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German Pages 376 Year 2014
Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte
Sozialtheorie
Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.)
Soziologie der Finanzmärkte
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Inhalt
Vorwort .................................................................................... 7 Einleitung: Perspektiven der Wirtschafts-und Finanzsoziologie HERBERT KALTHOFF UND UWE VORMBUSCH ........................................... 9
THEORETISCHE UND GESELLSCHAFTSKRITISCHE KONZEPTE Von Netzwerken zu skopischen Medien. Die Flussarchitektur von Finanzmärkten KARIN KNORR CETINA ........................................................................... 31 Die Autoreferentialität der Finanzmärkte. Die Perspektive der »Économie des conventions« auf die Börsenwelt RAINER DIAZ-BONE ............................................................................... 63 Signaturen der Finanzialisierung. Von Finanzmärkten zu Organisationen, zu sozialen Situationen und (von dort) zu allem anderen HENDRIK VOLLMER ................................................................................ 87 Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft SIGHARD NECKEL ................................................................................. 113
DIMENSIONEN VON FINANZMÄRKTEN Der Glaube der Finanzmärkte. Manifeste und latente Performativität in der Wirtschaft CHRISTOPH DEUTSCHMANN .................................................................. 131
Von Zukünftigkeit zu Gegenwärtigkeit. Der Aufstieg der Arbitragetheorie im Diskurs der Finanzökonomik ANDREAS LANGENOHL ......................................................................... 151
Ö KONOMISCHE REPRÄSENTATIONEN UND DIE ARBEIT AN DER D ARSTELLUNG Börsenturbulenzen. Die Medialität der Finanzmärkte RAMON REICHERT ................................................................................ 179 Die Hervorbringung des Kalküls. Zur Praxis der Finanzmathematik HERBERT KALTHOFF UND JENS MAESSE ............................................... 201 Was bedeutet »Research«? Praktiken von Währungsanalysten im Kontext sich wandelnder Marktkulturen LEON WANSLEBEN ............................................................................... 235
P RAXIS DER FINANZMÄRKTE: ZAHLEN , KÖRPER , RAHMUNGEN Im Takt des Marktes. Körperliche Praktiken in technologisierten Finanzmärkten STEFAN LAUBE ..................................................................................... 265 Die Performanz des Portfoliomanagements. Eine Fallstudie LUISE KLUS .......................................................................................... 285 Zahlenmenschen als Zahlenskeptiker. Daten und Modelle im Portfoliomanagement UWE VORMBUSCH ................................................................................ 313 Der Staat handelt. Finanzmarktpraktiken im transnationalen Schuldenmanagement BARBARA GRIMPE ................................................................................ 339 Autorinnen und Autoren ...................................................................... 369
Vorwort
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf zwei Tagungen zurück, die an der Universität Mainz im Sommer 2010 und 2011 stattfanden. Im Rahmen dieser Tagungen präsentierten die Teilnehmer zunächst ihre Überlegungen, dann erste Versionen ihrer Texte. Ziel der Arbeitstagungen war es, einen intensiven Dialog der Autoren und Autorinnen zu ermöglichen und dadurch das Entstehen der Texte zu begleiten. Der Band dokumentiert eine Auswahl dieser Beiträge. Das Ziel des Bandes ist es, theoretische Vorschläge zur Untersuchung der Finanzmärkte zu unterbreiten sowie empirische Beobachtungen zu präsentieren, die Einblicke in diese ganz eigene Welt gewähren. Die hier verwendeten soziologischen Konzepte und empirischen Erkundungen sind im Kontext der Sozial- und Kulturwissenschaften selbst Gegenstand der Auseinandersetzung. In diesem Sinne verstehen wir den Band als Anstoß für die Weiterentwicklung der empirisch-theoretischen Erforschung finanzmarktlicher Phänomene und Institutionen. Zu danken ist an dieser Stelle all den Kolleginnen und Kollegen, die an der Fertigstellung dieses Bandes durch Anregungen und Kritik, Unterstützung und Hilfe beteiligt waren. Zu danken ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mit Bewilligung des Forschungsprojektes »Ökonomisches Rechnen« (Projektleitung Herbert Kalthoff) die finanziellen Mittel für eine Tagung bereitstellte; zu danken ist der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die Finanzierung der zweiten Tagung. Unser herzlicher Dank und unsere Anerkennung gilt Anna Dorn und Christina Roos: Sie haben die Tagungen organisatorisch vorbereitet und die Fertigstellung des Bandes ermöglicht. Ihrer Unterstützung, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ist sein Zustandekommen zu verdanken. Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch
Einleitung: Perspektiven der Wirtschafts- und Finanzsoziologie H ERBERT K ALTHOFF UND U WE V ORMBUSCH
Finanzmärkte sind ›ins Gerede‹ gekommen: Sie sind nicht mehr allein Gegenstand der Forschung, nicht mehr nur Feld einer öffentlich inszenierten Praxis der Geheimhaltung, sondern auch diskursives Objekt des Skandals, des Betrugs und damit der kriminellen Energie. Beobachtet man das Geschehen auf den Finanzmärkten und in den Finanzinstitutionen in Bezug auf seine ökonomischen, politischen und sozialen Effekte, dann entsteht das Bild eines Systems »strukturierter Verantwortungslosigkeit« (Honegger et al. 2010), in dem Staaten und ihre Gesellschaften als letzte Schuldner mobilisiert werden. Richtet man den Blick auf das Geschehen selbst, dann erscheinen Finanzmärkte als Handlungszusammenhänge, in denen Akteure in einem Spannungsfeld von Erwartungen, Gier und Angst hin und her geworfen sind. Man kann mit gutem Recht das ökonomische Treiben auf den Finanzmärkten als eine Veranstaltung verstehen, in der auf den ersten Blick widersprüchliche Handlungs- und Bewertungsstandards regieren. Denn wohl nur wenige gesellschaftliche Bereiche zeichnen sich im Vollzug ihrer Praxis durch eine so enge Gleichzeitigkeit von formaler Rationalität und kommunikativer Mythenbildung, hoher Technisierung und impulsiver Körperlichkeit aus. Die Praktiken, die die Finanzmärkte ausmachen, finden weitgehend in den Handelsräumen von Großbanken, Fondsgesellschaften und Handelshäusern statt; sie sind damit nicht nur den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, sondern auch mit Regeln der Geheimhaltung umstellt. Nur die Eingeweihten haben Zutritt, nur sie kennen die ›Regeln des Spiels‹. Aus soziologischer Sicht bietet sich das Geschehen als ein Drama dar: Dieses Drama be-
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steht erstens aus den körperlichen Aufführungen der unter Hochspannung agierenden Akteure, die in ihren Praktiken auf ihr Wissen und ihre kognitiven Vorstellungen, ihre Erfahrung und ihre Netzwerke zurückgreifen. Beobachtbar sind kühl kalkulierende Akteure, aber auch Gruppen schwitzender, schreiender, aggressiver, den Handel umsetzender Körper (Zaloom 2006). Das Drama besteht zweitens aus technischen Artefakten und ökonomischen Darstellungen, die ihrerseits eine rationale Beherrschung des Kalküls, des Risikos und der Investition inszenieren. Diese ökonomischen Darstellungen, die durch eine immense technische Infrastruktur ermöglicht werden, werden laufend durch neue, von (Finanz-)Mathematikern und Physikern entworfenen Finanzprodukten umgeformt und aktualisiert. Der Soziologie bieten sich damit empirisch zu unterscheidende Konstellationen von MenschMaschine-Darstellungen, die in ihrer Wechselwirkung zu untersuchen sind. Dieses so figurierte Geschehen auf den Finanzmärkten richtet sich an verschiedene Publika: Es richtet sich erstens an die Finanzhändler selbst, die die ersten Zuschauer ihrer eigenen Aufführungen sind und damit in einem Bild leben, das sie von sich selbst und ihrer Community erzeugen; es richtet sich zweitens an (potentielle) Kunden, die ökonomisch sinnvolle Transaktionen und Kalulationen erwarten; und es richtet drittens sich an (Fach-)Öffentlichkeiten, die der ökonomischen Rationalität, den körperlichen Aufführungen der Akteure und der ungeheuren Dynamik der Finanzmärkte (sozialen) Sinn abzuringen versuchen. Die seit 2008 andauernden und ineinandergreifenden Banken-, Finanz- und Schuldenkrisen bestimmen die Weltwirtschaft und die Institutionen der Weltgesellschaft. Sie haben Regionen der Welt ökonomisch bedroht und das Gefüge globaler Institutionen verschoben. Das Versprechen der Finanzindustrie, durch strukturierte Finanzprodukte (u.a. Kreditderivate) eine neue Form der grenzenlosen Verschuldung nachhaltig etablieren und beherrschen zu können, hat sich als trügerisch und falsch erwiesen. Insofern von diesem für die Expansion der Finanzindustrie essentiellen Irrglauben nicht nur risikoaffine (Investment-)Banken und Hedgefonds betroffen sind, werden moderne Gesellschaften auf Externalitäten der Finanzindustrie reduziert. Der für die Finanzmärkte konstitutive »Mythos« (Deutschmann 2008) besteht nun darin, die mit dem Geldverleih und Geld(ver-)kauf einhergehenden Risiken – man verschuldet sich, um zahlen zu können; man gewährt den Kredit, um Gewinn zu machen; man verkauft die Kredit-
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schulden, um aus der Streuung des Risikos Arbitrage zu erzielen und sich noch weiter verschulden zu können – als beherrschbar darzustellen. Dieser Mythos ist weit über den Finanzmarkt hinaus wirksam, und zwar als gesellschaftliche Fiktion, immer größere Verbindlichkeiten mit temporal, regional und strukturell immer feingliedriger operierenden Risikoverlagerungen konterkarieren zu können. Mittels komplexer mathematischer Modellierungen hat die Finanzindustrie diese Hoffnung und diesen Glauben nicht nur bedient, sondern auf ein Niveau gehoben, das manchen Beobachtern furchterregend erscheint. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass die Instrumente und Praktiken der Modellierung einen der in diesem Band vertretenen Schwerpunkte darstellen. Die Krisenhaftigkeit der Finanzmärkte wird von den Bildern des Computerhandels und eines von menschlichen Handlungsträgern gereinigten Parketts nur mühsam korrigiert. Systemkrisen stellen in diesem Zusammenhang eine grundlegende Transformation des Feldes dar, die die Konstellation der Akteure im globalen Maßstab verschieben. Diese Form der Krise wird von den Finanzmärkten periodisch immer wieder erzeugt. Für die gegenwärtige Krise sind die sogenannten notleidenden Kredite zentral. Die ›Not‹ der Kredite entsteht durch die Zahlungsunfähigkeit der Schuldner und lässt Zahlungen nicht mehr an Zahlungen anschließen (Luhmann 1994: 52ff.). Banken und andere Finanzinstitutionen stellen die eigene Handlungsfähigkeit i.d.R. wieder her, indem sie durch Abschreibungen ihren eigenen Wert nach unten korrigieren bzw. bilanztechnisch überdecken. Weit unterhalb der Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit hat aber auch der alltägliche Vollzug des Finanzhandels krisenhafte Züge aufgrund u.a. der Unbestimmbarkeit ökonomischer Investitionen, der Enttäuschung von Erwartungen und eines für die Finanzmärkte konstitutiven NichtTrauens (siehe Vormbusch in diesem Band). Eine Soziologie, die das Geschehen auf den Finanzmärkten untersucht, interessiert sich u.a. für die Instrumente und Praktiken, mit denen die skizzierten Geschäfte in eine Form gebracht (modelliert) und umgesetzt werden. Finanzökonomische Modelle und Instrumente erscheinen dabei – je nach Optik – als Ursachen der Krise, als Grundlage zukünftiger Regulierungen oder als Konstituenten des Finanzmarkthandelns überhaupt. In dieser letztgenannten Perspektive sind es gerade die Formen ökonomischer Repräsentationen wie Spread Sheets, Charts, finanzmathematische Algorithmen, Excel-Tabellen etc., die als
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tools of the trade (Beunza/Stark 2004) das Handeln ermöglichen, zähmen und in rationale Bahnen lenken sollen. Ein wichtiges Merkmal ist in diesem Zusammenhang die Idee, durch formale Modelle und Berechnungsverfahren die Gegenwärtigkeit des Finanzmarktes kontrollieren und seine Zukunft projizieren zu können. Dieser Vorstellung einer über Modelle und Instrumente vermittelten Rationalisierung liegt bspw. die Einführung der Option Pricing Theory in den 1970er Jahren an der Chicago Board Options Exchange zugrunde: Wo zuvor Subjektivität und Unkalkulierbarkeit herrschten und der Derivatehandel als eine unmoralische Veranstaltung galt, zieht mit der Einführung einer Objektivierungstechnologie eine kalkulativ begründete Rationalität ein (MacKenzie/Millo 2003). Berechenbarkeit meint hier die Vorstellung einer durch die Anwendung von Modellen und Formeln performativ gerahmten Finanzpraxis. In diesem Sammelband stellen nun Sozial- und Kulturwissenschaftler ihre Forschungen zu unterschiedlichen Aspekten der Finanzmärkte vor: Sie beobachten die Akteure bei der Organisation und Umsetzung des Finanzhandels, bei der Verwendung von Kalkulationstools sowie beim Einsatz ihres Körpers. Sie untersuchen die Rolle finanzmathematischer Modelle, fragen nach der Relevanz des Staates und analysieren die Wirkungen des Finanzmarktes auf das Gefüge moderner Gesellschaften. Ihnen gemeinsam ist das Interesse, den am Beispiel der Finanzmärkte sichtbar werdenden ökonomischen Wissenspraktiken und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung auf die Spur zu kommen. Ein zentrales Problem auf den Finanzmärkten, für dessen Lösung die Teilnehmer die richtige Darstellung, den richtigen Augenblick, das passende Finanzinstrument oder eine Handlungsoption suchen, besteht darin, dass Grundlagen und Konsequenzen von Entscheidungen ungewiss sind. Entscheiden unter Ungewissheit ist eine risikoreiche Aktivität, die nach mehreren Seiten hin abgesichert und deren Bedingungen immer wieder überprüft werden müssen. Wirtschaftliche Transaktionen jeglicher Art sind Beispiele für ungewisse und risikoreiche Entscheidungen, denn weder sind die den Investitionsentscheidungen zugrunde liegenden Voraussetzungen sicher noch die Versprechen von Schuldnern, das geliehene Geld zurückzuzahlen. Ungewissheit resultiert aus der Verknüpfung verschiedener Elemente ökonomischen Handelns: Erstens existiert eine Handlungsnotwendigkeit, denn man kann in der Ökonomie nicht nicht handeln; zweitens sind die Resultate der eigenen Handlungen und derjenigen anderer ökonomischer Akteu-
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re im Voraus nicht sicher bestimmbar; und drittens sind die Qualität und die Marktchancen der Produkte sowie die Erwartungen anderer Marktteilnehmer unklar. Die Situation ungewisser Entscheidungen stellt die Akteure in den Grenzbereich ihres verfügbaren Wissens: Dieser Grenzbereich wird definiert durch das, was ausgesagt und formal repräsentiert werden kann, und durch das, was durch mündliche Aushandlungen und schriftliche Darstellungen nicht erkennbar ist. Der Grenzbereich des Wissens konstituiert aus unserer Sicht weite Teile des Finanzmarktgeschehens. In welcher Weise wird nun das Problem des ungewissen Wissens in der wirtschaftswissenschaftlichen und soziologischen Theoriebildung behandelt? Woran kann die Wirtschaftsund Finanzsoziologie empirisch wie theoretisch anknüpfen? 1. Wirtschaftswissenschaftliche Theorien In der ökonomischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die wesentlich auf W. Stanley Jevons und Léon Walras zurückgeht, ist das Problem der Ungewissheit in der Modellierung perfekt funktionierender Märkte aufgehoben. Märkte sichern demzufolge durch effiziente Allokation von knappen Ressourcen individuellen Akteuren die Realisierung ihrer ökonomischen Ziele. Demnach gelingt es den eigennützigen Akteuren, alle notwendigen Informationen über die geldwerte Bemessung eines käuflichen Gutes einer effizienten Kosten-Nutzen-Kalkulation zu unterziehen; zentrales Informationsmittel ist dabei der Preis eines Gutes, der sich auf wettbewerblichen Märkten mit vollständiger Information bildet. Die Realisierung individueller Interessen führt zu einem Pareto-optimalen Marktgleichgewicht, das allen Akteuren gleiche Chancen einräumt und damit Gerechtigkeit garantiert. Ausgangspunkt dieses Modells, in dem perfekte Märkte, flexible Preise, vollständige Informationen und optimierende Akteure wichtige Ausformulierungen darstellen, sind wirtschaftsmathematische Modellierungen ökonomischer Interdependenzen (etwa von Angebot und Nachfrage). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert Frank H. Knight (1971 [1921]) eine praktische Begrenzung des Wissens, die mit den Voraussetzungen der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie bricht: Demnach ist nicht vollständiges, sondern unvollständiges Wissen über Märkte und ihre zukünftige Entwicklung anzunehmen. Auf einer wahrscheinlichkeits- und messtheoretischen Grundlage argumentiert er für eine Differenzierung zwischen Risiko und Ungewissheit: Der Risikobegriff wird benutzt, um eine messbare Ungewissheit zu bezeichnen, der Begriff
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der Ungewissheit ist für nicht messbare Ungewissheiten reserviert (Knight 1971 [1921]). Aus dieser Unterscheidung resultiert eine praktische Differenz: Man kann im Falle einer Risikokonstellation deren Entwicklung und Ergebnis etwa durch statistische Kalkulation in Erfahrung bringen, während dies im Falle der Ungewissheit nicht möglich ist. Berechenbarkeit erzeugt damit keine Handlungs- und Ergebnissicherheit, vielmehr bringt die formale Berechenbarkeit – gewissermaßen paradox – das Risiko erst hervor. Eine weitere terminologische Bestimmung ökonomischer Ungewissheit wurde von John Maynard Keynes (1937) vorgenommen, dessen Erkenntnisinteresse unter anderem auf das Verhalten von Investoren gerichtet war. Im Unterschied zu Knight wird Ungewissheit hier nicht in ein berechenbares Risiko transformiert, sondern konstituiert ein radikal gemeintes NichtWissen: »We simply do not know« (Keynes 1937: 214). Dieses NichtWissen liegt ökonomischen Handlungen zugrunde, denn in einer nicht ungewissen Welt ist Unternehmertum nicht denkbar. In den wirtschaftstheoretischen Narrativen zur ungewissen Entscheidung wird dreierlei vorausgesetzt: Erstens haben die Akteure zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen; zweitens sind diese Alternativen den Akteuren immer schon bekannt; und drittens wird die Entscheidung vor dem Hintergrund einer gegebenen Präferenzordnung getroffen. Deutlich wird hier die zentrale Stellung des Informationsbegriffes: Eine Information wird wie eine interpretationsfreie, Realität abbildende Darstellung eines Faktes betrachtet, die die Welt transparent und rationales Handeln und Entscheiden damit erst möglich macht. Unberücksichtigt bleibt in dieser Rede der Sachverhalt, dass Informationen immer nur durch Darstellungsinstrumente (bspw. Tabellen, Kartogramme, Listen) zu dem werden, was sie sind. Da aber keine theoriefreie Darstellungstechnik zur Verfügung steht, ist eine Information keine neutrale Repräsentation einer extern gegebenen Realität. Schließlich bleibt ebenso die Überlegung unberücksichtigt, dass Darstellungen auch ohne externe Referenz auskommen können und dass sie das, was sie darstellen sollen, erst hervorbringen (Deutschmann in diesem Band). Diese Theoriekonstruktionen gehen davon aus, dass Entscheidungssituationen immer schon da sind, aber nicht als durch die Akteure hervorgebracht gelten. Dies gilt in gleicher Weise für die Überlegungen Knights: Indem Ungewissheit zur Daseinsweise des modernen menschlichen Lebens erhoben und damit ontologisiert wird,
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kann ihre Hervorbringung durch soziale Praktiken und Diskurse nicht konzipiert werden, denn sie ist einfach gegeben. Darüber hinaus steht und fällt die Unterscheidung von Ungewissheit und Risiko mit der Annahme einer rechnerisch kalkulierbaren Wahrscheinlichkeit von in Risiko transformierter Ungewissheit; die soziale und technische Hervorbringung einer solchen Kalkulation und ihre prognostische Gültigkeit werden hierbei nicht thematisiert. 2. Die Wirtschaftssoziologie Das Verdienst amerikanischer (Wirtschafts-)Soziologen bestand in den 1970er und 1980er Jahren insbesondere darin, das ökonomische Handeln als ein soziales Phänomen zu beschreiben und damit für eine soziologische Forschung zu öffnen. Zur Begründung einer »neuen Wirtschaftssoziologie«, die sich von einer an der neoklassischen Wirtschaftstheorie orientierten Forschung absetzt, verwendet Granovetter (1985) das ursprünglich von Polanyi (1995 [1944]) eingeführte Konzept der Einbettung ökonomischen Handelns. Die Argumentation, dass Märkte und damit ökonomische Handlungen nur dann gelingen können, wenn sie in ein Netzwerk sozio-organisatorischer Beziehungen und rechtlicher Regelungen eingebettet sind, beruht im Wesentlichen auf der Annahme, dass sich die moderne kapitalistische Wirtschaft aus einer vorkapitalistischen Wirtschaftsform mit ihren reziproken Tauschakten gelöst hat und ein ökonomisches Handeln auf der Basis freier Vertragsbeziehungen und ohne bleibende Verpflichtungen erlaubt. In marktwirtschaftlich strukturierten Gesellschaften vollziehe sich wirtschaftliches Handeln demnach in einem von sozialen Dimensionen befreiten Raum des reinen Warentausches: Sobald man diesen verlässt, sind die Akteure des ökonomischen Tausches miteinander quitt. Die besondere Leistung der Akteure besteht also demzufolge darin, nur von ihrem Nutzenkalkül bestimmte und zeitlich begrenzte Beziehungen einzugehen. Damit die freien Marktkräfte nicht zügellos agieren, werden sie durch rechtliche Regelungen und andere staatliche Maßnahmen gezügelt, geordnet und auch standardisiert. Die Funktion der Einbettungsmetapher besteht auf dieser Ebene darin, die zugrunde liegende Annahme zu dekonstruieren, es handle sich bei Märkten, ökonomischen Aktivitäten und Wirtschaft im Allgemeinen nicht um historisch und kulturell gewachsene Institutionen und Praktiken, sondern um quasi natürliche Phänomene (Rottenburg et al. 2000).
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Im Kontext der wirtschaftssoziologischen Netzwerkforschung gehen organisationstheoretisch inspirierte Studien der Frage nach, wie informelle Netzwerke innerhalb von Unternehmen die formellen Abläufe und Strukturen stabilisieren bzw. unterlaufen; am Theorem der Governance Structures orientierte Studien untersuchen dagegen u.a. das Zusammenspiel zwischen Unternehmen in Industrieregionen. Aus neoinstitutionalistischer Perspektive argumentiert Fligstein (2001), dass gerade die Entwicklung und Durchführung von Kooperationen der Ausgangspunkt für die Entstehung und Stabilisierung von Märkten ist. Kennzeichen soziologischer Netzwerkanalysen ist, dass sie die Hervorbringung und das Funktionieren von ökonomischen Zusammenhängen (Märkte, Organisationen etc.) nicht von dem sozialen Element trennen, aus dem Netzwerke bestehen. Soziale Beziehungen werden daher als systematische Bezugspunkte verstanden, deren Wirkung und Verwendung Aufschluss über Form und Gestalt von Netzwerken geben. Die Konzentration auf ein so verstandenes soziales Geschehen in den ökonomischen Lebenswelten lässt die Akteure und ihre Handlungen aber auch abhängig von der Morphologie sozialer Beziehungen erscheinen. Wir bestreiten in diesem Zusammenhang nicht generell die Bedeutung sozialer Dimensionen für die Realisierung wirtschaftlichen Handelns. Unklar bleibt aber erstens, welche Rolle das ökonomische Wissen spielt und zweitens, wie die Materialität der ökonomischen Welt sowie zeitliche Strukturen und Gefühle in diesem Konzept berücksichtig werden können. Kurz: Ökonomische Praktiken erschöpfen sich nicht in ihrer sozialen Einbettung, sind aber auch nicht von ihr entkoppelt (Krippner 2001; Heidenreich 2012). Der zentrale Topos, mit dem die Soziologie das Phänomen der Ungewissheit behandelt hat, ist das Konzept des Vertrauens, und zwar insofern, als es die soziale Funktion übernimmt, Komplexität und Ungewissheit zu reduzieren und Kooperation zu ermöglichen. Es kann diese Aufgabe übernehmen, da es eine Wissensform darstellt, in der Akteure etwas, aber nicht alles wissen. Für Simmel (1992 [1908]) ist Vertrauen ein »mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen. Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen« (Simmel 1992: 393 [1908]; Herv. i.O.). Luhmann (1989) bindet das Vertrauen an einen pekuniären Mechanismus: Derjenige, der vertraut, kann nicht anders als vertrauen, während derjenige, der »Geld hat, [...] anderen nicht zu vertrauen« braucht (Luhmann 1989: 55).
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Substituiert Luhmann (fehlendes) Geld durch Vertrauen, so wird bei Simmel ein Zwischenraum sichtbar, der für die soziologische Analyse relevant ist, denn auf Nichtwissen folgen Formen des Glaubens, der Imagination und der Erwartung, die ihrerseits Vertrauen verkörpern und Entscheidungen stabilisieren können. In der Wirtschaftssoziologie rekurrieren viele Studien auf das Konzept des persönlichen Vertrauens (Luhmann 1989), mit dem sie die Funktionsweise von Märkten, die Umsetzung von Kooperation und die Steuerung von (organisatorischen) Handlungszielen beschreiben (Möllering 2006). Die Konzentration auf die Wirksamkeit persönlichen Vertrauens verweist aber zugleich auf eine asymmetrische Konstellation, denn andere Komponenten, die ökonomische Praktiken ausmachen, oder andere soziale Orte, an denen Ungewissheit verhandelt und bearbeitet wird, bleiben im Narrativ des Vertrauens unberücksichtigt. Uns erscheint forschungsstrategisch relevant, Ungewissheit und Vertrauen nicht zu ontologisieren, das heißt sie als unabhängig von den Akteuren, ihren Handlungen und Handlungsmitteln zu verstehen, sondern sie daraufhin zu erforschen, wie in den Finanzinstitutionen Ungewissheit bearbeitet und in welchem Verhältnis Vertrauen und Nicht-Trauen stehen. Impulse für eine Erforschung der Finanzmärkte mit einem explizit gesellschaftstheoretischen Blickwinkel gingen jüngst von der Debatte über den »Finanzmarktkapitalismus« (Windolf 2005) aus. Hier stehen vor allem die institutionelle Regulierung des Wirtschaftssystems, das Aufkommen neuer Makroakteure, wie Fondsgesellschaften und Investmentbanken sowie neue Finanzinstrumente im Mittelpunkt der Analysen. Die Finanzmärkte und ihre Akteure werden dabei als Triebkräfte eines gesellschaftlichen Regimewechsels betrachtet, der – ganz besonders in Deutschland – die auf sozialen Ausgleich und langfristigen Wohlstand ausgerichteten Strukturen durch Kurzfristigkeit, Marktorientierung und Maximierung der Erträge von Shareholdern und einer neuen »Finanzdienstklasse« (Windolf 2008) substituiert hat. In einer weiter gefassten Perspektive werden die Auswirkungen dieses Regimewechsels auf das alltägliche Leben unter dem Begriff der Finanzialisierung als die Durchdringung des Alltagslebens durch finanzökonomische Denkmuster und Bewertungsstandards beschrieben (siehe Vollmer in diesem Band). Die größten Berührungspunkte der These eines finanzorientierten Regimewechsels und der Beiträge dieses Bandes liegen in der Frage nach der Funktion und dem Gebrauch finanztechnischer Instrumente, Modelle und Konzepte. Finanzmarktkapita-
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listische Studien interessieren sich für die Funktion dieser Modelle und Konzepte, lassen aber ihre Genese unberührt; finanzsoziologische Studien rücken dagegen deren Entstehung und Verwendung in das Zentrum der Analyse. 3. Die Social Studies of Finance Ein wichtiges Desiderat lassen die bislang skizzierten Ansätze unangetastet: die Erforschung des Wissens der Akteure, ihrer Praktiken und ihrer analytischen Werkzeuge. Dies ist in den vergangenen Jahren von einer Finanzsoziologie in Angriff genommen worden, die sich als eine Soziologie des Wissens und der Praxis versteht und auf wissens- und kultursoziologische Überlegungen Bezug nimmt. Kennzeichnend für sie sind folgende Überlegungen, die sich an das strong programme der Wissenssoziologie (Bloor 1976) anlehnen: Erstens wird die Trennung von Wissen und Praxis als problematisch erachtet. Wenn die Umsetzung von Wissen selbst eine soziale Handlung ist, dann verliert diese Unterscheidung ihre Relevanz. Hieran anschließend wird zweitens die starke Unterscheidung von wissenschaftlichem und Alltagswissen für theoretisch nicht begründbar erachtet. Der Fokus der Beobachtung liegt dagegen auf der Performanz der Praktiken und des Wissens in ökonomischen Handlungsfeldern und damit auf den konkreten Lokalitäten (bspw. Banken, Börsen, Versicherungsunternehmen) dieser Praktiken. Drittens werden diese Orte nicht nur als lokale Kontexte der Wissenserzeugung betrachtet, sondern auch als Arena der Legitimierung dieses Wissens. Theoretisch durch die neue Wissenschaftssoziologie inspiriert, stehen die Social Studies of Finance schließlich für eine empirische Erforschung ökonomischer Lebenswelten mit dem Anspruch, diesen wichtigen gesellschaftlichen Bereich soziologisch zu erschließen und Anregungen für die soziologische Theoriebildung zu formulieren (Kalthoff 2009). Eine solche Soziologie ökonomischen Wissens hat sich in den vergangenen Jahren als interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert. Hierzu gehören Studien über den Devisen-, Bond- und Optionshandel der internationalen Finanzmärkte, das Investmentbanking, den Auktionshandel, die Automatisierungstendenz an den Börsen, zur Kreditwirtschaft sowie Studien zur historischen Genese von Finanzmarktpraktiken und wirtschaftstheoretischen Schulen (für einen Überblick Knorr Cetina/Preda 2005; MacKenzie et al. 2007). Wichtige Unterschiede zur herkömmlichen Wirtschaftssoziologie sind die Betonung der zentralen Rolle des Wissens, die Konzentra-
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tion auf die Performanz ökonomischer Repräsentationen und die Analyse lokal situierter und zugleich institutionell verankerter Praktiken. Die Metapher der Einbettung, die für soziologische Netzwerkanalysen von zentraler Bedeutung wurde, ist von Callon (1998) aufgenommen und zugleich neu bestimmt worden. Zwei zentrale Thesen bestimmen seinen programmatischen Aufsatz: Es ist erstens die Wirtschaftstheorie (Economics), die als eine wissenschaftliche Disziplin die wirtschaftliche Praxis (Economy) rahmt und formatiert; in diesem Sinne ist die Ökonomie in die Wirtschaftstheorie eingebettet; er konstatiert zweitens die Existenz rational kalkulierender Akteure als das Ergebnis spezifischer, historisch figurierter Realitäten. Im Kontext der Actor Network Theory geht es Callon um die Einbettung menschlicher Akteure in ein Netz nicht-menschlicher und durch die ökonomische Theorie formatierter Kalkulationsmittel, die es den Akteuren erst erlauben, Berechnungen anzustellen, Prognosen zu formulieren und damit auch Handlungen zu evozieren. Demzufolge ist der homo oeconomicus Michel Callons nur ein Glied in einer Kette von Inskriptionen (Repräsentationen) und sozio-technischen Konstellationen. In Callons Konzept sind technische Artefakte und Interaktion voneinander getrennte Kodes; in den Arbeiten von Knorr Cetina (Knorr Cetina/Brügger 2002) zu den Devisenmärkten wird dagegen ihre Überschneidung thematisch. In einem ersten Schritt wird nach der Rolle der Objekte für die Akteure gefragt. Die Objekte dieser global operierenden Märkte kommen durch die Interaktion, die den Tausch ausführt, zur Existenz. Demzufolge werden die Objekte und ihr Zweck des (potentiellen) ökonomischen Gewinns performativ konstituiert. Dabei geschieht im Rahmen dieser instrumentellen Objektinteraktion auch noch mehr: Die Akteure richten nicht nur ihre (kompetenten) Handlungen, sondern auch ihre Affekte an ihnen aus; sie imaginieren etwa eine mögliche Bewegung des Marktes, sie hoffen auf ein besseres Angebot oder sie antizipieren den move anderer Händler. In einem zweiten Schritt wird die Trennung zwischen einem Markt als externer Referenz und seiner Repräsentation auf den Bildschirmen der Devisenhändler aufgehoben. Der Markt der Devisenhändler wird auf die Bildschirme gebracht, dort erzeugt und laufend erneuert; was auf der Oberfläche der Bildschirme erscheint, wird durch die Händler appräsentiert. Einbettung heißt hier technische und interaktive Rahmung sowie Zugehörigkeit zu einer Wissensgemeinschaft, die durch Reziprozität und zeitliche Synchronisierung der Informationen gekennzeich-
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net ist. Ein besonderes Verdienst dieses Theorievorschlags ist es, dass die Repräsentation ökonomischer Handlungen nicht mehr auf einen externen Referenten bezogen wird, sondern dass die Repräsentation als ökonomische Praxis sui generis betrachtet wird: Durch die Beobachtung wird ein gemeinsames Objekt konstituiert, auf das sich die weiteren Tauschhandlungen beziehen, deren Resultate und Effekte wiederum als (digitale) Darstellung erscheinen, auf die sich weitere Handlungen und Interpretationen beziehen. Ökonomische Darstellungen, die in den Medien der mathematischen Schrift, der kartografischen Signatur, der Matrix von Listen und Tabellen sowie in der Form von Charts einen Sachverhalt visualisieren, sind das Ergebnis eines mehr oder minder langen Übersetzungsprozesses, in dem homogenisiert, simplifiziert und weggelassen wird. Generell gilt, dass ökonomische Praktiken und ihre Effekte nicht direkt gegenwärtig sind; das, was ökonomische Akteure von der Ökonomie wissen, das wissen sie durch die Darstellung und ihre Medien. Nur wenn die ökonomischen Praktiken in Zeichenform symbolisch repräsentiert werden, sind die für das Operieren des Finanzmarkts charakteristischen Berechnungen, Transformationen und Bewertungen in systematischer Weise möglich. Die Praktiken der Übersetzung stehen im Mittelpunkt der Frage danach, wie sich Realität ›dort draußen‹ und ihre Darstellung zueinander verhalten. Kulturtheoretische Studien unterscheiden zunächst zwei Formen der Übersetzung: erstens als soziale, dingliche oder politische Stellvertretung, in der etwas (ein Ding, eine Person, ein Zeichen, eine Handlung) für etwas anderes steht, sowie zweitens als Verkörperung, in der die Grenzen des Darzustellenden und des Darstellenden undeutlich werden und beide Elemente nahezu eine Einheit eingehen. Im Unterschied zu den Formen der Stellvertretung und der Verkörperung kehrt das Konzept der Darstellung als Hervorbringung das lineare Verhältnis von Wirklichkeit und Darstellung um (Rheinberger 2001). Dies meint, dass ein Sachverhalt durch seine Repräsentation überhaupt erst entsteht und realisiert wird. Übertragen wir diese Darstellungsformen auf die ökonomische Welt, so ergibt sich folgendes Bild: Repräsentation als ökonomische Stellvertretung meint eine direkte Entsprechung von formalem Ausdruck und ökonomischer Realität; Repräsentation als ökonomische Verkörperung bezeichnet ein anderes Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem: So steht das Dollarzeichen nicht nur für eine Währung, sondern verkörpert Macht, Reichtum und Liquidität überhaupt. Repräsentation als
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ökonomische Hervorbringung meint, dass erst die Darstellung etwas entstehen lässt, das zuvor nicht existierte. Zum Beispiel bringt erst die Erfindung und Konstruktion des Bruttoumsatzüberschusses (Cash Flow) diesen zur Existenz und rekonfiguriert damit auch die ökonomische Praxis. 4. Forschungsperspektiven Die Soziologie der Finanzmärkte ist – zumal in Deutschland – ein recht junges Forschungsgebiet. Die Dynamik und Bedeutung der Finanzmärkte begründet sich u.a. durch die gewaltigen gesellschaftlichen Ressourcen, die hier versammelt werden, durch die globale Reichweite und Geschwindigkeit des Finanzsystems, wie durch seine Komplexität und Innovativität auf der Ebene von Modellen und Instrumenten. Aus unserer Sicht stellen sich der Finanzsoziologie insbesondere die folgenden Herausforderungen: Erstens sind die einschlägigen theoretischen Konzepte weiter zu klären und zu präzisieren. Diesbezüglich kann die Forschung auf die in anderen Soziologien – Wirtschafts- und Wissenssoziologie, Körperund Techniksoziologie, Organisations- und Arbeitssoziologie etc. – geleisteten Beiträge zurückgreifen. Wichtig erscheint uns ferner, dass die eingeführten Konzepte – etwa die der Performativität, der Appräsentation, der Darstellung, der Zeitlichkeit – spezifiziert werden. Am Beispiel der temporalen Struktur der Finanzmarktpraktiken wird ersichtlich, dass die Zeitdimension im Kontext der Finanzmärkte ein ganz neues Gewicht erhält. Besondere Bedeutung besitzt das für Finanzmärkte näher zu bestimmende Verhältnis von Wirklichkeit und Darstellung: Die Finanzmarktrealität ist wie keine zweite an Praktiken ihrer symbolischen, medialen und kalkulativen Hervorbringung gebunden, die ihrerseits als vielfache Übersetzungen von ökonomischen Theorien und Märkten, Modellen und Praktiken zu untersuchen sind. Wir gehen davon aus, dass Übersetzungen erstens eine transformierende Wirkung ausüben, und zwar sowohl auf das zu übersetzende Objekt als auch auf den Kontext, in den das übersetzte Objekt implementiert wird; zweitens ist die Praxis der Übersetzung eng mit Fragen der Interpretation und Darstellung verbunden, kurz: mit Rahmungen, die sie voraussetzt und erzeugt. Im Hinblick auf die Praktiken der Repräsentation ergeben sich hierbei Anknüpfungen zu kultur- und medientheoretischen Forschungen; im Hinblick auf die genannten theoreti-
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schen Konzepte sehen wir die Wirtschafts- und Finanzsoziologie vor die Aufgabe gestellt, diese weiter zu empirisieren. Zweitens sind die Praxisformen unterschiedlicher Akteure und in verschiedenen Tätigkeitsfeldern empirisch zu untersuchen – trotz der Schwierigkeiten, den Zugang zu den Institutionen dieser sehr abgeschotteten Welt herzustellen. Denn die Soziologie weiß empirisch noch relativ wenig über die verschiedenen Sparten der Finanzmarktgeschäfte und das hierfür nötige Wissen, die Deutungsmuster und die Praktiken ihrer Träger. Die Untersuchung finanzmarktspezifischer Praktiken darf sich aber nicht auf die menschlichen Handlungsträger beschränken. Im Gegenteil muss sie die Körperlichkeit der Handlungsträger als Teil eines soziotechnischen Zusammenhangs rekonstruieren und hierbei dem Zusammenhang von Körper und Kognition, technischen Medien und ökonomischen Repräsentationen Rechnung tragen. Auch die technischen, kalkulativen und organisatorischen Voraussetzungen und Rahmungen der Finanzmärkte sind in diesem Zusammenhang zu untersuchen. Forschungsstrategische Anschlüsse hierzu finden sich in den Soziologien materieller Objekte, den Praxistheorien sowie in den Organisations- und Institutionentheorien. Drittens ist die sozio-ökonomische Macht empirisch zu explizieren und theoretisch zu fassen, mit der die Finanzmärkte und ihre sozialen Akteure gegenwärtige Gesellschaften gestalten und in das Feld der Politik eingreifen. Zu untersuchen sind bspw. die diskursiven, personellen und politischen Austauschbeziehungen zwischen den Finanzmärkten, den Unternehmensberatungen, den jurido-politischen Institutionen und den (Wirtschafts-)Wissenschaften. Ferner ist zu untersuchen, wie Akteure der Finanzmärkte ihre ökonomische Macht inszenieren – in ihrem Vokabular, ihrem Habitus, ihrer Architektur – und sie auch verbergen, um sie umso wirksamer zu gestalten. Der wirtschafts- und finanzsoziologischen Forschung stellt sich also die doppelte Aufgabe, das Wissen und die Praktiken der Finanzmärkte von innen her zu explizieren und ihren politisch-ökonomischen Einfluss auf die Gestaltung unserer Gesellschaften zu kritisieren. Die Aufsätze dieses Bandes leisten hierzu einen ersten Beitrag. Sie spiegeln einen heterogenen Ausschnitt aus der aktuellen wirtschafts- und finanzsoziologischen Forschung sowie der gesellschaftstheoretischen Kritik an der Wirkung der Finanzmärkte auf das Wirtschaftsgeschehen. Die Beiträge im Einzelnen:
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Karin Knorr Cetina analysiert Finanzmärkte als reflexiv koordinierte Märkte, deren Kernstück skopische Systeme sind. Basierend auf den Bildschirmkonfigurationen, wie sie in den Handelsräumen des Devisenhandels zu finden sind, und den mit ihnen verbundenen Handelsund Informationssystemen, aggregieren und spiegeln solche Systeme die kontinuierlich im Fluss befindliche Wirklichkeit der Finanzmärkte. Zugleich reflexiv und performativ, ermöglichen sie die Synchronizität, Kontinuität und zeitliche Unmittelbarkeit des Finanzhandelns und schaffen so globale, von lokalen Kontexten losgelöste und sich über Zeitzonen hinweg bewegende Märkte. Rainer Diaz-Bone stellt den in den französischen Sozialwissenschaften prominenten Ansatz der »Économie des conventions« (Ökonomie der Konventionen) vor. Konventionen sind Wissens- und Wertigkeitsordnungen. Als solche bezeichnen sie Standards, wie Informationen über Märkte, Produkte etc. in eine Form gebracht werden, damit sie anerkannt zirkulieren können. Sie sind ebenfalls cognitive devices, mit denen Akteure die Informationen bewerten, die auf den Finanzmärkten zirkulieren. Im Zentrum des Ansatzes stehen das Wechselspiel der situativen Erzeugung von Konventionen und deren transsituativer Wirkung. Hendrik Vollmer erweitert die Untersuchungsperspektive, indem er den Bedeutungsgewinn der Finanzmärkte im Zusammenhang des Bedeutungsgewinns von Finanzzahlen in sozialen Situationen betrachtet. Er geht der Hypothese nach, dass die kollektiven Grundlagen dieser Finanzialisierung »in vergleichsweise kleinformatigen sozialen Phänomen« zu suchen sind – in lokalen Verhaltensordnungen, die verschiedene »Mikrosignaturen der Finanzialisierung« aufweisen. Es sei irreführend, den Finanzmarkt als alleinigen Ausgangspunkt der Finanzialisierung zu betrachten. Dieser sei lediglich eine von vielen Arenen, die aber aufgrund ihrer Robustheit und Mobilität in der »Ökologie kollektiver Rechenaktivitäten« dominant geworden ist. Sighard Neckel geht »Refeudalisierungsprozessen« moderner Gesellschaften nach, die durch die Praxis und den Diskurs der Finanzmärkte initiiert werden. Von Interesse ist die Art und Weise, wie ökonomische Organisationen und Führungsgruppen das von ihnen vertretene Gesellschafts- und Menschenbild rechtfertigen. Diagnostiziert werden drei Verschiebungen: das Ende des Konzepts, durch Leistung zum Erfolg zu kommen und damit die Geburt einer Managerklasse »ohne Leistung und ohne Risiko«; die Verwandlung des Prinzips too
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big to fail in staatliche Unterstützungen und die Substitution des Gemeinwohls durch eine zunehmende Umverteilung des Reichtums. Christoph Deutschmann unternimmt eine theoretische Weiterentwicklung der vieldiskutierten These der Performativität. Er geht zunächst davon aus, dass die soziale Wirklichkeit generell performativ sei. Die Frage sei deshalb nicht ob, sondern in welcher Weise die allgemeine Performativität des Sozialen im Feld der Wirtschaft und des Finanzmarktes eine besondere Form annehme. Im Geld, so Deutschmann, verbinden sich latente und manifeste Performativität. Insofern Geld das gesellschaftlich Unbeobachtbare repräsentiere, übernehme es in modernen Gesellschaften diejenige Funktion, welche die Religion in vormodernen Gesellschaften innehatte. Andreas Langenohl beobachtet Konjunkturen theoretischer Diskurse in der Finanzökonomik. Seine Beispiele sind die Erwartungsnutzentheorie zur Mikrofundierung makroökonomischer Entwicklungen sowie die Etablierung der Mathematical Finance zur Modellierung unvollständiger Märkte. Diese theoretischen Diskurse spiegeln dabei ein Wissen über Problemkonstellationen von Finanzmärkten und sind daher an ihrer Lösung und Formatierung beteiligt. Der Beitrag macht die Soziologie der Artikulation nutzbar für die Analyse theoretischer Finanzmarktdiskurse und führt daher die prominente Diskussion über die Performativität ökonomischer Darstellungen fort. Ramon Reichert fragt zunächst danach, in welcher Weise neue Repräsentationsformen, wie der Dow Jones Industrial Average und das Börsenbarometer die Außendarstellung der Börse ab Mitte des 19. Jahrhunderts prägten. Im Anschluss erörtert er, wie die Turbulenz als eine zeitgenössische »Grenzfigur des Wissens« den Finanzmarkt als ein »hypothetisches Objekt« vorstellbar mache, das keinen bestimmten, sondern nur noch möglichen Regeln folgt. Solche meteorologischen Metaphern seien zum einen Hinweise darauf, wie »notorisch schwankend und unsicher« das Terrain der Spekulation geworden ist, und nähmen darüber selbst Einfluss auf das finanzmarktliche Handeln – seien also performativ. Herbert Kalthoff und Jens Maesse beobachten Finanzmathematiker bei ihrer Arbeit des Entwerfens finanzmathematischer Modelle und Lösungen. Sie verlassen die operative Seite der Finanzmärkte, um die Fabrikation von Kalkulationsmedien für den Handel mit Kreditderivaten (CDO) zu thematisieren. Der Blick in diese Black Box zeigt die Darstellung eines externen Phänomens in der mathematischen Schrift
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sowie die Formen, in denen sie existiert. Plädiert wird für ein zirkuläres Modell von Auftraggebern (Finanzinstitutionen) und Finanzmathematikern, die füreinander Vermittler und Adressat ökonomischer Erwartungen und finanzmathematischer Machbarkeit sind. Leon Wansleben untersucht die spezifische Expertise von Währungsanalysten und ihre Funktion innerhalb des Finanzmarktes. Er zeigt, wie mit dem Aufstieg institutioneller Marktteilnehmer im Währungsmarkt, die im Gegensatz zu den Corporates (transnationale Unternehmen) risikoaffine Strategien verfolgen, sich eine neue Marktkultur der Bewertung und der Spekulation durchsetzt. An die Stelle der Minimierung von Währungsrisiken tritt die Identifikation von Profitchancen. Damit verschiebt sich die Arbeit von Analysten von der Bereitstellung von Expertise zu einem »Wettbewerb unter Analysten im Spiegel der Kundenaufmerksamkeit«. Luise Klus untersucht das Portfolio Management von zwei Seiten: Auf der einen Seite steht der theoretische Diskurs der ökonomischen Theorie, mit seiner Deutungsmuster prägenden Kaskade von Unterscheidungen und Präzisierungen. Auf der anderen Seite stehen – am Beispiel einer Kapitalanlagegesellschaft – das Investieren und Entscheiden in Bezug auf Marktbewegungen – Praktiken, die sich an diesem Diskurs orientieren, ihn aber zugleich an die Gegebenheiten des Unternehmens und des Marktes anpassen. Uwe Vormbusch rekonstruiert die Handlungsrationalität professioneller Portfolio Manager. Diese versuchen, Entscheidungsautonomie nicht etwa durch einen systematischen Zahlengebrauch zu erlangen, sondern gegen die scheinbare Objektivität der Zahlen und die Zwangsläufigkeit hieraus abgeleiteter Entscheidungen. Daten und Modelle sind für sie Objekte brüchigen Vertrauens und schwachen Wissens, die gleichwohl erst den Raum öffnen, innerhalb dessen gehandelt werden kann. Die Wissensordnung dieses Finanzmarktbereiches ist – so die These – als Zwang zur Konsumtion unklarer Wissensobjekte zu charakterisieren, deren Entstehungskontext nicht kontrolliert werden kann. Stefan Laube untersucht in seinem Beitrag ein vergessenes Thema der Wirtschafts- und Finanzsoziologie: den menschlichen Körper. Sein Beispiel sind die Händler im Derivatehandel einer regionalen Börse. Der Beitrag zeigt, welche Funktionen dem menschlichen Körper im Rahmen der Handelsaktivitäten zugewiesen und zugemutet werden. Als Wahrnehmungs- und Erkenntnisinstrument ist er dauerndes Sehen, wachsame Aufmerksamkeit, ein mit Rechnern verbundenes Instrument
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sowie ein schnell handelndes Etwas. Analysiert werden die Verzahnungen ökonomischer Repräsentationen und körperlicher Reaktionsweisen. Barbara Grimpe korrigiert in ihrem Beitrag die klaren Unterscheidungen und Attribute, mit denen Markt und Staat – hier Effizienz, dort Bürokratie – beschrieben werden. Am Beispiel des Managements staatlicher Schulden zeigt der Beitrag administrative Einheiten, die in das Finanzmarktgeschehen involviert sind und über miteinander verbundene Rechner skopische Beobachtungsräume schaffen. Eine eigens programmierte Software des Schuldenmanagements erlaubt dabei immer wieder neue Darstellungen (»Zukunftsentwürfe«) vorzunehmen, die ihrerseits über eine eigene Halbwertszeit verfügen: bis zur nächsten Darstellung.
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THEORETISCHE UND GESELLSCHAFTSKRITISCHE KONZEPTE
Von Netzwerken zu skopischen Medien Die Flussarchitektur von Finanzmärkten K ARIN K NORR C ETINA
1. Theoretische Überlegungen Die rezente Wirtschaftssoziologie sieht Märkte eingebettet in soziale Beziehungen und Netzwerke. Sie nimmt an, dass diese Strukturen Märkte definieren und ökonomische Handlungen rahmen (bspw. White 1981, 1993, 2002; Baker 1981, 1984; Baker et al. 1998; Granovetter 1985; Swedberg/Granovetter 1992; Swedberg 1994, 1997; Burt 1983, 1992; DiMaggio/Louch 1998; Uzzi 1997, 1999; Podolny 2001).1 Der vorliegende Artikel unterscheidet zwei Typen von Märkten: solche, die auf Netzwerkstrukturen basieren und deren Entwicklungen und Ergebnisse vor allem durch soziale Beziehungen bestimmt werden, und solche, die entbettet und von Netzwerken entkoppelt sind und das aufweisen, was ich eine Flussarchitektur2 nenne. Wie bereits andernorts dargestellt (Knorr Cetina/Bruegger 2002a, 2002b), sind Flussarchitekturen nicht durch Netzwerke relational strukturiert, sondern vielmehr mikrostrukturiert. Ihre Struktur ist komplexer als mit Hilfe einer auf Knotenpunkte und Relationen beschränkten Analytik ausge1
Ich schulde den Managern, Händlern, Verkäufern und Analysten Dank, deren Aktivitäten ich gemeinsam mit Urs Bruegger, dem Co-Autor eines anderen Beitrags, untersuchte und die uns großzügig mit Informationen versorgten.
2
Für einen allgemeineren Gebrauch des Begriffs »Architektur« in Bezug auf Marktinstitutionen aus einer feldtheoretischen Perspektive siehe Fligstein (2001).
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drückt werden kann, und sie weisen Koordinations- und Verhaltensmuster auf, die zwar in ihrer Reichweite global, ihrem Wesen nach aber auf der Mikroebene angesiedelt sind. Netzwerke sind nach Fligstein (1996: 657) »sparsame« soziale Strukturen. Man sollte sie differenzieren von den dichter gewobenen Texturen medien-ermöglichter, wissensdurchzogener globaler Finanzmarktfelder, die über Mikrostrukturen Zeitgemeinschaften etablieren. Wiewohl Flussarchitekturen Netzwerke beinhalten, sind diese nicht das zentrale Strukturierungsprinzip solcher globalen Märkte. Diese basieren vielmehr zentral auf skopischen Systemen, die die Marktwirklichkeit abbilden, während sie zugleich ihr kontinuierliches Prozessieren und ›Fließen‹ ermöglichen. Der Begriff -skop, abgeleitet vom griechischen skopein – sehen – bezeichnet in Verbindung mit einer entsprechenden Qualifizierung eine Beobachtungsapparatur, wie etwa im Wort Periskop. Im soziologischen Denken sind Koordinations- und Integrationsmechanismen von einiger Wichtigkeit und hier ist das Netzwerkkonzept von Bedeutung. Ein Netzwerk ist ein Gefüge von Knotenpunkten, die durch Beziehungen miteinander verbunden sind. Diese dienen als Kanäle für Kommunikation, Ressourcen und andere koordinierende Vorgänge, die das Arrangement zusammenhalten, indem sie sich zwischen den Knotenpunkten hin- und herbewegen. Kooperationen, strategische Allianzen, Austausch, emotionale Bindungen, verwandtschaftliche oder persönliche Verbindungen sowie Formen der Gruppenbildung und -etablierung basieren auf Beziehungen und realisieren Sozialität in Beziehungsnetzwerken. Wir sollten jedoch auch reflexive Beobachtungs- und Projektionsmechanismen, die durch das relationale Vokabular nicht erfasst werden können, in die Überlegungen einbeziehen. Wie Kristalle als Linsen fungieren können, die Licht bündeln und es an einem Punkt fokussieren, so bündeln solche Mechanismen Aktivitäten, Interessen und Ereignisse und fokussieren sie auf eine Oberfläche, von der aus die Resultate dann wiederum in verschiedene Richtungen projiziert werden können. Ist ein solcher Mechanismus vorhanden, orientieren sich die Teilnehmer auf diese abgebildete Realität hin und koordinieren ihre Aktivitäten entsprechend. Das System funktioniert als eine zentrierende und vermittelnde Einheit, durch die Informationen, Ereignisse und andere Dinge hindurch geschleust werden und von der sie ausstrahlen. Man kann sich diesen Gedanken verdeutlichen, indem man sich einen Beobachter, der Ereignisse verfolgt, als Instrument vorstellt:
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Wenn solch ein Beobachter eine textuelle oder visuelle Darstellung des Beobachteten entwirft und für ein Publikum projiziert, wird das Publikum anfangen, stärker auf die Merkmale der auf diese Weise reflektierten, repräsentierten Wirklichkeit zu reagieren als auf verkörperte, vor-reflexive Ereignisse. In den von uns untersuchten Finanzmärkten fungiert der Computerbildschirm als reflexiver Mechanismus und »Projektionsfläche«; mit dem Bildschirm sind Soft- und Hardwaresysteme verbunden, die durch Informationsanbieter und andere Dienstleister unterhalten werden und die ein breites Spektrum an Beobachtungs-, Darstellungs- und Interaktionsmöglichkeiten anbieten. Unter diesen Bedingungen wird die vor-reflexive Wirklichkeit abgeschnitten und ersetzt; einige der Mechanismen, die wir in einer Lebenswelt als gegeben voraussetzen, wie bspw. ihre performativen Handlungsmöglichkeiten, sind in diese Systeme integriert, während andere durch spezialisierte Prozesse ersetzt wurden, über welche die Bildschirme mit Informationen versorgt werden. Die technischen Systeme setzen eine Lebenswelt zusammen und bilden sie zugleich ab. Zudem appräsentieren (nahebringen, Schütz/Luckmann 1973) und projizieren sie Kontexte und Horizonte, die sich außerhalb der Reichweite gewöhnlicher Lebenswelten befinden – sie vermitteln nicht nur transnationale Situationen, sondern übermitteln eine globale Welt, welche die für den Devisenmarkt hauptsächlich relevanten Zeitzonen umfasst. Wie ich im dritten Abschnitt (»Wie kam der Markt auf den Bildschirm?«) deutlicher machen werde, tun sie dies von Handelsräumen aus, die in globalen Städten (Sassen 2001) lokalisiert sind und die der Flussarchitektur von Finanzmärkten als Brückenköpfe dienen. Betrachtet man das auf einer Ebene analytischer Abstraktion, stellt die Konfiguration von Bildschirmen, Inhalten und Kapazitäten, denen sich die Händler gegenüber sehen, ein globales Beobachtungsmedium dar, das Marktbewegungen spiegelt und unverzüglich übermittelt. Für die hier interessierende Unterscheidung von für das Verständnis von Märkten relevanten Koordinationsformen bezeichnet der Begriff eine reflexive Form der Koordination, die flach (nicht hierarchisch) ist, während sie zugleich auf einem umfassenden Überblick über die Dinge basiert – auf dem reflektierten und projizierten globalen Kontext und Transaktionssystem. Diese Form der Koordination ist von Netzwerk-Koordination zu unterscheiden, die einen vor-reflexiven Charakter hat – Netzwerke sind in territoriale Räume eingebettet und verweisen eben nicht auf die Existenz reflexiver Projektionsmechanismen,
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die relationale Aktivitäten innerhalb neuer Bezugsrahmen aggregieren, rekontextualisieren und sichtbar machen in einer Weise, die wiederum für das analytische Verständnis des Fortgangs der Aktivitäten relevant ist. Mit dem Konzept des skopischen Mediums schlage ich einen vereinfachenden Begriff für die Konstellation technischer, visueller und verhaltensbezogener Komponenten vor, die, gebündelt auf Finanzbildschirmen, den Teilnehmern eine globale Welt übermitteln, an der sie auf einer gemeinsamen Plattform – eben ihren Computerbildschirmen – partizipieren können. Damit wird postuliert, dass für eine Konzeption von Finanzmärkten nicht nur elektronische Infrastrukturen analytisch relevant sind, sondern auch Computerterminals und Bildschirme – diejenigen Teletechnologien (Clough 2000: 3), die in den Handelsräumen allgegenwärtig sind und im Fokus der Aufmerksamkeit der Teilnehmer stehen – sowie die Handelsräume selbst, in denen große Ansammlungen solcher Bildschirme existieren. Im Folgenden beginne ich mit einer Analyse von Finanzmärkten, eine Analyse, die Computerbildschirme als Kernstück skopischer Koordination versteht. Ich werde außerdem kurz die Innovation und das Aufkommen der relevanten Systeme in den 1970er und 1980er Jahren skizzieren und zeigen, wie diese zur Ablösung netzwerkförmig organisierter Märkte geführt haben. In Abschnitt drei thematisiere ich einige temporale Merkmale des Devisenmarktes, den ich exemplarisch behandle. Eine Flussarchitektur resultiert aus einer Kombination dieser temporalen Merkmale mit skopischer Koordination. 2. Der gespiegelte Markt. Skopische Medien veranschaulicht Um mit einem konkreten Fall zu beginnen, betrachten wir den Devisenmarkt, der mit einem durchschnittlichen Tagesumsatz von ca. vier Milliarden US-Dollar im Jahre 2010 der größte Finanzmarkt und außerdem der globalste Markt ist (BIS 2010; für eine umfassende Beschreibung der Bond-, Stock- und anderer Finanzmärkte bspw. Abolafia 1996a, 1996b, 1998; Smith 1981, 1990, 1999; Hertz 1998). Im Gegensatz zu anderen Finanzmärkten ist der Devisenmarkt nicht hauptsächlich an der Börse angesiedelt, sondern besteht aus Transaktionen, die Händler im außerbörslichen Over-the-Counter-Markt durchführen. Over-the-Counter-Transaktionen werden auf den Handelsfluren großer Investmentbanken und anderer Banken realisiert. In den Handelsräumen der wichtigen globalen Banken in Zürich und New
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York, in denen wir unsere Untersuchungen3 durchführten, waren zwischen 200 (Zürich) und 800 (New York) Händler mit Aktien-, Bondund Währungshandel beschäftigt, die verschiedene Handelstechniken und -instrumente umfassten. In kleineren Handelsräumen in Sydney, Zürich und New York waren zwischen 40 und 80 Händler beschäftigt. Circa 20 Prozent der Händler handeln mit Devisen an trading desks, die in diesen Räumen gruppiert sind. Die Händler an den trading desks in zwischenbanklichen Währungsmärkten sind keine Broker, die Geschäfte vermitteln, sondern vielmehr »Marktmacher« (marketmakers). Sie nehmen ihre eigenen »Positionen« im Markt ein und versuchen von Preisdifferenzen zu profitieren; ebenso bieten sie anderen Teilnehmern Geschäfte an, wodurch sie Liquidität auf den Markt bringen und den Markt aufrecht erhalten – wenn nötig auch indem sie gegen die eigene Position handeln. Devisengeschäfte, die über diese Kanäle abgeschlossen werden, beginnen bei einer Größenordnung von mehreren 100.000 US-Dollar pro Transaktion und können bis zu 100 Millionen US-Dollar und mehr umfassen. Die Geschäfte werden von Investoren, Spekulanten, Finanzmanagern, Zentralbankern und Anderen getätigt, die von den erwarteten Kursbewegungen profitieren wollen oder die Währungen benötigen, um in transnationale Investments ein- oder aus ihnen auszusteigen (z.B. Fusionen und Übernahmen). Zur Durchführung von Geschäften steht allen Händlern in den Handelsräumen eine Reihe von Technologien zur Verfügung; am auffälligsten sind die bis zu sechs Computerbildschirme, die den Markt abbilden und der Durchführung von Geschäften dienen. Wenn Händler morgens den Handelsraum betreten und ihre Plätze einnehmen, schalten sie ihre Bildschirme an und von diesem Zeitpunkt an bleiben die Augen auf diese Bildschirme fixiert, die ihre visuelle Aufmerksamkeit auch dann noch gefangen nehmen, wenn Händler miteinander reden oder sich zurufen. Ihre Körper und die Welt des Bildschirms verschmelzen in einem völligen Eintauchen in die Aktivität, an der sie
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Die Studie basiert auf einer ethnographischen Untersuchung, die 1997 auf den Handelsfluren einer großen, globalen Investmentbank in Zürich und mehrerer anderer Banken durchgeführt wurde. Für die Beschreibung dieser Untersuchung siehe Knorr Cetina/Bruegger (2002a). Siehe auch Bruegger (1999) für eine ausführliche und erschöpfende Beschreibung des Währungshandels.
