituiert- über Lebensstile. Dort würden die Vergesellschaftung, die soziale Relation und die Wahrnehmung sozialer Kontraste vorwiegend auf dem soziokulturellen Feld hergestellt, kulturelle Symbole fungierten als Erkennungs-, Zuordnungs-, ja einheitsstiftende Prinzipien. Michailow nennt das die Kulturalisierung der Gesellschaftsauffassung (ebd. 115), Stilkriterien beschrieben dann eine Lebensstilsemantik (ebd. 118), die Individualität und Wahlfreiheit höchstens vorgaukelt. Das wesentliche Merkmal von Individualisierung ist also, "daß die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiellen entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu." (Beck 1986: 216). Es besteht eine höhere Kontingenz in Bezug auf das "Schicksal" eines Menschen, wie viel höher sie ist, darüber lässt sich streiten. Das heißt, eine der wesentlichen Aussagen der Individualisierungsthese ist die Verlagerung der Zuständigkeit biographischer Entscheidungen vom Kollektiv auf die Einzelnen. Ob und welche Partnerschaft eine Person eingeht, welchen Beruf sie wählt usw. ist grundsätzlich ihre Entscheidung, obwohl sie natürlich auf viele ihrer "Alternativen" keinen oder nur geringen Einfluss hat. Ebenso trägt sie zunehmend (?) die Verantwortung für ihr "Scheitern". Individualisierung heißt also nicht Vereinzelung oder Unabhängigkeit von sozialen Zusammenhängen überhaupt. Die Theorie der Individualisierung ist über das Wortindividualisierung sehr schwer zu vermitteln. Die hier beschriebene Jndividualisierungsfalle, also das Missverständnis bezüglich der Jndividualisierungsthese, spielt in der chinesischen soziolo-

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gischen Theorie (und schon lange in der deutschen) zunehmend eine Rolle. Ich diskutiere diesen Aspekt vor allem in Teillll (5.3.6). Für Loos und Schäffer ist die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft, und somit die Konzentration auf diese beiden Fokusse, eine der Leitdifferenzen westlicher Sozialwissenschaften, die letztendlich aufDurkheim zurückgeht und in der Folge unkritisch und unbemerkt übernommen wurde. Die Autoren nennen es das "Primat des Individuums", das die Begriffsbildung (und somit Theoriebildung, DS) der Sozialwissenschaften prägt (Loos/Schäffer 2001: 29). Sie plädieren dafur, "auch auf der Ebene der theoretischen Grundlagen dem Kollektiven das Primat" einzuräumen. Andererseits wollen die Autoren das Problem nicht einfach umkehren, sondern "die Dichotomie von Individuum und Kollektiv" überwinden (ebd. 30). Ritsert analysiert das Primat des Individuums als Auseinandersetzung zwischen Individualismus und Holismus (Ritsert 2000: 13-15). Dieser Disput dreht sich u.a. um die These, "der einzelne und konkrete (,ganze') Mensch sei das Element der Gesellschaft" (ebd. 69). Der Autor weist den Luhmannschen Vorwurf zurück, Theoretiker wie Simmel begriffen "das Individuum als Subjekt"53 und seien damit verantwortlich für einen eingeschränkten soziologischen Blick, der Gesellschaft nur als Gegenüber von Individuen sieht (ebd. 70). Zwar entkräftet Ritsert diesen Vorwurf(an Simmel u.a.), er untersucht aber nicht, welchen Platz das Primat des Individuums- die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaftin der westlichen und vor allem deutschen Soziologie hat. 54 Dagegen wendet sich der Systemtheoretiker Luhmann- naturgemäß- gegen (individualistische) soziologische Handlungstheorien, welche in der Geschichte der Gesellschaftstheorien mit der Annahme, "daß eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe", massive Erkenntnisblockaden aufgebaut hätten (s. Ritsert 2000, 73). Darauf könnte man mit Heinz Sahner antworten, dass (deutsche?) soziologische Theorien aufzwei gegensätzlichenBasisannahmen beruhen, der "kollektivistischen Variante", die davon ausgeht, dass "Gesellschaft eine Einheit sui generis ( ... )und nicht aufindividualverhalten zurückführbar" ist, und der "individualistischen Variante", die Soziales "durch individuelles Verhalten (... ) erklärt" (Sahner 2002: 610, kursiv im Orig.), und dass die beiden Basisannahmen auf dem jeweils anderen Auge blind sind.

53 "Er nimmt es zugleich als dasjenige Element, aus dem Gesellschaften bestehen" (Luhmann in Ritsert 2000: 70). 54 Dennoch deckt er in einigen Theorien klassische "philosophische() Hintergrundannahmen" auf, darunter die Spannung zwischen Individualismus und Holismus (Ritsert 2000: 9f., 13f.).

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Auch in den Bereichen der augewandten und der empirischen Forschung spielt das Primat des Individuums eine große Rolle. Die Gruppe, im weitesten Sinne, bildet die Grundlage der Soziologie, der Wissenschaft von den sozialen Beziehungen. Obwohl nun in der deutschen Soziologie die Bedeutung sozialer Beziehungen und die Bedeutung von Gruppen kaum geleugnet wird, lässt sich doch ein deutliches Übergewicht des Individuums feststellen. Auch in der chinesischen Soziologie erfährt das Individuum steigende Aufmerksamkeit, obwohl dieses "westliche Primat des Individuums" praktisch aufeinhellige Ablehnung stößt(vgl. Feng/Yi 2000: 115). So wird im Zusammenhang mit der chinesischen Theorie der Gesamtsumme der Lebensstile immer wieder darauf hingewiesen, dass möglichst alle Merkmale umfassend erforscht werden müssten, um mit quantitativ verrechenbaren Indices ein vollständiges Bild der Lebensstile zu erhalten (Wu Zengji 1997: 273f.; vgl. auch Wang Yalin 1995: 46). Hier liegt ein Konzept der Gesellschaft als Summe von Individuen zugrunde. Auch die ablehnende Haltung zur Stilisierungsdiskussion zeigt, welche Bedeutung der jeweils individuellen Gestaltung und Ausprägung von Lebensstilen beigemessen wird (s.a. Wang Yalin 1995: 43) und führt dazu, dass das Thema nicht weiter verfolgt wird. Stilisierungen, in derForm von Lebens-Stilen, wird ein ausschließlich individueller Antrieb unterstellt, deren gesellschaftlicher (oder Gruppen-) Bezug anscheinend als irrelevant betrachtet wird. Die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung von Stilisierung bleibt so unbeachtet. Einige räumen Tätigkeiten und Merkmalen von Individuen oder Gruppenmitgliedern in der theoretischen Lebensstildefinition einen hohen Stellenwert ein (wie z.B. Li Yingsheng, Hg., 1995: 212-214), andere betonen die Funktion des Individuums als Erhebungseinheit anhand des Individuums als Subjekt von Lebensaktivitäten. (Li/Wang 1997: 242). (s.a. lll, 5.4.2) Solch ein Spektrum bietet auch die deutsche Soziologie, wo dieses (unreflektierte) Primat des Individuums einmal in theoretischen Ansätzen, ein andermal in der Empirie festgestellt wird. Manche weisen zwar einerseits die Vorherrschaft des Individuums zurück (wie Bourdieu)55 , beugen sich dem Primat dann andererseits in ihren Forschungsmethoden usw. Loos und Schäfer beklagen diese Vorherrschaft zwar besonders für 55 Hier zeigt sich am Beispiel der deutschen Soziologie, wie schwierig und irreführend nationalstaatsbezogenes Denken in Bezug auf die Gesellschaft oder gesellschaftliche Felder ist (s. I, 1.2): Die Arbeiten des Franzosen Bourdieu gehören insofern zur deutschen Soziologie, als sie innerhalb der deutschen Soziologie viel rezipiert werden. In der chinesischen Soziologie wird Bourdieu ebenfalls rezipiert, allerdings ein "ganz anderer Bourdieu" als in der deutschen.

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methodische und methodologische Ansätze, aber insgesamt auch für die theoretische Seite: "Obwohl sozialwissenschaftliche Sätze und Aussagen sich zumeist aufkollektive Sachverhalte beziehen bzw. auf Sachverhalte, die nur in ihrer Eingebundenheit in kollektive Strukturen zu erfassen sind, dominieren in der Forschungspraxis zumeist individualisierende Zugriffsweisen" (Loos/Schäffer 2001: 9, kursiv im Orig.). Obwohl die Autoren von einer Leitdifferenz westlicher Sozialwissenschaften sprechen- für die beiden Autoren ist das "Primat des Individuums" ein wichtiges Problem westlicher Soziologien (ebd. 29)- betonen sie im Wesentlichen das Ungleichgewicht von Theorie auf der einen Seite, die einen kollektiven Blickwinkel berücksichtige, und Methoden auf der anderen Seite, die auf Individuen konzentriert seien. 56 In die gerrau umgekehrte Richtung zu Loos und Schäffer zielt Müllers Kritik. Hans-Peter Müller meldet aufgrund von Milieu- und Lebensstilstudien empirisch begründete Zweifel an der Individualisierungsthese an. "Es scheint, als ob die theoretische Deutung großzügig ein höheres Maß an sozialer Differenzierung und Heterogenität einzuräumen geneigt ist, wo die empirische Forschung deutliche Schichtungsprofile und konventionelle soziale Ungleichheit feststellen muß." (Müller 1997: 3 79) Tatsächlich trifft die Kritik beider Richtungen zu, denn neben dem Primat des Individuums besteht gleichzeitig - in konkreten Fragen - die Konzentration aufs Kollektive. Dort, wo das Primat des Individuums nicht direkt zur Diskussion steht, bleibt es latent bestehen. Dennoch - und hier öffnet sich die Hintertür bei Müller - bleiben Lebensstiltypen "solange leer( ... ), wie sie nicht an soziale Einheiten und Trägergruppen rückgebunden werden können" (Müller 1997: 378). Sie müssen an soziale Einheiten gebunden werden- ohne den Gruppenbezug sind sie nichts wert. Wie schon bei Wang Yalin (s.o.) wird hiermit die letzte Bastion des Individuums angezeigt. Stefan Hradil ( 1995: 181) nennt als "Kern der gängigen Lebensstilbegriffe (... ) das beobachtbare individuelle Verhalten". Bourdieu stellt fest, "daß das eigentliche Objekt einer Sozialwissenschaft nicht das Individuum oder der ,Autor' ist", glaubt aber, dass sich "ein Feld nur von den Individuen aus konstruieren" lässt. Seine Begründung: "[D]ie für die statistische Analyse benötigten Informationen machen sich nun einmal im allgemeinen an einzelnen Individuen oder Institutionen fest" (Bourdieu/Wacquant 1996: 138). In diesem Kapitel wurde deutlich, dass sich das Primat des Individuums in der deutschen und chinesischen soziologischen Forschung tatsächlich häufig als Individualisierungsfalle darstellt, vor allem weil es vorwiegend

56 Zur gesamten Diskussion vgl. Loos/Schäffer 2001: 29-38.

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latent und seltener manifest zugrunde gelegt wird. Wenn die Stellung des Individuums zur Diskussion steht, wird sie, nicht immer, aber häufig kritisch bewertet; häufiger liegt sie aber unausgesprochen und deshalb unreflektiert zugrunde. Das zeige ich an der theoretischen Lebensstildiskussion und an der empirischen Forschung (Teile I und TTT). Dort zeige ich auch die Gründe fur das zunehmende Gewicht des Individuums in der chinesischen soziologischen Forschung auf. Einen der Gründe stelle ich im Folgenden kurz vor: die zunehmende Privatisierung der chinesischen Gesellschaft.

3.3.3 Privatisierung In einer gewissen Form trifft die Individualisierungsthese die chinesische Situation sehr gut: Die Regulierung des individuellen Lebens durch die Gesellschaft (und die Gemeinschaft) nimmt ab. Der Staat, aber auch die unmittelbare Gemeinschaft (Nachbarschaft) ziehen sich aus dem Leben und der Lebensplanung der Einzelnen immer mehr zurück. Mit Beck ließe sich so sagen: "Der einzelne wird zwar aus traditionalen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst, tauscht dafür aber die Zwänge des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein." (Beck 1986: 211) Dennoch birgt der Ausdruck Individualisierung, wie gesagt, zu viele Missverständnisse in sich. Deshalb ist seine Verwendung problematisch. Eine mögliche Alternative wäre die Bezeichnung Privatisierung, die deutlich macht, dass es in zunehmendem Maße als Privatsache begriffen wird, wie die Menschen ihre Lebenssituation lösen und dass die staatliche Regulierung des Lebens zurückgeht. Das Wort Privatisierung passt außerdem aus einem zweiten Grund sehr gut: Die chinesische Gesellschaft erfahrt eine gewissen Entpolitisierung. Das mag einer fremden Beobachterirr merkwürdig erscheinen, wird doch die Verzahnung und In-Verantwortung-Nehmung der gesamten Gesellschaft und der einzelnen Menschen tagtäglich vor Augen geführt (sei es mit öffentlich gedruckten, gemalten, geschriebenen und ausgesprochenen "Parolen" oder sei es mit Regelungen, die eine "richtige" Verzahnung öffentlichen Denkens gewährleisten sollen, z.B. mit politischem Pflichtunterricht in Kindergärten, Schulen und Universitäten). Dennoch findetmit dem Beginn der Politik von Reform und Öffnung 1978/79 eine Verschiebung vom Politischen zum Privaten statt. Wo lange Zeit politische Agitation gefordert war, ist es nun erwünscht, sich einen persönlichen Wohlstand zu erarbeiten. Diese Verlagerung vom Politischen zum Privaten findet auch in der Bevölkerung weitgehend Zustimmung, die nach Jahre-

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und Jahrzehnte langer Zwangspolitisierung des gesamten Lebens eine Sehnsucht nach privaten Dingen des Lebens gezeigt hat. Mit einer gewissen Agitationsmüdigkeit haben die Menschen ihre Interessen bereitwillig "Privatem" zugewandt. In diesem Sinne sprechen viele Beobachterinnen von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber politischen Fragen (vgl. Liu 1996: 178f.; Weggel1997: 175-177). Das bezieht sich aber nicht auf die Bedeutung von Politischem im Sinne einer Reflexion der eigenen Lebenssituation der Menschen und der Einordnung dieser Lebenssituation in gesellschaftliche Zusammenhänge auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene. Vielmehr lässt sich in dieser Hinsicht eine neue Definitionsmacht der Gesellschaft feststellen, also ein gestiegener Einfluss auf die Politik (s. dazu ll, 2.1; Gransow/Li 1995: 12-15; Weggel1997: 179f.). Die hier beschriebene Verlagerung der Zuständigkeit weg vom Staat, hin zu persönlichen Beziehungen im gesellschaftlichen Wandel sowie die relative Entpolitisierung mit der neuen Politik von Reform und Öffnung seit 1978/79 legen es nahe, für die Volksrepublik China die Bezeichnung Privatisierung zu verwenden und so zu versuchen, der Falle des Missverständnisses, das Individualisierung birgt, besser zu entgehen.

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Teil II: Die festlandchinesische Soziologie in der Zeit von Reform und Öffnung

1. Gesellschaftlicher Wandel und Soziologie in China- Einführung Für die Herausgeberinnen der renommierten Zeitschrift Shehuixue Yanjiu 1 (Soziologische Forschung) ist die Soziologie ein "Produkt des Öffnungszeitalters" und ein "Produkt der gesellschaftlichen Umwälzungen" (Shiji Jiyu 2001: 1; Lin/Wang 2000: 38). Die Autoren beziehen sich hierbei wesentlich auf die Tatsache, dass das Fach (wie andere Fächer) flir eine beträchtliche Zeit abgeschafft und verboten war (vgl. Teilll, 5.1). Damit wird eine direkte Wirkung gesellschaftlicher Bedingungen auf die Existenz des Faches Soziologie gesehen. Die Wiedereinrichtung der Soziologie, nach einer faktischenPause von einem Vierteljahrhundert, war ideologisch bzw. politisch Teil der neuen Politik, der neuen politischen Linie seit der Jahreswende 1978/79, und stand damit am Beginn einer neuen Zeitrechnung, der Ära von Reform und Öffnung (gaige kaifang). Der gesellschaftliche Wandel wirkte danach für das Fach entscheidend in Gestalt der neuen Politik der KP China, zu deren ersten Maßnahmen die Wiederzulassung der Soziologie gehörte. Die zweite deutliche Wirkung des Wandels, die sich in Form und Inhalt soziologischer Forschung als dessen sichtbarer Einfluss auf das Fach zeigte, ist erst flir die Soziologie der vergangenen 15 Jahre wirklich spürbar, in denen die neue gesellschaftliche Situation deutlich in allen Bereichen des Faches spürbar ist. Seit dieser Zeit

Sie ist die bekannteste und wohl auch angesehenste Zeitschrift. Auf der Grundlage zweier interner (nicht-öffentlicher) Informationsblätter für die Verwaltung wurde sie im Januar 1986 gegründet (s. Wei/Xing 1996: I; Feng Xiaotian 2000: 3f.).