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teilnehmen. In den erzeugten und gedeuteten Bildschirmanzeigen, auf welche die Händler fixiert sind, konstituiert sich der Markt. Was zeigen die Bildschirme? Das Hauptmerkmal der Bildschirme und das Kernstück des Marktes sind für die Händler die Handelspreise, die auf dem Electronic-Broker-System (EBS) angezeigt werden, einem speziellen Bildschirm, auf dem Handelsangebote, die nach den besten Kaufs- und Verkaufspreisen automatisch vorsortiert wurden, angegeben werden. Er zeigt Preise für Währungspaare an (hauptsächlich USDollar gegen andere Währungen wie Schweizer Franken oder Euro) und damit die Transaktionen, die zu diesen Preisen möglich sind. Händler nutzen häufig den Electronic Broker, der den Voice Broker (einen »wirklichen« Broker) im Wesentlichen ersetzt hat; die Preistätigkeit dort ist wiederum zentral für die Preise, die sie als »Marktmacher« für Anrufer festlegen, die mit ihnen über das Reuters Conversational Dealing – einem weiteren speziellen Bildschirm (und Computernetzwerk) – Kontakt aufnehmen. Auf dem Reuters Dealing werden Geschäfte mittels bilateraler »Konversationen« abgeschlossen, die über diese Bildschirme geführt werden. Diese ähneln dem Austausch von Email-Nachrichten, wofür Reuters Dealing ebenfalls – sowohl in als auch zwischen den Konversationen, die man im Rahmen der Transaktion führt – verwendet wird. Auf einem weiteren Bildschirm beobachten die Händler indikative Preise, die weltweit von verschiedenen Banken angegeben werden. Diese Preise sind nicht handelbar und drücken Handelsinteressen aus. Händler können auch ihre eigene gegenwärtige Position auf den Märkten beobachten (z.B. dass sie einen Überschuss oder eine Minus-Position in bestimmten Währungen haben), ebenso wie die Geschichte der kürzlich abgeschlossenen Geschäfte und ihre gesamten Kontostände (Gewinne und Verluste in bestimmten Zeitspannen) überblicken. Schließlich beobachten Händler Schlagzeilen, Wirtschaftskommentare und Auswertungen, die ihnen ebenfalls über die Bildschirme geliefert werden. Eine wichtige, auch auf den Bildschirmen erscheinende, in Bezug auf Genauigkeit, Geschwindigkeit und Aktualität der Information aber näher an den eigentlichen Geschäften der Händler befindliche Informationsquelle sind interne bulletin boards, auf denen Teilnehmer selbst Informationen eingeben und weltweit zur Verfügung stellen. Betrachten wir nun die Installation dieser Handelsräume. Alle Finanzmärkte sind heute von elektronischen Informationen und Kommunikationstechnologien abhängig. Einige Märkte, wie bspw. der hier
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interessierende Devisenmarkt, sind vollständig elektronische Märkte. Als Over-the-Counter-Märkte des Handels zwischen Banken sind Währungsmärkte auf elektronische Technologien angewiesen, die den direkten Kontakt der Händler miteinander und die Bereitstellung der entsprechenden Handelsdienstleistungen über Grenzen und Kontinente hinweg ermöglichen. Die z.B. von Reuters bereitgestellten Verbindungen vernetzen diese Märkte durch Intranetze, welche die Terminals der Handelsräume und andere Einrichtungen bestimmter, in globalen Städten angesiedelter Banken und Bankengruppen intern miteinander verbinden. Reuters, Bloomberg und Telerate bieten die entsprechenden Nachrichten und Informationsdienstleistungen an. Im Jahre 2001 hatte Reuters weltweit – verteilt auf alle Märkte und Einrichtungen – mehr als 300.000 Terminals installiert, Bloomberg über 150.000. Die Umsätze aus den Leasingvereinbarungen ihrer Systeme beliefen sich zum Jahresende 2001 auf jeweils annähernd 2,5 Milliarden US-Dollar (Barringer 2002: BU 5). Mit den Terminals kamen auch technisch ausgefeilte Softwares, Handels- und Informationssysteme, Emails, die Möglichkeit des Zuschnitts auf kundenspezifische Anforderungen, Optionen zum Anlegen von Worksheets, buchhalterische Dienstleistungen und elektronische Brokersysteme, von denen einige – wie EBS, das Electronic-Broker-System – von den Banken selbst entwickelt wurden. Die Verbindungen sowie die komplexe und teure Hard- und Software, die von den Anbietern sowie den Banken selbst gestellt werden, konstituieren die materielle Infrastruktur der Finanzmärkte. Inwiefern spielt dies alles eine Rolle für den Unterschied zwischen einer Netzwerk-Koordination und der reflexiven und globalen skopischen Koordination? Zunächst wird aus den bisherigen Beschreibungen bereits ersichtlich, dass die materielle Infrastruktur der Finanzmärkte mehr beinhaltet als elektronische Netzwerke, die über Kabelund Satellitenverbindungen zwischen Banken und Kontinenten hergestellt werden. Sie schließt die Einrichtung der Handelsräume in globalen Städten ein; die Finanzzentren in den drei Hauptzeitzonen sind: London, New York, Tokio, Zürich, Singapur und einige wenige andere (Sassen 2001: 168 ff.; Leyshon/Thrift 1997). Die Handelsräume sind die Brückenköpfe eines globalen Marktes, der sich von Zeitzone zu Zeitzone bewegt. Das Kernstück der miteinander vernetzten Handelsräume sind ihre Bildschirmkonfigurationen sowie die dahinterstehenden, hochentwickelten Hard- und Softwareleistungen. Wenn über die elektronische Infrastruktur von Finanzmärkten gesprochen wird, sollte
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man die Hard- und Software der Handelsräume und die Bildschirm/ Terminalstruktur nicht ignorieren, die diese Handelsräume erst zum Handeln befähigt. Zweitens sind die elektronischen infrastrukturellen Vernetzungen, die alle teilnehmenden Institutionen – einschließlich der Anbieterfirmen – miteinander verbinden, nicht einfach deckungsgleich mit sozialen Netzwerken, durch die Transaktionen fließen. Die elektronischen infrastrukturellen Netzwerke basieren auf anderen Konstruktionskriterien, beziehen elektronische Knotenpunkte und Verknüpfungen ein, die für soziale Beziehungen irrelevant sind, und das, was ständig durch sie hindurchfließt, beruht nicht auf sozialen und finanziellen Beziehungen. Zum Beispiel reagieren Händler mit Electronic-BrokerGeschäften auf anonyme Kauf- oder Verkaufsangebote, die durch die automatisierten EBS-Systeme zur Verfügung gestellt werden. Drittens – und dies scheint mir am wichtigsten – sind die Terminals weitaus mehr als nur Fenster zu einem physisch weit entfernten Gegenüber. Vielmehr stellen sie die Wirklichkeit der Finanzmärkte erst her – das referentielle Ganze, worauf sich »im Markt sein« bezieht, den Boden, auf den die Händler treten, wenn sie ihre Bewegungen ausführen, die Welt, die sie durch ihre gemeinsam genutzten Technologien und Systeme buchstäblich miteinander teilen. Die Vielzahl der vor den Händlern aufgereihten Bildschirme stellt den Kern des Marktes und einen Großteil des Kontextes dar. Sie übermitteln eine eigene, für sich stehende Welt, die »alles« beinhaltet, was für ihre Existenz und Kontinuität notwendig ist: im Zentrum die aktuellen Handelspreise und hereinkommenden Handelskonversationen, in einem zweiten Kreis die indikativen Preise, Kontendaten und einige Nachrichten (abhängig von der gegenwärtigen Markterzählung) und schließlich weitere Schlagzeilen und Berichte auf einer dritten Ebene der Information. Die so übermittelte Welt wird in einer konsistenten Art und Weise zusammengesetzt, die es ermöglicht, sie zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden. Dies verweist auf den global reflexiven Charakter dieser Koordinationsform – und die skopische Natur der Bildschirme der Händler. Die Handels- und Informationssysteme »sammeln« den Markt für alle Teilnehmer und stellen ihn visuell dar. Zwei Aspekte des Systems müssen hervorgehoben werden: Der erste ist, dass skopische Medien in Währungsmärkten nicht nur relevante Informationen über beispielsweise politische Ereignisse, wirtschaftliche Entwicklungen und Preise zusammenführen, sondern dass
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sie die Aktivitäten selbst »sammeln«: Die Systeme offerieren die Möglichkeit, Markttransaktionen und auch andere Interaktionen durchzuführen. Mit anderen Worten: Die Systeme sind zugleich reflexiv und performativ (handlungsfähig). Mit Hilfe dieser Handlungsfähigkeit werden sämtliche Marktaktivitäten im System lokalisiert. Mit Ausnahme von Situationen, in denen Händler, etwa aufgrund eines Stromausfalls, auf das Telefon zurückgreifen müssen, werden nahezu alle Transaktionen – das Handeln mit Finanzinstrumenten und andere Interaktionen – über die Computerbildschirme durchgeführt. Dieses System eliminiert faktisch die vor-reflexive Wirklichkeit, indem es innerhalb seines Bezugsrahmens alle relevanten Orte der spezialisierten Lebenswelt der Finanzmärkte integriert. Die Wirklichkeit auf den Bildschirmen wird zur Lebenswelt der Händler, eine Lebenswelt, die reflexiv übermittelt und zugleich ohne Verzögerung projiziert wird. Neben dem anonymen Handel über den Electronic Broker stellt das System außerdem relationale Handelsmöglichkeiten bereit, so z.B. das bereits erwähnte Reuters Conversational Dealing, über das Händler miteinander Kontakt aufnehmen und mittels sogenannter Dealing Conversations Handel treiben. Dieses Fenster kann auch für Unterhaltungen mit Freunden aus dem Finanzmarkt, die ebenfalls an das System angeschlossen sind, verwendet werden; bspw. wird es ausgiebig für Anfragen, Angebote und beidseitige Analysen von Informationen genutzt. Damit integriert das globale Medium der Finanzbildschirme innerhalb eines Bezugsrahmens auch die Kanäle für den Aufbau und den Erhalt von Beziehungen. Soll hieraus geschlossen werden, dass dieses für den Markt zentrale skopische System nichts weiter ist als eine elektronisch vereinfachende Vorrichtung für Märkte, die über Netzwerke funktionieren? Mit Sicherheit nicht. Laut Schätzungen von Händlern werden ungefähr 80 Prozent des Handels, wenn nicht sogar mehr, mittels eines elektronischen Brokers umgesetzt, der, wie gesagt, ein anonymes Handelssystem ist. Selbst wenn einige dieser anonymen Geschäfte mit Parteien durchgeführt werden, die Geschäftsbeziehungen unterhalten oder persönliche Beziehungen pflegen, bleiben diese Beziehungen in Bezug auf die Marktinteraktionen irrelevant, denn die hinter einem Angebot stehenden Parteien werden über das EBS nicht im Voraus offengelegt. Unter den verbleibenden, bestenfalls 20 Prozent der Geschäfte, die mittels Conversational-Dealing-Systemen durchgeführt werden, sind auf Beziehungen beruhende Geschäfte wahrscheinlicher, aber nicht notwendigerweise dominierend. Jede
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Bank, die (jeweils bis zu einem bestimmten Umfang) für den Handel zugelassen und elektronisch an das System angeschlossen ist, kann sich mit Hilfe des Conversational Dealing an jede andere Bank wenden, ohne dass es einer vorher existierenden oder andauernden Beziehung bedürfte. Händler unterscheiden außerdem zwischen ihren Netzwerkkontakten mit Händlern und Kunden, mit denen sie regelmäßig interagieren und die sie als einen Teil des Marktes betrachten, dem Kreis engerer Freunde – bestehend aus bis zu fünf oder zehn Personen – mit denen sie fast täglich und manchmal auch ausgiebig via Conversational Dealing oder Telefon sprechen, und dem Markt, der in weiten Teilen vollständig anonym ist. Wie es ein Händler formulierte: »[Der On-Screen-Markt] ist wahrscheinlich zu 99,99999 Prozent anonym.« Der zweite hervorzuhebende Aspekt folgt aus der bisherigen Beschreibung. Der gespiegelte Markt, der umfassend auf den Computerbildschirmen dargestellt wird, hat seine eigene Präsenz und seine eigene Gestalt mit ihren eigenen temporalen und sonstigen Merkmalen. Die Händler sind nicht einfach mit einem Kommunikationsmedium konfrontiert, durch das bilaterale Transaktionen durchgeführt werden, wie etwa mit einem Telefon. Sie sehen sich mit einem Markt konfrontiert, der zu einer eigenständigen »Lebensform« geworden ist, einem »größeren Wesen«, wie es einer unserer Befragten, ein Eigenhändler in Zürich, formulierte – ein Wesen, das manchmal kohärent ist, zu anderen Zeiten aber verstreut und fragmentiert. LG
Wissen Sie, es ist eine unsichtbare Hand, der Markt hat immer Recht, er ist eine Lebensform, die eine eigene Existenz hat; wissen Sie, eine Art von Gestalt in gewisser Weise […] Er hat Form und Bedeutung.
KK
Er hat eine Form und Bedeutung, die unabhängig von Ihnen ist? Sie können ihn nicht kontrollieren, ist das der Punkt?
LG
Richtig. Genau, genau!
KK
Die meiste Zeit ist er mehr oder weniger verstreut. Oder nimmt er für Sie Gestalt an?
LG
A-h, deswegen sage ich, dass er Leben hat, dass er Leben in und aus sich selbst heraus hat, wissen Sie, manchmal kommt alles zusammen und manchmal ist er in gewisser Weise zerstreut und willkürlich und zufällig und ohne Richtung und ohne Kohärenz.
KK
Aber betrachten Sie ihn als ein drittes Ding? Oder meinen Sie die andere
LG
Als ein größeres Wesen.
Person?
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KK
[…]
LG
Nein, ich meine nicht die andere Person. Ich meine das Wesen als Ganzes. Und das Wesen ist der Devisenmarkt – und wir sind die Summe unserer Teile oder er ist die Summe seiner Teile.
Das folgende Zitat gibt ebenfalls eine inklusive Definition des Marktes, die seine lebensweltähnliche Tiefe verdeutlicht. Die Debatten zwischen Ökonomie, Soziologie und Psychologie über Definitionen des Marktes verschmelzen hier zu einem Konzept von »Der Markt ist alles«, wobei man die Perspektive natürlich auf verschiedene Aspekte dieses »Alles« richten kann: KK
Was ist der Markt für Sie? Ist es die Preistätigkeit oder sind es die indi-
RG
Alles. Alles.
viduellen Teilnehmer? KK
Alles? Die Information?
RG
Alles. Alles. Wie laut er schreit, wie aufgeregt er wird, wer verkauft, wer kauft, wo, welches Zentrum, was die Zentralbanken tun, was die großen Fonds tun, was die Presse sagt, was mit der CDU passiert, was der malaysische Ministerpräsident sagt, er ist alles – alles zu jeder Zeit.
Wer die Käufer und Verkäufer sind, was relevante Akteure und Beobachter innerhalb und außerhalb des Marktes tun und sagen, all die Akteure, Aktivitäten und kontextbezogenen Ereignisse, auf die in diesem Zitat hingewiesen wird, sowie schließlich die Reaktionen der Marktbeobachter und -teilnehmer auf diese Ereignisse repräsentieren zusammen genommen den Markt. Das Zitat stammt von einem erfahrenen Händler, der in verschiedenen Ländern einschließlich Ostasiens arbeitete, bevor er nach Zürich kam. Seine Wahrnehmung, dass »der Markt alles ist«, bezieht sich auf die vielfältigen Dinge, die man auf den Finanzbildschirmen findet: die Nachrichten und die Kommentare zu den Nachrichten, die vertraulichen Informationen darüber, was bedeutende Akteure tun sowie die Preise. Die Bildschirme – oder vielleicht sollte man besser sagen die Verfügbarkeit von Projektionsflächen für Finanzmärkte – haben die Welt dieses Marktes ausgedehnt statt reduziert. Sie haben zweifellos diese Welt über das hinaus vergrößert, was gewöhnlich durch Handelsnetzwerke fließt, und das, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, historisch größtenteils aus Preisinformationen bestand.
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Das Konzept des Netzwerkes profitiert von einer Konvergenz organisatorischer Veränderungen, technologischer Entwicklungen und eines umfassenden kulturellen Wertewandels, der den Netzwerkbegriff nicht nur als ein analytisches Konzept für die Untersuchung sozialer Strukturen ansieht, sondern auch als ein Modell und eine Meinung darüber, wie Dinge in vielen Bereichen strukturiert werden sollten. Die wichtigste konvergierende Entwicklung für die gegenwärtige Popularität des Netzwerkbegriffs ist sicherlich die der Informations- und Kommunikationstechnologien, die auf elektronischen Verknüpfungen geographischer Bereiche basieren und auf die mit einem Vokabular von Netzen, Netzwerken, Kreisläufen und Knotenpunkten Bezug genommen wird. Informations- und Kommunikationstechnologien haben die Netzwerkidee in den Vordergrund gerückt, bestehende Trends zur netzwerkförmigen Organisation verstärkt und einige dieser Entwicklungen gefördert. Castells diagnostiziert dementsprechend eine Netzwerkgesellschaft: »Ströme von Botschaften und Bildern bilden zwischen den Netzwerken den roten Faden unserer Gesellschaftsstruktur« (Castells 2001: 535f.; Lash 2002). Er betrachtet die wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen, die für ihn in globalen, informationstechnologisch konstituierten Netzwerken organisiert sind, als durch solche Kommunikationen verbunden, während untergeordnete Funktionen in lokalen Settings fragmentiert sind, in denen die mit diesen Funktionen beschäftigten Menschen zunehmend voneinander getrennt operieren. Die zentrale Frage für Sozialwissenschaftler jedoch ist, wie sich diese Technologien in konkreten Praxisbereichen ausprägen, und hier finden wir ein neues Bild: Aus der Perspektive der Händler und der Beobachter ihrer Lebenswelt sind die entscheidenden Elemente in der Einrichtung der Handelsräume in den weltweit miteinander verbundenen Finanzinstitutionen nicht die elektronischen infrastrukturellen Verbindungen, die »pipes« (Podolny 2001: 33), also Kanäle oder Arterien, durch die Transaktionen fließen, sondern die Computerbildschirme und die Handels- und Informationsmöglichkeiten, die Augenblick für Augenblick die Wirklichkeit dieser Märkte in toto reflektieren, projizieren und ausdehnen. Sie führen zu einer neuen Form der Koordination, die zwar Netzwerke beinhaltet, diese aber auch weit überschreitet und einen aggregierten und kontextualisierten Bereich projiziert. Die Bildschirme, auf denen der Markt präsent ist, sind in allen beteiligten Institutionen und Handelsräumen in identischer Weise präsent und stellen eine große, komplizierte Spiegelungs- und Transaktionsvorrich-
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tung dar, zu der viele beitragen und auf die sich alle beziehen. Als ein allgegenwärtiger und komplexer »Anderer« hat der On-Screen-Markt seine eigene Präsenz und seine eigene Gestalt mit seinen eigenen selbst-aggregierenden und integrierenden Mechanismen (z.B. werden Preise weltweit zusammengetragen, sortiert und angezeigt), seinen eigenen Rechenroutinen (z.B. werden Konten verwaltet und können Preise berechnet werden) und seinen sich selbst historisierenden Eigenschaften (z.B. können Preisentwicklungen dargestellt und eine Vielzahl weiterer Zeitverläufe aufgerufen werden). Die elektronischen Programme und Kreisläufe, die dieser Bildschirmwelt zugrunde liegen, sammeln und implementieren die zuvor verstreuten Aktivitäten verschiedener Akteure auf einer Plattform: von Brokern und Buchhaltern, von Marktmachern und Analysten, von Forschern und Nachrichtenanstalten. In diesem Sinne ist der Bildschirm eine Art Baugelände, auf dem eine gesamte ökonomische und epistemologische Welt errichtet wird. Es ist mehr als nur eine Vermittlungsinstanz für die Übertragung vor-reflexiver Interaktionen. 3. Wie kam der Markt auf den Bildschirm? Die Abkehr von Netzwerkmärkten Der Markt war selbstverständlich nicht schon immer auf Bildschirmen. Die Geschichte des Devisenmarkts seit den 1970er Jahren zeigt exemplarisch für andere Bereiche den Wandel von einem netzwerkförmig organisierten Markt hin zu einem skopisch koordinierten, fließenden Markt. Beginnen wir mit dem Zusammenbruch des BrettonWoods-Abkommens, das bis dato die Wechselkurse festgelegt hatte. In den 1970er Jahren schafften zuerst die Vereinigten Staaten (1971), dann die größeren europäischen Nationalstaaten einschließlich Großbritanniens (1979) und schließlich Japan in den frühen 1980er Jahren die Devisenkontrollen ab. Damit eliminierten sie faktisch das seit 1944 gültige Bretton-Woods-Abkommen fester Wechselkurse und erlaubten den Devisenhandel für Spekulationszwecke. Devisenmärkte existierten auch vor dem Bretton-Woods-System und lassen sich als grenzüberschreitender Geldtausch bis an den Beginn der Wirtschaftsgeschichte zurückverfolgen. Solche Tauschgeschäfte kamen zusammen mit dem internationalen Handel auf; in den 30 Jahren des Bretton-WoodsAbkommens und auch zuvor spiegelten jedoch die Devisengeschäfte im Großen und Ganzen die realen Bedingungen von Unternehmen und anderen Beteiligten wider, die auf Devisen angewiesen waren, um
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Rechnungen zu begleichen und Güter zu bezahlen. Als das BrettonWoods-System abgeschafft wurde, wurde der Währungshandel als ein Markt möglich, an dem Transaktionen nicht grenzübergreifende Bezahlungsnotwendigkeiten von Unternehmen und Anderen, sondern Erwartungen von Preisbewegungen widerspiegelten. 1986 hatte der Devisenhandel mit einem weltweiten Volumen im Umfang von im Durchschnitt 150 Milliarden und bis zu 250 Milliarden US-Dollar bereits das doppelte Volumen als noch fünf Jahre zuvor (Hamilton/Biggart 1993). Gemäß dem dreijährlichen Survey der Bank for International Settlements (BIS) war der durchschnittliche Tagesumsatz im weltweiten Handel mit herkömmlichen Deviseninstrumenten von 36,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 1974 auf 1,5 Billionen US-Dollar im April 1998 angestiegen (BIS 1998). Zwei Drittel des Volumens resultierten aus Over-the-Counter-Geschäften. Die Banken hatten auf die Geschäftsmöglichkeiten, die sich nach dem Zusammenbruch des BrettonWoods-Systems aus der Freiheit des Kapitalverkehrs ergaben, schnell reagiert. Ebenso reagierten sie auf eine steigende Nachfrage, die durch schwankende Wechselkurse und Zinssätze im Gefolge verschiedener Krisen (bspw. der Energiekrise von 1974) angeregt wurde, sowie auf den enormen Anstieg der Rentenfonds und anderer institutioneller Beteiligter. Auch in den letzten zehn Jahren erfolgte im Devisenmarkt ein, trotz kleiner Einbrüche, immer weitergehender Anstieg – von einem Tagesumsatz von 1,2 Billionen US-Dollar im Jahr 2001 zu ca. vier Billionen im Jahr 2010 (BIS 2002, 2010). Der gegenwärtige Devisenmarkt entstand mit der Abschaffung der Devisenkontrollen im Jahr 1971. Zu dieser Zeit hatten die Händler allerdings noch keine Computer, und Handeln war eine Frage des Aufspürens und Aushandelns dieses Marktes, der im geographischen Raum versteckt lag. In den frühen Anfängen war ein Handelsraum ein Raum mit Schreibtischen, Telefonverbindungen und einer Rechenmaschine. Unter Umständen war in der Mitte des Raums eine zentrale Fernsprechanlage installiert. Sie diente ursprünglich als ein ruhiger Ort zur Entgegennahme internationaler Telefonate, die immer noch frühzeitig bei der Telefongesellschaft angemeldet werden mussten – eine direkte Durchwahl war nur bei Inlandstelefonaten möglich. Die bedeutendste Vorrichtung aber war der »Ticker«, ein Gerät, das, wie es ein früherer Teilnehmer ausdrückte, »50 Meter am Tag« an Schlagzeilen und Kursangaben produzierte (Preda 2006 für die genaue Geschichte
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des Tickers). Die Aktivitäten im Handelsraum richteten sich auf das »Aufspüren des Marktes«, d.h. auf die Ermittlung von Währungskursen und die Suche nach potentiellen Handelspartnern. Im folgenden Zitat erinnert sich ein früherer Handelschef, wie er kontinuierlich dem Markt hinterherjagte: P
[…] Man musste also die Preise in den verschiedenen Ländern fortwäh-
KK
Und Sie taten das durch Anrufe bei Banken?
P
Dadurch, ja. Und es gab ebenfalls Telexnachrichten von anderen Ban-
rend in Erfahrung bringen.
ken, die entweder handeln wollten oder wissen wollten, einfach nur wissen wollten, wo der Dollar-Franken-Kurs stand. KK
[…]
P
Ja, man war ein Broker, der für Händler arbeitete, jeden Morgen hatte man alle Preise in Europa einzuholen: Dänische Kronen, Schwedische Kronen, Norwegische Kronen und dergleichen, jeden Morgen die Landeswährungen, die Eröffnungskurse. Man übermittelte sie den Händlern, diese rechneten sie in Schweizer Franken um und notierten sie auf großen Papierbögen.
B
Und Sie boten bereits An- und Verkaufskurse an?
P
[…] Die Wechselkurse wurden in Schweizer Banken durch Verhandlung bestimmt wie auf einem Basar etc.
Der Begriff der Appräsentation, übernommen von Schütz und Luckmann (1973: 11), bezieht sich auf die Übermittlung von Details aus verschiedenen geographischen Orten und Zeitzonen in eine bestimmte Aktivitätsdomäne. Ein erster Versuch der Appräsentation von Märkten kam bereits vor der Einführung von Bildschirmen auf: Man stellte die Preise, die per Hand auf den »großen Papierbögen« notiert wurden, von denen P. im obigen Zitat spricht, auf einer Wandtafel aus. Als Bildschirme aufkamen, waren diese zunächst nichts weiter als ein Ersatz für die »großen Papierbögen«: Man fotografierte die handgeschriebenen, durch weibliche Angestellte zusammengestellten Preislisten und bildete die Fotografien auf den Bildschirmen ab. Diese Form der Appräsentation basierte auf einer Kette von Aktivitäten, die sich in wichtigen Hinsichten noch nicht von den früheren Praktiken – dem Einholen von Preisen in den Zeiten vor dem Aufkommen des Bildschirms – unterschieden: Sie beinhalteten die Feststellung, wer handeln wollte, durch Anrufe bei Banken oder durch die Übermittlung
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von Telexnachrichten, das Niederschreiben der Antworten mit der Hand (und unter Umständen die Umrechnung der Preise in die Landeswährungen) und schließlich die Verfügbarmachung dieser Informationen für interne Zwecke mittels einer Form zentraler Darstellung im Handelsraum. Erst als 1973 der britische Nachrichtendienst Reuters das computergestützte Devisenhandelssystem »Monitor« einführte, das zur Grundlage des elektronischen Marktes avancierte (Read 1992), begannen Bildschirme die verteilten Handelsinteressen zu appräsentieren. »Monitor« verfügte nur über indikative Preise, appräsentierte den Markt also nur partiell – allerdings beinhalteten die Bildschirminformationen von Beginn an bereits Nachrichten. Der eigentliche Handel blieb dem Bildschirm zunächst äußerlich. Er wurde weiterhin über Telefon und Telex durchgeführt, bis 1981 ein neues, ebenfalls durch Reuters entwickeltes System eingeführt wurde, das auch die Transaktionsmöglichkeit bot – und sofort an 145 internationale Kunden in neun Ländern geliefert wurde, die es miteinander verband. Das System wurde innerhalb eines Jahres nach Hongkong, Singapur und den Mittleren Osten ausgeweitet, wodurch ein weltweit präsenter Markt entstand (Read 1992: 283 ff., 310f.). Von diesem Zeitpunkt an konnten Geschäfte innerhalb von zwei bis vier Sekunden am Bildschirm abgeschlossen werden und Händler konnten über den Bildschirm kommunizieren. Doch vor Einführung dieses Systems hatte bereits »Monitor« einen entscheidenden Aspekt des Handels radikal verändert: Durch die Anzeige der Währungskurse und potentieller Handelspartner beantwortete es die Frage danach, wo der Markt war. Vor dem Aufkommen des On-Screen-Marktes differierten die Preise von Ort zu Ort und mussten durch langwierige und mühevolle Prozesse des Anrufens bei Banken und des Wartens auf Verbindungen nach Übersee, die durch Telefongesellschaften herzustellen waren, für jedes Geschäft immer wieder aufs Neue erhoben werden. Nach der Einführung von »Monitor« waren die Preise plötzlich für jeden mit dem System verbundenen Teilnehmer weltweit verfügbar, wodurch ein nun zwischen Ländern und zwischen Kontinenten operierender Markt geschaffen wurde. Vorher gab es verstreute Netzwerke, bestehend aus Parteien, die miteinander handelten und Geschäftsbeziehungen unterhielten. Nach der Einführung der computergestützten Bildschirmanzeige der (Wechsel-)Kurse 1981 existierte »der Markt« nicht länger in solchen, mehrere Orte miteinander verbindenden Netzwerken, sondern
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nur noch an einem Ort – dem Bildschirm, der überall in identischer Weise repräsentiert werden konnte. Das ökonomische Gegenstück dieses Zusammenkommens aller Marktfragmente an einem Ort war die abnehmende Relevanz der Arbitrage. Zwischen verschiedenen Orten existierende und auf dem Bildschirm sichtbar gemachte Preisdifferenzen werden, selbst wenn es sich nur um indikative Preise handelt, schnell beseitigt, da die Informationen für alle angeschlossenen Händler, die ihre Vorteile aus diesen Differenzen zu nutzen versuchen, gleichermaßen verfügbar sind. Das soziologische Gegenstück zu »Monitor« und seiner Ausbreitung auf Handelsdienstleistungen sowie den vielen Möglichkeiten und Informationsfenstern, die die Nachfolgesysteme bereitstellten, ist der skopische Koordinationsmechanismus. Nicht nur wurden die Märkte mit dem Zusammenkommen und der Ausweitung all ihrer Funktionen und Kontexte auf den Finanzbildschirmen umgestaltet, sondern es kam damit auch zur Rekonfiguration der Form der sozialen Marktkoordination. 4. Der Markt als bewegliche Zeitwelt und die Flussarchitektur Ich möchte mich nun mit einem Phänomen befassen, das durch skopische Medien ermöglicht wurde und das ich die Flussarchitektur von Devisenmärkten nenne. Der Begriff Fluss (flow), den ich hier verwende, antwortet auf die aggregierten Eigenschaften, die der Markt mit der Bildschirmappräsentation bekam, und auf die globalen, prozessualen Qualitäten des Marktes. Betrachten wir zunächst den Fortgang des oben geschilderten Gespräches mit dem Proprietary-Händler, der den On-Screen-Markt als eine Art Lebensform definierte. Er verwies dabei auf die sich kontinuierlich verändernde Gestalt des Marktes. KK
Ich möchte auf den Markt zurückkommen; was der Markt für Sie ist.
LG
Nein, er verändert die »Form« andauernd.
Hat er eine bestimmte Form?
Händler vollziehen ihre Aktivitäten in einem sich bewegenden Feld, das konstituiert wird durch veränderliche Handelspreise, veränderliche Handelsinteressen (die indikativen Preise), über die Bildschirme strömende, kontinuierlich aktualisierte Aufzeichnungen der unmittelbaren Vergangenheit, eingehende Anfragen, neue Marktprognosen, hervortretende und wieder verschwindende Schlagzeilen, Kommentare und
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wirtschaftliche Analysen. Anders gesagt, sie vollziehen ihre Aktivitäten in einer temporalen Welt; der Markt selbst ist von Grund auf dynamisch und prozessual und das globale Beobachtungssystem der Finanzbildschirme zeigt, verstärkt und beschleunigt den Marktprozess und seine dynamischen Eigenschaften. Wenn Informationen den Bildschirm hinunterscrollen und durch neue Informationen ersetzt werden, bilden sich damit kontinuierlich neue Marktrealitäten ab. Die fortwährend auftauchenden Textzeilen wiederholen die verschwindenden in manchen Fällen, aber sie ergänzen und ersetzen sie auch und aktualisieren auf diese Weise die Realität, in der sich die Händler bewegen. Der Markt als »größeres Wesen«, als empirisches Objekt fortlaufender Aktivitäten, transformiert sich stetig und gleicht einem Vogel, der mitten im Flug die Richtung wechselt, womit er zugleich die Erwartungsprobleme schafft, denen die Händler gegenüberstehen. Eine zentrale Eigenschaft von Finanzmärkten ist ihre Nicht-Identität mit sich selbst. Märkte werden fortwährend materiell definiert und verändern ihre Eigenschaften kontinuierlich. Es ist diese ontologische Liquidität von Finanzmärkten, die zu ihrer Wahrnehmung als einer im Fluss befindlichen Realität maßgeblich beiträgt. Das Fließen des Marktes reflektiert den korrespondierenden Strom von Aktivitäten und Dingen: Eine verstreute Masse von Marktteilnehmern hört nicht auf zu agieren; Ereignisse treten ein und dauern an; Strategien werden ergriffen und zeitigen Effekte. Märkte sind deswegen Objekte der Beobachtung und Analyse, weil sie sich kontinuierlich verändern; und während sie im Hinblick auf Kurse, Nachrichten, relevante wirtschaftliche Indikatoren etc. jederzeit klar definiert sind, ist die Richtung, die sie schon im nächsten Augenblick, aber auch in der weniger unmittelbaren Zukunft nehmen werden, ungewiss. Historisch waren Märkte Marktplätze, physische Orte, an denen Verkäufer und Käufer sich treffen und ihre Interessen koordinieren konnten (bspw. Agnew 1986: 18). Ähnlich sind unsere Konzepte der Alltagsrealität tendenziell räumliche Konzepte. Wir betrachten die Realität als eine unabhängig von uns existierende Umwelt, in der wir verweilen und unseren Aktivitäten nachgehen. Die in diesem Beitrag bislang verwendeten Konzepte von Lebenswelt und Bildschirmwelt verweisen ebenfalls auf Räumlichkeit; sie legen nahe, dass die Vorstellung einer räumlichen Umwelt auf den Bereich des Elektronischen ausgeweitet werden kann, indem dieser – zumindest für einige von uns – ein Ort zum Arbeiten und Leben wird.
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Das Problem solcher Vorstellungen besteht in der Implikation, Zeit vergehe in diesen räumlichen Umgebungen, sei für sie aber irrelevant. Wir verbinden die Existenz einer Lebenswelt, einer Umwelt oder einer Alltagsrealität mehr mit der physischen Materialität einer räumlichen Welt als mit einer zeitlichen Dimension. Ebenfalls, so kann man annehmen, drücken wir die Dauerhaftigkeit der physischen Welt gegenüber der menschlichen Lebensspanne mittels verräumlichender Konzepte aus. Worauf es ankommt, ist, dass die hier diskutierte Bildschirmrealität diese Dauerhaftigkeit nicht hat. Sie kann eher mit einem Teppich verglichen werden, von dem jeweils kleine Teile vor uns ausgerollt werden. Der Teppich ist gewissermaßen die Grundlage von Erfahrung; wir können ihn betreten und unsere Position darauf verändern. Aber dieser Teppich setzt sich erst im Prozess des Ausrollens überhaupt zusammen. Die räumlichen Täuschungen, die er mit sich bringt, verhüllen die wesentliche Temporalität der Tatsache, dass sich seine Fäden (die auf dem Bildschirm erscheinenden Textzeilen) erst in den Teppich einweben, wenn wir darauf treten, und sich hinter unserem Rücken (die Zeilen werden aktualisiert und verschwinden) wieder auftrennen. Demnach ist die Bildschirmrealität – um im Bild zu bleiben: der Teppich – ein Prozess; aber sie ist weniger mit einem Fluss vergleichbar, der sich als eine gleichbleibende Wassermasse von einem Ort zum anderen bewegt. Vielmehr ist diese Realität prozessual im Sinne einer unendlichen Abfolge nicht-identischer Dinge, die sich als wandelnde Bildschirmanzeige fortlaufend vorwärts weisend projizieren. Dies ist es, was man den fließenden Charakter dieser Realität nennen könnte. Diese Formulierung suggeriert, dass das, was ich das globale Beobachtungssystem genannt habe – insbesondere seine Bildschirmkomponente – für die Entstehung dieser fließenden Realität notwendig ist: Durch die performativen und darstellenden Möglichkeiten des skopischen Mechanismus und der mit ihm verbundenen kontinuierlichen Zufuhr von Informationen erhält der Markt die Eigenschaften einer aggregierten Entität, und während er durchgeführt, abgebildet und reflexiv analysiert wird, den Charakter eines Stroms von Dingen, der sich als ein Ganzes vorwärts bewegt. Wir müssen hier unterscheiden zwischen Finanzflüssen von Geldern im Markt und der zusammengesetzten Realität des fließenden Marktes insgesamt. Händler unterscheiden manchmal zwischen der subjektiven Beobachtung der Marktentwicklung und konkreten, objektiven Informationen darüber, was sie
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Orders und Flows nennen, die grundlegende Komponenten von Finanzmärkten sind. Orders sind Aufträge zur Ausführung eines Geschäfts, das vorgenommen werden soll, sobald der Preis eines Finanzinstrumentes einen bestimmten Schwellenwert erreicht hat. Wenn eine Order ausgeführt wird, wird aus ihr ein Flow. Flows verweisen auf das Volumen eines Finanzinstruments, mit dem sich auch Positionen und Kontenstände verändern. In der Terminologie des Rechnungswesens werden Flows von »unveränderlichen« Objekten dadurch unterschieden, dass sie im Hinblick auf Zeitintervalle dargestellt werden müssen (Houthakker/Williamson 1996: 9). Im Devisenhandel handelt es sich bei großen Flows um große Mengen einer bestimmten Währung, die gekauft oder verkauft werden. Die Verkäufe können sich aus Firmenzusammenschlüssen und -übernahmen ergeben, die hohe grenzüberschreitende Zahlungen erfordern, aus Transaktionen von Zentralbanken, die bestimmte Währungen unterstützen etc. Für die Händler ist es wichtig, über bevorstehende und gerade ablaufende Orders und Flows informiert zu sein, da sie »den Markt bewegen« – d.h. die Kurse beeinflussen – können. Sie können neue Markttrends in Bewegung setzen und Auf- oder Abwärtsbewegungen von Währungskursen umkehren. Für die Teilnehmer sind Orders und Flows Teil des Marktes als einer unabhängigen Realität, während sie zur gleichen Zeit den Markt bewegende Kräfte sind. Diese Teilnehmerperspektive auf Flows kann von allgemeineren Vorstellungen von Flow abgegrenzt werden, die wir kurz betrachten sollten: In der Soziologie bezeichnet der Begriff des Flows entweder unmittelbar (1) sich bewegende Dinge oder (2) man assoziiert ihn mit Fluidität. Die erste Vorstellung bezieht sich auf die gesteigerte Mobilität des modernen Lebens (Urry 2000: 15f., 36f.). Sie verleiht dem Phänomen Ausdruck, dass es nicht nur Menschen sind, die in scheinbar ständig zunehmender Anzahl pendeln, reisen und migrieren, sondern dass auch Nachrichten und Informationen zirkulieren. Es ist besonders die Zirkulation von Kommunikation, welche die Vorstellung einer auf Informationsflüssen basierenden Netzwerk-Gesellschaft unterstreicht (bspw. Castells 2001). Diese Vorstellung ist wichtig, erfasst aber nicht, was im Falle von Finanzflüssen passiert. Die Finanzflüsse im Devisenhandel beziehen sich auf Zahlungen, die einen buchmäßigen Ausgleich implizieren. Physische Geldtransfers müssen zu diesem Zweck nicht erfolgen; was fließt – im Sinne eines Transfers – ist Fi-
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nanz- (Markt-, Zahlungs- etc.)Kraft, eher eine abstrakte Kapazität als tatsächliches Geld. Für die Marktteilnehmer sind diese Zahlungen, wie gesagt deswegen relevant, weil sie die Preisniveaus beeinflussen. Die sich infolge von Flows ereignenden und die Teilnehmer betreffenden Veränderungen sind Teil eines Marktes, der sich in erster Linie aus Kursständen zusammensetzt. Mit großen Flows können sich ebenfalls Erzählungen über den Markt, Kommentare, Analysen, Schlagzeilen, Hochrechnungen und Ähnliches verändern – all das gehört zur Ebene des auf Bildschirmen repräsentierten Marktes. Auf diese Ebene zielt die hier entwickelte Vorstellung eines fließenden Marktes ab. Die zweite in der Literatur vorfindbare Bedeutung des Flows ist die der Fluidität; sie stützt sich auf die Unterscheidung zwischen Flüssigkeiten und Festkörpern. Analytiker, die Fluidität betonen, konzeptualisieren etwa die gegenwärtige Stufe der Moderne als gekennzeichnet durch einen Wandel von solideren Formen der Ordnung und der Tradition zu eher liquiden und fluiden oder sich auflösenden Strukturen – gemäß Marx’ berühmtem Satz, dass »alles Ständische und Stehende verdampft« (Marx 1995[1848]: 5; Berman 1982; Bauman 2000). Die Liberalisierung traditioneller Erziehung, die Deregulierung von Märkten, die Flexibilisierung der Arbeit sowie der Zusammenbruch und die Erneuerung traditioneller familiärer Beziehungen veranschaulichen diese Entwicklung (bspw. Lasch 1978). Die Idee der »Auflösung des Festen« kommt der hier vertretenen Auffassung näher als die erste Vorstellung; worauf es bezüglich der Bildschirmrealität als eines Flows jedoch ankommt, ist nicht, dass sie nomadisch (also ohne festgelegte Reiseroute) ist und keinerlei Spuren sozialer und ökonomischer Struktur aufweist. Das Entscheidende sind vielmehr die Projektion und Neukonstituierung dieser Realität als eine Wirklichkeit, die sich kontinuierlich und in fragmentarischer Art und Weise entwickelt. Man kann es mit einem Text vergleichen, der gleichzeitig durch viele Autoren geschrieben wird, der sich im Prozess seiner Ausarbeitung aus einer Fülle unterschiedlicher Komponenten zusammensetzt und der nicht weiter reicht als die Feder seiner Autoren. Das hier verwendete Konzept der Flussrealität des Marktes bezieht sich auf diese episodische, mit der Aktivität der Händler einhergehende Entstehung des »Markttexts« und seine Kurzlebigkeit. Ich gehe ferner davon aus, dass es möglich ist, Vorstellungen wie diejenige des Marktes als einer Welt beizubehalten, während man sich der scrollenden Veränderung dieser besonderen Welt bewusst bleibt.
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Der Bildschirm rollt die Lebenswelt aus, in der sich die Händler bewegen; eine komplexe Umwelt, die sich zusammensetzt aus »begehbaren« Gebieten, welche die Grundlage für Aktivitäten darstellen, und ihren Horizonten. Auch wenn sich der Boden kontinuierlich verändert und die Lebenswelt sich »im Flug« befinden mag: Die Händler sind in der Lage, mit diesem Fluss umzugehen; ihre Wege des »Bewohnens« sind der Zeitwelt, der sie sich gegenüber sehen, angepasst. Sie halten Schritt, indem sie in der Durchführung des Handels den Bewegungen des Marktes folgen und indem sie ein »Gefühl« für diese Bewegungen entwickeln. Ferner analysieren Händler die kurz- und langfristigen Bewegungstrends ihrer Lebenswelt mit Bezug auf Geschichten und big pictures, mit denen sie bestimmten Zuständen Beständigkeit verleihen. Wenn Märkte kontinuierlich sich wandelnde Prozesse mit veränderlichen Zeitmerkmalen sind, dann können sie ebenfalls als durch den Raum – oder, um genau zu sein, durch Zeitzonen – wandernde Zeitkontexte betrachtet werden. Hier wird der globale Charakter von Finanzmärkten, insbesondere von Devisenmärkten, wichtig. Diese Märkte bewegen sich kontinuierlich mit der Sonne in Zeitzonen hinein und wieder heraus, nehmen im Zuge dessen unterschiedliche Eigenschaften an und aktualisieren ihre Positionen. Als globale Einheiten haben Märkte ihre eigenen instrument- und zeitspezifischen Charakteristika. Sie haben etwa charakteristische »Geschwindigkeiten«, die sich aus den Preisbewegungen ergeben, die im Zentrum der veränderlichen Marktprozesse stehen. In Devisenkassageschäften, also dem direkten Austausch von Währungen, ändern sich Preise in Zeiten durchschnittlicher Aktivität innerhalb von Sekundenbruchteilen. In der Konsequenz bewegt sich die Zeitwelt des Währungshandels in atemberaubender Geschwindigkeit vorwärts. Eine weitere Eigenschaft ist die Liquidität des Marktes, was in diesem Kontext auf die Geschwindigkeit verweist, mit der ein Finanzinstrument ohne wesentliche Preisveränderungen verkauft oder gekauft werden kann. Märkte sind zu bestimmten Zeiten »dünn« (es gibt wenige handelswillige Teilnehmer) und »tief« in anderen, bei einer im Laufe der Zeit variierenden Marktliquidität. Märkte sind außerdem saisonalen Veränderungen unterworfen; so existieren Phasen mit geringem Handelsvolumen, etwa während der Urlaubszeit im Dezember, im Vorfeld des Jahresabschlusses. Begreift man Märkte als sich über Zeitzonen hinweg bewegend, werden zusätzliche Merkmale relevant, die ihre Eigenschaft als bewegliche Einheiten und Zeitwelten unter-
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streichen. Um diese Eigenschaft plausibel zu machen, möchte ich im Folgenden eine Reihe von Aspekten globaler Märkte betrachten, wobei ich mich hier erneut auf den Devisenhandel als den am weitesten entwickelten weltweiten Markt konzentriere. Eine erste Reihe von Charakteristika bezieht sich auf die zeitliche Einheit dieser Märkte: Sie haben ihren eigenen Takt, ihre eigene Zeit, ihre eigenen globalen Zeitpläne und Kalender. Ein zweites Charakteristikum dieser Märkte ist, dass sie global »exklusive« Systeme sind, die ihre natürliche Einbettung in lokale und physische Settings zurückgelassen haben. Dieser Aspekt erlaubt es mir, die Struktur dieser Märkte als gestützt auf Brückenköpfe zu beschreiben, die in den drei Hauptzeitzonen angesiedelt sind. Mein letzter Punkt beschäftigt sich mit der Funktionsweise der Flussarchitektur des Marktes, innerhalb derer solche Zentren »überbrückende« und vermittelnde Rollen einnehmen, indem sie den sich bewegenden Markt unterstützen, ihn aktualisieren und entlang einer Zeitzonenschiene vorwärts bringen. Eine erste Eigenschaft globaler Devisenmärkte als bewegliche Zeitkontexte besteht darin, dass sie ihrer eigenen Zeit folgen – in diesem Fall der Greenwichzeit. Die Mittlere Greenwichzeit, die Uhrzeit und das Datum des durch Greenwich, England, verlaufenden Nullmeridians, wurde im November 1884 durch die internationale Meridiankonferenz in Washington D.C. als ein universeller Standard festgelegt. Die Konferenz entwarf eine internationale Datumsgrenze und schuf 24 Zeitzonen. Zuvor gab es allein in den Vereinigten Staaten über 300 lokale Zeiten (Zerubiavel 1982: 12f. für die interessanten historischen Ursprünge). Weil es für die hier betrachteten Märkte keinen zentralen Ort gibt, wurde die Zeit an einen bestimmten Ort gebunden, um den Zeitpunkt von Transaktionen weltweit korrekt identifizieren zu können. Wäre dies nicht der Fall, würden eine Transaktion in New York, die eine zwei Tage später erfolgende Zahlung in Sydney erfordert, und die die Zahlung erhaltende Seite in Sydney nicht dieselbe Lieferzeit registrieren. Dies bedeutet aber auch, dass die jeweiligen Märkte ihre eigene Zeitrechnung haben. Als Anhäufung von Positionen, Orders, Flows und wandernder »Bücher« (Accounts) bleiben sie unabhängig von Zeitzonen. Ein weiterer Aspekt der Temporalität globaler Märkte sind »Kalender« und Zeitpläne: Sie enthalten festgelegte Daten und Stunden für wichtige wirtschaftliche Ankündigungen und für die Veröffentlichung regelmäßig berechneter wirtschaftlicher Indikatoren und Daten. Diese
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Kalender und Zeitpläne strukturieren und synchronisieren die Wahrnehmungen und Erwartungen der Teilnehmer. Sie entstehen in einer bestimmten Region der Welt und der jeweiligen Zeitzone; so können beispielsweise Daten in den USA zur Eastern Standard Time veröffentlicht werden; sie können aus nationalen Statistiken bestehen, die sich etwa auf die USA beziehen, oder aus aggregierten, sich auf eine Gruppe von Ländern beziehende Statistiken, etwa Daten bezüglich der Europäischen Union. Dennoch sind die Kalender und Zeitpläne aller drei Hauptzeitzonen von Bedeutung und werden in täglichen und wöchentlichen Markt-»Zeitplänen« aufgeführt. Diese Zeitpläne »verankern« zwar die Marktentwicklungen in den besonderen grundlegenden Strukturen nationaler und regionaler Ökonomien. Doch als transnational relevante Sammlungen von Zeitpunkten, die den gewöhnlichen, zeitlichen Fluss von Marktereignissen und Marktbeobachtungen interpunktieren und betonen, gehören auch sie zur entbetteten Zeitwelt globaler Märkte. Diese Entbettung ist die zweite Eigenschaft, die es in diesem Zusammenhang zu betonen gilt. Giddens benutzt den Begriff der Entbettung, um auf das »Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen« (Giddens 1996: 33-40) zu verweisen. Ich beziehe mich mit diesem Begriff darauf, dass die beobachteten Märkte in vielerlei Hinsicht von ihren lokalen Kontexten abgelöst zu sein scheinen. Das gilt für die Orientierung der Teilnehmer, ihre inhärente Verbundenheit und Verflechtung als dem Schlüssel zur Überwindung ihrer geographischen Trennung, die Regeln der Handelspraxis, Formen der Vergütung und Ähnliches (zu einem Überblick über diese Eigenschaften Knorr Cetina/Bruegger 2002a). Marktteilnehmer (z.B. Händler) sind bspw. in dem Sinne entbettet, dass sie sich stärker über Zeitzonen hinweg aufeinander hin orientieren als auf die lokale Umwelt. Sie bleiben auch nach ihrer Arbeitszeit auf diese translokale Umwelt ausgerichtet, indem sie den sich zu einer anderen Zeitzone bewegenden Markt weiterhin mittels tragbarer Instrumente und TV-Sender von Reuters beobachten. Eine wichtige, über diese globale Orientierung hinausweisende Eigenschaft besteht darin, was man andernorts die wechselseitige Verschränkung von Zeitdimensionen zwischen Händlern genannt hat. Diese ist ein Mittel zur Erreichung von Intersubjektivität in globalen Feldern. Was Teilnehmer über den Raum hinweg zusammenhält, ist mehr eine »Gemeinschaft der Zeit« als – wie in traditionellen Gesellschaften – eine des Raums. Diese Gemein-
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schaft der Zeit kommt etwa dadurch zustande, dass Marktteilnehmer in weit verstreuten Handelsräumen den Markt für die Dauer ihrer Arbeits- und Wachzeit nahezu ununterbrochen gleichzeitig und unmittelbar beobachten.4 Alle drei Aspekte sind hier wichtig: Synchronizität verweist darauf, dass Händler und Verkäufer dieselben Marktereignisse über denselben Zeitraum hinweg gleichzeitig beobachten; Kontinuität verweist darauf, dass sie diese Beobachtung quasi ohne Unterbrechung durchführen, an ihren trade desks zu Mittag essend und andere um Beobachtung bittend, wenn sie ihn einmal verlassen; und zeitliche Unmittelbarkeit meint, dass für die Teilnehmer innerhalb der institutionellen Handelsnetzwerke die Markttransaktionen und Informationen in Echtzeit verfügbar sind. Händler können sich ferner als globalen, professionellen Communities zugehörig betrachten und weisen über Kontinente hinweg ähnliche Lebensstile auf. Eine weitere entbettende Eigenschaft sind die Regeln der Handelspraxis. Diese sind nicht durch nationales Recht gedeckt, korrespondieren aber mit einer lex mercatoria (Grundsätzen der Handelspraxis), die auf einer globalen Stufe zwischen Teilnehmern gilt und in Handelsinteraktionen – ohne Rekurs auf formelles Recht – bestätigt wird. Geht man über das Phänomen der Entbettetheit hinaus und fragt danach, worauf ein sich frei über Zeitzonen hinweg bewegender Markt »gestützt« ist, kann man auf die Handelsräume in Weltstädten verweisen. Dort verweilt der sich bewegende Markt für die Dauer der Handelszeiten in der jeweiligen Zeitzone, nimmt dort Gestalt an, indem er fortlaufend artikuliert und definiert wird, bis er sich zur nächsten Zeit-
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Wie Harvey geltend gemacht hat (1989: 239-259), ist für den Prozess der Moderne und der Postindustrialisierung eine zunehmende Beschleunigung charakteristisch. Ein ähnliches Argument wurde von McLuhan (1964: 358) vorgebracht, der darauf verweist, dass sich mithilfe der Stromversorgung ein globales Kommunikationsnetzwerk etabliert, das es – gleich einem zentralen Nervensystem – ermöglicht, medienvermittelte Ereignisse nahezu gleichzeitig wahrzunehmen und zu erleben. Bislang jedoch werden nur wenige Medienereignisse »gleichzeitig« über Zeitzonen hinweg übertragen; Medieninhalte sind an lokale Kulturen angepasst und werden lokal reinterpretiert. Ich behaupte hingegen, dass viele andere Mechanismen und Infrastrukturen – um genau zu sein: eine sekundäre Ökonomie der Sammlung und Übermittlung von Informationen – vorhanden sein müssen, um eine globale soziale Form zu schaffen.
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zone bewegt. Ich unterscheide hier zunächst zwischen einer weltweit inklusiven und einer weltweit exklusiven kulturellen Form. An einem global inklusiven Finanzmarktplatz können individuelle Investoren in irgendeinem Land Vermögenswerte frei und über nationale Grenzen hinweg handeln. Ein solches System benötigt unter anderem die Verbreitung von Computern an den Standorten von Investoren (etwa Haushalten), entsprechende sprachliche Fähigkeiten der Teilnehmer bzw. sprachliche Vereinheitlichung, eine Webarchitektur, Zahlungsund Verrechnungsmodalitäten zwischen Börsen, behördliche Zulassungen sowie nationale Renten- und Versicherungssysteme, die individuelle Finanzplanungen unterstützen. In manchen Regionen befinden sich solche Systeme im Aufbau, sind aber noch lange nicht weltweit vorhanden. Im institutionellen Handel hingegen ist seit einiger Zeit ein globaler Markt anderer Art zu sehen: Dessen Form der Globalität basiert nicht auf der Durchdringung von Ländern oder auf individuellem Verhalten, sondern auf der Etablierung von Brückenköpfen des institutionellen Handels an den Finanzknotenpunkten der drei Hauptzeitzonen: in New York, London, Tokio und Zürich, Frankfurt oder Singapur. Der sich bewegende Markt »ruht« auf diesen Brückenköpfen, wo er angegliedert und wo ihm (neu) Ausdruck verliehen wird. Durch die Handelsaktivitäten ihrer »Marktmacher« (den Händlern, die ihre eigenen Positionen im Markt einnehmen), die Aktivitäten ihrer Verkäufer und anderes tragen die Brückenköpfe zur Verstetigung des Marktes bei. Diese Aktivitäten stützen den Markt, verankern ihn in den zeitzonenspezifischen, globalen Reflexsystemen der Handelsräume und verändern ihn zugleich. Teilnehmer, die morgens in New York zur Arbeit kommen, sehen sich nicht demselben Markt gegenüber, den sie am Ende des vorangegangenen Arbeitstages verlassen haben. Vielmehr finden sie eine aktualisierte Version dieses Marktes vor, der die Markierungen all der Vorgänge trägt, die sich mittlerweile in den dazwischenliegenden Zeitzonen in Asien und Europa ereigneten. Darüber hinaus kommen diese Märkte in jeder neuen Zeitzone »vollständig« an und starten »vollständig« wieder zur nächsten Zeitzone. Wenn Händler am Morgen in Tokio an ihren trade desks ankommen und ihre Bildschirme einschalten, finden sie zusammenfassende Darstellungen vor über das, was zuvor in der New Yorker Zeitzone passierte. Diese Darstellungen sind eingelassen in Tagesschlusskurse, Indexwerte, Mengenstatistiken, Tagestrends etc. Weiter finden sie stärker qualitative Zusammenfassungen vor, die ihnen durch Kon-
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taktpersonen in den früheren Zeitzonen über ihre Conversational Dealing-Bildschirme übermittelt werden. Darüber hinaus unternehmen die Händler selbst Anstrengungen, um mehr über die Marktentwicklungen in der vorangehenden Zeitzone herauszufinden, indem sie zuhause relevante Nachrichtendienste verfolgen, Freunde anrufen oder sie über das Conversational Dealing-System kontaktieren, während sie handeln oder bevor sie mit dem Handel beginnen. In den meisten der bedeutenden institutionellen Handelsräume gibt es außerdem morgendliche Meetings, in denen entsprechende Informationen vermeldet, von Analysten in anderen Zeitzonen erstellte Zusammenfassungen über Intercoms übermittelt werden und eigene Analysten und Ökonomen Lageeinschätzungen vornehmen. In gleicher Weise übermitteln auch in Tokio die Händler und Analysten dieser Zeitzone zum Handelsschluss zusammenfassende Informationen an Kontaktpersonen, bulletin boards und an Verkaufsstellen in der nächsten (europäischen) Zeitzone und werden durch die dort arbeitenden Händler telefonisch oder via Email kontaktiert, um spezifischere und konkretere Informationen zu erhalten. Die europäische (London, Zürich, Frankfurt) und amerikanische (New York) Zeitzone überschneiden sich um mehrere Stunden: Der institutionelle Handel in New York beginnt um acht Uhr morgens, was 14 Uhr nachmittags zentraleuropäischer Zeit entspricht. In Reaktion auf diese Überschneidung zwischen den europäischen und amerikanischen Geschäftszeiten »bewegen« sich die Märkte nicht unmittelbar, sondern handeln solange gleichzeitig, bis Europa schließt – die Märkte neigen dazu, in diesen Zeiten »hektisch« zu werden; ebenso werden sie »ruhig«, wenn New York bereits geschlossen hat, Tokio aber noch nicht sehr aktiv ist. Wenn der europäische Handelsschluss näher rückt, vollziehen sich die gleichen, zuvor beschriebenen Prozesse der Zusammenfassung und Übermittlung von Informationen. Die Überschneidung zwischen Europa und den USA entspricht einer zeitlichen Lücke zwischen den USA (New York) und Japan (Tokio), die sich aus der größeren Zeitdifferenz zwischen diesen Städten ergibt und in der in beiden Zeitzonen kein oder nur wenig Handel stattfindet. Händler, die in derselben Institution mit dem gleichen Finanzinstrument handeln – etwa mit Währungsoptionen – können über Zeitzonen hinweg zusammenarbeiten, wenn längerfristige Verträge involviert sind – eben beispielsweise Optionen – und Positionen am Ende des Handelstages nicht geschlossen werden können. In diesem Fall kann die Bewegung des Marktes zur nächsten Zeitzone den Transfer eines
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»globalen Buches« beinhalten – ein elektronisches Protokoll aller geschlossenen Verträge, einschließlich der in der übermittelnden Zeitzone neu Hinzugekommenen. Globale Bücher enthalten besondere Handelsphilosophien, deren Inhalte und deren Anpassung an die spezifischen Umstände der jeweiligen Zeitzone zwischen den Händlern der Zeitzonen zu Beginn und am Ende des Tages diskutiert werden. 5. Schluss Der Markt-Fluss bezieht sich sowohl auf diese übermittelten Eigenschaften als auch auf die aggregierten Positionen und Berichte, die den Globus umkreisen, während sie sich im Zuge der Aktivitäten und Ereignisse kontinuierlich verändern. Die Flussarchitektur hingegen bezieht sich auf die Medien bzw. Systeme, die solche Flüsse unterstützen und die ich in den zeitzonenspezifischen Settings der Handelsräume mit ihren globalen Reflexsystemen ausmache. Die globalen skopischen Medien sorgen für die Einheit des Marktes und seine Bewegung über den Raum hinweg. Ebenso verweisen sie auf eine Form der Koordination in globalen Feldern, die von räumlich eingebetteten Netzwerkstrukturen unterschieden werden muss. Wie die obigen Beispiele zeigen, muss die Bewegung des Marktes über Zeitzonen hinweg geleistet werden; sie kann nicht abgelöst werden von den Aktivitäten der Marktteilnehmer, die den Markt in einer bestimmten Zeitzone aufrecht erhalten und später die Markteigenschaften über Zeitzonenintervalle »berechnen« und diskursiv zusammenfassen, indem sie diese Eigenschaften der nächsten Zeitzone übermitteln. Die darüber hinausgehenden Aktivitäten der Teilnehmer, die ebenso für die Verstetigung von globalen Märkten sorgen, können hier nicht behandelt werden. Auch die Aktivitäten der Informationsanbieter und Dienstleister, die globale skopische Medien entwickeln und instand halten und einen großen Teil der Appräsentationsfunktion durch ihre Nachrichtenübermittlung ermöglichen, müssen hier unberücksichtigt bleiben. Aus dem Englischen von Torsten Cress und Magneta Konadu.
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Die Autoreferentialität der Finanzmärkte Die Perspektive der »Économie des conventions« auf die Börsenwelt R AINER D IAZ -B ONE
1. Einleitung Die soziologische Analyse der Finanzwelt ist seit einigen Jahren der Gegenstand der sogenannten Social studies of finance (bspw. Kalthoff 2004, 2005, 2009; Knorr Cetina/Bruegger 2002; Knorr Cetina/Preda 2006; MacKenzie/Millo 2006; MacKenzie 2009; Vormbusch 2004).1 Aus diesem Ansatz ist eine Reihe von wegweisenden Analysen hervorgegangen, die die Vernetzungen von sozialen Praktiken mit den Materialitäten sowie den kognitiven Dispositiven in der Finanzwelt beschreiben und hier die Konstruktivität der Finanzwelt aufweisen. Die Social Studies of Finance sind auch durch Entwicklungen der neuen französischen Sozialwissenschaften ermöglicht worden – insbesondere durch die Actor Network Theory (ANT) (bspw. Latour 1998, 2007; Callon 1998; Law/Hasard 1999; Hennion 2007).2 In diesem Beitrag soll ein weiterer französischer Ansatz eingeführt werden, der – wie die ANT – ein zentraler Bestandteil der neuen französischen Sozialwissenschaften ist und in enger Abstimmung mit der ANT seit den 1980er Jahren im Raum Paris entwickelt wurde. Im 1
Ich danke Herbert Kalthoff für wertvolle Hinweise zu einer vorangehenden Fassung dieses Beitrags.
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Dieser Forschungsbereich hat Einflüsse aus den Social Studies of Science, der Accouting-Forschung und der Soziologie des Marktes in innovativer Weise integriert.
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Zentrum steht dabei die Idee, dass Finanzmärkte sich an eigenen interpretativen Handlungslogiken orientieren und so ihre Autoreferentialität und Autonomie herstellen und stabilisieren. Diese interpretativen Handlungslogiken werden theoretisch mit dem Konzept Konvention gefasst. Die Économie des conventions (EC) ist heute der zentrale Bestandteil der neuen französischen Wirtschaftssoziologie (bspw. Storper/Salais 1997; Eymard-Duvernay 2006a, 2006b; Orléan 2004; Favereau/Lazega 2002; Diaz-Bone 2009a; Diaz-Bone/Thévenot 2010). Als ihr Gründungsdokument gilt die Sondernummer »Économie des conventions« der Revue économique 40(2) aus dem Jahr 1989, in der die Gründer und Hauptvertreter – Jean-Pierre Dupuy, François Eymard-Duvernay, Olivier Favereau, André Orléan, Robert Salais und Laurent Thévenot – jeweils programmatische Arbeiten zur EC publiziert haben. Man muss die Bedeutung der EC aber weiter fassen, denn sie sind auch ein zentraler Teil der neuen französischen Sozialwissenschaften, wo die EC zusammen mit der ANT maßgeblich eine Repragmatisierung der Sozialwissenschaften eingeleitet hat, die kognitive, materiale und praxeologische Theorieansätze auf der Basis einer pragmatischen Handlungstheorie kombinieren. Diese Repragmatisierung findet sich in der französischen Soziologie mittlerweile in verschiedenen Spielarten (bspw. Dosse 1999; Nachi 2006; Corcuff 2007; Diaz-Bone 2011a, 2011b; Diaz-Bone/Thévenot 2010). Es soll aufgezeigt werden, dass es nicht allein das Konzept der Konvention ist, das den Beitrag der EC ausmacht, sondern dass es sich vielmehr um ein Netzwerk von Konzepten handelt, das um das zentrale Konventionenkonzept organisiert ist. Was die Analyse der Finanzmärkte angeht, so sticht in der EC die Arbeit von André Orléan prominent als Beitrag der EC zu diesem Teil der Ökonomie heraus – seine Monographie »Le pouvoir de la finance« ist der Hauptbeitrag der EC zur Analyse der Finanzwelt.3 Orléan sieht in der Liquidität den Kern-
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Die Arbeiten von Orléan zur Finanzökonomie und zur Theorie des Geldes haben sich zunächst an dem französischen Ansatz der Regulationstheorie orientiert (Boyer/Saillard 2002). Die Vertreter dieses Ansatzes (wie Michel Aglietta, Alain Lipietz und Robert Boyer) argumentieren, dass die politische Ökonomie westlich-kapitalistischer Gesellschaften durch solche Regulationsweisen gekennzeichnet sei die die interne Krisenhaftigkeit der Ökonomie kontrollieren sollen. Die Regulationstheorie stellt eine nicht-
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mechanismus der Finanzmärkte, wobei er zunächst die sozialen Investitionen für die Herstellung von Liquidität betont. Liquidität ermöglicht Preise, nicht anders herum. Und: Preise werden stabilisierbar, wenn sich Konventionen etablieren, wie ein Markt und das Marktgeschehen zu deuten ist. Solche Konventionen sind wie interpretative Logiken, auf die sich Märkte im Allgemeinen und Finanzmärkte im Besonderen autoreferentiell beziehen und so ihre Autonomie gegenüber der weiteren sozialen Umwelt einrichten. Seit einigen Jahren zeichnet sich in der Forschungsrichtung der EC eine Entwicklung ab, die auf eine diskurstheoretische Deutung von Konventionen oder zumindest auf eine diskurstheoretische Erweiterung der Konventionen hinausläuft. Hier sind neuere Arbeiten von Vertretern der EC wie Olivier Favereau, Christian Bessy und François Eymard-Duvernay interessant. Dieser Beitrag wird abschließend aufzeigen, wie aus Sicht der EC die Diskursivität der Ökonomie und (spezifischer) der Finanzmärkte gesehen wird. 2. Grundkonzepte der Économie des conventions Die EC ist ein umfassender Entwurf für einen pragmatischen Institutionalismus. Sie hat ihr Entstehungsmoment in Untersuchungen über die Kompetenzen zur Koordination von Akteuren in Situationen, die durch Unsicherheiten oder Konflikte gekennzeichnet sind. Die Fragen waren hierbei: (1) Wie erreichen Akteure Koordination und Verständigung über die Situation, wenn viele Deutungen möglich wären und das kollektive Handlungsziel nicht feststeht? Wie ist also eine kollektive Intentionalität möglich, wie sie auch in der Sphäre der Ökonomie für die Koordination der Produktion von Gütern erforderlich ist? (2) Und wie ist eine kollektiv geteilte Evaluation von Gütern möglich, die wiederum für Prozesse der Kategorisierung von Gütern und nicht zuletzt auch für die Preisbildung erforderlich sind? Für die EC steht das Problem der Qualitätskonstruktion von Anfang an im Zentrum (Eymard-Duvernay 1986, 1989; Thévenot 1986). Die Ausgangssituation ist demnach, dass es Güter und Kategorien nicht orthodoxe Version des westlichen Marxismus’ dar (Diaz-Bone 2010, DiazBone in Vorbereitung).
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einfach gibt, sondern dass Gütern und Kategorien pragmatisch und situativ Wertigkeit und Richtigkeit zuerkannt werden muss. Mit dieser sozialen Zuerkennung treten die Sachverhalte aber erst in die ökonomische Welt als Kategorien mit Geltung und als Güter mit Wertigkeit ein. Hier kommen nun Konventionen ins Werk. Konventionen fundieren in der Interpretation und Koordination der Akteure das, was als Qualität in einer sozialen Welt hervortritt. Konventionen fundieren Kategorisierungen und die Vergleichbarmachung von Personen, Objekten und Handlungen. Dabei werden Kategorien, Objekte, Personen und Handlungen untereinander der Konvention gemäß kohärent vernetzt. Akteure verfügen aus Sicht der EC über eine interpretative Rationalität. Sie können unter Hinzuziehung von Konventionen die Angemessenheit von Handlungen und Koordinationen beurteilen und mit Hilfe von Konventionen Unsicherheit bewältigen und Koordination gelingen lassen. Interpretativ heißt diese Rationalität auch deshalb, weil Konventionen erforderlich sind, um die sinnhafte Unvollständigkeit von Regeln, Objekten oder Situationen konstruktiv so zu ergänzen, dass Akteure Qualitäten und Richtigkeiten kollektiv wahrnehmen können (Bessis et al. 2006). Damit sind verschiedene Aspekte verbunden: (1) Die interpretative Rationalität kann bei der Verwendung verschiedener Konventionen unterschiedliche Qualitäten und Richtigkeiten generieren. Die Annahme, dass es viele Ausprägungen der interpretativen Rationalität gibt, die en detail beschreibbar sind, steht einer wirtschaftswissenschaftlichen Auffassung einer einzigen Rationalität klar entgegen. Die EC hat gerade für die Sphäre der Wirtschaft die Pluralität der Konventionen – entsprechend der Pluralität der interpretativen Rationalitäten – in vielen Untersuchungen aufgezeigt. (2) Die interpretativen Rationalitäten erfordern eine kognitive Instrumentierung, d.h. Investitionen in Formen, in denen Informationen repräsentiert werden. Dabei geht es um solche Informationen, die relevant sind für die Koordination und die kollektive Wahrnehmung von Qualität und Richtigkeit (Thévenot 1984). Das Konzept der interpretativen Rationalitäten verweist damit auf zwei weitere Konzepte: Forminvestition und kollektiv-kognitive Dispositive. Der Ticker im Handelsraum (Preda 2006; Stäheli 2004) einer Bank so-
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wie die rückwärts laufende Preisuhr bei einer Auktion (Garcia 1986) wären Bespiele für kollektive-kognitive Dispositive. Die kognitiven Formen, in die kollektiv investiert wurde, sind bei einem Ticker die Preiseinteilung in Achteldollar als Einheit bzw. die Preiseinteilungen auf der Preisuhr sowie Umkehrung der Auktionslogik, die nicht Preise nach oben treibt, sondern die nun die Preise sinken lässt, bis ein Käufer vor den anderen die Ware kauft. Dispositive weisen also die zugehörigen Formen an sich auf. 3. Liquidität und Spekulation Finanzmärkte sind in der wirtschaftssoziologischen Forschung in den letzten Jahren zunehmend Gegenstand der Analyse geworden, weil sich gerade hier die sozialen Mechanismen der Konstruktion von Märkten am deutlichsten zeigen. Entgegen der Idee, dass hier die (in Anführungszeichen) »reine Ökonomie« unabhängig von der sozialen Einbettung anzutreffen sei, tritt für die soziologische Analyse das umfangreiche Spektrum der sozialen Investitionen zu Tage, die erforderlich sind, um die Institutionen der Finanzwelt, ihre Regeln und ihre Akteure ins Werk zu setzen. Ein wichtiges Kennzeichen der Finanzmärkte ist, dass sie kollektive Einrichtungen sind, die zuallererst die Liquidität von Aktien (Besitzrechten an Unternehmungen) gewährleisten sollen. Das Kapital soll permanent wandelbar sein, d.h. Aktien sollen jederzeit in Geld umgewandelt werden können. Die Finanzwelt errichtet ihre Autonomie in einem ersten Schritt durch die Abtrennung der Fundamentalwerte (also den Verkaufswerten der Unternehmen) von den Börsenwerten (also den momentanen Handelswerten der Aktien). Die Finanzwelt hat ihre Autonomie in einem zweiten Schritt gegenüber der »Realwirtschaft« gesteigert, indem sie in die Einrichtung von Derivaten (wie Optionen) investiert hat, die zusätzliche Formen für die »Liquidierung«, also für die Wandelbarkeit von Aktien sind. Finanzmärkte haben seitdem das Potential – unabhängig von realwirtschaftlichen Vorgängen – Liquidität beliebig zu steigern. Damit löst sich die Finanzwelt faktisch noch weiter von der »realen Ökonomie« ab (Orléan 1999, 2005). Orléan zeigt die vorlaufenden institutionellen Prozesse auf, die die Liquidität ermöglichen. Dazu zählt die Standardisierung der Produkte. Aktien brauchen zwar nicht standardisiert zu werden, dennoch gibt es auch für Finanzmärkte das Erfordernis der Standardisierung von Produktqualitäten für die Herstellung der Liquidität. Ein Beispiel: Die
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Qualität von Rohstoffen wird durch Börsen und Kontrollgremien der Finanzmärkte operationalisiert wie die Weizenqualitäten im Terminhandel oder die Festlegung von handelbaren Legierungen bei Metallen (Cronon 1991). Zentral ist hierbei, dass damit Produktkategorisierungen etabliert werden, die auf Konventionen fußen, was die Produkte wesentlich ausmachen soll und wie ihre Qualität zuerkannt wird. Werden Unternehmen, die an Börsen notiert sind, in die falsche Produktkategorie eingeordnet, erhalten sie durch die Analysten, die Branchen beobachten, eine Bewertung, die aus Sicht des Unternehmens nachteilig sein kann (Zuckerman 1999). Finanzmärkte steigern ihre Liquidität, wenn die Zugangsbarrieren zum Handelsplatz reduziert werden und wenn die Transaktionskosten für den Handel von Wertpapieren sinken. Finanzmärkte steigern ihre Liquidität weiter, wenn Instrumente eingerichtet werden, die in immer kürzeren Zeitintervallen Preise ausrufen und zugehörige Personen auf institutionalisierten Positionen für ein spezifisches Papier einen »Markt machen«, was so viel heißt wie, dass sie bereit sind, jederzeit Aktien oder Derivate auch zu handeln, indem sie zu einem aktuellen Kurs aufkaufen und zu einem höheren aktuellen Kurs verkaufen. Zur Steigerung der Liquidität gehört aus konventionentheoretischer Sicht aber insbesondere auch, dass Formen der Transaktionen kodifiziert und damit Regeln etabliert werden. Die Formen bzw. Regeln legen fest, − wie Akteure welche Informationen angeben und erhalten (z.B. Informationen über Dritte, die Aufträge erteilt haben), − in welchen Einheiten und Intervallen welche Preise anzugeben sind, − wer berechtigt ist zu kaufen und zu verkaufen, − wie die Übertragung der Besitzrechte erfolgt und − welche Sanktionen bei Missachtung oder Nichterfüllung von Regeln erfolgen. Finanzmärkte unterscheiden sich deutlich von anderen Märkten durch diese Art der Kodifizierung. Selbstverständlich sind auch andere Märkte (etwa Konsumgütermärkte) reglementiert, aber sie sind nicht in der gleichen Weise rechtlich gerahmt (»encadrement juridique«). Orléan spricht daher von Finanzmärkten als Organisationen oder organisierten Märkten, die durch ein Ensemble von Regeln Liquidität
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produzieren (Orléan 1999: 34, 39). Liquidität ist also alles andere als ein spontaner Marktmechanismus. Orléan hebt weiter hervor, dass es diese Liquidität ist, die Preise zu ermitteln ermöglicht. Investoren und Spekulanten können so aktuelle Werte identifizieren, für die folgendes gilt: Man kann sich darauf verlassen, dass man zu diesen Preisen kaufen oder verkaufen kann. Fehlt Liquidität, so kann man sich informieren, welcher Preis bei einer vergangenen Transaktion gezahlt wurde, man weiß aber nicht, ob eine Transaktion zu diesem Preis erneut zu erzielen wäre. Liquidität bringt also – metaphorisch ausgedrückt – zugleich Ruhe und Unruhe in die Besitzstände. Sie eröffnet nun Spekulanten die Möglichkeit, kurzfristige Preisschwankungen auszunutzen, die sich einstellen können, auch wenn sich langfristig die fundamentalen Werte nicht verändern. Hier ergibt sich eine zunehmende Ausdifferenzierung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Akteursorientierungen auf dem Finanzmarkt. Einerseits finden sich Akteure auf dem Finanzmarkt, die sich an den realwirtschaftlichen Vorgängen orientieren und so den Wert und die Wertentwicklung von Wertpapieren taxieren. Diese Akteure beobachten vorrangig finanzmarktexterne Vorgänge und sie versuchen Unternehmensführung und Unternehmenswerte auf die langfristige Wertentwicklung hin zu beurteilen, um Aktienwerte einzuschätzen. Andererseits finden sich Akteure, die sowohl andere Finanzmarktakteure auf Finanzmärkten als auch Preisbewegungen beobachten. Diese Akteure konzentrieren sich vorrangig auf finanzmarktinterne Vorgänge und versuchen diese Beobachtungen für die Spekulation mit Wertpapieren zu nutzen. Deutlich werden hier zwei entgegengesetzte Rationalitäten: die der Spekulation einerseits und die der Investoren andererseits. Spekulanten sind an der möglichst vollständigen Liquidität der Preise und an kurzfristigen Preisbewegungen interessiert, während die Investoren Wertpapiere kaufen, um Gewinne auf dem Weg der Einflussnahme auf das erfolgversprechende Unternehmen zu erzielen. Investoren setzen hier auf realwirtschaftlich beeinflusste, langfristige Preisbewegung, und zwar mit dem Ziel, dass andere Mitbesitzer ihre Interessen mittragen. Immer wieder führen langfristig angelegte Investitionen oder Unternehmenspolitiken zu kurzfristig ungünstigen Kursentwicklungen. Eine vollständige Liquidität bestraft dann diese Investorenperspektive, die somit aus ökonomischen Gründen in Opposition zu den Finanzmärkten steht.
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Wenn Liquidität im hier beschriebenen Sinne einmal etabliert ist und Börsen kontinuierlich Preise emittieren, dann richten die Spekulanten ihr kurzfristiges Verhalten darauf ein, sie erzielen kurzfristig reale Gewinne und die Börsenwerte ändern sich kurzfristig erneut auch dann, wenn sich realwirtschaftliche Werte nicht verändern. Die Finanzmärkte werden so zu »permanenten Unruhestiftern«. 4. Konventionen und Unsicherheit Der Handel mit Devisen, Aktien und Derivaten ist wie jeder Markt durch Unsicherheit und Risiko gekennzeichnet (Orléan 2001). Der Institutionalist Frank H. Knight (2006) hat bereits in den 1920er Jahren die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit eingeführt. Während sich Risiken mit Hilfe von Daten über die Vergangenheit statistisch bewerten lassen, bezeichnet Knight mit Ungewissheit die Möglichkeit, dass neuartige Ereignisse eintreten können, die die bisherigen Erfahrungen und Modelle in Frage stellen. Während Risiken berechenbar sind, sind es Unsicherheiten nicht. Daraus folgt, dass Risiken – aber nicht Unsicherheiten – in neoklassischen Marktmodellen modelliert werden können und dass die neoklassische Wirtschaftstheorie keine Handlungsstrategien für Unsicherheiten ableiten kann (Orléan 1989: 242). Keynes hat im Grunde (einige Jahre später) dieselbe Folgerung wie Knight gezogen. Er hat zunächst das Konzept der Konvention eingeführt, um den für die Finanzwelt grundlegenden Mechanismus zu interpretieren, der die Bewältigung von Unsicherheit leistet und der Keynes zufolge für die relative Stabilität von Finanzwerten verantwortlich ist: »Das Wesentliche dieser Konvention […] liegt in der Voraussetzung, daß die bestehende Geschäftslage unendlich andauern wird, soweit wir nicht besondere Gründe für die Erwartung einer Änderung haben. Das heißt nicht, daß wir wirklich glauben, daß die bestehende Geschäftslage unendlich andauern werde. Wir wissen durch umfangreiche Erfahrung, dass dies höchst unwahrscheinlich ist. […] Wir setzen tatsächlich voraus, dass die bestehende Marktbewertung, wie sie auch immer erreicht wurde, in bezug auf unsere Kenntnis der den Ertrag der Investition beeinflussenden Tatsachen eindeutig richtig ist, und dass sie sich nur im Verhältnis zu Änderungen in dieser Kenntnis ändern wird, obschon sie, philosophisch gesprochen, nicht eindeutig richtig sein kann, weil die Kenntnis, die wir haben, keine genügende Grundlage für eine berechnete
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mathematische Erwartung schafft. Tatsache ist, daß in der Marktbewertung alle Arten von Erwägungen einbezogen werden, die in keiner Weise für den erwarteten Ertrag von Belang sind. Die obige konventionelle Rechenmethode wird dennoch mit einem beträchtlichen Maß von Stetigkeit und Beständigkeit in unseren Unternehmungen vereinbar sein, solange wir uns auf die Einhaltung der Konvention verlassen können« (Keynes 2006: 129f., Herv. i.O.).
Keynes folgert, dass rationale Akteure den gegenwärtigen Zustand der Finanzwerte als maßgebliche Meinung heranziehen, anstatt die Entwicklungen der Vergangenheit zu studieren. Auch über die Zukunft könne man nur so viel sagen, als dass deren Einschätzung in die Konvention eingeflossen sei. Eine instrumentelle und individuelle ökonomische Rationalität muss aber angesichts von Unsicherheiten, die sich auf dem Markt fundamental auswirken können, aufgegeben werden. Die Orientierung an Konventionen ist für Keynes erstens irrational und ein Zugeständnis der Marktteilnehmer an die Einsicht, dass es keine wissenschaftliche Strategie gibt, die Entscheidungen (oder Preisentwicklungen) auf einem formalen Kalkül zu fundieren.4 Die Orientierung an der Konvention bedeute zweitens, dass sich Akteure an allen anderen Akteuren orientieren (Keynes 1937: 214). Bereits Keynes hat diese Autoreferentialität der Konvention herausgestellt, die darin besteht, dass sich die Marktakteure nicht einfach an der Konvention als einem Wert (Preis) orientieren, sondern an der Konvention als erwarteter Durchschnittsmeinung. Bekannt geworden ist das von Keynes verwendete Beispiel des Wettbewerbs, bei dem derjenige gewinnt, der die Mehrheitsmeinung am besten antizipieren kann: »[Es] kann das berufsmäßige Investment mit jenen Zeitungswettbewerben verglichen werden, bei denen die Teilnehmer die sechs hübschesten Gesichter von hundert Leitbildern auszuwählen haben, wobei der Preis dem Teilnehmer zugesprochen wird, dessen Wahl am nächsten mit der durchschnittlichen Vorliebe aller Teilnehmer übereinstimmt, so daß jeder Teilnehmer nicht diejenigen Gesichter auszuwählen hat, die er selbst am hübschesten findet, sondern jene, von denen er denkt, daß sie am ehesten die Vorliebe der anderen Teilnehmer gewinnen werden, welche alle das Problem vom gleichen Gesichts-
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Bekannt geworden ist das Keynesche Diktum von den »animal spirits«. Dabei hat Keynes diese mit einem positiven Optimismus zusammen gedacht, der für das Unternehmertum notwendig sei (Keynes 2006: 137).
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punkt aus betrachten. Wir haben den dritten Grad erreicht, wo wir unsere Intelligenz der Vorwegnahme dessen widmen, was die durchschnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet. Und ich glaube, dass es sogar einige gibt, welche den vierten, fünften und noch höhere Grade ausüben« (Keynes 2006: 132f.).
André Orléan setzt in Le pouvoir de la finance (Orléan 1999, 2001) bei diesem Modell von Keynes an. Er vergleicht den Preisfindungsmechanismus auf Finanzmärkten mit dem Meinungsbildungsprozess in Parlamenten. Das »Parlament der Aktionäre« versuche nichts anderes als die Mehrheitsmeinung auf dem Finanzmarkt zu identifizieren (Orléan 1999: 57). Eine Fundamentalanalyse ist für ihn ein sinnloser wirtschaftswissenschaftlicher Ansatz, da man anhand der von der Fundamentalanalyse unterschätzten Häufigkeit von Börsenkrisen die fehlende Validität ihres Ansatzes erkennen könne (Orléan 1999, 2005). Die von Keynes geschilderte Komplexität der Beobachtung von Konventionen, der Beobachtung ihrer Antizipationen, der Beobachtung der Beobachtung ihrer Antizipationen usw. führe zu einer anderen Rationalität, nämlich einer mimetischen Rationalität, die die Autoreferentialität der Finanzmärkte stabilisiere, aber auch steigere und »Ansteckungseffekte« ermögliche (Orléan 1992, 1994); Orléan spricht daher auch von dem Mechanismus der Autointoxination (Orléan 1999). Konventionen erhalten nun selbst den Status eines kollektiven kognitiven Dispositivs (Favereau 1986), alle individuellen Kalküle müssen sich daran orientieren. Die Konvention wird damit (erneut) zum Vermittler zwischen Individuum und Gruppe, die individuellen Wahrnehmungen passen sich diesem kollektiven Dispositiv an, die Kognition wird zur Sozio-Kognition. Weiter erhält die Konvention den Status einer Institution, zugleich ist sie die (kognitive) Organisationsform der Finanzwelt (Orléan 1999: 87).5 Für Orléan ist die Konvention ein durch die Finanzakteure selbst hervorgebrachtes Resultat (»autoproduction du groupe«), in dem sich die Autonomie der Finanzwelt (gegenüber der Realwirtschaft) artikuliert. Die Finanzwelt erzielt so die Qualität der Selbstregulierung (der Autoregulation), die sie von den Absichten der Unternehmen noch weiter unabhängig macht.
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»La convention est le mode d’organisation de la communauté financière« (Orléan 1999: 87). Der Zusammenhang von Konvention und Institution ist im Rahmen der EC aber komplexer (Salais 2007, 2008).
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5. Über Keynes hinaus André Orléan will das Verständnis von Konventionen bei Keynes erweitern. Konventionen sind für Orléan nicht einfach konventionelle Preisverständnisse (oder die Konventionen über ihre Ermittlung), sondern kollektiv geteilte Einschätzungen über die Art und Weise »wie der Finanzmarkt funktioniert«. Konventionen erhalten den Charakter von Modellen für die kollektive Interpretation und Orléan rückt Konventionen in die Nähe von Kuhn’schen Paradigmen (Orléan 1986, 1989; Orléan 1999: 176; 2005). Hier beginnt die – diskurstheoretisch interessante – Erweiterung des Konventionenkonzeptes. Beispielhaft ist für Orléan das Aufkommen der Internetökonomie. Internetfirmen (wie YAHOO oder GOOGLE), die in den 1990er Jahren wenige Millionen US-Dollar Gewinn erzielt hatten, hatten in dieser Zeit einen Börsenwert von vielen Milliarden US-Dollar. Wie war diese absurde Überbewertung möglich? Orléan argumentiert, dass die Finanzmärkte in dieser Zeit eine neue Konvention für die Internetökonomie zu entwickeln begannen. Das diskursiv bewerkstelligte Umdenken bestand darin, dass nicht mehr der Unternehmensgewinn oder die zukünftige Unternehmensentwicklung der Maßstab für die Bewertung war, sondern die Zahl der durch die Internetfirmen erreichbaren neuen Kunden und Vertriebswege (Orléan 1999: 148). Ein anschauliches Beispiel ist der Vergleich zweier US-amerikanischer Unternehmen, die mit Spielzeug handeln (Orléan 2005: 32f.), und zwar zu einem Zeitpunkt – Ende der 1990er – als sich die Konvention für die Internetökonomie an der Börse bereits etabliert hatte (»convention Nouvelle Economie«). Orléan vergleicht das Unternehmen »Toys R Us«, welches im Jahr 1998 156 Filialen in den USA hat und zu dieser Zeit (nach Umsatz) Marktführer ist, mit dem Internethändler für Spielzeug »eToys«, einem Unternehmen, das erst im Jahr 1997 gegründet wurde. Während im Jahr 1998 das Unternehmen »Toys R Us« einen Umsatz von elf Milliarden US-Dollar macht und dabei einen Gewinn von 376 Millionen US-Dollar erzielt, macht »eToys« einen Umsatz von 30 Millionen US-Dollar und erleidet Verluste von 28 Millionen US-Dollar. Im darauffolgenden Jahr 1999 ist der Börsenwert von »eToys« dennoch ein Drittel höher als der Börsenwert von »Toys R Us«. Den Grund für dieses Missverhältnis sieht Orléan darin, dass an der Börse in dieser Zeit befürchtet wurde, dass
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das »traditionelle« Unternehmen sich nicht an die Internetökonomie würde erfolgreich anpassen können.6 Konventionen müssen sich selbst argumentativ legitimieren. Neben der mimetischen Bewegung, die eine Konvention initiiert und stabilisiert, gibt es eine begleitende diskursive Bewegung, die versucht, eine Interpretation für die Legitimierung eben dieser Konvention als valider Interpretation der (preislich bewerteten) Vorgänge auf dem Finanzmarkt als dominierende durchzusetzen (Orléan 1999: 88). Orléan (1999: 129) sieht die Keynessche Ausarbeitung der Konvention eingeschränkt auf die Erklärung der relativen Stabilität von Aktienwerten. Dies bezeichnet Orléan als die Konvention der Normalität eines Preises, die mit einer »normalen Volatilität« einhergeht. Die »normale Volatilität« von Aktienkursen ergibt sich aufgrund divergierender individueller Antizipationen. Exzessive Volatilität entsteht dagegen, wenn die vormals dominierende Interpretation ihre Stellung verliert, die Konvention geschwächt wird und sich die Meinungen polarisieren. Aber die Konvention der »normalen Volatilität« ist für Orléan nur eine unter vielen möglichen. Neben der Frage der Vielfalt der Konventionen sei bei Keynes weiter ungeklärt, wie die Dynamik der Konventionen en detail beschaffen ist: Wie sie entstehen, sich etablieren und verdrängt werden. Orléan hat zudem auf die regionale Vielfalt von Konventionen und ihre jeweiligen Dynamiken hingewiesen. Beispielhaft für letzteres sind die unterschiedlichen Konventionen für die Märkte in den verschiedenen Weltregionen wie die Konvention für die asiatischen Finanzmärkte, der Ökonomie der sogenannten »Tigerstaaten« (Orléan 1999: 161f.). Hier zeigt sich, dass die Börse für unterschiedliche Weltregionen auch unterschiedliche Modelle für Wirtschaftswachstum, Investitionsstrategien und Gewinnchancen heranzieht. 6. Kritik der Krise In seiner kleineren Studie »L’euphorie à la panique: penser la crise financière« unternimmt Orléan (2009) den Versuch, die jüngste
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Orléan (2005: 33) berichtet, dass »eToys« dann 2001 Konkurs anmelden musste und »Toys R Us« in der Folgezeit erfolgreich mit dem Internethändler AMAZON kooperierte, um Spielzeug auch online zu vertreiben.
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Finanzkrise aus dem Jahr 2007 zu erklären.7 Trotz ihres Ausmaßes und den schwerwiegenden, bis heute anhaltenden Folgen, sieht Orléan einen »klassischen« Mechanismus am Werk, der für die Krise verantwortlich ist, der sich in der Vergangenheit immer wieder krisenhaft ausgewirkt hat und der sich lediglich – wenn auch in einem sehr heftigen Ausmaß – wiederholt hat.8 Für Orléan ist die Finanzkrise erklärlich durch eine Kopplung von Immobilienkrise und Kreditkrise. Diese Kopplung habe dann zu der weltweiten Krise des Finanzsektors geführt. Worin besteht nun genau der von Orléan angeführte Mechanismus? Die Immobilienkrise führt Orléan auf einen selbstverstärkenden und autoreferentiellen Effekt zurück. Immobilien haben – im Unterschied zu Konsumgütern, die durch ihren Konsum verbraucht werden – die Eigenschaft, dass ihr Wert nicht durch den Konsum reduziert wird. Der Wert einer Immobilie steigt nicht einfach deshalb, weil die Mieten steigen und damit eine höhere Rendite ermöglicht wird. Die Mieteinnahmen aus (vermietbaren) Immobilien sind in den letzten Jahren in den USA kaum gestiegen, die Immobilienpreise (vor der Finanzkrise) dagegen sind enorm angewachsen. Die Wertsteigerung ist für Orléan auf einen Börseneffekt zurückzuführen: Wertsteigerungen an der Börse haben an der Börse die Nachfrage nach Immobilien ansteigen lassen. Denn Preissteigerungen werden hier als Wertsteigerungen gedeutet. Anders als auf anderen Märkten hat die Preissteigerung die Nachfrage eben nicht sinken lassen und der Markt hat sich hier nicht selbst reguliert. Im Gegenteil: Die Wertsteigerung von Immobilien hat die Nachfrage nach Immobilien als Wertanlagen steigen lassen. Dieser Effekt hat sich über viele Jahre selbst verstärkt und dann zu einer für die Akteure auf dem Immobilienmarkt erwartbaren Dynamik geführt, die scheinbar stabil zu sein schien: dass Immobilienpreise stetig steigen. Damit wurde sowohl für Käufer, die den Immobilienkauf über die Aufnahme von Hypotheken finanzierten, als auch für Banken, die Hypothekenkredite zu einem (im Verhältnis) niedrigen
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Die folgenden Ausführungen zur Finanzkrise stützen sich auf Orléan (2009), vgl. für eine Analyse des New Yorker Börsenkrachs vom Oktober 1987 Orléan (1999: 98f.).
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In seiner Analyse der Krise stützt sich Orléan auf verschiedene vorlaufende wirtschaftswissenschaftliche Analysen, die diesen Mechanismus früh identifiziert haben (ausführlicher Orléan 2009).
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Zinssatz verkauften, der Immobilienmarkt ein lukratives Geschäftsfeld, in dem es nur Gewinner zu geben schien. Denn die Käufer konnten (vermeintlich) damit rechnen, dass die Wertsteigerung der Immobilien die Hypothekenkosten übertraf, die Banken konnten damit rechnen, dass die Wertsteigerung der Immobilien zugleich eine Wertsteigerung der Sicherheiten für ihre (an die Käufer gewährten) Kredite bedeutete. Beide Seiten – Immobilienkäufer wie Banken – hatten ein Interesse an dem Mechanismus der kontinuierlichen Wertsteigerung der Immobilien. Zugleich hat dieser Mechanismus ebenso für beide Seiten den Immobilienmarkt attraktiver werden lassen und die Nachfrage nach und das Angebot an Immobilien und Krediten weiter anwachsen lassen. Entscheidend ist nun, dass im Immobilienmarkt diese beobachtbare kontinuierliche Wertsteigerung als erwartbare Dynamik das Modell für das Funktionieren des Immobilienmarktes wurde. Damit hat sich in diesem Markt eine ihm eigene Konvention etabliert, die fundiert wird durch die Autoreferentialität dieses Wertsteigerungsmechanismusǥ. Dass Finanzmärkte autoreferentiell operieren, ist für Orléan das erste Gesetz der Finanzmärkte; spezifisch ist hier Autoreferentialität, welche auf dieser spezifischen Konvention fußt.9 Denn diese Autoreferentialität führte – so Orléan – tatsächlich zu Wertsteigerungen, so lange die Kredite gewährt und bezahlt werden konnten. Die Wertsteigerung der Immobilien war so lange auch keine wirkliche »Blase«, denn dieser Begriff unterstellt, dass man die Preise für Immobilien kritisch mit einem Fundamentalwert hätte abgleichen können und so feststellbar gewesen sei, dass sie überhöht waren (dennoch verwendet auch Orléan den Begriff der Blase, um das Phänomen zu bezeichnen).10 Zentral ist, dass die wahrgenommene Qualität der Kredite (Hypotheken) nicht an die Zahlungsfähigkeit des Kreditnehmers rückgebunden war, sondern an die Verstetigung der Wertsteigerung der Immobilien (der Hausse im Immobilienmarkt) selbst.11 Damit wurden
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Das Argument fußt letztlich auf der oben eingeführten Position von Keynes (Orléan 2009: 48).
10 Eben diese Ermittlung von Fundamentalwerten ist Orléan (2009:42) zufolge nicht möglich. 11 Für die Finanzierung des Immobilienkaufs durch Hypothekenkredite ergab sich dann der »perverse« Effekt, dass Häuser ohne nennenswertes Eigenkapital gekauft werden konnten, und die Wertsteigerung die Kosten der
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Hypothekenkredite ihrerseits für den Finanzsektor eigenständige attraktive Spekulationsobjekte, deren Qualität (Wertigkeit) auf einer neuen Konvention beruhte, die nicht auf »Fundamentalwerten« gestützt war, sondern auf der angenommenen Stabilität eines Trends. Immobilienwertpapiere und Immobilienfonds wurden damit ein lukratives Spekulationsobjekt und eine florierende Sparte im Finanzsektor. In diesem Markt war der Mechanismus der Autoreferentialität durch einen spezifischen »mimetischen Druck« (Orléan 2009: 44f.) und eine spezifische Interessenkoalition gestützt. Der mimetische Druck wirkte auf die Konformität mit der Konvention hin. Dieser mimetische Druck marginalisierte kritische und warnende Stimmen. Ermöglicht wurde dieser Druck durch die publizierten Befunde der ökonometrischen Analysen, die – so Orléan kritisch – einfach den obigen Trend erfassten und zeitlich in die Zukunft projektierten. Zudem wirkten die erfolgreichen Banken und Spekulanten als überzeugendes Vorbild. Zugleich lag weiter eine Interessenkoalition vor, da sowohl die Kreditnehmer (Hauskäufer, die Hypotheken aufgenommen haben) als auch die Kreditgeber (Banken) ein Interesse an der Fortführung dieses Trends hatten und beide Gruppen haben entsprechend ihre Überzeugungen in diese Immobilienblase argumentativ – also diskursiv – »investiert«. Zu dieser Zeit – so Orléan – war es auch den Rating-Agenturen, die die Risiken von Immobilienwertpapieren zu beurteilen hatten, aufgrund des mimetischen Drucks nicht möglich gewesen, etwas anderes als ihre erwartete hohe Qualität der Wertpapiere zu zertifizieren. Als Immobilienkrise trat diese Entwicklung erst manifest hervor, als der krisenhafte Trend auch als mit einer Kreditkrise verbunden wahrgenommen wurde. Die Verkopplung dieser beiden Krisen (die die spezifische Form ist, wie diese beiden Krisen als solche sich artikulieren konnten) erfolgte über den Zwischenschritt der Verbriefung (»titri-
Hypothekenkredite wettmachte. Der Kauf einer Immobilie »auf Pump« wurde so in den USA für Millionen zu einem Geschäft. Anstatt Miete für eine Immobilie zu zahlen, die man nicht besaß, konnte man eine Immobilie mit Geld erwerben, das man nicht besaß und zugleich erwarten, dass man allein durch die Wertsteigerung der Immobilie das geliehene Geld würde zurückzahlen können und zudem einen Gewinn erzielen würde. In den USA haben Immobilienbesitzer also mit der Aufnahme einer Hypothek Geld verdient (Orléan 2009: 20f.).
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sation«), der Umwandlung der Hypothekenkredite in Wertpapiere – genauer in sogenannte strukturierte Wertpapiere, die auch CDOs (Collateralised Debt Obligations) genannt werden (Kalthoff/Maesse in diesem Band). Mit dieser Umwandlung waren die Hypothekenkredite nun selbst frei auf den Finanzmärkten handelbar. Damit wurde aus vergebenen Krediten nochmals eine neue Form der Liquidität generiert, welche nun ein enormes Volumen innehatte und die weltweit zirkulieren konnte. Diese liquidierten Kredite wurden in den frühen 2000er Jahren nun zum Gegenstand weltweiter und kreditfinanzierter Massenspekulation. Das zentrale Problem bei den strukturierten Wertpapieren war aber, dass hier Hypothekenkredite mit unterschiedlichem Risiko in komplexer Weise zusammengebündelt wurden mit der Folge, dass die Qualität dieser Wertpapiere an Transparenz einbüßen musste. Dafür wurden nun die Ratings von Rating-Agenturen (wie Moody’s, Standard & Poors, Fitch) als Äquivalent für die Qualitätsbewertung (die Bewertung des Ausfallrisikos) herangezogen. Die Ratings etablierten sich hier als neue Qualitätskonventionen, auf deren Grundlage dann Preise für die strukturierten Wertpapiere ermittelbar waren. Im Juni und Juli 2007 geriet nun die Qualität von einigen strukturierten Wertpapieren, die durch die Rating-Agenturen exzellent gerankt waren, als Wertpapiere mit hohem Ausfallrisiko in die Kritik, mit der Folge, dass sich die Bereitschaft, diese zu akzeptieren, dramatisch verschlechterte (was sich anhand dramatisch steigender Risikoaufschläge zeigte).12 Die Zahl der so in Frage gestellten strukturierten Wertpapiere nahm rasch zu, sodass sich im August 2007 die Situation auf den Finanzmärkten zur Krise zugespitzt hatte. Diese bestand in dem fast vollständigen Vertrauensverlust in die Ratings der RatingAgenturen. Die Folge war, dass diese Konvention (Ratings als Qualitätsmaßstab heranzuziehen) aufgegeben wurde, aber keine neue an ihre Stelle treten konnte, um die Qualität der strukturierten Wertpapiere glaubwürdig vertrauenswürdig zu fundieren.13 Damit brach die Liquidität für diese Wertpapiere ein und die Qualitätskrise wurde zur Liquiditätskrise. Illiquidität war zugleich das zwischenzeitliche und fast vollständige Aussetzen des Finanzmarktes. Banken waren nicht länger
12 Auslöser waren systematisch eingetretene Zahlungsausfälle bei sehr gut bewerteten Wertpapieren. 13 »En août 2007, la convention, qui prévalait antérieurement a été rejetée sans qu’une nouvelle convention se soit imposée« (Orléan 2009: 73).
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bereit, sich untereinander zu beleihen. Viele Banken waren gezwungen ihre anderen Aktiva zu verkaufen, um überhaupt wieder liquide zu sein. Bis März 2009 sind Finanzwerte von mehreren Billionen USDollar verloren und viele Banken Konkurs gegangen. Es hat massive Auswirkungen auf die Realwirtschaft gegeben. Für Orléan ist das entscheidende, diese Krise manifestierende Moment eben die Infragestellung der Konvention auf dem Finanzmarkt. Und ebenso zentral ist für ihn, dass die anfängliche Autoreferentialität, die die Wertsteigerung forciert hatte, nun in anderer Form die Krisenhaftigkeit des Finanzmarktes (für diese CDOs) forcierte. 7. Konventionen, Kalkulationen und Finanzmeinungen Ein Hauptanliegen von Orléan ist, die Vorstellung von Fundamentalwerten als Grundlage für das Börsengeschehen und die Preise von Finanzprodukten zu destruieren. Die Qualität von Sachverhalten, die auf Finanzmärkten gehandelt werden, sowie die kognitiven Modelle, wie diese Finanzmärkte funktionieren, werden wesentlich durch Konventionen organisiert. Konventionen sind die kognitive Infrastruktur für Meinungen im Finanzmarkt. Informationen, die in Finanzmärkten durch die Akteure auf ihre Marktrelevanz (und damit ihre Bedeutung für Preise) hin bewertet werden müssen, werden auf der Grundlage der etablierten Konvention bewertet, d.h. praktisch mit Hilfe der Konvention »gerahmt«, so kognitiv vervollständigt und damit interpretierbar. Der Konventionentheoretiker François Eymard-Duvernay (2009) hat die Position entwickelt, dass Konventionen auch dem Kalkulieren unterliegen. Das Wie des Verrechnens muss ein Was des zu Berechnenden und damit eine Qualitätsbestimmung als konventionenbasierter Konstruktion voraussetzen. Letzteres wird sprachlich repräsentiert und ist konventionell (im Sinne der EC, also paradigmatisch als Muster) fundiert.14 Die Sprache ermöglicht, Einheiten und Diskontinuitäten einzuführen, die dann erst verrechnet werden können (EymardDuvernay 2009: 145). Eve Chiapello hat ebenfalls diesen Zusammenhang zwischen Konventionen (als diskursiver Grundlage) und dem
14 »Les qualités sont des préalables à un calcul de quantités, et on ne peut pas calculer dans des paradigms différents de qualités« (Eymard-Duvernay 2009: 133).
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Kalkulieren für den Bereich des Rechnungswesens aufgezeigt (Chiapello 2009).15 Wie Orléan, so zieht auch Eymard-Duvernay das Kuhn’sche Konzept des Paradigmas heran, um nun zu argumentieren, dass verschiedene solcher Konventionen mit eigener Gültigkeit und eigener Reichweite für das Kalkulieren existieren (Eymard-Duvernay 2009: 149).16 Konventionen sind dann zugleich Wissensbereiche mit einer diskursiven Realität, d.h. Bereiche, in denen eigene diskursive Regeln gelten. Im Rahmen der EC spricht man von diesen Konventionen als Wissensordnungen – auch treffend als Wertigkeitsordnungen – und man geht von einer Pluralität als radikaler Koexistenz dieser Wertigkeitsordnungen aus.17 Orléan hat versucht, anschließend an Keynes aufzuzeigen, dass die Finanzwelt Konventionen braucht, die als stabilisierte und kollektiv als kollektiv wahrgenommene Meinungen über die Qualitäten und Werte (Preise) der Objekte in der Finanzwelt fungieren müssen. Preisbildungen auf Finanzmärkten sowie Stabilisierungs- und Destabilisierungsprozesse haben damit einen diskursiven Charakter – sie werden durch diskursive Praktiken und diskursive Dispositive organisiert. 8. Schluss Die EC hat sich in den letzten drei Jahrzehnten als einer der wichtigsten Ansätze der französischen Wirtschaftssoziologie etabliert. Im Zentrum steht die Repragmatisierung der Analyse ökonomischer Institutionen und der Finanzwelt. Die EC ist damit keine allein mikrosoziologische Analysestrategie, sondern untersucht die situative Konstitution situationsübergreifender Konventionen, Formen und Dispositive. Umgekehrt analysiert sie das Hineinreichen dieser in neue Situationen, die zeitlich bzw. räumlich entfernt sind. Das empirische Analyseinteresse gilt der Rekonstruktion der Wechselwirkung zwischen Konven15 Siehe für eine Analyse von Konventionen als diskursiver Grundordnung für Märkte Boisard/Letablier (1987, 1989) und Diaz-Bone (2009a, 2009b). 16 Bereits die beiden Konventionentheoretiker Olivier Favereau und Christian Bessy haben die zentrale Bedeutung der Sprache als ökonomischer Institution herausgestellt (Bessy/Favereau 2003). 17 Und für die Vermittlung bzw. Übersetzung von Qualitäten und Kalkulationsmodi zwischen verschiedenen Wertigkeitsordnungen ist ebenfalls die Sprache die Voraussetzung (Eymard-Duvernay 2009: 158f.).
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tionen, Formen und Dispositiven einerseits mit den interpretativen Kompetenzen der Akteure in Situationen andererseits (Diaz-Bone 2011a, 2011b). Dafür zieht sie auch solche sinntragenden Materialien und Artefakte heran, in denen sich diese situativen Wechselwirkungen dokumentieren. Insbesondere für die Anwendung auf die Wirtschaftsgeschichte musste sie eine solche materialiengestützte »pragmatischstrukturale« Hermeneutik entwickeln (Salais 2011; Diaz-Bone/Salais 2011). Die Komplexität der konzeptionellen Architektur der EC hat immer weiter zugenommen. Das Motiv dafür ist das Anliegen, die Problematik der (ökonomischen) Koordination unter der Bedingung radikaler Unsicherheit, der Pluralität der Koordinationslogiken sowie der Unvollständigkeit der zugehörigen Rationalität nicht nur zu theoretisieren, sondern auch empirisch zu rekonstruieren. Die beginnende Einbeziehung der Diskursivität ökonomischer Institutionen und Praktiken durch die EC (Eymard-Duvernay 2009; Chiapello 2009; DiazBone 2009b) wird die Komplexität des Ansatzes steigern und weitere Anschlüsse an andere Ansätze der Analyse der Finanzwelt eröffnen.
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Signaturen der Finanzialisierung Von Finanzmärkten zu Organisationen, zu sozialen Situationen und (von dort) zu allem anderen H ENDRIK V OLLMER
1. Einleitung Die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte für die Organisation von Arbeit, für Produktion und gesellschaftliche Wohlfahrt, für Unternehmen, Staaten und Bevölkerungen ist der gemeinsame Bezugspunkt zahlreicher soziologischer Gegenwartsdiagnosen. Tendenzen zur Formierung einer »Shareholder Value Society« (Fligstein/Shin 2004) werden – über den Wandel von Unternehmen und Organisationsfeldern im Rahmen des sogenannten Finanzmarktkapitalismus (Windolf 2005) hinaus – im Rahmen der Finanzialisierung von Haushalten, Familien, Freizeit und Alltag, also des gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt thematisiert (Martin 2002). Ähnlich wie im Falle des Begriffs der Ökonomisierung wird »Finanzialisierung« dabei nicht nur als ein Begriff für eine spezifische Form sozialen Wandels, sondern auch als eine Art von Kampfbegriff in der Kritik dieses Wandels und seiner gesellschaftlichen Folgen ins Spiel gebracht (Martin 2002: 8ff.). Doch während die Soziologie das Phänomen der Ökonomisierung, ob nun anknüpfend an Foucaults Theorie der Gouvernementalität (Miller/ Rose 1990; Bröckling et al. 2000), die Wissenschaftssoziologie (Çalıúkan/Callon 2009) oder im Frontalangriff auf die Differenzierungstheorie (Beckert 2009: 186f., 194) inzwischen recht eingehend auf seine gesellschaftliche Konstitution und damit auch auf seine ge-
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sellschaftlichen Grenzen hin befragt hat, liegen hinsichtlich der kollektiven Grundlagen und Möglichkeitsbedingungen des Prozesses der Finanzialisierung bislang eher unsystematische Diagnosen vor. Der vorliegende Text möchte einen Beitrag zur Aufarbeitung dieser Diagnosen leisten und dabei dem Verdacht nachgehen, dass die wesentlichen Grundlagen der Finanzialisierung gesellschaftlichen Zusammenlebens – und damit auch: die kollektiven Grundlagen des Bedeutungsgewinns der Finanzmärkte – in vergleichsweise kleinformatigen sozialen Phänomenen zu suchen sind. Finanzialisierung erscheint in der hier eingenommenen Perspektive als Resultat der vielfachen Verwendung von und Orientierung an Finanzzahlen in sozialen Situationen und der lokalen Verhaltensordnungen, die aus diesen Verwendungskontexten erwachsen. Diese Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit in der Beobachtung gesellschaftlicher Finanzialisierungsprozesse von Wirtschaftssystemen und Organisationen auf mikrosoziale Aspekte des Zahlengebrauchs. Für weite Teile der wirtschaftssoziologischen Literatur sind nicht einzelne soziale Situationen, sondern Organisationen eines besonderen Typs – börsennotierte Wirtschaftsunternehmen – die wesentlichen Träger und Adressaten von Finanzialisierungsprozessen. In dieser Perspektive fungiert die Orientierung dieser Organisationen und ihrer Unternehmensleitungen an der Optimierung von »Shareholder Value« als die wesentliche Signatur von Finanzialisierungsprozesssen. Bei näherer Betrachtung erweist sich die »Shareholder Value«-Signatur allerdings eher als eine Klammer für eine Vielzahl von Einzelleistungen, die von Organisationsmitgliedern erbracht werden müssen, und weniger als ein konkretes Transformationsrezept. Dies ist das Thema des nachfolgenden Abschnitts (2.). Vergleichbare Einzelleistungen in der Finanzialisierung von Aktivitäten werden, so die These von Martin (2002), zunehmend auch in Alltagssituationen jenseits organisierter Arbeitswelten erbracht. Dies gibt Anlass, nach den gemeinsamen Charakteristika dieser Einzelleistungen in sozialen Situationen zu fragen. Eine kurze Skizze der Finanzialisierung sozialer Situationen liefert hierfür erste Ansatzpunkte und identifiziert in den besonderen Formen der Koordination von Aktivitäten spezifische Mikrosignaturen der Finanzialisierung (3.). Diese Mikrosignaturen der Finanzialisierung erlauben es, eine Reihe weiterer Prozesse sozialen Wandels mit dem Phänomen der Finanzialisierung in Verbindung zu bringen (4.). Zu beschreiben, wie graduell finanzialisierte lokale Situationen eine derarti-
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ge kollektive Breitenwirkung gewinnen können, dass aus ihnen die Vielzahl selbstähnlicher kollektiver Prozesse und Strukturen hervorgeht, die den Finanzmärkten ihre gegenwärtige zentrale gesellschaftliche Stellung einräumt, erscheint mir als zentrale Aufgabe einer Mikrosoziologie der Finanzialisierung. Deren Entwicklungsrichtung und Erklärungsaufgaben möchte ich abschließend kurz skizzieren (5.). 2. Von Finanzmärkten zu Organisationen: »Shareholder Value« Die Finanzmarktorientierung von Wirtschaftsorganisationen artikuliert sich seit gut drei Jahrzehnten ganz überwiegend über den Begriff des »Shareholder Value«. Der historische Aufstieg der »Shareholder Value«-Orientierung als Prinzip der Organisationsführung und »corporate governance« führt zurück auf die ökonomischen Krisen der großen westlichen Industrienationen in den 1970er Jahren (Fligstein/Shin 2004: 402ff.; Lazonick/O’Sullivan 2000: 14f.). Besonders in den USA erreicht das fordistische Produktionsregime zu diesem Zeitpunkt seine Grenzen und wird durch den Erfolg der japanischen Konkurrenz in Frage gestellt. Die Orientierung von Unternehmensleitungen an der Optimierung des »Shareholder Value« wird vor diesem Hintergrund von Kapitalgebern massiv eingefordert und von Ökonomen als Mittel der Disziplinierung des Führungspersonals propagiert (Lazonick/ O’Sullivan 2000: 16, 27; Ezzamel et al. 2008: 110ff.). Die Finanzmarktorientierung als Mittel einer »tough love« (Ezzamel et al. 2008: 115) der strengen Unternehmensbewertung auf der Basis tagesaktueller Aktienwerte wird als Lösung für Koordinations- und Delegationsprobleme zwischen Kapitaleignern und Kapitalnutzern, zwischen Eigentümern, Managern, Angestellten und Arbeitern ins Spiel gebracht, und mit der Orientierung am »Shareholder Value« als möglichst weitgehender Ausrichtung allen Organisierens am Aktienwert verbindet sich die Hoffnung, »corporate control« als »market control« zu reorganisieren (Lazonick/O’Sullivan 2000: 28; siehe auch Krippner 2005). Die Grundidee der »Shareholder Value«-Orientierung als eine Art Reformprogramm für die Leitung börsennotierter Unternehmen im Sinne der Kapitalgeber ist also denkbar einfach und findet Unterstützung in einer spezifisch finanzökonomischen Theorie des Unternehmens (Jensen/Meckling 1976). In ihrem Vollzug stößt die Orientierung am Aktienwert jedoch auf eine Reihe von Hindernissen. Das beginnt damit, dass die Idee einer effektiven Kontrolle von Unternehmen
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durch Finanzmärkte auf die Gegebenheit eines »market for corporate control« angewiesen ist, der bei sinkenden Börsenkursen die Unternehmensleitungen mit einem realistischen Szenario feindlicher Übernahmen und der Möglichkeit einer effektiven Bestrafung durch neue Eigentümer konfrontiert (Lazonick/O’Sullivan 2000: 16). Dies schränkt die Grundgesamtheit der von der Finanzialisierungsidee in Form der »Shareholder Value«-Orientierung potentiell betroffenen Organisationen nicht alleine auf börsennotierte Unternehmen, sondern weiterhin nur auf solche Aktiengesellschaften ein, deren Anteilseigner tatsächlich bereit sind, ihre Beteiligungen relativ kurzfristig zu veräußern. Die Mehrzahl der Finanzmarktreformen seit den 1980er Jahren lassen sich über unterschiedliche Länder hinweg tatsächlich auch dahingehend deuten, dass sie den Versuch darstellten, die Kapitalzirkulation zu beschleunigen und die tatsächlichen Beteiligungsstrukturen mit der Idee eines Marktes für Unternehmenskontrolle kompatibel zu machen (Fiss/Zajac 2004: 506; Lazonick/O’Sullivan 2000: 16f.). Das offenbart den politischen Charakter der Durchsetzung der »Shareholder Value«-Orientierung, die nicht aus einem Wettbewerb von Paradigmen der Unternehmenssteuerung oder von Produktionsregimen erwächst, sondern auf Entscheidungen politischer und wirtschaftlicher Eliten beruht – letztendlich also auf einem Prozess der »belief conversion« (Fiss/Zajac 2004: 529; Dore 2000), in dessen Verlauf der Glaube an die disziplinierende Kraft der Finanzmärkte zunehmend das Vertrauen auf die eigenständige Rationalisierungskompetenz des Managements unterminiert. Zudem setzt die »Shareholder Value«-Idee hinsichtlich des tatsächlichen Vollzugs der Unternehmensführung voraus, dass das Leitungspersonal den Aktienwert des Unternehmens nicht einfach nur beobachtet, sondern tatsächlich auch als Messlatte eigenen Handelns fortlaufend in Anschlag bringt, z.B. als potentielle Bedrohung der eigenen Position im Wettbewerb um die Unternehmenskontrolle wahrnimmt. Auch diesbezüglich wird man nach den sozialen Voraussetzungen einer solchen kollektiven Orientierung fragen wollen. Es hat sich jedenfalls für Wirtschaftsorganisationen als kostspielig erwiesen, die für die Durchsetzung entsprechender Orientierungen in ihren Führungsetagen notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das prominenteste Mittel ihrer Durchsetzung ist die Bindung der Bezahlung von Führungskräften am Aktienwert geblieben (Lazonick/ O’Sullivan 2000: 24f.; Murphy 1985; Gomez-Mejia 1994). Mit der Einrichtung entsprechender Anreizstrukturen (wie immer man deren
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Wirkungen ansonsten bewerten mag) sind die organisationsspezifischen Kontingenzen hinsichtlich der Implementation der »Shareholder Value«-Orientierung gleichwohl nur sehr unvollständig abgedeckt. Situationen des Organisierens in Wirtschaftsunternehmen werden durch die damit gegebenen Entscheidungsanreize zweifellos beeinflusst, aber doch nur sehr unvollständig definiert. Organisationen sind soziale Felder, in denen einzelne Organisationsmitglieder, aber auch Abteilungen, Koalitionen, Berufsgruppen und Professionen um Positionen kämpfen (Emirbayer/Johnson 2008) und die Entscheidungen von Unternehmensführungen werden nicht alleine durch monetäre Anreize, sondern auch durch das jeweilige feldspezifische Machtgefüge bestimmt. In dieser Hinsicht ist es dann auffällig, dass in den Ländern, die als Vorreiter der Unternehmensführung nach Maßgabe des Aktienwertes gelten, allen voran die USA und Großbritannien, ein früher Aufstieg der Finanzexperten in der Führung von Wirtschaftsunternehmen zu erkennen ist. Insbesondere das »Accounting« setzt sich als Profession in diesen Ländern gegenüber konkurrierenden Expertenschaften in der Bestimmung der wesentlichen Prämissen, Ziele und Techniken organisierten Rechnens früh und nachhaltig durch (Armstrong 1987; Matthews et al. 1998). Durch die Verkörperung finanzieller Expertenschaft im Rahmen einer Profession ist diese Berufsgruppe in den USA und Großbritannien viel deutlicher sichtbar als in Ländern wie Deutschland und in der Verfolgung ihres »collective mobility project« (Armstrong 1987: 416) ist sie ungleich effektiver. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt sie sich in den Unternehmensleitungen durch, wie vor allem Neil Fligstein (1987, 1990) in seinen Untersuchungen zur Verbreitung der »finance conception of control« in amerikanischen Großunternehmen überzeugend nachgewiesen hat. Trotz der Ähnlichkeiten im Erfolg der Finanzexperten im organisationsinternen Ringen um Positionen sind die Entwicklungen in beiden Ländern von ganz unterschiedlichen historischen Zufälligkeiten geprägt – ob durch Pleitewellen, Munitionskrisen (Armstrong 1987: 419ff.) oder Fusionen (Armstrong 1987: 429f.; Fligstein 1987: 49, 56). Die deutschen Verhältnisse fallen im Vergleich dazu nicht nur in ihren Beteiligungs- und Mitwirkungsstrukturen, sondern auch in der relativen Stellung von Berufsgruppen und Professionen im organisationsinternen Machtgefüge, insbesondere einer immer noch starken Prominenz von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern in den Unternehmensleitungen, anders aus. Sie setzen der Durchsetzung der »Share-
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holder Value«-Orientierung trotz gradueller Verschiebungen zugunsten von Finanzexperten noch immer bedeutsame Grenzen (Lewin et al. 1999: 542f.; Dore 2000; Beyer 2009). In keinem dieser Fälle gibt es jedoch eine gleichsam natürliche oder historisch unproblematische Durchsetzung von »Shareholder Value« als organisationsinterner Koordinationsstrategie. In allen Fällen ist die Diffusion der Finanzmarktorientierung nicht in erster Linie ein Resultat unternehmerischen Einzelhandelns, sondern erwächst aus dessen Wechselwirkung mit der Struktur von Organisationsfeldern, der relativen Stellung von Berufsgruppen und Professionen und nicht zuletzt der staatlichen Regulierung von Finanzierungs- und Beteiligungsverhältnissen. Daneben gibt es Schwierigkeiten, die selbst bei festem Willen, freier Sicht und gegebener Durchsetzungsmacht auf Seiten der Unternehmensführung auftreten, wenn diese Prozesse des Organisierens an der Optimierung von »Shareholder Value« auszurichten versucht. Der Marktwert eines Unternehmens muss für die Zwecke alltäglichen Entscheidens und Organisierens in handhabbare Entscheidungsorientierungen und Kennzahlen übersetzt werden (Ezzamel et al. 2008: 108ff.). Die Angebote hierfür sind vielfältig, doch an der Wirksamkeit der Instrumente bestehen erhebliche Zweifel (Froud et al. 2000: 106ff.) – wie überhaupt daran, dass sich die »Shareholder Value«Optimierung als Prinzip der Unternehmensführung ökonomisch ›rechnen‹ wird (Fligstein/Shin 2007: 415ff.; Deutschmann 2005). Bleibt man bei der Überzeugung, dass es die Aufgabe der diversen »EVA«und »MVA«-Zahlen1 zu sein habe, den Beitrag der Unternehmensführung, wenn nicht eines möglichst großen Teils der Organisationsmitglieder per se, zum Marktwert eines Unternehmens möglichst genau messbar zu machen, dann gestattet es eine solche Denkweise letztendlich auch, aus dem Misserfolg bisheriger »Shareholder Value«Optimierungen einen Bedarf an weiterer »Shareholder Value«Optimierung abzuleiten (Froud et al. 2000: 108f.). Bislang gibt es allerdings schlichtweg kein Instrument der Optimierung von »Shareholder Value«, das Organisationsmitglieder in Führungspositionen von der Aufgabe entlasten würde, in jeder einzelnen Situation des Organi-
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»Economic value added« bzw. »market value added«; Froud et al. (2000: 83) für eine Übersicht über das Angebot an Kennzahlen zu Beginn des Jahrtausends.
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sierens entscheiden zu müssen, wie Finanzzahlen in der Planung und Entscheidung konkreter Prozesse und Strukturen zu nutzen sind. Die Finanzmarktorientierung in der Form der »Shareholder Value« -Orientierung bringt deshalb weniger einen Prozess der Rationalisierung als einen Prozess der Aspirationalisierung in Gang (Vollmer 2004: 458ff.), der Organisationsmitglieder auf ein fortlaufendes Durchrechnen, Nachrechnen und Neurechnen von Organisationsprozessen verpflichtet – wie immer sie den Ergebnissen kalkulatorischer Projektionen dann letztendlich nachkommen (Ezzamel et al. 2008). Die tatsächlichen rechenbasierten Praktiken, die im Rahmen von »Shareholder Value«-Optimierungen zu beobachten sind – dabei vor allem: Rückkäufe der eigenen Aktien, Personalreduzierungen, Bilanzoptimierungen und Portfoliomanagement – verdeutlichen, wie unterschiedlich komplex die entsprechenden Rechenoperationen und Optimierungsvorstellungen hinsichtlich kurz- und langfristiger Marktwerteffekte ausfallen. Gemein ist solchen Maßnahmen, dass sie sich allesamt mit dem Marktwert als grober Zielorientierung und eben nicht als Instrument oder als spezifische Technik des Organisierens in Verbindung bringen lassen. Der »Shareholder Value« ist eher eine Klammer für Prozesse des Organisierens, in die Organisationsmitglieder Lösungen einsetzen müssen, die sich aus ihrer Sicht ›gut rechnen‹, und weniger selbst eine Lösung für Organisationsprobleme. Die »Shareholder Value«-Orientierung als in der Literatur prominenteste Signatur der Finanzialisierung gibt also eher einen symbolischen Rahmen für Finanzialisierungsprozesse vor, als dass sie diese Prozesse beschreiben oder gar vorschreiben könnte. Aus mikrosoziologischer Sicht ist es naheliegend, diese Signatur mit Prozessen in Verbindung zu bringen, die Erving Goffman (1974) als »framing« und »keying« sozialer Situationen beschrieben hat. 3. Von Organisationen zu Haushalten und Individuen und zur Finanzialisierung sozialer Situationen Über den Ablauf einzelner Situationen des Organisierens und über Organisationen und Organisationsfelder hinweg ist die Diffusion der »Shareholder Value«-Orientierung ein Korrelat langfristiger Prozesse des Ringens von Organisationsmitgliedern, Berufsgruppen, Experten, Politikern, Beratern usw. um die Definition der des Prinzipien angemessenen Organisierens. Mit der Finanzmarktorientierung wird kein Mittel oder Instrument des Organisierens, wohl aber ein Zielhorizont
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ins Auge gefasst. Der Glaube an die Relevanz dieses Zielhorizontes führt letztendlich abermals auf die insgesamt gestiegene kollektive Bedeutung des Finanzmarktes zurück, von der Sicherstellung von Altersrenten bis zu Rechten an Wohnraum (Lazonick/O’Sullivan 2000: 31f.; Froud et al. 2000: 101; Langley 2007: 75ff.; Aalbers 2011: 53ff.). Die Orientierung an Aktienwerten bietet einen »frame« an und damit eine Definition von Kontext (Scheff 2005: 374), die in unterschiedlichen sozialen Situationen erst zu realisieren und unter verschiedenen Situationsteilnehmern zu reproduzieren bleibt. Die Kontingenz dieser Konstellation ist noch deutlicher zu erkennen, wenn man neben die Finanzialisierung des Organisierens Tendenzen zur Finanzialisierung der Alltagswelt stellt, mit denen sich auch nach Feierabend die Pflege eines finanziellen Portfolios im Rahmen der privaten Kontenpflege und von Versicherungs-, Renten-, Verschuldungs- und Investitionsverhältnissen als Daueraufgabe aufdrängt. Der Prozess der Finanzialisierung der Alltagswelt »insinuates an orientation toward accounting and risk management into all domains of life« (Martin 2002: 43). Mit der »nearly extinct species called savings« hat der »Virus« der Finanzplanung (Martin 2002: 5) wenig zu tun. Ihm geht es um nichts weniger als die Umwandlung von Lebensläufen und Familien in kleine Unternehmen und Investitionsportfolios. Man kann diese Portfolios nach den schlichteren Regeln einer kollektiven Sparund Versorgungseinrichtung pflegen oder aber auf der Basis von Selbsthilfebüchern, Internetplattformen und Börsenspielen erworbene Kompetenzen in der Investition und Verwaltung, Überwachung und Abschöpfung aller mit der Haushaltsführung verbundenen Formen von Kapital mitsamt seiner Preise, Opportunitätskosten und Risiken zur Anwendung bringen – von der Immobilie und ihrer fortlaufenden Abschreibung zur Schulbildung der Kinder, zur Rente der Eltern und zum Heimplatz der Großeltern (Martin 2002: 55, 114, 195). So eindringlich sich Randy Martins Schilderung der »financialization of daily life« in den USA zu Anfang des Jahrtausends gelesen hat, so undeutlich ist diese Skizze hinsichtlich der tatsächlichen Formen der Verhaltenskoordination geblieben, die durch das Phänomen der Finanzialisierung angesprochen werden sollen. In welcher Form setzt sich die »rasante Verbreitung des Geldgeredes in den Medien« (Martin 2002: 37) im Familienkreis fort? Inwieweit wird die Führung privater Haushalte und das selbstverwaltete Leben tatsächlich von den »puritanischen Fesseln« (Martin 2002: 5) nüchternen Haushaltens befreit,
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durchlaufen die Familien die »Seven Stages of Money Maturity«, durch die sie die Ratgeberliteratur geleiten möchte (Martin 2002: 95ff.) und wie genau sieht eine finanziell »reife« Alltagsorganisation aus? Martins Skizze der Finanzialisierung der Alltagswelt reißt ein Forschungsfeld an, das seinen Anschluss an das zuletzt in rasanter Entwicklung begriffene Forschungsgebiet der Ethnographie des zeitgenössischen Kapitalismus’ (Miller 1997; Çalıúkan/Callon 2009: 384ff.) erst noch finden muss. Es fehlt für diesen Anschluss zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur an weiteren und dichteren Beschreibungen dessen, wie genau nun Einzelpersonen und Haushalte die finanziellen Risiken operationalisieren, denen sie dadurch ausgesetzt sind, dass ihre zukünftige Wohlfahrt über Kredite, Renten und Hypotheken eine zunehmende Bindung an Wertentwicklungen auf Finanzmärkten erfährt. Neben einer dauerhaften Ausweitung der seit gut zwei Jahrzehnten andauernden Forschung zu Formen der Alltagskalkulation (Lave 1988; Guyer 2004) bedarf es weiterhin noch eines grundsätzlichen Verständnisses davon, was eigentlich den Umgang mit Finanzzahlen in Firmen und Haushalten so miteinander verbindet, dass die Semantiken und Beratungsangebote derart munter über unterschiedliche soziale Situationen und Kontexte hinweg zirkulieren – über die Beobachtung massenmedialer Verbreitungsformate von der »Börse im Ersten« (ARD) bis zu »Wake up to money« (BBC Radio) hinaus. Es fehlt, mit anderen Worten, an einem belastbaren soziologischen Grundverständnis des eigentlichen Finanzialisierungsphänomens jenseits seiner diskursiven Stilisierung. Die im Finanzialisierungsdiskurs wie im Ökonomisierungsdiskurs prominent vertretenen Foucaultianer werden die Antwort nach der Substanz der Finanzialisierung in dem mit finanzieller Kompetenz ausgestatteten bzw. auszustattenden Individuum suchen (Langley 2007:72ff.). Diese Blickrichtung auf die Subjekte der Finanzialisierung kann schon deshalb gar nicht falsch sein, weil es letztendlich immer die Teilnehmer sozialer Situationen sein müssen, die als »vehicles of structural immortality« (Katz 1999: 37) unterschiedliche soziale Situationen erst mit gemeinsamen Merkmalen ausstatten. Auf der anderen Seite nährt die Leichtigkeit, mit der die Rede von der ökonomischen Subjektivierung der Subjekte eine Reihe von Gleichförmigkeiten in der kalkulativen Disziplin von Situationsteilnehmern zu entdecken vermag (Miller/O’Leary 1994; Martin 2002: 118), doch den Verdacht, dass man es bei den Subjekten finanziellen Kalkulierens vor allem mit Ergebnissen von bereits über einzelne Situ-
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ationen hinweg vollzogenen Finanzialisierungskarrieren zu tun bekommt: mit ökonomischen Subjekten als Resultaten des Durchlaufens eines über die Gesellschaft verteilten kollektiven Trainingsparcours, der sich mit den Mitteln des Börsenfernsehens, des Internets und der Selbsthilfeliteratur in die Wohn- und Schlafräume verlängert hat (Martin 2002: 121; Preda 2009b). Der soziologische Ehrgeiz eines an Foucault orientierten Forschungsprogramms muss letztendlich darin liegen, die Produktion dieser Subjekte ebenso wie des gesellschaftlichen Parcours, den sie durchlaufen, in den Blick zu bekommen (Clegg 1998: 35ff.), und darin trifft es sich mit der hier vertretenen Perspektive eines mikrosoziologisch fundierten Verständnisses entsprechender Produktionsverhältnisse in konkreten sozialen Situationen. Will man das Verständnis von Finanzialisierung nicht einfach aus der vorgängigen Existenz finanzialisierter Einzelsubjekte ableiten, ist es notwendig, nach der Konstitution finanzialisierender Verhaltensordnungen zu fragen, die diese Subjekte hervorbringen und von Situation zu Situation auf Kurs halten, am Ende also nach der konkreten Ordnung finanzialisierter und Teilnehmer, Haushalte, Organisationen, Strukturen, Prozesse und Kontexte finanzialisierender sozialer Situationen. Die Literatur interessiert sich für die Finanzialisierung von Organisationen, Haushalten und Subjekten, aber über die Finanzialisierung konkreter sozialer Situationen schweigt sie sich weitgehend aus. Einen möglichen Zugang zur Ordnung finanzialisierter Situationen bietet, wie oben bereits angedeutet, die Rahmenanalyse Erving Goffmans und dessen Begriff des »keying« (Goffman 1974: 43ff.). Mit dieser MusikMetapher spricht Goffman eine bestimmte Stimmung oder Modulation an, die eine Verhaltensordnung dadurch gewinnt, dass sich Teilnehmer Schlüsselsignale senden, die wie Notenschlüssel fungieren, die für eine gewisse Dauer dem weiteren Verlauf der Situation eine Tonart vorgeben (Goffman 1974: 45). Hinsichtlich der Finanzialisierung sozialer Situationen mag der Verweis auf den »Shareholder Value« ein solches Schlüsselsignal sein. Eine erste Signatur finanzialisierter sozialer Situationen liegt aus dieser Perspektive dann vor, wenn genau diese Art der Einstimmung des Verhaltens auf finanzielle Rechenbarkeit auch tatsächlich erfolgt. Diese erste Mikrosignatur der Finanzialisierung beschreibt das Ausmaß, in dem Situationsteilnehmer Finanzzahlen zur Verhaltenskoordination einsetzen, insofern sie mit Finanzzahlen rechnen oder Aktivitäten an ihrer finanziellen Rechenbarkeit als besonderer ›Tonlage‹ der Verhaltenskoordination ausrichten.
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Goffman hat diesen Aspekt des »keying« in seiner Rahmenanalyse nur sehr unsystematisch verfolgt. Seine Beispiele für ein besonderes »keying« von Aktivitäten sind zum einen Spiele und Formen von »playfulness« sowie zum anderen Aufführungen im Sinne von »theatrical performances«. Diese Beispiele genügen Goffman allerdings, um zumindest eine weitere Differenzierung einzuführen, nämlich die zwischen einem »upkeying« und einem »downkeying« von Aktivitäten (Goffman 1974: 359ff.). Aktivitäten, die auf Spiel oder Aufführung eingestimmt werden, sind Beispiele für ein »upkeying«, eine Transposition von Aktivitäten auf eine höhere Tonlage – »a shift from a given distance from literal activity to a greater distance« (Goffman 1974: 365). Wenn aus Ernst Spiel wird oder wenn Aktivitäten im Modus des »make believe« aufgeführt werden, dann gewinnt die Rahmung der Situation in Goffmans Verständnis eine zusätzliche Schicht. Diese Schicht lässt die vorherige Rahmung nicht verschwinden (so wie sich eben auch die Teilnehmer eines Spiels durchaus weiterhin ernsthaft verletzen können), aber sie überdeckt diese doch insoweit, wie die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf einen abstrakteren Aspekt der Aktivität refokussiert wird (Collins 1988: 293ff.). Eine solche Schichtung von Rahmungsebenen ist auch für solche Situationen charakteristisch, in deren Verlauf Situationsteilnehmer mit der Mobilisierung von Zahlen und arithmetischer Symbole in Rechenprozesse einsteigen (Vollmer 2007): Einerseits findet jedes Rechnen in konkreten Einzelsituationen statt, bspw. des Bezahlens an einem Marktstand (untere Rahmungsschicht), andererseits refokussiert es die Teilnehmer im Abzählen und Ausrechnen (z.B. des Wechselgeldes) auf eine Ordnung arithmetischer Aktivitäten (höhere Rahmungsschicht), deren regulärer Charakter gerade nicht einfach nur ein Resultat der lokalen Situationen ist, sondern universalen Regeln zu gehorchen hat (Heintz 2010: 171ff.). Die Aktivität des Rechnens erfordert von den Teilnehmern ebenso wie das Spielen oder das Verfolgen einer Theateraufführung ein »upkeying«, eine Einstimmung von Aufmerksamkeiten und Aktivitäten auf eine in gewisser Weise abgehobene Rahmungsebene. Ein solcher Abstraktionsschritt kann auch mit der Orientierung wirtschaftlichen Handelns am »Shareholder Value« in Verbindung gebracht werden: Entscheidungssituationen werden finanzialisiert, indem Teilnehmer die Alternativen anhand ihrer finanziellen Implikationen für Bilanzen, Bilanzbewertungen und Kursentwicklungen bewerten. »Upkeying« wird vollzogen, wenn Konsum-, Wohnungs-, Bewer-
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bungs-, Anstellungs-, Versicherungs- oder Bildungsentscheidungen im Kontext eines individuellen oder familiären Verschuldungs- und Investitionsportfolios evaluiert werden. Natürlich kann in all diesen Fällen auch ein »downkeying« erfolgen, etwa wenn eine Wohnungsbesichtigung andere Aspekte als die finanziellen in den Vordergrund rückt, Bildungsentscheidungen mit einem inhaltlichen Interesse an bestimmten Studienfächern verknüpft werden oder Unternehmensleitungen Beschäftigungsentscheidungen unter Aspekten der Produktionssicherheit überdenken. Charakteristisch für den Prozess der Finanzialisierung ist nun allerdings gerade die Beobachtung, dass ein solches »downkeying« in der Regel ausbleibt. Dann überdeckt eine Hyperrealität der Aktienwerte und Bilanzierungszahlen dauerhaft den Prozess des Organisierens und Wirtschaftens, ohne dass man noch so genau wüsste, wie man auf eine darunterliegende Rahmungsschicht gelangen könnte (Froud et al. 2000: 102). Wenn der primäre Realitätsbezug der Situationsteilnehmer über die hochgestimmte Wahrnehmung von finanziellen Implikationen erfolgt, mag man mit Recht davon sprechen, dass eine finanzielle Hyperrealität andere Realitätsbezüge dauerhaft überdeckt (Macintosh et al. 2000): Der Wert des Unternehmens ist sein Aktienwert, die Wohnung ist ein Anlageobjekt, die Ausbildung ist eine Investition. Eine zweite Signatur finanzialisierter sozialer Situationen wird damit in der Neigung von Situationsteilnehmern erkennbar, in der abstrahierenden Rahmung von Aktivitäten und Ereignissen in Richtung ihrer finanziellen Implikationen die eigentliche Wirklichkeit eines Geschehens ansprechen zu wollen. Diese zweite Mikrosignatur der Finanzialisierung beschreibt das Ausmaß, in dem eine finanzielle Rahmungsschicht als selbstverständliche und unhintergehbare Wirklichkeitsgrundlage auftritt. 4. Finanzialisierung und die Selbstähnlichkeit sozialer Prozesse und Strukturen Identifiziert man Finanzialisierung auf der Grundlage dieser beiden Mikrosignaturen und nicht alleine auf der Grundlage der Signatur der »Shareholder Value«-Orientierung, werden Finanzialisierungsprozesse in ganz unterschiedlichen Formen jenseits börsennotierter Wirtschaftsunternehmen sichtbar, nicht nur in Privathaushalten, sondern vor allem auch in den nicht profitorientierten Organisationen des öffentlichen Sektors.