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entwickelt die Soziologie ein neues Gesicht und ein stabile(re )s Selbstverständnis, das sie jedoch bis heute in vielem noch nicht erreicht hat. Zunächst haben aber die strukturellen Verschiebungen in der chinesischen Gesellschaft dieser Ära den Aufbau des Faches befördert und gefordert. So haben sich, beeinflusstvon Gesellschaftsreform und Strukturwandel, die Sozialforschung und die angewandte Forschung etabliert und so soziologisches Wissen verbreitet (vgl. Lin/Wang 2000: 40). Die Soziologie ist davon geprägt, dass das Fach und die Soziologinnen zugleich Subjekt und Objekt des gesellschaftlichen Wandels sind und dass sich die Soziologie als ein solches Objekt selbst beobachtet (vgl. Gao Bingzhong 1997: 33; Liu Shaojie 2000). Dies wird unter zwei Aspekten diskutiert, zum einen unter dem Aspekt des Einflusses gesellschaftlicher Strukturen auf eine Wissenschaff und zum anderen unter dem Gesichtspunkt derGleichrangigkeitvon Soziologinnen mit ihren Forschungsobjekten. In Bezug auf die Eigensicht der Soziologinnen unterscheidet sich die Atmosphäre in der chinesischen Soziologie deutlich von der in der deutschen oder in anderen westlichen Soziologien. Dort wird zwar grundsätzlich nicht in Frage gestellt, dass die Soziologlnnen ein Bestandteil der gesellschaftlichen Kräfte sind, ihr wissenschaftliches Handeln zeigt in dieser Hinsicht aber einen "Iack of acceptance" (Ritzer 1998: 50). 3 Chinesische Soziologlnnen sehen sich nicht nur als Teil der Gesellschaft und somit als Objekte des gesellschaftlichen Wandels, sie fühlen sich auch als Forscherinnen direkt herausgefordert: "Einerseits tun die soziologischen Forscherinnen ihr Bestes, um denWandelder Zeit zu verfolgen und widerzuspiegeln, um die gesellschaftlichen Phänomene nnd Fragen zu erforschen und zu analysieren, die mit dem rapiden gesellschaftlichen Wandel ständig entstehen; andererseits stellt die gesellschaftliche Praxis in den verschiedenen Bereichen auchunaufhörlich neue Anforderungen an die Themen, Typen und Methoden der soziologischen Forschung" (Lin/Wang 2000: 38).

Lin!Wang (2000: 39) diskutieren dies im Rahmen wissenschaftlicher Metatheorien, wie der Wissenschaftssoziologie, der Wissenssoziologie und der reflexiven Soziologie. Die Autoren reihen sich damit in die Mertonschen und Colemanschen Thesen vom .,Einfluss von Struktur auf Theorien" ein. 3 So auch Bourdieu/Wacquant (1996: 73). - Dies berührt zudem einen wesentlichen Punkt im Methodologiestreit zwischen qualitativen und quantitativen soziologischen Ansätzen. Während in den, häufig positivistischen, quantitativen Ansätzen die Subjektivität des Forschenden möglichst aus dem Forschungsprozess eliminiert wird, halten dies qualitative Ansätze für nicht möglich und versuchen, das "menschliche Element" zum Vorteil der Forschung zu nutzen (zum Methodologiestreit s.a. Teil I, 2.2.2).

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Der Wandel mit seinem Einfluss auf alle Bereiche der Gesellschaft verlangt die Präzisierung und Verfeinerung von Forschungsmethoden und unterstützt damit die Pluralisierung der empirischen Forschung ( ebd. 45). Das klingt zuerst einmal nicht sehr bedeutsam, aber es ist hervorhebenswert, wenn man sich den Zeitraum vergegenwärtigt, in dem dies geschieht und wenn man die Bedeutung der eben beschriebenen Selbstsicht der Wissenschaftlerinnen berücksichtigt. Die "übliche Verstrickung" jeder Soziologie mit ihrer Gesellschaft, die sich z.B. in einer stärker wirkenden Subjektivität4 der Forschenden oder in einer gewissen Verschränkung soziologischer und alltagssprachlicher Begriffe zeigt, wird damit also noch verstärkt. Für die chinesische "soziologische Welt" (Feng 2000) kommt hinzu, dass sich die gesamte Wissenschaftslandschaft in der Volksrepublik China verändert. So befinden sich die Universitäten beispielsweise in einer neuen Rolle als Forschungsinstitutionen (vgl. dazu auch Lin/Wang 2000: 40-42). Seit der Hochschulreform übernehmen die Universitäten wieder Forschungsaufgaben und sie sind so teilweise eine scharfe Konkurrenz zu den Akademien, den Forschungsinstitutionen und Think-Tanks der Politik (vgl. Weggel 2000: 622). Auf diese vielfaltigen Weisen hat damit die relative Offenheit der Gesellschaft direkten und indirekten Einfluss auf die Universitäten und auf die Forschung (vgl. a. Fravel2000: 822, 828, 838). Der Wandel des Faches Soziologie und das Zusammenspiel von gesellschaftlichem Wandel und dem Selbstverständnis des Faches zeigt sich besonders deutlich in der soziologischen Lebensstilforschung. Dort ist die "Verknotung" von Soziologie und Gesellschaft besonders stark. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum Arbeiten der augewandten Lebensstilforschung vor allem bis zur Mitte der 1990er Jahre wesentliche Beiträge für die Soziologie insgesamt leisteten (Wang Yalin 1995: 45). Mit der Wiedereinrichtung der chinesischen Soziologie im Jahre 1979 begann ein Prozess der gleichzeitigen Annäherung und der Entfernung von "ihrer" Gesellschaft. Es begann die Suche nach der Position und den

4

Mit dieser etwas umständlichen Umschreibung grenze ich mich von der gängigen Unterscheidung von Natur- und Sozialwissenschaften ab, die ersterer Objektivität, letzterer Subjektivität unterstellt, weil das Objekt von Naturwissenschaften- im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften und damit zur Soziologie- eben keine sich selbst und ihre Welt interpretierenden und definierenden Subjekte sind. Diese Unterscheidung verhüllt die notwendige Interpretationsleistung jeder Forschung, da auch "reale Objekte" und "harte Fakten" nicht "ungefiltert" zu uns sprechen. Dass wir keinen ungefilterten Zugang zu unseren Forschungsobjekten haben, nicht in den Sozialwissenschaften und nicht in den Naturwissenschaften, ist eigentlich hinlänglich bekannt.

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theoretischen und methodischen Grundlagen des Faches. Dabei hielt die chinesische Gesellschaft aber nicht "still", um den Vertreterinnen des gerade wiedereingerichteten Fachs die Orientierung zu erleichtern. Das Ausmaß des Wandels (und die Geschwindigkeit) half ihnen aber auch dabei, ihr fachliches Selbstbewusstsein zu finden. Seit Mitte der 1980er Jahre zeichnet sich eine deutliche Hinwendung zu fachinternen Kriterien (Systematik, Wissenschaftlichkeit usw.) und eine Abwendung von dominierenden fachexternen Einflüssen (z.B. bestimmt von der Angst vor politischer Illegitimität) ab. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass in vielen soziologischen Texten die Verwendung von Theorie-Enklaven üblich ist, ein Zeichen fachexterner bzw. formaler Einflüsse; die eigene Soziologie wird mit entlehnten und unpassenden Theorien und Begriffen garniert, die aber nicht integriert werden. 5 Theorie-Enklaven wurden anfangs vorwiegend aus Texten von Marx und Engels entlehnt, dann aus der sowjetischen Soziologie und daraufhin vorwiegend aus US-amerikanischen empirischen Forschungen; heute stammen sie häufig aus internationalen, vor allem aber westlichen Soziologien insgesamt. Die Soziologie wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre - nicht zuletzt dank des liberalen politischen Klimas dieser Zeit6 - immer kritischer und selbstbewusster. Deutliche Rechtfertigungen der Existenz des Faches und die Zuarbeit flir die Politik haben abgenommen. 7 Zwar transportiert die Soziologie auch heute parteiliche Interpretationen einer politischen Erfolgsgeschichte. 8 Mit den "Chroniken des Wandels", die während der Sozialistischen Erziehungsbewegung 1963-1965 den Erfolg der KP China dokumentierten (Gransow 1992: 149), sind diese aber nicht zu vergleichen. Dennoch bleibt der soziale Wandel ein heikles politisches

5 Zu meiner These über die Theorie-Enklaven in der chinesischen Soziologie s. hier Kapitel 3.2. 6 So wurde es in den Sozialwissenschaften empfunden, für die die 1980er Jahre die Jahre des Umfragefiebers und der Meinungsforschung waren (vgl. Feng 2000; Gransow 1992: 154f.). 7 Die chinesische Soziologie erlebte im 20. Jahrhundert große Schwankungen, was ihre gesellschaftliche und politische Position angeht. Diese bewegte sich zwischen den Extremen der Verachtung der Soziologlnnen einerseits und einer herausgehobenen Rolle der Soziologie bei der Rettung der Nation andererseits. Die Lebensgeschichte des bekannten Soziologen und Anthropologen Fei Xiaotong ist hierfür ein beeindruckendes Beispiel. (S. dazu Arkush 1981 und McGough, Hg., 1979 für die Zeit bis zur Wiedereinrichtung des Faches; kurz Gransow 1992: Kapitel 8.) 8 So z.B. Li/Wang (1999: 19): "[Jetzt, wo wir] ins 21. Jahrhundert eintreten, [sieht sich] die chinesische Soziologie mit dieser historischen Aufgabe konfrontiert, die große Revolution der Reform der chinesischen Gesellschaft und der Modernisierung der Gesellschaft zusammenzufassen und anzuleiten."

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Thema. Dass die soziologischeForschungdie Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Lebens immer deutlicher wahrnimmt und eine authentischere, komplexere Gesellschaft zeigt, war in der Anfangszeit nach der Wiedereinrichtung keineswegs selbstverständlich. Allerdings ist die gegenwärtige Gesellschaft in vielen Bereichen kaum noch mit der damaligen zu vergleichen. Die gesellschaftliche und die soziologische Pluralisierung verlaufen parallel: Nicht nur das Fach Soziologie, sondern auch die Gesellschaft hat deutlich an Komplexität gewonnen und erfordert einen völlig anderen soziologischen Blick. Der Wandlungsprozess ist das Hauptthema soziologischer Forschung heute; direkt, als Soziologie des sozialen Wandels, und indirekt, wenn Fragen untersucht werden, die als gesellschaftliche Konsequenzen des Wandels gelten (soziale Differenzierung, Urbanisierung, Freizeitforschung usw.). Aus heutiger Sicht (der chinesischen Soziologie) war aber die Diskrepanz in den ersten Jahren- also in den 1980er Jahren- zwischen gesellschaftlichem und wissenschaftlichem Erklärungsbedarf und der Fähigkeit der Soziologie, Antworten zu geben, sehr groß. Die Wissenschaftlerinnen stellten fest, so Gao, dass ihre Theorien, die sehr von der sowjetischen Forschung beeinflusst waren, mit der durch die Marktwirtschaft stark gewandelten Realität nicht übereinstimmten (Gao Bingzhong 1997: 33 ). Dies- und das ist das Besonderedaran-konnten sie am eigenen Leibe täglich erfahren; ihr persönliches Leben, wie das vieler Menschen in China, wandelte sich umfassend. In vielen soziologischen Studien untersuchten die Forscherinnen in gewisser Weise ihre eigene Situation. Das beeinflusst die Sichtweise der soziologischen Arbeit, bei der es fur Wissenschaftlerinnen wie Wang Yalin nun eine Voraussetzung ist, "mit beiden Beinen im Leben [zu] stehen" (1995: 48). Der Rollenwandel der Wissenschaftlerinnen gilt als wesentliches Kennzeichen der gegenwärtigen chinesischen Soziologie; er ist eineFolge davon, dass sich, aufgrundder dargestellten Veränderungen, "das Blickfeld [der Intellektuellen] erweitert" (Li/Wang 1997: 129) hat. Die Wissenschaftlerinnen waren - persönlich und beruflich - überwiegend innenorientiert und sind nun zunehmend außenorientiert: Sie gehen außer Haus, haben Kontakt zu ihrer Umgebung und auch wissenschaftlichen Kontakt mit dem Ausland 9 • Die neue Außenorientierung kennzeichnet das persönliche Leben der Menschen insgesamt 10 - und somit auch das der Sozio-

9 Siehe dazu auch Jing/Lu 2000: 120f. 10 Bislang war das Leben einfach und stark aufdie Existenzsicherung gerichtet. Heute gewinnt der kulturelle Faktor zunehmend an Wert: Ausgehen, kulturelle Veranstaltungen, Fernsehen, Freizeitleben (Li/Wang 1997: 129).

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loginnen-und es kennzeichnet die fachlichen Gepflogenheiten: das Einbeziehen ausländischer Thesen und Arbeiten. 11 Damit hat sich ein doppelter Wandel vollzogen: Die Soziologie als Fach, als Institution, passt sich dem gesellschaftlichen Wandel an und die Soziologlnnen sind als Einzelpersonen Teil der sich wandelnden Gesellschaft, Objekte des Wandels. Die Anpassung des Faches an den gesellschaftlichen Wandel ist etwas Besonderes, weil sie sich nicht "automatisch", "unter der Hand" vollzieht, sondern zum einen stark über die persönliche Erfahrung vermittelt wird und zum anderen den Druck der massiven Veränderungen in der Gesellschaft spürbar werden lässt. Die Dringlichkeit gesellschaftlicher Analysen und die Anpassungsfähigkeit der Soziologie haben zu einer rasanten Entwicklung des "neuen" Faches geführt (die in diesem Teilll eingehender untersucht wird). Dies wiederum führte zur verstärkten Herausbildung eines Fachbewusstseins (vgl. Lin/Wang 2000: 40), eines soziologischen Selbstbewusstseins. Gleichzeitig verstärkte sich aber die Einsicht, dass die soziologische oder wissenschaftliche Machbarkeit begrenzt ist. Das flihrte dazu, dass aus den Planerinnen in den 1990er Jahren Beobachterinnen geworden sind (vgl. Gao Bingzhong 1997: 33; Fravel2000: 821). Wenn sich Wissenschaftlerinnen bisher in ihrem Selbstbild an der vorderen Front der Gesellschaft sahen, empfanden sie sich nun als Teil der Gesellschaft, als in deren Mitte (Gao Bingzhong 1997: 32f.). 12 In dieser Gedankenwelt wird es zunehmend wichtiger, soziale Sachverhalte zu beschreiben und Probleme zu formulieren, als die Gesellschaft lenken zu wollen.

11 Dabei handelt es sich um zwei wesentliche Aspekte des gesellschaftlichen Wandels, der auch als die Sieben Wandlungen dargestellt wird (s. Teil III, 2.). Die beiden Elemente sind der Wandel von einer geschlossenen zu einer offenen Gesellschaft und der Wandel von einer häuslichen zu einer außerhäuslichen Gesellschaft. 12 Wissenschaftlerinnen haben sich nicht nur selbst an der vorderen Front der Gesellschaft gesehen. Trotz offizieller Herabsetzung der Intellektuellen als Stinkende Nummer Neun, Landverschickung der Intellektuellen und Kulturrevolution waren die Menschen Anfang der 1970er Jahre wohl mehrheitlich der Überzeugung, dass Elitenentscheidungen für die gesellschaftliche Weiterentwicklung ausschlaggebend sein sollten, nicht die Wünsche der Massen. Das, so Weggel, sei heute grundlegend anders (Weggel 1999a: 81 0).

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2. Chinesische Soziologie und Praxis 2.1

Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft (die Makroperspektive)

Der oben beschriebene Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel und Soziologie sowie die Veränderung des Verhältnisses von Soziologie und Gesellschaft haben Auswirkungen auf die Rolle der Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft und sie verändern das Verhältnis von Politik und Soziologie auf lange Sicht. 13 Im Verhältnis der drei Felder Gesellschaft, Soziologie und Politik findet ein Wandel von top-down (Politik -+ Soziologie -+ Gesellschaft) zu bottom-up (Gesellschaft -+ Soziologie -+ Politik) statt. Die Soziologie verbindet nach wie vor Politik und Gesellschaft, aber die Dynamik dieser Verbindung wird häufiger umgekehrt. Das Verhältnis von Politik und Gesellschaft beschrieb ein Soziologe an der Beijing-Universität in einem Gespräch einmal wie folgt: Die chinesische Modernisierung sei kein "natürlicher" Prozess, so wie in Europa, sondern ein von den chinesischen Regierungen geplantes Programm. Für die Position der Politik und auch der Soziologie gegenüber der Gesellschaft ist dies charakteristisch: der Wille zur Planung. Das Kennzeichen deutscher Politik wäre im Gegensatz dazu der Wille zur Regulierung. Wenn auch viele Maßnahmen der chinesischen Regierung eher Reaktionen als Aktionen sind und die Politik dann der Regulierung näher kommt als der Planung, so sind der Plan und der Wille zur Planung dennoch kennzeichnendes und bestimmendes Merkmal chinesischer Politik. Das Gleiche galt flir die Soziologie. 14 Ein entsprechender Ton klingt in vielen soziologischen Arbeiten an, z.B. wenn von der Pflicht der Soziologie die Rede ist, eine gesunde geistige Zivilisation mit aufzubauen. Schon in den 1930er Jahren war für Fei Xiaotong (und andere Intellektuelle) die Funktion klar, die Sozialforschung innehabe: Sie soll die Grundlage liefern, die chinesische Gesellschaft zu reformieren; dazu muss sie u.a. Werkzeuge zur Kontrolle des gesellschaftlichen Wandels bereitstellen (Arkush 1981: 54-56).