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»Value for money« ist ein Konzept, das als Zielhorizont des Organisierens nach Finanzzahlen im öffentlichen Sektor in gewisser Weise die Stelle einnimmt, an der bei börsennotierten Unternehmen die »Shareholer Value«-Orientierung platziert wird. »Effizienzorientierung« und »Ergebnissteuerung« bezeichnen verwandte Reformrezepte (Mayntz 1997: 65ff.; Picot/Wolff 1994; Kurunmäki 2004: 330f.). Öffentliche Verwaltungen und Organisationen des sozialen Sektors sollen ihre Dienstleistungen nicht alleine nach Maßgabe eines gesellschaftlichen, politisch oder rechtlich vorgegebenen Bedarfs oder Anspruchs organisieren. Stattdessen sollen sie sich selbst und die Einrichtungen, die sie mit Dienstleistungen beauftragen, danach beurteilen, wo öffentliche Gelder am wirksamsten investiert werden (Llewellyn 1998; Naschold 1995: 93ff.). Die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wird so als eine Investition öffentlicher Gelder rekonstituiert, für deren möglichst effiziente Verwendung die jeweiligen Dienstleistungsanbieter auf dem Markt öffentlicher und sozialer Dienste Sorge zu tragen haben. Dort, wo diese Zumutung ernst genommen wird, setzt sie eine Maschinerie des Errechnens und Nachweisens effizienter Mittelverwendung im Rahmen der fortgesetzten Pflege eines Dienstleitungsportfolios und der Evaluation entsprechender Investitionen in Gang (Froud 2003; Skærbæk 2009). Was für börsennotierte Unternehmen die Interessen ihrer Anteilseigner sind, sollen für öffentliche Einrichtungen die Interessen der Steuerzahler sein, und hier wie dort geht es um das Erreichen des größtmöglichen Ertrags aus jedem eingesetzten Euro, bspw. bei der Vergabe von Aufträgen für soziale Dienstleistungen, um die dann – der Idee nach – öffentliche und private, nicht profitorientierte und profitorientierte Organisationen konkurrieren können (Llewellyn 1998: 36f.; Wegener 1998; Kurunmäki 2004: 333). Die Weitergabe von Steuergeldern orientiert sich so am Prinzip einer Investition in die effizientesten Leistungsträger, ob im Bereich sozialer Hilfe (Llewellyn 1998: 36ff.; Kulbach/Wohlfahrt 1996: 67ff.), im Strafvollzug (Humphrey 1994) oder in der Wissenschaft (Power 1996: 296ff.). Dort wo die entsprechenden Leistungen nicht bereits, etwa aufgrund von Angeboten, Preisen oder Kosten, einen positiven oder negativen Zählwert haben, wird er ihnen im Rahmen von Evaluationen verliehen (Radcliffe 1999; Gendron et al. 2007). Ähnlich wie die »Shareholder Value«-Orientierung gibt »Value for Money« (ebenso wie verwandte Konzepte im Rahmen des sogenannten New Public Management) eine Art Klammer vor, in der die
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von solchen Ansprüchen betroffenen Organisationsmitglieder ihre eigenen Lösungen einsetzen müssen. In beiden Fällen wird ein Rahmenkonzept für die Übernahme und Abwicklung von Verantwortlichkeiten vorgegeben (Ezzamel et al. 2008: 122f.; Llewellyn 1998: 32f.; Kurunmäki 2004: 330ff.). In Organisationen des öffentlichen und Nonprofit-Sektors sind in diesem Zusammenhang nicht selten vorangehende Investitionen in die Bereitstellung anspruchskonformer Zahlenwerke fällig, weil häufig elementare Informationen über Leistungen und Kosten fehlen. Die Kostenrechnung ist in diesem Sinne Grundvoraussetzung und Einfallstor für Finanzialisierungsprozesse im öffentlichen und Nonprofit-Sektor (Budäus 1994: 61ff.). Die Produktion und Vergabe von Dienstleistungsaufträgen nach den Prämissen finanzieller Rechenbarkeit kennzeichnet die im letzten Abschnitt zuerst genannten Mikrosignaturen der Finanzialisierung im öffentlichen Sektor. Die zweite Mikrosignatur findet man dort, wo man sich schon gar nichts anderes mehr vorstellen kann und die Sorge um das Geld der Steuerzahler als alternativlose Prämisse öffentlichen Handelns erscheint.2 Aus der graduellen Finanzialisierung von Entscheidungsprozessen erwachsen damit Ähnlichkeiten in der Führung ganz unterschiedlicher Organisationen, die darin ihren Ausdruck finden, dass leitende Ebenen hier wie dort die Rolle einer Bank übernehmen, die in Aktivitäten, Organisationen und Organisationssegmente investiert, mit denen sich das eingesetzte Kapital ›gut rechnen‹ lässt. Die strukturellen Korrelate der Finanzialisierung organisierten Handelns sind hier wie dort durchaus auch materieller Natur, bspw. weil die Erfüllung der Finanzialisierungsansprüche die Einrichtung skopischer Systeme verlangt (Knorr Cetina/Grimpe 2008), die es den Entscheidungsträgern ermöglichen, ihre Rechenaufgaben auch in der Form zu erledigen, wie es die Kapitalverantwortung von ihnen verlangt: möglichst aktuell, risikosensitiv und rastlos (Grimpe 2010: 149ff.). Die skopischen Systeme organisierten Rechnens, deren zunehmende Verbeitung sich im globalen Siegeszug von Managementinformationssystemen wie Oracle und SAP beobachten lässt (Pollock/Williams 2009), bieten eine Art elektronischer Requisite für die Finanzialisierung sozialer Situationen durch die fortlaufende Bereitstellung von Kennzahlen, Tabellen, Leistungs- und
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Eine Letztprämisse, an deren Artikulation eine Reihe privater Interessenverbände von der Bertelsmann-Stiftung über den Bund der Steuerzahler bis hin zur »Initiative Soziale Marktwirtschaft« stark beteiligt sind.
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Kostenkurven. Die Finanzialisierung von Situationen des Organisierens mag sich dann auch an einem Wandel der Requisite und der physischen Korrelate organisationsinterner Kommunikation (Yates 1989) ablesen lassen, z.B. an der Sättigung von Tabellen und Checklisten mit Finanzdaten (erste Mikrosignatur) und daran, dass die entsprechend gesättigten Artefakte mehr und mehr zu den eigentlichen Gegenständen des Organisierens werden (zweite Mikrosignatur). Physische Korrelate der Finanzialisierung sozialer Situationen sind allerdings auch, wie oben bereits erwähnt, die entsprechend auf die Anforderungen des Finanzrechnens trainierten Körper, Augen und Gehirne der Situationsteilnehmer. Die Accounting-Forschung hat gut herausgearbeitet, wo die historischen Wurzeln der entsprechenden kollektiven Erziehungsarchitekturen liegen, nämlich in den Klöstern des Spätmittelalters und den pädagogischen Transformationen des Schriftgebrauchs in Richtung des modernen »alphanumerischen Schreibens« (Hoskin/Macve 1986: 109ff.). Die Selbstähnlichkeit sozialer Prozesse, die von der kollektiven Pädagogik des Geldrechnens abgestützt werden (Schmidt 2007), führen gleichwohl nicht zu einheitlich finanzialisierten individuellen Identitäten. Das finanzielle Selbst bleibt widersprüchlich und gefangen in Gegensätzen zwischen Sparen und Investieren, sicherer oder riskanter Rendite, Festhalten oder Verkaufen, in denen es seine eigene Identität erst finden muss. Die Übernahme von Finanzrechnungsaufgaben ist mit der Notwendigkeit verbunden, diese Spielräume auszufüllen. Genau das trifft jedoch – aller disziplinären Pädagogik zum Trotz – durchaus auf Widerstände, ob bei Managern und Arbeitern (Ezzamel et al. 2008: 130ff.), Sozialarbeitern (Llewellyn 1998: 31ff.), »High School«-Schülern (Bay 2011) oder Bankern (Kalthoff 2011: 15ff.). Über einzelne durch Finanzialisierung betroffene Organisationsfelder hinweg kommt es zu einer spezifischen Hybridisierung von Wissen und Kompetenzen, die Organisationsmitglieder über unterschiedliche Berufsgruppen und Organisationen hinweg in gradueller Weise zu Finanzexperten macht (Kurunmäki 2004; Quattrone/Hopper 2005: 757, 761), von Ingenieuren zu Sozialarbeitern, Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen. Die Ärztin, die das System der Fallkostenpauschalen für sich zu nutzen weiß, ebenso wie der Ingenieur, der die Kosten des Designs im Auge behalten muss und die Wissenschaftlerin, die sich um ihr Drittmittelaufkommen zu sorgen hat, verteidigen ihren Arbeitsbereich gegen die Invasion »berufsfremder« Kriterien gerade
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dadurch, dass sie selbst die Kontrolle über die finanziellen Implikationen ihrer Tätigkeiten behalten und weitere Interventionen verhindern (Llewellyn 1998: 42). Das Resultat sind hybride Kompetenzen, Berufsbilder und Arbeitsbereiche und verschiedene Formen von »blended value accounting« (Nicholls 2009: 764f.), bei denen die unterschiedlichsten Anforderungen mit einer Finanzkompetenz beschichtet werden, so als wäre die für Finanzialisierungsprozesse typische Schichtung von Aktivitäten und Aufmerksamkeiten in finanziell laminierte Berufsbilder übersetzt worden (Kurunmäki 2004: 341f.). Dabei scheint auch hier die höhere – finanzielle – Schicht der Rahmung an vielen Orten Priorität zu gewinnen, womit sich die zweite Mikrosignatur der Finanzialisierung in einer graduellen Priorisierung finanzieller Aspekte professioneller und beruflicher Tätigkeiten auszudrücken scheint – auch dort, wo es weh tut (Samuel et al. 2005: 261f.). Die Brüche im »financial self«, auf die Autoren wie Martin (2002: 101) oder Langley (2007) verweisen, machen deshalb nicht unbedingt auf eine mangelnde Perfektion von Finanzialisierungsprozessen aufmerksam, sondern womöglich eher auf eine besondere Produktivität der Ausrichtung von Aktivitäten, organisationaler, professioneller oder biografischer Entscheidungen an finanziellen Rechenbarkeiten: als Versprechungen, die gerade wegen ihrer Unvollständigkeit Fahrt aufnehmen. Aus dieser Unbestimmtheit der Finanzialisierung als Handlungsorientierung ergeben sich Möglichkeiten der Eskalation von Finanzialisierungsansprüchen, die gerade aus dem Scheitern einzelner Versuche und Ergebnisse des Finanzrechnens an finanziellen oder professionellen Realitäten Motivation ziehen, es beim nächsten Mal besser zu machen (Ezzamel et al. 2008: 138), und d.h. dann in der Regel: mehr Zahlen zu mobilisieren, um besser rechnen, prognostizieren und bewerten zu können (Vollmer 2004: 458ff.). In Abwandlung von Richard Hilberts ethnomethodologischer Rekonstruktion der Weberschen Rationalisierungsdiagnose – »bureaucracy as belief, rationalization as repair« (Hilbert 1987) – könnte man in solchen Fällen von »finance as belief« und »financialization as repair« sprechen. Die Kombination der Verhaltensdynamiken, die von den beiden Mikrosignaturen der Finanzialisierung ausgedrückt werden – Verhaltenskoordination nach Rechenbarkeit und Rechnung zum einen, finanzielle Rechenbarkeit als Letztwirklichkeit aller Bewertungen zum anderen – führen dann dazu, dass gerade das Scheitern von Finanzialisierung in erster Linie durch weitere Finanzialisierung zu reparieren bleibt.
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Dass Finanzkrisen historische Episoden sind, in denen Prozesse der Finanzialisierung eine ganz besondere Breitenwirkung gewinnen, ist eine viel beachtete Tatsache. Die Verhaltensprämissen gleichförmiger Reaktionen über Situationen, Gruppen, Organisationen, Volkswirtschaften, Staaten und Wirtschaftsräume hinweg sind ebenso eingängig wie eintönig: Wenn sich die Finanzen nicht mehr rechnen, muss mehr mit Finanzen gerechnet werden. Wie sich diese robusten Verhaltenstendenzen allerdings zu den komplexen und selbstähnlichen oder fraktalen (Abbott 2001: 7ff.) Strukturen entfalten, die ein finanzialisiertes Kollektiv auszeichnen, ist gleichwohl bislang eine weitgehend unbearbeitete Erklärungsaufgabe geblieben – trotz aller soziologischen Aufmerksamkeit für die Finanzmärkte und den »stock market capitalism«, die neoliberale Gouvernementalität und ihre vielschichtigen Ökonomisierungsprojekte. 5. Erklärungsaufgaben einer Mikrosoziologie der Finanzialisierung Die Finanzsoziologie und neuere Wirtschaftssoziologie mit ihrem Interesse an performativen ökonomischen Modellen und Verhaltenarchitekturen (MacKenzie et al. 2007), vor allem aber die mikrosoziologischen Forschungsinteressen, in besonderer Weise kongeniale Accounting-Forschung (Chapman et al. 2009), bietet beträchtliche empirische und analytische Ressourcen für ein systematisches Verständnis der Finanzialisierung von Situationen, Organisationen, Teilnehmern, Staaten und Märkten (Vollmer et al. 2009). Legt man die oben skizzierten Mikrosignaturen der Finanzialisierung einer solchen Untersuchung zugrunde, wird die Aufmerksamkeit von Meso- und Makroprozessen des Wandels von Wirtschaftssystemen, Organisationsfeldern und Organisationen auf Mikrodynamiken sozialer Situationen umgeleitet: auf das finanzrechnerische »upkeying« von Aktivitäten und die Einstimmung von Situationen auf finanzielle Implikationen als Wirklichkeitsfundamente der Koordination von Aktivitäten unter Situationsteilnehmern. Die elementarste Aufgabe einer Mikrosoziologie der Finanzialisierung sollte es sein, solche Finanzialisierungsdynamiken im Rahmen der Koordination kollektiver Aktivitäten in einzelnen Situationen und über einzelne Situationen hinweg zu rekonstruieren. Das dabei zu verfolgende Verständnis von Finanzialisierung muss breiter ausfallen, als dass es mit der gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung von Finanzmärkten bereits einen angemessenen Indikator
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gefunden haben könnte. Die Finanzialisierung von Finanzmärkten wird damit selbst ein mögliches Forschungsthema, sind doch auch die Aktivitäten von Marktteilnehmern nur in gradueller Form an Finanzzahlen orientiert (Preda 2009a: 151ff.). Das Wachstum der Finanzmärkte verbindet sich mit Finanzialisierungprozessen, die durchaus Ähnlichkeiten aufweisen zur Finanzialisierung von Aktivitäten in anderen Bereichen, wenn man etwa auf den Streit von Professionen über die Deutungshoheit bei Regulierungsproblemen schaut (Martens/ McEnroe 1991), die Allgegenwart skopischer Systeme oder, näher an Prozessen der Vermarktlichung und Verpreisung, auf die Abschaffung der festen Maklergebühren auf Finanzmärkten auf der einen (Lazonick/O’Sullivan 2000: 16) und die Demobilisierung von »fixed price contracting« in öffentlichen Organisationen auf der anderen Seite (Llewellyn 1998). Die Finanzmärkte und ihre gesellschaftliche Bedeutung erscheinen damit eben nicht als Ausgangspunkt aller Finanzialisierung. Sie sind einerseits eine Arena der Finanzialisierung unter anderen, andererseits gehören sie zweifellos zu denjenigen Institutionen, die in besonderer Weise – wie etwa auch Banken und Wirtschaftsberatungsfirmen – von Prozessen der Finanzialisierung profitieren und diese in verschiedenen Formen institutionell unterstützen. Die Finanzmärkte tun dies vor allem insofern, wie sie mit den Bewertungen, die sie vornehmen, Referenzpunkte für Prozesse der »Soziokalkulation« (Vormbusch 2012) bieten und sich in gewisser Weise für deren grundsätzliche Ausrichtung, ihre Finalisierung anbieten.3 Der Aufstieg der Finanzmärkte bringt nicht erst und schon gar nicht alleine die Finanzialisierung weiter Bereiche kollektiven Handelns und die damit verbundenen Praktiken des Rechnens, Gegenrechnens und Neurechnens hervor, aber er gibt diesen Prozessen eine Richtung (Preda 2009a: 7f.). Die gesellschaftliche Zentralität der Finanzmärkte erwächst aus einem Netzwerk finanzialisierter Situationen, Organisationen und Institutionen lange vor dem Aufstieg der »Shareholder Value«-Semantik in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts (Preda 2009a). Die Finanzmärkte gewinnen an Orientierungswert in einer Ökologie kollektiver Rechenaktivitäten, die in praktischen wie diskursiven Hinsichten
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Der Begriff der Finalisierung war in den 1970er Jahren in der Wissenschaftssoziologie außerordentlich prominent (Böhme et al. 1973). Er beschreibt die Ausrichtung kollektiver Aktivitäten an einem bestimmten Zielhorizont.
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– von den Kompetenzen alphanumerischen Schreibens über den allgegenwärtigen Gebrauch der Semantiken von Risiko und Investition bis hin zur Hybridisierung von Professionen und der Anreicherung verschiedenster Berufsbilder mit Finanzrechnungskompetenzen – einer Ausrichtung an Finanzmarktgrößen bereits zugänglich sind. Vor dem Hintergrund gradueller Verschiebungen in Organisationsfeldern – vom Produktionsregime des Fordismus’ zum Finanzmarktregime der Jahrtausendwende, vom Wohlfahrtsstaat zum Neoliberalismus – erscheinen diese Mikrogrundlagen der Finanzialisierung im Zahlengebrauch relativ robust. Was sich vor allem zu ändern scheint, ist ihre Ausbreitung und Reproduktion über unterschiedliche Situationen, Organisationsfelder und Lebensbereiche hinweg. Im Rahmen einer Mikrosoziologie der Finanzialisierung sollte die Robustheit dieser Grundlagen dann auch dahingehend eingehender beschrieben werden, wie aus einzelnen sozialen Situationen transferierbare Koordinationsmechanismen erwachsen und gesellschaftlich mobil werden. Ein Kennzeichen dieser Robustheit und Mobilität ist es, dass es wenig Verwunderung hervorruft, wenn auf prekäre Finanzlagen immer wieder und vergleichsweise unabhängig vom jeweiligen Kontext Anstrengungen weiterer Finanzialisierung folgen. Es handelt sich um vertraute und kollektiv vielfach eingeübte Formen der Abwicklung von Koordinationsengpässen. In Abwandlung von Foucaults (1977: 292) berühmter Formulierung könnte man also fragen, was daran verwunderlich ist, wenn Staaten Aktiengesellschaften, Banken, Forschungseinrichtungen und Produktionsstätten ähneln, die allesamt Aktiengesellschaften ähneln. Eine Mikrosoziologie der Finanzialisierung sollte spezifizieren können, wie eine solche »natürliche Verlängerung« (Foucault 1977) zustande kommt, warum sie, von Portfolio zu Portfolio, so natürlich erscheint und wo ihre Grenzen liegen.
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Refeudalisierung der Ökonomie Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft S IGHARD N ECKEL
1. Einleitung Als im Frühjahr 2009 die Finanzkrise einen ersten Höhepunkt erreichte, warf Ralf Dahrendorf, der letztjährig verstorbene Doyen einer liberalen Sozialwissenschaft, in einem Aufsatz für den Merkur die Frage auf, ob die Wirtschaft angesichts des Debakels des Finanzmarktkapitalismus nicht zur protestantischen Ethik zurückkehren müsse (Dahrendorf 2009).1 Als innere Ursache der Implosion der Finanzmärkte machte Dahrendorf einen Einbruch der ökonomischen Mentalitäten aus, wodurch das moderne Wirtschaftssystem seine eigenen sozialen Voraussetzungen gefährde. Der Schritt von der Wertschöpfung zum Derivathandel, von der Realwirtschaft zur virtuellen Ökonomie erlaubte den Genuss vor dem Bezahlen (»enjoy now, pay later!«), die Verschuldung vor dem Konsum. Der »Pumpkapitalismus« als verhaltensprägende Wirtschaftskultur hätte dadurch – so Dahrendorf – zur Untergrabung der ehernen Regel vom Bedürfnisaufschub geführt. Die Anreizsysteme von Benchmarking und Bonuszahlungen prämierten 1
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den ich zunächst auf der Konferenz »Rückkehr der Gesellschaftstheorie. Kritische Sozialforschung im Widerstreit« am 5. Dezember 2009 in Frankfurt a.M. und in einer erweiterten Fassung am 8. Juli 2010 am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln gehalten habe. In der vorliegenden Form wurde der Beitrag zuerst veröffentlicht in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 8. Jg. (2011), Heft 1, S. 117-128.
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eine Kultur der wirtschaftlichen Kurzfristigkeit, vor der am Ende – so lässt sich mit Norbert Elias (1979: 336ff.) ergänzen – der zivilisatorische »Zwang zur Langsicht« kapitulierte. Tatsächlich hatte der Finanzmarktkapitalismus, der im Herbst 2008 vorläufig zusammenbrach, sein soziales Pendant in gesellschaftlichen Milieus, die in den langen Nachkriegsjahrzehnten des friedlichen Aufschwungs nicht nur wohlhabender, sondern auch ambitionierter wurden. Nach Jahrzehnten, in denen der Anteil der oberen Schichten an der gesamten Vermögensverteilung in den wichtigsten westlichen Ländern konstant bei 30 bis 40 Prozent lag, nahm mit der gewaltigen Vermehrung des privaten Finanzvermögens auch dessen Konzentration in der Beletage der sozialen Rangordnung zu (Altzinger/Schlager 2009). Seit der Jahrtausendwende wuchs in den USA der Anteil des obersten Zehntels am gesamten Geldvermögen auf 70 Prozent, in Deutschland auf 47 Prozent. Hält man sich vor Augen, dass das Volumen der Finanzvermögen weltweit auf die historisch beispiellose Summe von 41 Billionen US-Dollar anstieg (Deutschmann 2008: 502ff.), erkennt man, welche Geldmengen hier danach riefen, angelegt und kapitalisiert zu werden. Wie kommunizierende Röhren nahm sich dazu ein Finanzsystem aus, das seinerseits von einer Steigerungslogik des Gewinns angetrieben war (Neckel 2011). Nur das galt noch als finanzieller Erfolg, was kurzfristig ein Mehrfaches an Rendite und in der näheren Zukunft ein schier grenzenloses Wachstum von Erträgen versprach. 25 Prozent »return on equity« – solche gigantischen Verwertungsraten kamen jedoch nur dadurch zustande, dass das Finanzsystem schließlich einer Wettbörse glich, an der Hypotheken mit schlechter Bonität als hübsch verpackte Wertpapiere verkauft worden sind, Sekundärmärkte mit zweifelhaften Anleihen überschwemmt wurden, Fremdwährungskredite die Devisenspekulation anheizten und ein Derivatehandel erblühte, der die Eigenschaften von Pyramidenspielen annahm. Da nur noch das Ziel der Gewinnsteigerung, aber nicht mehr die Mittel zählten, mit denen es erreicht werden sollte, zeigte sich das Finanzsystem offen für alle Erscheinungsformen wirtschaftlicher Devianz. Von politischer Kontrolle weitgehend befreit und beglaubigt durch das Mantra von Rating-Agenturen, war es nicht individuelles Fehlverhalten, sondern ein Systemeffekt, dass sich die Wirtschaftskultur des schnellen Geldes paarte mit Falschmünzerei. Investmentbanker, die der Bonuszahlungen wegen ihren Kunden vermeintlich gewinnstarke und risikoarme Papie-
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re angedient haben, wurden zur Personifikation eines Verteilungssystems von Vorteilen, bei denen sich die Begehrlichkeiten von Anlegern und Bankern gegenseitig in die Hand gespielt haben. Fast schien es so, als wollte die Bankenwelt der Händler, Berater und Analysten ein Verdikt von Karl Marx glaubhaft machen, der den Aufstieg einer Klasse von Börsenspekulanten in der französischen Juli-Monarchie mit den Worten gebrandmarkt hatte, dass »die Finanzaristokratie, in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen, nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft« sei (Marx 1981 [1850]: 130). Der ideologische Kitt, der alle Beteiligten des großen Gewinnspiels mental miteinander verband, war eine Kultur des Erfolgs, welche die soziale Durchsetzung von Gewinnern um bald jeden Preis betrieb (Neckel 2008a). Erfolg mutierte zu einer reinen Wettbewerbskategorie, bei der es auch in ökonomischer Hinsicht nicht auf Wertverwirklichung ankam, wenn nur die Bilanzen im persönlichen Geltungskampf fortwährend nach oben getrieben werden konnten. Maßstäbe hierfür waren allein die nackte Summe des Geldes, der Statuswert des eigenen demonstrativen Konsums und die prestigeträchtige Stellung an der Spitze der globalen VIP-Lounge-Kategorie. Die Sucht nach Erfolg, vermessen in reinen Geld- und Statusbegriffen, wurde zum mentalen Pendant des Finanzmarktkapitalismus, zur Subjektivierung einer Wettbewerbsgesellschaft, in der sich das Ranking auf vorderen Plätzen zu einer Art Privatreligion aufrichten konnte. Durch den Bankencrash ist daher viel mehr erschüttert worden als nur das Finanzsystem, zeigte sich doch, wie wirksam sich die Maximen des raschen finanziellen Erfolgs im Habitus des modernen Bürgertums bereits verankern konnten. Ralf Dahrendorf beurteilte in dem besagten Aufsatz die Aussichten auf eine Rückkehr zur protestantischen Ethik daher auch eher pessimistisch. Denn mehr noch, als dass der Konsumkapitalismus dauerhaft die Vorstellung entkräftet hat, dass allein im Jenseits Entlohnung für Anstrengung und Verzicht zu erhalten sei, stellt sich in soziologischer Hinsicht die Frage, wer heute eigentlich die Rolle jener sozialen Schichten einnehmen soll, die einst die Maximen des bürgerlichen »Sparkapitalismus« (Dahrendorf) getragen haben. Die historische Verbindung von Kapitalismus und Bürgerlichkeit gelangt im 21. Jahrhundert offenbar an ein Ende. Längst hat sich im Wirtschaftsleben ein Neofeudalismus der Begüterten ausgebreitet, der in seinem Hang zur Verschwendung ganz und gar un-
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bürgerlich ist. Mit dem Absterben des Familienkapitalismus scheint auch eine bestimmte Sittlichkeit verloren gegangen zu sein, deren Ideal Max Weber in seiner These vom protestantischen Geist des Kapitalismus einst bündig formuliert hatte. Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, eine erste gesellschaftstheoretische Zwischenbilanz zur Krise des Finanzmarktkapitalismus (und seiner Auferstehung) vorzutragen. Hierbei werde ich mit der analytischen Figur einer »Refeudalisierung« der kapitalistischen Wirtschaft operieren, die ich mir aus einer frühen Studie von Jürgen Habermas über den Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990 [1962]) entleihe. Refeudalisierungsprozesse erkenne ich in drei Dimensionen, auf die ich nacheinander eingehen möchte: zunächst, in einer normativen Hinsicht, also in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung des Finanzmarktkapitalismus. Anschließend in Hinsicht auf die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und den Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen. Schließlich bezüglich der Sozialstruktur und einer Verwandlung sozialer Ungleichheit, die deutliche Anzeichen von Feudalisierung aufweist. 2. Refeudalisierung der Werte. Von Leistung zu Erfolg Was nun als erstes die normative Refeudalisierung im Finanzmarktkapitalismus betrifft, so ist das Schicksal des Leistungsbegriffes dafür das schlagendste Beispiel. Aller anderslautenden Rhetorik zum Trotz ist das Leistungsprinzip bei den Führungskräften der Wirtschaft in Wirklichkeit nicht mehr gut gelitten. Wer sich bisweilen auf Seminaren und Tagungen wirtschaftsnaher Verbände aufhält, kann dort erleben, dass Begriffe wie »Leistungsgerechtigkeit« ausdrücklich abgelehnt werden. Wer »Leistung« sagt, so heißt es, wolle nur Forderungen stellen. Stattdessen gelten »Selbstverantwortung« und »Eigeninitiative« als Leitbilder der Gegenwart. Für Spitzenverdiener haben diese Leitbilder den Vorteil, weder zum Vergleich einzuladen noch dem finanziellen Markterfolg irgendeine Grenze zu setzen. Heute sehen die oberen Führungskräfte denn auch weitgehend davon ab, ihre Bezüge noch mit den Einkommen ihrer Mitarbeiter zu vergleichen. Sie scheuen sich aber nicht, sich selbst als hoch bezahlte Superstars zu verstehen, denen die Celebrities der Popkultur als bevorzugte Bezugsgruppe der eigenen Einkünfte dienen. Für den Superstar gilt, dass allein der Markt seinen Preis bestimmt. Ist die Nachfrage hoch und stellt sich dem Publikum der Star als einzigartig dar, ist dem Preis prinzipiell
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keine Grenze gesetzt. Und so hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ, 20.11.2009, S.18) der Deutsche Bankchef Josef Ackermann noch einmal die heute herrschende Sichtweise im Management artikuliert: »Gehälter und Boni«, so Ackermann, »sind Preise. Sie werden in einer Marktwirtschaft zunächst einmal von Angebot und Nachfrage bestimmt«. Und Preise seien, so Ackermann weiter, das Ergebnis von Knappheit, nicht von Gerechtigkeit. Je knapper das Angebot an Personen mit den nachgefragten Eigenschaften, desto höher infolgedessen ihr Preis. Zweierlei ist auffällig daran: Zum einen darf das Knappheitsargument auch der vorherrschenden ökonomischen Lehre nach getrost angezweifelt werden. Amerikanische Business Schools und deutsche Managementschulen werfen jedes Jahr mehr MBA-Absolventen auf den Markt, ohne dass hierdurch die Gehälter im Management fallen würden. Nicht Knappheit bestimmt also offensichtlich die Preise im Management. Viel eher sind es günstige Gelegenheitsstrukturen, die es dem Management erlauben, die Preise für sich selbst nach oben zu treiben. Zum anderen wird offenbar, dass bei der Begründung für hohe Gehälter auf den Begriff »Leistung« mittlerweile vollständig verzichtet wird, der noch nicht einmal zu Legitimationszwecken ins Feld geführt wird. Dies verdeutlicht, dass sich die Organisationsprinzipien des heutigen Marktkapitalismus von ihren einstigen normativen Grundlagen vollständig entbunden haben, zu denen vor allem anderen im bürgerlichen Wertehorizont das Leistungsprinzip zählt. Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft bedingen einander nicht mehr – Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft sind Gegensätze geworden. Die Winner-Take-All-Märkte (Frank/Cook 1995), die stattdessen die Erwerbsinteressen der Managementelite regieren und bei denen die Ersten im Wettbewerb erheblich höhere Einkünfte haben als alle Schlechterplatzierten, haben ihren Ursprung daher auch im Profisport, im Kunstmarkt und in der Unterhaltungsbranche. Im Wirtschafts- und Arbeitsleben hingegen galt jedenfalls offiziell, dass Einkünfte sich durch Leistungsnormen rechtfertigen sollen. Im Unterschied zur reinen Marktlogik begründet das Leistungsprinzip ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Anstrengungen sollen belohnt werden und die Belohnungen untereinander das Maß der jeweiligen Verdienste repräsentieren. Ob dies jemals Realität gewesen ist, ist gesellschaftlich letztlich nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr, dass mit dem Leistungsbegriff eine normative Richtschnur in die Verteilung des Reichtums eingezogen
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ist, die ansonsten vollständig dem nackten Durchsetzungskampf der mächtigsten Interessen überantwortet wäre. Im allein meritokratischen Prinzip der sozialen Schichtung jedenfalls hat das Bürgertum einst sein Arbeitsethos gegen die aristokratische Maßlosigkeit des reinen Genusses behauptet. Der ökonomische Neofeudalismus hingegen, wie er sich heute bei wirtschaftlichen Führungsgruppen manifestiert, ist in seinem Hang zum profanen Kult der Verschwendung Ausdruck eines demonstrativen Luxuskonsums, weshalb er sich auch mit der Bewunderung berührt, die bei plebejischen Schichten für die ostentative Darstellung von Reichtum seit jeher zu finden ist. Dass sich »ganz oben« und »ganz unten« die Wertvorstellungen mitunter gleichen, ist keine Erfindung der Gegenwart. Bemerkenswert ist aber, dass jene Sozialschichten, die demgegenüber die Konventionen einer bürgerlichen Mitte repräsentieren, sich heute selber nach oben und unten verteilen. 3. Refeudalisierung der Wirtschaftsorganisation. Die Millionenfürsten Die moderne Gesellschaft, die ihrem Selbstverständnis nach keine ständischen Bevorrechtungen kennt und soziale Statusunterschiede allein durch Leistungsdifferenzen legitimiert, war nun stets schon von Phänomenen durchdrungen, die vormodernen Zeiten entstammen. Und so hat sich auch die ökonomische Refeudalisierung inmitten der vermeintlich modernsten Wirtschaftskultur vollzogen, womit ich zum zweiten Aspekt meiner Überlegungen gelange, der Refeudalisierung von Wirtschaftsorganisation. Getragen von einer wirtschaftlichen Ideologie, die unternehmerischen Erfolg allein an den Cash-Flows aus Aktienwerten bemisst, etablierte sich eine ständisch privilegierte Managerklasse, die für den Shareholder-Value die notwendigen Dienste erbringt. Wie einst von Max Weber als Merkmal der orientalischen Mogul-Herrschaft geschildert (Weber 1980 [1922]: 151), wird die neue Finanzdienstklasse mit »fiskalischen Pfründen« entgolten, die faktisch wie Renten wirken und »nach dem Ertrage geschätzt und verliehen« werden, wofür heute das Anreizsystem der Bonuszahlungen steht. Was die Herrschaft der heutigen Managerklasse von ihren patrimonialen Vorgängern unterscheidet, ist allein, dass der PfründenFeudalismus keine Aufsichtsräte kannte, in denen die Ministerialen des Börsengewinns eigene Herrengewalt ausüben dürfen und sich ihre Pfründe selbst genehmigen und untereinander verteilen.
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Im Licht des Unternehmerideals, das Joseph Schumpeter uns in seiner »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« (Schumpeter 1987 [1912]) hinterließ, nimmt sich die moderne Managerklasse daher auch einigermaßen enttäuschend aus. Schumpeter hatte dem »unternehmerischen Unternehmer« ja einst das Loblied gesungen, zwar rücksichtslos, aber bahnbrechend und für die Steigerung des Wohlstandes unersetzlich zu sein (Schumpeter 1987 [1912]: 130ff.). Auch würde die Energie der »schöpferischen Zerstörung« die moralische Erschlaffung der Gesellschaft verhindern. Konsequenterweise hatte Schumpeter den »Revolutionären der Wirtschaft« konzediert, alle sozialen Bindungen und das »System der überindividuellen Werte« bedenkenlos durchbrechen zu dürfen, um ungehindert neue Möglichkeiten in der »Kombination von Dingen und Kräften« auszuprobieren. Was die heutige Wirtschaftselite gegen das so beliebte Leitbild des Schumpeterschen Unternehmers freilich abfallen lässt, ist, dass die moderne Managementklasse sich ökonomisch ganz im Stil jener Gegenfigur des tatkräftigen Unternehmers verhält, für die Schumpeter nur Geringschätzung übrig hatte: im Stil eines »Wirtes« in eigener Sache nämlich, der ökonomischen Wandel nicht erzeugt, sondern nutzt, um finanzielle Eigeninteressen zu verfolgen. Bei allen Hymnen auf die wirtschaftliche Rücksichtslosigkeit hatte Schumpeter den unternehmerischen Manager doch als »Pionier sozialer und politischer Revolution« betrachtet, dessen Motive gerade nicht rein egoistische sind, sondern sich auf die Umorganisierung von Wirtschaft und Gesellschaft im Ganzen beziehen. »Der typische Unternehmer«, so heißt es bei Schumpeter denn auch, »fragt sich nicht, ob jede Anstrengung, der er sich unterzieht, auch einen ausreichenden Genussüberschuss verspricht. Wenig kümmert er sich um hedonistische Früchte seiner Taten« (Schumpeter 1987 [1912]: 137). Das moderne Management des Anlegerkapitalismus, gut ausgestattet mit Prämien und Aktienoptionen, agiert hingegen wie »Eigentümer ohne Risiko« (Windolf 2008), weshalb es auch keine Schranke in der Verfolgung des Eigennutzes kennt. Ohne Hindernisse können die berüchtigten moral hazards ausgenutzt werden, die der ökonomischen Theorie stets als moralischer Grenzfall des rationalen Nutzenkalküls gelten. Würden die Handlungsfolgen der Hasardeure auf den Finanzmärkten von ihren jeweiligen Unternehmen selbst zu tragen sein, wären hyperriskante Spekulationsstrategien von geringem wirtschaftlichen Interesse. Der Bankencrash aber zeigte noch einmal, dass die
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Finanzwirtschaft ihre Risiken gefahrlos externalisieren kann. Die Rechnung begleichen die Steuerbürger in Form astronomisch kostspieliger Bankenrettungspakete – nichts anderes als ein marktkonformer Staatsinterventionismus, der am Ende nicht Banken gerettet hat, sondern Aktionäre und die Kontinuität risikoloser Spitzenrenditen. Als eine paradoxe Folge der staatlichen Krisenintervention stellte sich demgemäß ein, dass mit ihr genau jene Strukturen bekräftigt, bestätigt und reproduziert worden sind, welche die Finanzkrise zuvor verursacht hatten (Honegger et al. 2010). Auf den zeitweiligen Zusammenbruch der Winner-Take-All-Ökonomie erfolgte ein Rettungsprogramm gemäß der Regel too big to fail. Man musste nur groß genug sein und ausreichend hohen Verlusten entgegensehen, um als »systemrelevant« vor der Insolvenz bewahrt zu werden. In beiden Fällen, vor und nach der Finanzkrise, haben die größten Spieler am Markt also die größten Vorteile gehabt: vor der Krise die höchsten Gewinne und nach der Krise die weitestreichenden Liquiditätsgarantien – ein Neoliberalismus mit staatlich garantierter Sicherheit. 4. Refeudalisierung – eine Paradoxie kapitalistischer Modernisierung Nun ist die Feststellung einer nachbürgerlichen Epoche des Kapitalismus theoriegeschichtlich nicht neu. Bereits die ältere Kritische Theorie hatte von einer »Rückbildung des liberalen Kapitalismus« (Adorno 1972: 368) gesprochen, durch welche ein Verfall bürgerlicher Ideale, eine kulturelle Regression und das Ende aller rationalen Maßstäbe in Wirtschaft und Gesellschaft verursacht worden sei. Doch weist im Vergleich zu dieser zurückliegenden Diagnose die Gegenwart des Kapitalismus zumindest zwei gravierende Veränderungen auf: Zum einen sorgt die Globalisierung der wirtschaftlichen Märkte dafür, dass sich der Zusammenhang von Kapitalismus und Lebensführung im 21. Jahrhundert dem kulturellen Schema der Bürgerlichkeit möglicherweise allein schon aus geographischen Gründen entzieht. Die Entwicklungszentren der Weltökonomie haben sich von Europa und den USA deutlich nach China, Russland und Indien verschoben. Damit hat nicht nur das Modell des gelenkten »Staatskapitalismus« eine Renaissance erfahren. Auch fügen sich religiöse und habituelle Bestände in die kulturellen Einbettungen des asiatischen Kapitalismus ein, die noch Max Webers universalgeschichtliche Untersuchungen als hinderlich für den rationalen Betriebskapitalismus betrachtet haben.
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Die Veränderungen des globalen Kapitalismus selbst sind es, die diese Annahmen heute als überholt erscheinen lassen. Gleichwohl ist der unternehmerische Betriebskapitalismus privater Eigentümer weder im Russland der Oligarchen noch im China des Parteikapitalismus die treibende ökonomische Kraft. Die Annahme, dass dem Kapitalismus die kulturelle Lebensform der Bürgerlichkeit korrespondiert, wird durch die Dynamik der Weltmärkte heute auf eine bisher ungekannte Weise in Frage gestellt. Zum anderen gewannen Adorno und die Frankfurter Schule ihre Kritik am Zerfall des liberalen Erbes aus der Beobachtung, dass der Kapitalismus durch staatliche Lenkung und totalitäre Organisation eine »Herrschaft unabhängig vom Marktmechanismus« (Adorno 1972: 368) etabliert hatte, in welchem die Kritische Theorie stets auch eine liberale Ratio jenseits von bloßer Willkür walten sah. Heute hingegen scheint es gerade die Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Beziehungen zu sein, in der die soziologische Zeitdiagnose den Kern ökonomischer Irrationalitäten und sozialer Pathologien ausmacht (Neckel 2008a). Wenn sich Markterfolge allein an der Höhe finanzieller Renditen bemessen, entthront die Kultur des schnellen Geldes die bürgerliche Logik der Meritokratie. Entsprechend entfernen sich auch die Deutungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs vom Narrativ des bürgerlichen Erwerbsfleißes zur Ökonomie der günstigen Gelegenheit. Deren Geschichte wird nicht in Bildungsromanen erzählt, sondern ruft eher obskure Weltdeutungen auf, von denen heute eine ganze Bewusstseinsindustrie der ökonomischen Esoterik ihr Dasein bestreitet. Die Rationalität des bürgerlichen Bewusstseins lebte von dem, was Max Weber (1988 [1920]: 536ff.) die Unterscheidung in verschiedene »Wertsphären und Lebensordnungen« nannte. Fallen unter dem Gesetz der Ökonomisierung aller Lebensbereiche Kunst und Geschäft, Weltanschauung und Wettbewerb, Glaube und Geld in eins, verliert sich mit der sozialen offenbar auch die geistige Differenzierung, durch die einst die Strahlkraft des bürgerlichen Vernunftprogramms gekennzeichnet war. Besser jedoch als durch eine Verfallsgeschichte (und besser auch als durch eine ideologische Ausgeburt des Neoliberalismus) ist der refeudalisierte Kapitalismus der Gegenwart als eine Paradoxie kapitalistischer Modernisierung (Honneth 2002; Hartmann/ Honneth 2004) zu begreifen. Derselbe ökonomische Entwicklungsprozess, der immense materielle Zugewinne in Aussicht stellt, sorgt zugleich dafür, dass immer größere Bevölkerungsteile von ihnen ausge-
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schlossen werden. Derselbe gesellschaftliche Prozess, der die Ökonomie zur Struktur eines Finanzmarktkapitalismus modernisiert hat, etabliert soziale Formen der Verteilung von Einkommen, Anerkennung und Macht, die in zeitgemäßen Erscheinungsweisen ursprünglich vormoderne Muster der sozialen Ordnung aktualisieren. In seinem Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Jürgen Habermas (1990 [1962]) einstmals an der öffentlichen Sphäre gezeigt, wie sich eine Refeudalisierung ehedem bürgerlicher Kommunikationsformen durch eine Transformation ihrer grundlegenden Institutionen vollzieht. Dass Habermas Analyse nicht mittlerweile jede Aktualität eingebüßt hat, dürfen wir im Übrigen daraus ersehen, dass Colin Crouchs Thesen zur heutigen »Postdemokratie« (Crouch 2008) vergleichbare Vorgänge der Aushöhlung demokratischer Institutionen vor Augen haben. Bei Habermas steht im Zentrum des Strukturwandels der Öffentlichkeit (auch für Crouch, worauf ich hier aber nicht eingehen kann) die Privatisierung gesellschaftlicher Bereiche, deren leitende Idee im zwanglosen Austausch über verallgemeinerungsfähige Interessen besteht, die nun aber zunehmend unter den Druck von wirtschaftlicher Kommerzialisierung und politischer Legitimitätsbeschaffung geraten (Habermas 1990 [1962]: 275ff., 326ff.). Einen ähnlichen Prozess können wir heute in der ökonomischen Sphäre konstatieren. Wie in Habermas’ Analyse von Öffentlichkeit, so wird auch in der refeudalisierten Ökonomie ein Strukturwandel dadurch vollzogen, dass öffentliche Güter privatisiert werden, ökonomische Beziehungen umfassend einem Vermarktlichungsimperativ unterliegen und eine oligopolistische Vermachtung die Unternehmensstrukturen dominiert. Am Ende obsiegt die »Konkurrenz der organisierten Privatinteressen« (Habermas 1990 [1962]: 337) in ähnlicher Weise über die wirtschaftliche Welt wie Habermas dies formal vergleichbar am Fall von Öffentlichkeit beschrieb. Die Finanzkrise hat überdies unübersehbar dokumentiert, dass in ökonomischer Hinsicht eine Trennung von Markt und Staat ebenso wenig existiert wie in Habermas’ Krisenanalyse von Öffentlichkeit eine Trennung von Staat und Gesellschaft. Die Rettungsprogramme, welche die Regierungen aufgelegt haben, um die Funktionsprobleme der Finanzmärkte kurzfristig zu beheben, verweisen auf eine Verstaatlichung der Ökonomie, welcher zwangsläufig eine Ökonomisierung des Staates auf dem Fuße folgt, um dem fiskalischen Zusammenbruch noch zu entgehen. Genau dieser Einbruch jeglicher Sphärentrennung
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aber ist es, der in Habermas’ Überlegungen den Verlust der bürgerlichen Qualitäten einer Sozialordnung markiert. Und auch die Arten und Weisen der Rechtfertigung weisen gemeinsame Merkmale von Öffentlichkeit und Ökonomie im nachbürgerlichen Zeitalter auf: Die refeudalisierte Öffentlichkeit bedarf – wie Habermas zu zeigen versuchte – einer plebiszitären Zustimmung, die sie sich vermittels medialer Spannungsreize in der Massenunterhaltung verschafft. Dem korrespondiert im refeudalisierten Kapitalismus der Gegenwart die kulturelle Stützung des wirtschaftlichen Vorteilskampfes in Gestalt eines allgemeinen Glaubens an die Pflicht zum Erfolg. Im selben Maße wie finanzieller Erfolg als solcher sich zu einer Wertkategorie verwandelt, artikuliert sich bei den wirtschaftlichen Führungskräften nicht nur ein Desinteresse, sondern mehr noch eine explizite Ablehnung fundamentaler bürgerlicher Werte, wie sie sich grundlegend im Leistungsprinzip manifestieren. Diese Refeudalisierung im normativen Sinne wird getragen von einer ständisch privilegierten Managerklasse ohne Leistung und ohne Risiko, die faktisch Renten bezieht, deren Ausgestaltung ihr eigenes Vorrecht ist. Einkünfte kommen so nicht als Ergebnisse von Leistungswettbewerben zustande, sondern im Zuge dessen, was die ökonomische Theorie rent seeking behaviour (Krueger 1974; Etzioni 1985) nennt, was bedeutet, dass erhaltener Wohlstand auf nichts anderem als auf der Ausbeutung der wirtschaftlichen Umwelt und auf der monopolartigen Ausnutzung von Privilegien und Rechtstiteln beruht. Ein schlagendes Beispiel aus der Welt des modernen Managements ist hierfür etwa die bizarre Institution des »garantierten Bonus« – also eine Erfolgsprämie, die ganz unabhängig von jedem wirtschaftlichen Erfolg eingeklagt werden kann. Dies lässt den Manager des Anlegerkapitalismus als ökonomischen Typus viel eher dem feudalen Landlord ähnlich sein als dem bürgerlichen Unternehmer. 5. Refeudalisierung der Sozialstruktur. Wiederkehr der Dichotomien Eingebettet findet sich diese vorbürgerliche Organisationsform wirtschaftlicher Renditen in eine allgemeine Sozialstruktur, die in sich selbst vielgestaltige Merkmale einer Refeudalisierung aufweist. Charakteristisch hierfür sind Polarisierung und Verfestigung (Neckel 2006, 2008b). Der Abstand zwischen entrückten Eliten und der Prekarität unterer Schichten nimmt in westlichen Länder heute ein solches Ausmaß
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an, dass vor geraumer Zeit sogar Alan Greenspan, seinerzeit Chef der amerikanischen Notenbank, davon sprach, dass nicht nur die Vereinigten Staaten ein Zwei-Klassen-System der Verteilung herausbilden würden, wie es bisher nur typisch für Entwicklungsländer war (Schäfer 2009: 231). Einem steigenden Armutsrisiko korrespondiert die Zunahme der Abwärtsmobilität bis weit in die mittleren Einkommensschichten hinein (Bundesministerium 2008: 26). Andererseits ist in den unteren Schichten bis zur gesellschaftlichen Mitte Aufstiegsmobilität faktisch zum Erliegen gekommen, während in den oberen Funktionsschichten der Gesellschaft mittlerweile ein hohes Ausmaß an Selbstrekrutierung vorherrscht, das weitgehende Exklusivität unter den höheren Bildungsschichten garantiert und sich gegenüber anderen Sozialschichten in den Parallelgesellschaften der Begüterten und Bevorteilten abschotten kann (Hartmann 2002, 2007). Im Ergebnis entsteht so ein stationärer Typus sozialer Ungleichheit, der wenig noch an das Schichtungsmodell erinnert, wie es als charakteristisch zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts galt. Ob es die Pisa-Studien sind oder die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung: Sie zeigen eine Gesellschaft, in der sich die Armut ebenso zunehmend sozial vererbt wie umgekehrt Privilegien von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, und die sich daher in einem offenen Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen befindet (Forst 2005: 24). War soziale Ungleichheit dem modernen Selbstverständnis nach als ein graduelles Abstufungssystem unterschiedlicher Wettbewerbspositionen zu verstehen, mit Übergängen zwischen den einzelnen Klassen und Schichten, so wird Ungleichheit heute zunehmend durch kategoriale Unterschiede untereinander unvergleichbarer Soziallagen geprägt, weshalb nicht offene Statuskonkurrenzen, sondern Einschluss und Ausschluss bestimmend für die Soziallage sind. Vorbürgerliche Institutionen wie das Erbschaftsrecht haben – wie kürzlich noch einmal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufgezeigt wurde (Beckert/Rawert 2010) – an der zunehmenden Zementierung materieller Ungleichheit einen bedeutenden Anteil. Und so verwundert es vielleicht nicht, dass sich auch kulturell der aristokratische Lebensstil erneut zum bürgerlichen Vorbild aufschwingen konnte. So jedenfalls vor geraumer Zeit ebenfalls die Frankfurter Allgemeine, in der Patrick Bahners (2010) unter dem Titel Haltung muss sich wieder lohnen erklärte, wie Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
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zum zeitweiligen Idol eines Bürgertums werden konnte, das sich seiner eigenen kulturellen Grundlagen mehr und mehr entfremdet: »Eine der Blasen, die in der Finanzkrise geplatzt sind, ist die meritokratische Legitimation der Lebenschancenverteilung. Wo bürgerliche Privilegien kaum noch durch Verdienste zu rechtfertigen sind, wird der Adel zum Vorbild, der seine naturgegebenen Vorrechte in ästhetisches Kapital umgemünzt hat« (Bahners 2010: 104).
Doch beschränkt sich die Ummünzung aristokratischer Muster nicht auf ästhetisches Kapital. Auch ökonomisches Kapital findet vermehrt seinen Weg zu wirtschaftlichen Institutionen, die ihren Ursprung im Schutz besitzständischer Monopole und Privilegien haben. Das wichtigste Beispiel hierfür sind die Privatstiftungen, die nicht nur im Erbschaftsrecht dynastische Strukturen schaffen und perpetuieren sollen. Auch auf den Finanzmärkten haben Privatstiftungen eine ähnliche Funktion. Hier dienen sie als Kapitalsammelstelle für die Konzentration großer Vermögen und dazu, Kapital zu parken und zugleich dem Zugriff der Allgemeinheit weitgehend zu entziehen, da man nicht für den Zuwachs des Vermögens, sondern nur bei dessen Entnahme geringfügige Steuern zu entrichten hat. Privatstiftungen ermöglichen ihren Begünstigten ein Rentiermodell von Vermögen und Wohlstand, das ausschließlich auf Besitztiteln und nicht auf eigener unternehmerischer Leistung beruht. Sie gewähren Monopolrenten, die Personen aufgrund ihrer je einzigartigen Stellung erhalten. Rentiermodelle gehören zwar stets schon zur Geschichte des Kapitalismus dazu, sie entstammen aber der Ständegesellschaft und entspringen nicht der bürgerlichen Ethik, die den Kapitalismus legitimiert. In Gestalt der Privatstiftungen werden Rentiermodelle zu Institutionen der Gegenwart, die – um ein letztes Mal die Frankfurter Allgemeine zu zitieren – einen »anstrengungslosen Wohlstand ohne marktgerechte Risikoverteilung« (Beckert/Rawert 2010) befestigen sollen. 6. Kapitalismus ohne Bürgerlichkeit Der Strukturwandel der kapitalistischen Wirtschaft, der hier unter dem Begriff der »Refeudalisierung« zusammengefasst wurde, ist – dies sollte deutlich geworden sein – nicht als Wiederkunft einer historisch längst vergangenen Epoche zu verstehen. Refeudalisierung bedeutet nicht die Rückkehr zu alten Zeiten. Auch in Habermas’ Konzept einer
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Refeudalisierung von Öffentlichkeit wurde nichts anderes als eine prozessierende Selbstwidersprüchlichkeit zum Ausdruck gebracht, die ab bestimmten Schwellenwerten in der Weise umschlagen kann, dass gesellschaftliche Institutionen jene normativen Eigenschaften verlieren, die sie einst als historisch neu gekennzeichnet haben. Ein ähnliches Beispiel in der Theoriesprache finden wir etwa auch bei Max Weber und seiner Verwendung der Begriffe von »Klasse« und »Stand« (Weber 1980 [1922]: 531ff.). Den Begriff des »Standes« gebraucht Weber in zweifacher Weise, einmal als historischen Schichtungsbegriff, den er gegen »Klasse« abgrenzt, dann wieder in einer systematischen Verwendung für eine bestimmte Art der Gruppenbildung, die er als »ständisch« bezeichnet und die der modernen Klassenordnung nicht entgegensteht, sondern unter bestimmten Bedingungen korrespondiert. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen und harter Verteilungskämpfe dominiert Weber zufolge die soziale Teilung nach Klassen, während Perioden der Prosperität ständische Unterscheidungen entstehen lassen, die auf der Prestigegeltung der jeweiligen Lebensführung basieren (Weber 1980 [1922]: 539; siehe auch Bourdieu 1974: 58ff.). Zeitgleich mit Max Weber, aber auf einem anderen Kontinent hat Thorstein Veblens Theorie des demonstrativen Konsums (Veblen 1986 [1899]) deutlich gemacht, dass sich unter den Bedingungen großer Reichtumszuwächse aristokratische Vorbilder im Lebensstil höherer Klassen auch und gerade inmitten des modernen Kapitalismus herausbilden können. Genau solche Bedingungen von langer Prosperität mit hohen Reichtumszuwächsen hat den höheren Klassen der Gegenwart der Finanzmarktkapitalismus beschert. Und so geschieht es nicht zum ersten Mal, dass sich Dynastien in den oberen Schichten entwickeln, die die Sozialstruktur feudalisieren. Jürgen Habermas’ Modell der Refeudalisierung hat aber noch einen weiterführenden Erklärungswert. Es zeigt auf, wie ganze Funktionssysteme im Fortgang ihrer Modernisierung ihren bürgerlichen Charakter verlieren können, dem sie einst erst ihren Ursprung verdankten. Als paradoxe Folge hiervon entsteht ein moderner Kapitalismus nicht nur ohne, sondern gegen die Bürgerlichkeit. Und möglicherweise ist es genau diese Unbürgerlichkeit, die im 21. Jahrhundert eine kulturelle Voraussetzung dafür ist, dass der Kapitalismus einen globalen Siegeszug angetreten hat.
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DIMENSIONEN VON FINANZMÄRKTEN
Der Glaube der Finanzmärkte Manifeste und latente Performativität in der Wirtschaft C HRISTOPH D EUTSCHMANN
1. Einleitung Mein Ausgangspunkt ist die These der Performativität wirtschaftswissenschaftlicher und finanzmarkttheoretischer Modelle. Sie geht bekanntlich auf Bruno Latour und Michel Callon zurück und wurde von MacKenzie (2006) in Bezug auf die Finanzmärkte weiterentwickelt (Aspers 2005). MacKenzie formuliert die Kernaussage wie folgt: »The academic discipline of economics does not always stand outside the economy, analyzing it as an external thing; sometimes it is an intrinsic part of economic processes. Let us call the claim that economics plays the latter role the performativity of economics« (2006: 16).
Er unterscheidet drei Formen und Stufen von Performativität: Erstens so genannte »generische« Performativität, die bereits dann gegeben ist, wenn Akteure sich in ihren Entscheidungen auf wirtschaftswissenschaftliche Theorien berufen, zweitens »effektive« Performativität, bei der ein tatsächlicher Einfluss der Theorie auf ökonomische Prozesse nachweisbar sein muss, und drittens die so genannte Barnes’sche Performativität. Barnes’sche Performativität (nach dem Soziologen Barry Barnes) ist die stärkste Form von Performativität. Sie ist dann gegeben, wenn wirtschaftstheoretische Modelle durch ihren Einfluss auf die Praxis die Realität im Sinne einer self fulfilling prophecy selbst er-
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zeugen. Anders als bei Callon geht es bei MacKenzie nicht um wirtschaftswissenschaftliche Theorien im Allgemeinen, sondern um Modelle des Finanzmarktes. Thema seiner Studie ist zum einen die Entwicklung der Finanzmarkttheorie von Modigliani/Miller (1958) bis Black/Scholes (1973), zum anderen die historische Entwicklung des Marktes für Finanzmarktderivate. MacKenzie versucht nachzuweisen, dass finanzmarkttheoretische Modelle, insbesondere das nobelpreisbekränzte Optionspreismodell von Black, Merton und Scholes eine nicht nur beschreibende, sondern »performative« Rolle bei der Ausbildung der Märkte spielten – »performativ« im Sinne der stärksten, Barnes’schen Lesart. Natürlich ist dieser Nachweis nicht leicht zu führen. Weder erlaubt das Optionspreismodell präzise empirische Prognosen, noch ist die Erfassung der keineswegs einheitlichen und im Tagesablauf stark schwankenden Optionspreise unproblematisch (MacKenzie 2006: 21f.). Und soweit eine Übereinstimmung der aus dem Modell abgeleiteten Voraussagen mit den Daten zweifelsfrei festgestellt werden kann, bleibt die Frage: Ist diese Übereinstimmung auf eine Realitätsangemessenheit des Modells im konventionellen Sinn oder umgekehrt auf die performative Wirkung des Modells auf die Realität selbst zurückzuführen, wie MacKenzie ja nachweisen möchte? Und wie ist es zu erklären, dass das Modell zwar eine Zeit lang zu funktionieren schien, in der Börsenkrise vom Oktober 1987 jedoch dramatisch scheiterte? MacKenzie geht diesen Fragen in einer methodisch sehr differenzierten Weise nach und versucht, die Verquickungen zwischen Theorie und Praxis durch intensive Interviews mit den Beteiligten aufzuklären. Die Diskussion über die Triftigkeit der Analysen MacKenzies hält an (Hodgson 2010, Ingham 2010). Gleichwohl spricht viel für MacKenzies These der Empfänglichkeit der Finanzmärkte für den performativen Einfluss theoretischer Modelle. Nicht nur die Entwicklung der Derivatemärkte, sondern auch die Einführung von Indexfonds, die »Finanzialisierung« des Unternehmensmanagements gemäß der PortfolioTheorie (Markowitz 1959) oder die Aufhebung des gesetzlichen Verbots von Wetten an Finanzmärkten in den USA könnten auf ähnliche Weise erklärt werden. Auf der anderen Seite darf die Tragweite der These sicherlich nicht überschätzt werden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Strukturen des Wirtschaftssystems in so weitreichender Weise auf den performativen Einfluss ökonomischer Doktrinen zurückgeführt werden können, wie dies Michel Callon (1998) mit seinen
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Hinweisen auf die Performativität der Figur des rationalen Egoisten oder der Instrumente rationaler Kalkulation geltend zu machen versucht. In meinem Beitrag möchte ich auf die empirischen Details der Untersuchungen MacKenzies und Callons nicht näher eingehen, sondern die Reichweite der Performativitätsthese in einer allgemeineren theoretischen Perspektive diskutieren. Aus wissenssoziologischer Sicht lässt sich zunächst argumentieren, dass nicht nur Finanzmärkte, sondern soziale Realität überhaupt »performativ« konstituiert ist; der Unterschied liegt allein darin, ob diese Performativität manifest bzw. beobachtbar ist oder nicht (2.). In einem weiteren Schritt werde ich der Frage nachgehen, wie unbeobachtbare Performativität gleichwohl durch das Medium Geld repräsentiert werden kann und greife dabei auf das aus der Religionssoziologie Luhmanns stammende Konzept der »Chiffre« zurück (3.). Ausgehend von der These vom Chiffrencharakter des Geldes skizziere ich anschließend ein Modell der Beziehung zwischen Finanzmärkten und so genannter »Realwirtschaft« mit dem Ziel, die Bedeutung manifester und latenter Performativität in beiden Sphären genauer zu bestimmen. 2. Der performative Charakter sozialer Realität Wissenssoziologisch sagt die Performativitätsthese nichts Neues, im Gegenteil: Sie rennt offene Türen ein. Soziale Wirklichkeit ist sinnhaft strukturiert und daher stets »performativ« in dem Sinne, dass sie aus performativen Handlungen von Individuen hervorgeht. Sie entsteht dadurch, dass Geltungsansprüche erhoben, anerkannt und durch Handeln eingelöst werden. Das gilt bereits, wie John Searle (1997) gezeigt hat, für »objektivierte« soziale Institutionen wie Geld, Ehe oder Eigentum, aber genau so auch für alltägliche Interaktionen und Konventionen, d.h. die vielfältigen »flüssigen« Formen sozialer Realität. Die Akteure machen einander Versprechungen und lösen sie ein oder auch nicht. Sie erheben Geltungsansprüche kognitiver, moralischer oder ästhetischer Art und erwarten, dass diese von anderen anerkannt werden. Anerkanntes, als wahr betrachtetes Wissen wird im Sinne des bekannten Thomas-Theorems (Thomas/Thomas 1928: 572) soziologisch »real«. Bei der Formulierung von Propositionen greifen die Akteure auf aktuell entwickeltes wie auf bereits gesellschaftlich objektiviertes Wissen zurück. In dem Maße wie die Versprechungen und Geltungsansprüche eingelöst werden, werden auch die in ihnen implizit oder
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explizit übernommenen Wissensbestandteile sekundär validiert, ohne dass deren eigener performativer Ursprung dabei noch sichtbar sein muss. Auch wissenschaftliche Theorien und Modelle können Teil dieser vorgefertigten Interpretationen sein oder in sie einfließen; sie sind jedoch nur eine Form vorgefertigten Wissens unter anderen. Auch in der alltäglichen Praxis werden ständig »Theorien« gebildet und interaktiv ratifiziert. In der konkreten Situation kann das Verhältnis zwischen vorgefertigten und aktuell erzeugten Wissensbestandteilen stark variieren: Im einen Extrem beschränken sich die Akteure darauf, vorgefundenes, bereits validiertes Wissen nur zu ratifizieren (der Bundespräsident, der den im Parlament entwickelten Gesetzentwurf durch seine Unterschrift in Kraft setzt), im anderen Extrem erfinden sie gänzlich neues Wissen; sie entwickeln z.B. neue, »kreative« oder »abweichende« Situationsdeutungen, die von der Umwelt vielleicht zunächst abgelehnt oder ignoriert werden. Aber das neue Wissen kann auch auf positive Resonanz stoßen und durch Andere beglaubigt werden; in diesem Fall kann es seinerseits »objektiven« Charakter gewinnen. Selbst denkbar innovatives Wissen stellt jedoch niemals eine creatio ex nihilo dar, sondern entsteht immer im Kontext einer bereits objektivierten Struktur. Jene besteht aus sozial abgeleiteten und nicht überprüften Wissensbeständen in Form »mehr oder weniger wohlfundierten oder blinden Glaubens, Maximen, Rezepten, Gebrauchsanweisungen zur Lösung von typischen Problemen, das heißt zur Erzielung typischer Resultate« (Schütz 2003: 330); Schütz spricht von »Bekanntheitswissen«. Auch dieses kann wiederum als konstruiert aufgefasst und auf seine performativen Ursprünge zurückgeführt werden. Im Anschluss an die Theorien »reflexiver Modernisierung« bei Habermas, Beck und Giddens weist Knorr Cetina darauf hin, dass institutionelle Modernisierung als ein Prozess der »Einnistung von Wissensstrukturen in soziale Strukturen« (Knorr Cetina 2008: 70) verstanden werden kann. Durch ihn verwandelt sich objektiviertes in reflexives, die eigenen performativen Ursprünge vergegenwärtigendes Wissen. Aber soweit die Grenze des reflektierbaren Wissens auch immer hinausgeschoben wird, bleibt doch immer ein objektivierter Kontext, dessen performativer Ursprung nicht mehr erkennbar ist. Auch die von MacKenzie genannten »schwächeren« Formen von Performativität, die generische ebenso wie »effektive«, sind von einem bestimmten Punkt an nicht mehr nachweisbar. Andererseits stellt auch dieser objektivierte Kontext eine
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sinnhafte Realität, keine Objektivität im physischen Sinne dar. Er bleibt deshalb, wie indirekt auch immer, auf die Ratifikation durch Handeln angewiesen. Festzuhalten ist: Soziale Realität ist das Ergebnis performativer Akte in dem Sinne, dass Weltinterpretationen und Geltungsansprüche – vorgefundene wie neu erzeugte – durch Handeln in Raum und Zeit beglaubigt werden müssen. Allerdings lässt sich die performative Konstruktion sozialer Wirklichkeit immer nur selektiv und fokussiert, niemals als Ganze reflexiv einholen. Soziale Wirklichkeit nimmt deshalb trotz ihres konstruierten Charakters einen »objektiven« Charakter an, wie Berger und Luckmann (1969) dies in ihrer bekannten Rekonstruktion der generationenübergreifenden »Objektivierung« von Institutionen aufgezeigt haben. Sie ist das emergente Ergebnis einer unbestimmbaren Vielfalt performativer Akte in der Gegenwart wie der Vergangenheit. Es kann somit nicht um die Frage gehen, ob die Wirtschaft oder die Finanzmärkte als soziales System performativ konstituiert sind oder nicht. Der Unterschied ist allein, ob wir es primär mit neu geschaffenem Wissen zu tun haben, dessen soziale Validierung aktuell beobachtet und reflexiv eingeholt werden kann, oder mit bereits objektiviertem Wissen, das lediglich sekundär, tertiär usw. validiert wird. Im ersten Fall ist Performativität manifest und beobachtbar, im zweiten Fall latent bzw. unbeobachtbar. Manifeste Performativität lässt sich ihrerseits in die drei von MacKenzie genannten Stufen – generische, manifeste und Barnes’sche Performativität – differenzieren. Die stärkste, Barnes’sche Variante der Performativität ist, wie MacKenzie gezeigt hat, auf Finanzmärkten nachweisbar, aber es gibt sie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen: Man denke an den Kunstkritiker, der eine Abbildung von Suppendosen für »Kunst« erklärt und damit einer bestimmten ästhetischen Theorie zum Durchbruch verhilft (Zahner 2006) oder an den Geistlichen, der die Transsubstantiation von Wein und Brot im Rahmen des Abendmahls vollzieht. Ein anderes Beispiel sind die von Konsumforschern konstruierten Konsum- bzw. Lebensstilmilieus, die durch die Typisierungen der Werbung übernommen werden und sich durch deren Einfluss auf das Verhalten der Konsumenten im Sinne einer »self fulfilling prophecy« (Ullrich 2008: 133) selbst realisieren. Manifeste Performativität ist niemals umfassend, sondern immer kontextuiert, d.h. sie entwickelt sich in einem Rahmen, der selbst nicht als performativ konstituiert wahrgenommen
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wird, obwohl er es »objektiv« zweifellos ist. Soweit Performativität beobachtbar ist, ist sie also immer nur partiell. Umgekehrt ist die der Gesellschaft zugrundeliegende totale Performativität nicht manifest, d.h.: Die Gesellschaft kann ihren eigenen Prozess der Selbsterzeugung als Totalität nicht beobachten, denn alle Beobachtungen sind Operationen, die nur in Gesellschaft stattfinden können. 3. Der Chiffrencharakter des Geldes Wie sind die Grenzen zwischen manifester und latenter Performativität näher zu bestimmen – nicht nur empirisch, sondern theoretisch? Ich will zu zeigen versuchen, dass die Tragfähigkeit der Performativitätsthese in Bezug auf die Finanzmärkte sich genauer einschätzen lässt, wenn man ihr Basismedium – Geld – selbst in den Blick nimmt und untersucht, wie sich in diesem Medium manifeste und latente Performativität verbinden. MacKenzie selbst interpretiert das Geld als einen Fall manifester Performativität: »A metal disk, a piece of paper, or an electronic record is ›money‹ if, collectively, we treat it as a medium of exchange and a store of value« (2006: 19). McKenzie spielt hier auf die Theorie des Geldes als Konvention an, wie sie sich bei Searle (1997: 47f.) oder viel früher schon bei Knapp (1921) findet. Aber die Erklärung des Geldes als institutionelle Konstruktion reicht, wie wir wissen, allein nicht aus. Sie ist zirkulär, da die unterstellten Funktionen des Tausch- und Wertaufbewahrungsmittels ihrerseits schon den Begriff des Geldes voraussetzen. Überdies lässt die faktische Akzeptanz des Geldes sich nicht allein durch einen Rechtsakt sicherstellen, sondern ist ein emergentes Phänomen, das aus einer Vielzahl individueller Zahlungsakte erwächst. Offiziell dekretierte Währungen – man denke an die Währungen der ehemaligen sozialistischen Länder – können realiter nahezu wertlos sein. Um die Institutionalisierung und die faktische Emergenz des Geldes auch begrifflich auseinanderzuhalten, plädiere ich dafür, zwischen Währung und Geld zu unterscheiden. Währungen lassen sich qua staatlichen Rechtsakt dekretieren und sind insofern ein Phänomen manifester Performativität. Aber Währungen sind nur Gelddominationen. Das Geld selbst lässt sich weder territorial eingrenzen noch dekretieren. Es ist, nach Simmels Formulierung, ein Wechsel bzw. Zahlungsversprechen, bei dem »der Name des Bezogenen nicht ausgefüllt ist« (Simmel 1989: 213). Auch wenn die Währungsautorität eingetragen sein mag, kann letztlich nur »die Gesellschaft« als imaginäres Kollektiv der Zahler das Zahlungsversprechen
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einlösen. »Gedeckt« ist Geld allein durch »Vertrauen« – Vertrauen nicht in jemanden oder etwas, sondern allein darauf, dass auch die Anderen vertrauen und das Geld annehmen werden. Weil Geldvertrauen keinen objektiven Anker hat, spricht Axel Paul (2009) treffend von der »Unverfügbarkeit« des Geldes. Seine Geltung ist das emergente Ergebnis individueller Zahlungen. Individuelle Zahlungen, d.h. Zahlungsversprechen und Zahlungsakte sind manifest performative Akte. Aber das, womit diese Versprechen eingelöst werden, das Geld, ist selbst schon ein in irgendeinem Medium (Metall, Papier, Computerausdrucke) objektiviertes Zahlungsversprechen, dessen performativer Ursprung unsichtbar ist. Im Gegensatz zur Währung ist Geld damit ein Phänomen latenter Performativität. Es repräsentiert die nicht beobachtbare Performativität einer Gesellschaft; es ist latente, objektivierte Performativität par excellence, die freilich ihrerseits wie alle symbolischen Objektivierungen durch immer neue Zahlungen aktualisiert werden muss. An diesem Punkt nun möchte ich das Konzept der »Chiffre« einführen. Ich beziehe mich dabei auf Luhmann, der dieses Konzept in seiner Religionssoziologie verwendet und als spezifische Sinnform des Religiösen definiert: »Was als spezifische Sinnform des Religiösen, als Numinoses oder Heiliges beschrieben worden ist, lässt sich dann als Resultat eines Prozesses der Chiffrierung beschreiben, der Unbestimmbares in Bestimmtes oder doch Bestimmbares transformiert. Chiffren sind nicht einfach Symbole, geschweige denn Zeichen oder Allegorien oder Begriffe. Sie sollen nicht anderes nur bezeichnen, nur ausdrücken. Sie sind nicht gemeint und werden nicht erlebt als bloße Hinweise auf etwas, was nicht oder nicht direkt zugänglich ist. Sie haben ihren Sinn überhaupt nicht in der Relation zu etwas anderem, sondern sind es selbst. Sie konstituieren Wissen, indem sie das Bestimmte an den Platz des Unbestimmbaren setzen und dieses dadurch verdecken« (Luhmann 1992: 33).