13 Zur theoretischen Diskussion der Elemente Gesellschaft, Soziologie und Politik und zur Wechselwirkung zwischen den Elementen s. Teil!. 14 Das war auch in der deutschen Soziologie einmal Konsens, so Beck und Bonß: In den 1970er Jahren sollten Sozialwissenschaften eine vernünftige Gesellschaftsgestaltung ermöglichen und "[n]icht selten wurde dabei eine Politik vom ,sozialwissenschaftlichen Reißbrett' gefordert - und auch angeboten." (Beck/Bonß 1989: 13).

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Die Soziologie nimmt damit eine Rolle ein, die sich zwischen Politik und Gesellschaft befindet. Sie liefert Theorien und Daten, die politischer Planbarkeit und Planung dienen und sie stellt Gesellschaft dar. Dabei ist es bisher die Politik, die Fragestellungen formuliert. Die Politik ist deshalb offiziell erste Adressatin und Nutznießerirr wissenschaftlicher Arbeit. 15 Auch "die Gesellschaft" 16 ist eine enorm wichtige, und zwar zunehmend wichtige Adressatin wissenschaftlichen Engagements. Beide, Politik und Gesellschaft, sind deshalb Adressatinnen von Legitimationsanstrengungen wissenschaftlicher Arbeit. Tonangebend bei der Betrachtung der Gesellschaft ist aber bisher die Politik, die Hauptrichtung wissenschaftlicher Betrachtung ist dabei "top-down" (Politik-+ Soziologie-+ Gesellschaft). Deshalb nennt Gao Bingzhong (1997: 33) diese Soziologlnnen (des "alten Musters") Planerlnnen; sie werfen einen planenden Blick auf die Gesellschaft und die Lösung ihrer Forschungsfragen wird als maßgeblich fur eine "gesunde Entwicklung der sozialistischen Modernisierung" 17 erachtet. Aber die Selbstwahrnehmung und die Arbeitsweise der Soziologlnnen verändern sich gegenwärtig deutlich und sie verändern das Verhältnis dieser Wissenschaft zur Politik. Da, wo die Soziologie eine Mittlerinnenfunktion hat, kehrt sich nun häufig das Verhältnis von Politik, Soziologie und Gesellschaft um. Die Soziologie ist weiterhin Verbindungsglied zwischen Politik und Gesellschaft, aber sie trägt nicht mehr unbedingt im Wesentlichen die Vorstellungen der Politik in die Gesellschaft, sondern immer häufiger Vorstellungen aus der Gesellschaft in die Politik. 18 Mit Beck und Bonß (1989: 29) ließe sich auch von einer "reflexiven Verwissenschaftlichung" sprechen, welche die Erkenntnis zur Folge hat, dass sich mit Wissenschaft die Gesellschaft nicht einfach mechanisch "reparieren" lässt, sondern dass die Bereiche ineinander fließen und sich gemeinsam entwickeln. Für die Soziologie als Fach bedeutet das gegenwärtig eine kontinuierliche Stärkung ihrer Position- innerhalb der Wissenschaft und gegenüber der Politik. Selbstverständlich ist Wissenschaft, ist die Soziologie nicht nur Mittlerin, sondern sie hat auch selbst Einfluss. Die Position der Sozialwissenschaften und speziell der Soziologie wird seit

15 Ahlberg ( 1991: 695) vertritt die These, dass gerade sozialistische [d.h. hier nicht-demokratische, DS] Regierungen besonders auf die soziologische Interpretation angewiesen sind, weil dort die Medien diese Rolle nicht übernehmen. Das spräche für ein noch größeres Gewicht soziologischer Forschung. Das scheint mir aber keine zwingende Konsequenz dieser These. Worauf die zunehmende Bedeutung soziologischer Forschung in China zurückzuführen ist, führe ich in diesem Teil II aus. 16 Siehe zur Definition der Gesellschaft Teil I. 1.2. 17 Wang Valin 1995: 48; ähnlich Yu Xintian 1998:257. 18 So, wie es Mao Zedong mit der Massenlinie gefordert hatte.

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Jahren kontinuierlich aufgewertet. Die Selbstwahrnehmung verändert sich: das Verantwortungsgefühl bleibt, das Selbstbewusstsein steigt. Die Veränderung der Selbstwahrnehmung hat drei Ursachen: Erstens hat sich der im ersten Jahrzehnt der Wiedereinrichtung dominierende feste ideologische Griff gelockert. Zweitens besteht eine starke Wechselwirkung zwischen Soziologie und gesellschaftlichem Wandel. Die Soziologie sieht sich von "der Gesellschaft", vom gesellschaftlichen Wandel, herausgefordert, der für das Fach mehr ist als ein großes Forschungsterrain; zwischen Soziologie und gesellschaftlichem Wandel besteht eine starke Wechselwirkung. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema gesellschaftlicher Wandel in China ist oft sogar eine Art Nabelschau für das Fach. Das bewirkt eben auch eine Veränderung des Verhältnisses zur Politik und des Verhältnisses zur Gesellschaft. Bei der Beobachtung der zunehmenden Vielfalt und Professionalisierung, aber auch des politischen Rückhalts zeigt sich, wie sehr das Fach von dieser Wechselwirkung profitiert. Drittens wird der internationale Austausch in der Wissenschaft immer wichtiger.

2.2

Soziologie zwischen Politik und Gesellschaft (die Mikroperspektive)

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die chinesische Soziologie im Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel im Wesentlichen aus der Vogelperspektive gezeigt. Dabei erscheinen die einzelnen Felder relativ monolithisch und homogen. 19 In den folgenden Kapiteln werde ich anhand der soziologischen "Rede über die Praxis"20 einige Verknüpfungen und Beziehungen zwischen den Feldern genauer betrachten und zeigen, wie dieses Verhältnis "funktioniert".

2.2.1 Praxisnähe I - im Dienst von Gesellschaft und Politik Die Betonung von Praxisnähe und die Forderung danach ziehen sich wie ein roter Faden durch Definitionen und Selbstdefinitionen in den Sozialwissenschaften. Der konkrete Bezug zur Gesellschaft gilt als sehr wichtig, d.h. die Anwendbarkeit und Aktualität der Forschungen stehen im V ordergrund (vgl. Lin/Wang 2000: 38f.; Wang Yalin 1995: 48). Warum wird Praxisnähe in der chinesischen Soziologie so betont? Hat die Praxis einen besonders hohen Stellenwert? Oder gerade einen besonders niedrigen? Ist 19 Die theoretische Diskussion dieser Elemente findet sich in Teil I. 20 Im Gegensatz zu dem, was Praxis konkret ausmacht.

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die Betonung der Praxisnahe politisch notwendig? Immerhin ist "Praxis" ein Schlüsselbegriff des Sinomarxismus. 21 Klassencharakter und Praxisbezogenheit sind die beiden wesentlichen Merkmale des dialektischen Materialismus, auf den sich die chinesische Soziologie bezieht. Oder ist sie wissenschaftliches Programm? "Die Marxisten sind der Ansicht, dass nur die gesellschaftliche Praxis der Menschen das Kriterium fur den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnis der Außenwelt ist", sagt der Sozialforscher Mao Zedong (1968: 349). Im Folgenden werde ich das Thema Praxisnahe und dessen Hintergründe darlegen und erläutern, also die "Rede über die Praxis" behandeln. Dazu bietet das vorliegende Kapitel eine allgemeine Einfuhrung in die Bezugnahme der Soziologie auf die Praxis. Die Frage, was konkret Praxisnahe bedeutet, ob sie den Stellenwert empirischerForschungbetont oder andere Kriterien kennt, wird an anderer Stelle diskutiert? 2 Die theoretische und methodische Verarbeitung der Praxis wird in Teil III deutlich. 23 Die Bedeutung des Verhältnisses von Soziologie, Politik und Gesellschaft diskutiere ich in Teil I. Vier Bedeutungen lassen sich unterscheiden, wenn in soziologischen Texten von Praxisbezug die Rede ist: 1. politische und somit gesellschaftliche Verwertbarkeit allgemein; 2. Nutzbarkeit der Forschung als Reparaturwerkzeug und Lenkungsfunktion von Wissenschaft; 3. politische Korrektheit; 4. die Popularitätsdoktrin der Wissenschaft (die heute von der zunehmenden Professionalisierung[-sdoktrin] in Frage gestellt wird). 1. Politische Verwertbarkeit (Nutzenorientiertheit) In diesem Fall meint Praxisbezug Politikbezug. Forschung, die diesem Erfordernis entspricht, reklamiert fur sich eine direkte oder indirekte Verwertbarkeit in einem politischen Plan bzw. von Seiten der Politik. Im Gegensatz zur Nutzbarkeit von Forschung als Reparaturwerkzeug (s.u.) geht es darum, Daten, also Informationen, zu liefern.

2. Nutzbarkeit der Forschung als Reparaturwerkzeug und Lenkungsfunktion von Wissenschaft (im Dienst der Politik) Der Verweis auf den Praxisbezug kann aber auch bedeuten, dass eine Autorirr von der "Lenkungsaufgabe" oder der "Lenkungsfunktion" der

21 Für eine kurze und präzise Einführung in die grundlegenden sinomarxisti-

schen Auffassungen von Theorie und Praxis s. Harro von Senger 1994: 219-226. 22 Zur angewandten undzur empirischen Forschungs. Teil I, 2.2.3, Tei!II, 2.2.2

und Teillll, 5.5. 23 Siehe v.a. Teillll, 5.

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Wissenschaft bzw. der Soziologie überzeugt ist. Gao Bingzhong betont, dass viele Wissenschaftlerinnen ihre Identität als Planerinnen (noch) nicht vollständig abgelegt haben. Entsprechend sind sie gelegentlich der Überzeugung, dass die Soziologie gesellschaftliche Probleme, wenn sie einmal erkannt und untersucht sind, löst oder zumindest lindert. 3. Politische Korrektheit Politikbezug lässt sich als Erfordernis politisch korrekter Wissenschaft lesen. Die Betonung des Praxisbezuges ist dann ein gewolltes oder ungewolltes ideologisches Bekenntnis. 4. Popularitätsdoktrin von Wissenschaft (Volksnähe, Verständlichkeit) Sozialwissenschaften und Soziologie haben sich in der Vergangenheit häufig mit sehr konkreten Problemen befasst?4 Entsprechend richtete sich die Forschung nicht an ein Fachpublikum, sondern an den betroffenen Personenkreis. Hinzu kommt die spezifische Situation der chinesischen Sozialforschung und ihrer Geschichte, für die eine Ablehnung von "Professionellen" (Wong 1979: 69f.) kennzeichnend ist (s. dazu die Kapitel 4. und 5.; Beispieles. besonders 3.1 Barfußsoziologie). Heute ist die chinesische Soziologie aber vom Wechsel weg von der Popularitätsdoktrin hin zur Professionalitätsdoktrin gekennzeichnet. Wo z.B. lange Zeit eine Abgrenzung soziologischer Texte von populären oder (populär-)politischen Texten schwierig war, wo sozialwissenschaftliche Forschung direkt für die Gesellschaft zugänglich und verständlich sein sollte/5 steht heute die Professionalisierung von Theorien und Forschungsmethoden im Vordergrund. Das macht Texte mit ihren Voraussetzungen und Bezügen innerhalb eines Fachgebietes für Außenstehende oft schwer verständlich. Diese vier Bedeutungen sind eng miteinander verknüpft und sie bedingen einander. Um ihr Zusammenspiel zu beleuchten, möchte ich die Bedeutung des Praxisbezuges im Zusammenhang ausfUhren. Nach der allgemeinen Auffassung in der festlandchinesischen Soziologie hat diese- genauso wie andere Wissenschaften auch- wesentlich die Aufgabe, ganz konkrete gesellschaftliche Probleme zu lösen. Mehr noch, die Soziologinnen haben eine "historische Mission" und "die unbedingte Pflicht", diese Mission zu erfüllen (Shiji Jiyu 2001: 1). Zu diesem Zweck beugen sie sich der Politik der KP China, die die Probleme und ihre Lösung definiert und konkretisiert ([I.] politische Verwertbarkeit und [3.] 24 Siehe z.B. Teil II, 2.2.1, Teil III, 5.5 bzw. Wong Siu-lun 1979: 76. 25 Vgl. Franke 1974: Sp. 1594.

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politische Korrektheit). Bei Wu Zengji ist zu lesen, dass Wissenschaftlerinnen bei der Erforschung von Lebensstilen konkrete Kenntnisse über die gesamte Sozialstruktur und ihre Bewegung gewinnen und so in gewissen Grenzen das gesellschaftliche Leben der Menschen regulieren können (Wu Zengji 1997: 272f.). Es ist die wesentliche Aufgabe der Lebensstilforschung, betont Wang Yalin, wissenschaftliche Erklärungen und Lösungen für die Gesellschaft zu geben, in der Lebensstile vom wachsenden Einfluss marktwirtschaftlicher Bedingungen erschüttert werden (Wang Yalin 1995: 48). ([1.] politische Verwertbarkeit und [2.] Forschung als Reparaturwerkzeug.) Entsprechend verändern sich die Forschungsschwerpunkte, aufgrund der engen Verbindung von soziologischen Themen und aktuellen gesellschaftlichen Problemen,jeweils mit der gesellschaftlichen Entwicklung (Lin!Wang 2000: 42) ([1.] politische Verwertbarkeit und [3 .]politische Korrektheit). 26 Yan Peng bezeichnet die besondere Beziehung zwischen Soziologie und Praxis als "Subjektcharakter" der Soziologie (Festlandchinas), die sie von den Soziologien außerhalb Chinas unterscheide; zu dieser Unterscheidung gehört auch und vor allem das bestehende sozialistische System (s. Lin/Wang 2000: 38f.; s.a. Wong I979: 72) ([3 .] politische Korrektheit). Entsprechend dem politischen System der Volksrepublik China, mit der Monopolstellung und Definitionsmacht der Kommunistischen Partei, richtet sich die Definition politischer Verwertbarkeit nach der Formulierung gesellschaftlicher oder politischer Notwendigkeiten durch die Partei. Dass die Partei gesellschaftliche und politische Fragen somit auch definiert, ist Konsens - auch innerhalb der Soziologie. Das widerspricht eigentlich den ideologischen Grundsätzen der Partei, die ungeachtet ihrer Führungsrolle "des Volkes Stimme" hören muss. Es entspricht auch nicht der alltäglichen Wirklichkeit, denn die "Praxisrelevanz" gilt auch für die KP, die auf gesellschaftlichen Druck reagieren muss. Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel, die in der Übermittlung der "Stimme des Volkes" eine wichtige Rolle spielen (vgl. Gransow/Li 1995: 12-15; Weggel I997: I79f.). Vielleicht haben sie sogar mehr Einfluss auf politische Definitionen und Entscheidungen, als das z.B. in Deutschland der Fall ist, wo eine freiere Öffentlichkeit eine bedeutende Rolle spielt. In der Soziologie wird häufig die Auffassung vertreten, dass es die wichtigste Funktion soziologischer Forschung sei, mittels der Erforschung des kon-

26 Dieser Zusammenhang ist vor allem im Vergleich zur deutschen Soziologie deutlich, obwohl deren Forschungsinteressen und -schwerpunkte selbstverständlich auch mit Interessen und Schwerpunkten in der Gesellschaft verknüpft sind.

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kreten sozialen Handeins der Menschen die allgemeinen Gesetzmäßigkeiteil des gesellschaftlichen Seins und ihrer Entwicklung zu erforschen, um damit wissenschaftliche Prognosen über Perspektiven und Trends in der Gesellschaft zu erstellen, um schließlich konkrete Ziele zu erreichen und theoretische Ratschläge fur die Regierungspolitik zu geben (s. Wang Yalin 1995: 47). Diese Auffassung kann nun aufzweierlei Arten gelesen werden, die einander aber nicht widersprechen müssen: Es zeigt die Unterordnung unter die Ansprüche der Praxisrelevanz, wie sie hier beschrieben wurden, oder es zeigt ein Selbstbewusstsein der Soziologinnen, das auch vom Bewusstsein soziologischer Definitionsmacht geprägt sein mag. Die erste Lesart betont die Unterwerfung unter den Nutzen fur das Land und die Regierung, indem die Bedeutung soziologischer Forschung und des Nutzens einer bestimmten Fragestellung betont wird ([1.] politische Verwertbarkeit, [3.] politische Korrektheit und [4.] Popularitätsdoktrin). Der "Versuch von Seiten der Soziologen, durch ihre Beiträge politische Wirksamkeit zu erzielen", war zwar schon zu Beginn der Wiedereinrichtung der Soziologie sichtbar- über eine "politische GängeJung durch die Partei und Formen von ,Sldavensprache"' der Soziologie (Gransow 1992: 133) hinaus. Aber der Einfluss der Soziologie nimmt heute immer deutlicher zu (vgl. Teil I). Allerdings ist auch heute die Sanktionierung von Themen durch die Partei wichtig und die Tatsache, dass Parteithemen und -entscheidungen häufig in soziologischen Arbeiten zitiert werden, zeigt, wie groß der Druck in dieser Frage ist ([3.] politische Korrektheit). Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass die große Praxisrelevanz in den chinesischen Sozialwissenschaften und der Blick auf die politische Zensur zwei verschiedene- wenn auch letztlich ineinander laufende Dinge- sind. Hinzu kommt eine Ansicht über die eigene Identität, die nicht nur bei chinesischen Intellektuellen verbreitet ist: Die eigene Person wird als Teil des Ganzen gesehen und auf diese Weise auch häufig thematisiert. Insgesamt ist es gang und gäbe, das eigene Handeln und die eigene Existenz in Bezug auf das Land zu definieren. 27 Für Wissenschaftlerinnen legt zudem die Geschichte der Intellektuellen des kaiserlichen China und ihr konfuzianischer Loyalitätsbegriff ( s. Gransow 1992: 13 5) solch einen Bezug nahe. Entsprechend wird auch in vielen Büchern und Zeitschriften betont, welche Pflichten Soziologinnen heute erfüllen müssen (vgl. Shiji Jiyu 2001: 1-3; Li Yi 1999: 19). Es wird als Aufgabe der Soziologinnen gesehen, den

27 Dieser Bezug ist für die Eigendefinition vieler Menschen in Festlandchina wichtig, ohne dass ihr Handeln damit sozialer ist als das von Menschen in individualistisch ausgerichteten Gesellschaften. 81

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gesellschaftlichen Wandel, gemäß der Politik und den Zielen der Regieung, in die erwünschten Bahnen (mit) zu lenken. Der Austausch Praxis- Wissenschaft findet auch hier in beide Richtungen statt: Die Soziologie tritt an, anstehende gesellschaftspolitische Fragen zu lösen, und diese Lösungen werden alltagspraktisch vermittelt. Der direkte Nutzen bzw. die direkte Verwendung durch "die Massen" hat(te) dabei traditionell einen hohen Stellenwert. Gibt es nun eine schleichende Abwendung von diesem Prinzip? Bringt die wachsende Professionalisierung und Spezialisierung nicht automatisch eine Vergrößerung des Grabens zwischen Fachwelt und Nicht-Fachwelt mit sich? Und vielleicht ein sinkendes Interesse von Seiten der Soziologie, "kleine" Probleme zu lösen? Mangelnde Professionalität und Unterscheidbarkeit von Fachlichem und Nichtfachlichem wird ja immer wieder als Kennzeichen und Problem der Soziologie, vor allem der 1980er Jahre, kritisiert (s. Teil TI, 5.2) ([4.] Reste(?) einer Popularitätsdoktrin). Gleichzeitig gibt es die Forderung, dass das Gespräch und der Austausch zwischen den Fächern und Teilfächern oder Bereichen und zwischen den Spezialistinnen und Nichtspezialistinnen erweitert werden und dass in allen Bereichen der wissenschaftlichen Arbeit auch ein Austausch mitNichtfachleutenstattfinden muss (Lin/Wang 2000: 46). Das bestätigt die Hypothese, dass der lange verpönte Abstand der Wissenschaftlerinnen zu "den Massen" zugenommen hat. Zeigt sich in diesem Streben der Fachleute, sich gegenüber den Nichtfachleuten abzugrenzen, wachsendes Bewusstsein fur inhaltliche Professionalität oder spiegelt es mehr eine gewisse professionelle Arroganz und Spezialistentum? In den deutschen Sozial- und Geisteswissenschaften sind Klagen über die Entfremdung der Wissenschaftlerinnen und Spezialistinnen von der breiten Masse nicht gerade üblich. Ist diese Sorge, die Lin und Wang formulieren (2000: 46), echt? Immerhin begrüßen die beiden Autoren in diesem Aufsatz implizit mehr Professionalität. Sind dies also die ersten Töne eines Abschiedsgesangs (von der Praxisnähe) oder lassen sich beide - berechtigten- Ansprüche, Professionalitätund Nähe zur Gesellschaft, in Einklang bringen? Einerseits vergrößert die Professionalisierung des Faches den Abstand von Wissenschaftlerinnen und den "restlichen" Akteurinnen in der Gesellschaft; andererseits ermöglichen das neue Selbstverständnis des Faches und die Öffnung nach außen eine andere- bessere?- Integration der Soziologinnen in die Gesellschaft. Vielleicht helfen diese Umstände, die in China typische Nähe von Soziologie und "ihrer" Gesellschaft zu bewahren, bei der eine Wissenschaft von der Gesellschaft nur profitieren kann, solange sich keine der beiden Seiten von der anderen "bevormunden" lassen muss. Mangelnde Professionalität jedenfalls garantiert auch keinen engeren Praxisbezug so genannter angewandter Forschung: Die relativ

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oberflächliche Abhandlung gesellschaftlicher Fragestellungen im Erzählstil, ein häufiges Phänomen bei soziologischen Texten in der Zeit nach der Wiedereinrichtung des Faches, bringt für deren Lösung keinerlei Nutzen. Diese beiden widersprüchlichen Tendenzen- die eben schon angedeutete wachsende Definitionsmacht gesellschaftlicher Fragen von Seiten der Soziologie sowie ein wachsendes Bewusstsein der Fachvertreterinnen, was die Grenzen ihres direkten Einflusses angeht- werden in der vorliegenden Untersuchung intensiver betrachtet. Hat Modernisierung in China einen anderen Effekt bei der gesellschaftlichen Des-/Integration von Wissenschaft als in Deutschland, wo sie zunehmende Integration und die "Hoffahigkeit" von Soziologie in öffentlichen Diskursen bedeutet(e)? Ist die in China so deutlich sichtbare Verknüpfung von Soziologie, Gesellschaft und Politik auf dem Rückzug?

2.2.2 Praxisnähe II- angewandte Forschung In Kapitel2.2.I wurde diskutiert, welchen äußeren Anforderungen sich die Soziologie im Verhältnis von Soziologie und Praxis gegenüber sieht. Die "Verpflichtung" der Soziologie gegenüber der Praxis wird außerdem aus einer wissenschafts- oder fachimmanenten Perspektive diskutiert. Praxisnähe aus der Sicht der Wissenschaft- hier aus metasoziologischer Sichtbedeutet für die chinesische Soziologie die Betonung angewandter Forschung.28 Die vier Bereiche aus Kapitel 2.2.I finden sich hier wieder, allerdings vom Standpunkt wissenschaftlicher Forschung aus gesehen. Feng Zhiye: "Angewandte Forschung ist Forschung, die sich zur Lösung gegenwärtiger gesellschaftlicher Probleme anwenden lässt, welche für alle von Interesse sind" (1998b: 230). In der Volksrepublik China gehörtangewandte Forschung zum Selbstverständnis soziologischen Arbeitens und die Interpretation der eigenen Forschungsarbeit geschieht sehr häufig vom Standpunkt der Unterscheidung von theoretischer (Grundlagen-)Forschung und angewandter Forschung aus. So ist auffallend, dass in den theoretischen Arbeiten in der Regel zwischen theoretischer und angewandter, nicht etwa zwischen theoretischer und empirischer Lebensstilforschung unterschieden wird. So beginnt das Inhaltsverzeichnis des Soziologie-Bandes der Großen Chinesischen Enzyklopädie mit den folgenden vier Einträgen: Makro- und Mikrosoziologie sowie theoretische und angewandte Soziologie, und viele Autorinnen gehen in ihren Arbeiten implizit oder explizit von der grund28 Zur angewandten Forschung als praxisbezogener Forschung und ihrem Verhältnis zur Politik bzw. politischen Planung s.a. Teil!: Liu Shaojie 2000.

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legenden Unterscheidung soziologischer Forschung in theoretische vs. angewandte Forschung aus (Wang Yalin 1995, Feng Zhiye 1998b: 230). Im selben Band schreibt Zheng Hangsheng: "Die Unterscheidung von theoretischer Soziologie und angewandter Soziologie ist nur relativ, beide ergänzen und brauchen einander. So ist die theoretische Soziologie dietheoretische Anleitung der augewandten Soziologie, die aber auch ständig in der augewandten Soziologie vervollkommnet wird. Die Forschung der angewandten Soziologie kann der theoretischen Soziologie neue Daten liefern, den theoretischen Wissensstand überprüfen und so die theoretische Soziologie bereichern und entwickeln." (Zheng Hangsheng- Da Baike 1991: 160) Der Stellenwert, den die angewandte Forschung in der VR China besitzt, wird wissenschaftsintern von drei Faktoren unterstützt: 1. von der klassischen Wissenschaftstradition - die chinesische Soziologie unterscheidet sich "in spezifischer Weise vom Erkenntnisinteressewestlicher Soziologie" (Gransow 1992: 17), 2. von der sino-marxistischen Forschungstradition und dem politischen Klima., 3. vom Einfluss der empiristischen USamerikanischen Forschung. 29 Die Hochschätzung angewandter Forschung ist für die Qualität der Forschung auch ein Problem: 30 Sie bremst die Professionalisierung der Soziologie. Obwohl sich die Wissenschaftlerinnen in den letzten Jahren intensiver der Grundlagenforschung und der Entwicklung von Theorien und Begriffen zugewendet haben und ihre Arbeit auch bei deren Präsentation (z.B. in Zeitschriftenartikeln) zunehmend- theoretisch und methodisch - in einen fachlichen Kontext stellen, wird weiterhin immer wieder und zu Recht das Ungleichgewicht von theoretischer und angewandter Forschung zugunsten Letzterer kritisiert (Lin/Wang 2000). Wenn es darum geht, angewandte Forschung oderangewandte Soziologie konkreter zu bestimmten, gibt es auch hier eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Definitionen. Die fachlichen Ansätze, angewandte Forschung, also Praxisnähe, zu definieren, sind meistens weitweniger überzeugend als

29 Ritzer beklagt die gängige empiristische und rationalisierte US-amerikanische sozialwissenschaftliche Forschung als unkreativ und als qualitativ minderwertig (1998: 35-51). Zum Siegeszug empirisch geprägter Sozialforschung und zu ihrer Herkunft s.a. Kaesler 1999: 209. 30 Die Hochschätzung an sich ist natürlich noch kein Problem, sondern die damit verbundene Geringschätzung oder das relative Desinteresse an Grundlagenforschung, die zu einem großen Ungleichgewicht von angewandter und Grundlagenforschung führen. Dieses Ungleichgewicht ist das tatsächliche Problem.

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die außerfachlichen mit ihrer legitimatorischen Grundlage (s. 2.2.1, 2.2.2). Die Definition angewandter Soziologie bzw. angewandterForschungreicht von der Forschung mit ganz konkretem Bezug, die in der Regel nur mikrosoziologische Fragestellungen umfasst, bis zu ganzen Teilsoziologien31 (Stadtsoziologie, Industriesoziologie, Soziologie des Verbrechens usw.). Das Prinzip der angewandten Forschung ist vielversprechend, wenn sie als Pendant zur Grundlagenforschung diskutiert wird. Sie unterscheidet sich dann von der Grundlagenforschung nicht nur darin, dass sie nicht das Ziel der Theoriebildung verfolgt, sondern auch darin, dass sie sich den Gegebenheiten der Praxis anpasst, dass also der Umgang mit einer Praxissituation und die Lösung konkreter Probleme Vorrang vor der wissenschaftlich exakten und korrekten Anwendung soziologischer Theorien und Methoden hat. Diese Gegebenheiten der Praxis sollten dabei nicht als Problem, Schwäche oder Nachteil betrachtet und behandelt werden, sondern als Charakteristik an gewandter Forschung und sie sollten in einem System der Beziehung von an gewandter und Grundlagenforschung einen Einfluss auf die Grundlagenarbeit haben? 2 Häufig steht aber bei der angewandten Soziologie die Lösung eines konkreten sozialen Problems, die Antwort auf eine aus der Gesellschaft kommende Frage als direktesForschungsziel im Vordergrund. Dieser Ansatz ist eng mit dem bisherigen Selbstverständnis der Wissenschaftlerinnen als Planerinnen der Gesellschaft verknüpft, bei dem das Bestreben im Vordergrund steht, objektive Daten zu gewinnen und eine Sozialtechnologie zu entwickeln, die auch in der Lage ist, Gesellschaft zu "reparieren". Diese entspricht, wie schon erwähnt, einer Vorstellung von der Gesellschaftsgestaltung nach dem "sozialwissenschaftlichen Reißbrett" (Beck!Bonß 1989: 13), wie sie in Deutschland vor allem in den 1970er Jahren nicht unüblich war. Solche Konzepte entsprechen einem gängigen Wissenschaftsbild der Moderne.

31 Einige chinesische Arbeiten unterscheiden Teilsoziologien (s.o.) und spezielle Soziologien (traditionelle Gesellschaft, Gesellschaft im Wandel, moderne Gesellschaft) (s. Li Yi 1999: 3--6). 32 Siehe zu dieser Diskussion Teil I, 2.2, v.a. 2.2.2; zum Verhältnis von "korrekter" Wissenschaft und praxisnaher Forschung außerdem Bourdieu (in Bourdieu/Wacquant 1996: 49-76).

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3. Die Praxis der chinesischen Soziologie Die rasante Entwicklung und der Wandel der Soziologie werden natürlich auch in den Methoden des Faches, bzw. in seinem Methodensystem, deutlich. Zuerst einmal ist festzustellen, dass häufig ein großer Graben zwischen der theoretischen oder erklärten Form und der tatsächlichen, angewandten Form wissenschaftlichen Arbeitens besteht. Das gilt für die Verwendung von Begriffen, für Methodensysteme, theoretische Ansätze, Verfahren usw. Der Hauptgrund für diese Diskrepanz ist in der Kombination von Umständen zu suchen, welche die Situation des gesamten Faches prägen, und die deshalb auch mehrfach in diesem Kapitel behandelt werden: Ein immer nochjunges Fach, das seinen Standpunkt noch sucht und sich in einer außergewöhnlichen gesellschaftlichen Situation befindet (die zudem für seine Neukonstitution wesentlich verantwortlich ist), sieht sich mit einem globalisierten "Wissenschaftswettbewerb" konfrontiert. Im internationalen Ungleichgewicht der Soziologien verfügt die festlandchinesische Soziologie über keinen gesicherten ausreichenden eigenen Erfahrungsfundus, auf den sie zurückgreifen kann. Das Ansehen ausländischer Soziologien war von Beginn an sehr hoch und das methodische Werkzeug, zu dem die Theoriebildung ebenso gehört wie empirische Methoden, war aufgrundder besonderen Situation des Faches in der Volksrepublik völlig unzureichend. Bevor ich die Grundzüge des gängigen Methodensystems vorstelle, werde ich zwei Faktoren besprechen, die für die chinesische soziologische Forschungspraxis bedeutend sind: Die Geschichte der festlandchinesischen Soziologie als "Barfußsoziologie" und die gängige Verwendung von Theorie-Enklaven - und ihr Hintergrund. Die Kenntnis dieser beiden Aspekte ist wichtig, wenn man die gegenwärtige chinesische Soziologie verstehen möchte.

3.1

Barfußsoziologie- historischer Hintergrund

Der Soziologe Li Jinghan empfand einen tiefen Mangel, als ihm 1917 während seines Studienaufenthalts in den USA klar wurde, dass in China -offensichtlich ganz im Gegensatz zu anderen Ländern- praktisch keine Sozialdaten zur Verfügung standen (s. Gransow 1992: 74). So wurde Li zu einem der wichtigsten Vertreter der chinesischen Sozialforschung seiner Zeit. Die Ermittlung von Sozialdaten hat inzwischen einen hohen Stellenwert, nachdem die "Gruppe Sozialindex" (Shehui Zhibiao Keti Zu) in der Soziologieabteilung der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften 1987 zum ersten Mal einen internationalen Vergleich von 16 Sozialindex-

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Kriterien erstellt hatte. 33 Auch Lebensstilforscherinnen haben an der theoretischen und methodischen Forschung an einem (Lebensstil-) IndexSystem, als Unterkategorie des Sozialindex, mitgewirkt. Das System eines Lebensstilindex lässt sich vor allem für Prognosen in der Lebensstilforschung nutzen (Wang Yalin 1995: 46). Für das sozialistische China hatte und hat Sozialforschung einen sehr hohen Stellenwert. Der Mangel an Sozialdaten, den der Soziologe Li 1917 empfand, war auch fur Mao Zedong und die chinesischen Kommunistinnen sehr deutlich, und Mao selbst führte über viele Jahre hinweg Untersuchungen durch. Die Sozialforschung hatte sogar gewichtigen Anteil am Sieg der KPCh im Jahre 1949. Das Anliegen der Kommunistinnen war es, die Lage der einfachen Leute, vor allem auf dem Land, möglichst gerrau und umfassend zu kennen, um sie möglichst wirksam zu verbessern und um sie zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen. "No investigations, no right to speak" war die Losung Maos (Wong Siu-lun 1979: 64). Zuvor hatte Fei Xiaotong während seines Londoner Dissertations-Studienaufenthaltes (1936-38) seine Studie Peasant Life in China veröffentlicht (Fei Xiaotong 1939), die seither als Musterbeispiel einer chinesischen Gemeindestudie gilt. 34 Marxistische und nichtmarxistische Sozialforscherinnen waren vom engen Verhältnis zwischen sozialwissenschaftlichem Wissen und politischem Handeln überzeugt. Sie waren bestrebt, mit ihrer Wissenschaft nützliche Arbeit zu leisten (vgl. Wong Siu-lun 1979: 65). In Kapitel 2 habe ich schon gezeigt, dass dies auch heute als eine der wesentlichen Voraussetzungen gilt. Bis zur Wiedereinrichtung der Soziologie wurde fast ausschließlich sehr konkrete Sozialforschung betrieben. Wesentlich war eine direkte Verständlichkeit und Umsetzbarkeit der Untersuchungen und ihrer Ergebnisse. Die Verwaltung definierte die Forschungsfragen; im August 1941 machte eine Resolution des Zentralkomitees Varschläge zur Datensammlung. Zu dieser Politik gehörte auch die Absicht, (sozial forschende) Kader mit der Lebenssituation "ihrer" Leute eng vertraut zu machen, vor allem, indem sie Untersuchungen vor Ort durchführten. Die Sozialforschung war sogar eines von fünf Studienfeldern in der Kaderausbildung und lange Zeit waren Kader die Raupt-Sozialforscherinnen (Wong Siu-lun 1979: 70). So ist es nicht ungewöhnlich, dass die renommierteste soziologische Zeitschrift, die

33 So Zhu Qingfang, Sozialindex-Spezialistin der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, in einem Inverview in Harr Mingmo et al. ( 1998: 17 5). 34 Die chinesische Übersetzung erschien übrigens erst 1986 (Gransow 1992: 122, 132).