Die Religion ermöglicht es, wie Luhmann ausführt, die unaufhebbare Kontingenz der Welt gleichwohl als sinnhaft zu erleben. Sie mündet so in eine Selbstbindung der Gläubigen an das Unabänderliche, reflexiv nicht Einholbare. Das geschieht durch die paradoxe Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz (Luhmann 2000: 77f.), die die Differenz zwischen dem kommunikativ Erreichbaren und dem Unbestimmbaren in die sinnhafte Welt selbst überträgt. Dieser »re-entry«
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des Jenseits in das Diesseits erfolgt in der Form des »Heiligen«. Sie gibt dem Unbestimmbaren eine bestimmbare, wenn auch geheimnisvolle Gestalt, an der weitere Selektionen anschließen können. Die gesellschaftliche »Funktion« der Religion liegt darin, den in jeder Kommunikation drohenden Einbruch der Kontingenz der Welt, den unendlichen Regress von Position und Negation, Präsentation und Appräsentation zu unterbinden. »Religion garantiert die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare« (Luhmann 2000: 127). Latente Performativität im oben ausgeführten Sinn ist zwar nur ein Teilaspekt dessen, was Luhmann als »Kontingenz« versteht (die »Gesellschaft« ist nicht mit der »Welt« identisch). Aber das Problem, sinnhaft nicht Rekonstruierbares gleichwohl erlebend und handelnd zu bewältigen, stellt sich hier in ähnlicher Weise. Wenn Geld die latente, unbeobachtbare Performativität der Gesellschaft repräsentiert, muss es deshalb ebenfalls als »Chiffre« im Luhmann’schen Sinn betrachtet werden, nicht nur als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das auf die Kommunikation von Knappheitsrelationen spezialisiert ist, wie Luhmann selbst es tut. Interessanterweise scheint allerdings auch Luhmann mit diesem Gedanken immer wieder gespielt zu haben. Er zitiert Kenneth Burkes Definition des Geldes »as a technical substitute for god« (Luhmann 1988: 242), und in »Die Religion der Gesellschaft« findet sich die Bemerkung: »Es wäre daher nicht ganz abwegig, bei Religion immer an Geld zu denken: eine geheimnisvolle symbolische Identität in einer Zeit, in der es darum ging, Kultur gegenüber dem grassierenden ›Materialismus‹ wieder zur Geltung zu bringen. Und diese Identität – das wäre dann: die Gesellschaft« (Luhmann 2000: 10).
Letztlich hat Luhmann freilich darauf verzichtet, diese Idee weiter zu verfolgen. Er subsumiert das Geld seinem Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und definiert es als Medium des Teilsystems Wirtschaft; die Soziologie ist ihm (und Baecker) darin bis heute zum größten Teil gefolgt. Demgegenüber möchte ich die Deutung des Geldes als Chiffre aufnehmen und zeigen, was sich mit ihr für die Analyse der Finanzmärkte gewinnen lässt. Die Vermutung lautet, dass Geldkapital in modernen Gesellschaften die gleiche Funktion erfüllt wie Religion für vormoderne Gesell-
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schaften: nämlich die objektive Einheit der Gesellschaft, d.h.: die Gesamtheit der performativen Akte für sie selbst zu repräsentieren und zu vermitteln. Ich merke hier nur knapp an, dass diese These sich auch anders als in der skizzierten Weise begründen lässt, nämlich mit Marx. Nach Marx entsteht der moderne Kapitalismus dadurch, dass die Ware-Geld-Beziehungen von fertigen Arbeitsprodukten auf die Produktionsvoraussetzungen, insbesondere das lebendige Arbeitsvermögen übergreifen. Arbeit ist für Marx entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis keineswegs nur eine »ökonomische«, sondern eine gesellschaftstheoretische Kategorie. Sie bezeichnet jenen zwischen Natur und Kultur vermittelnden Prozess, der die Gesellschaft als symbolische, aber gleichwohl raumzeitlich lokalisierte Realität hervorbringt. Um es in der oben entwickelten Begrifflichkeit auszudrücken: »Arbeit« meint die Gesamtheit performativer Akte einer Gesellschaft. Diese Gesamtheit ist unbeobachtbar. Wenn Geld nun im Zuge der Durchsetzung des modernen Kapitalismus in einen privaten Eigentumsanspruch potentiell auf die gesamte, nicht nur vergegenständlichte, sondern auch lebendige Arbeit verwandelt wird, so verliert es seine bloß »ökonomische« Qualität als Knappheitsmedium. Es nimmt vielmehr selbst den Charakter einer Chiffre für den Prozess gesellschaftlicher Reproduktion an. Geld verkörpert im Kapitalismus einen Anspruch nicht länger nur auf eine beobachtbare Menge von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch auf das Arbeitsvermögen, d.h. alles, was mittels Arbeit produziert werden könnte. Diese Forderung ist jedoch aufgrund der Unbestimmbarkeit des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens niemals endgültig einzulösen. Eine abschließende Definition dessen, was Arbeit leisten kann, müsste alle Erfindungen nicht nur der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch der Zukunft enthalten, und niemand kann sich in seinen Erfindungen selbst beobachten. Geld, das dieses »Vermögen« gleichwohl repräsentiert, muss selbst gleichsam offen und dynamisch werden. Einerseits liegt es immer in einer festen, quantitativ bestimmten Summe vor und gibt dem Unbestimmbaren so eine messbare Form. Andererseits kann es als eine wie immer definierte Summe sich selbst nie genügen und den mit ihm verknüpften Eigentumsanspruch nicht abschließend einlösen. Es muss sich vermehren und in sich selbst verwertendes Kapital verwandeln, d.h. der Chiffrencharakter des Geldes konkretisiert sich in seiner Kapitalform.
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Die Repräsentation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses durch Kapital ist nicht weniger paradox als bei religiösen Chiffren. Denn die Gesellschaft kann, wie oben schon betont, immer nur die objektivierten Ergebnisse ihrer Selbstreproduktion, aber nicht den Gesamtprozess dieser Selbstreproduktion beobachten. Der Gesamtprozess muss jedoch gleichwohl repräsentiert werden. Das geschieht in der modernen, die Grenzen religiös geprägter Zivilisationen überschreitenden Weltgesellschaft nicht länger durch Gott, sondern durch kapitalisiertes Geld. Allein das schlechthin universale Geld (Deutschmann 2009b) kann die Weltgesellschaft als Totalität repräsentieren. Aus der Paradoxie dieser Selbstrepräsentation erklären sich die – auch schon von Marx erkannten – Analogien zwischen religiösen und monetären Sinnformen, die zusammengenommen den Chiffrencharakter auch des Geldes als Kapital ausmachen, nämlich: (1) Wie die Religion ist kapitalisiertes Geld ungedeckt. So wie die Religion allein im Glauben ruht, ruht Geld im rein selbstreferentiellen »Vertrauen« der Akteure. (2) Weil das Bezeichnete unbeobachtbar ist, verschwimmt der Unterschied zwischen Zeichen und Bezeichnetem. So wie Gott allein durch seinen Namen präsent ist, ist kapitalisiertes Geld was es repräsentiert, d.h. es repräsentiert nicht nur, sondern ist Wert bzw. Reichtum. (3) Aufgrund der Identität von Zeichen und Bezeichnetem wird Geld nicht mitgeteilt, sondern übertragen. Ähnlich wird auch in der Religion das Heilige nicht bloß kommuniziert, sondern durch Sakramente oder Reliquien physisch übertragen. Ich nehme hier nur die zweite Aussage – Geld ist, was es repräsentiert – genauer unter die Lupe. Sie enthält zwei Teilaussagen: a.) Die Seite der Selbstreferenz. Geld repräsentiert sich selbst, ist nichts anderes als es selbst; b.) Die Seite der Fremdreferenz: Geld repräsentiert etwas anderes, Präsentes, aber nicht Beobachtbares. Beide Seiten ergeben nur durch ihre Verweisung aufeinander einen Sinn, denn ohne den Bezug von a auf b würde a auf eine schlichte Tautologie hinauslaufen. Wenn Geld sich selbst »repräsentiert«, dann ist es nicht nur mit sich identisch, sondern unterscheidet sich auch von sich selbst. Sich von sich selbst unterscheiden kann es aber nur aufgrund einer quantitativen Differenz, wie schon Marx erkannt hatte:
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»Statt Warenverhältnisse darzustellen, tritt er (d.h. der Wert, C.D.) jetzt sozusagen in ein Privatverhältnis mit sich selbst. Er unterscheidet sich als ursprünglicher Wert von sich selbst als Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott Sohn« (Marx 1988, Band I: 169).
Geld muss also von Anfang an – das sehe ich anders als Luhmann und Baecker – dynamisch konzeptualisiert werden: als Kapital. Die in der quantitativen Differenz sichtbare Selbstreferenz des Geldes ist ihrerseits bedingt durch b, d.h. den besonderen Charakter seiner Fremdreferenz: der Referenz auf das gesellschaftliche Arbeitsvermögen als etwas insgesamt Unbeobachtbares, aber gleichwohl Präsentes. 4. Finanz- und (Real-)Kapital Der Chiffrencharakter des Geldkapitals bietet, wie ich im Folgenden skizzieren möchte, einen Ansatzpunkt, um die Beziehung zwischen den Kapital- bzw. Finanzmärkten und der so genannten »Realwirtschaft« theoretisch zu konzeptualisieren. Zur Veranschaulichung greife ich, einer Anregung Hanno Pahls (2008: 277f.) folgend, auf die Marx’sche Formel des zinstragenden Kapitals zurück: G-(G-P-W’G’)-G’ (Marx 1988, Band III: 353). Der eingeklammerte Teil des Prozesses markiert die Fremdreferenz des Geldkapitals, d.h. die »reale« Akkumulation des Kapitals durch den Austausch mit der Arbeitskraft, sowie deren unter kontingenten gesellschaftlichen Bedingungen stattfindende produktive Verwertung. Der ausgeklammerte Teil dagegen bezeichnet die Selbstreferenz des Kapitals, d.h. die Kapitalmärkte, in denen das zinstragende Kapital für sich selbst zum Tauschobjekt wird. Wie verteilen sich nun manifeste und latente Performativität auf die beiden Teilprozesse? Ich erläutere meine Position vielleicht am besten so, dass ich zunächst meine Differenz zu der bekannten systemtheoretischen Position deutlich mache. Für Luhmann und Baecker stellen Finanzmärkte eine reflexive Systembildung innerhalb des Wirtschaftssystems dar; Finanzmärkte sind ein System im System, durch das die Wirtschaft sich selbst beobachtet (Baecker 1988, 2008; Luhmann 1988; Pahl 2008: 261f.). Das Wirtschaftssystem als Ganzes konstituiert und reproduziert sich definitionsgemäß durch Geldzahlungen, und die Zahlungsströme werden reflexiv durch die Finanzmärkte verarbeitet. Die Reproduktion des Wirtschaftssystems und damit auch der Finanzmärkte auf der Basis des Kommunikationsmediums Geld wird als unproblematisch vorausgesetzt (Baecker 2008). Auf der Mikro-
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Ebene geht es immer um die Alternative: zahlen oder nicht zahlen. Der Code der Zahlung macht den operativen Spielraum des Systems und zugleich seine Identität und Grenze zur Umwelt aus. Auch wenn Unternehmen oder Haushalte zahlungsunfähig sein können, ist das Gesamtsystem stets zahlungsfähig. Geht man dagegen von der Kapital- bzw. Chiffreneigenschaft des Geldes aus, dann wird gerade die Gesamtreproduktion des Systems durch Zahlungen problematisch und erklärungsbedürftig. Denn das einzig denkbare Motiv für Zahlungen ist die quantitative Differenz, der Gewinn. Nur die Aussicht auf Gewinn kann die dem System inhärente Blockade aufgrund der Tautologie des Geldes durchbrechen. Das System kann sich nur dynamisch, d.h. durch Wachstum stabilisieren; wächst es nicht, drohen Rückgang oder gar Absturz. Die Aussicht auf Gewinn jedoch ist genuin unsicher. Mangels verlässlicher eigener Informationen beobachten die Akteure sich in ihrem Handeln gegenseitig, wie Keynes es mit seinem bekannten Vergleich der Börse mit einer Schönheitskonkurrenz beschrieben hat. Aber diese Beobachtungen duplizieren die wechselseitige Unsicherheit nur und münden in den Zirkel doppelter Kontingenz. Manifest performative Interventionen externer, mit Deutungsmacht ausgestatteter Akteure (Analysten, Berater, Technik-, Management- und Konsumgurus) sind der entscheidende Faktor, um das System aus der stets drohenden Selbstblockade durch Unsicherheit und ausbleibende Anschlusszahlungen herauszuführen und seinen dynamischen Operationsmodus zu sichern. Neu geschaffenes und validiertes Wissen spielt also in beiden Teilprozessen, dem eingeklammerten wie dem ausgeklammerten, eine zentrale Rolle. Erst die Intervention dritter Instanzen kann dem Geschehen eine Richtung geben und die drohende Stagnation überwinden. Das setzt voraus, dass die durch diese Instanzen in die Welt gesetzten Modelle und Theorien eine Innovationskomponente enthalten. Sie dürfen zwar nicht völlig realitätsfremd sein, aber keineswegs das Bestehende bloß affirmieren. Je mehr diese innovativen Inszenierungen auf Resonanz stoßen, desto mehr entfalten sie eine sich selbst bestätigende, d.h. manifest performative Wirkung und setzen damit das System in Bewegung. In Anlehnung an die neoinstitutionalistische Terminologie bezeichne ich solche self-fulfilling prophecies als »Innovationsmythen«. Auf den Kapital- und Finanzmärkten als einem institutionalisierten Teilsystem der Gesellschaft tritt diese manifeste Performativität besonders hervor. Was an Finanzmärkten gehandelt wird, sind »promi-
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ses of future earnings« (Knorr Cetina 2009: 331), deren Einlösung mit Unsicherheit behaftet ist. Um die Gewinnversprechen zu validieren, ist die Intervention dritter Instanzen (Experten, Rating-Agenturen, Analysten) nötig, die eine performative Wirkung entfaltet. Analysten stellen, wie Faust und Bahnmüller argumentieren, Interpretationsrahmen für datengestützte Konstruktionen bereit. Sie können »ein dynamisierendes Element sein, wenn es ihnen gelingt, neue und originelle Rahmungen zu etablieren, was durch den Statuswettbewerb unter Analysten befördert wird« (Faust/Bahnmüller 2007: 48). Wenn das Kurspotential einer Aktie oder die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens bzw. eines Staates durch die einschlägigen Agenten positiv bewertet wird, dann wird der Aktienkurs steigen bzw. der zu zahlende Zins abnehmen; umgekehrt bei negativen Bewertungen. Wenn die Ergebnisse dennoch von den Erwartungen abweichen, dann aufgrund der erwähnten Notwendigkeit der Selbstprofilierung der Auguren. Zwischen ihnen herrscht Konkurrenz um die »Deutungshoheit« an den Finanzmärkten, deren Ausgang über Gewinne und Verluste entscheidet. Die Händler selbst müssen sich zwischen divergierenden Signalen entscheiden; sie müssen sich im Strom der Märkte bewegen, sich aber gleichzeitig gegen den Trend absetzen. David Stark beschreibt diesen Zielkonflikt wie folgt: »The more that formulas diffuse to perform the market, the more one’s profit depend on an original performance. That is, the premium shifts to innovation. As with information (which you must have, but which in itself will not give you an advantage) so with formulas: the more widely diffused, the more you must innovate« (Stark 2009: 124).
Die Offenheit dieses Spiels lässt immer neue Bewertungsdifferenzen, folglich neue Operations- und Arbitragemöglichkeiten entstehen und so wird das System in Bewegung gehalten. Aber Finanzmarktmythen allein können das System nicht wirklich aus der Stagnation herausführen. Das kann man sich an der hypothetischen Vorstellung eines vollständig geschlossenen Finanzmarktes, in dem es nichts anderes gibt als die »ausgeklammerte« Bewegung G-G’, klarmachen. In diesem Fall würden die durch Finanzmarktmythen erzeugten Gewinne und Verluste sich gegenseitig neutralisieren. Wie in einem Casino würde ein- und dieselbe Geldsumme beständig umverteilt; was die einen gewinnen, verlieren die anderen. Nimmt man die
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Möglichkeit kreditfinanzierter (»gehebelter«) Transaktionen an, so würde das an dieser Sachlage prinzipiell nichts ändern, es würde nur die Volatilität des Systems vergrößert. Finanzmarktmythen leben aus ihrem Versprechen auf Gewinnträchtigkeit bestimmter Kapitalanlagen. Herdentriebe dürfen jedoch nicht übermächtig werden. Wird ein Mythos zu einflussreich, mit der Folge, dass die Mehrheit der Akteure oder gar alle sich in die gleiche Richtung bewegen, dann macht sich die objektive Identität von Gewinnen und Verlusten auch auf der Handlungsebene geltend. Die Verluste für einzelne Investoren begrenzen sich dann nicht länger gegenseitig, sondern können sich kumulieren. Mac Kenzie (2006: 211f.) hat eine solche Situation am Beispiel der Krise des LCTM-Fonds analysiert. Das Gesamtsystem kann nur wachsen, weil die Finanzmärkte kein geschlossenes System sind, sondern mit dem eingeklammerten Teil des Kapitalverwertungsprozesses verkoppelt sind. Erst dadurch verliert das System den Charakter des Nullsummenspiels, denn allein die Prozesse im eingeklammerten Teil des Systems können das Gesamtsystem aus der Stagnation herausführen. Entscheidend für die Dynamik des eingeklammerten Prozesses ist wiederum der Kapitalgewinn (insoweit bleibt auch der eingeklammerte Prozess selbstreferentiell). Der Gewinn hängt hier jedoch nicht mehr bloß von der erfolgreichen Selbstsuggestion der Kapitalmarktakteure ab, sondern von der Entwicklung realer Prozess- und Produktinnovationen und ihrer Durchsetzung am Markt. Der Innovationsdruck ergibt sich aus dem kapitalistischen Nexus von Kapital und Arbeit: In einer Welt, in der es möglich ist, mit Geld auf die Potentiale des lebendigen Arbeitsvermögens zuzugreifen, wird alles aktuell Produzierte unvermeidlich im Licht dessen bewertet, was produziert werden könnte. »Fiktionen« und »Imaginationen« werden daher zur Grundlage der Wertbildung auch in der so genannten »Realwirtschaft«, wie Beckert (2011a, 2011b) mit Recht betont hat; Imaginationen wiederum treiben den innovativen Prozess voran. Die Einlösung der imaginativen Antizipationen ist nur durch »Arbeit« möglich – »Arbeit« verstanden freilich nicht im Sinne einer fragwürdigen Dichotomie zwischen dem »Realen« und dem vermeintlich nur »Symbolischen«, sondern gerade der Einheit beider. Als Arbeit soll hier der zwischen den Welten des Körperlichen und des Symbolischen vermittelnde performative Prozess bezeichnet werden, der gesellschaftliche Wirklichkeit hervorbringt. Gemeint sind somit alle Arten von Arbeit: geistige, körperliche, handwerkliche, wissenschaftliche,
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künstlerische, militärische, soziale, Hausarbeit, Dienstleistungsarbeit usw. Die Reihe der Arbeitsbegriffe ist nicht abschließbar. Nur lebendige Arbeit kann Innovationen hervorbringen und entwickeln, nicht Artefakte wie Maschinen, Organisationen oder Computer: Diese aus einer »pragmatistischen« Interpretation von Marx und Schumpeter abgeleitete These muss ich hier voraussetzen. Damit Innovationen sich am Markt durchsetzen können, müssen sie kommunikativ in der Gesellschaft vermittelt werden. Auch hier sind Innovationsmythen und ihre performative Wirkung von zentraler Bedeutung. Allerdings haben wir es nun mit Mythen anderer Arten zu tun: mit Produktionsmythen, d.h. sich selbst bestätigenden Leitbildern und Zukunftsvisionen in den Bereichen von Technik, Logistik und Organisation, sowie mit Konsummythen, also Verheißungen immer neuer Moden und Lebensstile. Nicht nur die Finanzmärkte, auch die sogenannte »Realwirtschaft« ist auf die Stimulierung durch immer neue, Verschuldung erzeugende Utopien und Mythen angewiesen. Und auch diese Mythen funktionieren wie self-fulfilling prophecies, d.h.: Wenn nur genügend Akteure auf den Zug aufspringen und in das Projekt investieren, dann können eben dadurch ursprünglich ganz phantastisch erscheinende Visionen wahr werden (Deutschmann 2008, 2009a, 2009b, 2011). Ob Produktions- und Konsummythen Erfolg haben oder nicht, ist jedoch noch schwieriger zu kalkulieren als im Fall reiner Finanzmarktmythen. Wenn Analysten z.B. Rohstoffwerte empfehlen oder von Bankaktien abraten, so ist der Kausalzusammenhang dieser Empfehlungen mit einem nachfolgenden Steigen der Rohstoffwerte bzw. Fallen der Bankaktien noch relativ leicht rekonstruierbar. Auch komplexere Konstrukte wie die von MacKenzie untersuchte Optionspreistheorie hinterlassen Wirkungen, die sich als performativ rekonstruieren lassen. Wenn dagegen Wissenschaftler, Wirtschaftsberater oder politische Aktivisten Visionen wie die der »Informationsgesellschaft« oder der »Energiewende« in Umlauf bringen, so sind die performativen Wirkungen dieser Mythen sehr viel indirekter. Wenn überhaupt, stellen sie sich erst in längeren Zeiträumen ein und lassen sich entsprechend schwieriger rekonstruieren. Ob die self-fulfilling prophecy objektiv funktioniert und es zu Investitionen in die entsprechenden Technologien kommt, hängt zwar auch hier von den Finanzmärkten als für die Finanzierung zuständigem Teilsystem ab. Aber darüber hinaus ist die Resonanz entscheidend, die der Mythos bei potentiellen Kunden, Nutzern, Entwicklern, Produzenten, in den öffentlichen Medien, der
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Wissenschaft, letztlich in der ganzen Gesellschaft findet. Diese Resonanz wird ihrerseits durch die Finanzmärkte beobachtet, was die Komplexität der Rückkoppelung noch mehr steigert. Produktions- und Konsummythen müssen sich in einer viel komplexeren und letztlich unüberschaubaren Arena bewähren; die Autosuggestion muss eine weitaus größere und unbestimmbare Zahl von Akteuren umfassen. Der Gesamtprozess der Kapitalverwertung (einschließlich seines eingeklammerten Teils) wird somit unvermeidlich durch latente Performativität bestimmt. Anders als Marx glaubte, lässt er sich durch keinerlei »Gesetzmäßigkeiten« erklären. Das Aggregatwachstum der Wirtschaft ist, mit anderen Worten, eine genuin unsichere, zwar performativ konstituierte, in ihrer Performativität aber letztlich nicht durchschaubare Größe; d.h. soweit Performativität überhaupt noch nachweisbar ist, beschränkt sie sich auf generische und effektive Performativität. Die Unsicherheit wird durch die Finanzmärkte aufgenommen und reflektiert; Signale werden positiv oder negativ verstärkt. Positive Gewinnprognosen im eingeklammerten Teil des Systems können kreditfinanzierte spekulative Bewegungen im ausgeklammerten Teil auslösen und so auch eine finanzielle Hausse auslösen; umgekehrt bei negativen Gewinnprognosen. Auch wenn die self-fulfilling prophecies der Finanzmarktakteure durchaus ein Eigengewicht haben, wird die Wachstumsdynamik letztlich durch das Geschehen im eingeklammerten Teil des Systems (die viel beschworenen »Fundamentaldaten«) bestimmt. 5. Schlussbemerkungen Meine Position gegenüber den Analysen Callons und MacKenzies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Es geht, anders als die Autoren meinen, nicht um die Frage, ob die Wirtschaft oder die Finanzmärkte als soziales System performativ konstituiert sind oder nicht. Alle sozialen Strukturen sind vielmehr performativ konstituiert, freilich nicht nur im Sinn der Performativität wissenschaftlicher Konstrukte. Es sind nicht nur Wissenschaftler, die soziale Realität »konstruieren«, sondern soziale Akteure überhaupt; wissenschaftliche Performativität bildet also nur einen Fall unter anderen. Die Frage lautet, wieweit dieser Konstruktionsprozess beobachtbar ist, und ich habe versucht zu zeigen, wo die Grenzen der Beobachtbarkeit liegen. Finanzmärkte (als ausdifferenziertes Teilsystem der Wirtschaft bzw. als »ausgeklammerter« Prozess G-G’) beobachten sowohl die Wirtschaft als auch sich selbst. Soweit sie sich selbst beobachten, ist die Performativität dieser Beobach-
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tungen ihrerseits partiell beobachtbar bzw. rekonstruierbar, wie Mac Kenzies Untersuchungen gezeigt haben. Die stärkste, »Barnes’sche« Variante von Performativität ist hier noch am ehesten nachweisbar. Im Gesamtprozess kapitalistischer Akkumulation dagegen haben wir es mit genuin latenter, d.h. unbeobachtbarer Performativität zu tun. Vor allem der eingeklammerte Prozessabschnitt G-P-W’-G’ repräsentiert diese unbeobachtbare Performativität. Manifeste Performativität ist auch hier zwar nicht gänzlich abwesend, aber soweit sie noch auftritt, beschränkt sie sich auf ihre »schwachen«, generischen und effektiven Formen. Eine letzte Bemerkung: Es wäre vielversprechend, den Analogien, aber auch den Differenzen zwischen kapitalistischer und religiöser Performativität nachzugehen. Die Parallelen zwischen beiden Phänomenen sind offensichtlich: Auch religiöse Sakramente, z.B. das Abendmahl oder die Beichte, haben performativen Charakter. Weil Gott ebenso unerkennbar und unerforschlich ist wie der durch Geld repräsentierte Möglichkeitsraum, sind auch die religiös Gläubigen auf eine autoritative Interpretation der Situation durch Propheten, heilige Schriften und Priester angewiesen, die dann so ist, wie sie definiert wird. Aber religiöse Mythen beanspruchen im Unterschied zu kapitalistischen Mythen zeitlose Geltung. Damit riskieren sie, dass der Repräsentationsanspruch der Religion überdehnt wird. Es entsteht die Versuchung, Religion für die Bewältigung auch höchst profaner gesellschaftlicher Probleme in Anspruch zu nehmen, mit der Folge einer »Inflationierung« (Luhmann 1992: 123f.) des Glaubens. Kapitalistische Mythen lösen dieses Problem anders, nämlich durch die ihnen inhärente selbstreferentielle Unruhe, durch die eigendynamisch genährte Konstruktion und Dekonstruktion immer neuer Mythen. Durch konsequente Verzeitlichung der Repräsentation des Unbestimmbaren wird das Repräsentationsrisiko unter Kontrolle gehalten. Die frühen Christen, so hat Reinhart Koselleck (2003) gezeigt, warteten noch auf die Wiederkunft Christi und hofften, dass die Wartezeit möglichst kurz ausfallen möge. Aber die Wiederkunft ließ auf sich warten, und so entstand die Notwendigkeit immer neuer theologischer Rechtfertigungen für diese kognitive Dissonanz. Im modernen Kapitalismus nehmen die Menschen schließlich die Verkürzung der Zeit selbst in die Hand. Die Folge ist freilich, dass die Gesellschaft als Ganzes in einen Prozess permanenter Umwälzungen mit unbekanntem Ziel getrieben wird.
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Von Zukünftigkeit zu Gegenwärtigkeit Der Aufstieg der Arbitragetheorie im Diskurs der Finanzökonomik A NDREAS L ANGENOHL
1. Finanzwissenschaftliche Diskurse als Bearbeitungsformen von Handlungsproblemen Gegenstand des vorliegenden Artikels sind Zeitlichkeitsvorstellungen im akademischen Diskurs der Finanzökonomik. Die Finanzmarktsoziologie hat in den letzten Jahren verschiedentlich herausgestellt, dass Diskurse über Finanzmärkte einen performativen Charakter haben, und hat die Performativität jener Diskurse vor allem mit Blick auf die Beziehung zwischen Gegenwart und erwarteter Zukunft gesehen. Die Befunde besagen, dass öffentliche Diskurse performativ sind, insofern sie Deutungen bereitstellen, auf deren Grundlage ökonomische Bewertungen stattfinden und Akteure zur Vermutung bezüglich zukünftiger Entwicklungen gelangen (Clark et al. 2004; Langenohl 2009, 2011). Sie zeigen ferner, dass finanzökonomische Modellierungen performativ sind, indem ihre Anwendung – wie etwa bei der bekannten BlackScholes-Gleichung zur Preisermittlung bei Wertpapieroptionen – ihnen ihre eigene Wahrheit schafft und damit ihre Prognoseleistung erhöht (MacKenzie 2008). Und sie argumentieren, dass Interaktionen und Kommunikationen unter Finanzmarktprofis performativ sind, insofern die Artikulation von und Kommunikation über das Finanzmarktgeschehen Erwartungen und Erwartungserwartungen verändert – ein Punkt, den die Profis selbst immer wieder bestätigen (Wansleben 2011). Im vorliegenden Beitrag soll indes weniger auf diese unmittel-
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bare Performativität der Diskurse abgestellt werden, also nicht darauf, dass Diskurse unabhängig von ihren Geltungsansprüchen außerdiskursive Effekte zeitigen. Er zielt vielmehr darauf ab, dass jene Diskurse Konstruktionen von Sinn darstellen, die auf bestimmte Problematiken der Finanzmärkte eine Antwort geben sollen – Problematiken, die nicht nur von Praktikern, sondern auch von der akademischen Finanzwissenschaft Antworten fordern. Man tritt also einen Schritt hinter die Performativitätsannahme zurück und fragt: Welche finanzökonomischen Problematiken zeigen sich in semantischen Konstruktionen, deren sozialer Sinn es ist, jene Problematiken sinnhaft zu verarbeiten? Die Bandbreite semantischer Konstruktionen der Finanzmärkte ist variabel. Finanzmärkte haben sich in historischer Perspektive an unterschiedliche Publika gerichtet und sind von unterschiedlichen sozialen Kreisen gedeutet worden. Die historische Forschung stellt heraus, dass die Finanzmarktöffentlichkeit des 19. Jahrhunderts eine Milieuöffentlichkeit war (Preda 2009; Djelic/Lagneau-Ymonet 2008). Aus dem Besitz an Preisinformationen, der bis ins 20. Jahrhundert durch dieses Milieu von Brokern, Händlern und vermögenden Investoren monopolisiert war, wurde zuweilen – etwa von Max Weber – die Forderung abgeleitet, dass auch nur diese Gruppen das Recht haben sollten, am Börsenverkehr teilzuhaben (Weber 1988 [1894/1896]: 286f.). Im Gefolge des Börsenkrachs von 1929 wurde diese Monopolstellung zunehmend untergraben, was zwei gegenläufige Entwicklungen hervorbrachte: Einerseits eine zunehmende Professionalisierung der Finanzwirtschaft, die sich vor allem in der Vermehrung universitärer Einrichtungen, die Finanzfachleute ausbildeten, Ausdruck verschaffte (Lounsbury 2002), andererseits die Diffusion von Finanzmarktnachrichten in und durch Massenmedien, die nach für Laien verstehbaren Informationen und Interpretationen nachfragen (Langenohl/Schmidt-Beck 2009; Langenohl 2009, 2011). Was sich indes in dieser Entwicklung nicht änderte, ist der Diskursgenerator, d.h. der Punkt, an dem Bedarf nach Deutungen von Finanzmarktprozessen entsteht. Dieser ist in einer sehr grundsätzlichen Problematik der Finanzmärkte zu sehen, nämlich derjenigen, dass Finanzmärkte nicht aus sich selbst heraus semantisch abgebildeten Sinn generieren.1 Ihre Eigenart und das Geheimnis ihrer Funktionsweise liegen stattdessen in der Existenz eines Sinnvakuums begründet. Die-
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Zu den folgenden Argumenten ausführlich Langenohl (2009, 2010, 2011).
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ses Sinnvakuum entsteht durch die Preisbildung, die an Finanzmärkten rein mathematikförmig durch Verrechnung von Angebot und Nachfrage verlaufen muss, damit sie funktionieren kann. Im Unterschied zu Märkten der Produktionswirtschaft sind Finanzmärkte durch eine ausschließlich ökonomische, d.h. durch Faktoren wie Dekrete, festgesetzte Preisober- und Preisuntergrenzen, Dumping etc. unbeeinflusste Preisbildung gekennzeichnet. Insofern ist in der Tat von einem »Preismechanismus«, d.h. von einer rein mathematischen und daher modellierbaren Bestimmung des Preises zu sprechen. Im Unterschied zu Märkten der produktionsbasierten Wirtschaft begnügen sich Finanzmärkte nicht mit der Zirkulation der gehandelten Güter, sondern sind als deren Produktionsmittel anzusehen: Produktionsmittel nämlich für Preise. Der Begriff »Produktionsmittel« wird hierbei nicht in metaphorischer, sondern terminologischer Bedeutung gebraucht: Preise behalten nur dann ihren Wert, wenn sie auf rein mathematische, d.h. im Spiel von Angebot und Nachfrage berechnete Weise zustande gekommen sind. Die ökonomische Logik der Finanzmärkte – darauf haben Forscher und Beteiligte seit mehreren Jahrhunderten hingewiesen – folgt nicht der Wertschöpfungslogik der produktionsbasierten Wirtschaft (Steigerung der Input-Output-Effizienz einer Produktionssequenz), sondern einer Logik sui generis (Steigerung des Wertes von Kauf- oder Verkaufsrechten, d.h. von Rechten, Preise auszuüben). Die zahlreichen Arbeiten, die eine »Entkopplung«, »Entstofflichung« etc. von Finanzmärkten in der Gegenwart diagnostizieren, haben vermutlich ungewollt dazu beigetragen, dass die Fiktion, Finanzmärkte würden prinzipiell im Einklang mit der produktionsbasierten Wirtschaft funktionieren, bis heute überlebt hat. Indes könnte man argumentieren, dass eine solche Kopplung von Finanzmärkten, dort wo sie existierte, niemals Ausdruck eines solchen Prinzips war. Phasen relativer Angleichung finanzmarktlicher und produktionsbasierter Dynamiken wären daher als Ausnahme, nicht als Regelfall anzusehen. Ich plädiere deswegen für eine Perspektive, die die Logik der Finanzmärkte nicht als eine Überschreitung der »realwirtschaftlichen« Logik begreift, sondern als eine eigene ökonomische Logik, die in der Besonderheit des zentralen Produktionsmittels der hier gehandelten Waren zusammenhängt: dem mathematischen Preismechanismus. Auf diese Weise wird darstellbar, mit welchen spezifischen situativen Bedingungen sich Akteure auf Finanzmärkten konfrontiert sehen, und welche diskursiven Problemstellungen diesen Bedingungen korrespondieren.
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In Gestalt der Preise erhalten Akteure einen nur sehr eingeschränkten Einblick in ihr Zustandekommen – nämlich einen rein formalmathematischen, der sich auf den Preis, d.h. dessen relative und absolute Höhe sowie auf Bewegungen in der Zeit, also Wertentwicklung und Bewegungsstärke (Volatilität) beschränkt. Wichtige Informationen, die Anlageentscheidungen anleiten könnten, müssen vom Preismechanismus ausgeblendet werden, zuvörderst Informationen – oder Interpretationen – bezüglich der Motive, aus denen heraus andere Akteure am Markt handeln. Das einzige, was Akteure sehen können, sind die akkumulierten Folgen der Handlungen Anderer: Preise. Aus dieser Sicht sind Finanzmarktdiskurse funktional auf die Sinnleerstelle der Märkte bezogen, denn sie liefern Deutungen, die die Preisbildung selbst nicht liefern kann. Daher sind auch solche Diskurse als Teile von Finanzmarktproblematiken und finanzmarktlichen Sinnstrukturen (oder eher Sinnabsenzen) zu interpretieren und weniger als etwas, das äußerlich-diskursiv an die Märkte herangetragen wird. Hier wird ein anderer Ansatz verfolgt: Ich gehe davon aus, dass Diskurse über Finanzmärkte auf die Operationsweise der Preisbildung als ihres zentralen Produktionsmittels und die daraus resultierenden Sinnabsenzen und Handlungsprobleme bezogen sind und demnach operative Elemente der Märkte selbst darstellen. Dies macht sie zu einem wertvollen Archiv der sich wandelnden Verfasstheit der Finanzmärkte, für die sich der vorliegende Aufsatz interessiert. Der Beitrag konzentriert sich dabei auf die Analyse von Diskursen der Finanzökonomik und die seit kurzem erfolgenden Verschiebungen in der Art und Weise, welche Basiskategorien zum Verständnis – also zur Modellierung – von Finanzmarktvorgängen sie wählt. Gerade in der finanzökonomischen Modellierung sieht die Finanzsoziologie das zentrale Scharnier zwischen Finanzwissenschaftsdiskursen und Handelspraktiken (Beunza et al. 2006; MacKenzie 2005; Kalthoff 2005). Im Kontext dieses Beitrags interessieren finanzökonomische Modellierungen in ihrer Eigenschaft als Seismographen von Finanzmarktentwicklungen, denn sie nehmen Kritiken in sich auf, die an Marktentwicklungen ansetzen, welche durch die jeweils vorherrschenden Modellierungen nicht dargestellt werden können. Auf zwei solcher Momente gehe ich im Folgenden genauer ein, nämlich erstens auf die Mikrofundierung der Makroökonomik durch Nutzbarmachung der Erwartungsnutzentheorie in der ersten Hälfte der 1970er Jahre und ihre Konsequenzen für die Finanztheorie sowie
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zweitens auf den noch relativ jungen Zweig der Mathematical Finance, in dem sich eine Verabschiedung der Erwartungsnutzentheorie abzeichnet und der im Kontext von Modellierungsproblemen auf unvollständigen Märkten steht, wie sie beispielhaft in der SubprimeKrise und ihren weltweiten Folgen erblickt werden. Die Kategorie der »Erwartung« erscheint somit als zugleich zentrales wie gegenwärtig unter Stress stehendes Moment jener Modellierungen.2 In ihr äußert sich der lange vorherrschende Fluchtpunkt der Finanzökonomik, bei der Bestimmung effizienter Preise für Finanzprodukte die Wertentwicklung in der Zukunft zum Zentrum zu machen, ein Fluchtpunkt, der indes offenbar gerade dabei ist, zugunsten eines Paradigmas der Preisbestimmung in der Gegenwart verabschiedet zu werden. Zum Aufbau des Artikels: Zunächst wird eine Rekonstruktion des Erwartungsbegriffs in der Allgemeinen Ökonomik und der Finanzökonomik unter Berücksichtigung ihrer Genealogien vorgenommen (Abschnitt 2). Auf dieser Grundlage wird gemäß der hier vertretenen Sichtweise der Erwartungsdiskurs der Finanzökonomik als Bearbeitungsform finanzökonomischer Problematiken analysiert. Zugespitzt wird die Untersuchung durch eine Analyse von Lehrwerken und Forschungsliteratur zur mathematischen Finanztheorie, die die gegenwärtige Prekarität der Erwartungskategorie in der Finanzökonomik vor Augen führt (Abschnitt 3). Abschnitt 4 resümiert die Argumentation des Beitrags. 2. Die Theorie rationaler Erwartungen in Allgemeiner Ökonomik und Finanzökonomik »In diesem Modell [des Homo oeconomicus] wird unterstellt, dass das Individuum die einzelnen Handlungsmöglichkeiten, soweit sie ihm bekannt sind, entsprechend ihren Vor- und Nachteilen beurteilen kann und dass es dann die relativ vorteilhafteste Alternative auswählt bzw. diejenige, von der es sich den größten Nutzen erwartet« (Kirchgässner 2008: 301).
Gegenstand dieses Abschnitts ist die Rekonstruktion der Konjunktur der Erwartung als Platzhalter einer auf Zukünftigkeit orientierten Modellentwicklung in der Allgemeinen Ökonomik und der Finanzökonomik. Die Theorie rationaler Erwartungen geht auf wirtschafts2
Aus Platzgründen kann ich auf die Verwendungsweisen der Kategorie der Erwartung in finanzpsychologischen Diskursen hier nur am Rande eingehen.
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wissenschaftliche Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, insbesondere auf das Theorem der Nutzenmaximierung bzw. des Grenznutzens. Diese sogenannte »marginal revolution« in der ökonomischen Theorie ist deswegen von so großer Bedeutung, weil sie im Gegensatz zur früheren Ökonomik und Politischen Ökonomie Wirtschaftshandeln aus der Perspektive eines Subjekts modellierte, welches zu seinem Nutzen eine instrumentell-rationale Beziehung unterhält. Preise stellen sich aus dieser Perspektive als Funktionen rationaler Nutzenerwägungen von Wirtschaftssubjekten (etwa Konsumenten), dar: »The marginal revolution gave influential economists an opportunity formally to consider the fact that a consumer's behaviour based on the utility- maximization principle could play a role in the determination of prices« (Dome 1994: 86).
Erstmals formuliert wurde eine formale Theorie der Maximierung des Erwartungsnutzens von Neumann und Morgenstern (1944), deren Ansatz sukzessive weiterentwickelt und in gegenwärtige finanzökonometrische Modelle wie etwa das Capital Asset Pricing-Modell (CAPM) eingebaut wurde (Kirchgässner 2008: 203; auch Klus in diesem Band). Derartige Modellierungen finden sich daher auch in der finanzökonomischen Neoklassik, etwa bei Fama und Miller (1972). Voraussetzung hierfür war allerdings eine Erweiterung des ursprünglichen theoretischen Modells um die Komponente des Erwartungsdurchschnitts und dessen theoretische Verkopplung mit einem Argument bezüglich des Prognosewertes solcher rationaler Durchschnittserwartungen. So argumentiert John F. Muth (1961: 333), der diesbezüglich die radikalste Sicht formulierte: »The rational expectations hypothesis states that, in the aggregate, the expected price is an unbiased predictor of the actual price«. Diese Hypothese trat gegen eine Sicht an, die die Entwicklung von Preisen in unterschiedlichen Industriezweigen einzig aus makroökonomischen Gegebenheiten und Entwicklungen ableiten wollte, ohne die Erwartungen von Wirtschaftssubjekten miteinzubeziehen (Muth 1961: 316). Muth stellte ebenfalls heraus – und dies wird von der heutigen ökonomischen Theorie immer noch bestätigt (Kirchgässner 2008) – dass die Theorie rationaler Erwartungen modifizierbar ist, d.h. um Faktoren wie »(s)ystematic biases, incomplete or incorrect information, poor memory, etc« (Muth
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1961: 330) angereichert werden kann, ohne deswegen komplett aufgegeben werden zu müssen. Die Theorie rationaler Erwartungen hat somit einen gesamtökonomischen, nicht schon von vornherein finanzökonomisch begrenzten Anspruch. Dennoch gibt es Gründe, warum der Begriff der rationalen Erwartungen gerade für die Finanzökonomik zu einem zentralen Bestandteil und umgekehrt die Finanzökonomik zum bevorzugten Bewährungsfeld der Theorie rationaler Erwartungen wurde. Erstens dominiert die Sichtweise, dass Finanzmärkte dem idealtypischen, aus der Klassik und Neoklassik ererbten Modell der Marktkoordination insofern am nächsten kommen, als auf ihnen Transaktionsund Informationskosten verhältnismäßig wenig ins Gewicht fallen (ýerny 2009: 3). Sie stellen daher den idealen Erprobungsgrund der grundsätzlichen Gangbarkeit des Theorems der Erwartungsnutzenmaximierung dar, gegen das im 20. Jahrhundert immer wieder die Existenz von Transaktionskosten und von niemals vollständig gegebener Informiertheit ins Feld geführt worden sind.3 Selbst wenn man also in Rechnung stellt, dass die Annahmen der vollständigen Informiertheit und nicht vorhandener Transaktionskosten mittlerweile auch in der Ökonomik als veraltetes Modell des homo oeconomicus gelten – nämlich eines »paleo-homo oeconomicus« (Doucouliagos in Kirchgässner 2008: 27) – und die Theorie rationaler Erwartungen mittlerweile ohne solch starken Unterstellungen auskommt (Muth 1961), werden in der Wirtschaftswissenschaft Finanzmärkte dennoch nach wie vor als beispielgebende Arenen der ursprünglichen Theorie angesehen. Zweitens sind Einwände gegen die Theorie rationaler Erwartungen zwar nicht zuerst, jedoch am wirkungsvollsten auf dem Gebiet der Finanzökonomik vorgebracht worden – und in der Folge die Theorie gegen sie am wirkungsvollsten verteidigt worden. Zu erwähnen sind hier in erster Linie Einwände, die sich auf das Phänomen des noise trading beziehen, d.h. darauf, dass Marktakteure nicht nur suboptimal informiert sind, sondern – schwerwiegender – undifferenzierte Gerüchte behandeln, als seien es Informationen (Black 1986). Daran anschließend hat sich ein mittlerweile ausdifferenzierter und wohletablierter Ansatz der Behavioral Economics – bzw. hier: Behavioral Finance – ausgebildet, der die bereits in den 1950er Jahren formulierte
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Dies tun etwa die wirtschaftspsychologische Forschung (Behavioral economics) sowie die Institutionenökonomik.
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These der »bounded rationality« (Simon 1955) aufgreift und ins Psychologische wendet. Abgesehen von beobachtbaren logisch-kognitiven Imperfektionen in der Erwartungsbildung empirischer Akteure (Kirchgässner 2008: 203ff.) sind es demnach individualpsychologische Prozesse wie Vermeidung kognitiver Dissonanz, Status-Quo-Verzerrungen, Orientierung an wahrgenommenen Vorbildern u.ä., die zu psychologischen, rational nicht rekonstruierbaren Verzerrungen von Preisen auf Finanzmärkten führen.4 Jedoch hat die Theorie rationaler Erwartungen diese Einwände nicht nur parieren, sondern inkorporieren können, und zwar wiederum unter Bezug auf Finanzmärkte. Bereits Fischer Black (1986: 531ff.) argumentierte, dass die Anwesenheit von noise auf Finanzmärkten die Existenz von Liquidität erkläre: Leute handeln, weil sie noise für Informationen halten und zugleich davon ausgehen, dass andere aufgrund von noise und nicht von Information handeln. Die Differenz in den individuell unterschiedlichen Interpretationen erklärt Handel und Liquidität, aber hierfür ist die Annahme, Akteure zögen etwas anderes als Information bzw. das, was sie dafür halten, in Betracht, keine notwendige Voraussetzung. Mit anderen Worten: Selbst Erwartungsbildung auf der Grundlage von noise kann als rational gelten, weil sie sich nicht systematisch von Erwartungsbildung auf der Grundlage von Informationen unterscheidet. Die von Muth (1961) postulierte prognostische Beziehung zwischen den Erwartungen und der Preisbildung fällt dadurch nicht auseinander, wie Black (1986: 529) am Beispiel »irrationaler« Inflationsbewegungen erklärt: »noise is the arbitrary element in expectations that leads to an arbitrary rate of inflation consistent with expectations«. Es handelt sich hierbei um die Kehrseite der von Kirchgässner (2008) so häufig angeführten Verteidigung der Theorie rationaler Erwartungen, dass die Einsicht in unvollständige Informationen etc. keinen Anlass gebe, von der grundsätzlichen Validität der Theorie abzusehen – und diese Validität ist, mit Bezug auf die Finanzmärkte, jene, die sich aus der theoretischen Kongruenz von Erwartungsbildung und Vorhersage ergibt, und nicht eine, die der Erwartungsbildung inhaltlich irgendeine Form von Rationalität antragen würde. Paradigmatisch für die Bedeutsamkeit des Erwartungsbegriffs in der Finanzökonomik ist drittens die Einwanderung dieses Begriffs
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Vgl. für klassische Beiträge Black (1986) und Froot et al. (1992) sowie die Diskussion zusammenfassend Menkhoff/Röckemann (1994).
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bzw. der Theorie rationaler Erwartungen in die Makroökonomik. Ausgangspunkt ist die Problematik, dass im Zuge der zunehmenden Forderung nach einer Mikrofundierung der Makroökonomik im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1973/745 damit die Einwände gegen die Theorie rationaler Erwartungen in der Mikroökonomik auch auf die Makroebene beziehbar werden, also (etwa kognitiv oder psychologisch bedingte) Einschränkungen rationaler Erwartungsbildung und dementsprechenden Verhaltens der Akteure. Als Ausweg aus diesen Einwänden konnte indes argumentiert werden, dass solche Einschränkungen der Theorie rationaler Erwartungen dann irrelevant werden, wenn eine soziale Institution vorstellbar ist, die irrationales Verhalten bestraft bzw. irrational handelnde Akteure ausschließt. Dies ist auf Märkten der Fall, vor allem unter der Voraussetzung, dass Transaktions- und Informationskosten gering sind – und hierfür wiederum stellen Kapitalmärkte (v.a. Devisenmärkte) den paradigmatischen Fall dar. So bürgen Finanzmärkte für die Gangbarkeit der Theorie auch unter Hineinnahme der an letzterer vorgebrachten Kritik (Kirchgässner 2008: 85ff., 211). Insgesamt zeigt sich somit, dass die Theorie rationaler Erwartungen als Modell, das für die gesamte Wirtschaftswissenschaft Geltung beanspruchte, unter zahlreichen Rekursen auf die Finanzmärkte propagiert und gegen Einwände verteidigt wurde. Die Finanzökonomik (Finance) vollzieht diese Bewegung nur bedingt nach. Insgesamt lässt sich verzeichnen, dass in der Finanzökonomik der Erwartungsbegriff – und zumal der der rationalen Erwartungen – gegenüber psychologischen Erklärungsansätzen verteidigt wird, dies jedoch zunehmend auf Kosten der Kopplung zwischen Erwartungen und Prognostizierbarkeit von Preisen geschieht. Zunächst findet eine Aufnahme des seit den 1980er Jahren so häufig angemahnten »psychologischen« Impulses statt, der aber nicht auf die Irrationalität der Erwartungsbildung, sondern auf eine »Marktpsychologie« abzielt, die scheinbar irrationale Kursbewegungen durch die (soziologisch gesprochen) doppelte Kon-
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Die Theorie rationaler Erwartungen wurde zu diesem Zeitpunkt gegen keynesianische Modellierungen ins Feld geführt, indem argumentiert wurde, dass Versuche der Globalsteuerung der Wirtschaft, etwa durch Zinsund Geldpolitik, von den Wirtschaftssubjekten erkannt und in ihre Handlungsstrategien eingebaut würden, wodurch die intendierten Steuerungseffekte annuliert würden (Dome 1994: 303ff.).
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tingenz erklären möchte, nicht zu wissen, welche Erwartungen Alter hat, was zu Rückkopplungs- und Selbstverstärkungsmechanismen führt (Arthur 1995). Auf diese Weise wird zwar die Annahme aufgegeben, dass rationale Erwartungen einen Prädiktor von Preisen darstellen, jedoch kann die Annahme der Rationalität der Erwartungsbildung beibehalten werden. Konsequent zugespitzt wird dieses Argument in der folgenden Aussage: »As long as stock market crashes are unpredictable, the basic lessons of the theory of rational expectations hold« (Mishkin 2004: 163f.). Damit ist gemeint, dass die Theorie rationaler Erwartungen keine Aussagen bezüglich der Stärke der Abweichungen um den durch die aggregierten Erwartungen prognostizierten Mittelwert zu einem bestimmten Zeitpunkt machen kann, dass aber genau dies die Validität des Modells nicht unterminiert, sondern es in seinen Vergleichsvorteilen stärkt – denn würde man von einem anderen Modell als dem rationaler Erwartungen ausgehen (etwa finanzpsychologischen Modellen), müssten starke Abweichungen wie etwa Kurseinbrüche prognostizierbar sein. Solange sie es nicht sind, besteht also kein Grund, von dem Modell abzurücken. Schließlich ist zu bemerken, dass das Konzept der rationalen Erwartungen in der Finanzökonomik paradoxer Weise durch theoriestrategische Bewegungen gestützt wird, die den Erwartungsbegriff aus ihren Modellierungen eliminieren. Gemeint ist hier die Arbitragetheorie. Arbitrage besteht in der Ausnutzung von Preisdifferenzen nicht zwischen unterschiedlichen Handelszeitpunkten, sondern unterschiedlichen Handelsorten (MacKenzie 2005). Die Theorie der Arbitrage ist aus zwei Gründen zentral für die gegenwärtige Finanzökonomik. Erstens stellt Arbitrage, verstanden als Ausschaltung von Risiken, die sich aus der Unvorhersehbarkeit der Zukunft ergeben, den logischen Fluchtpunkt der Portfoliotheorie dar (Markowitz 1952, 1991). Deren Ziel ist eine Empfehlung optimaler Investitionsstrategien nicht auf der Grundlage erwarteter maximaler Renditen, sondern auf der Grundlage des minimalen erwartbaren Risikos, weswegen ihre Grundempfehlung die der Diversifizierung ist. Da sich Risiko indes neben der Diversifizierung am effektivsten durch die Verkürzung des zeitlichen Anlagehorizonts minimieren lässt, mündet die Portfoliotheorie in die Arbitragetheorie ein (Lee/LiPuma 2004: 77f.). Zweitens lässt sich die Rationalitätsannahme mit Hilfe der Arbitragetheorie neu begründen. Gegenüber finanzpsychologischen Modellen, die die Rationalität von Investitions-
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entscheidungen auf der Ebene der Akteure anzweifeln, lässt sich dann nämlich argumentieren, dass Marktgleichgewicht durchaus keine rational erwartenden Individuen voraussetzt, sondern nur einige wenige Akteure, die entstehende Preisdifferenzen durch ihr Handeln ausgleichen und somit das Gleichgewicht (wieder-)herstellen. Dies nutzt indirekt auch der Theorie rationaler Erwartungen, weil auf diese Weise die Eigenschaft »rational« auf Markteffizienz übertragen wird und daher nicht mehr auf der Ebene akteurieller kognitiver Ausstattungen angefochten werden kann. »Erwartungen« sind somit der Tendenz nach eher die Eigenschaft eines Kollektivabstraktums, nämlich des Markts, und nicht einzelner Investoren. So kann Stephen A. Ross, ein Vorreiter der Arbitragetheorie seit den 1970er Jahren, formulieren: »Rational finance has stripped the assumptions down to only those required to support efficient markets and the absence of arbitrage [d.h. die Unterstützung der Annahme, dass sich Preisunterschiede durch die Arbitragepraktiken der Marktteilnehmer schließen], and has worked very hard to rid the field of its sensitivity to the psychological vagaries of investors« (Ross 2001: 4, in: MacKenzie 2005: 563).
Wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, ist die arbitragetheoretische Neubegründung der Finanzökonomik derzeit in vollem Gange. Meiner Sondierung zufolge ergibt sich folgendes Bild bezüglich der Rolle des Erwartungsbegriffs in der Finanzökonomik. Erstens findet eine Auseinandersetzung zwischen ökonomischen und psychologischen Erwartungstheorien statt, die um den Begriff der »Rationalität« entbrennt. Die allgemeine Ökonomik, und später insbesondere die Finanzökonomik, haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts wiederholt Einwänden ausgesetzt gesehen, die die Rationalitätsannahme auf der Ebene der durch Akteure gebildeten Erwartungen und von ihnen getroffenen Entscheidungen bestritten haben. Der jüngste derartige Angriff stammt aus der Psychologie. Gegen diese Einwände wurden unterschiedliche Strategien entwickelt: Auf einer allgemein-theoriestrategischen Ebene ist der Begriff der rationalen Erwartungen auf das Niveau des Arguments zurückgefahren worden, dass sich Individuen bei der Erwartungsbildung aller ihnen zur Verfügung stehenden Informationen bedienen und dass diese Erwartungen auf der Aggregatebene die meist zutreffende Prognose bezüglich wirtschaftlicher Entwicklungen darstellen und sie mathema-
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tisch prognostizieren. Dadurch wurde verhindert, dass Mikro-Erwägungen bezüglich subjektiver Irrationalitäten, Fehlinformationen etc. auf die Aggregatebene übergreifen. Mit anderen Worten: Entwicklungen der Makroebene lassen sich so darstellen, als träfen Marktteilnehmer Tauschentscheidungen auf der Grundlage rationaler Erwartungen, unabhängig davon, ob dies empirisch der Fall ist. Auf der Ebene der Finanzökonomik findet – und dies stellt eine Zuspitzung der gerade umrissenen allgemeinen Tendenz dar – gegenwärtig offenbar eine Verschiebung sowohl des Rationalitäts- wie des Erwartungsbegriffs vom Individuum auf die Aggregatebene des Marktes statt. Während etwa Arthur (1995) noch davon ausging, dass sich die Annahme rationaler Erwartungen auf (aggregierter) Akteursebene auch bei unprognostizierbaren Kursbewegungen dann halten lasse, wenn man die an Erwartungen herangetragene Rationalitätsunterstellung von der Bürde der meistzutreffenden Prognose entlaste, scheinen neuere Ansätze im Gegenteil die Aggregiertheit der Kursbewegungen nicht mehr mit dem Gesamt der im Markt befindlichen (potentiellen) Akteure in Verbindung zu bringen, sondern stattdessen den »Markt« zum Subjekt von Rationalität zu machen (Langenohl 2007: 77ff.). Ein Markt kann, so die Arbitragetheorie, auch dann rational – d.h. informationseffizient – sein, wenn nur einige agieren. Eine generalisierte Akteursannahme ist nicht mehr vonnöten, weder auf der Mikroebene (als Ontologie) noch auf der Makroebene (als Aggregat-Modellierung). Damit entfernt sich die Finanzökonomik zugleich aber auch von den Bemühungen der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft, die Theorie rationaler Erwartungen als verallgemeinerbares Akteursmodell zu verteidigen. 3. Finanzmathematische Arbitragetheorie und unvollständige Märkte Der Erwartungsbegriff der (Finanz-)Ökonomik, wie er im letzten Abschnitt rekonstruiert wurde, wird in seiner Besonderheit und Nichttrivialität sichtbar, wenn man ihn kurz gegen den soziologischen Erwartungsbegriff hält. Niklas Luhmann argumentiert, dass Erwartungserwartungen Erwartungen in konstitutionstheoretischer Hinsicht vorgelagert seien und dass dies Konsequenzen für die normative Struktur sozialer Zusammenhänge habe. Nicht schon die Existenz von Erwartungserwartungen, sondern ihre Zuschreibung auf Andere baut in die Geltungsstruktur von Erwartungen ein reflexives Element ein, welches
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verhindert, dass sich soziale Ordnung direkt aus Normbefolgung herleiten lässt. Denn die Zuschreibung von Erwartungserwartungen auf Andere bürgt für die Möglichkeit, sich auf die Erwartungen von Alter an Ego durch Kommunikation, Distanzierung und Abweichung zu beziehen (Luhmann 1987). Der Zusammenhang zwischen Erwartungen, Normen und sozialer Ordnung besteht daher darin, dass Normen (wie schon von Émile Durkheim betont) auch dann bestehen bleiben können, wenn sie durch individuelle Abweichungen verletzt werden, weil sie nicht durch Befolgung, sondern durch Zuschreibung stabilisiert werden. Ein derart verstandener Erwartungsbegriff entanthropologisiert den Erwartungsbegriff somit, indem er den Fortbestand von Normen und von Handlungsbedingungen auch dann garantiert, wenn Individuen von ihnen abweichen. Im Unterschied zum soziologischen Erwartungsbegriff akzentuieren der allgemein ökonomische und der finanzökonomische Erwartungsbegriff nicht die Fortdauer von Handlungsbedingungen, sondern deren Variabilität – denn genau Letztere ist Gegenstand der Modellierung. Menschliches Handeln soll erklärbar und wirtschaftliche Entwicklung soll prognostizierbar gemacht werden, indem die Veränderungen von Handlungsrestriktionen und die Erwartungsbildungen, die diese Restriktionen reflektieren, einer Analyse zugeführt werden. Diese Konjunktur eines »prognostischen« Erwartungsbegriffs hängt nun, so meine ich, nicht mit einer theoretischen Vorentscheidung der Ökonomik zugunsten eines methodologischen Individualismus zusammen, die von der Soziologie so oft (und folgenlos) kritisiert wurde, sondern ist selbst Teil der finanzmarktlichen Problematik, Risiken eingehen zu müssen, die von den zukünftigen Handlungen Anderer abhängen, über deren Motivierung und damit Wahrscheinlichkeit der Markt keine Informationen preisgibt. Zugleich muss allerdings gesehen werden, dass der Erwartungsbegriff in der Finanztheorie nicht obligatorisch oder alternativlos ist, sondern in seinem Bezug auf die Problematik des Zwangs zum Handeln unter Unsicherheit und Sinnabwesenheit funktional substituiert werden kann. Er ist in diesem Sinne nicht »notwendig«, sondern eher Teil einer Problematik der »Überdetermination« von Finanzmärkten6: Die an ihnen für die Preisbildung notwendige Abwesenheit von Sinnzuschreibungen gebietet die Genese von Diskursen, die diese Abwe-
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Vgl. die Begriffsauslegung bei Laclau/Mouffe (2001: 93ff.).
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senheit kompensieren, erzwingt aber nicht den Erwartungs- oder irgendeinen anderen Begriff.7 Diese Substituierbarkeit theoretischaxiomatischer Kategorien wurde als Tendenz anhand der allmählichen Verabschiedung der Individualontologie des homo oeconomicus seitens der Finanzökonomik bereits im letzten Abschnitt sichtbar. Noch deutlicher wird sie, wenn man sich derzeitige Entwicklungen in der mathematischen Finanztheorie und -modellierung (Mathematical finance) vor Augen führt, was nun am Beispiel des Lehrwerkes »Mathematical techniques in finance: Tools for Incomplete Markets« von Aleš ýerný (2009) und weiterer Lehr- und Forschungsliteratur unternommen wird. Die zweite Auflage dieses Werks antwortet explizit auf durch die Subprime-Krise offenbar gewordene Probleme der Finanzmärkte, die der Autor einleitend wie folgt charakterisiert: »The collapse of the U.S. subprime mortgage market and the ensuing payouts on insurance contracts known as credit default swaps have caused a massive tightening of credit supply around the world and left many appearantly healthy financial institutions reeling, some taken over by their rivals and still others nationalized by their respective governments. – Against this background the subtitle of this textbook, Tools for Incomplete Markets, seems ever more timely. It reminds us that no amount of financial engineering can protect investors from all financial risk. It urges us to acknowledge this risk and to model it
7
Die Gründe für die Konjunktur des Erwartungsbegriffs in der neoklassischen Finanzwissenschaft müssen gesondert exploriert werden. Im vorliegenden Aufsatz geht es in erster Linie um eine Beschreibung der sich wandelnden Diskursstrukturen der Finanzwissenschaft, insofern sie Teil einer grundsätzlichen Finanzmarktproblematik sind, die in der Sinndefizienz des Preismechanismus ތzu erblicken ist. Hypothetisch könnte man argumentieren, dass die Konjunktur des Erwartungsbegriffs in der finanzökonomischen Neoklassik mit seinem Vermögen zusammenhängt, die für Finanzmärkte oft als zentral angesehene Futurität (die sich im Risiko äußert) abzubilden und gleichzeitig eine Verknüpfung von Mikro- und Makromodellierung zuwege zu bringen – ein Punkt, der einem vielleicht gegenwärtig sich verabschiedenden normativen Übergewicht von Steuerungs- über Investitionsfragen geschuldet sein mag. Anders gesagt: Je mehr sich die Finanzökonomik von der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft emanzipiert, desto prekärer könnte der Erwartungsbegriff werden.
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realistically, rather than assuming it away as a mathematical inconvenience« (ýerný 2009: xiii).8
Das Grundproblem der Finanzökonomik wird im Umgang mit Risiko gesehen – genauer noch, wie das Vorwort zur ersten Auflage festhält, im Umgang mit »uncertain income streams such as derivative securities« (ýerný 2004: xiii), die sich durch ihre Unsicherheit von anderen Wertpapieren wie etwa festverzinslichen unterscheiden. »Risiko« ist somit eine Kategorie, der ein Zukunfts- und damit zugleich ein Unsicherheitsindex eignet, der die selbsterteilte Kernaufgabe der Finanzökonomik – die Bestimmung angemessener Preise für Finanzprodukte (securities) – grundsätzlich untergräbt (ýerný 2009: 1f., Joshi 2003: 1f.; Ross 1978: 478). Ausgangspunkt der mathematischen Modellierung sind diskrete Zeitpunkte und diskrete Produkte sowie ein begrenztes Set zukünftiger Zustände (d.h. Preise für Finanzprodukte) mit unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten (hierzu bereits Ross 1978, auf den sich ýerný bezieht).9 Hier wird deutlich, dass die Modellierung nicht von radikaler Ungewissheit ausgeht (»Knightscher« Unsicherheit, Kessler 2007), sondern von relativer Unsicherheit, die mathematisch bearbeitbar ist. Jedoch sieht sich die mathematische Bearbeitung spezifischen Herausforderungen gegenüber, die der Autor als »incomplete markets« kennzeichnet. Dazu ist zunächst eine Erläuterung nötig, was unter »complete markets« zu verstehen ist:
8
Die Subprime-Krise gilt in der Finanzökonomik offenbar durchweg als Beispiel einer durch unvollständige Märkte heraufbeschworenen Krise, etwa Staum (2008) und die Freiburger Forschungsgruppe »Pricing of Risks in Incomplete Markets« (http://www.prim.uni-freiburg.de/forschung/for schungsschwerpunkt; 13.9. 2011).
9
Diese Modellierung erfolgt im Anschluss an die gleichgewichts-theoretischen Arbeiten von Arrow und Debreu, die Future-Märkte konzipierten, welche nur am Ausgabe- und am Einlösungstag öffnen und aus denen daher zwischenzeitige wertverändernde Ereignisse ausgeklammert bleiben. Bereits dies, so Dome (1994: 121), stellt eine modelltechnische Absage an die Kategorie der Erwartung dar.
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»A complete market means that whatever distribution of wealth in the m market scenarios one may think of, it can always be achieved as a payoff from a portfolio of marketed securities« (ýerný 2009: 14).
Ein vollständiger Markt im mathematischen Sinne liegt demnach dann vor, wenn alle möglichen Zustände eines Marktes – d.h. die Verteilung von Werten, ausgedrückt in der Erzielung von Preisen – durch Portfolio-Kombinationen voneinander unabhängiger Wertpapiere erzielt werden können. »Voneinander unabhängig« bedeutet, dass ein Wertpapier einen Ertrag erbringen kann, der – gleich ob hoch oder niedrig – zuvor im Markt nicht erreichbar war.10 Zugleich ist es möglich, die Wertentwicklung voneinander unabhängiger Wertpapiere durch Kombination anderer Wertpapiere zu replizieren – eine Kombination, die »redundant« genannt wird (ýerný 2009: 13).11 Vollständige Märkte, so
10 Hier wäre bspw. an den Börsengang eines Unternehmens und damit das Entstehen eines neuen Wertpapiers, die Ausgabe neuer Anleihen durch Staaten etc. zu denken. In diesen Fällen wird dem Markt etwas hinzugefügt, das so vor seinem Erscheinen durch andere Instrumente nicht abbildbar war. Es ist indes wichtig darauf hinzuweisen, dass gemäß dieser Argumentation die wechselseitige Unabhängigkeit von Wertpapieren nicht mit deren »Nähe« zur produktionsbasierten Wirtschaft oder zu Nationalökonomien identisch ist. Vielmehr können z.B. auch solche Wertpapiere unabhängig sein, die spezifische Risiken absichern, welche zuvor im Markt nicht abgebildet waren, etwa Wetterrisiken (Joshi 2003: 11). 11 Ein Beispiel hierfür, das ich aus den Erklärungen Joshis (2003: 22) zur Replizierbarkeit von Finanzprodukten ableite, wären etwa im Fall einer Aktie Finanzprodukte, die es erlauben, den Wert dieser Aktie nachzubilden und die daher in der Summe denselben Preis erzielen. Den Preis einer Aktie könnte man etwa replizieren, indem man den Preis einer festverzinslichen Anleihe mit dem Preis einer Garantierung möglicher überdurchschnittlicher Kursgewinne im Vergleich zu dieser Anleihe (etwa einer callOption), dem Preis einer Absicherung gegen Kursverfall (etwa einer putOption bzw. eines Leerverkaufs) und dem Preis einer Ausfallversicherung gegen das Risiko einer Unternehmensinsolvenz (etwa eines credit default swap) kombiniert. Auf diese Weise lässt sich der markteffiziente Preis der Aktie, ausgehend vom Preis einer Anlage ohne Risiko und unter Hineinnahme der spezifischen Chancen- und Risikostruktur einer Aktie – unsichere Wertentwicklung und möglicher Unternehmensbankrott – durch
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die mathematische Theorie, sind somit durch Substituierbarkeit voneinander unabhängiger Wertpapiere durch Rekombination anderer Wertpapiere und umgekehrt gekennzeichnet, wodurch es möglich wird, nicht nur jeden möglichen Zustand des Marktes zu modellieren, sondern sich auch des effizienten Preises jedes Portfolios durch dessen Replikation zu versichern. Ein unvollständiger Markt ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass nicht alle voneinander unabhängigen Wertpapiere auf dem Markt gehandelt werden und deswegen Replikation mathematisch nicht immer »aufgeht« (ýerný 2009: 42).12 Dies hat Konsequenzen für die Bestimmung effizienter Preise für Wertpapiere. Denn der Replikationsvorgang funktioniert wie ein Test, der den Preis eines Wertpapiers bzw. Portfolios verifiziert: Diejenigen Kombinationen von Wertpapieren, die sich zueinander redundant verhalten, also dieselben Ertragswahrscheinlichkeiten aufweisen, belegen durch die Übereinstimmung
Hineinrechnen der Preise dreier zusätzlicher Finanzprodukte »synthetisieren« (Joshi 2003: 22). 12 Unvollständige Märkte lassen sich auf folgende Umstände zurückführen: »One is an insufficiency of marketed assets relative to the class of risks that one wishes to hedge, which may involve jumps or volatility of asset prices, or variables that are not derived from market prices. Market frictions, such as transaction costs and constraints on portfolios, may also cause incompleteness. A source of effective incompleteness is ambiguity, i.e. ignorance of the true stochastic model for market prices: it is effectively the same if it is impossible to transfer risk perfectly or if one merely does not know how to do so« (Staum 2008: 516). Beispiele hierfür wären etwa Risiken, die nicht in die Preisbildung eingehen (etwa Umweltkatastrophen), Beschränkungen der Zusammenstellung von Portfolios (etwa durch Unternehmens- oder rechtliche Vorgaben) sowie Anlageverhalten, das nicht mathematischen Modellierungen folgt. Ein unvollständiger Markt kann jedoch auch dadurch entstehen, dass bestimmte Wertpapiere vom Markt genommen oder nicht mehr gehandelt werden, wie es etwa seit der Subprime-Krise mit bestimmten »toxischen« Wertpapieren geschah, für die sich keine Käufer finden ließen. Das Theorem der unvollständigen Märkte impliziert somit, dass die Bestimmung effizienter Preise durch das Verschwinden unabhängiger Wertpapiere im Grunde nur dann gestört wird, wenn diese mit replizierenden Finanzprodukten, die ihrerseits nicht aus dem Handel genommen werden, korrespondieren.
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ihrer gegenwärtigen Marktpreise deren Validität oder Effizienz. Die unabhängigen Wertpapiere sind in ihrem effizienten Preis also nur dann bestimmbar, wenn sie in anderen Portfolios repliziert werden können. Ist Replikation aber durch Unvollständigkeit des Marktes behindert, fällt dieser Test aus. In der Logik des Lehrbuchs von ýerný wird die Arbitragetheorie an genau dieser problematischen Stelle eingeführt. Sie soll es ermöglichen, die Validität und Effizienz von Wertpapierpreisen auch unter Bedingungen unvollständiger Märkte zu prüfen. Es handelt sich dabei um einen Ausschlusstest: Können Arbitragemöglichkeiten ausgeschlossen werden, ist von effizienten Preisen – »no-arbitrage pricing« (ýerný 2009: 40f.) – auszugehen. ýerný folgt hier Ross (1978: 454), der in einem zentralen Beitrag zur Grundlegung der Arbitragetheorie mathematisch dargelegt hatte, dass »quite complicated return streams can be valued by simply using existing market valuations and the assumption that financial markets are in equilibrium«. Im Unterschied zu einem im Gleichgewicht befindlichen Markt, in dem alle effizienten Preise auf der Grundlage vorhandender Preise nach dem oben erwähnten Prinzip der Replikation bestimmt werden können, besteht eine Arbitragemöglichkeit in folgendem Zustand: »the prices of basis assets being inconsistent, providing possibilities of riskless profit« (ýerný 2009: 38). »Risikolos« wird dabei, im Einklang mit der eingangs konstatierten Grundproblematik von Finanzmärkten, sich in Risiko zu konstituieren, ein Vorgang genannt, in dem eine Investition zum Zeitpunkt t1 in keinem relativen Verlust zum Zeitpunkt t2 resultieren kann und deswegen Risiko abwesend ist (Joshi 2003: 26). Dabei sind zwei Szenarien denkbar: (a) Es wird ein Portfolio gegen ein anderes eingetauscht, das systematisch mindestens gleiche Profitwahrscheinlichkeiten bietet (etwa der Verkauf einer festverzinslichen Anleihe und der Kauf eines Wertpapiers mit garantiert demselben, aber eventuell höherem Wertzuwachs zum selben Preis); und (b) beim Verkauf eines Wertpapiers und dem Kauf eines günstigeren Wertpapiers, aus dem dieselben Risiken resultieren, d.h. eines Papiers, das das erstere repliziert (ýerný 2009: 38f.). Diese beiden Arbitragemöglichkeiten korrespondieren zwei Typen von Marktinkonsistenz: Während im ersten Fall Unterschiede zwischen voneinander unabhängigen Wertpapieren aus-
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genutzt werden, die zufällig denselben Preis haben,13 ist in letzterem Fall – da dieser die Existenz von Replikation voraussetzt – von einem »mispriced redundant basis asset« (ýerný 2009: 39, Herv. i.O.) auszugehen, d.h. von Diskrepanzen zwischen Portfolios, die dieselben Wertentwicklungschancen bzw. Risiken aufweisen, aber zu unterschiedlichen Preisen gehandelt werden. Solche Diskrepanzen übersetzen sich in der mathematischen Formulierung notwendig in negative Wertigkeiten der Preise (ýerný 2009: 41f.). Diese Formulierung ist aus Sicht des mathematischen Arguments kritisch für die Möglichkeit des Ausschlusses von Arbitrage in unvollständigen Märkten und damit für eine zumindest stochastisch verifizierbare Bestimmbarkeit der Effizienz ihrer Preise. Umgekehrt gesagt: Auf unvollständigen Märkten sind effiziente Preise zwar nicht eindeutig bestimmbar, aber es ist zumindest möglich, die Effizienz der Preisbildung durch Nachweis der Abwesenheit von Arbitragemöglichkeiten mathematisch zu belegen. Zum Nachweis einer solchen Abwesenheit genügt es, die negative Wertigkeit der Wertpapierpreise zu widerlegen bzw. eine Gleichung zu bilden, die eine solche Widerlegung zulässt.14
13 Jedoch ist es auch hier, d.h. unter Bedingungen nicht gegebener Redundanz möglich, bei der Preisbestimmung von Wertpapieren grundsätzlich nach redundanztheoretischen Gesichtspunkten vorzugehen, indem der Unterschied zwischen beiden nicht-redundanten Wertpapieren in einem Kontinuum zwischen »a super-replicating portfolio that outperforms the focus asset [die in Frage stehende Anlage, A.L.] in all scenarios and a subreplicating portfolio that performs worse than the focus asset in all states« lokalisiert wird (ýerný 2009: 40). 14 Ohne hier in die mathematischen Details gehen zu können, lautet das Grundargument, dass ineinander replizierbare Portfolios auch dann, wenn sich diese Replizierbarkeit aufgrund unvollständiger Märkte nicht hundertprozentig, d.h. durch eine Identitätsgleichung abbilden lässt, bei Abwesenheit von Arbitragemöglichkeiten zueinander nicht in ein Verhältnis der Umkehrung oder Gegenläufigkeit treten können (was mathematisch zu einem negativen Vorzeichen führen würde). Dies würde, anders und mit Blick auf die Zukunftsorientierung der Finanzmärkte gesagt, einem risikolosen Portfolio mit negativem Wert in t1 und einem mindestens neutralen oder aber positiven Wert in t2 entsprechen, was wiederum einem sofortigen Profit gleichkäme (Joshi 2003: 26).
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Die Modellierung von Arbitrage des zweiten Typs ist somit ein zentrales Argument für die Berechenbarkeit effizienter Preise, oder zumindest einer effizienten Preisspanne, auch unter Bedingungen unvollständiger Märkte. Hierin ist, so meine Diagnose, eine Aktualisierung der Funktion der Arbitragetheorie bei der Aufrechterhaltung der efficient market hypothesis festzustellen. Arbitrage bürgt nicht nur für die Realität informationseffizienter Märkte durch das Argument, dass sich bietende Arbitragemöglichkeiten sofort ausgeglichen und damit eliminiert werden, sondern auch für die Möglichkeit, Märkte und Rahmenbedingungen für mathematisch rationale Marktentscheidungen in ineffizienten, unvollständigen Märkten zu modellieren. Dabei ist es bezeichnend, dass die Arbitrage des zweiten Typusތ, die innerhalb eines ineffizient gepreisten Anlageuniversums operiert und bei der Aufrechterhaltung mathematischer Modellierungen auch unter Bedingungen unvollständiger Märkte die wichtigere ist, mit einem Zeithorizont der Gegenwart operiert. Denn sie besteht nicht darin, dass die Anlagekosten gleichgehalten und die Gewinnaussichten verbessert werden (wie bei Typ 1), sondern darin, dass Gewinne momentan realisiert und das Zukunftsrisiko gleichgehalten wird. Man kann zu der Auffassung gelangen, dass die Aktualisierung der Arbitragetheorie für unvollständige Märkte, wie sie ýerný darlegt, durch Grundaxiome der mathematischen Finanzmodellierung gedeckt ist.15 Denn diese geht davon aus, wie einem anderen Lehrbuch zu entnehmen ist (Joshi 2003), dass es durch die Modellierung von Arbitrage möglich wird, effiziente Preise für Finanzmarktprodukte (etwa Optionen) zu bestimmen, ohne sich auf den möglichen zukünftigen Wert der Produkte beziehen zu müssen. Dies geschieht, indem das in Frage stehende Produkt in Teilkomponenten zerlegt wird, deren Preise bekannt sind. Umgekehrt ist es möglich, aus solchen Teilkomponenten weitere Produkte zu synthetisieren (dies entspricht der »Replizierbarkeit« der Produkte). Ein Beispiel: Der Preis eines corporate bond – einer Mischform zwischen Aktie und Staatsanleihe, bei der der Besitzer garantierte Dividenden erhält, aber nicht an Kursgewinnen partizipiert und zugleich ein Ausfallrisiko durch möglichen Bankrott trägt – ist zusammengesetzt aus dem Preis für eine risikofreie Anleihe und dem Preis
15 Tatsächlich war bereits Ross (1978: 459) davon ausgegangen, dass auch auf unvollständigen Märkten die Grundaxiome des Verfahrens der Bestimmung effizienter Preise durch Ausschluss von Arbitrage gelten.
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für eine Kreditausfallversicherung (credit default swap). Letztere wiederum ist synthetisiert aus Preisen für (riskante) Unternehmensanteile und dem Preis für einen Leerverkauf risikoloser Anleihen (Joshi 2003: 21f.). Sobald nun ausgeschlossen werden kann, dass es Arbitragemöglichkeiten gibt, kann auf der Grundlage der bekannten Preise der Komponenten der effiziente Preis eines Produkts, das sich aus ihnen zusammensetzt, in der Gegenwart bestimmt werden. Die Aktualisierung der Arbitragetheorie für unvollständige Märkte besteht also im Wesentlichen darin, dass ihre argumentative Grundgeste – Ausschluss von Arbitrage ermöglicht die Bildung effizienter Preise auf der Grundlage der wechselseitigen Replizier- und Synthetisierbarkeit von Finanzmarktprodukten – dadurch an ein unvollständiges Marktumfeld angepasst wird, dass Arbitrage zwar nur mehr die Bildung einer Preisspanne zulässt, dennoch aber über den Ausschlusstest den Nachweis von Preiseffizienz ermöglicht – und damit die Bestimmung solcher Preise in der Gegenwart selbst für Produkte, deren Wesen darin besteht, Zukunftsrisiken aufzuweisen. Dies relativiert in drastischer Weise die Brauchbarkeit oder Notwendigkeit der Kategorie der Erwartung oder irgendeiner Kategorie, die sich auf die Zukunft richtet: »Arbitrage can price various simple contracts precisely in a way that allows for no doubt in the price, and the price is independent of our views on how asset prices will evolve« (Joshi 2003: 26).
4. Konjunkturen von Temporalität im Diskurs der Finanzökonomik Die hier gemachten Ausführungen beruhen auf dem Ansatz, Finanzmarktdiskurse als Teile finanzmarktlicher Problematiken zu begreifen und auf diese Weise die Diskussion um die Performativität der Finanzmärkte aus einer neuen Perspektive anzugehen. Akademisches Wissen über Finanzmärkte befindet sich, so haben die Social Studies of Finance argumentiert, nicht primär in einem Korrespondenzverhältnis zur finanzmarktlichen Realität, sondern geht in diese konstitutiv ein. Der hier vorgeschlagene Ansatz geht, diese Position nuancierend und fortschreibend, davon aus, dass jenes Wissen seinerseits bereits eine Bearbeitungsform finanzwirtschaftlicher Problemlagen darstellt und als solche ein wichtiges Archiv für die »Artikulation« – im Sinne von Äußerung wie von Darstellung – solcher Problemlagen ist. Beispiele
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hierfür sind die Mikrofundierung der Allgemeinen Ökonomik in den 1970er Jahren, die als Folge der Kritik an der allein sich auf aggregierte Daten beziehende Ökonomik paradigmatisch wurde (Abschnitt 2), sowie die Fokussierung des Forschungsinteresses auf Preisbestimmung in unvollständigen Märkten, die mit der Subprime-Krise Virulenz gewann (Abschnitt 3). Die Kategorie der »Erwartung« hat bei der Artikulation solcher Problemlagen über weite Teile des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt, denn mit ihrer Hilfe wurde es möglich, die für Finanzmärkte konstitutive Ungewissheit bezüglich der Preise von morgen bereits im Heute modellierbar und berechenbar zu machen. Die Allgemeine Ökonomik, die die Unterscheidung von Finanz- und Nicht-Finanzwirtschaft nicht akzeptiert, postuliert ein allgemeines Handlungsmodell, das auf dem Konzept der rationalen Erwartungen fußt. Dabei machte sie die genuin finanzmarktliche Preisbildung zum regelgebenden Beispiel, das half, die Theorie rationaler Erwartungen gegen immer neue Wellen triftiger Kritiken zu verteidigen, die darlegten, warum die Rationalitätsannahme(n) wissenschaftlich unhaltbar sind. Zurzeit besteht die Kernstrategie der Allgemeinen Ökonomik darin, zwischen der Mikro- und der Aggregatebene zu unterscheiden und auf diese Weise die modellhafte Unterstellung von Erwartungsrationalität zu rechtfertigen, selbst wenn es ontologisch eine solche Rationalität allenfalls als Grenzfall gibt. Auf diese Weise kann sie ihr eigenes Modell als allgemeines Handlungsmodell aufrechterhalten. Die Finanzökonomik hingegen geht andere Wege, da sie zunehmend davon absieht, allgemeine Unterstellungen oder selbst Modellannahmen zur Erwartungsrationalität von Finanzmarktakteuren zu formulieren und sich bei der Bestimmung angemessener Preise für Wertpapiere stattdessen auf die Rationalität des Marktes selbst konzentriert. Die Bewegung hin zur Arbitragetheorie und weg von der Erwartungsnutzentheorie als Fundament finanzmarktlicher Modellierungen macht den Markt selbst zum Sitz von Rationalität. Denn nun muss das Problem der Handlungskoordination unter Bedingungen von Ungewissheit nicht mehr gelöst werden, weil der Markt selbst den ersten Handlungszug macht, indem er eine Preisineffizienz präsentiert, die dann durch Arbitrage geschlossen werden kann – und deren Abwesenheit im Umkehrschluss für die Gangbarkeit mathematischer Modellierungen bei der Preisbestimmung bürgt. Diese Modellierungen benötigen weder einen verallgemeinerbaren Akteursbegriff (noch nicht
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einmal auf der Modellebene) noch einen Erwartungsbegriff, weil die Modellierung des Marktes und seiner Preisbildung eine der Gegenwärtigkeit ist. Daher ist davon auszugehen, dass die post-neoklassische Finanzökonomik – möglicherweise im Zusammenhang mit vollständig automatisierten Handelsroutinen im »algorhythmischen« Finanzhandel – Zukünftigkeit als Fluchtpunkt ihrer Modellierung, und damit auch die Kategorie der Erwartung, bereits verabschiedet hat.16 Auf welche Weise und wann sich dies auch im öffentlichen Diskurs widerspiegeln wird, wo jene Kategorie noch fortlebt und, wie es scheint, eher von psychologischen als von finanzökonometrischen Bezugnahmen geprägt ist, bleibt abzuwarten.
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16 Dies trifft zumindest auf den akademischen Diskurs der mathematischen Finanzökonomik zu, die gegenwärtig für zunehmend automatisierte Handelssysteme immer wichtiger wird. Eine Verbindung zwischen Arbitragetheorie, die allein im Horizont der Gegenwart operiert, und der Kategorie der Erwartung i.S. einer Antizipation empirischer Risiken findet sich indes in »theoretisierten« Diskursen, welche sich an Praktiker richten, die mit der Zusammenstellung von Portfolios unter Bedingungen empirischer Risiken befasst sind, findet sich etwa bei Roll/Ross (1988).
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ÖKONOMISCHE REPRÄSENTATIONEN UND DIE ARBEIT AN DER D ARSTELLUNG
Börsenturbulenzen Die Medialität der Finanzmärkte R AMON R EICHERT »The stock market is the barometer of the country’s, and even of the world's business and the theory shows how to read it.« William P. Hamilton, The Stock Market Barometer, 1922
1. Einleitung Am 26. Mai 1896 erinnerte sich Charles H. Dow an ein Rechenverfahren zur Vorhersage von Aktienkursen, das er bereits im Juli 1884 ausprobiert hatte.1 Für die Nachmittagsausgabe seines Börsenblattes »The Wall Street Journal«2 addierte er die Kurse von zwölf bedeutenden Unternehmen und berechnete daraus einen Durchschnittswert, der an diesem Tag bei 40,94 Punkten lag. Die von Dow seit dem 8. Juli 1889 herausgegebene Börsenzeitung handelte mit Finanznachrichten – handgeschriebenen Nachrichten für die Broker, die von Eilboten im Wall-Street-Bezirk verteilt wurden. Diese News wurden »Flimsies« 1
Am 26. Mai 1896 wurde erstmals der Dow Jones Industrial Average veröffentlicht. Er umfasste 12 Industrie-Aktien und sollte die veränderten Wirtschaftstrukturen auf übersichtlichere Weise abbilden. Die 12 Gesellschaften des Industrial Average wurden 1928 auf 30 erweitert, und diese Anzahl hat bis heute Bestand (Bishop 1960: 34).
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Als junger Mann kam Dow im Jahr 1879 nach New York und arbeitete als Reporter bei der Kiernan News Agency. Diese Agentur für Finanznachrichten hatte sich seit geraumer Zeit auf die Zusammenstellung von Börsennachrichten für Banken und Maklerbüros spezialisiert. Nur fünf Jahre später machte sich Dow selbständig und gründete gemeinsam mit Edward D. Jones und Charles M. Bergstresser eine eigene Nachrichtenagentur mit dem Namen Dow Jones & Company.
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genannt; dünne, mit Kohlepapier vervielfältigte Zettelchen aus besonders leichtem Papier. Überzeugt davon, dass der Markt wie eine Art kollektives Gedächtnis fungieren müsse, von dem man nicht nur vergangene, sondern auch zukünftige Kursentwicklungen ablesen könne, entwickelte Dow seinen Index, der den Markt in seiner Gesamtheit darstellen sollte. Auf einen einzigen Blick sollte er alle relevanten Börsentransaktionen der Vergangenheit im Überblick zu erkennen geben.3 Dows Index trat mit dem Anspruch an, weit mehr als eine gewöhnliche Börsennachricht zu sein. Mit der Analyse ökonomischer Prozesse konstituierte er ein neues Kalkül des Finanzmarktwissens, ein Referenz- und Basiswissen, das als Argument und Grenze gegen das periodisch auftretende speculation craze aufgestellt wurde.4 Die als Dow-Theorie bekannte Analyse von Aktienkursbewegungen wurde in Form einer 255 Artikel umfassenden Kolumne im Wall Street Journal der Jahre 1900 bis 1902 abgedruckt und von seinem Nachfolger William Peter Hamilton in dem 1922 erschienenen Buch
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Diese Annahme Dows entspricht der grundlegenden Prämisse der Technischen Analyse, wonach der Markt jeden bekannten Faktor im Kurs reflektiert. Die technische Analyse, d.h. die Beurteilung und Prognose von Börsenkursen und verschiedenen Kennzahlen, geht auf Charles Dow und Edward Jones zurück, nach denen auch der Dow Jones-Index benannt ist. Bis heute gelten die Dow Jones-Indikatorzahlen als einer der wichtigsten Referenzwerte für generelle Markttrends der Weltwirtschaft.
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Über das Phänomen des »Spekulationsfiebers« schreibt Karl Marx: »Was die gegenwärtige Periode der Spekulation in Europa kennzeichnet, ist die Allgemeinheit des Fiebers. Auch früher hat es Spekulationsfieber gegeben – um Getreide, Eisenbahnen, Bergwerke, Banken und Baumwollspinnereien – kurz, Spekulationsfieber jeder möglichen Art. Doch wenn auch während der großen Handelskrisen von 1817, 1825, 1836, 1847/48 jeder Zweig der Industrie und des Handels betroffen war, eine Manie herrschte vor, die jeder Zeit ihren bestimmten Charakter verlieh. Obgleich alle Zweige der Wirtschaft vom Geist der Spekulation durchdrungen waren, beschränkte sich doch jeder Spekulant auf seine Branche. Hingegen ist das herrschende Prinzip des Crédit mobilier, des Trägers der gegenwärtigen Manie, nicht die Spekulation auf einem gegebenen Gebiet, sondern die Spekulation an sich und die allgemeine Ausbreitung des Schwindels in dem gleichen Maße, wie ihn die Gesellschaft zentralisiert« (Marx 1961 [1856]: 49).
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The Stock Market Barometer. A Study of Its Forecast Value Based on Charles H. Dows Theory of the Price Movement in der uns bekannten heutigen Form der Dow-Theorie zusammengefasst.5 Im Mittelpunkt des Buches steht die Ableitung von Vorhersagen über den zukünftigen Kursverlauf von Wertpapier, Börsenindizes oder sonstigen Finanzhandelsobjekten. In der medialen Öffentlichkeit dient die Außendarstellung der Börse zur ökonomischen Selbstvergewisserung: Sie firmiert als ein Spiegel der allgemeinen Wirtschaftslage und ist ein privilegierter Ort ökonomischer Sinnstiftung. In diesem Sinn ist sie Gegenstand populärer Aufmerksamkeit und popularisierender Diskurse, die ihr bestimmte Außenwirkungen – etwa als ein Gradmesser der konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft und der sozialen Wohlfahrt – zuschreiben. Mit der gesellschaftlichen Institutionalisierung der Börse rückt sie als Medium des Wirtschaftssystems in das Blickfeld popularisierender Diskurse (Stäheli 2007). Im Rahmen ihrer Medialisierung bleibt sie jedoch auch immer mit zielgruppenspezifischen Repräsentationsformen des ökonomischen Sprachgebrauchs untrennbar verbunden. So erfasst der Gebrauch von popularisierenden Mechanismus- und Organismus-Metaphern auch die mediale Darstellung des Börsengeschehens. Der Gebrauch von Metaphern ist nach Hans Blumenbergs Metapherntheorie nicht als eine primitive Vorstufe des rationalen Denkens, sondern als Versuch zu verstehen, sprachliche Formen, Stile und Bilder für Frage- und Problemstellungen zu entwickeln, die nicht in einer begrifflichen Wissensbildung aufzulösen sind (Blumenberg 1960). Wie kann vor diesem Hintergrund ein Zugang zum Finanzmarktwissen entwickelt werden, dem es vor allem darum gehen soll, das Finanzhandeln als Resultat metaphorischer Bedeutungsproduktion, medialer Dispositive und historischer Konjunkturen zu beschreiben?
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Das Buch ist eine systematisierende Zusammenfassung der Erkenntnisse von Charles Dow, Edward Jones und Samuel A. Nelson. Ein Jahr nach Dows Tod wählte Samuel A. Nelson fünfzehn Artikel von Dow für sein Buch »The ABC of Stock Speculation« (1903) aus, wobei er dessen Beobachtungen kommentierte und erstmals den Begriff »Dow Theory« verwendete (Bartz 2009).
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2. Der Aktienmarkt als Barometer Zur populären Plausibilisierung künftiger Entwicklungen auf den Finanzmärkten benutzte Hamilton die technische Metapher des Barometers6. Aufgrund seiner Verwendung zur Vorhersage des Wetters bezeichnet Hamilton auch andere Prognoseinstrumente des Börsengeschehens umgangssprachlich als »Barometer« und umschreibt mit der Metapher vom Börsenbarometer die Vorhersage von Aktienkursen. Im Unterschied zum Thermometer, das bloß gegenwartsbezogene Zustandsgrößen abbilden könne, liefere seiner Ansicht nach das Barometer prognostische Messwerte: »Das Thermometer misst die aktuelle Temperatur – so wie der Ticker die aktuellen Kurse angibt. Die maßgebliche Aufgabe eines Barometers dagegen ist die Prognose. Genau darin liegt sein besonderer Wert und auch der Wert der Dow’schen Theorie. Der Aktienmarkt ist das Barometer der Volks- und sogar der Weltwirtschaft, und die Theorie zeigt auf, wie es abzulesen ist« (Hamilton 1999: 65).
Hamilton zufolge gibt das Barometer die maßgeblichen Markttrends – das sind die primären Auf- oder Abwärtsschwingungen, die sekundären Reaktionen (Rallye) und die täglichen Fluktuationen – zu erkennen. Die Beobachtermetapher des Barometers stützt Hamilton auf die Annahme, dass der Preis der Aktien selbst der regulierende Faktor ist, über den sich der Markt und damit das Verhältnis von Angebot und Nachfrage organisiert. Seine Konstruktion unterstellt hiermit, dass jede Preisfeststellung eine Zahlung ist und somit wieder auf Preise und Preisfeststellungen zurückwirkt. Dabei gilt der Preis als diejenige Information, die Rückmeldung über Wirkungsvorgänge im System liefert und diese Wirkungen zugleich bewirkt. Die Instrumentenmetapher des Barometers (hierzu wissenschaftsgeschichtlich Middleton 2002) impliziert auf den ersten Blick eine klare und eindeutige Lesbarkeit der Kursentwicklungen an der Börse. Sie signalisiert auch eine Regelung und Kontrolle der Abläufe an der Börse. Der metaphorische Sprachgebrauch vom Börsenbarometer zielt 6
Der Begriff »Barometer« wurde 1665/1666 durch den irischen Naturforscher Robert Boyle etabliert. Er leitet sich vom griechischen báros »Schwere, Gewicht« und métron »Maß« ab und steht für die Messung des Gewichtes der Luft.
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mit dem technischen Bild der Mess- und Kontrollierbarkeit der Finanzmärkte auf die Herstellung sowohl faktischer als auch erklärender Evidenz. Andererseits muss aber auch eingeräumt werden, dass die Barometer-Metapher kein ausgeglichenes oder konstantes Optimum abbilden kann, sondern auf beständige Regressionen und Progressionen verweist und damit auf eine Art schwingender Bewegung als grundlegende Form ökonomischer Regelmäßigkeit. Hamilton war aber keineswegs der erste Ökonom, der das Finanzmarktwissen mittels physikalischer Messinstrumente beschrieb. So erschloss man bereits im 17. Jahrhundert zur Sichtbarmachung unsichtbarer Finanzmarkttransaktionen mit Hilfe von Wissensapparaten und Mediendiskursen einen technologieinduzierten Wahrnehmungsraum. In diesem Zusammenhang erfüllten spezifische Wissenstechniken wie z.B. graphische Tabellen, welche die Börsenentwicklungen chronologisch und hierarchisch gegliedert darstellen, eine wichtige Funktion: Sie bildeten den Finanzmarkt nicht als deterministisches Zwangsverhältnis von Sachverhalt und Entscheidungswissen ab, sondern etablierten pragmatische Fragestellungen nach den prozeduralen Techniken des Finanzmarktwissens als Vehikel für die empirisch-gegenständliche Anwendung einer primordialen Orientierung der gelesenen »Stellen«, »Positionen« und »Verhältnisse« – ohne jedoch das Problem des Raumes als Bedingung oder Mittel der Erkenntnis zu bedenken zu geben. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Messgeräte wie das Barometer (stock barometer) und der Kompass (stock compass) in wachsendem Maße zu populären Medien der Außendarstellung von Börsen.7 Warum aber konnten diese beiden Messgeräte so rasch zu Standarddarstellungen des Börsengeschehens aufsteigen? Einen ersten
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Der hier verwendete Medienbegriff verortet sich in den neueren Konzeptionen zur Medienkulturtheorie, wie sie etwa von der Medienwissenschaftlerin Sybille Krämer programmatisch vertreten wird: »Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns und Kommunizierens prägt [...] Medialität drückt aus, dass unser Weltverhältnis und damit alle unsere Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender [...] Funktion geprägt sind von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien öffnen, und den Beschränkungen, die sie dabei auferlegen« (Krämer 1998: 14f).
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Hinweis liefert die materielle Kultur der Instrumente. Denn das Barometer und der Kompass waren geläufige Dinge des Alltagslebens. Sie waren den meisten vertraut und wurden auf den ersten Blick verstanden. Die mit dem Börsenbarometer sich ankündigende Meterologisierung der Finanzmärkte reagiert auf das Problem, dass seinen Beobachtern oft keine (oder nur wenige) feste und sichtbare Anhaltspunkte zur Verfügung stehen. Messinstrumente, wie etwa das Barometer oder der Hygrometer, produzierten eine Serie von Daten, mit denen sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die entstehende Meteorologie als statistisches Erhebungsprogramm etablierte: Die Luftströmungen konnten zwar mit Hilfe der Messgeräte gemessen und dargestellt, aber nicht ergründet werden. So steht die Luft als die Versinnbildlichung des Nicht-Festen für das Bodenlose und Schwankende der unwägbaren Kursentwicklungen; zugleich plausibilisiert sie die Entwicklung des Neuen und steht für die Vorstellung von endlosen Spielräumen der Börsenspekulation. Indem die Barometer-Metapher etwa von Hamilton wörtlich genommen wurde, konnte in diesem Zusammenhang die Börse als eine Art zentrale Messstation wirtschaftlicher Aktivitäten geltend gemacht werden. In den breit gestreuten Mediendiskursen zur Meteorologie der Märkte galt für ihn die Börse als Barometer für die allgemeine ›Wirtschaftslage‹ mit ihren Auswirkungen auf die politische ›Wetterlage‹. Ein Messinstrument wie das Barometer hatte aber nicht nur eine metaphorische, sondern auch eine explikative Funktion. Mit dem von Charles J. Bullock (1869-1941) und Warren M. Persons (1878-1937) entwickelten Drei-Kurven-Börsenbarometer wurde 1918 erstmals der Versuch unternommen, die empirischen Untersuchungen zur gesamtwirtschaftlichen Konjunktur in einem Kurvendiagramm zur Zeitmodellierung von Finanzmarktentwicklungen abzubilden. Die Entwicklung des Börsenbarometers verdankt sich dem gestiegenen Wissensbedarf nach der Modellierung von Zeit in der Markt- und Konjunkturtheorie nach dem Ersten Weltkrieg: »In dieser Zeit wurden in vielen Ländern Konjunkturforschungsinstitute gegründet, von denen die meisten heute noch bestehen […] In den Vereinigten Staaten war schon 1917 von Bullock und Persons das Harvard University Commitee for Economic Research gegründet worden, das das erste wissenschaftlich anerkannte Konjunkturforschungsinstitut der Welt darstellte« (Schohl 1999: 3).
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Im Jahre 1919 begannen Bullock und Persons in der Review of Economic Statistics mit der Veröffentlichung des sogenannten HarvardBarometers, das in regelmäßigen Abständen über die ›Wetterlage‹ an den US-Börsen informieren sollte. Die Grundidee dieses Konjunkturbarometers war, mehrere statistische Reihen von empirischen Daten in einem Diagramm abzubilden, die für den Konjunkturverlauf als besonders aussagekräftig angesehen wurden. Die von Bullock und Persons erhobenen statistischen Reihen wurden in drei Gruppen zusammengefasst und repräsentierten den Effekten-, Waren- und Geldmarkt (drei Teilindexe). Die grafische Repräsentation der Konjunkturdaten überlagerte diese drei Kurven, aus deren Phasendifferenz die Ökonomen eine spezifische Vorhersage ableiteten. Allerdings wurden in die Errechnung des Konjunkturindikators nicht die Entwicklung der Löhne und des Konsums oder Angaben zur Arbeitslosigkeit mit einbezogen. Das gesamte erste Heft der Review of Economic Statistics war dem prognostischen Diskurs umfangreicher Konjunkturanalysen vorbehalten (Persons 1919: 5ff.). Diese prognostische Konzeption ökonomischer Prozesse hat bis heute Gültigkeit und prägt das metaphernreiche Zukunftswissen im Finanzmarktjournalismus. Seither werden immer wieder Großwetterlagen zur Beschreibung von Finanzmarktaktivitäten geltend gemacht. So herrscht in finanzwirtschaftlichen Prosperitätsphasen ein »Hochdruck«, der sich in einem komplexitätsreduzierenden »Hoch« der Kurse niederschlägt, währenddessen wirtschaftliche Krisenzeiten als »Tiefdruckzone« ausgewiesen werden. Mit der Veröffentlichung und Anwendung des Harvard-Börsenbarometers haben sich die Verfahren und die Techniken, hypothetisches und unsicheres Wissen der Zukunft zu generieren, verschoben. Medien wie das Barometer haben die Wahrnehmungs- und Diskursräume des Zukünftigen ermöglicht – daher kann das Wissen von der Zukunft immer auch als medial bedingt in den Blick genommen werden. Wenn Medien spezifische Repräsentationen des Zukünftigen erzeugen, dann kann die Frage aufgeworfen werden, wo der blinde Fleck im Mediengebrauch des Zukünftigen liegen könnte? Und schließlich: Inwiefern entfalten die Medien Formen des Regierens der Zukunft? Mit der neoliberalen Umgestaltung der Finanzmärkte und der Börsenderegulierung in den 1980er Jahren haben Naturmetaphern erneut Konjunktur. Wie Jakob Tanner in seiner Untersuchung zur
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visuellen Finanzmarktmodellierung festhält, soll die Verwendung von Naturmetaphern die politische Dimension der Märkte verschleiern und einen verhaltensmoderierenden Wahrnehmungsraum des Ökonomischen herstellen: »So bietet zum Beispiel eine amerikanische Firma seit einigen Jahren heat maps an, die Börsennotierungen rund um die Welt auf eine Art 'Wetterkarte' übertragen und mit denen es möglich ist, die Großwetterlage auf den erdumspannenden Devisen- und Kapitalmärkten zu visualisieren. Kurs- und Volumenbewegungen, Markt- und Kreditrisiken, Kursstürze und Arbitragemöglichkeiten werden in verschiedenen Farbtönen dargestellt; Topmanager sollen jederzeit wissen, wie es mit dem Barometer steht – und so ein Bericht über dieses Informationsinstrument – ›am Morgen auf einen Blick erkennen können, ob sich über Nacht ein Tiefdruckgebiet aufgebaut hat oder gar ein Sturm aufzieht‹ « (Tanner 2002: 145).
Meteorologische Figuren haben in der medialen Beobachtung von Finanzmärkten also eine spezifische Funktion, indem sie versuchen, durch Vereinfachung komplexe Sachverhalte auf einen Blick darstellbar zu machen. Die Übertragung des meteorologischen Wissens auf Prozesse der Finanzmarktspekulation verweist auf die Vorherrschaft von verhaltensmoderierenden, repräsentationalen und rhetorischen Funktionen von Visualisierungen, die Apparate und Technologien genauso einschließt wie Institutionen, symbolische Formen oder konkrete Darstellungsformen. Technische Bilder, wie etwa das Börsenbarometer und alltägliche Visualisierungstechniken wie die Infografiken (Bartz 2007: 269ff.) sind maßgeblich an der Formierung, Strukturierung und Produktion von Finanzmarktwissen beteiligt und können als Armaturen individueller und kollektiver Deutungen sowie als Dispositive des Wissens in ihrer historischen Genese untersucht werden.8 Sie schaffen die medialen Infrastrukturen, die Nachrichten- und Informationssysteme der Finanzmarkttransaktionen und ermöglichen darüber hinaus die Kodierung historischer Prozess- und Ereignishaftigkeit selbst. Diese visuelle Kultur der Börse dauert bis heute an: Die Wissensmedien ›Kurve‹ und ›Chart‹ gelten nach wie vor als sensible »Barometer« der Wirtschaftslage. In ihrer Eigenschaft als Beobach-
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Zur Kulturgeschichte der technischen Analyse von Aktienindizes Tanner (2002: 129ff.).
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tungs- und Steuerungsinstrumente produzieren sie neue Sichtbarkeitsordnungen und sensorielles Wissen als Entscheidungsgrundlage für die Spekulation. Obwohl sich Finanzmärkte als äußerst irreguläre Phänomene präsentieren, die durch Zufallsbildung entstehen und im Grunde nicht als Objekt existieren, gesteht man ihnen einen umfassenden Einfluss auf die soziale, politische und ökonomische Ordnung zu: »Finanzmärkte sind die Maschinen, in denen sich ein Großteil menschlicher Wohlfahrt entscheidet« (Mandelbrot/Hudson 2007: 347). Mit der Transformation der Finanzmärkte zu rechnergestützten Systemen prägt heute der algorithmische Computerhandel die Dynamik von Aktienmarkt und Wertpapierhandel. Dies hat dazu geführt, dass die gigantischen Datenmengen der Finanzprodukte, Derivate und Transaktionen in ihrer manuellen Lesbarkeit bedroht sind. Gerade weil heute der automatisierte Börsenhandel mehr als die Hälfte der Transaktionen abwickelt: Die Finanzmärkte bleiben schwierige Objekte (Arnoldi 2006: 381ff.). Sie präsentieren sich den Marktbeobachtern als instabile zeitliche Objekte, die in ihrer irreversiblen Veränderlichkeit und Singularität nur in der Zeitdauer existieren. Folglich können sie gar keinen Gegenstand repräsentieren, sondern verweisen vielmehr auf ein Werden, das sie zu einem Ereignis an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit werden lässt. In diesem Sinne zeigen sich die Finanzmärkte nur als »grenzwahrnehmbar«, denn sie sind zugleich in einem simultanen Werden und Verschwinden begriffen und entziehen sich somit einer klaren und eindeutigen Wahrnehmbarkeit. In der deutschen Übersetzung trägt William Hamiltons Buch über die Grundsätze der Dow Theory – bis heute – den Titel Der ultimative Börsenkompass und signalisiert damit, dass es den Leser durch die Unwägbarkeiten der Finanzmarktspekulation manövrieren könne. Andererseits basiert sein Wissen der Finanzmärkte auf prognostischen Erwartungen und muss daher einräumen, dass den Marktbeobachtern oft keine (oder nur wenige) feste und sichtbare Anhaltspunkte zur Verfügung stehen. Der häufige Gebrauch von Navigationsmetaphern verstärkt diese Sichtweise. Die Charakterisierung der Börse durch Instrumente wie Barometer, Kompass, Seismograph, Thermometer und Indikator verweist auf den Umstand, dass Börsen eine öffentliche Plattform für Parallelentwicklungen in anderen sozialen Ordnungen darstellen und damit einflussreiche gesellschaftliche Effekte hervorbringen.
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Die Vorstellung einer Kursveränderung in der Zeit veranschaulicht räumliche Bewegungs- oder Navigationsmetaphern, die hauptsächlich mit dem Bild des Kompasses abgerufen werden. In seiner metaphorischen Verwendung suggeriert der Börsenkompass eine zielgerichtete Standort- und Routenbestimmung der Kursentwicklungen auf den Finanzmärkten. Die im Buch häufig aufgerufene Kompass-Metapher adressiert folglich einen Spekulanten, der, ausgerüstet mit den technischen Medien der Moderne, versucht, die unberechenbaren Unsicherheiten des Marktes in den modernen Traum von der Berechen- und Beherrschbarkeit der Welt zu transformieren. Im folgenden Abschnitt soll nun aufgezeigt werden, dass die anhaltende Konjunktur atmosphärischer Diskurse im Finanzmarktwissen auf eine vielschichtige epistemische Verflechtung zwischen Ökonomie und Meteorologie verweist. 3. Turbulenzen »Die neuesten Entwicklungen in der Finanzmarktkrise haben an der Wall Street heftige Turbulenzen ausgelöst.« Der Spiegel, 17. September 2008 »The post 9/11 global economy is a new and turbulent system; vastly more flexible, resilient, open, self-directing, and fast-changing than it was even twenty years ago.« Alan Greenspan, The Age of Turbulence 2008
Die geläufige Redefigur von den »Turbulenzen an der Börse« verweist auf eine ungeahnte Mehrdeutigkeit. Bekanntlich zählen meteorologische Metaphern nicht nur bis heute zum standardisierten Repertoire der Ökonomie und des ökonomischen Journalismus( ތKlamer/Leonard 2000: 20ff.); die Börsenturbulenz wurde vielmehr zu einer Art »master metaphor« (Henderson 1982: 148), die gemeinsam mit weiteren meteorologischen Metaphern einen Assoziationsraum eröffnet, in dessen Zentrum Bilder unkontrollierbarer Finanzmärkte stehen, die in einem gewissen Gegensatz zum Barometer stehen, das Kontrolle über vorhersagbare Ereignisse impliziert. Die ›Turbulenz‹ ist zur populären Beobachtermetapher aufgestiegen und benennt eine auffällige Unordnung von Aktienkursen. Die Turbulenz-Metapher und die mit ihr zusammenhängenden rhetorischen Figuren bleiben jedoch vage, indem sie der Preis- und Kursbildung an den Börsen jegliche Intentionalität und Finalität absprechen und dadurch Ereignisse konstruieren, die
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unabhängig von menschlichem Handeln auf Finanzmärkte einwirken (White 2004: 71ff.). Dass bestimmte Dynamiken an den Finanzmärkten mit der Metaphorik der Meteorologie beschrieben werden, ist seit langem bekannt und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen.9 Sie zeigen, dass die ökonomische Theorie, der Finanzjournalismus und die Populärkultur von Themen, Konzepten und Metaphern aus wissenschaftlichen Diskursen und Repräsentationen geprägt sind. Weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass sich in der jüngeren Gegenwart eine Turbulenztheorie der Finanzmärkte etablieren konnte, die eine Ähnlichkeit zwischen turbulenten Strömungen und dem Finanzmarktgeschehen postuliert. Turbulenzdiskurse der Börse gehen dabei von der Annahme aus, dass die Dynamiken der Kurzzeitschwankungen mit alltäglichen Phänomenen der Turbulenz, die etwa beim Kochen von Wasser oder beim Entstehen von Windböen auftreten, verglichen werden können. In anderen Risikomodellierungen interpretiert die statistische Finanzdatenforschung die Krisensituationen der Börse als physikalisches Extremereignis und entdeckt dabei mathematische Gemeinsamkeiten zwischen Monsterwellen, Wirbelstürmen, Erdbeben, Kriegen und Börsenkrisen. In der physikalischen Strömungslehre bezeichnet der Begriff Turbulenz einen Zustand von Flüssigkeiten und Gasen mit statistisch ungeordnetem Charakter der Bahnen ihrer Teilchen. Diese Zwischenzustände sind auf alle Deregulierungserfahrungen anwendbar, die symbolisch gefasst werden können – entsprechend der Begriffsgeschichte der Turbulenz, die ihren Ausgangspunkt im 15. Jahrhundert hat und im 18. Jahrhundert mit einem Rekurs auf das lateinische Be-
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Zur Wirtschaftsgeschichte der Turbulenz-Metapher: »Anhand der Entwicklungsgeschichte der hydrodynamischen Studien über Turbulenzen lässt sich das illustrieren. Turbulenzen bieten sich als Analogie für Entwicklungsphänomene in der Wirtschaft geradezu an. Im 17. und 18. Jahrhundert studierten neben anderen Bernoulli und Euler viskosefreies laminares Fließen unter Idealbedingungen. Der Fluss wurde als kontinuierliche Bewegung dargestellt. Bei diesen ersten Gehversuchen der Forschung wurde das Auftreten neuer Phänomene und Fakten wie Turbulenz als relevante Frage an die Wissenschaft nicht gelten gelassen. Die Physik war zu dieser Zeit befasst mit geschlossenen Systemen und ihrer inneren Tendenz zum Gleichgewicht« (Louçâ 1998: 268).
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griffsfeld turbulentus, turba und turbo fortgeführt wird. Eng verwandt ist der Begriff der Turbulenz mit dem des Trubel (»Verwirrung« oder »Wirbel«), der – ehemals entlehnt aus dem Französischen – bis ins 19. Jahrhundert im Deutschen ebenso trouble hieß.10 In ihren Untersuchungen versuchen die Turbulenzforscher – das sind Physiker, Mathematiker und Statistiker – Gemeinsamkeiten zwischen den Kursentwicklungen an Devisenmärkten und den Geschwindigkeitsverteilungen in turbulenten Strömungen herauszufinden. Die Wissensbasis der physikalischen Turbulenzforschung enthält explizites Wissen und stellt die Grundlage für die Sammlung von Informationen dar, mit der Organisationen der Wertpapierbranche (Banken, Börsen und Broker) ihr Gebrauchswissen für Marktteilnehmer verfügbar machen. Turbulenzen sind nicht nur als chaotisches Phänomen interessant, sondern auch als Metapher für die Beziehung zwischen chaotischen und sich selbst organisierenden Vorgängen, wie sie typisch sind für zahlreiche Phänomene in der Natur. So vergleicht etwa der dänische Geophysiker Per Bak den Kursrutsch an den Börsen mit dem Abgang von Sandlawinen (Bak 1996). Andere Physiker, angeführt von Rosario N. Mantegna von der Università di Palermo und Eugene H. Stanley von der University of Boston, untersuchen Strukturähnlichkeiten zwischen Kursentwicklungen und dem Verhalten von Flugzeugtragflächen innerhalb einer turbulenten Luftströmung (Mantegna/ Stanley 1996: 587f.). Die finanziell hochdotierten Forscherteams operieren mit Skalengesetzen und Potenzverteilungen, die der Begründer der Chaostheorie Benoît Mandelbrot seinerzeit verwendete, um die Ausdehnung von Küstenlinien, die Oberfläche von Blumenkohl oder die Schwankungen der Wechselkurse von US-Dollar und Euro zu erforschen. Ein zentrales Problem in der statistischen Beschreibung aller untersuchten Systeme ist das Auftreten anormaler Wahrscheinlichkeiten, das meint die untypische und unerwartete Abweichung von einem regelgeleiteten Verlauf. Um zu verstehen, inwiefern extreme Kursschwankungen und spezifische Naturereignisse ähnliche Charakteristiken aufweisen, muss aus der Sicht der Turbulenztheoretiker herausgefunden werden, was der Grund für das weit verbreitete Auf-
10 Auch die Krise verweist auf einen Bewegungsvorgang und leitet sich vom griechischen Begriff krínein ab, der den Vorgang des Scheidens und des Trennens bezeichnet. Sie stammt aus der Medizin und bezeichnete zuerst entscheidende Punkte im Krankheitsverlauf.
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treten von Potenzverteilungen (relative/kumulative Häufigkeiten, Häufigkeiten von Ereignissen der Größe X) sei. Die physikalischen Phänomene und die Börsendynamik weisen eine ausschlaggebende Gemeinsamkeit auf: Es sind unzählige Elemente in strukturellen Netzen miteinander verknüpft. Diese Phänomene mit multiplen Interaktionen lassen sich nur mit Potenzverteilungen beschreiben. Eine Aussage über die korrekte Verteilung von Kursschwankungen kann also nur dann erzielt werden, wenn auch die vielfachen Interaktionen zwischen den Investoren und den daraus resultierenden Verhaltensweisen berücksichtigt werden. Im Unterschied zur neoklassischen Finanzmarkttheorie, die repräsentative Individuen annimmt, die ihr Vermögen optimieren, modellieren Mantegna und Stanley die Marktteilnehmer als Agenten, die wie die Teilchen eines Gases interagieren und so ein bestimmtes Marktverhalten hervorbringen. Mit Computermodellen versuchen sie herauszufinden, ob sich Nachahmungs- und Herdentrieb, positive Rückkoppelung, Panikreaktionen und spontane Selbstorganisation mit Hilfe physikalischer Magnetmodelle darstellen lassen. Die Analysen der hier beschriebenen »Ökonophysiker« (siehe die richtungsweisende Monografie von Mantegna/Stanley 1999) basieren weitgehend auf den Methoden der statistischen Mechanik, die ursprünglich entwickelt worden war, um makroskopische Eigenschaften von Gasen wie Druck oder Temperatur auf das mikroskopische Verhalten der Atome und Moleküle zurückzuführen. Um das Verhalten von Märkten – genuin ein sozialwissenschaftliches Phänomen – zu studieren, werden Magnetmodelle verwendet. Sie veranschaulichen die wechselseitige Anziehungskraft der Teilchen/Akteure und sollen die Genese kollektiven Verhaltens plausibilisieren (Lux/Marchesi 1999: 498ff.). In diesen Versuchsanordnungen stehen die Teilchen für die Händler, die jeweils das machen, was andere Marktteilnehmer auch tun, bis eine neue Information auf den Markt kommt. Aus diesem Material der Versuchsanordnungen errechnet der Computer schließlich statistische Zeitreihen, die sich ähnlich verhalten wie Zeitreihen von Aktienindizes. Innerhalb dieser Zeitreihen interagieren viele Agenten nach möglichst einfachen Regeln. Manchmal treten dann kollektive Phänomene wie Panikreaktionen auf, die es in der rationalen Welt der klassischen Finanzmarkttheorie gar nicht geben sollte. So stellte sich bei den Simulationen heraus, dass Anlagestrategien, die in gewöhnlichen Zeiten nicht korreliert sind, in Krisenzeiten durch das ›irrationale‹ Verhalten der interagierenden Investoren stark zu korrelieren begin-
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nen. Mit zunehmender Volatilität werden Wertpapierbestände, die gut diversifiziert schienen, plötzlich anfällig und werden als Risikofaktor wahrgenommen. Die Entwicklung leistungsfähiger Computer hat jedoch nicht dazu beigetragen, die Komplexität der Finanzmärkte zu reduzieren (Voit 2001: 15f.). Im Gegenteil: Mit computergestützten Rechenanlagen können irreguläre Ereignisse selbst aus Systemen mit nur wenigen Freiheitsgraden heraus gerechnet und auf aussagekräftige Weise visualisiert werden. Somit umschreibt das semantische Feld der Turbulenz auch weiterhin das Unruhige und Mannigfaltige und meint damit auch eine empirische »Gegebenheit«, die sich dem wissenschaftlichen Blick immer wieder aufs Neue entzieht. Das visuelle Modell der Turbulenz bildet die Kaskade (Arneodo et al. 1998: 277ff.). Sie soll die modellhaften Bedingungen der Turbulenz demonstrieren: einen äußeren Antrieb auf großen Skalen, die Entstehung großer instabiler Wirbel und die Verzweigungslinien kleinerer Wirbel, die noch kleinere Wirbel erzeugen. Turbulenzen in Flüssigkeiten und Gasen werden bevorzugt im Kaskadenmodell als Beispiele für ausgedehnte nichtlineare Vorgänge behandelt: Sie treten erst auf, wenn ein bestimmter Parameter groß genug ist, dies ist die Rolle der sogenannten Verzweigungspunkte, der Aufzweigungen. Dieses Modell der Aufzweigungen bezieht sich nicht auf einen Raum für lineare und feste Dinge, sondern auf einen offenen Raum, in dem sich die Ereignisse und Strömungen verteilen. Das ist der Unterschied zwischen einem geschlossenen (metrischen oder gekerbten) Raum und einen offenen (topologischen oder glatten) Raum11 der Eventualitäten und Gelegenheiten: Im einen Fall zählt man den Raum, um ihn zu besetzen; im anderen navigiert man im Raum, ohne ihn zu zählen – ein turbulenter Raum ohne jede Einkerbung und Raster, der sich als permanentes Hinübergleiten von einer Seite zur anderen definiert. Die Kaskadenprozesse, welche die Energie in der Turbulenz von großen auf kleine Wirbel übertragen, haben nach Ansicht der Turbulenzforschung auch für die typischen Phänomene der Kurzzeitschwankungen am Finanzmarkt eine grundlegende Bedeutung: »Für die Finanzdaten ist folgendes Bild einer Transaktionskaskade nahe liegend: Die treibende Kraft sind große Aufträge wichtiger Kunden. Eine Bank in
11 Zur Definition des glatten Raums der Strömung Deleuze/Guattari (1997: 658f.).
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Deutschland beispielsweise, die eine große Menge (mehrere Hundert Millionen) US-Dollar gekauft hat, behält dieses Geld in der Regel nicht, sondern versucht aus Gründen der Risikominimierung, ihre Position glattzustellen, d.h. einen großen Teil des Geldes an andere Händler weiterzuverkaufen. Die anderen Händler verhalten sich ebenso. Dieses Verhalten führt unserer Ansicht nach zu einer Kaskade von Transaktionen« (Breymann et al. 1997: 340).
Heuristische Grundlage aller Kaskadenmodellierungen ist eine statistische Datenbank. Ein Computer errechnet die Statistik der Fluktuationen in bestimmten Zeitintervallen und definiert schließlich die Wahrscheinlichkeit für extreme Ereignisse. Diese kaskadenartigen respektive hierarchischen Prozesse in komplexen Systemen macht die Turbulenzforschung für die Ausbildung von extremen Ereignissen (z.B. einen Börsencrash) verantwortlich: »Aus diesem Ansatz heraus könnte man vermuten, dass die zurzeit auf Grund von Globalisierungstendenzen stattfindende, politisch immer weniger eingeschränkte weltweite Vernetzung von Märkten einen Einfluss auf die Statistiken unserer Gesellschaft hat« (Peinke et al. 2004: 18).
Die Turbulenzforscher geben sich also nicht damit zufrieden, mit ihren Modellen das statistische Verhalten von Finanzmärkten zu simulieren. Schließlich geht es ihnen darum, einen Beitrag zur verbesserten Risikoabschätzung anomaler Ereignisse zu leisten und Marktmodelle zu konzipieren, die in der Lage sein sollen, zukünftige Börsencrashs rechtzeitig vorherzusagen (Sornette 2003). Allenfalls bleibt das Modell der Turbulenz problematisch und lässt sich nicht in einem Theorem auflösen. Somit bleibt die Turbulenz eine problematische Grenzfigur des Wissens. Während das Theorem der rationalen Ordnung zugehörig ist, bleibt die Turbulenz ein planerisches Problem und zeigt als eine Grenzfigur des Wissens nicht nur die Veränderungen in den Konfigurationen der Finanzmärkte an, sondern bezieht sich auch immer auf diejenigen, die sich mit ihr befassen. Die Forscher können hier nicht durch Deduktion von einem beständigen Wesen zu Eigenschaften fortschreiten, sondern befinden sich im Raum der Möglichkeiten und Vielheiten, der sie immer wieder an zufällig auftretende Ereignisse verweist, die sich unaufhörlich aufzweigen. Es gibt hier alle möglichen Umwandlungen und Annäherungen an die
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Grenze; Arbeitsschritte, bei denen jede Figur eher ein Ereignis bezeichnet als ein Wesen. Da sich auch die Beobachter selbst an den schwankenden Erscheinungen der Finanzmärkte erproben, werden sie selbst in jene Schwebe versetzt, die ihnen mit den Turbulenzen und Blasen begegnen: »Betrachtet man einen turbulenten Fluss, wie er sich etwa bei einer Strömung aus einer Düse ergibt, so erkennt man leicht die komplexe Unordnung, die hier auftritt. Der Idealfall, dass man die Bewegung jeder Einzelheit in der Strömung wissen und verstehen will, stellt sich nach kurzer Überlegung als illusorisch heraus. Um etwa 1 Meter der Strömung aus Abbildung 1 zu erfassen, müsste man die lokale Geschwindigkeit in alle drei Raumrichtungen an 1010 Stellen, dies sind 10.000.000.000 oder 10 Milliarden Stellen, erfassen und hätte damit die Strömung nur zu einem einzigen Zeitpunkt erfasst. Auch wenn es mit modernen Computern prinzipiell möglich sein sollte, so viele Daten zu speichern, stellt sich die Frage, was hieraus an Erkenntnis gewonnen werden kann« (Peinke et al. 2004: 19).
Die Finanzmärkte konfrontieren sie mit einem Phänomen, das nicht nur die Annahmen geordneter und kontinuierlicher Entwicklungen unterminiert, sondern sich insgesamt durch ein unklares Verhältnis von Ursache und Wirkung darbietet. Turbulenzen und Blasen sind mit den Standardverfahren der ökonomischen Statistik nicht zu erfassen. Die üblichen Verfahren der statistischen Berechnung von Devisenmärkten gehen davon aus, dass auch die größte Blase lediglich exponentiell wächst wie eine Geldanlage mit festem Zinssatz. In der finanzmathematischen Turbulenzforschung hat man hingegen die These aufgestellt, dass Blasen stets überexponentiell wachsen (Sornette et al. 2009). Ähnlichkeiten zwischen der Unordnung in turbulenten Strömungen und im Finanzmarktgeschehen werden auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen vorgestellt. Eine stochastische Analyse der Märkte privilegiert eine statistische Datensammlung, die weniger die Gründe von Ereignissen, sondern vielmehr Ereignisserien verzeichnet. Die Hypothese unbeständiger Märkte verfügt darum über ein Verfahren, das unabänderlichen Erkenntnissen systematisch misstraut. In dieser Hinsicht werden Finanzmärkte zu einem hypothetischen Objekt, das nur noch mögliche Regeln einschließt. Das Diktum von den »Turbulenzen am Finanzmarkt« ist mehr als nur eine populäre Metapher. Das Ungeordnete und Improvisierte wiederholt sich in den
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wissenschaftlichen Diskursen über die Devisenmärkte, die mit ihren hypothetischen Aktivitäten selbst in die Schwebe geraten. 4. Zusammenfassung und Ausblick Heute wird der Handel mit Futures und Optionen mehrheitlich über computerisierte Börsen abgewickelt. Ihr herausragendes Charakteristikum sind hohe Transaktionsgeschwindigkeiten. Nach der Beendigung des Bretton-Woods-Abkommens und der Freigabe der Wechselkurse im Jahre 1973 sind die Devisenmärkte zu einem weltweiten Markt zusammengewachsen, dessen Teilnehmer über ein globales Datennetz miteinander verbunden sind. Neue Kursnotierungen treffen im Sekundenrhythmus ein und stehen nahezu in Echtzeit den Marktteilnehmern zur Verfügung. Gehandelt wird per Telefon oder per Computer, und so vergeht oft nur sehr kurze Zeit vom Entschluss eines Händlers bis zur Ausführung einer Transaktion. Im computerisierten Futures-Handel (etrading) liegen die Latenzzeiten (order latency) derzeitig im unteren Bereich von 5 bis 35 Millisekunden. Datentechnisch sind den einzelnen Computerbörsen weltweit eine Vielzahl von Handelsterminals (user devices) über eigene Benutzerschnittstellen angeschlossen, die allesamt nach einheitlichem technischen Standard arbeiten. In Anbetracht der Forschung und Entwicklung im Bereich der computertechnischen Marktorganisationsformen ist bereits heute absehbar, dass sich die einzelnen Börsenhandelsplätze in Richtung eines weltumspannenden Terminmarkts bewegen werden, in dem internationale Investoren – ungeachtet unterschiedlicher Zeitzonen – in der Lage sein werden, über dezentrale Terminals (access point) standortunabhängig mit Hilfe eines ausschließlich auf Computerbasis arbeitenden Kommunikationssystems, und einem dadurch ermöglichten Marktzugang, ohne Schließzeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit Handel zu treiben. Die Verbreitung virtueller Finanznetzwerke verweist darauf, wie unsicher, notorisch schwankend und unzuverlässig das Terrain der Spekulation geworden ist und dass diese Unschärfe mit der ständigen Bewegung zu tun hat, in welche die Finanzmärkte die Apparate ihrer Kontrolle zu versetzen imstande sind. Kann es grundsätzlich und prinzipiell gelingen, einen analytischen Referenzraum zu konstruieren, in dem die unendlich vielen geringen Verschiedenheiten der Kursbewegungen, die kontinuierlichen Übergänge und die lückenhaften Kausalketten der Finanzströme in einem System stabiler und diskreter Unterscheidungen restlos aufeinander
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verpflichtet sind?12 Es zeichnet sich hier eine semiotische Problemlage ab, die die Bezeichnungsrelation auf dezidierte Weise gefährdet und für eine unaufhebbare referentielle Verwirrung sorgt, die sowohl in der Wahrscheinlichkeitsbetrachtung der Finanzstochastik als auch in der populären Metaphorik der Finanzpresse mit dem Begriff der Turbulenz gekennzeichnet wird. Hochgradig volatile Finanzmärkte werden häufig mit einer Semantik reiner Aktivität beschrieben. Dabei versuchen vitalistische Finanzmarktdiskurse, die unkörperlichen Wirkungen der Transferdynamik zu beschreiben und favorisieren dabei infinitive und partizipiale Verbformen, wenn etwa der Finanzmarkt von einem ›Geldstrom‹ oder einer ›Liquiditätswelle‹ erfasst wird. Als ein Aggregat diskursiver, medialer, visueller und technischer Prozeduren muss das Marktgeschehen in erster Linie als ein Prozess verstanden werden, der keinen Ursprung, kein Objekt und kein Ziel kennt. Dementsprechend erweist sich das Finanzmarktwissen als ein aggregatähnliches Wissen, das kein diskursives Zentrum erzeugt und einem empirischen Umherirren gleicht. Da es den Ereignissen auf den Märkten kein Ziel zuordnen kann, bleibt es einer Strategie ohne Finalität verhaftet. Diese Blickweise legt eine stochastische Interpretation der Märkte nahe: Akausalität und Regellosigkeit aller Vorgänge an der Börse erscheinen dem meteorologischen Blickregime der Unschärfe als angemessene Beschreibungen des Ganzen. Mit diesen Bildern wird jedoch nichts erklärt; sie verdunkeln vielmehr grundlegende Zusammenhänge und erschweren mögliche Antworten auf die Frage, wie die globalen Finanzmärkte zu regulieren wären. Erst vor diesem Hintergrund kann verständlich werden, warum die Metapher der Ströme die Dynamisierung der Beschreibungssprache bislang konkurrenzlos geprägt hat. In diesem Zusammenhang haben zahlreiche Studien bereits auf die Dynamisierung der Beschreibungssprache in der Finanzpresse hingewiesen und die diskursiven Strategien und Effekten der Eingrenzung und Entgrenzung von Krisen untersucht (etwa Heidenreich/Heidenreich 2008). Diese meteorologischen Metaphern haben auf maßgebliche Weise die Physikalisierung der Ökonomie ermöglicht. In diesem Zusam-
12 Zu den Diskursen der Sinnstiftung, die versuchen, den Markt innerhalb interpretatorischer Rahmen zu situieren, exemplarisch die soziologische Untersuchung von Langenohl (2007: 7ff.).
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menhang fungiert die Metapher des Börsenbarometers als ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Sprechens über Finanzmärkte und liefert Hinweise auf ihren konzeptionellen Aufbau. Daraus kann die These abgeleitet werden, dass der metaphorische Sprachgebrauch der Börse auch einen bestimmten Einfluss auf das finanzmarktliche Handeln selbst besitzt. In dieser Hinsicht firmieren das Barometer und der Kompass nicht bloß als Metaphern einer an der populären Außendarstellung interessierten Finanzmarktkommunikation, sondern eröffnen vielmehr einen heuristischen Einblick in die Struktur und Organisation des innerbörslichen Finanzmarktwissens.