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Soziologische Forschung (Shehuixue Yanjiu), die Nachfolgerirrzweier verwaltungsinterner Informationsblätter ist. 35 Schon in den ersten Jahren der Volksrepublik gab es Auseinandersetzungen um zwei unterschiedliche Konzeptionen, die Wong die direkte und die indirekte Methode nennt (ebd. 73). Vertreterinnen der indirekten Methoden verfolgten das Ideal oder gar das Ziel der vollständigen Erfassung relevanter Sozialdaten. Relevant waren Daten, wenn sie der zentralen Planung dienten. Die indirekte Methode arbeitete mit Fragebögen und Statistik. Vertreterinnen der direkten Methode waren dagegen der Meinung dass der Kontakt zum Geschehen vor Ort relevante Erkenntnisse (die der Entwicklung dienten) hervorbringen konnte. Die direkte Methode arbeitete häufig mit der repräsentativen Untersuchung (dianxing diaocha). 36

In Anlehnung an das berühmt gewordene Konzept der Barfußärzte, das daflir sorgen sollte, dass mit einfachsten Mitteln der Ausbildung und Ausstattung eine großflächige medizinische Versorgung gewährleistet wurde, möchte ich hier von einer großflächig funktionierenden Barfußsoziologie sprechen. 37 Am Beispiel der repräsentativen Untersuchung möchte ich das konkrete Forschungsvorgehen bzw. die Fallsituation dieser Barfußsoziologie vorstellen, deren Funktionsweise mit dem oben beschriebenen Prinzip der sozialforschenden Kader gewährleistet wurde. Wong beschreibt die methodischen Vorgehensweise bei der repräsentativen Untersuchung (Wong Siu-lun 1979: 73-75): 1. Auswahl des Modells, also der zu erforschenden Einheit, unter Berücksichtigung des Durchschnitts sowie des "Entwicklungsstandes", flir den sich die konkrete Untersuchung interessiert. 2. Erarbeitung eines vorläufigen Forschungsplans. 3. Befragungen; das waren Expertinnenratschläge 38 , teilnehmende Beobachtung und Befragungen von zu Erforschenden. 35 Siehe hier, Teil II, Fußnote I. 36 Wong nennt sie "Modellforschung" (",model' research" und ",model' method" [1979: 73 und 74]). Zur repräsentativen Untersuchung in der heutigen chinesischen Soziologie siehe die Große Chinesische Enzyklopädie 31f. und Lin!Wang 2000: 43. 37 Das politische Prinzip, das hinter dieser Barfußsoziologie steht, nennt Wong "the partisan principle" (Wong 1979: 67). 38 Das ist eine Versammlung, in der Expertinnen (i.S. des Expertinneninterviews, also Menschen, die in irgendeiner Form mit dem beforschten Thema befasst sind oder zu tun haben) diskutieren und berichten. Diese Standpunkte und Daten werdenaufgenommen (s. Wong Siu-lun 1979: 65 und Kapitel 3 insgesamt). Zum Expertinnenratschlag (zuotanhui) in der gegenwärtigen chinesischen Soziologie s. Yu Zhen- Da Baike 1991 a: 509f.

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DIE SOZIOLOGIE VON REFORM UND ÖFFNUNG

Wong streicht heraus, dass nach Kriterien westlicher Soziologien die Subjektivität und die fehlende Repräsentativität bei dieser Methode auffallen. Er zitiert die Wissenschaftlerln Yang Po, die folgende Vorteile herausstreicht: Diese Methode ist 1. bequem, ökonomisch und aktuell, 2. die Daten sind detailliert und lebendig und 3. neue Entwicklungen werden auf diese Weise gut erfasst (Wong Siu-lun 1979: 75). In Bezug auf die Forschungsberichte wird erneut die Popularitätsdoktrin (s. 2.2.1) deutlich: Tm Wesentlichen wird das allgemeine Publikum angesprochen, nicht Fachkreise. Es gibt praktisch keine Fußnoten und Anmerkungen. Eine klare, einfache Sprache und die Kürze der Berichte fallen auf. Alle, die des Lesens mächtig sind und sich in einer dem Forschungsfall ähnlichen Situation befinden, können von den Untersuchungen profitieren. Die Untersuchungsberichte bieten meist direkte Lösungsvorschläge und Handlungsalternativen an. (Vgl. Wong 1979: 76f.) Welche Rolle spielt heute diese "Barfußsoziologie"? Lassen sich ihre Vorteile erhalten und ausbauen? Auf der populärwissenschaftlichen Ebene, als Methode einer flächendeckenden, jeweils aktuellen Erfassung und Beobachtung von Entwicklungen sowie auf der professionalisierten Ebene, als soziologischer "Trend-Scout"? Ließe sich eine exportierfähige spezifische Form der Sozialforschung daraus entwickeln? Oder wird sie unter die Räder der Modernisierung gelangen und ein weiteres Opfer der Verwestlichung werden? Weiter unten (3 .4) zeige ich, dass die chinesische Soziologie ihre traditionellen Forschungsmethoden heute in einem neuen Licht betrachtet und diese noch und wieder verwendet. Das steigende Niveau der Forschungsmethoden und die Professionalisierung der Forschung können manche traditionelle Methode zwar gefährden, aber auch neu beleben und verbessern.

3.2

Theorie-Enklaven

Als Theorie-Enklaven bezeichne ich im Folgenden Argumentationsweisen und Verfahrensbeschreibungen, die nicht schlüssig aus der Logik eines betreffenden Textes folgen, sondern entliehen, also "von außen" eingefUgt sind. Dabei ist nicht die Übernahme von Ideen und Argumenten problematisch, sondern der Umstand, dass diese zwar angeflihrt und- eventuellzitiert werden, ohne dass aber eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet und ohne dass sie inhaltliche Wirkung hätten. Oft widerspricht die Logik von Theorie-Enklaven sogar der Logik bestimmter Argumentationen, Analysen usw. Theorie-Enklaven sind häufig Definitionen und Modelle aus ausländischen Soziologien. Dann werden Begriffe, Methoden usw. definiert, aber nicht mit der konkreten Forschungsfrage verknüpft,

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erläutert und getestet; es werden keine Verknüpfungen hergestellt, die etwa eine Geschichte oder Bedeutung in der eigenen Wissenschaft oder Gesellschaft hätten oder die in einem gängigen wissenschaftlichen Verfahren bekannt sind. Vielmehr stammen dann Erläuterungen, Belege usw. meistens ebenso aus anderen Studien. Die Theorie-Enklaven können einem fachfremden Bereich entliehen sein, beispielsweise der Politik; sie leisten keinen Beitrag zur Erhellung des Forschungsthemas, stiften aber in der Regel auch keine Verwirrung, sofern sie als Theorie-Enklaven erkannt werden. Die Gründe für ihre Verwendung können sehr vielfaltig sein: Die Forscherirr ist beeindruckt von einer Theorie oder These und möchte auch ihre Fachwelt beeindrucken oder die Autorirr legitimiert ihre Arbeit gegenüber der Politik, der Fachwelt, Geldgeberinnen. Die Verwendung einer lange gängigen Theorie-Enklave in der festlandchinesischen39 Soziologie zeigt eine fallende Tendenz: Das Zitieren sinomarxistischer Texte, sehr häufig aber von Marx und Engels, war lange Zeit üblich und einmal mehr, einmal weniger passend. Ohne eine Aussage über den gegenwärtigen Stellenwert marxistischer und sinomarxistischer Thesen und Theorie und ihrer Logiken zu machen, ist festzustellen, dass diese Art der Theorie-Enklaven, also von unvermittelt und ohne inneren Zusammenhang auftretenden Zitaten, weitgehend aus theoretischen soziologischen Texten verschwunden ist. Gegenwärtig ist häufiger die Verwendung fachinterner Theorie-Enklaven üblich. 40 Ich möchte dieses Phänomen anhand zweier Beispiele erläutern, der Verwendung eines -offensichtlich fremden- soziologischen Begriffes und der Einführung und Diskussion einer empirischen Analysemethode. Obwohl die Übernahme von Fachbegriffen aus anderen Soziologien gang und gäbe ist, fehlt in der festlandchinesischen Soziologie häufig eine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen. In der Konsequenz ist ihre Verwendung oft nicht systematisch und konstant oder die Begriffe werden zwar eingeführt und definiert, dann aber nicht verwendet. Beispiel Gruppe und soziale Gruppe: Die Definitionen von sozialer Gruppe und ihre Abgrenzung zu Gruppe in den von mir gesichteten soziologischen Lehrbüchern,

39 Allerdings klagen auch in Taiwan viele Sozialwissenschaftlerinnen übereine

blinde - und oft ungeeignete - Methodenadaption und Theorieübertragung aus dem Ausland (sehr häufig aus den USA). 40 Beispiele zu Marx und Engels s. Teil III, 5.2. Aufheute gängige TheorieEnklaven wird, neben den Beispielen unten, im gesamten Text hingewiesen, s.a. zur Individualisierung Teil I, Teil III, 5.4.2.1, sowie Feng/Yi 2000: 115.

90

DIE SOZIOLOGIE VON REFORM UND ÖFFNUNG

Lexika, Monographien und Beiträgen stimmen im Großen und Ganzen überein und entsprechen außerdem gängigen Definitionen in deutsch- oder englischsprachiger Literatur. Diese Unterscheidung von Gruppe und sozialer Gruppe wird aber nicht relevant. Obwohl also die Definition der sozialen Gruppe und ihre Abgrenzung von der Gruppe üblich ist, ist in der Regel weder die soziale Gruppe noch diese Unterscheidung in den Texten, außerhalb dieser Definitionen, anzutreffen (s. z.B. bei Li Yingsheng et al. 1995: 240 oder Wang Yalin 1995: 45f.). Der Grund ist u.a. darin zu sehen, dass die Gruppe sowohl im klassischen chinesischen Denken als auch im Sinomarxismus eine völlig andere Geschichte und Bedeutung hat (vgl. Teil I und Teil III). Hinzu kommt, dass die Erfindung des Begriffes der sozialen Gruppe in der Soziologie nicht nur eine Konkretisierungsfunktion, sondern auch eine Abgrenzungsfunktion -nämlich von der Alltagssprache -erfüllt. Soziologinnen, die die Bezeichnungen Gruppe und soziale Gruppe verwenden, sollten deshalb nicht nur sorgfältig in ihrer Verwendung sein, sondern sich offen mit der traditionellen und alltagssprachlichen Verwendung auseinander setzen, um sich und den Leserinnen die eigene Position und den Grund für die Einführung des Begriffes deutlich zu machen. Dann kann die Einführung des Begriffes der sozialen Gruppe fruchtbar sein, andernfalls verkommt sie zur Kosmetik. Eine Diskrepanz in Definition und Verwendung ist leider häufig anzutreffen. Solche Begriffe - oder auch Theorien - haben dann "keine Vitalität", wie es in einem Tagungsbericht heißt (Qing Du 2000: 125), weil sie nicht in der chinesischen Wirklichkeit verankert sind. Oder weil ihnen -mit ihrer Verwendung- eine Funktion zugeschrieben wird, die sie dann nicht erfüllen. Eine teilweise ähnliche Diskussion gab es schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obwohl- oder vielmehr weil- zu jener Zeit Fragestellungen und Begrifflichkeiten ausländischer Soziologien eine große Rolle spielten, sahen es viele Soziologinnen als ihre Aufgabe an, für China charakteristische soziologische Begriffe zu bilden und so eine "erdverbundene Soziologie" zu entwickeln. 41 Der Methodenexperte Feng Xiaotian erläutert in seinem Buch Soziologische Forschungsmethoden in Kapitel 9, Dokumentenanalyse, die verschiedenen Typen der Dokumentenanalyse 42 und deren Verfahrens weisen. 41 Der bedeutende chinesische Soziologe Fei Xiaotong veröffentlichte 1947 ein Buch mit dem Titel Erdverbundenes China (Xianttu Zhongguo - nicht zu verwechseln mit dem englischsprachigen Buch mit dem Titel Earthbound China), das sich mit Begriffen, der Bedeutung von Begriffen und der Begriffsbildung auseinandersetzt (vgl. auch Gransow 1992: 131 ). 42 Die Dokumentenanalyse entspricht weitgehend der empirischen Inhaltsanalyse von Texten.

91

SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Während er mehrere US-amerikanische Studien ausführlich erläutert, um konkrete Verfahrensweisen zu beschreiben, lässt er die gängige, traditionelle chinesische Variante der Textanalyse- kaoju oder kaozheng- unerwähnt (Feng Xiaotian 2001: 217f., passim). Zur Verwendung von Theorie-Enklaven kommt zudem die bisher in der chinesischen Soziologie gängige Verfahrensweise im Umgang mit Belegen, fremden Thesen und Theorien hinzu: Bei diesem bisherüblichen Umgang mit Belegen, fremden Thesen und Theorien werden einzelne Sätze und Abschnitte regelmäßig fast wörtlich übernommen, häufig ohne irgendeinen Hinweis auf die Quelle. Über das wörtliche "Abschreiben" kommt man dann immerhin trotzdem der Hierarchie unterschiedlicher Quellen auf die Spur: So genießt z.B. die Große Chinesische Enzyklopädie (Zhongguo Da Baike Quanshu) offenbar enormes Ansehen und sie ist außerdem ein gängiges, gut erreichbares Nachschlagewerk. Entsprechend wird das Werk sehr häufig "zitiert". Problematisch- und deshalb an dieser Stelle wichtig - ist diese Verfahrensweise vor allem, wenn es sich um fremde Begriffe oder methodische Verfahrensweisen handelt, die sich nur schwer - oder überhaupt nicht - aufdecken lassen. Das kann bei der Rezeption einer Arbeit aufs Glatteis führen. Für die Herausgeberinnen der Soziologischen Forschung (Shehuixue Yanjiu) unterscheiden sich chinesische und westliche Soziologie bzw. Wissenschaften in dieser Hinsicht erheblich, weil es das Ziel der chinesischen Wissenschaft sei, grundlegende Fragen und Wesensfragen zu beantworten, während viele westliche Wissenschaften darauf abzielen würden, Wissen zu akkumulieren. Das rücke auch die Herkunft oder den Werdegang von Informationen und Wissen in den Vordergrund (Jing/Luo 2000: 111 ).

3.3

Das Methodensystem der chinesischen Soziologie

Die chinesische Soziologie kennt - genauso wie die deutsche Soziologie (s. z.B. Wiswede; s.a. Teil I, 2.2.2.1)- eine Vieldeutigkeit des Wortes Methode. So wird die Gesamtheit der in der Soziologie üblichen Methoden, Techniken, wissenschaftstheoretischen Grundlagen, Vorgehensweisen usw. in der deutschen und in der chinesischen Soziologie allgemein als soziologische Methoden oder Methoden der Soziologie (shehuixue fangfa) gefasst. Als Oberbegriff, derdie einzelnen, z.T. sehrunterschiedlichen Bestandteile soziologischen Arbeitens umfasst, ist in der chinesischen Soziologie auch die Bezeichnung Methodensystem (fangfa tixi) bekannt. Das Methodensystem wird aber selten so deutlich und systematisch hervorgehoben wie

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DIE SOZIOLOGIE VON REFORM UND ÖFFNUNG

bei Wang Hongbo (1999: 39), aber vor allem bei Feng Xiaotian (2001: 6; s.u.). Methode (fangfa) kann- je nach Zusammenhang- jeden einzelnen derverschiedenen Bestandteile des Methodensystems bezeichnen. Deshalb werden konkrete Forschungstechniken (wie Interview, teilnehmende Beobachtung usw.), für die ebenso die Bezeichnung Methode zulässig ist, auch mit der Kurzbezeichnung fur Methode, Mittel oder Weise (fa) bezeichnet. Die Verwendung des Wortes Methode in beiden Soziologien ist im Wesentlichen deshalb diffuse und unsystematisch, weil die Auseinandersetzung mit Theorien bzw. mit (Forschungs-) Methoden häufig in "zwei Lagern" geschieht (Feng Xiaotian 2000: 10; Zingerle 2002: 193). Wer intensiv empirische Forschung betreibt, also Forschungsmethoden anwendet, ist häufig weniger an einer eingehenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema interessiert und wer Forschungsfragen auftheoretischer Basis diskutiert, ist häufig nicht so sehr mit der empirischen Durchführung oder Durchführbarkeit vertraut. Entsprechend fehlt das Interesse an einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konzept Methode; es behält seinen alltagssprachlichen Kontext. In seinem Buch über Methoden soziologischer Forschung(2001) klärt und systematisiert F eng Xiaotian die zahlreichen Methoden. Zudem präsentiert er ein System, das zwar ungewohnt, aber analytisch erhellend und gewinnbringend ist (s. Feng 2001: 6-1 0). Deshalb werde ich im Folgenden näher auf Fengs System eingehen und das Schaubild seines Methodensystems präsentieren.