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Die Hervorbringung des Kalküls Zur Praxis der Finanzmathematik
H ERBERT K ALTHOFF UND J ENS M AESSE »Kein noch so kühner mathematischer Zaubertrick kann Unsicherheit in Gewissheit verwandeln, auch wenn die Anziehungskraft der Techniken für statistisches Schließen zum guten Teil auf derartig große Erwartungen zurückzuführen sind.« (Gerd Gigerenzer et al. 1999)
1. Einleitung In modernen Gesellschaften gibt es wohl nur noch wenige Bereiche, die nicht auf die eine oder andere Weise kalkulativ durchdrungen sind. Von Globalhaushalten öffentlicher Institutionen über Punktwerte bei der Berechnung ärztlicher Honorare in der gesetzlichen Krankenversicherung bis hin zu curricularen Normwerten in den Universitäten – viele Dimensionen des Sozialen sind berechenbar – zumindest hat sich diese Idee in vielen gesellschaftlichen Feldern durchgesetzt. Moderne Gesellschaften sind – so kann man es formulieren – Accounting Societies, in denen die Berechnung einer Vielzahl sozialer Phänomene und die Rationalität des Berechnens zu Wesensmerkmalen geworden sind. Nun hat die Soziologie trotz des frühen Hinweises Max Webers (1985 [1922]: 48ff.) zur Bedeutung der doppelten Buchführung für wirtschaftliches Handeln das soziale Phänomen der (ökonomischen) Kalkulation eher randständig behandelt. In den Werken soziologischer Klassiker findet sich daher auch kein Entwurf einer Soziologie des Rechnens oder der (angewandten) Mathematik. Diese frühe Zurückhaltung ist darauf zurückzuführen, dass in der Berechnung kein soziologisch erforschbarer Kern bestimmbar schien; sie galt vielmehr als ra-
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tionale Form sui generis. Diese Haltung geht insbesondere auch auf Karl Mannheim (1995) zurück, der den arithmetischen Ausdruck »2 x 2 = 4« als Paradigma einer seinsungebundenen Wissensform bestimmte (1995 [1931]: 251, 256), einer Wissensform, die keiner weiteren soziologischen Erforschung bedürfe. Diese Position, die man als realistische Position bezeichnen kann, geriet nun zunächst nicht in der Soziologie, sondern insbesondere in der Mathematikphilosophie in den Verdacht, das komplexe Verhältnis von mathematischen Zeichen und den sozialen Phänomenen, die durch sie dargestellt werden, nicht adäquat fassen zu können. In der Philosophie der Mathematik werden Fragen nach der Aufgabe der Mathematik, nach ihrem Gegenstand, ihrer Beschaffenheit und ihrem Bezug zur empirischen Realität sowie nach den Kriterien, mit denen über die Wahrheit mathematischer Aussagen entschieden werden kann, höchst unterschiedlich beantwortet. So schreibt bspw. der mathematische Realismus den mathematischen Objekten eine von Zeit und Raum unabhängige Existenz zu; sie gehen der sozialen Erfahrung voraus (Brown 1999). Der Formalismus (David Hilbert) behauptet dagegen, dass mathematische Objekte willkürlich gebildete Abstraktionen sind und damit Begriffe, die auf Konventionen beruhen (Rheinwald 1984). Eine radikalere anti-realistische Position vertritt der Intuitionismus (L.E.J. Brouwer), dem zufolge mathematische Objekte nicht entdeckt und bezeichnet, sondern durch die Mathematik überhaupt erst erzeugt werden (Mehrtens 1990). Dieser Position widerspricht der Logizismus (Bertrand Russell, Gottlob Frege), der mathematische Sätze als Erläuterungsurteile und damit als analytische Sätze behandelt, mit denen grundsätzlich keine neue Erkenntnis formulierbar ist: Die Mathematik sagt nichts über die Gegenstände selbst aus, sondern nur über die Form, wie über sie mathematisch gesprochen werden kann (Shapiro 2000; Falkenburg 1994). Deutlich werden ein Nebeneinander unterschiedlicher Positionen und damit Heterogenität, Polyphonie und Unabgeschlossenheit. Neuere soziologische Studien zeigen ferner, dass die mathematische Kultur auch nicht auf den Beweis als ihr Kernstück reduzierbar ist. Der Beweis übernimmt zwar sowohl eine kommunikative als auch eine Darstellungsfunktion (Heintz 2000), aber weder ist er vollständig formalisierbar, noch lässt sich von einer Beweiskultur sprechen. Die Arbeiten Ludwig Wittgensteins (1984) enthalten viele Facetten, Fragestellungen und Anspielungen, die hier nicht detailliert erör-
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tert werden können. Festgehalten sei: Wittgenstein betont, dass die Form, in der ein Kalkül durchgeführt wird, die Sichtweise konstituiert, mit der die Durchführung und das Ergebnis der Rechnung betrachtet werden (Wittgenstein 1984 [1952]: 325). Wittgenstein meint, dass die Wahrnehmung von Objekten durch ihre Berechnung fixiert und stabilisiert wird: Sie sind dann so, wie sie berechnet worden sind. Das bedeutet, dass der Sinn den Berechnungen selbst implementiert wird, denn das Sprachspiel Rechnen erschließt sich nur, wenn Rechnen selbst in irgendeiner Weise sinnvoll ist. Der Sinn des Rechnens ergibt sich aus der Richtigkeit des Kalküls, der Formel oder der Rechnung (Krämer 1988) sowie aus den Unterscheidungen, die es setzt. Rechnen ist zentral daran gebunden, dass Kategorien, die ordnen, klassifizieren und harmonisieren, Unterscheidungen operativ umsetzbar machen. Daher schreibt Paul Starr über die rechnerische Praxis: »There is no counting without categories« (Starr 1987: 43). Etwas berechnen können ist daran gebunden, dass das, was berechnet werden soll, als eine unterscheidende Kategorie etabliert ist (etwa »Arbeitslose« oder »Hispanics«) oder durch die Kalkulation in die Welt gesetzt wird. In der Soziologie der Mathematik sind drei Forschungsrichtungen einschlägig: (1) die wissenssoziologisch ausgerichteten Studien David Bloors, (2) die ethnomethodologisch orientierten Untersuchungen Eric Livingstons und (3) die empirisch-wissenschaftssoziologischen Analysen Bettina Heintz’. David Bloor (1973) betont die Gleichrangigkeit von mathematischer Beweisführung und anderen sozialen Institutionen und führt daher außermathematische Faktoren (bspw. Macht, Konventionen) zur Erklärung innermathematischer Mechanismen (etwa der Konsensfindung) an. Die Privilegierung sozialer Faktoren macht diese Dimension mathematischer Forschung verfügbar, reduziert zugleich aber auch die besonderen Phänomene der schriftlichen Formalisierung und ihrer Kommunikation auf die Kategorie des Interesses und der sozialen Position. Livingston (1986) erklärt die Logik mathematischer Beweisführung und ihre Kraft der Generalisierung dagegen durch eine Analyse der gelebten Praxis des Mathematisierens, aus der heraus ihre universelle Gültigkeit erklärt wird. In der Arbeit von Bettina Heintz (2000) wird die mathematische Forschung als eine epistemische Praxis analysiert, die unter anderem durch mediale Objekte, durch die Ästhetik des Beweises und durch Kooperationen gekennzeichnet ist, in der Vertrauen und Schriftlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Das besondere Problem für eine Soziologie der Mathematik besteht nach Heintz
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(2000: 233ff.) in der Kohärenz mathematischer Beweisführung – und damit in der epistemischen Sonderstellung der Mathematik als einer beweisenden Disziplin – und in der Form der mathematischen Problemlösung. Der soziologischen Forschung bieten sich demnach zwei Ansatzpunkte: Analyse erstens der Verfahren und Medien der Formalisierung und zweitens der Kommunikation als einer Vertrauenstechnologie (Porter 1995). Die angelsächsischen Accounting Studies erforschen das Phänomen, ökonomische Aktivitäten, Dinge oder Prozesse auf Zahlen, sogar auf eine Zahl zu reduzieren. Wie vielfältige historisch-soziologische Forschungen zeigen (Porter 1995), nehmen im Laufe des 18. Jahrhunderts Messungen in den Bereichen von Staat, Kirche und Administration zu; sie beziehen sich vor allem auf die Erfassung von Eigentum und Landesgröße, die Etablierung von Zeitrhythmen und die Durchsetzung von Maßeinheiten für Gewichte, Volumen und Längen. Desrosières (1993: 26ff.) zeigt, dass Standardisierung der Maßeinheiten und Vereinheitlichung der Produktkategorien Voraussetzungen dafür sind, dass sich Techniken etablieren können, die auf der Basis von Zahlen eine Beobachtung sozialer Prozesse ermöglichen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass soziale Phänomene kommensurabel gemacht, d.h. in Zahlen transformiert werden, und damit einen einheitlichen und verbindlichen Ausdruck erhalten; Kommensurabilität stellt – so die Annahme – Beziehungen zwischen Phänomenen her, die zuvor nicht existent waren (Espeland 2002). Verschiedene Studien zum wirtschaftlichen Rechnen zielen darauf ab, diese Effekte und Praktiken im Kontext der Rechnungslegung in verschiedenen Anwendungsfeldern zu erforschen (Mennicken 2002). In der soziologischen Forschung sind die hier nur skizzierten Ansätze auf sehr unterschiedliche Resonanz gestoßen. Beobachtet man die Wirtschafts- und Finanzsoziologie aus einer wissenssoziologischen Perspektive, dann treten drei Bereiche oder Zugangsweisen zum Phänomen des ökonomischen Rechnens und Modellierens hervor: (1) Es werden Funktionalität und Legitimation des Rechnens in verschiedenen sozialen Systemen sowie Verfahren und Prozesse analysiert, mit denen neue Kalkulationsmethoden durchgesetzt wurden und werden. Diese Arbeiten thematisieren, wie neue (oder andere) kalkulative Verfahren eingeführt und wie durch diese Einführung soziale (Sub-)Systeme rekonfiguriert werden. Man beobachtet u.a. die Dy-
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namik ihrer politischen Durchsetzung sowie die sozialen und disziplinarischen Effekte, die von diesen anderen Verfahren ausgehen.1 (2) Man beobachtet das symbolische Operieren mit mathematischen Zeichen und damit die Herstellung mathematischer Formeln, Gleichungen oder Zahlenwerke. Hier sucht die Forschung Antworten auf zwei Fragen: Wie werden diejenigen Tools erstellt, mit denen Finanzakteure operieren? Und wie werden diese Tools von den Finanzakteuren ihrerseits verwendet? Der Sinn des Rechnens wird hier an die Verwendung der mathematischen Schrift gekoppelt, mit der das Rechnen in eine Form gebracht, d.h. gerahmt wird, wobei die Rahmung als richtig und sinnvoll anerkannt sein muss. Die Verwendung formalmathematischer Regeln bestimmt also die Richtigkeit des Resultats, nicht seine Wahrheit. Die Richtigkeit des Kalküls, der Formel und der Rechnung existiert auch für die Bankwirtschaft und die Finanzmärkte: Und zwar sind dies die westlichen betriebswirtschaftlichen Standards, die festlegen, ob eine errechnete Zahl auch eine ›richtige Zahl‹ ist, mit der sinnvoll weitergerechnet werden kann (Vormbusch in diesem Band). (3) Weiterhin wird analytisch beschrieben, wie die Teilnehmer den ökonomischen Sinn und die ökonomische Bedeutung in den Ergebnissen lesen, die sie oft selbst erzeugt haben. Hier fokussiert die Forschung die interaktiven und kommunikativen Fixierungen des Sinns einer Berechnung und ihres Resultats und damit die Entscheidung über eine Investition. Dieser weitere Begriff des Rechnens ist u.a. von Martin Heidegger formuliert worden. Für ihn bedeutet kalkulieren nicht allein »etwas auf der Basis von Zahlzeichen zu berechnen«, sondern auch »mit etwas rechnen«: »Rechnen im weiten, wesentlichen Sinne meint: mit etwas rechnen, d.h. in Betracht ziehen, auf etwas rechnen, d.h. in Erwartung stellen« (Heidegger 2000a [1954]: 54). Es ist nach Heidegger ein rechnendes Denken, das auch »dann ein Rechnen [bleibt], wenn es nicht mit Zahlen operiert und keine Großrechenanlage in Gang setzt« (Heidegger 2000b [1959]: 12). Dieses »rechnende Denken« (Heidegger 2000b [1959]: 13) ist ein fortwährendes, nicht enden wollendes Berechnen der Möglichkeiten. Deutlich wird dieses
1
Zur Analyse kalkulativer Verfahren im Bildungssektor und im Gesundheitswesen siehe Lamont (2012), Pinch et al. (2000); zur Zirkulation (de-)regulierender Konzepte zwischen Ökonomie, Politik und Wissenschaften siehe Maeße (2012).
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rechnende Denken in der Bankwirtschaft und auf den Finanzmärkten immer dann, wenn die Zahlen, die die Akteure selbst mit ihren Tools berechnet oder als Information eingekauft haben, verstanden und interpretiert werden (Kalthoff 2011a, 2011b).2 Mit diesen drei Zugangsweisen ist – so die These – das Spektrum der wirtschafts- und finanzsoziologischen Forschung zum Phänomen der Kalkulation erfasst und umrissen. Die skizzierten Zugangsweisen stehen dabei nicht notwendig isoliert zueinander, können aber durchaus unterschiedlichen theoretischen und methodischen Perspektiven und Prämissen verpflichtet sein. Eine hohe strategische Relevanz für die Wirtschafts- und Finanzsoziologie besitzt die zweite Zugangsweise und damit die empirische Untersuchung der Herstellungs- und Verwendungspraktiken von formalen Modellen, Formeln und sogenannten »geschlossenen Lösungen«. Im Kontext der neuen Finanzsoziologie (Social Studies of Finance) ist es insbesondere Donald MacKenzie (2003, 2011), der die Herstellung und Implementierung mathematischer Berechnung am Beispiel der Option Pricing Theory aus einer historischen Perspektive erforscht hat. MacKenzie zeigt, wie die Entwicklung dieser Formel keinen festgelegten mathematischen Regeln, sondern den Regeln der bricolage und des tinkering folgt. Wir knüpfen in diesem Abschnitt an diese Studien an, verändern aber zugleich den Blickwinkel: Wir beobachten Finanzmathematiker nicht mehr historisch, sondern in ihrer gegenwärtigen Praxis, und wir wenden uns der finanzmathematischen Gestaltung eines Finanzproduktes zu, das bislang in der Soziologie wenig Beachtung gefunden hat, und zwar den Finanzderivaten. Hierzu zählen etwa Optionen und Futures, Credit Default Swaps (CDS) und Collateralized Debt Obligations (CDO). Wir konzentrieren uns dabei auf die finanzmathematische Konstruktion von CDOs. Hierhinter verbirgt sich eine finanz-
2
Heintz (2010: 177) zufolge rahmen »numerische Darstellungen« ihren Interpretationsspielraum; sie grenzen ihren Sinn durch diejenigen »Eigeneffekte« ein, die durch die Kommunikation in ihrem Medium entstehen. Wie nun verschiedene empirische Studien der neuen Finanzsoziologie zeigen, grenzt die ökonomische Repräsentation die Arbeit an ihre Auslegung gerade nicht ein. Entscheidend ist der Kommunikationsbegriff, den Heintz systemtheoretisch induziert, während die neue Finanzsoziologie eine praxistheoretische Perspektive verfolgt und dabei einen kulturtheoretischen Medienbegriff aufnimmt.
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technische Architektur, die es erlaubt, Schulden durch Verbriefung und Bündelung weiter zu veräußern. Sie werden durch Zweckgesellschaften aufgekauft, in drei Klassen (Tranchen) eingeteilt (Senior, Mezzanine, Equity) und von Ratingagenturen hinsichtlich ihrer Bonität eingestuft. Die Aufgabe der Finanzmathematiker ist es nun, Preise für diese Tranchen zu bestimmen. Wir beobachten und analysieren also eine Lebenswelt, von der Callon (1998) annimmt, dass sie die Welt der handelnden ökonomischen Akteure rahmt und festlegt. Der Text basiert auf qualitativen Interviews, die wir mit Mathematikern und Finanzmathematikern in verschiedenen Institutionen in Deutschland und der Schweiz durchgeführt haben. Er beruht ferner auf direkten Beobachtungen von Workshops und internen Kolloquien, an denen wir vereinzelt teilnehmen konnten.3 In einer finanzmathematischen Einrichtung, in der wir mehrere Interviews durchgeführt haben, sind die Büros um einen großen Gemeinschaftsraum angeordnet, in dem wichtige Interaktionsmaterialien, wie mehrere Whiteboards und ein interaktives Whiteboard, Sitzecken und Schränke mit Büchern und Fachzeitschriften angeordnet sind. Gelegentlich konnten Mathematiker an den Tafeln beobachtet werden, wie sie Formeln schreibend ein finanzmathematisches Problem erörterten (wie etwa das Auszahlungsprofil einer Option (Call): H = (Xt – K)+). In den Büros findet eine andere Denkarbeit statt, in deren Zentrum die Kommunikation individueller Akteure mit sich selbst und den mathematischen Zeichen steht, die sie mittels Software auf ihren RechnerBildschirmen produzieren. Zu den wichtigsten Arbeitsmaterialien der Finanzmathematiker zählen Computer, spezielle Software, Stift, Papier, Fachzeitschriften und Fachbücher. Um zu klären, um welche Produkte es sich hierbei handelt, erläutern wir in einem ersten Schritt das Produkt der Finanzderivate; im zweiten Schritt zeigen wir, wie Finanzmathematiker Kalkulationstools herstellen, die für die Berechnung der Preise von Kreditderivaten verwendet werden.
3
Die Interviews wurden von uns und Christian Borchers durchgeführt. Wir danken den Mathematikern und Finanzmathematikern, die sich unseren Fragen gestellt, sie geduldig beantwortet haben und die uns mit auf ihre Workshops und Tagungen genommen haben. Wir danken insbesondere einem Finanzmathematiker für seine kritische Lektüre unseres Textes.
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2. Ein Gefüge von Märkten Der Markt für Kredite ist das dritte Segment in einem verzahnten Gefüge von Märkten.4 Da sind zunächst die Märkte, auf denen die Akteure Güter und Dienstleistungen produzieren, tauschen und konsumieren. Man denke bspw. an den Immobilienmarkt, den Automobilmarkt, den Lebensmittelmarkt. In der (wissenschaftlichen) Debatte werden diese Märkte oft als »Realwirtschaft« bezeichnet (Huffschmid 2002). Damit Produktion, Distribution und Konsumption auf diesen Märkten auch vollzogen werden können, ist Liquidität notwendig. Sie wird u.a. durch Kredite sichergestellt, die von Unternehmen, die auf diesen Märkten tätig sind, auf dem Kreditmarkt erworben werden. Im Firmenkundengeschäft der Bankwirtschaft steht der Begriff »Kredit« nicht für einen Bar- oder Kontokorrentkredit, sondern für in der Regel komplexe Transaktionen auf den Finanzmärkten. Diese werden von den Banken auf die Geschäftserfordernisse der Firmenkunden zugeschnitten und dann operativ auf den Finanzmärkten umgesetzt. Aus Sicht der Bank sind diese Kredite Investitionen, die die Bank zu Mitspielern des Unternehmens machen (Kalthoff 2004). Der Kreditvergabe geht die Prüfung des Unternehmens voraus; geprüft werden die wirtschaftliche und finanzielle Lage sowie die Qualität des Managements. Diese ökonomische Prüfung hat die Funktion, den Sinn und die ökonomische Zeit der Investition zu klären sowie in Anlehnung an ökonomische Modelle die Fähigkeit des Unternehmens zu projizieren, den Kredit auch zurückzahlen zu können. Im Rahmen dieser ökonomischen Prüfung verständigen sich Risikoanalysten in mündlichen und schriftlichen Aushandlungen über von ihnen zuvor kalkulierte Kennzahlen (etwa Cashflow, Return on Investment, Ebitda) über die Marktsituation des Unternehmens und seiner Produkte sowie über die Qualität des Managements (Kalthoff 2005). Ein entscheidender Punkt ist, dass im herkömmlichen Kreditgeschäft das verliehene Kapital der Bank selbst nicht mehr zur Verfügung steht; die Schuld des Kreditnehmers ist vielmehr die Investition und das Risiko der Bank. Neben diesen beiden Marktformen etablierte sich in den 1990er Jahren eine dritte Marktform: der Markt für Kreditderivate. Im Gegensatz zum Markt der Kreditvergabe dient der Markt für Kreditderivate 4
Zu den Bemühungen der Wirtschaftssoziologie, eine Theorie der Märkte zu entwickeln, die an Begriffe und Konzepte der Allgemeinen Soziologie anschließen kann, siehe Beckert (2009).
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dem Handel mit Krediten, die Finanzinstitutionen bereits vergeben haben. Dieser Handel von Gläubigern mit der Schuld der Kreditnehmer, der außerbörslich erfolgt (sogenannte Over-the-Counter-Märkte), setzt neue Produkte voraus, generiert aber, wie wir noch zeigen werden, kaum überschaubare Risiken. Das Dilemma der Bank im klassischen Kreditgeschäft ist die Bindung von Kapital sowie das Risiko des Kreditausfalls. Banken können sich gegen diese Risiken nun auf dem Tertiärmarkt mit einer Kreditausfallversicherung mittels eines Credit Default Swap (CDS )ތabsichern. In diesem Fall kann die Bank den Kredit in der Bilanz behalten und ist gegen den Ausfall versichert. Eine andere Möglichkeit besteht darin, einzelne Kredite mit vielen anderen Krediten zu bündeln, diese über Zweckgesellschaften aus der Bankbilanz zu schaffen und schließlich weiterzuverkaufen. Durch diese Art der Verbriefung werden handelbare Wertpapiere erzeugt, die – am Markt platziert – der Bank nicht nur einen Teil ihrer Risiken abnehmen, sondern auch das Problem der Kapitalbindung lösen. Dient der CDS dem Handel mit Kreditrisiken, so dienen die Verbriefungen dem Handel mit den Krediten selbst. Dieser Markt für Kreditderivate stieg von knapp 1 Billion US-Dollar (Dezember 2001) auf 5,5 Billionen US-Dollar (Juni 2004); bis Mitte 2009 wurden in Europa Verbriefungen in Höhe von 171 Milliarden Euro durchgeführt, in Deutschland waren es ca. 19,5 Milliarden Euro (Mitte 2008: 7,7 Milliarden Euro).5 Entscheidend für die letzte Finanzmarktkrise ist hierbei, dass Forderungen an Dritte sowie Kreditrisiken immer weiterverkauft werden können: Collateralized Debt Obligations entstehen durch Bündelung dieser aus Verbriefungen hervorgegangenen Wertpapiere und aus Credit Default Swaps. Ein besonderes Kennzeichen dieser für die Bankund Finanzwirtschaft interessanten Instrumente ist nun, dass sie selbst nicht risikofrei sind, sondern eine eigene Risikostruktur ausbilden, die wiederum verbrieft und verkauft werden kann, aber auch komplexe mathematische Wahrscheinlichkeitsmodelle erforderlich macht.6 Zusammengefasst bedeutet dies: Eine Finanzinstitution bringt ihre Gläubiger-Position, die sie gegenüber ihren Kreditnehmern besitzt, auf den Markt, wobei die Schuld, die die Kreditnehmer gegenüber der
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http://www.kfw.de/kfw/de/KfW-Konzern/Kreditverbriefung/Europaeischer
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Im Zuge der Bankenkrise sind insbesondere CDOs in der öffentlichen Debat-
_Verbriefungsmarkt/index.jsp (22.05.2012). te heftig diskutiert worden, da sie als Ursache der Krise angesehen wurden.
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Finanzinstitution haben, nicht zu einer Last in den Bilanzen der Finanzinstitutionen wird, die obendrein noch abzusichern ist, sondern zu einem Produkt, mit dem weitere Gewinne erzielt werden können. Dies sind die sogenannten synthetischen CDOs: »[…] the creator sells a portfolio of credit default swaps to third parties. It then passes the default risk on to the synthetic CDO’s tranche holders« (Hull/White 2004: 9).
Die Schuld wird also »verbrieft«, d.h. umgewandelt in ein Produkt, gebündelt und nach bestimmten Regeln und Gewinnbeteiligungen verkauft. Hierzu gründen Finanzinstitutionen sogenannte Zweckgesellschaften (Special Purpose Vehicle), über die sie ihre Kreditforderungen auf den Markt bringen und veräußern. Dieses Prinzip der Umwandlung von Forderungen in Kapital führt dazu, dass die Akteure, die sich daran beteiligen, das Risiko nicht mehr unmittelbar bestimmen können. Bei den CDOs handelte es sich also um ein Produkt, mit dem Finanzakteure und Investoren mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen konnten: Verkauf der Schuld bei gleichzeitiger Verschiebung des Risikos an den nächsten Käufer sowie Gewinnerzielung durch Arbitrage (MacKenzie 2011). Diese Finanzinstrumente werfen für Wirtschaftsakteure, die mit ihnen Handel treiben, die Frage auf, auf welche Weise die verschiedenen Risiken, die auch diese Form der ökonomischen Transaktion beinhaltet, durch mathematische Modellierung bestimmbar gemacht werden können. Soziologisch stellt sich die Frage nach dem finanzmathematischen Wissen, das in die mathematische Konstruktion dieser Kreditderivate einfließt, um sie ökonomisch darstellen und umsetzen zu können. Welche Praktiken kommen hier zur Anwendung? 3. Die finanzmathematische Arbeit am Kalkül Unser Untersuchungsfall sind Finanzmathematiker, deren Aufgabe vor der Bankenkrise 2008/2009 darin bestand, Transaktionen und Risiken von Kreditderivaten zu modellieren und Gleichungen, in die sie »geschlossene Lösungen« integrieren, zur Berechnung von Preisen zu entwickeln. Da diese Kreditderivate gegenwärtig in Misskredit geraten sind und durch andere Produkte (vorläufig) abgelöst wurden, ist unsere Analyse auch die Analyse einer gerade vergangenen Episode. Dies wurde etwa in den Interviews deutlich: Manche Finanzmathematiker kramten in ihren alten Unterlagen, suchten in alten Files und mussten,
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um diese lesen zu können, ihre alten Programme aktualisieren. Also auch für sie eine zurückliegende Episode ihrer professionellen Lebenswelt. Einige Finanzmathematiker, mit denen wir sprachen, sind Angestellte einer privatwirtschaftlichen Einrichtung, die für Banken und Versicherungen Auftragsarbeiten erledigt. Idealtypisch kann man sich das Zusammenwirken von Finanzmarktakteuren und Finanzmathematikern als eine lineare Folge distinkter Operationen vorstellen: Auftragsvergabe durch die Finanzinstitution (1), Arbeit an der finanzmathematischen Konstruktion (2), Implementierung in die Software (3), technische und soziale Implementierung in der Bank (u.a. Testläufe, Schulung des Personals) (4) und Anwendung im operativen Geschäft (5). Die Berichte der Akteure legen dagegen ein eher zirkuläres Modell nahe, denn die verschiedenen Schritte sind nicht durchgehend als getrennte Einheiten in einem bestimmten Zeitraum abgeschlossen. In regelmäßigen Abständen finden etwa Gespräche zwischen Auftragnehmern und Auftraggebern statt, nämlich über den Fortgang der Entwicklung, über das, was machbar ist bzw. gewünscht wird. Finanzmathematische Institute erwirtschaften ihr Budget oft über Aufträge aus dem Finanzsektor. Dies geschieht in der Regel durch Ausschreibungen von Finanzinstitutionen, auf die sich finanzmathematische Institute bewerben und ihr Konzept vorstellen, oder durch andere, eher informelle Kontakte: Hierzu halten Finanzmathematiker Vorträge in entsprechenden Unternehmen, organisieren Fortbildungen für die Mitarbeiter dieser Unternehmen und erhalten auch spontane Anfragen von Finanzinstitutionen, die sich bspw. mit folgenden Fragen an Finanzmathematiker wenden. In den Worten eines Finanzmathematikers:7 Wir würden gerne das Kreditausfallrisiko von unserem Portfolio schätzen: Wie macht man das denn richtig? Was sollte man da denn machen? Wie bekommen wir denn die Zahl raus, die wir gerne zeigen möchten?
Darüber hinaus unterhalten die Institutionen Kooperationsverträge, mit denen Wirtschaftsunternehmen eine festgelegte Anzahl von Personentagen für finanzmathematische Beratungen sowie für die Behebung
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Wir verwenden folgende Transkriptionssymbole: FM: = Finanzmathematiker; […] = Auslassung in der Transkription; verwenden = starke Betonung.
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von Problemen buchen. Und schließlich akquiriert man Forschungsaufträge, »wo eben von vorneherein gar nicht klar ist, kommt das raus, was man will?« (Finanzmathematiker). Dabei sehen sich Finanzmathematiker mit verschiedenen Problemen konfrontiert, wie etwa fehlenden Daten: Wir hatten kürzlich ein Projekt, wo wir die Darlehensvergabe an Länder der Dritten Welt bewerten sollten. Das war sehr schwierig, da wir da nur wenige Vergleichsdaten hatten […] Da haben wir versucht, mit Statistik möglichst viele Faktoren einfließen zu lassen in die statistische Regression.
Ein Finanzmathematiker berichtete, dass sie die manchmal etwas hochfliegenden Pläne und Wünsche ihrer Auftraggeber relativieren müssten. Manchmal sei es auch so, dass eine Bank nicht genau wisse, was sie benötige, um Risiken darstellen zu können. Auch der andere Fall tritt ein: Finanzmathematiker erzeugen Formeln mit nicht plausiblen Lösungen. Hierzu ein weiterer Finanzmathematiker: Da kommen auch manchmal Schieflagen raus. Also z.B.: Wir hatten was entwickelt, wo der deutsche Staat sieben Prozent Zinsen hätte zahlen müssen, was er überhaupt nie tun würde (lacht). Und im Vergleich dazu, Aserbaidschan, zwei Prozent. Am Anfang passieren natürlich noch Fehler, die man nicht vermeiden kann. Wir dachten, es funktioniert, aber es funktionierte so nicht. Wir haben dann noch mal verhandelt.
Verhandeln heißt in diesen und ähnlichen Fällen, die Auftraggeber zu konsultieren, um das Ziel des Auftrags erneut zu bestimmen. Dies impliziert mitunter erste Ergebnisse, die schon auf der Grundlage ökonomischen Alltagswissens als nicht valide gelten. Dies bedeuted auch, dass die Modelle oder Gleichungen nicht vollständig deduziert werden können, sondern so erfunden werden müssen, dass sie als plausibel und realitätsmächtig anerkannt werden. In anderen Fällen ist eine regelmäßige Verständigung über den Fortgang des Projekts vereinbart. In einem Institut bekamen Auftraggeber das Modell am Whiteboard erläutert oder sie erhielten Testversionen der programmierten Software, um mit Beispielfällen vor Ort proben zu können. Das grundlegende Problem besteht für Finanzmathematiker darin, zunächst ein Modell zu entwickeln, das »intuitiv« ist. »Intuitiv« sein bedeutet, dass nicht zu viele Parameter in das Modell eingehen, die es komplizieren,
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sondern dass es »dazwischen« (Finanzmathematiker) liegt: nicht zu komplex und nicht zu einfach, sondern »etwas Handhabbares, was aber komplex genug ist« (Finanzmathematiker). Deutlich wird, dass sich Finanzmathematiker mit einer relativ offenen Situation und Erwartungen konfrontiert sehen, die durch kontinuierliche Interaktionen über Erwartungen, finanztechnische Machbarkeiten und operative Möglichkeiten der Finanzinstitution sowie durch Erproben von Lösungen geklärt werden. Dies gilt – so ein Finanzmathematiker – ganz besonders für Finanzinstitutionen, für die sie zum ersten Mal tätig werden. Mathematische Lösungen für ökonomische Transaktionen
Die Akteure, mit denen wir Interviews durchgeführt haben, modellieren verschiedene Produkte oder Transaktionen: Portfolio, Zinsderivate und Kreditderivate. Die Arbeit am Modell und an der Formel werden wir am Beispiel der Kreditderivate darstellen. Zwei Aussagen von Mathematikern zum allgemeinen Ausgangsproblem: Also die ursprüngliche Fragestellung, die man mal hatte, war die: Gegeben ist eine Aktie, darauf hatތs eine Option gegeben, wie finde ich den Optionspreis als Funktion der Aktie. Und heutzutage ist es so: Man hat immer noch zuunterst gewissermaßen eine Aktie, dann hat man darauf eine Menge von Optionen, das ist die mittlere Ebene. Und noch ein bisschen weiter oben gibtތs dann die komplizierten Derivate, exotische Optionen nennt sich das. Und heutzutage hat man eigentlich eher den Gesichtspunkt, dass man sagt: Sowohl die Aktie, die zugrunde liegt, als auch die einfachen Optionen dort sind schon Finanzinstrumente, die ein Eigenleben für sich haben. Die können aber natürlich nicht beliebig beschrieben werden, sondern da gibtތs, weil eben das eine von dem anderen abhängt, gewisse Zusammenhänge: Und eine interessante Frage ist: Wie finde ich ein gutes Modell, das diese Zusammenhänge auch respektiert. Und gut, das ist so eine Sache, wo wir im Moment dran arbeiten […] eine mathematische Beschreibung für dieses Problem zu finden, die einen gewissen Grad von Realismus hat, um das Ausgangsproblem zu beschreiben, die aber umgekehrt auch genügend idealisiert ist, damit man auch auf der mathematischen Seite gewisse Strukturen überhaupt sehen kann. Und da ist manchmal der Druck ein bisschen zu groß, um das wirklich sauber zu machen. Häufig ist es halt so, dass ich ein Anwendungsproblem habe. Ich sage: Hier ist die Frage. Ich brauche eine Lösung in drei Tagen. Und da ist dann die Frage: Wie gut kann ich das übersetzen, wie gut kann ich das lösen,
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wie gut kann ich es zurückübersetzen. Aber wenn das gemacht werden muss, dann wird man irgendwie etwas machen und dann werden eben die Formeln auftauchen.
Im ersten Interviewauszug wird eine Spannung artikuliert: zwischen praxistauglichen Modellen (Lösungen für die Praxis) einerseits und Aufgabe der Mathematik (Modell für die Mathematik) andererseits. Im zweiten Auszug wird diese Spannung zwischen angewandter und reiner Mathematik auf den Zeitdruck zurückgeführt, der durch die Finanzinstitutionen an die angewandte Finanzmathematik herangetragen wird. Das Ergebnis ist dann – in den Augen eines Mathematikers – ein »irgendwie«: Aus dieser Praxis des Irgendwie werden Formeln oder Gleichungen generiert. Was die finanzmathematische Konstruktion anbelangt, ist zunächst folgendes festzuhalten: Ein Finanzmathematiker sagte in einem Interview, dass CDOs auf »hochgradig nicht-linearen Gleichungen« basieren und es gibt nicht eine oder einige wenige Gleichungen, sondern gleich »hunderte«. Die Nichtlinearität zeigt an, dass das Produkt – mathematisch gesehen – nicht wirklich kontrollierbar und beherrschbar ist. Die Vielzahl von Gleichungen verweist dagegen auf mathematische Uneindeutigkeit und ein Selektionsproblem. Das Selektionsproblem lösen die Finanzmathematiker, mit denen wir sprachen, in der Regel durch Track Record und Routine: Gleichungen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, werden als Grundlage für weitere Arbeiten genommen. Ein wichtiger Aspekt der finanzmathematischen Konstruktion der CDOs ist die Festlegung ihrer Preise. In ökonomischen Theorien wird der Markt oft als ein Raum konzipiert, in dem u.a. Informationen über Produkte und ihre Marktchancen, über Unternehmen und ihre finanzielle Situation sowie über Branchen und ihre Zukunft zirkulieren und verhandelt werden. Diese Informationen spiegeln sich auf vielschichtige Weise in den Preisen wider (Cecchetti 2008). Die Mechanismen der Preisbildung gestalten sich im Falle der CDOs jedoch anders: Ihre Preise bilden sich in spezifisch kalkulierten Ausschüttungsverfahren, und nicht nur über den Mechanismus von Angebot und Nachfrage oder über interaktive Prozesse der Preisfindung wie auf den internationalen Devisenmärkten. Woran liegt dies? Dies liegt zum einen daran, dass der Zugang zu Informationen, Preisen etc. versperrt ist, da das Produkt selbst unübersichtlich geworden ist. In der Abbildung (siehe Abbil-
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dung 1) ist dieser Verbriefungsprozess anhand der Verbriefung von Ausfallversicherungen exemplarisch dargestellt. Das Prinzip der Kette von Kredit – Verbriefung – Verkauf sieht so aus: Von Finanzinstitutionen individuell vergebene Kredite werden an eine andere Finanzinstitution weiterverkauft, die diese Schulden dann »verbrieft«, also »forderungsbesichert« (Umwandlung in CDSs), und über eine eigens gegründete, aber ausgegliederte Zweckgesellschaft in einem Korb (»Basket«) von CDSs (und vergleichbaren Produkten) sammelt. Dieser Pool an in forderungsbesicherten Wertpapieren umgewandelte Schulden werden abhängig von der Bewertung des Unternehmens in drei Tranchen (Senior, Mezzanine, Equity) geordnet, denen unterschiedliche Risikopotentiale zugewiesen werden. Diese können wiederum an andere Investoren weiterverkauft, neu geordnet und wiederum weiterverkauft werden. Diese Struktur gleicht – metaphorisch formuliert – einer gestaffelten und nicht abgeschlossenen Kette von wechselnden und verschränkten Gläubiger- und Schuldnerverhältnissen. So lässt sich formulieren, dass auch Wissen darüber verloren geht, wer wem wieviel schuldet, denn Kreditderivate sehen keine Informationspflicht des Gläubigers vor, wenn Schuldnerpapiere weiter veräußert werden. Dies liegt zum anderen daran, dass aufgrund der verflochtenen Struktur von Gläubigern und Schuldner »zu viele Parameter (existieren), die sich mit anderen mischen« (Finanzmathematiker) und bei der finanzmathematischen Konstruktion berücksichtigt werden müssen. Bei Auktionen wisse man, so ein anderer Finanzmathematiker, »mein Preis ist so oder so. Bei CDOs kann man das nicht so sagen«. An dieser Stelle greifen Finanzmathematiker nun auf mathematische Methoden und Modelle aus der Wahrscheinlichkeitstheorie zurück, wie sie auch in anderen Wirtschaftsbereichen verwendet werden (etwa in der Telekommunikationsbranche, der Automobilindustrie oder der Versicherungswirtschaft). In der Telekommunikationsbranche dienen sie u.a. zur Steuerung von Netzen, in der Versicherungsbranche sind sie für die Darstellung von potentiellen Risiken durch Naturkatastrophen wichtig. Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein Instrument, mit dem man das Auftreten von Zufallsereignissen modelliert: So wird etwa auf der Grundlage bekannter Daten – d.h. Zeitpunkt und Umfang
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Abbildung 1: Schuldner-Gläubiger-Kette (eigene Darstellung)
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von Zahlungsausfällen eines Wertpapiers – die zukünftige Wahscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls in einer Gleichung zu fassen versucht (Wang et al. 2006; Buzková/Teplý 2012). Für Finanzmärkte sind insbesondere sogenannte »nicht-deterministische« Verfahren von Interesse, also Verfahren, mit denen man die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens eines spezifischen Ereignisses, wie bspw. den Ausfall eines Kredits, darstellen kann, ohne dieses Ereignis auf ein anderes zurückführen zu müssen oder zu können (wie bspw. das Wissen um die Kreditwürdigkeit eines Kreditnehmers). Ausgangspunkt der Finanzmathematiker ist damit ihr Nicht-Wissen, zu welchem Zeitpunkt ein ökonomisches Ereignis (etwa der Ausfall eines Kredits) stattfinden wird oder stattfinden könnte. Dieses Nicht-Wissen ist nicht dysfunktional, sondern Grundlage ökonomischer Repräsentationspraktiken, mit denen Zukunft kalkulierbar, gestaltbar und damit verfügbar gemacht werden soll. In diesem Zusammenhang ist die Finanzstochastik als eine Zufallswissenschaft wichtig, da sie mit mathematischen Methoden Wissen über den gegenwärtigen und zukünftigen Wert von Finanztiteln generiert. Die Preise, die berechnet werden, werden für die einzelnen Tranchen – Senior, Mezzanine, Equity – des CDOs ermittelt. Denn in der Regel kaufen sich Investoren über die unterschiedlichen Tranchen in ein CDO ein; diese Tranchen haben – zumindest in ihrem Design – eine unterschiedliche Risikostruktur. Die Equity-Tranche trägt die ersten Ausfälle, verspricht aber im Gegenzug die höchsten Zinsen auf das eingezahlte Eigenkapital. Wenn Equity ausgefallen ist, und damit auch keine Zinsen an Equity-Besitzer mehr gezahlt werden, trägt Mezzanine die dann anfallenden Ausfälle usw. Hierzu zwei Finanzmathematiker: Und da ist die Frage erst einmal: Was will die Bank? Und die Bank will in der Regel diese Preise von den verschiedenen Tranchen. Was wollen die von dem Modell? Wollen die nur einen Preis für das Produkt, wollen die einen extrem genauen Preis, wollen die noch andere Kennzahlen berechnen, die auch mit dem Produkt zu tun haben? Wenn sie nur einen ungefähren Preis wollen für das Produkt, dann wird man natürlich erst, um Zeitaufwand zu sparen, ein einfacheres Modell implementieren.
Deutlich wird in diesen Aussagen, dass »die Bank« keine Modellierung eines CDOs beauftragt hat, sondern ein numerisches Verfahren, mit dem ihre Händler »Preise« darstellen und bestimmen können. Da-
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bei ist die Zielvorgabe des Auftraggebers entscheidend für das Vorgehen der Finanzmathematiker: Sollen ungefähre Preise für die Tranchen ermittelbar sein, dann wird ein einfaches Modell (meist aus der Literatur) genommen und »implementiert«; sollen »extrem genaue Preise und andere Kennzahlen« (Finanzmathematiker) bestimmbar sein, dann suchen Finanzmathematiker nach komplexeren Modellen. Um den zukünftigen Preis zu finden, muss dargestellt werden, welche der in einem CDO gebündelten Kredite zu welchen Zeitpunkten ausfallen könnten und wie sich die Korrelation der ausfallenden Kredite untereinander gestaltet (MacKenzie 2011: 1800ff.). Die Herausforderung für die Finanzmathematik besteht nun darin, anhand von Daten, die sie von der Bank erhält oder die als Marktdaten verfügbar sind, eine Lösung zu finden, die den Händlern der Bank den Handel mit diesen Produkten erlaubt. Hierzu ein Finanzmathematiker: In allgemeinen Produkten, wo man verschiedene Wertpapiere hat, ist das erste, ist die erste Frage, die man beantworten muss: Was ist die Korrelation zu den Produkten? Oder, grob gesagt: Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Zum Beispiel hat man bei vielen CDOs Wertpapiere aus verschiedenen europäischen Ländern. Und da muss man sich tatsächlich eine Frage stellen: […] Was ist die Korrelation zwischen einem Ausfall von Lufthansa und einem Ausfall von Telekom Italia – was überhaupt nicht offensichtlich ist. Und das ist die erste Frage, die man sich stellen muss. Dann kommt man zu dem Schluss, dass man diese Frage gar nicht genau beantworten kann. Und dann schaut man sich das Produkt weiter an, und man hofft, dass man diese Frage gar nicht genau beantworten muss.
Die Finanzmathematiker interessierende Frage ist, ob im Falle eines Kreditausfalls weitere Kreditausfälle eintreten (oder nicht), ob also lineare oder nicht-lineare Prozesse die Ausfallwahrscheinlichkeiten und damit die Risikostruktur eines CDOs bestimmen. Diese (Nicht-)Linearität lässt sich nicht sicher beantworten, denn die Korrelationen sind »nicht offensichtlich«. Das bedeutet: Sie gehen aus den Unterlagen und den Marktdaten nicht hervor und können daher nur angenommen werden (oder nicht). Die Arbeit an der Lösung lässt sich nun in drei Arbeitsschritte einteilen: erstens das Produkt CDO analysieren und modellieren, zweitens das mathematische Modell mit Hilfe der Numerik transferieren und drittens entsprechende Software programmieren.
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Die Konstruktion der CDOs
Nach der Auftragsentgegennahme verfügt der Mathematiker über mehr oder weniger genaue Informationen über das zu modellierende CDO. Die wichtigsten Produktinformationen sind die Anzahl der enthaltenen Finanzprodukte (hypothekenbesicherte Wertpapiere, CDSs etc.), die jeweiligen Preise der CDSs, ihre Laufzeit und der Zinssatz. Allerdings unterscheiden sich die Informationen, die er von der Bank über die Produkte erhält, in ihrer Detailliertheit und Genauigkeit. Dies liegt daran, dass Informationen über die Anzahl der mit CDS besicherten Kredite eines CDO, das erst aufgelegt wird, zum Zeitpunkt der Modellierung kaum vorhanden sein können. Denn niemand weiß, welche Kredite in der Zukunft ausfallen werden. Wichtig ist dabei, folgende Ausgangsdifferenz im Blick zu behalten: Die Daten, die der Auftraggeber über die Basiswertpapiere des CDOs zur Verfügung stellt, geben Auskunft darüber, was »man machen kann«. Ein Teilnehmer sagte, dass er bei »statischen Daten« an ein »Copula-Modell8« denke, während man mit »dynamischen Daten« eine »Markov-Kette« modellieren könne. Statische Daten geben Auskunft über Preise oder Ausfallwahrscheinlichkeiten zu einem definierten Zeitpunkt, während dynamische Daten eine Zeitreihe abbilden – Preise zu verschiedenen Zeitpunkten. FM Man hat schon zwei ganz unterschiedliche Modelle […] Die beiden Modelle agglomerieren auf eine bestimmte Art und Weise. In dem MarkovModell sind die Daten, die aus verschiedenen Wertpapieren waren in dem CDO-Modell agglomeriert, als eine einzige Kette. In dem CopulaModell sind die agglomeriert als einzige Ausfallwahrscheinlichkeit. Allerdings kann man am Ende vom Copula-Modell leichter sagen, was wäre der Einfluss auf den Preis, wenn sich ein Eingabeparameter ändert. Bei dem Markov-Modell ist das schwieriger […] In beiden Modellen werden Sachen agglomeriert, zusammengefügt. Aber in dem einen Modell (Mar-
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»Gauß Copula« bezeichnet eine Gruppe von Modellen, mit denen die Ausfallrisiken der CDOs dargestellt werden können. Wichtig für die Entwicklung dieser wahrscheinlichkeitstheoretisch begründeten Modelle waren Oldrich Vasicek und David Li, deren Arbeiten in den 1980er und 1990er Jahren zu Standardmodellen der Risikokalkulation von CDOs avancierten (MacKenzie/Spears 2012).
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kov, HK/JM) entsteht am Ende so eine Brühe, aus der man nicht mehr sehen kann, was die einzelnen Teile sind, und bei dem anderen (Copula, HK/JM) ist das irgendwie noch unterscheidbar, was woher kommt. HK Und bei Copula ist das noch unterscheidbar? FM Bei dem Copula ist es besser unterscheidbar. Auch nicht mehr ganz, aber besser unterscheidbar. […] Im Markov-Modell ist das viel komplizierter. Deswegen muss man auch immer die Frage stellen, was will der Kunde am Ende haben. Weil man kann nicht aus jedem Modell jeden beliebigen Wert berechnen. Es gibt Modelle, die besser sind für die Preisberechnung, Modelle, die besser sind für die Deltaberechnung.
Deutlich wird in diesem Auszug das Wissen um die Funktions- und Wirkungsweise finanzmathematischer Modelle, deren Verwendungssinn aus den (vermuteten) Verwendungszielen der Kunden abgeleitet wird, wobei – wie dargelegt – die Auftraggeber (Kunden) von Finanzmathematikern über ihre (möglichen) Ziele beraten werden. Die Komplexität stochastischer Simulationen führt also dazu, Modellkomplexität, Umsetzungsaufwand und Ziele abzuwägen und Lösung zu finden, die für die Praxis der Auftraggeber trägt. Eine andere Finanzmathematikerin sagte zu einem anderen stochastischen Verfahren: »Monte Carlo ist schön, aber nicht einfach anzuwenden«. Hier wird die Relation von Aufwand und Nutzen zum Selektionskriterium für eine Gleichung, die für eine operative Praxis gefunden werden soll. Ganz grundlegend sehen sich Finanzmathematiker mit der Aufgabe konfrontiert, den Erwartungswert eines Risikos zu bestimmen; sie tun dies, indem sie die Wahrscheinlichkeit eines anzunehmenden Ereignisses (etwa Kreditausfall) und seinem Ergebniswert in Beziehung zueinander setzen (Gigerenzer et al. 1999: 257ff.). Dies geschieht auf der Basis statistischer Daten, die von Finanzmathematikern in statische und dynamische Daten unterschieden werden. Die Differenz von statischen und dynamischen Daten und ihrer Modellierungsmöglichkeiten besteht in der Zeitinformation einerseits und in den zentralen Parametern anderseits: Mit dynamischen Daten wird die Übergangsgeschwindigkeit in einem Markov-Modell dargestellt, den man sich vereinfacht als »Sterbeprozess« (Finanzmathematiker) vorstellen kann: Zunächst fällt Kredit A, dann Kredit B, dann Kredit C etc. aus. Die interessierende Leitfrage lautet hier: Lässt sich die Zeitfolge und die Intensität der verschiedenen Kreditausfälle wahrscheinlichkeitstheoretisch modellieren? Mit statischen Daten wird dagegen eine »Schranke« (Fi-
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nanzmathematiker) dargestellt: Sie ist eine Linie, die von den Werten der beteiligten Unternehmen über- oder unterschritten werden kann. Wird sie unterschritten, ist die Wahrscheinlichkeit des Kreditausfalls hoch. In diesem Fall interessieren sich Finanzmathematiker für die von Unternehmen (Kredite, Verbriefungen) in einem Basket. Die Frage lautet daher: Wie wirkt sich der Ausfall des Kredits des Unternehmens A auf den Wert des Unternehmens B aus? Es wird untersucht, welche Bestandteile negativ miteinander korrelieren (könnten). Dargestellt wird die Ausfallkorrelation mit sogenannten Copula-Modellen. Auf der Basis des Markovprozesses versucht man die Ausfallrate »zu modellieren« (Finanzmathematiker); es sei aber auch das kompliziertere Verfahren und gleiche – so ein Finanzmathematiker – einer »Brühe, wo man alle diese Elemente nicht mehr sehen kann«. Das komplexe Modell des Markovprozesses sei – so ein weiterer Finanzmathematiker – ein für die Forschung geeignetes Modell. Ein Finanzmathematiker berichtete, dass »Copula-Modelle« die klassische Herangehensweise »in der CDO-Welt« darstellen. Die Händler erhielten – eingeschrieben in Softwareprogramme (insbesondere Excel) – eine Antwort auf die Frage, was »muss ich heute anwenden, wenn ich morgen einen bestimmten Preis haben will« (Finanzmathematiker), während Markov-Modelle den Händlern keine konkreten Optionen offerierten: »Die Geschwindigkeit, mit der irgendein Wertpapier ausfallen kann, die sagt mir ja nicht unbedingt, was ich heute tun soll«. Das Gauß-Copula-Modell ermögliche hingegen eine bessere Unterscheidung der verschiedenen Bestandteile eines CDOs. Es werde auch deshalb bevorzugt, da es oft die Auftraggeber seien, die es erwarteten, weil die Händler im operativen Geschäft klare und einfache Antworten mit einem Excel Sheet erwarten. Dabei wird mit einfachen Annahmen über reziproke Konstellationen von Unternehmen und Branchen operiert, um mögliche »Wechselwirkungen« (Finanzmathematiker) einfangen zu können, die man vorsehen oder umgehen möchte. FM Ich habe viele CDOs gesehen, wo zum Beispiel Lufthansa und Telekom zusammen sind in einem Basket. Und dann will man etwas sagen über die Auswahlwahrscheinlichkeit, über die Korrelation zu diesen zwei Firmen – Ich mein, bei BMW und Mercedes, da kann man schon etwas mehr sagen, aber es sind doch völlig verschiedene Firmen. Das ist dann richtig kompliziert. HK Und wie macht man das dann?
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FM Wir machen was ganz einfaches. Wir nehmen an, dass die Korrelation in allen Firmen identisch ist. Also d.h., die Korrelation von BMW und Mercedes ist gleich der Korrelation von Lufthansa und Telekom, was überhaupt nicht sein kann. Aber das wird sogar in diesem Gauß-Copula gemacht.
Der Finanzmathematiker beschreibt hier, dass das Nicht-Identische als etwas Identisches aufgefasst werden kann: Etwas, das eigentlich keinen (ökonomischen) Sinn macht, macht doch Sinn, da es praktikabel, umsetzbar und durch allgemeine Standards (Modelle) eingeführt ist. Das Problem, das sich hinter diesen Vereinfachungsstrategien verbirgt, ist folgendes: Modelle, die Korrelationen darzustellen suchen, arbeiten erstens mit der Hypothese, dass Ausfallintensitäten von Unternehmen einem stochastischen Prozess folgen, oder sie nehmen zweitens an, dass ein Unternehmen in dem Moment ausfällt, wo sein Wert unter ein bestimmtes Niveau sinkt (s.o.). Wenn nun die Annahme stochastischer Prozesse auf eine Reihe von Unternehmen übertragen wird, wird die computergestützte Modellierung zu komplex (Hull/White 2004: 10). Dieses führte in der angewandten Finanzmathematik vielfach dazu, (Gauß-)Copula-Modelle zu verwenden und Abhängigkeiten des Unternehmensausfalls anzunehmen. Unterschieden wird hier zwischen Unternehmenswertmodellen, die den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die Entwicklung des Unternehmenswertes modellieren, und den Intensitätsmodellen, die den Einfluss von externen Faktoren auf die zeitliche Folge des Ausfalls modellieren (Riedl 2010: 42). Da nun bestimmte Parameter (u.a. Preis, Risiko, Laufzeiten, Anzahl etc.) keine Information über Ausfallwahrscheinlichkeiten der CDSs übermitteln, greifen Finanzmathematiker auf ein vergleichbares CDO zurück, von dem sie annehmen, dass es dem zu konstruierenden CDO in den wesentlichen Eigenschaften ähnelt. Ein Finanzmathematiker: Da muss man implizit Daten aus dem Markt nehmen, Daten, die nicht richtig vorhanden sind. Dann betrachtet man z.B. einen anderen CDO, den es bereits gibt, in dem auch diese beiden Firmen sind. Und dann sagt man z.B.: Die Korrelation zwischen den zwei Firmen ist X. Ich hab den Preis von diesem anderen CDO. Ich will aber einen Preis für meinen CDO haben, für diesen anderen CDO hab ich den Preis, und dann setzt man einfach Werte dort ein für X, für die Korrelation, bis dieser Preis, der bereits am Markt ist, rauskommt. Das
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heißt, es wird rein implizit dann berechnet. Man sagt dann: Ja, das muss die Korrelation sein, weil nur diese Korrelation diesen Preis zur Folge hat.
Dieses erste CDO dient demnach als Muster, um auf Grundlage dieser Daten die Ausfallwahrscheinlichkeit eines Kredits (oder einer Verbriefung) zu ermitteln. Das erste Problem besteht darin, dass der Finanzmathematiker zwei Informationen benötigt: die Korrelation der im Basket befindlichen Unternehmen (CDS) und den Preis. Um die unbekannte Wahrscheinlichkeit eines Kreditausfalls und seiner Höhe bestimmen zu können, wird die Korrelation zwischen zwei Unternehmen (bzw. zweier CDSs) aus einem verfügbaren CDO zugrunde gelegt. Mit dem bekannten Preis des verfügbaren CDOs wird die Wechselwirkung von zwei Unternehmen (sprich: zwei Kreditausfallwahrscheinlichkeiten) durch wiederholtes Probieren ermittelt. Hierzu setzen Finanzmathematiker »Werte für X ein«, bis die errechnete Ausfallwahrscheinlichkeit dem Preis des schon laufenden CDOs entspricht. Dies ist – wie ein Finanzmathematiker darstellte – ein aufwendiges Verfahren: Bei komplizierten Produkten gibt es hunderte von Einstellungen, die muss man alle abbilden in seinem Programm, um zu sehen, dass die Preise ähnlich sind, die da rauskommen. But die Details von dem anderen System, die wird man nie erfahren. So wie die genau bewerten, weiß man meist nicht. Weil zwischen den Annahmen und dem Preis gibt es die Berechnung. Aber wie die Berechnung genau gemacht wird, wird nicht offen gelegt.
Die simulierte Korrelation wird auf den neuen CDOs übertragen, um potentielle Korrelationen von Kreditausfällen sichtbar machen zu können. Ist die Übertragung erfolgt, lässt sich der Preis bestimmen, von dem man annimmt, dass er am Markt erzielt werden kann. Man geht also davon aus, dass ähnliche CDOs eine analoge Korrelation ihrer Elemente aufweisen. Daher kann durch Übertragung einer berechenbaren Korrelation (altes CDO) die Korrelation des neuen CDO modelliert und simuliert werden. Man nimmt also eine »Familienähnlichkeit« (Wittgenstein) an, die trotz ungenauer Relationen der CDOs ein tragfähiges Modell ermöglicht. Wir nennen dieses Vorgehen AnalogieSimulation, die zwischen dem operativen und dem zu konstruierenden CDO vermittelt und damit eine Art Vorausgriff auf Zukunft darstellt. Ein wichtiges Problem besteht also darin, im Vergleich zweier CDOs Informationen über die Korrelation und den Preis zu erzielen;
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das zweite Problem besteht darin, dass die Korrelationen in den CDOs dann zu komplex werden, wenn die Ausfallrate (respektive die Ausfallintensität) dargestellt werden soll. Man nimmt daher eine Reduzierung durch Kategorisierung vor. So versucht man nicht mehr, Korrelationen zwischen jedem einzelnen Element eines CDOs (etwa Kredite oder Verbriefungen) herzustellen, sondern nur noch Korrelationen zwischen Gruppen – also etwa zwischen Tourismusbranche und Automobilindustrie. Zwei Finanzmathematiker: Und da wird man nun sagen: Jetzt habe ich nicht nur die Korrelation zwischen 125 Firmen, sondern zwischen Industriegruppen, Fluggesellschaften und Autofirmen z.B. Da hat man so eine Korrelationsmatrix, aber nicht 125 zu 125, vielleicht, vielleicht fünf zu fünf. Man macht bestimmte Annahmen. Man sagt etwa: Insgesamt kann ich mein Produkt, kann ich alle Fluggesellschaften zusammentun, in eine Gruppe, und alle Telekommunikationsfirmen. Denn es ist vielleicht interessanter zu sagen: Ja, wie beeinflussen sich die zwei Gruppen gegenseitig? Das heißt, man muss die richtigen Vereinfachungen machen, an der richtigen Stelle.
Die Entwicklung einer finanzmathematischen Gleichung, die das Nicht-Kalkulierbare dennoch plausibel abzubilden erlaubt, läuft in diesem Falle über analoge Simulationen: Über diese Ableitungen lässt sich – für die Teilnehmer – auf sinnvolle Weise der Preis sowie die Ausfallwahrscheinlichkeit bestimmen. Sichtbar wird hier die kontinuierliche Reduzierung von Komplexität und damit ein Verbergen ursprünglich vorhandener Informationen (über die Schuldner etc.), um Komplexität überhaupt darstellen zu können. Mit dieser Reduzierung (oder Selektion) sind auch ästhetische Kriterien verbunden, die über die Brauchbarkeit einer Formel Auskunft geben. So sagte ein Finanzmathematiker: Wenn man 125 oder von mir aus 500 Parameter hat, das kann man alles modellieren. Aber das ist irgendwie unästhetisch. Für mich ist ein Modell schön, wenn das Modell wenig Parameter hat. Ein Modell ist auch nur brauchbar, sogar in der Praxis, wenn es wenig Parameter hat. Das, würde ich sagen, ist eine […] wichtige Eigenschaft von einem guten Modell.
Was die Durchführung der mathematischen Konstruktion anbelangt, so äußern Finanzmathematiker, dass sie für die Arbeit an der mathemati-
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schen Konstruktion zwischen ein bis zwei Wochen benötigen. Oft sei die Arbeit an der Konstruktion relativ schnell getan, dann aber beginne die Suche nach Fehlern. So meinte ein Finanzmathematiker: Die Formel hatte ich in ein, zwei Wochen. Aber dann war da ein Fehler drin und dann suchst du zwei Tage oder eine Woche, solange, bis du den Fehler gefunden hast.
Bei der Fehlersuche werden auch andere Kollegen hinzugezogen; man diskutiert die Lösungen an Whiteboards, die in Gemeinschaftsräumen oder Büros hängen. Ist man weiterhin ratlos, werden Abteilungsleiter oder auch der Leiter der Einrichtung mit ihrem Wissen hinzugezogen. Die Kooperationsform der Finanzmathematiker ist in unserem Fall also an der Problemlösung orientiert: Aus vereinzelten Individuen an ihren Schreibtischen wird eine temporäre finanzmathematische Interaktionsperiode, in der das Problem mündlich und schriftlich dargestellt und systematisch anderes Wissen genutzt wird. 4. Die technische und organisatorische Implementierung Ist der erste Schritt abgeschlossen – die Konstruktion einer Gleichung, die »geschlossene Lösungen« enthalten kann – dann wird diese in ein Softwareprogramm übersetzt. Finanzmathematiker, die die dargestellten Konstruktionen entwickeln, nutzten etwa das Programm »C++«; Finanzmathematiker, die näher am operativen Geschäft einer Finanzinstitution sitzen (etwa in einer Bank), nutzen eher Programme wie »Mathematic«. Die Differenz liege, so ein Teilnehmer darin, dass »man mit C++ ein Programm von Grund auf aufbauen kann«. Hingegen stelle das Programm »Mathematica« schon viele Funktionalitäten bereit, die man in C++ erst »neu implementieren muss«. Auf die versteckte Rahmungsaktivität durch Funktionalitäten von SoftwareProgrammen, die schon eine »berechnende Umgebung« anbieten, wird also zugunsten einer Software verzichtet, die einem weißen Blatt Papier ohne Linien gleicht und in der der Finanzmathematiker alle Schritte darstellen und dokumentieren muss. Zur Übersetzung der konstruierten Lösung für das CDO wird eine Kombination von alphabetischer und operativer Schrift (Krämer 1997) genutzt. Diese Schriftzeichen verwandelt der Rechner in Nullen und Einsen und kann demzufolge damit ›rechnen‹. Ausgangspunkt dieser
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Arbeit an der Programmierung ist die Zerteilung des generierten Modells respektive der generierten Gleichung in einzelne Schritte, die isoliert voneinander übertragen werden können, aber aufeinander verweisen, die aber für sich allein auch Sinn ergeben. Diese einzelnen Bestandteile des Modells werden programmiert und so lange getestet und gegebenenfalls geändert, bis sie »laufen« (Finanzmathematiker). Die nachfolgenden Bestandteile der Gleichung werden auf die gleiche Art und Weise in das Programm übertragen. Sie bauen auf die jeweils vorangegangenen Bestandteile auf und »wissen« voneinander: »Teil fünf weiß irgendwie wie Teil eins aussieht und was der macht« (Finanzmathematiker). Unter Umständen wird der Finanzmathematiker in späteren Programmierschritten aber auch einer Lücke oder Unvollständigkeit in vorangegangenen Teilen gewahr. Dies führt dazu, dass er den ersten Teil korrigieren, testen und überprüfen wird, und zwar so lange, bis erstens dieser Teil für sich, zweitens alle auf ihn aufbauenden Teile für sich und drittens alle Teile insgesamt funktionieren. Das sei – so ein Finanzmathematiker – »eher ein 100-Schritte-Prozess. Das ist ein hin und her, bis es ist, wie man es will«. »Hin und Her« bedeutet, dass sowohl die Genauigkeit und Stimmigkeit jedes einzelnen Elements als auch das korrekte Zusammenspiel aller Elemente immer wieder überprüft und adjustiert wird, bis die Konstruktion soweit in die Programmiersprache übertragen ist, dass sie Ergebnisse hervorbringen kann, die dem mathematischen Modell entsprechen. Abbildung 2: Auszug aus einer Programmierung IRUEXFNHW EXFNHWEXFNHW&RXQWEXFNHW ^ GHVW/RVV %XFNHW>EXFNHW@SUHY0HDQ/RVV/RVV*LYHQ'HIDXOW« GHVW%XFNHW GHWHUPLQH%XFNHWGHVW/RVV LIGHVW%XFNHW!EXFNHW ^ %XFNHW>EXFNHW@ORVV3URE %XFNHW>EXFNHW@ORVV3URE %XFNHW>EXFNHW@SUHY/RVV3URE GHIDXOW3URE
In der Programmiersprache ist hier (siehe Abbildung 2) ein Algorithmus eines Intervalls nachgebildet, mit dem die wahrscheinliche Verteilung von Verlusten zu einem bestimmten Zeitpunkt kalkuliert werden können soll (Hull/White 2004: 11f.). Die in Programmiersprache gebrachte finanzmathematische Gleichung – die »Library« (Finanzmathematiker) – bleibt den Kunden in der Regel verborgen; sichtbar wird die Oberfläche, auf der das Resul-
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tat der Berechnungen erscheint und Rechnungen, Bewertungen und Handel möglich macht. Dies sind in vielen Finanzinstitutionen Excel Sheets oder andere graphische Oberflächenprogramme (etwa Java). Hierzu ein Finanzmathematiker: Das hängt dann auch immer etwas vom Kunden ab, was die genau wollen. Also zum Beispiel, das Zinsmodell was ich gemacht habe, war zum Schluss ein Excel Sheet und dahinter liegt noch mal ne Library, die sozusagen, die die eigentliche Rechnung, die Arbeit übernimmt.
Die »Library« ist eine Softwarebibliothek: eine Sammlung von Berechnungs- und Darstellungsroutinen, die, da sie dem Excel Sheet zugrunde liegen, vom Excel Sheet aus aktiviert und aufgerufen werden können. Hat das arabisch-indische Ziffernsystem die Darstellung der Rechnung und die Berechnung selbst in einem Medium zusammengeführt, so fällt sie in den Softwareprogrammen (wieder) auseinander: Sorgt die Programmiersprache für Berechnungsroutinen, so das Excel Sheet für die Darstellung des Berechneten. Ein Beispiel: Abbildung 3: Auszug aus einem CDO-Excel-Sheet
Der Auszug dokumentiert in den ersten drei Spalten die Kapitalstruktur eines CDOs. Die vierte Spalte (»Nennwert«) gibt den Gesamtwert an, der einer Tranche zugewiesen ist. Die fünfte Spalte (»Spread«) zeigt den Risiko-Aufschlag für ein CDO mit einer Restlaufzeit von fünf Jahren. Der Spread wird von den Finanzmathematikern, die dieses CDO modelliert und in eine geschlossene Lösung gebracht haben, aus den Eingabedaten berechnet. Die Zeilen dokumentieren ihrerseits die Tranchen; so entspricht bspw. die zweite Zeile der zweiten Tran-
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che, die Verluste zwischen 3 Prozent und 6 Prozent bzw. zwischen 37.500.000 Euro und 75.000.000 Euro abfängt.9 Sind Gleichung, Programmierung und Excel Sheet soweit abgeschlossen, wird das Ergebnis den Auftraggebern übermittelt; bei sehr komplexen Transaktionen erfolgen zwischendurch auch immer wieder Konsultationen, um Zwischenergebnisse zu präsentieren und um die folgenden Schritte zu klären und abzusprechen. Dies ist – so die Finanzmathematiker – deshalb notwendig, um die Ziele des Auftraggebers, die Möglichkeiten des Modells zu kommunizieren und gegebenenfalls weitere, noch einzubauende Funktionalitäten abzusprechen. In den Finanzinstitutionen beginnt dann eine Testphase, in der die Verwendung der Software simuliert wird. Hierzu wird die Software in ein sogenanntes »Test-« oder »Qualifizierungssystem« implementiert, das eine Kopie des operativen Produktionssystems enthält. Händler, die für den Zugriff freigeschaltet werden, finden also eine Umgebung vor, die dem Produktivsystem nachgebildet ist und zugleich die neue Software enthalt. Dies erlaubt Transaktionen zu simulieren: Man tut so, als würde man auf den Finanzmärkten mit dem Produkt CDO handeln. »Die spielen mit dem Programm eine Zeit lang rum« – meinte ein Finanzmathematiker. In dieser simulierenden Testphase, zu der auch Schulungen der Mitarbeiter und regelmäßige Besuche der Finanzmathematiker gehören, werden gegebenenfalls weitere Überarbeitungswünsche formuliert und an die Finanzmathematiker weitergegeben. Im Wesentlichen handelt es sich darum, weitere »Funktionalitäten« einzubauen oder bestehende den Verfahren der Bank anzupassen. Erst wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, wird die neue Software in das »Produktivsystem« (Finanzmathematiker) der Finanzinstitution aufgenommen und auf die Rechner der Händler eingespielt; dies geschieht durch die bankeigene technische Infrastruktur – das Backup Network –, mit dem Daten zirkuliert und Softwareprogramme aktualisiert (update) werden (hierzu Kalthoff 2011a: 9ff.).
9
Ein Excel Sheet ist kein neutrales Verfahren, durch das Berechnung und Darstellung möglich werden. Es erzeugt vielmehr Effekte der Homogenisierung, der Vereinfachung, des Sichtbar-Machens von Gegenwart und Zukunft (Law 2002).