93

SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Philosophische Grundlagen Logik Methodologie

Form Wert Objektivität

Befragung Grundlegende

Experiment

(Erhebungs-)Arten

Dokumentenanalyse

Methodensystem der

Feldforschung

Gesellschaftsforschung Fragebogenerhebung Interview Beobachtung (Kontroll-)Messung Konkrete Methoden

Stichprobenerhebung

[und] Techniken (Variablen-)Messung Statistische Analyseverfahren Qualitative Verfahren der Datenanalyse Computergestützte Techniken

Abbildung: Methodensystem der Gesellschaftsforschung, aus Feng Xiaotian 2001: 9

94

DIE SOZIOLOGIE VON REFORM UND ÖFFNUNG

Feng Xiaotian teilt das Methodensystem der Gesellschaftsforschung (shehui yanjiu fangfa tixi) in drei Ebenen ein, 1. die Methodologie (fangfalun), 2. grundlegende (Erhebungs-)Arten Uiben fangshi) und 3. konkrete Verfahren (oder Methoden) und Techniken Uuti fangfa [he] jishu). Methodenlehre (fangfalun) enthält das Wort Methode (fangfa), bezeichnet aber ausschließlich wissenschaftstheoretische Grundlagen, deshalb übersetze ich es - analog der geläufigsten Verwendung in der deutschen Soziologie- mit Methodologie. Die Methodologie (Wissenschaftstheorie) gehört übrigens in der chinesischen Soziologie grundsätzlich zu den "Methoden". Somit bildet die Gesamtheit des Forschungsvorgehens, also die wissenschaftslogischen Prinzipien, die Formulierung von Forschungsfragen, Datenerhebungsverfahren und -instrumente und die Analysemethoden, das Methodensystem. 43 Die Methodologie [1.] bildet die logische und philosophische Forschungsgrundlage, also die Standards eines wissenschaftlichen Faches bezüglich seiner Grundsätze, Prinzipien und Methoden. In dem Schaubild führt F eng unter Methodologie grundlegende Prinzipien von Wissenschaft an: philosophische Grundlagen, Logik, Form, Wert, Objektivität (Feng Xiaotian 2001: 9). Bei den grundlegenden (Erhebungs-)Arten [2.] sind die Umfrage bzw. Untersuchung, das Experiment, die Dokumentanalyse und die Feldforschung angeführt. Konkrete Verfahren und Techniken [3.] sind im Forschungsprozess augewandte Verfahren der Datensammlung und -analyse sowie alle speziellen Arbeitsgänge und -techniken, wie die Fragebogen( erhebung), das Interview, die Beobachtung, die (Kontroll-) Messung, die Stichprobenerhebung, die (Variablen-)Vermessung, statistische Analyseverfahren, qualitative Verfahren der Datenanalyse, computergestützte ( ... ) [Analyse]. Die grundlegenden (Erhebungs-)Arten werden- vonFeng und anderen - auch (Forschungs-) Weisen genannt ( {yanjiu} fangshi) ( ebd. 8), die konkreten Verfahren und Technikenheißen häufig auch (Forschungs-)Methoden ( {yanjiu} fangfa). Allerdings ist auch - wie erwähnt - die Bezeichung Methoden für empirische Forschung insgesamt üblich. Entsprechend könnengrundlegende Forschungsmethoden Uiben fangfa) auch grundlegende Forschungsweisen Uiben fangshi) sein.

43 Leider verwirrt Feng die Klarheit seines Modells mit einem logischen Bruch -wenn auch .,nur" in der Form der Darlegung: Im Text führt Feng zwei methodologische Richtungen an, die er als für die Gesellschaftsforschung charakteristisch darstellt, die positivistische und die humanistische Methodologie (ebd. 6f.). In dem dazugehörigen Schaubild führt er unter Methodologie [1.] grundlegende Prinzipien von Wissenschaft an: philosophische Grundlagen. Logik, Form. Wert, Objektivität (ebd. 9).

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SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Die Trennung dieser drei Ebenen, vor allem die Trennung der zweiten und der dritten Ebene, die in der deutschen Soziologie, bis auf die Dokumentenanalyse, in der Regel als empirische (Sozial-)Forschung oder teilweise als quantitative oder qualitative Methoden zusammengefasst werden, sowie ihre Zusammenflihrung unter das Dach eines Methodensystems wirft ein stärkeres Licht auf die Zusammenhänge zwischen den Ebenen und den Elementen. Wang Hongbo ( 1999) folgt einer grundsätzlich anderen Logik, hat aber mit Fengs System wesentliche Gemeinsamkeiten: Ausgangspunkt ist ein Methodensystem, das alle Bestandteile - in drei Ebenen - umfasst, die Methodologie, grundlegende Methoden der Sozialforschung sowie konkrete Verfahrenstechniken und Verfahrensschritte. Wangs Methodenbegriff ist weiterfUhrend als Fengs; deshalb ist er in mehrere Ebenen und Typen untergliedert. Bei der Entwicklung des Methodensystems der Gesellschaftsforschung seit der Wiedereinrichtung der chinesischen Soziologie ist die Auseinandersetzung mit traditionellen chinesischen und nichtchinesischen Erhebungsarten besonders interessant. Diese stellt sich vor allem als Gegenüberstellung von und Auseinandersetzung mit qualitativen und quantitativen Erhebungsarten dar. Deshalb werde ich darauf im folgenden Kapitel ausführlicher eingehen.

3.4

Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung

Das grundlegende Merkmal soziologischer Forschung, so Wang Hongbo, ist die Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung (Wang Hongbo 1999: 39). Allerdings hat die Anwendung soziologischer Methoden in dieser Beziehung von den 1980er Jahren bis heute praktisch eine Kreisbewegung vollzogen (Feng Xiaotian 2000). Bis zur Wiedereinrichtung der Soziologie war die Gesellschaftsforschung in China überwiegend von qualitativer Forschung bestimmt. Obwohl die traditionellen 44 Methoden in der Anfangszeit der wieder eingerichteten Soziologie weiter-

44 Unter traditionellen Erhebungsarten werden einheitlich einerseits klassische chinesische Erhebungsarten verstanden, die ihren Ursprung im kaiserlichen China haben, sowie andererseits "traditionelle" sinomarxistische Erhebungsarten, wie sie z.B. in den Dorfuntersuchungen Mao Zedongs angewendet wurden (s. zu chinesischen traditionellen Forschungsmethoden z.B. Feng 2000: 2).

96

DIE SOZIOLOGIE VON REFORM UND ÖFFNUNG

hin häufig angewandt wurden, entwickelte sich sehr schnell ein enormes Interesse an quantitativen Methoden aus westlichen Soziologien. Ein regelrechter Empirismus entstand, bei dem US-amerikanische positivistische Methoden einen sehr großen Einfluss hatten (s. auch Jing/Luo 2000: 120). Das war möglich, indem nur der Theorie, nicht aber den Methoden ein Klassencharakter zugeschrieben wurde. "Westliche soziologische Theorien kann man [aufgrund des Klassencharakters, DS] nicht nehmen, aber ihre Methoden sind fortschrittlich." (Feng Xiaotian 2000: 1)45 So waren (westliche) quantitative Methoden in den ersten Jahren derwieder eingerichteten Soziologie einfach "en vogue". Zu den verwendeten Methoden gehörten Stichprobenerhebungen, statistische Analysen und vor allem Fragebogenerhebungen; Feng spricht von einem regelrechten "Fragebogenfieber" (wenjuan re) (ebd. 3; s.a. Lin/Wang 2000: 44). Dagegen galt vielen dietraditionelle -qualitative Forschung als unwissenschaftlich. Zudem waren das Forschungsziel die großen Untersuchungen, die dann auch charakteristisch wurden fur die 1980er Jahre. Somit waren die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen von der Mitte der 1980er Jahre an statistische Untersuchungen, im Wesentlichen Fragebögen (Lin/Wang 2000: 44). Dabei wurden in großem Umfang große Gruppen (Jugendliche, Alte, Intellektuelle, Frauen) untersucht und das Interesse richtete sich besonders auf die Städte. Die Qualität dieser Studien ließ allerdings zu wünschen übrig; in den 1990er Jahren haben das viele Soziologinnen beklagt. Zu dieser Zeit begann auch die Diskussion über die Begrenztheit quantitativer Forschungsmethoden. Kritik am Positivismus (sie!, als Methodologie, als theoretische Grundlage) und an der Wissenschaftsgläubigkeit und daraufhin auch Kritik an europäischen Gesellschaftstheorien und wissenschaftlichen Methoden rückte qualitative Forschungsmethoden und ihre Nutzung in ein neues Licht (Lin/Wang 2000: 45). Bald sollten die so verschmähten qualitativen Methoden diesmal die quantitativen Methoden auf einer ganz anderen Ebene wieder herausfordern (Feng Xiaotian 2000: 1). Aus dieser besonderen Geschichte erschließt sich der oben angeführte Ausspruch Wang Hongbos, dass das grundlegende Merkmal soziologischer Forschung die Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung sei. Obwohl der US-amerikanische Empirismus auch die europäischen

45 Feng lässt diese Thesen unkommentiert, bzw. er scheint sie zu teilen. An anderer Stelle vertritt er aber eine andere Auffassung, wenn er betont, dass Theorien und Methoden eng miteinander verbunden sind und zueinander gehören (Feng Xiaotian 1999: 122).

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Sozialwissenschaften beeinflusste46 (so, wie auch die US-amerikanische qualitative Forschung einen starken Einfluss ausübt), ist die europäische mit der besonderen chinesischen Situation nicht vergleichbar. Daraus erklärt sich weiterhin die These Wangs, dass die quantitativeForschungdie qualitative Forschung vertieft (Wang Hongbo 1999: 39; so auch Yu Zhen - Da Baike 1991: 33). 47 In den 1990er Jahren dominierte deshalb die Ansicht, dass die Vogelperspektive nicht mehr ausreiche (Lin/Wang 2000: 45). Westliche Methoden unreflektiert anzuwenden sei nicht mehr, als sich "einen Pelz anzuziehen", d.h. sich ein Halbwissen anzueignen, das nicht mit der eigenen Praxis und mit den eigenen Lebenserfahrungen in Verbindung gebracht wird (s. Feng Xiaotian 2000: 2). Welche traditionellen- qualitativen- Verfahren wurden in dieser Zeit angewandt? In den 1980er Jahren waren das vor allem die repräsentative Untersuchung, die Einzelfalluntersuchung, der Expertinnenratschlag und das nichtstrukturierte Interview, die zusammen mit schon vorhandenen statistischen Daten ausgewertet wurden (Feng Xiaotian 2000). Analog zur bevorzugten Verwendung quantitativer Verfahren in den Städten und zu Fragen moderner Lebensstile war das Feld der traditionellen qualitativen Forschungsmethoden das Land und ländliche Gemeinschaften (ebd. 2f.). 48 In den 1990er Jahren fielen nach und nach einige starre Grenzen; das Interesse an Methoden westlicher Sozialwissenschaften beschränkte sich nicht mehr nur auf quantitative Studien, die Grenze zwischen theoretischer und methodischer Forschung wurde in Frage gestellt, die Grenze zwischen "gut" und "schlecht", "richtig" und "falsch" war nicht mehr so einfach und von vornherein vorgegeben. Neue Methoden wurden diskutiert und ausprobiert, wie die Befragung von Fokusgruppen, die Inhaltsanalyse oder die soziale Netzwerkanalyse. Die Umfrageforschung blieb aber die meistbeachtete Erhebungsart. In einer Untersuchung von Forschungs berichten, die zwischen 1986 und 1996 in der Soziologischen Forschung veröffentlicht wurden, zählten 63,4 %der Artikel zur Umfrageforschung, Berichte auf der Grundlage von Feldforschung nahmen 29,6 %ein, die- traditionelle- Form der Dokumentenanalyse fand nur in 7% der dort veröffentlichten Untersuchungen Anwendung (Feng Xiaotian 2000: 3). Diese Be-

46 S. dazu beispielsweise Ritzer 1998. 47 Deutsche Sozialforscherinnen außerhalb des Bereiches qualitativer Ansätze würden wohl die gegenteilige These aufstellen. 48 Es wäre aus vielerlei Perspektiven - methodologisch, wissenschaftstheoretisch, historisch usw. -hochinteressant und vielversprechend, diese Forschungspraxis näher zu untersuchen, in der die Elemente traditionell - modern, Land - Stadt, nicht-chinesisch - chinesisch, quantitativ - qualitativ schon im Vorfeld so sorgfältig ausgewählt und verteilt wurden.

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liebtheit und Bevorzugung, besonders von Fragebogen-Umfragen, war auch zum Ende des Jahrtausends ungebrochen (ebd. 4; s.a. Teillll).

4. Die Chinesische Besonderheit (Zhongguo tese). Sinisierung und Globalisierung der Soziologie? Was heißtSinisierung? Sinisierung, also das Anpassen an den chinesischen Charakter, die Gegebenheiten und Erfordernisse Chinas ist ein Begriffund Symbol, das vor allem in intellektuellen wissenschaftlichen und politischen Diskursen eine lange und bedeutende Tradition hat. Der Ausdruck findet in den verschiedensten Bereichen Anwendung und muss entsprechend jeweils konkretisiert werden. Die lange Geschichte der Sinisierungsforderungen bilden bei seiner Verwendung aber stets den Hintergrund. In den folgenden Kapiteln werde ich einige dieser Diskurse und ihre Bedeutung für die Soziologie darlegen und zeigen, dass es eine Sinisierung der Soziologie nicht geben kann, weil es "die" Soziologie nicht gibt. Zum einen ist Sinisieren ein technischer Begriff. F eng Xiaotian sieht in der "Sinisierung von Forschungsmethoden" die Aufgabe, die Brauchbarkeit und Begrenztheit jeder soziologischen Forschungsweise und Forschungsmethode in Bezug auf die chinesische Gesellschaft und Kultur gerrau zu untersuchen (Feng Xiaotian 2000: 10f.). Dies ist ein Grundsatz, der in allen Bereichen und Fragen -auch außerhalb Chinas in Bezug auf andere Gesellschaften- sehr sinnvoll ist, wenn er sich auch faktisch nicht (vollständig) realisieren lässt. Für Gransow besteht der Kern der Sinisierung der Soziologie in der Bildung soziologischer Strategien, d.h. "in Form der Entwicklung von Strategien des gesellschaftlichen Umbaus, wozu westliche Gesellschaftstheorien und Methoden der empirischen Sozialforschung ,gegen den Strich' ihrer eigenen Entstehung und Bedeutung rezipiert werden." (Gransow 1992: 17). Die Frage nach der Implementierung fremder Theorien und Methoden bzw. der Sinisierung der chinesischen Soziologie ist aus historischer Sicht sehr wichtig; viele Diskussionen und Hintergründe der heutigen Soziologie können nur nachvollzogen werden, wenn diese Frage berücksichtigt wird. Darüber hinaus sind diese Diskussionen auch heute hochaktuell. Das folgende Kapitel befasst sich in einer knappen Skizzierung von vier "Sinisierungsphasen" mit den historischen Sinisierungsdebatten und ihrem Zusammenhang.

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4.1

Vier Phasen der Auseinandersetzung für die chinesische Soziologie

Die Auseinandersetzung mit nichtchinesischen Theorien, Ansätzen und Strömungen, die neben anderen wichtigen Stationen wesentlich fur die Soziologie und das Selbstverständnis des Faches sind, lässt sich in vier Phasen einteilen. Man kann das Fazit ziehen, dass sich die Soziologie seit Beginn dieser Auseinandersetzungen Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich aus nationalen und internationalen Elementen zusammensetzt. 1. Phase: Das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkommende Interesse für die Soziologie entwickelte sich unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen der Intellektuellen zur Frage der Rolle westlicher Elemente (Wissenschaft, Demokratie) bei der Gestaltung der Zukunft des Landes. Seit den Opiumkriegen in den 1840er Jahren sah sich China der Gewalt und Bevormundung durch westliche Länder ausgesetzt. Hier setzte ein Vergleich ein, der stark von dem Gegensatz von Unterlegenheitsgefuhlen und Überlegenheitsgefühlen geprägt war. In diese Zeit gehört auch die 4.-Mai-Bewegung (1919), die Symptom und Symbol für die enge Verschränkung von Politik und Forschung für die Intellektuellen ist. In dieser Zeit, bis in die 1930er Jahre, befand sich die chinesische Soziologie in den Anfängen (vgl. Li/Wang 1999: 15). Sie war stark geprägt von diesen Auseinandersetzungen. Die erste Generation qualifiziert ausgebildeter chinesischer Soziologlnnen war in "ihren Zielsetzungen (... )geprägt von der, Vätergeneration' der Reformer von 1898, in ihren Auffassungen über den richtigen Weg zur Erneuerung der chinesischen Gesellschaft beeinflußt von den intellektuellen Kontroversen, die im Anschluß an die 4.-MaiBewegung 1919 geführt worden waren" (Gransow 1992: 16f., ZitatS. 17). 2. Phase: Aufbauend auf den Arbeiten seines Lehrers Wu Wenzao entwickelte Fei Xiaotong, einflussreichster Soziologe Chinas, seinen Ansatz einer charakteristischen chinesischen Sozialforschung. Sein System einer Soziologie und Sozialforschung, die für die charakteristische Situation Chinas entwickelt wird, wird häufig mit dem Namen erdverbundenes China bezeichnet (Fei veröffentlichte zwei unterschiedliche Bücher mit diesem Titel: Earthbound China, 1945, undXiangtu Zhongguo, 1947). Wie viele andere hatte er das Ziel, eine "Chinese school of sociology" mit zu entwickeln (s. Gransow 1992: 121 ), also die Sinisierung der Soziologie zu betreiben. Fei Xiaotongs Gemeindestudien sind fur die weiteren Entwicklungen und Diskussionen maßgebend (s. Gransow 1992: 122, 132).

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In den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts (die 30er Jahre zählt Gransow zur Blütezeit der chinesischen Soziologie, die sich zu der Zeit mit Westeuropa und Nordamerika maß) gab es eine Vielzahl soziologischer Schulen, von denen sich wiederum eine Vielzahl intensiv mit qualitativen und quantitativen Untersuchungen beschäftigten, die allesamt (so Gransow) eine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation und der sozialen Lagen in China zum Ziel hatten. Darunter sind Fei Xiaotongs Gemeindestudien und Mao Zedongs Dorfuntersuchungen, die aus einer Vielzahl von Gründen -gerade auch politischer und ideologischer Artwohl zu den am meisten zitierten gehören. 49 Neben den Untersuchungen Fei Xiaotongs sind, aus fachlicher und aus methodischer Sicht, die Studien Li Jinghans und Chen Harrshengs für die weitere Entwicklung und Rezeption in der Soziologie sehr wichtig. In dieser Zeit war die soziologische Forschung von der marxistischen Theorie geprägt; der Marxismus spielte beim Projekt der Sinisierung der Soziologie eine wesentliche Rolle. In den Anfangsjahren der Volksrepublik war Sinisierung der Soziologie für viele gleichbedeutend mit der Verknüpfung von Marxismus einerseits und der konkreten Situation in China andererseits (vgl. Li/Wang 1999: 17f.). Gleichzeitig wurden die Untersuchungen und Forschungen, die auf Maos strategische Befragungen in den Befreiten Gebieten um 1930 zurückgingen, als Mittel ideologischer Massenerziehung eingesetzt (Gransow 1992: 149). "Die Darstellung ,soziologischer Strategien' macht deutlich, daß es unter dem Aspekt der Sinisierung westlicher Sozialwissenschaften keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Sinisierung des Marxismus und der Sinisierung anderer westlicher, sich universal verstehender Gesellschaftstheorien gab" (Gransow 1992: 19). Das entspricht dem Standpunkt der stark sinomarxisitisch geprägten chinesischen Soziologie - und es entspricht ihm auch nicht. Die Abgrenzung nach außen- auch gegenüber 49 Gransow ( 1992: 90) beschreibt die Sichtweisen, nach denen Mao Zedongs Forschungen eingeordnet werden können und eingeordnet worden sind: zum einen als nützlich für die "Konstruktion sozialethischer Modelle (... ) die als Richtschnur für die politische Arbeit dienen" soll; zum anderen als unbrauchbar aus der Sicht einer analytischen Wissenschaft im westlichen Sinne. In der chinesischen Sozialforschung wurden sie vor allem als sozialethische Modelle rezipiert, teilweise aber auch als Forschnngsvorgaben. Mit dieser Gransowschen Bezeichnung von "nützlich" aber "unbrauchbar" wird ein wichtiger Unterschied im Verständnis der chinesischen und nichtchinesischen Mainstream-Forschungen deutlich. Was das für die chinesische Soziologie bedeutet, untersuche ich aus verschiedenen Blickwinkeln in den Kapiteln zum Verhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, zu methodischen Fragen und zur angewandten Forschung.

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der Sowjetunion- war fast immer ein wichtiger Faktor der chinesischen Politik. Vom Standpunkt sozialwissenschaftlicher Forschung waren z.B. Maos Dorfuntersuchungen eine wesentliche Sinisierung marxistischer stadtzentrierter Sozialforschung. Der Blick auf "chinesische Charakteristiken", die Sinisierung des Marxismus war zudem keine Erfindung der chinesischen Marxisten odervon Mao Zedong, vielmehrwurden auch dort "traditionelle" Strategien und Sichtweisen, wie sie für die erste Phase beschrieben wurden, fortgeflihrt. Andererseits ließ die Berücksichtigung "chinesischer Charakteristiken" nur sehr eingeschränkte Interpretationen zu. Die chinesische Soziologie wird als "sozialistische Soziologie" dargestellt, die unter den Leitideen sinomarxistischer Theorien arbeitet. In den 1960er Jahren hieß Sozialforschung, dass "[a ]Hein die Traditionen der Maoschen ,Untersuchungen und Forschungen' ( ... ) wieder aufgegriffen [wurden]: sie dienten ( ... ) einer KP-zentrierten Sozialgeschichtsschreibung". Nach der Wiederzulassung der Soziologie wurde mit "der Rolle des Historischen Materialismus ( ... ) die Frage der Existenzberechtigung des Faches aufgeworfen, die Beiträge zum Nachweis einer marxistischen Traditionslinie in der chinesischen Soziologie dienten entweder der Absicherung des Faches oder seiner inhaltlichen Kontrolle" (Gransow 1992: 133). 3. Phase: Mit der Wiedereinrichtung des Faches Soziologie im Jahre 1979 werden - erneut- Begriffe und Methoden aus ausländischen Soziologien - aus der Sowjetunion, Japan, den USA und westlichen Ländern übernommen. Dabei werden fast "unbemerkt", dieser Eindruck entsteht manchmal, eigene Begriffe, Theorien und Methoden entwickelt. Die vorliegende Arbeit diskutiert anhand von zwei Beispielen diese Wechselwirkung von chinesischen und nicht-chinesischen Begriffen, Theorien und Methoden in der Soziologie. Zum einen anhand der Entwicklung der empirischen Forschung in den nun knapp 25 Jahren seit ihrer Wiedereinrichtung (Teilll, 3.4); zum anderen- und wesentlich ausführlicher-anhandder Geschichte der soziologischen Lebensstilforschung (Teil III). 4. Phase: Mündet die Auseinandersetzung mit nicht-chinesischen Theorien, Ansätzen und Strömungen in eine Globalisierung der chinesischen Soziologie?50 Das ist anzunehmen. Der internationale Austausch mit Forschung und Forscherinnen aus China, der seit Jahren stattfindet, bildet dafür eine gute Ausgangslage und wird vom Erstarken der Globalen

50 Eine Globalisiernng der (chinesischen) Soziologie würde einen gegenseitigen produktiven Austausch soziologischer Forschung (d.h. eines Teils der soziologischen Forschung) weltweit bedeuten.

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Chinesischen Kultur (Schirmer 2000) deutlich unterstützt. Für die Wissenschaftlerinnen bedeutet der Einfluss der Globalen Chinesischen Kultur, dass sich Forscherinnen aus der VR China mit chinesischen und "chinesischstämmigen" Wissenschafterinnen aus allen Teilen der Welt häufig enger verbunden fuhlen als mit nicht-chinesischen und dass dies immer häufiger die Suche nach gemeinsamen (wissenschaftlichen) Grundlagen beinhaltet (vgl. Chen Xianda 1999). Dazu gehört auch der Einfluss des Neuen Konfitzianismus (Li Youzheng 1997) oder Ko'?fitzianischen Kapitalismus auf die Soziologie in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. 51 Schmutz ist der Meinung, dass die Aufsplittung der chinesischen Soziologie(n), die zuvor den westlichen Soziologien in den 1930er und 40er Jahren ebenbürtig war, diese marginalisiert hat. Diese Aufsplittung, die eine Folge verschiedener Phasen wirtschaftlicher und politischer Landflucht war, schuf anfanglieh drei chinesische Soziologien- die Festlandchinas, die Taiwans und die der chinesischen Diaspora in den USA -, die jede sehr in ihrer jeweils dominierenden Situation gefangen waren. In der Volksrepublik war das die Vorherrschaft des politisch-ideologischen Standpunktes, in der US-amerikanischen Soziologie deren spezifischer wissenschaftlicher Standpunkt, der dafür sorgte, dass sich nur gleichgeschaltete Wissenschaft sichtbar machen konnte (Schmutz), in Taiwan schließlich einfach mangelndes internationales Interesses flir eine taiwanesische Soziologie. "On peut penser", so Schmutz, "que !es Chinois ne joueront un roJe particulier dans !es etudes sur Ia societe chinoise que si !es conditions sur Je continent evoluent dans Je sens de l'ouverture et laissent a Ia sociologie chinoise Ia possibilite de renouer avec son prestigieux passe" (Schmutz 1993: 183). Erst die Ära von Reform und Öffnung also bedeuten flir die (gesamte) "chinesische Soziologie" die Chance, ihre alte Größe wiederzuerlangen. Tatsächlich gibt es inzwischen immer mehr Anzeichen dafur, dass sich ihre einzelnen Teile an diesen politischen und kulturellen Bruchstellen wieder zusammenfügen. Bisher ist die chinesische Soziologie im Westen bzw. in Deutschland ausschließlich in den Kreisen der China-Interessierten und China-Forscherinnen relevant, aber nicht darüber hinaus. Bei diesen hat sich mit der Wiedereinführung der Soziologie in der Volksrepublik naturgemäß ein deutlicher Aufschwung des Interesses an dieser Fragestellung gezeigt. 52 Allerdings bezieht sich das, was die Soziologie insgesamt angeht, fast

51 S. HouN ang 1996; Tu Wei-ming 1996; Chen Xianda 1999; Chang King-Yu 1990; auch Li Youzheng 1997. 52 Vgl. Schmutz 1993: 127-131.

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ausschließlich auf die historische Perspektive. 53 Darüber hinaus ist die Soziologie als Fach nicht von Bedeutung, sondern es werden lediglich einzelne Forschungsarbeiten oder Fragestellungen rezipiert. Naturgemäß konzentrieren sich die Arbeiten zur Soziologie in den 1980er Jahren auf den historischen Hintergrund -das "neue" Fach bietet noch kaum Material, obwohl auch in der Zeit vor der Wiedererrichtung der Soziologie soziologische Fragestellungen erforscht wurden. Zwei ausgezeichnete westliche Arbeiten zur Geschichte und Forschung der chinesischen Soziologie stammen von Wong Siu-lun ( 1979) und von Bettina Gransow (1992). Insgesamt ist das Interesse an festlandchinesischen Forschungsansätzen und -methoden aber mehr als gering und die chinesische Soziologie wird, wenn überhaupt, wesentlich als Forschungsobjekt und nicht als Forschungssubjekt wahrgenommen. Dennoch wird insgesamt das Verhältnis der chinesischen zu ausländischen Soziologien und zur internationalen Soziologie immer fruchtbarer, nachdem das Fach in der Volksrepublik China wieder einen eigenen "Standpunkt" entwickelt.

4.2

Fazit- Sinisierung der Soziologie oder chinesische Soziologie?

Das Wort Sinisierung besagt, dass etwas an chinesische Verhältnisse angepasst, auf sie zugeschnitten wird. Das impliziert, dass dieses Etwas nicht chinesisch ist. Wissenschaft hat aber keinen Ursprung in einer Zivilisation oder Nation. 54 Das heißt, sie ist keine identische Eigenschaft z.B. des christlichen Abendlandes, sondern sie hat höchstens eine prägende Wirkung an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten erfahren. Die Bezeichnung Soziologie, ihre Bedeutung(en) und das wissenschaftliche Fach wurden in Europa begründet. Das Fach Soziologie wird in der VR China deshalb als aus dem Westen kommend begriffen (vgl. z.B. Li/Wang 1999: 19; Shiji Jiyu 2001: 1), westliche Soziologien haben einen erheblichen Einfluss auf das Fachverständnis in China. Aus diesem Grund ist fur Liu Zejun et al. die Entwicklung der chinesischen Soziologie gleichbedeutend mit der Sinisierung der Soziologie (Liu Zejun et al. 1998: 8). Die Entwicklung der empirischen Forschung nach der Wiedereinrichtung des Faches, so wie sie im vorigen Kapitel beschrieben ist, ist eines von vielen Beispielen. Jin Yaoji, einer der "Sinisierungstheoretiker" Taiwans, war- wie viele andere auch - der Meinung, dass es keine genuin chinesische Soziologie

53 Wong Siu-lun 1979- aus nahe liegenden Gründen-, Gransow 1992 oder Schmutz 1993. 54 Genauso wenig wie z.B. Kapitalismus.

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geben kann, höchstens eine Soziologie, die den sozialkulturellen Charakter Chinas mehr oder weniger widerspiegelt (Jin Yaoji 1982: 113, zitiert in Gransow 1992: 192). Tatsächlich ist die Geschichte einer Wissenschaft, ihr Werdegang, für ihre Inhalte und für ihre Rezeption von großer Bedeutung, allerdings gehört ihre Rezeption auch (bald) zur Geschichte und verändert sie also. Theorien, die ja immer stark von ihrer Zeit geprägt sind, wie die von Marx, von Engels, von Comte oder Durkheim, beeinflussen die Art und Weise, wie Theorien weltweit im 21. Jahrhundert gedacht werden, dennoch werden sie auch immer wieder neu und anders gedacht. Weiterhin ist Soziologie mehr als ein wissenschaftliches Fach, dessen Name aus Europa kommt. Soziologisches Denken in einem weiten Sinne hat auch in China eine lange Geschichte. Die oben zitierte These zeigt eine in Ost und West gängige Dichotomisierung der Welt in traditionell und modern, die häufig in den Glauben mündet, das Wesen einer modernen Wissenschaft könne nicht wirklich einer traditionellen Kultur entsprechen. Gesellschaft und Soziologie haben zudem aus modernisierungstheoretischer Sicht verglichen mit der chinesischen Situation- in Europa bzw. im Westen einen Vorsprung. Die Unvereinbarkeit der Kulturen scheint sich zudem regelmäßig zu bestätigen, wie im vorigen Kapitel dargelegt ist; der Versuch der festlandchinesischen Soziologie in den 1980er Jahren, USamerikanische Methoden eins zu eins zu übertragen, war sehr schnell gescheitert. Entsprechende Erfahrungen gab es auch in den Sozialwissenschaften Taiwans und diese Erfahrungen haben anscheinend solche irrigen Thesen, wie die Jin Yaojis, bestätigt. 5 5 Solche Erfahrungen bestätigen aber nur, dass keine These, Theorie, kein Begriffund keine Methoden, die sich auf einen konkreten Fall bezieht, direkt auf einen anderen konkreten Fall überstülpen lässt. 56

55 China läuft heute Gefahr. die Fehler vieler Wissenschaftlerinnen in Taiwan zu wiederholen und Theorien und Begriffe deduktiv anzuwenden bzw. zu übertragen, die in einem völlig anderen Zusammenhang entwickelt wurden und ganz oder teilweise ungeeignet sind bzw. deren Eignung nicht geprüft wird. In dieser Beziehung zeigt ein Blick auf die sozialwissenschaftliche Forschung in Taiwan, dass das oben beschriebene "Gefälle Westen-China" nicht einfach - durch Übernahme von Theorien und Methoden - genutzt werden kann: Theorien müssen sich eignen und dennoch einer konkreten gesellschaftlichen Situation angepasst werden. Das Beispiel Taiwan zeigt auch, dass die Übernahme westlicher Modelle zur "Gewohnheit" wird, sich institutionalisiert, so dass es kaum möglich ist, rein pragmatisch vorzugehen. 56 Hier schließt sich der Kreis, der mit der Diskussion über die Praxisrelevanz von Soziologie begonnen wurde (Kapitel 2). Eine Sozialtechnologie, die meint, "die Wirkungsgesetze von Gesellschaft" ermitteln zu können und die sich also als Teil einer Universalwissenschaft begreifen muss, kann es, folgt man den Erfahrungen der "Sinisierung" von Soziologie, nicht geben.

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Hinzu kommt, dass "Sinisierung" in der Wissenschaft und in der Politik ideologisch aufgeladen ist. Das gilt gleichermaßen, aber in völlig unterschiedlicher Ausprägung, in Festlandchina, in Taiwan, in "chinesischen Gemeinden" weltweit. In der Volksrepublik China ist der chinesische Weg, die Berücksichtigung der Eigenart der chinesischen Kultur, Gesellschaft und Entwicklungssituation, ein wichtiges Mittel der Aus- und Eingrenzung, d.h. der Abgrenzung nach außen und der Identität im Inneren. Dafür ist die Bezeichnung chinesische Besonderheit oder chinesische Eigenart (zhongguo tese) gebräuchlich. Zu den Charakteristiken der chinesischen Soziologie gehört (auch) die Auseinandersetzung um das Verhältnis von "Eigenem" und "Fremdem", seit den 1840er Jahren einer der bestimmenden Diskurse, auch in der Wissenschaft. So sind die Verwestlichung der chinesischen Kultur bzw. die Sinisierung westlicher Wissenschaften wie der Soziologie in der Volksrepublik China und in Taiwan ein praktisch endlos diskutiertes Thema. Von Beginn an - seit Ende des 19. Jahrhunderts -verfolgt die Soziologie in China das Projekt der Sinisierung der Soziologie oder, konkreter ausgedrückt, den Zuschnitt auf die Wirklichkeiten, die in China vorgefunden werden sowie auf die Probleme, die im chinesischen Alltag zu lösen sind. Aus dieser Sicht wären Geschichte und Entwicklung der chinesischen Soziologie unter dem Aspekt ihrer Sinisierung zu beschreiben. Zumal das Verhältnis zwischen westlicher und chinesischer Soziologie sehr ungleich ist. Während in China seit 160 Jahren um die Frage gerungen wird, wie das Verhältnis der beiden Wissenschaften aussehen soll, ist die chinesische Soziologie im Westen praktisch nicht existent. Seit dieser Zeit ist der westliche Blick- in diesem Fall die westlichen Sozialwissenschaften und Soziologie- etwas, woran sich die chinesische Seite in irgendeiner Weise "abarbeitet". Einer der Hauptgründe ist immer wieder der "Erfolg" des Westens. Dessen Wissenschaft wird meist eine Art Überlegenheit und Vorsprung unterstellt; man geht also von einem Gefälle Westen-China aus. 57 "Das Bemühen um eine Sinisierung der Soziologie wurde so zu einem Lernprozeß über die kulturelle und zivilisatorische Einbindung der Soziologie" (Gransow 1992: 21). Schon damals war das Selbstverständnis chinesischer Soziologen mit dem Projekt der Sinisierung der Soziologie verbunden. Auch außerhalb der Soziologie bzw. der 57 Wie mächtig solch ein empfundenes Gefälles (vom Fremden zum Eigenen) sein kann, ließ sich in Deutschland beobachten, als das erfolgreiche japanische Management- und Arbeitsmodell in Deutschland zur Diskussion stand. Welche Wirkung solche Diskussionen bzw. Kopierversuche letztendlich haben, lässt sich- wenn überhaupt- nur bei Betrachtung längerer Zeiträume sagen. Sie scheinen mir aber nicht umfassend, sondern eben nur in Teilen erfolgreich.

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Wissenschaft sind Sinisierung bzw. der charakteristische Standpunkt und die charakteristischen Bedürfnisse Chinas ein Thema, mit dem auch die KPCh üblicherweise Politik macht. Die Botschaft der Kommunistischen Partei legt nahe, dass die KP die Erfinderirr oder zumindest die Garantirr für die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse des Landes ist. F eng Xiaotians Forderung vom Beginn dieses Kapitels (4) ist also nicht neu. Von Anfang an ist vielmehr eine der wesentlichen Fragen, ob und wie sich wissenschaftliche Theorien und Methoden nach China übertragen lassen. 58 Intellektuelle jeder Epoche erklärten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anpassung an chinesische Eigenarten zur vorrangigen Aufgabe. Das drückte sich in Slogans aus wie Chinesische Lehre als Substanz, westliche Lehre zur Anwendung (zhongxue wei ti, xixue wei yong), Sinisierung (zhongguohua), im Wesentlichen auf die eigene Kraft vertrauen und durch Unterstützungvon außen ergänzen (yi zili geng sheng wei zhu, zhengqu waiyuan wei fu), chinesische Eigenart (Zhongguo tese) oder Einwurzelung (bentuhua). Für einige Wissenschaftlerinnen der festlandchinesischen Soziologie lassen sich die Entwicklungsstadien Chinas und des Westens vergleichen und Erfahrungen, die derWestenoder kapitalistische ostasiatische Gesellschaften gemacht haben, lassen sich für Fragen nutzen, mit denen sich die festlandchinesische Gesellschaft heute konfrontiert sieht. Schon in der ersten Phase waren einige Intellektuelle der Meinung, dass die Soziologie bei der Entwicklung westlicher Gesellschaften eine positive Funktion hatte; sie erhofften sich von ihr, dass sie auch zur "Rettung des [chinesischen] Vaterlandes" (Li/Wang 1999: 13) hilfreich sein konnte. Gegenwärtig lautet ein Standpunkt, dass sich China Fragen gegenübersehe, mit denen der Westen vor Jahrzehnten konfrontiert war, und sich deshalb in einer Situation befinde, auf die sich ältere Theorien (anderer Gesellschaften) anwenden ließen. Diese Haltung kann gleichzeitig eine Kritik am Versuch der Übernahme von gegenwärtigen westlichen Theorien sein, die die Erfahrung und Situation der entwickelten Länder widerspiegeln, nicht aber die Chinas. Wie kann sich China im wissenschaftlichen Wettbewerb weltweit behaupten, so lautet wiederum die Gegenfrage, wenn sich seine Wissenschaft überwiegend mit Fragen beschäftigt, die in anderen Teilen der Welt "aus der Mode" sind? Dies 58 Diese Frage ist für beide Richtungen interessant, für den Transfer nach und von China. Deutschland hat viele chinesische Kulturgüter übernommen, allerdings eben eingedeutscht. Der große Teil solcher Kulturgüter fugt sich dabei in das Bild, das in Deutschland und in China über die jeweiligen Kulturenexistiert (sanfte Medizin, Spiritualität, Kampfsport). Dass auch ganz "unchinesische", "moderne" Kulturgüter einen "cultural transfer from China to Europe" erfahren haben, zeigt aufschlussreich Harro von Senger (1995).

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berührt somit nicht nur die Frage, ob und welche westlichen Theorien für die gegenwärtige Situation Chinas angemessen sind, sondern wie sich China in dieser Situation weltweit behaupten kann: "What then should Chinese sociologists do to keep themselves original and dynamic while at the same time dealing with topics that are outdated in developed countries?" (Sun Liping 2001: 16; vgl. auch Qing Du 2000). Dies ist nicht nur eine falsche, sondern auch eine überaus fatale Annahme: Die entwickelten Länder werden mit "der Welt" in eins gesetzt. Weiterhin dürfen die offensichtlichen Parallelen zwischen der gegenwärtigen Situation Chinas und der Situation europäischer Länder in der Vergangenheit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein anderes Land, eine andere Kultur, eine andere Größenordnung und um eine andere Zeit mit entsprechend anderen Verhältnissen (Globalisierung - Medien, Weltwirtschaft), eben um eine ganz andere Situation handelt. Chinesische Modernisierungsforscherlnnen dürften sich weitgehend darüber einig sein, dass es mehrere Modernisierungen (Jusdanis; Chen Yangu 1997) oder unterschiedliche Modernisierungspfade (Zapf 1996) gibt. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Chinas Modernisierung unter anderen Bedingungen verläuft als die Modernisierung von Staaten der "Frühentwicklung" (vgl. Wang Yalin 1995: 46), also der westlichen lndustrienationen. Zudem ist die Soziologie nicht per se eine westliche Wissenschaft, sondern sie ist eine Wissenschaft, die- als solche- zuerst im Westen etabliert wurde. Eine moderne chinesische Soziologie kann deshalb keine Kopie westlicher Soziologien sein. Das Projekt der - permanenten - "Sinisierung" der Soziologie wäre und würde sicher leichter geraten, wenn das Fach nicht so häufig mit der westlichen Soziologie gleichgesetzt würde. Das besorgt beispielsweise die soziologische Geschichtsschreibung. So wird der Beginn der Soziologie in China meistens mit der Publikation der Übersetzung von Auszügen aus Herbert Spencers The Study ofSociology, die Yan Fu besorgt hat, gleichgesetzt (vgl. Gransow 1992: 30). Das war 1898, sieben Jahre nachdem Liang Qichao den Kurs Qunxue (die Lehre von den Gruppen, eine der beiden Bezeichnungen für Soziologie) abhielt, der aber, nach der Meinung von Li und Wang "wahrscheinlich nur Liang Qichaos Vorstellungen umfasst" (Li/Wang 1999: 13). Chinesische Soziologlnnen (beiderseits der Taiwan-Straße) werden nicht müde (in persönlichen Gesprächen) zu betonen, dass das Wort shehuixue (Soziologie oder Gesellschaftswissenschaft) ein Neologismus aus dem Japanischen ist -und damit importiert wie das Fach selbst. Dabei wird nicht erwähnt, dass das Wort shehui wiederum ursprünglich chinesisch ist und dass seine ursprünglichen chinesischen Bedeutungen, die alle- allgemein gesagt- die

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Versammlung (hui) einer bestimmten Gemeinschaft59 (she) meinen, wesentlich naher an der heute üblichen Bedeutung von Gesellschaft oder Soziologie sind als der - ebenfalls regelmäßig zitierte - lateinische Ursprung Sozius. 60 Einer der Gründe für den westzentrierten Blick zu der Zeit war allerdings auch die Tatsache, dass die Vertreterinnen der Soziologie überwiegend im Ausland studiert hatten (vgl. Li/Wang 1999: 13). Nun soll es hier nicht darum gehen, einen "natürlichen chinesischen Charakter" der Soziologie zu belegen oder nachzuweisen, wer oder was "zuerst da war". Vielmehr muss die Frage lauten, wie Soziologinnen die Möglichkeiten der Soziologie nutzen können. Soziologie untersucht "Gesellschaft" und jede "Gesellschaft" ist- auch - charakteristisch und singulär. Die Idee, sich mit "der Gesellschaft" auseinander zu setzen, ist wesentlich älter als die Soziologie und sie ist keine Besonderheit westlicher Kulturen. Deshalb ist es unangemessen, eine Blickrichtung zu ignorieren (welche auch immer) und einer anderen blind den Vorzug zu geben. So auch die Herausgeberinnen der Soziologischen Forschung: "Die chinesische Soziologie muss keinen rein nationalen Charakter haben, sondern sie muss eine Soziologie für China sein; aber sie muss chinesische Wissensressourcen genügend in sich aufnehmen." (Shiji Jiyu 2001: 3) Das - negative - Gegenstück zur verbreiteten Tendenz, die "westliche" Blickrichtung vorzuziehen, ist das sture und blinde Beharren auf der "Charakteristik" der chinesischen Soziologie. In diesem Fall sorgt dieses Beharren auf "chinesischen Besonderheiten" für eine extreme Verengung des Blickes. In den 1980er Jahren hat dieses Beharren- Lin und Wang zufolge- den Weg zurwestlichen Soziologie verstellt (Lin/Wang 2000: 40). Die Alternative zwischen den Extremen der Gleichsetzung von Soziologie mit dem Westen auf der einen und dem blinden Beharren auf immer erkennbaren chinesischen Charakteristiken auf der anderen Seite wäre die Anerkennung der Heterogenität und der Pluralität von Soziologie sowie ihrer Internationaliät und die jeweils konkrete gewissenhafte Auseinandersetzung mit Theorien und Methoden, die für eine bestimmte Fragestellung hilfreich sein können. Dann ließe sich freilich nicht mehr von der Sinisierung der Soziologie sprechen, da es weder die (westliche) Soziologie gibt, noch die (einheitliche) chinesische Soziologie. Diese Sichtweise gilt

59 Bei Feng Zhiye bezeichnet she eine Opferstätte, shehui, wie es heute in China verwendet wird, komme vom englischen society (1998a: 22). 60 Vgl. zur chinesischen Verwendung Cihai 1999: 1780 und Li Qiang- Da Baike 1991, 272, zur deutschen bzw. lateinischen Verwendung Duden 200 I: 1474 und Kluge 1989:681.

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umso mehr, als hier zwar vom "Fach Soziologie" die Rede ist, dessen historische Entwicklungen und institutionelle Ausformungen sich deutlich nachvollziehen lassen, dessen "Geist" aber historisch, geographisch, kulturell bestimmt und beeinflusst ist. Noch einmal: Die Geschichte der Soziologie und vor allem des "soziologischen" Denkens in China ist länger, vielf'1-

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GLOSSAR

empirische Forschung/Analyse Empirismus engerer Sinn Erhebung, Umfrage Erhebungsarten, grundlegende erklärende Forschung, theorietestende Forschung erneuern, Innovation Ethnologie Ethnomethodologie

Experiment Expertinnenratschlag Exploration( -sstudie) Exzerpt, Auszug, exzerpieren Falsifizierbarkeit falsifizieren Feld [bei Bourdieu] Feldforschung Fokusgruppe Form Forschnngsmethoden Forschungsmethoden, grundlegende Forschungsweise Fragebogenerhebung Frankfurter Schule Freizeit Fußnote Gegenbegriff Geisteswissenschaften (i.w.S.), klassische Philologien (i.e.S.) Gemeinschaft Gesamtsumme, Theorie der gesellschaftlicher Lebensstil gesellschaftlicher Wandel, sozialer Wandel Gesellschaftsforschung

shizheng yanjiu/ fenxi jingyan zhuyi xiayi diaocha jiben fangshi jieshixing yanjiu

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yanjiu fangshi wenjuan diaocha (fa) falankefu xuepai xianxia (xiankong) jiaozhu duigainian renwen kexue shequ zonghelun shehuishenghuo fangshi shehui bianqian

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199

SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Gesellschaftssystem, Sozialsystem Gesichtsfeld. Blickfeld Gewissenhaftigkeit, Ernsthaftigkeit Globalisierung den Grundbedarf decken( d) Gruppe Gruppe, soziale, gesellschaftliche Gruppe

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200

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GLOSSAR

Interpretation von Wörtern in xungu 1Jil itl alten Texten Interpretationsknnde für alte Texte xungnxue i!il itl ~ i}j J'oj (i}li] 1J: / {t) fangwen Interview (diaocha/fa) wujiegou fangwen 7[; :R; ;fij i}j ['6] nichtstrukturiertes Interview Interviewerirr fangwenyuan 11J J'ii] ./Tt Kategorie fanchou ill UJt.f klassische Werke. Klassiker jingdian zhuzuo f}. ~ ~ 1t Klumpen-Auswahl zhengqun chouyang ~ f-f :ffil T.'f: julei chouyang ~ flli tf Koeffizient xishu ~ ~ Körper roushen ~ .;.r jitizhuyi Kollektivismus *l*=F.X. chongtu lilun Konflikttheorie ~ ;f!Jl changliang Konstante 'ffiti xiaofei ziliao Konsumgüter if'l~'ritOf'f shenghuo ziliao Güter des täglichen Bedarfs i:f:r11'&tor'l chuangzaoxing Kreativität. Schöpfergeist fDJ :@f[: pipan lilnn Kritische Theorie :Jtt 3"1] JlR i't: wenhua Kultur. kulturell )( ft

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Lebensstilindex

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Lebensstiltheorie

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Kulturanthropologie kulturelles Kapital Lebensqualität Lebensstandard Lebens-Stil. Lebensstil Lebensstil, Lebensweise Le benssti Iforsch ung

Lebenstätigkeiten Lebensvorstellungen, Wertvorstellungen Logik Makro- (Meso-, Mikro-) Sicht Makrosoziologie materiell, Materie Meinungsumfrage

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201

SOZIOLOGIE UND LEBENSSTILFORSCHUNG IN DER VR CHINA

Meso- (Makro-, Mikro-) Sicht (Kontroll-)Messung (Variablen-)Messung Methoden qualitativer Datenanalyse Methodensystem Methodologie, Methodenlehre metrologisch, messen Mikro- (Meso-, Makro-) Sicht Mikrosoziologie Mindestwohlstandsgüter, die "großen Dinge" Modelluntersuchung, repräsentative Untersuchung etwas nachprüfen und bestätigen nationale Psyche nicht-zufallsgesteuerte Auswahlverfahren Nichtwahrscheinlichkeitsauswahl Non-Profit-Massen- und BürgerOrganisationen Norm, Standard, Regel Objekt objektiv, Objektivität objektive Wirklichkeit sich öffnen, öffnen Offenheit Ordnung der Soziologie organisch Originaltext, fremdsprachiger Text philosophische Grundlagen Plan, Entwurf, Programm Planerln planmaeßig Planmaeßigkeit Pluralisierung popularisieren, verbreiten, populär, universal Positivismus

202

zhong (hong, wei) guan liangbiaofa ifrW 1t celiang fangfa ;mu :~Jt Ji i! dingxing ziliao /1:' -t'!: ;f47HJT fenxi fangfa Ji?t fangfa tixi )71!1* ~ fangfalun Ji i! l:'t: jiliang (xue) ~r·w(~l wei (zhong, hong) 1i'ik (rft ~n x~ guan weiguan shehuixue 1~ xiJL f1 ~ 'T dajian je 14' dianxingdiaocha yanzheng minzu xinli fei suij chouyang feigailü chouyang minjian zuzhi guifan keti keguan keguan cunzai keguan shizaixing kaifang kaifangxing shehuixue Ii youji yuanwen zhexue j ichu fang'an shejishi jihua (de) jihuaxing duoyuanhua puji shizheng zhuyi

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GLOSSAR

Poststrukturalismus Prämisse, Voraussetzung, Vorbedingung Primärgruppe Professionalisierung, Spezialisierung prognostizieren Protokoll (führen) Punkt, Gegenstand Qualität der Lebensstile qualitativ qualitative Forschung quantifizieren Quantität der Lebensstile quantitativ quantitative Analyse rationalisieren Rationalisierung reflexive Soziologie repräsentative Untersuchung, Modelluntersuchung Reproduktion revolutionär-kritische Form (i.e. Soziologie) Rezension, rezensieren Rubrik rückständig sammeln (von Daten), einsammeln, zusammentragen Schicht Schichtbewusstsein schließen, dicht verschließen, abdichten Sekundärgruppe selbst versorgen(d), Selbstversorgung Selbstständigkeit Seriosität die sieben Wandlungen Sinisierung Sozialanthropologie

hou j iegouzhuyi qianti chuji qunti zhuanyehua yuce jilu shixiang shenghuo fangshi de zhi dingxing dingxing yanjiu zhi de (yanjiu) lianghua shenghuo fangshi de liang dingliang dingliang fenxi helihua lixinghua fansi shehuixue dianxingdiaocha zaishengchan geming (de) pipanxing xingtai pingjie lanmu luohou souji

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