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5. Schluss
Dieser Text hat die Arbeit von Finanzmathematikern am Beispiel der Konstruktion von CDOs untersucht. Er hat diese Arbeit an und mit Modellen als eine Praxis beschrieben, die auf vielfältige Weise vermitteln muss: zwischen Auftraggebern und Finanzmathematikern, zwischen der Komplexität mathematischer Modelle und der Einfachheit des Handels, zwischen der Welt der (Unternehmens-)Zahlen und den möglichen Wechselwirkungen. Wir haben gezeigt, dass die Welt der Finanzmathematiker eine Welt ist, die verschiedene Sprachen respektive Schriften aktiviert: Zu nennen sind hier die mündliche Sprache (etwa bei der Aushandlung am Whiteboard), die operative Schrift mathematischer Gleichungen oder wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle, die Schrift der Programmierung sowie die Darstellung der Excel-Tabelle. Die Arbeit an und mit Modellen wechselt zwischen diesen Sprachen und Schriften hin und her; dies bedeutet, dass der Gegenstand der Finanzmathematik gleichzeitig in diesen verschiedenen Sprachen und Schriften zu Existenz gebracht und bearbeitet wird. Mit der Implementierung in das Produktivsystem erreicht diese Arbeit dann einen anderen Aggregatzustand: Eingespielt und eingearbeitet in die Routinen des Finanzhandels wird es Bestandteil institutioneller Praxis. Vieles scheint darauf hinzudeuten, dass in der Finanzmathematik die Praktikabilität einer mathematischen Aussage von zentraler Bedeutung für die Entwicklungsarbeit von Gleichungen ist. Die Finanzmathematik befindet sich in einer intensiven Kommunikationsbeziehung zur empirischen Welt; sie muss daher auf die sich ändernden Umstände der Finanzmärkte und der Bankwirtschaft in anderer Weise reagieren. Dies bedeutet auch, dass die angewandte Finanzmathematik mit den eigenen Medien, Techniken und Prozessen der Modellierung offen und nach außen hin zum Markt organisiert ist. Die externe Welt der Märkte fließt in die modellierenden Praktiken ein, wird dort übersetzt und neu geordnet und wirkt als so rekonfigurierter Sachverhalt auf das ökonomische Geschehen, das es darstellt, zurück. Der alten Annahme der Wirtschaftssoziologie, Ungewissheit werde durch kalkulative Verfahren in ein kalkulierbares Risiko verwandelt, stellen wir die Überlegung entgegen, dass durch diese Verfahren Unsicherheit überhaupt erst entsteht und beobachtbar wird. Sie ist nicht einfach ein ontologisch gegebener Umstand wirtschaftlicher Welten, sondern eine durch Beobachtungswerkzeuge realisierte Wirklichkeit. Auch ist die Idee zurückzuweisen, die Verfahren der Kalkulation
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machten Risiken beherrschbar. Wie gezeigt, haben Finanzmathematiker mit (nicht-)linearen Relationen zu tun, die mathematisch kaum darstellbar sind. In Bezug auf die Performationsthese Callons (Callon 1998) ist festzuhalten, dass die Idee der Einbettung der Akteure in die theoretisch induzierten (Kalkulations-)Artefakte, mit denen sie umgehen und Rechnungen produzieren, einer differenzierten Betrachtung unterzogen werden muss. Wie gezeigt, sind die Händler immer selbst schon an der Implementierung von Theorie in ihre Artefakte aktiv beteiligt und sorgen damit für eine Passung von Artefakten und institutionellen Routinen. Auch werden die Wünsche und Erwartungen der Auftraggeber/Empfänger der finanzmathematischen Tools von den Finanzmathematikern immer wieder vergegenwärtigt. Sie sind folglich auch imaginativ an der Produktion der Artefakte, die sie (später) handeln lassen, beteiligt. Sie sind, mit anderen Worten, ihre eigenen Vermittler. Damit brechen wir mit der Vorstellung einer Kette von Übersetzungen und Umwandlungen, die ihrerseits Materie in eine Form in Materie in eine Form etc. bringen (Latour 1999). Wir bezweifeln ferner den linearen Charakter dieser Kette, an deren Endpunkt ArtefaktUser stehen (in unserem Fall Händler auf den Finanzmärkten), denen nur noch die gehorsame Verwendung von Rechnerprogrammen bleibt. Wir plädieren deshalb dafür, diese lineare Vorstellung durch ein zirkuläres Konzept zu ersetzen. Ein solches Konzept betont insbesondere zwei Aspekte: Erstens tauschen die beteiligten Akteure die Position des Vermittlers periodisch immer wieder aus, sodass von einem kontinuierlichen Wechsel der Perspektiven auszugehen ist, der diese Kooperation ausmacht. Zweitens existiert die implementierte Software in zwei Zuständen: zum einen als ein technisches Objekt, welches das operative Geschäft mit ermöglicht und daher operative Antworten auf Investitionsfragen bereit hält, zum anderen als epistemisches Objekt, welches im Kontext der Produktentwicklung Fragen (etwa in Bezug auf die Implikationen der entwickelten Gleichungen, die gewählten Wahrscheinlichkeitsmodelle) aufwirft.
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Was bedeutet »Research«? Praktiken von Währungsanalysten im Kontext sich wandelnder Marktkulturen L EON W ANSLEBEN
1. Einleitung Analysten sind auf bestimmte Marktsegmente, Instrumente und/oder Sektoren spezialisierte Finanzexperten, die für Investitionsentscheidungen relevantes Wissen produzieren. Sie investieren also nicht selbst, sondern werden von Banken, Fondsgesellschaften, Versicherungen etc. zur Erstellung von Marktinformationen, Investitionsempfehlungen und Beratungen beschäftigt (Bauman 1988). Diese Gruppe von Experten existiert seit etwa 100 Jahren und wächst stetig: In den USA arbeiteten im Jahr 2008 etwa 250.600 Analysten, davon 47 Prozent in der Finanz- und Versicherungsbranche (Bureau of Labor Statistics 2009). Analysten formen eine eigene Wissenskultur, die nicht primär von Akademikern an Universitäten, sondern von Marktprofessionellen entwickelt wurde (Wansleben im Erscheinen). Das Ziel der folgenden Ausführungen besteht in einer soziologischen Bestimmung der Praktiken von Analysten, ihrer spezifischen Expertise und ihrer Position im Finanzmarktgefüge. Die bisherige soziologische Auseinandersetzung mit Analysten ist vor allem durch zwei Perspektiven geprägt: Die erste folgt einem wissenssoziologischen Interesse und zeigt auf, wie Analysten Finanzwissen unter Unsicherheit erzeugen (Mars 1998; Beunza/Garud 2007; Knorr Cetina 2011). Beunza und Garud etwa sprechen von Analysten als Produzen-
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ten von Rahmungen für die Berechnung von Unternehmenswerten. Die Konstruktion solcher Rahmungen besteht ihrer Ansicht nach darin, dass Analysten festlegen, mit welchen anderen Firmen eine Unternehmung Ähnlichkeiten aufweist, in welche Branche sie einzuordnen ist und mit Hilfe welcher Kennziffern die Attraktivität ihrer Finanztitel bewertet wird. Mars (1998) betrachtet Analysten vor allem als Produzenten von stories, die dazu dienen, Widersprüche und Lücken in den verfügbaren Daten zu bewältigen sowie überzeugende Vorhersagen anzufertigen. Demgegenüber kehrt ein zweiter Forschungsstrang diese Priorisierung von epistemischen zugunsten kontextueller Fragen um und fragt danach, wie Interessen von Marktakteuren und organisationale Zusammenhänge die Arbeit der Analysten beeinflussen. Dieser Forschungsstrang entwickelte sich insbesondere mit der Analyse von »conflicts of interests« (Swedberg 2005): Verschiedene ökonomische und soziologische Forschungen (Hayward/Boeker 1998; Michaely/ Womack 1999) deckten gegen Ende der 1990er Jahre auf, dass Analysten Wertpapiere empfahlen, obwohl sie von deren Wert selbst nicht überzeugt waren. Analysten warben auf diese Weise oftmals für Firmen, mit denen ihre Arbeitgeber Geschäfte unterhielten und die deshalb an positiven Bewertungen als Argument zur Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen interessiert waren. Die neuere Literatur hat unterschiedlichste »conflicts of interests« von Analysten identifiziert (Fogarty/Rogers 2005), die nicht als partikulare Devianzphänomene abgetan werden können; hierzu zählt unter anderem eine in Analystenberichten aufzufindende Verzerrung zugunsten umsatzsteigernder Kaufempfehlungen. Die in diesem Aufsatz entwickelte Perspektive auf Analysten versucht Fragen der Wissenserzeugung (Wie werden Analysen erstellt? Welche Wissensressourcen, etwa Modelle, Datensätze etc. werden verwendet?) und Kontextfragen (An wen richten sich die Analysen? Wie wirken sich die Interessen bestimmter Kundengruppen, Prioritäten der Banken etc. auf die Analysten aus?) zu verknüpfen. Dies soll gelingen, indem der Begriff der Bewertungskulturen von Donald MacKenzie (2011a; 2011b) aufgegriffen wird: MacKenzie führt dieses Konzept ein, um Ontologien, soziale Muster und Pfadabhängigkeiten von Praktiken der Konstruktion und Bewertung von Finanztiteln in Banken und Ratingagenturen zu charakterisieren. Speziell interessiert MacKenzie, inwiefern die Immobilienkrise, die 2007 in den USA ausbrach, unter anderem auf systematisch falsche Annahmen über die
W AS BEDEUTET »RESEARCH «?
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Korrelationen von Kreditausfällen zurückzuführen ist, welche im Kontext solcher Bewertungskulturen getroffen wurden.1 MacKenzie weist auch darauf hin, dass die Existenz unterschiedlicher Kulturen zur Selbstbeschreibung der Finanzbranche gehört.2 In meinem Aufsatz behandle ich nicht die Probleme der Finanzkrise. Für meine Zwecke ist aber hilfreich, von der Existenz spezifischer Kulturen der Beobachtung, Bewertung und Investition auszugehen, weil eine solche Perspektive zu fassen versucht, wie sich einerseits kollektive und andererseits historisch wandelbare, unterschiedliche Semantiken des Marktes sowie Verfahren seiner Beobachtung unter lose miteinander vernetzten Akteuren etablieren können. Bewertungen vermitteln in diesem Sinne zwischen Marktstrukturen, Interessen und lokalen Wissenspraktiken.3 Der spezifische Gegenstand meines Aufsatzes sind Analysten, die von Banken angestellt sind und Research zum Währungsmarkt erstellen. Der Währungsmarkt ist ein globaler Finanzmarkt, der in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gewachsen ist: Den Statistiken der Bank for International Settlements (BIS) zufolge betrug der tägliche durchschnittliche Umsatz 1992 noch 880 Milliarden, während er 2010 auf vier Billionen US-Dollar angestiegen ist (BIS 2010). Banken, Fonds, Versicherungen, Zentralbanken und Unternehmen sind die wesentlichen Marktteilnehmer. Eine Gruppe von zumeist global operie-
1
MacKenzie zeigt, dass diese falschen Bewertungen von Ausfallkorrelationen unter US-Immobilien wesentlich auf die Kommunikationsunterbrechungen zwischen Abteilungen in Banken und Rating-Agenturen zurückzuführen sind, die sich mit den zwei wesentlichen synthetischen Komponenten der strukturierten Produkte – CDOs (Colleterized Debt Obligations) und ABS (Asset Backed Securities) – beschäftigten. Diese Kommunikationsunterbrechungen, so argumentiert MacKenzie, resultierten aus den unterschiedlichen Bewertungskulturen der CDO Abteilungen und ABS Abteilungen: Für mehr Informationen hierzu, siehe MacKenzie (2011a).
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»[A] mortgage specialist told me that in two of the banks in which he had worked he observed what he called a ›cultural clash‹ between mortgage experts and specialists in the corporate debt underpinning traditional CDOs« (MacKenzie 2011b: 23).
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Meine Analyse schließt an Zuckermans Arbeiten zu der Kategorisierung von Unternehmen nach Branchen an (Zuckerman 1999), fragt aber eher nach der Genese von Bewertungskategorien als nach ihren (finanziellen, organisationalen etc.) Folgen.
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renden Banken nimmt eine spezielle Stellung unter ihnen ein, weil sie hohe Summen (fast 40 Prozent) in einem internen, eigenen Markt (Interbankenmarkt) handelt und zudem die Währungsgeschäfte derjenigen Marktteilnehmer vermittelt, die keinen direkten Zugang zum Interbankenmarkt haben. In diesem sell-side-Geschäft der Banken für Kunden ist ein Großteil der Währungsanalysten tätig.4 Mein Ziel ist nun, diese Analystengruppe unter Zuhilfenahme des Begriffs der Marktkulturen zu analysieren. Grundlage meiner Analyse sind ethnographische Beobachtungen der täglichen Arbeit sowie Interviews mit Währungsanalysten. Diese wurden im Zeitraum von 2008 bis 2010 in Frankfurt, London und Zürich bei Großbanken und kleineren Instituten durchgeführt. Der vorliegende Aufsatz versucht diese Beobachtungen zu systematisieren und zu verallgemeinern, indem er sie auf Makroentwicklungen bezieht, wie sie etwa durch die Statistiken der Bank for International Settlements bereit gestellt werden. Es soll im Folgenden also nicht primär die Verfahren der Wissenserzeugung dieser Analysten »dicht beschrieben«, sondern der Kontext rekonstruiert werden, in dem sich Praktiken der Währungsanalyse etablieren und verändern. Naheliegend wäre hier eine Beachtung der kommerziellen Interessen der Banken im Währungsgeschäft: Research bedeutet immer auch Marketing für die Dienstleistungen der jeweiligen Bank. Damit einhergehend müsste die Kundenorientierung der Analystenarbeit beachtet werden. Denn Analysten arbeiten unter dem Druck der finanziellen Profitinteressen ihrer Abnehmer. Meine Forschungen zeigen jedoch, dass Analysten diese scheinbar eindeutigen Kontexte und Interessen nicht passiv hinnehmen, sondern durch semantische Arbeit überhaupt erst bestimmbar machen. Das heißt, dass erst durch die Orientierung an im Markt etablierten und veränderlichen Kulturen der Beobachtung,
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Sell-Side-Research grenzt sich von Buy-Side-Research ab: Ersterer wird von Banken für ihre Kunden – zumeist kostenfrei – bereit gestellt (Eccles/Crane 1988: 138), während letzterer darin besteht, dass Investoren hausinterne Analysten beschäftigen. Es gibt leider keine Statistiken über die Anzahl von Währungsanalysten, geschweige denn über das Verhältnis von Sell-Side zu Buy-Side-Research. Meine Vermutung über das größere Gewicht des Sell-Side-Research beruht allein auf der Beobachtung, dass sämtliche Banken mit Währungsgeschäft Analysten beschäftigen, während dies nur für einen Teil ihrer Kunden zutrifft.
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Bewertung und Investition für Analysten deutbar wird, wie sie die Erwartungen ihrer Kunden fassen können, mit welchem Wissensbedarf sie es zu tun haben und welche strategischen Optionen sich ihnen dadurch eröffnen. Die Arbeit der Analysten besteht also in einer Expertenpraktik, die sich durch die Klassifikationen einer spezifischen Marktkultur strukturiert (Bourdieu 1998 [1979]: 730ff.).5 Mein Aufsatz betrachtet insbesondere den Wandel von Marktkulturen und Analystenpraktiken. Er rekonstruiert, wie die untersuchten Analysten zunächst eine professionelle Praxis ausüben, die sich in eine Kultur einbettet, die von den Interessen produzierender und/oder handelnder Unternehmen nach Minimierung ihrer Währungsrisiken geprägt ist. Durch verstärkte Orientierung an einer von institutionellen Investoren dominierten Marktkultur stellen die Analysten jedoch ihre Arbeit auf das Generieren von Statussignalen um. Die Argumentation erfolgt in drei Schritten: Zunächst rekonstruiere ich mit Hilfe vorliegender Statistiken und Studien, wie der Bedeutungsgewinn institutioneller Investoren die Kulturen der Beobachtung, Bewertung und Investition auf dem Währungsmarkt verändert (2.). In einem nächsten Schritt soll anhand empirischen Materials gezeigt werden, dass Währungsanalysten Marktkulturen als Ressource zur Interpretation der Eigenschaften und Interessen ihrer Kunden nutzen (3.). Anschließend zeige ich, wie sich der Übergang von einer Marktkultur, die noch von Firmenkunden geprägt wurde, zu einer von institutionellen Investoren dominierten Kultur in den Praktiken der Analysten reflektiert (4.). Abschließend soll ein Fallbeispiel vorführen, wie sich diese Umstellung der Analystenpraktiken innerhalb eines bestimmten organisationalen Kontexts vollzieht (5.). 2. Der Aufstieg institutionellen Investments. Eine neue Marktkultur? Bevor ich mich der Einbettung der Analystenpraktiken in Marktkulturen zuwende, versuche ich Anhaltspunkte für die Existenz und den Wandel solcher Kulturen im Währungsmarkt zu finden. Hier können die Statistiken der Bank for International Settlements helfen: Sie zeigen, dass der Währungsmarkt in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur dramatisch gewachsen ist, sondern dass sich auch die Anteile un5
Siehe für einen ähnlichen Fokus auf Praktiken Laubes Beitrag im selben Band.
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terschiedlicher Teilnehmer an diesem Wachstum verschoben haben. Bis 2010 war der direkte Handel zwischen Banken das dominierende Segment des Währungsmarkts, weshalb man auch von einem »cambist market« spricht (»cambist« für Händler, siehe Knorr Cetina/Bruegger 2002). 1992 machte der Interbankenhandel bspw. noch 69 Prozent des Umsatzes aus; das Kundensegment, geprägt von den Währungsgeschäften international tätiger Firmen spielte dagegen nur eine marginale Rolle (17 Prozent). Obwohl das Volumen des Interbankenhandels seitdem nicht zurückgegangen ist, hat sich sein Anteil am Gesamtmarkt in den vergangenen zwei Jahrzehnten merklich reduziert. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass das institutionelle Investment an Bedeutung gewonnen hat. Dies wird von der BIS in der Handelskategorie »other financial institutions« erfasst und betrifft die Währungsgeschäfte von Hedgefonds, mutual funds, Pensionsfonds und Versicherungen. Während im Jahr 1992 institutionelle Investoren nur 12 Prozent zum Gesamtumsatz beitrugen, ist ihr Marktanteil seitdem dramatisch gewachsen und überstieg 2010 mit 48 Prozent erstmals den Umsatz des Interbankenhandels (38,9 Prozent). Hedgefonds scheinen mit rund 20 Prozent einen wesentlichen Marktanteil auszumachen.6 Für meine Fragestellung ist relevant, dass sich diese Entwicklungen in Veränderungen von Marktkulturen reflektieren: Die traditionelle Dominanz des Interbankenmarkts führte dazu, dass sich eine globale Gemeinschaft von Händlern mit eigener Sprache, eigenen Technologien und Interaktionsformen etablieren konnte (Einzig 1970; Bruegger 1999; Knorr Cetina/Bruegger 2002); die hegemoniale Marktkultur war also eine »cambist culture«. Demgegenüber konnten andere Marktakteure (kleinere Banken; international tätige Firmen etc.) keine eigenen
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Es ist schwierig innerhalb der Kategorie der institutionellen Investoren Marktanteile verschiedener Gruppen zu differenzieren, denn der Währungsmarkt wird generell als Over-The-Counter-Markt nicht zentral erfasst. Untersuchungen von privaten Umfragehäusern, zitiert in Simon et al. (2010), legen aber nahe, dass Hedgefonds mittlerweile einen massiven Anteil, etwa 20 Prozent, zum Gesamtumsatz des Währungsmarktes beitragen. Barker schreibt: »Hedge funds, in particular, have grown enormously in the past decade, both in numbers and in the amount of capital under management, to form the core of the PTC [professional trading community, LW]« (2007: 6).
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Marktpositionen und kein eigenes Expertentum ausbilden. Unter dem Vorzeichen von Macht- und Wissensasymmetrien stabilisierte sich das Verhältnis zwischen dominanten Händlern und marginalen Marktteilnehmern dadurch, dass letztere als Kunden der Händler auftraten: Sie wickelten ihre Währungsgeschäfte über Banken ab, mit denen sie langfristige Beziehungen aufbauten.7 Auch den Zugang zu spezifischem Marktwissen konnten sie nur durch die Banken gewinnen. Ihre Beobachtungs-, Bewertungs- und Investitionskulturen standen also in einem peripheren und parasitären Verhältnis zur »cambist culture«. Rezente Forschungen legen nun nahe, dass der Bedeutungsgewinn institutioneller Investoren diese Konstellation auflöst. An die Stelle einer hegemonialen »cambist culture« treten neue Beziehungsgeflechte: Marktteilnehmer entscheiden darüber, ob sie mit anderen Marktteilnehmern kooperieren, Wissen austauschen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, indem sie sich innerhalb von Statusnetzwerken orientieren (Podolny 1993, 2005). Wissen und Informationen sind zentrale Elemente, die in diesen Netzwerken zirkulieren und den Status der Akteure mitkonstituieren. Diese Veränderungen zeigen sich insbesondere an der veränderten Beziehung zwischen Banken und ihren Kunden: Institutionelle Investoren handeln zwar immer noch über Banken, binden sich aber nicht langfristig. Sie lassen vielmehr eine Kerngruppe (Eccles/Crane 1988: 76) in Konkurrenz zueinander Preise stellen und erreichen auf diese Weise engere spreads, d.h. geringere Abweichungen von Interbankkursen (Reitz et al. 2009). Zudem etablieren sich Prime-Brokerage-Arrangements, die institutionellen Investoren direk-
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Bei Firmen außerhalb des Finanzsektors waren diese Beziehungen zumeist in ein »Hausbank-Modell« eingebettet. Das Hausbank-Modell ist eine extreme Variante dessen, was Eccles und Crane als ›dominant bank model‹ charakterisieren: »In the dominant bank model, the company allocates a majority share of its business to one investment bank, which thus dominates its investment banking business […] The customer’s strong tie with its dominant bank is based on a close relationship in which it freely shares information in return for advice and counsel on a regular basis […]. Many of the customers using the dominant bank model are small or middle market companies. Large companies that do not undertake many transactions and cannot justify several relationships also use this model« (Eccles/Crane 1988: 74f.).
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ten Zugang zum Interbankenmarkt geben (Barker 2007). Ähnliche Veränderungen betreffen das Marktwissen: So zeigen Simon et al. (2010), dass Hedgefonds bspw. zum Austausch von Investitionsideen, dem Entwickeln gemeinsamer Situationsinterpretationen und Problemlösungen Beziehungen zu anderen Hedgefonds unterhalten, die ähnliche Investitionsstrategien benutzen. Demgegenüber dienen die Beziehungen zu Banken nicht mehr als Ankopplung an eine dominante »cambist culture«, sondern zu ›instrumentellen‹ Zwecken: Banken sollen zum einen Fondsmanager mit »flow-Informationen«, also über aktuelle Transaktionen zwischen gewichtigen Marktakteuren versorgen.8 Zum anderen bewerten Kunden Banken danach, ob sie Investitionsideen liefern. Ein Hedgefonds-Manager äußert etwa: »The way I see brokers is a process of scanning for money making ideas. That is basically what you pay for« (Simon et al. 2010: 14). 3. Research-Kunden und Marktkulturen Fragt man Analysten, aufgrund welcher Entwicklungen sich ursprünglich ein eigener Bereich für Währungsresearch innerhalb von Banken etabliert hat, antworten sie, hierfür sei eine wachsende Nachfrage nach entsprechender Beratung auf Kundenseite verantwortlich gewesen. So berichtet ein Analyst, der seine Karriere in den 1970er Jahren als Währungshändler begann, zunächst nebenbei Informationen für Kunden bereitstellte und schließlich zu einem professionellen Analysten ›konvertierte‹: Damals war es eben so, dass ein Großteil der Währungsbewegungen zurückzuführen waren auf Geschäfte mit kommerziellem Hintergrund. Und das war dann einfach so, dass Exporteure oder Importeure, mit denen wir damals, oder unsere Außenabteilung, so hieß es ja früher immer noch, zu tun hatte, gerne wissen wollten, ja, macht das jetzt Sinn, wenn ich jetzt meinetwegen damals die Dollar gegen D-Mark kaufe oder soll ich noch warten, was spricht dafür,
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Flow-Informationen sind Informationen über die Kauf- und Verkaufsgebote von bedeutenden Markteilnehmern (insbesondere großen Fonds und Zentralbanken), über die Banken vor allem dann verfügen, wenn ihre Handelsabteilungen selbst große Geschäfte durchführen oder durch ihre Beziehungen mit anderen Handelsabteilungen über entsprechende Gerüchte auf dem Laufenden gehalten werden.
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was spricht dagegen. Also, da kam dann im Laufe der Zeit so eine Art, ja, Nachfrage nach Währungsprognosen auf den Markt. Und schließlich hat dann ja auch jede Bank sehr schnell ihre eigenen Prognosen erstellt, und, gut, inzwischen hat sich das dann irgendwo auch verselbstständigt. Inzwischen ist man ja mehr damit beschäftigt Prognosen zu korrigieren als sich mit irgendwelchen anderen Sachen zu befassen.
Der Analyst begründet also die Entstehung eines Research für Währungen mit einer wachsenden Nachfrage international tätiger Firmen, die sich nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Abkommens Anfang der 1970er Jahre dem Risiko von Währungsschwankungen ausgesetzt sahen. Weil Banken über eine lange Historie hinweg die primären Händler auf den Währungsmärkten darstellten, erschien es ›natürlich‹, dass sich Firmen in ihrer Nachfrage nach Expertise an die Banken richteten, über die sie traditionellerweise ihre Währungsgeschäfte abgewickelt hatten. Auf diese Weise professionalisierte sich ein eigener Research-Bereich. Der Verweis des Analysten auf die »damalige« Zeit, in der Währungsbewegungen von Handelsgeschäften bestimmt wurden, sowie auf die fortschreitende »Verselbständigung« der Prognostik indizieren allerdings, dass sich sowohl die dargestellte historische Situation als auch die Analystenpraktiken verändert haben. Die in dem obigen Zitat reflektierte Orientierung der Analysten an Kundenbedürfnissen leuchtet intuitiv ein: Analysten sind Experten, deren Aufgabe darin besteht, Kunden mit Informationen, Prognosen, Analysen etc. zu versorgen. Doch wie wird für Analysten in der täglichen Arbeit nachvollziehbar, worin dieser Bedarf besteht und wie sie ihm praktisch begegnen können? Es zeigt sich, dass durch die Assoziation mit spezifischen Marktkulturen für die Analysten die Eigenschaften und Interessen ihrer Kunden interpretierbar werden. Diese Interpretation erfolgt zunächst dadurch, dass anhand sozio-epistemischer Profile Kundenkategorien gebildet werden. Die wesentliche Klassifikation der befragten Analysten besteht in der Unterscheidung zweier Kunden mit entgegengesetzten Profilen, »Corporates« (Firmen außerhalb des Finanzsektors) und »Institutionals« (institutionelle Investoren). Die Profile dieser zwei Kundentypen orientieren sich an ihrer jeweiligen »Preissensitivität«, dem ihnen zugeschriebenen Risiko-
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Verständnis sowie dem Grad der Marktsynchronisation9 (siehe Tabelle 1, S. 252). Der Grad der Preissensitivität eines Kunden gibt Auskunft, inwiefern seine Investitionsentscheidungen motiviert sind von Preisveränderungen in Abhängigkeit von spezifischen Informationslagen. So sehen Analysten eine wesentliche Eigenschaft von Corporates darin, dass sie nicht preissensitiv sind: Sie können sich weder aussuchen, welche Währungen, noch wann sie diese kaufen; ihre Währungsgeschäfte sind also »insensitiv« gegenüber Preisen: Im Grunde ist es bei den Corporates so: Denen ist das Devisenexposure vorgegeben. Der exportiert nun mal in die USA oder er bezieht Vorgüter aus Japan oder was weiß ich, alles Mögliche, der kann sich nicht aussuchen, in welchen Währungen er Devisen aufnimmt.
Die Analysten interpretieren dies auch als eine geringe Synchronisation, die sich anhand unsystematischer Beobachtung von Marktvorgängen und sporadischem Positionsmanagement exemplifiziert. Drittens erwächst aus der Tatsache, dass das originäre Geschäft von Corporates außerhalb des Währungsmarktes liegt, eine spezifische Konzeption von Risiko: Corporates sehen den Analysten zufolge Währungsschwankungen als unwillkommene Gefährdungen des Primärgeschäfts: Ein Corporate nimmt kein Währungsrisiko. Punkt. Das ist nicht die Aufgabe von einem Corporate. Ein Corporate muss sein Währungsrisiko hedgen. Sprich: Er soll überhaupt kein Risiko eingehen, denn das ist nicht sein originäres Geschäft […] Und dann eben seine Fremdwährungsströme in dieser Form absichern, sodass daraus kein Risiko für sein originäres Geschäft entsteht.
Zusammenfassend beobachten Analysten also Firmen außerhalb des Finanzsektors als Kunden, deren Investitionsentscheidungen geringes Marktwissen reflektiert, die eher sporadisch in den Währungsmarkt involviert sind und die sich infolge ihrer Konzentration auf Währungsmarktexterne Geschäfte vor Marktrisiken mit Hilfe von Hedging etc. schützen sollten.
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Zur Marktsynchronisation als Praxis professionellen Währungshandels siehe auch Knorr Cetina/Bruegger (2002: 929).
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Dieses sozio-epistemische Profil entwickeln Analysten in explizitem Kontrast zu dem Profil einer neueren Kundengruppe, den Institutionals. Letztere sind preissensitiv in dem Sinne, dass sie ihr Positionsmanagement abhängig machen von der relativen Attraktivität von Währungen im Vergleich zu anderen Währungen: Auf der institutionellen Seite [werden] eben durchaus klare views genommen mit Blick auf Wechselkursentwicklungen, genauso wie mit Blick auf die Geldpolitik.
Der Analyst beschreibt hier, dass Institutionals Investitionsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer Erwartungen (»views«) über die zukünftige Wertentwicklung der entsprechenden Währungen treffen; diese Preissensitivität impliziert gleichzeitig auch eine kontinuierliche Synchronisation mit dem Markt. Der Institutionelle denkt ganz anders, der denkt sich, was ist die beste Währung, was ist die schlechteste Währung, die beste gehe ich long, die schlechteste gehe ich short, der ist also eher, würde ich mal sagen, Themen-getrieben. Der will wissen, welche Themen den Markt bewegen, und was die ideale Art und Weise ist mit Währungspositionen dieses Thema darzustellen.
Dies bedeutet: Synchronisation besteht neben ständiger Preisbeobachtung und entsprechendem Positionsmanagement auch in einer Beobachtung der Erwartungen anderer Markteilnehmer, die sich als innerhalb des Marktes zirkulierende »Themen« manifestieren. Für Institutionals würde es keinen Sinn machen, ihre Positionen vollständig abzusichern: Risiken müssen eingegangen werden, damit Gewinnmöglichkeiten entstehen; auf dem Spiel steht dabei jeweils das Marktwissen, auf dessen Grundlage die Währungspositionen eingenommen werden. Folglich sehen Analysten in Institutionals spekulative Finanzmarktteilnehmer, die mit ähnlichem Wissen operieren wie Interbankmarkt-Händler.
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Tabelle 1: Sozio-epistemische Profile von Corporates und Institutionals Sozio-epistemisches Profil von Corporates
Sozio-epistemisches Profil von Institutionals
− preisinsensitiv
− preissensitiv
− geringe Synchronisation mit dem Markt
− hohe Synchronisation mit dem Markt
− Risiko als unwillkommene Gefährdung des Primärgeschäfts
− Risiko als spekulative Profitchance
Dies zeigt, dass Analysten die Kategorisierung ihrer Kunden, vermittelt über ihre jeweilige ›Profilierung‹, an zwei unterschiedliche Kulturen der Beobachtung, Bewertung und Investition im Markt knüpfen. Erst im Kontext dieser spezifischen Marktkulturen wird dann für die Analysten definierbar, worin der Informations- und Wissensbedarf der jeweiligen Kunden besteht. So äußert ein Analyst explizit: Also, die unterschiedlichen Gruppen, also die Corporates auf der einen Seite und die Institutionellen auf der anderen Seite, das ist glaube ich so der wesentliche Knackpunkt, die haben sehr unterschiedliche Interessen.
Den Analysten zufolge benötigen Corporates Marktexpertise, um internationale Geschäfte mit Gütern möglichst gut planen zu können. Planung impliziert eine Absicherung oder einen anderswie gestalteten Umgang mit Währungsrisiken, der Kalkulierbarkeit herstellt. Zu diesem Zwecke haben Corporates den Analysten zufolge primäres Interesse an langfristigen, numerischen Prognosen zukünftiger Währungsentwicklungen, die so verlässlich wie möglich sind; Verlässlichkeit impliziert statistische Genauigkeit und seltene Revisionsnotwendigkeit. In der Darstellung der Analysten haben Corporates deshalb auch kein Interesse an einer involvierenden epistemischen Auseinandersetzung mit dem Markt, sondern sind primär an dem ›Output‹ der Analystenexpertise interessiert: Ein Corporate – wie gesagt – dem muss man keine großen Geschichten erzählen. Der muss irgendwie eine einfache Geschichte haben, die er seinem Vorstand dann vielleicht auch noch weitererzählen kann, aber die Details – da hat der gar nicht die Zeit für. Der guckt sich nicht in dieser Form im Detail die ein-
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zelnen Argumente, die vielleicht einer Analyse zugrunde liegen. Weil es auch letztendlich nicht seine Aufgabe ist.
Ganz anders stellt sich für die Analysten das Interesse von Institutionals dar. Letztere, so sehen es Analysten, agieren gar nicht auf der Grundlage von numerischen Vorhersagen, sondern von views und stories. »View« ist ein native term der Teilnehmer auf dem Devisenmarkt (Bruegger 1999). Views werden zwar gewöhnlich ebenso wie Prognosen über Zahlen ausgedrückt, aber diese Zahlen werden gänzlich anders interpretiert: Zum einen ist ein view immer eine Richtungs-, niemals eine Punktprognose (Bruegger 1999: 69). So können views »bullish« oder »bearish« sein, je nachdem, ob man in Abhängigkeit vom gegenwärtigen Wert einer Währung eher eine Auf- oder Abwertung erwartet. Analysten sagen hierzu: Es geht institutionellen Investoren […] nicht unbedingt um, also geht es gar nicht um Punktprognosen. Weil jeder weiß: Punktprognosen kann man nicht machen. Blödsinn. Ähm, es geht entweder um Richtungsprognosen oder es geht eben um Risikoprognosen. Das ist vielleicht auch noch mal so eine Unterscheidung, die – wo man auch in research durchaus auch stark, worauf man auch im research hin unterscheiden kann.
Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt, der views auszeichnet: Sie treten niemals isoliert auf, sondern immer als Positionierungen im Feld tatsächlicher oder möglicher anderer views. Während institutionelle Investoren also an views als direktionalen Positionierungen interessiert sind, gilt ihr Hauptinteresse nicht den views als solchen, sondern den sie begleitenden »stories« (ein weiterer native term). Stories verbinden die numerischen Prognosen mit Szenarien über mögliche Entwicklungen, die je nach (fundamentaler, technischer etc.) Ausrichtung der Analysten unterschiedlich gerahmt sind. Den Analysten zufolge interessieren an diesen stories zwei Aspekte: Zum einen geht es Institutionals um die Argumente, die in einer story enthalten sind: Der Wert von research (für Institutionals, L.W.) liegt nicht darin, dass man irgendwelche Prognosen abgibt. Das ist vollkommen egal. Denn da hat, haben institutionelle Anleger, durchaus ihren eigenen view. Was sie suchen sind Argumente. Und diese Argumente müssen schlüssig sein, und diese Argumente sollten auch in der Form sein, dass eben ein gewisses Vertrauen entsteht mit
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Blick, dass eben auch die Argumente oder die Argumentketten im Zeitverlauf jetzt keine abrupten Brüche aufweisen. (Mhm.) Ich glaube das ist irgendwie, ähm, was ein institutioneller Anleger sehen möchte. Er möchte Argumente haben, die originär sind.
Research stories sollten also Argumente enthalten, die plausibel, konsistent und originär sind. Neben Argumenten spielt aber auch der affektive Wert von stories für institutionelle Investoren eine entscheidende Rolle: Sie sollten unterhaltend sein in dem Sinne, dass sie etablierte Topoi mit überraschenden Verschiebungen kombinieren. Tabelle 2: Zwei Marktkulturen und die mit ihnen assoziierten Research-Interessen Research-Interessen von Corporates
Research-Interessen von Institutionals
− Planungsmöglichkeit im Rahmen außermarktlicher Aktivitäten
− Ideen zur Entwicklung eines Marktviews (Positionierung)
− langfristige Vorhersagen (seltene Revisionen)
− kurzfristige Vorhersagen (ständige, flexible Revisionen)
− Bestimmung der statistisch wahrscheinlichen zukünftigen Entwicklung (Verlässlichkeit)
− Beschreibung möglicher zukünftiger Entwicklungen auf der Grundlage von Originalität und Plausibilität
− modellbasierte Vorhersagen (numerisch, höchste Kontrolle von Vorhersagefehlern) − Vermittlungskontext: Bereitstellung professioneller Dienstleistung (Einseitigkeit)
− Story-basierte Vorhersagen (narrativ, argumentativ) − Vermittlungskontext: Austausch von Ideen
Die obige Darstellung könnte nun den Eindruck erwecken, dass die befragten Analysten neutrale Beschreibungen zweier Kundengruppen anhand der mit ihnen assoziierten Marktkulturen erstellen. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die unterschiedlichen Marktkulturen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen: Corporates sind wirtschaftliche Akteure, die keine dem Finanzmarkt zugehörigen Teilnehmer darstellen können; ihr Research-Bedarf ist perspektiviert durch die notwendige Abkopplung von Finanzmarktdynamiken. Demgegenüber sind auf Seiten der Institutionals sozio-epistemische Eigenschaften und Research-Interessen explizit gebunden an eine spezifische ›Eigenepistemik‹ der Märkte; Analysten sprechen auch von »smart investors«. Der Verweis auf views und stories zeigt außerdem, dass Institu-
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tionals und Analysten dieselbe Sprache sprechen und sich als Teilnehmer einer geteilten Kultur verstehen (siehe unten).10 4. Analystenexpertise als klassifizierte Praktik In der Beschreibung von Analystenpraktiken greife ich nun auf die Idee klassifizierter Praktiken von Pierre Bourdieu (1998 [1979]) zurück. Die Pointe dieser Idee ist, dass Analystenarbeit im Vollzug anzeigt, als was sie verstanden werden will, von welcher Expertenposition aus sie betrieben wird, welche Ressourcen sie nutzt und an welche Adressaten sie sich richtet (Schmidt 2008). Mein Argument ist, dass diese Etablierung einer klassifizierten Praktik unter Verwendung der im Markt etablierten Marktkulturen gelingt. Diese führen strukturierte Möglichkeiten für die Definition der Rolle des Analysten mit, die sich dann, verbunden mit organisationalen Faktoren, in konkreten Tätigkeiten und Identitäten verdichten. So etablierte sich mit der Kultur, die mit Corporates assoziiert wird, ein Verständnis von Analyse als professionellem Expertentum, während die mit dem Bedeutungsgewinn der Institutionals einhergehende Kultur Analysten zu Konkurrenten in einem nach Status strukturierten Wettbewerb macht. Professionelles Expertentum etabliert sich im Zusammenhang einer spezifischen Marktkultur, die geprägt ist von der vermittelnden Stellung der Analysten zwischen relativ exklusivem Marktwissen auf Seiten der Banken und außermarktlichen Interessen eines als preisinsensitiv und risikoavers charakterisierten Kundenpublikums. Die in diese Kultur eingebettete Analystenpraktik besteht zum einen darin, dass Analysten die Mandatsträgerschaft für epistemische Fragen der Kunden übernehmen. Die Mandatsträgerschaft transformiert die strukturelle Wissensasymmetrie zwischen Analysten und Kunden in eine legitime Rollendifferenzierung zwischen Experte und Laie. Kunden sind Laien, für die sich Währungsangelegenheiten der epistemischen Kontrolle entziehen. Diese Klassifikation drückte sich in der Äußerung 10 Deshalb spielt das empirische Argument, viele Firmen seien mittlerweile in einem Maße finanzialisiert, dass sie durchaus als Finanzmarktteilnehmer gelten könnten (Krippner 2005), für mein Argument keine entscheidende Rolle: Die Beschreibungen der Analysten orientieren sich an zwei unterschiedlichen Bewertungskulturen und den damit einhergehenden Klassifikationen und werden nicht als eine Wiedergabe empirischer Realität behandelt.
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eines Mitglieds des Finanzvorstands eines großen DAX-Unternehmens während einer Konferenz mit Analysten aus: »Woher soll ich wissen, wohin Euro/Dollar in Zukunft geht? Das ist nicht meine Sache!« Auf der anderen Seite betrachten Analysten Währungsangelegenheiten als ihre »Jurisdiktion« (Parsons 1978: 25), also genau jene Sache, von der sie Bescheid wissen. Diese Klassifikation als Experten schreibt sich über eine spezifische professionelle Sozialisation fest. Im Bereich der Währungsanalyse erfolgt diese Sozialisation nicht primär an Bildungseinrichtungen wie Universitäten. So sind die meisten Kunden als Mitarbeiter in Finanzabteilungen von Unternehmen ebenso wie die Analysten Betriebs- oder Volkswirte. Auch spielen professionelle Zertifikate wie etwa »Certified Financial Analyst« (CFA) eine geringe Rolle. Eine spezifische Sozialisation erfolgt vielmehr »on the job«: Hier wird in Team-internen Kommunikationen und Interaktionen mit Händlern sowie Sales-Leuten bestimmt, durch welche ökonomischen Kenntnisse und spezifischen Fähigkeiten der Marktbeobachtung und -prognostik sich ein Währungsanalyst auszeichnet. Es wird zudem ein permanenter intra-professioneller Diskurs betrieben, in dem die Qualität von Research begutachtet wird. So lesen Analysten nicht nur das Research ihrer direkten Team-Kollegen, sondern auch die Berichte von Analysten anderer Banken, und zwar immer mit Äußerung entsprechender Qualitätsurteile gegenüber ihren Teamkollegen. Durch diese Urteile werden nicht allein die entsprechenden Expertisen der anderen bewertet, sondern auch die Position der Gutachter als kompetente und legitime Mitglieder einer professionellen Gruppe manifestiert. Entscheidend ist: Bei diesem Bewertungsprozess steht nicht die Treffgenauigkeit von Prognosen im Zentrum, sondern es geht um das Einhalten von »professionellen Standards«, die formell11 und informell definieren, wie ›guter‹ Research aussehen soll. Interaktionen zwischen Analysten und Kunden, Experten und Laien sind reguliert über eine Semantik treuhänderischen Vertrauens.12
11 Im Rahmen der Professionalisierung der Finanzanalyse gab und gibt es zahlreiche Versuche der Definition von professionellen Standards (Bauman 1988). 12 »Die allermeisten Investoren handeln nicht selbst an Finanzmärkten, sondern beauftragen andere damit im Vertrauen darauf, dass sie ihre Interessen an ihrer Stelle besser, als sie selbst es könnten, wahrnehmen werden. Diese Art von Vertrauen wird in der Literatur seit Parsons als ›treuhänderi-
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Für die Kunden heißt dies, dass sie als Laien der Notwendigkeit enthoben werden, die Leistungen der Analysten (etwa die Treffgenauigkeit der Prognosen) zu prüfen. Vielmehr können sie darauf vertrauen, dass Analysten über für die Kunden intransparente, aber professionsintern abgesicherte Methoden und Verfahren der Analyseerstellung verfügen. Analysten treten den Kunden gegenüber, indem sie ihr Professionswissen mit »moralischer Autorität« (Parsons 1978: 27) ausstatten. Damit ist die Fähigkeit einer Professionsgruppe gemeint, ihre Tätigkeit als Arbeit an einem »Gut öffentlichen Interesses« zu legitimieren; dieses »Gut öffentlichen Interesses« ist im Falle der Währungsanalyse das legitime Bedürfnis der Kunden, Währungsrisiken und -kosten zu minimieren. Die Analysten erlangen moralische Autorität, indem sie anzeigen, dass dieses Bedürfnis ihre eigene Praktik anleitet.13 Zudem schützt moralische Autorität Analysten gegen Kritiken, die sich etwa aus dem Versagen ihrer Expertise speisen: Solange Analysten, ähnlich wie Ärzte oder Rechtsanwälte, in öffentlichem Interesse ihr Wissen ›mit bestem Wissen und Gewissen‹ einbringen, können sie trotz Scheitern ihrer je konkreten Empfehlungen ihren Expertenstatus gegenüber den Kunden sichern (Fogarty/Rogers 2005: 340).14 Mit dem Bedeutungsgewinn einer Kultur, in der neue, institutionelle Marktteilnehmer
sches Vertrauen‹ (fiduciary trust) bezeichnet« (Langenohl 2010b: 14). Langenohl hat hier wohl primär ebenjene Institutionalisierung von Investitionen durch Fondsstrukturen im Blick, welche meiner Argumentation zufolge einer Logik »treuhänderischen Vertrauens« im Research zuwiderlaufen; dieser scheinbare Widerspruch ist erhellend, weil er zeigt, dass der Bedeutungsverlust von Research als Form der Inklusion marktferner Teilnehmer einhergeht mit neuen, spezialisierten Inklusionen wie etwa der vollständigen Delegation von Währungsgeschäften an Currency Overlay Manager; siehe dazu Schlussfolgerung. 13 »As in the case of other professions, such as the medical, legal, and public accounting fields, it may be argued that the overall objective of the financial analysis profession and its standards is to represent the public interest and the best interests of those who are served – clients, customers, employers and owners« (Bauman 1988: 1810). 14 Ganz in diesem Sinne von Professionalität schreibt Jacobson über die Kodifizierung von Analystenwissen Mitte des 20. Jahrhunderts: »Results could not be guaranteed, but the integrity of the process itself could be of some comfort« (Jacobson 1997: 56).
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preissensitive und risikoaffine Bewertungs- und Spekulationsstrategien verfolgen, entwickelt sich auch eine neue Research-Praxis. Die Marktkultur ist nun nicht von der Existenz eines außermarktlichen Publikums, sondern eines komplexen, über Status regulierten Beziehungsgeflechts unter Marktteilnehmern geprägt, die allesamt im Markt Profitchancen zu identifizieren versuchen. Die Kultur zeichnet sich also dadurch aus, dass Statuspositionen, Wissen und Information auf komplexe Weise verbunden sind. So bestimmt sich die Relevanz von Informationen danach, welche wichtigen anderen Akteure über welche Informationen verfügen. Analysten sind deshalb verstärkt davon abhängig, wie ihre Bank mit unterschiedlichen Gruppen institutioneller Investoren (Versicherungen, Hedgefonds etc.) vernetzt ist: Einerseits fließen durch diese Statusnetzwerke Informationen und Investmentideen; andererseits entscheidet die Kapazität zur Verbreitung von Informationen und Wissen in Netzwerken über deren Relevanz. Stärker als zuvor differenziert sich deshalb die Praxis der Analysten danach, ob sie bei der Deutschen Bank oder der Hessischen Landesbank arbeiten, ob ihre Kunden Hedgefonds oder Versicherungen sind. Andererseits wird Wissen selbst zu einem Statussignal. Banken versuchen folglich durch Zugriff auf Marktwissen ihre Positionen im Beziehungsgeflecht der Marktteilnehmer zu verbessern. Research bekommt damit die Aufgabe, Statuspositionen nicht nur zu reflektieren, sondern auch aktiv zu konstruieren. So haben Forschungen zur Aktienanalyse bereits gezeigt, dass sich mit dieser neuen Kultur ein erhöhter Wettbewerb um Kunden etabliert, in den Analysten eingespannt sind (Ho 2009: 79ff.). Eine naheliegende Veränderung ist, dass die Sales-Abteilungen in Banken an Bedeutung gewinnen, weil diese verstärkt zum intensiven »relationship management« (Eccles/Crane 1988: 178f.) mit den Kunden eingesetzt werden. Dies hat Mars zufolge erhebliche Konsequenzen für die Position und Arbeit der Analysten: »Im Sales-driven-Research [...] ist der Analyst als Dienstleister in eine Vertriebsmaschine eingebunden. Das bedeutet für die epistemische Praxis der Analysten, dass von ihnen erwartet wird, möglichst zahlreiche, lange, formal korrekte, eindeutige, gut getimete und spannend erzählte Kaufstudien zu schreiben« (Mars 1998: 446).15
15 Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Marktveränderungen, bankinternen Veränderungen und Analystenpraktiken stellt Kerstin Schmidt-Beck
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Durch diese neue Rolle werden Analysten innerhalb der Banken von relativ unscheinbaren »back-office«-Arbeitern zu Akteuren, die sichtbare »front-office« Positionen einnehmen und entsprechend vergütet werden.16 Wesentlich ist auch das unterschiedliche Verhältnis der Analysten zum Markt und zu ihren Kunden: Sie befinden sich nun selbst in einem Wettbewerb um Statuspositionen, die sie mit Hilfe ihres Researches zu erzeugen versuchen. Dies ist insbesondere evident anhand von Phänomenen wie Analystenrankings, medienwirksamen »gurus« oder Staranalysten.17 Diese Phänomene deuten darauf hin, wie der
fest: »Insgesamt veränderten kulturelle Umorientierungsprozesse im Bankgeschäft das traditionell langfristig orientierte ›relational banking‹, das einen Höhepunkt in der ›new economy atmosphere‹ der 1990er Jahre erfuhr. Im Zuge solcher Veränderungen von Markt-Kulturen und den darin ›eingewobenen‹ Wissenskulturen scheint auch im Umfeld der befragten AnalystInnen die ›langfristig richtige Prognose‹ fundamentalanalytischer Wissenskultur zugunsten einer deutungskonkurrenten kurzfristigen Orientierung an Boden verloren zu haben« (Schmidt-Beck 2007: 174). SchmidtBeck zieht also Analogien zwischen einer neuen Markt- und Organisationskultur (weg vom ›relational banking‹) und der Wissenskultur der Analysten (weg vom fundamentalanalytischen Ansatz): Sie korrespondieren in ihrem Wandel von Langfristigkeit zu Kurzfristigkeit. 16 »Since research units were now directly generating revenue, rather than providing ›objective‹ analysis, they were catapulted into full-fledged front office status, where they quickly became mired in scandal, as analysts pushed stocks despite knowledge of balance-sheet fraud and bubble marketing« (Ho 2009: 10). »As a group, analysts have become of increasing importance within investment banking during the past decades. Their reports become official statements of their investment banks, highly acknowledged among investors and business media. Consequently, analysts are regarded as the public stars of investment banking, rendering them personal status and generous salaries« (Winroth et al. 2010: 10). 17 Zu den Rankings schreiben Beunza und Garud: »As with other rankings, visibility breads recognition and vice versa, leading to a potentially closed loop in which newcomers would be excluded from the top« (2007: 33). Es ist jedoch zu vermuten, dass auch weniger offensichtliche Manifestationen von Analystenstatus existieren, wie bspw. Beobachtungen unter Institutionals, wessen Research von anderen Akteuren gelesen wird oder Zitationen in der Finanzpresse, Sichtbarkeit durch Einladungen auf Konferenzen etc.
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Wettbewerb um Kunden operationalisiert wird: Analysten beobachten sich selbst und ihren Research im Verhältnis zu anderen Analysten im Spiegel der Kundenaufmerksamkeit: Das, was wir machen, um Prognosen zu erstellen ist auch zum Teil eine Art Wettbewerb unter Banken, das muss man auch ganz klar sagen, wenn, es gibt ja bestimmte, ja, Kommunikationsmedien, die dann ihre Ranglisten aufstellen, die ja tägliche Umfragen machen, und dann nach einer gewissen Zeit, das heißt im Abstand von mehreren Wochen, oder dann auch einmal im Jahr zum Jahresende dann feststellen, wenn man nun da besonders gut war, oder nicht so gut war.
Hier beschreibt ein Analyst sich danach, wie er relativ zu anderen Analysten von Kunden durch entsprechende Rankings beobachtet werden kann. Wie oben angedeutet, entwickeln die Positionen, die durch diese Beobachtungsrahmung eingenommen werden, relative Stabilität, denn erstens ist der Analystenstatus nicht vollkommen von der jeweiligen Bank zu trennen, für die Analysten arbeiten; zweitens entstehen Selbstverstärkungseffekte von Aufmerksamkeiten, wie etwa bei Staranalysten; und zum Dritten erzeugt die wechselseitige Orientierung der Analysten aneinander, dass sie sich selbst innerhalb einer Statusstruktur »einordnen«. So fasst ein Analyst als seine primäre Orientierung zusammen: Wie kann ich mich positionieren und wie kann ich mich vom Rest absetzen? Ich kann natürlich nicht immer nur einfach sagen: Ich nehme einfach eine vollkommen andere Meinung als der Markt. Denn nur, wenn man halbwegs ja auch recht hat mit seinen Prognosen […] kriegen (sie) einen bestimmten Wert mit Blick auf interne und externe Kunden.
Es geht den Analysten also auch um eine Generierung von Status erhaltenden oder -verbessernden Positionierungen, die in Hinblick auf die Struktur von Möglichkeiten beobachtet werden, welche das Feld der Analysten im Spiegel der Kunden aufspannen (Bourdieu 2001 [1992]: 370). Winrot et al. (2010: 11) schreiben: »To stand out becomes important for the individual analyst, but also for the investment bank as such and the investment bank industry«. Dies erfolgt zum einen über views, deren Grad an Abweichung von views anderer Analysten ständig beobachtet wird, etwa über die den »Konsensus« (Prognoseumfrage unter Analysten). Zum anderen geht es um die Entwicklung
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innovativer stories, die sich dadurch auszeichnen, dass sie überraschende Variationen zu etablierten Finanzmarkt-Diskursen darstellen; Analysten sprechen dann von Originalität (siehe unten). Die oben dargestellten Praktiken erscheinen in ihrer komprimierten Darstellung zunächst als Idealtypen. Anhand eines Fallbeispiels werde ich nun zeigen, dass es sich nicht um reine Beobachterkonstrukte, sondern eher um pragmatisch einsetzbare ›Idealtypisierungen‹ handelt: Analystenarbeit wird in der Tat bestimmt durch die Auswahl der Klassifikationen, die eine jeweils dominante Marktkultur zur Verfügung stellt. 5. Eine kurze Fallstudie Im Folgenden geht es um die Situation eines Analystenteams, die gerade aufgrund ihrer Partikularität für die oben dargestellten Konzeptualisierungen erhellend ist. Das Team arbeitet für eine Bank, die eine andere Bank erworben hat. Während das Investmentbanking des Käufers primär auf Geschäftskunden ausgerichtet war, so hatte die übernommene Bank ein starkes Geschäft im institutionellen Bereich. Dies traf auch auf den Währungsbereich zu: Der Übernehmer bediente mit seinen Handels-, Sales- und Analystenteams vor allem Firmen mit internationalen Geschäften: Entsprechend der Grundausrichtung der [Bank haben wir] einen sehr starken Fokus auf die Geschäftskunden. Direkt reden die Sales Leute hier halt mit den größeren Geschäftskunden, DAX 30 Unternehmen plus noch einige weitere in ähnlicher Größe, und die kleineren Mittelständler reden mit den Filialen und die kommen dann also indirekt zu uns.
Das Analystenteam blieb stark in einer Professionskultur verhaftet, die von ihrer Anbindung an die volkswirtschaftliche Abteilung der Bank geprägt wurde. Die Wissenskultur dieser Abteilung zeichnete sich einerseits durch Wissenschaftsnähe, andererseits durch ein Kundenbewusstsein aus, bei dem es um die Selektion und Vereinfachung ökonomischer Themen für Finanzmarkt-ferne Firmen ging. Entsprechend lieferten die Analysten in Zusammenarbeit mit den Volkswirten Planungsprognosen und informierten in getakteten Abständen (täglich und wöchentlich) und in vereinfachender Form über Marktentwicklungen. Von den Händlern auf dem Handelsflur der Bank wurden diese Analysen kaum beachtet.
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Bei der anderen, nun übernommenen Bank hingegen war das Währungsgeschäft wesentlich größer und auf institutionelle Kunden ausgerichtet; die Analysten waren entsprechend enger mit der SalesAbteilung und den Händlern verbunden. So äußert ein Analyst dieser Bank rückblickend: Letztendlich ist Research Marketing. Nichts anderes. Und ähm, und da würde ich sagen, dass eben Research insgesamt, sowohl auf der fixed-income, als auch auf der FX-Seite, ein sehr gutes Franchise war, auf der internen Seite. Und, ähm, sprich eben sehr viel genutzt wurde. Mit Blick auf Kundenpräsentationen, auch mit Blick auf Kundenbesuche und so weiter. Und Conference-Calls und das sind eben die ganzen normalen Tools, die eben hier gesetzt werden.
Statusrelevante Positionierungen in Bezug zu anderen Analystenteams waren wesentlich: Ich meine, wir waren auf der Research-Seite [...] mit Blick auf Prognosen und Rankings in den Umfragen immer sehr weit oben angesiedelt (Mhm), was eben damit zusammenhing, dass wir auch relativ viele Ressourcen in unser research hineingesteckt haben.
Das um wenige Analysten erweiterte Team des Übernehmers (viele der Analysten der übernommenen Bank kündigten) muss sich nach der Übernahme umstellen. Dabei scheinen die strategischen Prioritäten der Währungsabteilung nicht eindeutig: Die Analysten sprechen von einem »Spagat«. Primär müssen sie sich allerdings auf ein zunehmendes Gewicht institutioneller Kunden einstellen, die aufgrund ihrer Kapitalkraft innerhalb der restrukturierten Währungsabteilung als »key business« angesehen werden. Dies impliziert eine Neuausrichtung der Expertisearbeit, deren Herausforderung zunächst die Gewinnung der Akzeptanz bei der Sales- und Handelsabteilung der übernommenen Bank ist. Die Analysten interpretieren die damit einhergehende Umstellung explizit als »Kulturschock«. So berichtet ein Analyst von seinen ersten Wochen im Handelsraum mit den für Institutionals zuständigen SalesLeuten: Die ersten Wochen waren hart. Da sind zwei Kulturen aufeinander geprallt. Man hat das Gefühl gehabt, dass, wenn man nicht mit dem Rücken zur Wand sitzt, gleich ein Messer im Rücken hat [...] Bei den Morning Meetings haben
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die Sales-Leute und die Händler mit dem Kopf geschüttelt, sobald wir etwas gesagt haben. Wir hatten aber das Riesenglück, dass wir die ersten Wochen jeden Tag mit unseren Prognosen richtig lagen [...] Nun quatscht man auch informell mit uns und respektiert auch unsere Meinung, selbst, wenn wir danebenliegen. Denn letztlich wollen die hier auch nur Geld verdienen.
Doch das ›Kulturproblem‹ ist nicht auf organisationsinterne Prozesse beschränkt: Die Analysten sind sich der Problematik bewusst, dass sie auch versuchen müssen innerhalb des Marktes eine neue Position einzunehmen. So äußert ein Analyst: Das Problem ist auch, dass es bei den Institutionals schwer fällt sich zu profilieren. Warum soll ein Fonds aus Texas das Zeug unserer Bank lesen, wenn er auch den Research von Deutsche oder Goldman lesen könnte, die auch mal Themen setzen können, dem Markt also Themen vorgeben können?
Die Ausrichtung und der Stil der Publikationen werden entsprechend angepasst. So liegt nun ein Augenmerk auf der Produktion innovativer stories. Ein Analyst sagt: Während für die Geschäftskunden Prognosen im Zentrum stehen, interessieren sich Institutionals hauptsächlich für Themen. Das heißt, man muss für Institutionals originelle, eigene stories machen.
Auch die Produktion langfristiger, an Modellen orientierter Prognosen verliert an Bedeutung. Es werden zwar immer noch Prognosen veröffentlicht, aber diese werden nun als views verstanden, d.h. als Richtungsprognosen sowie Positionierungen im Verhältnis zur Analystenkonkurrenz; in Antwort auf Veränderungen von Marktthemen werden Prognosen nun auch öfter revidiert. Das Problem: Auch die Firmenkunden der Analysten werden nun mit ebenjenen views versorgt und benutzen diese für Planungszwecke. Folgender Ausschnitt aus meinen Feldnotizen gibt die hieraus resultierenden Probleme wieder: Der Analyst sagt, dass während die Institutionals verstünden, was mit einem view gemeint sei, Corporates die Prognosen wörtlich nähmen. Er würde also falsch verstanden. Dass Punktprognosen im FX Bereich nicht möglich seien, das wollen die Corporates und die für sie verantwortlichen Salesleute nicht hören. Er wolle gerne deutlich machen, dass solche Prognosen Schwachsinn sei-
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en, aber das ginge leider nicht [...] Views würden idealerweise als kurzfristige Orientierungen gesehen, denn im FX Bereich seien views nun mal kurzfristig. Die Institutionals würden das berücksichtigen, die Corporates nicht.
Hier wird deutlich, dass professionelle Expertise, die die Arbeit der Analysten traditionell bestimmt hat, durch die Neuausrichtung der Bank auf institutionelle Kunden unterminiert wird. Eine neue Kultur der Bewertung und Spekulation führt dazu, dass die Analysten Begriffe wie Analyse und Prognose nun gänzlich anders klassifizieren: Sie sind Teil eines Wettbewerbs um Statuspositionen. Dies führt zu Research, den die Firmenkunden ›falsch‹ verstehen, sofern sie selbst die Reklassifizierungen dessen, worin die Leistung der Analysten bestehen, nicht mitvollziehen. 6. Schluss Die Statistiken der Bank for International Settlements geben an, dass seit den 1990er Jahren neben dem traditionellen Interbankenhandel ein durch institutionelle Investoren vorangetriebenes Kundensegment auf dem Währungsmarkt entstanden ist, das maßgeblich zum Wachstum des Marktes beigetragen hat. Diese strukturellen Veränderungen legen nahe, dass sich auf dem Währungsmarkt neue Kulturen der Bewertung und Spekulation etabliert haben. Analystentum wird weder rein lokal noch rein interessengebunden, sondern im Kontext dieser Kulturen konstituiert. Kunden und ihre Interessen werden unter Verweis auf unterschiedliche Epistemiken kategorisiert und Expertenpraktiken entsprechend klassifiziert: Während es bei Corporates um Lösungen zur Minimierung der Währungsrisiken geht, steht nun im Hinblick auf Institutionals die Entdeckung von Risiken als Profitchancen im Zentrum. Research wandelt sich von einer professionellen Expertise zu einem Wettbewerb unter Analysten im Spiegel der Kundenaufmerksamkeit. Die Fallstudie skizziert, dass solche Klassifikationswechsel und neuen Praxisformen reale Konsequenzen haben. Darüber hinaus kann man aus dem vorliegenden empirischen Material die allgemeinere Vermutung ableiten, dass die genannten Veränderungen dazu führen, dass Firmen, die den Währungsmarkt für die Abwicklung internationaler Geschäfte in Produktmärkten nutzen, eine veränderte Stellung im Markt einnehmen. Einen Baustein zur Repositionierung der Unternehmen liefert eine entsprechende Umstellung der Expertisearbeit der Analysten: Während sie traditionell die Minimierung des Risikos von
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Währungsgeschäften dieser Kunden durch professionelle Expertise sicherstellten und sie damit in den Markt inkludierten, scheint diese Inklusion aus Sicht der Analysten nun nicht mehr möglich: Entscheidungen auf Basis von Planungsprognosen werden von ihnen als irrational angesehen und in den Produktmärkten verwurzelte Firmen werden als inkompetente Marktakteure begriffen. Die Analysten empfehlen deshalb den Firmen ihre Währungstransaktionen an Spezialisten18, etwa currency overlay manager, zu delegieren19 und sich vollständig gegen Risiken abzusichern. Auf der anderen Seite erlangen Analysten auf einem wachsenden spekulativen Währungsmarkt, der von Cambists und Institutionals geprägt ist, eine konstitutive Funktion: Sie formulieren in ihrem Research nicht nur, was man bei dem (am Bildschirm) Beobachteten (Kursen, ökonomische Statistiken, Zentralbankentscheide etc.) für die nahe Zukunft erwarten kann, sondern sie beobachten auch die Erwartungen anderer Analysten, entwickeln abweichende Meinungen und reproduzieren auf diese Weise eine differentielle Struktur reflexiver, öffentlicher Erwartungen (Langenohl 2010a), an denen sich Marktteilnehmer in ihren Spekulationsentscheidungen orientieren können.
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PRAXIS DER FINANZMÄRKTE: ZAHLEN, KÖRPER, RAHMUNGEN
Im Takt des Marktes Körperliche Praktiken in technologisierten Finanzmärkten S TEFAN L AUBE
1. Einleitung
Finanzmärkte der Gegenwart faszinieren ihre Beobachter vor allem durch ein Merkmal: ihre intensive Durchdringung mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Kehrseite dieser Faszination ist eine weitgehend entkörperte Darstellung zeitgenössischer Finanzmärkte. Diese Entkörperlichung rührt u.a. daher, dass mit dem zunehmenden Verschwinden von Face-to-Face-Märkten (OpenOutcry-Märkten) in den Augen mancher Beobachter auch gleichsam die Körper ihrer Teilnehmer verschwinden: Ist der Körper im Rufhandel ein entscheidendes Vollzugselement (Zaloom 2006: 136), so transformieren die neuen Bildschirmmärkte deren Teilnehmer zum auf den Sehsinn reduzierten »kinematic investor« (Zwick 2005: 32). Auf den Punkt bringt das vermeintliche Verschwinden des Körpers im Zuge der Digitalisierung der Finanzmärkte eine Schlagzeile der Wirtschaftspresse: »An der Börse stirbt die Handarbeit aus« (Rom 2010). Der vorliegende Beitrag konfrontiert die Tendenz zur Entkörperlichung hochtechnologisierter Finanzmärkte mit ethnographischen Beschreibungen der Tätigkeit des professionellen Finanzhandels.1 Aus-
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Der Beitrag beruht auf der ethnographischen Erforschung und Beschreibung der Arbeitspraktiken von Derivatehändlern in einem Finanzhandelsunternehmen. Die diesem Beitrag zugrundeliegenden empirischen Daten
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gangspunkt dieser Beschreibungen ist eine überraschende Beobachtung: Zwar weisen Finanzhandelsräume eine massive Präsenz von Informations- und Visualisierungstechnologien auf; die Bildschirme und was sie zeigen sind aber nicht das einzige Element, das die Arbeit von Finanzhändlern bestimmt. Die Beobachtung und Verarbeitung der auf den Monitoren visualisierten Marktinformation ist in entscheidender Weise von der Präsenz des Körpers abhängig und wird körperlich getan. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die Mitwirkung des Körpers am Vollzug des professionellen Finanzhandels (finanz-)soziologisch zu erschließen. Damit erweitert der Beitrag die innerhalb der Social Studies of Finance prominente Konzeptualisierung von Finanzmärkten als technologievermittelte Praxis. Hier reicht die Bandbreite von der Erforschung der Relevanz finanzmarktspezifischer Technologien für die Bildung von Preisen (Callon 1998; Preda 2006; Muniesa 2007) über Studien der Implikationen von mathematischen Formeln und kalkulativer Instrumente (Mackenzie 2003; Kalthoff 2005) bis zur Bedeutung von Bildschirmtechnologien für die »virtuelle« Entgrenzung von Finanzmärkten (Knorr Cetina/Bruegger 2002). Zwar hat die finanzsoziologische Fokussierung auf Technologien und die damit einhergehende Vernachlässigung des Körpers von Marktteilnehmern bereits Kritik aus den eigenen Reihen erfahren (Preda 2001: 17), bislang liegen jedoch kaum Untersuchungen körperlicher Praktiken in bildschirmvermittelten Finanzmärkten vor. Es lässt sich mithin eine Tendenz der wirtschafts- und finanzsoziologischen Forschung ausmachen, die man als Entkörperlichung des Sozialen bezeichnen kann. Dieser Aufsatz unternimmt den Versuch, zu zeigen, in welcher Form der Körper der Marktteilnehmer als »Informationsverarbeitungs-
sind das Ergebnis der für ethnographische Forschungsstrategien nicht untypischen Kombination verschiedener Verfahren und Artefakte der Datenerhebung und Datenanalyse. Sie bestehen aus vom Ethnographen (Stefan Laube) getätigten Beobachtungen und Beschreibungen von Gesprächen, Äußerungen, Verhaltensweisen sowie von materiellen Gegenständen im Handelsraum; aus Audioaufzeichnungen von im Handelsraum erfolgten Händlerreaktionen und Händlerkonversationen, deren lose an die Konventionen der Konversationsanalyse angelehnte Transkription sowie aus Auswertungen von Experteninterviews mit Derivatehändlern.
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instrument« (Knorr Cetina 1988: 97) auf systematische Weise an der Beobachtung und Interpretation volatiler Preise beteiligt wird. Im professionellen Derivatehandel ist der Körper Teil eines umfassenden Aufmerksamkeits- und Beobachtungsregimes. Dieses umfasst nicht nur Technologien (z.B. Bildschirme, entsprechende Hardware) und Materialitäten (z.B. spezielle Trading Desks der Händler), sondern auch körperliche Ressourcen. Einerseits fungiert der Körper im untersuchten Fall des Derivatehandels als somatisches Beobachtungsinstrument, das entscheidend von körperlichen und sensorischen Verhaltensweisen abhängt. Zum anderen kann der Körper auch als Entscheidungshilfe angesehen werden. So identifizieren bspw. Händler mittels lautmalerischer und körpergestischer »Aufmerksamkeitsrufe« ständig wandelnde Preise und minimieren auf diese Weise das Risiko, die richtigen Augenblicke für ökonomische Entscheidungen zu verpassen. Somit verfolgt der Beitrag zwei Ziele: Zum einen portraitiert er Finanzmärkte als Arenen, in denen spezialisierte »Wissenspraktiken« (Kalthoff 2009: 266) von besonderer Bedeutung sind, deren materielle Basis nicht nur in der Abhängigkeit und Beeinflussung durch materielle Dinge und Technologien, sondern auch in ihrer Verkörperung zu sehen ist. Zum anderen möchte er die Relevanz verkörperter Wissenspraktiken für das in der (neueren) Wirtschaftssoziologie diskutierte Problemfeld der Koordination in Märkten (Beckert et al. 2007; Beckert/Deutschmann 2009) veranschaulichen. Der Beitrag untersucht die Bedeutung des Körpers für die Bearbeitung eines speziell mit volatilen und temporeichen Finanzmärkten verknüpften Koordinationsproblems: dem der zeitlichen Koordination der Marktakteure. Dieses Problem ergibt sich für die Teilnehmer dadurch, dass Marktbewegungen, die – so Händler – kaum vorherzusehen sind, durch die Volatilität des untersuchten Marktes noch einmal verschärft werden. Im Vergleich zu anderen Märkten (z.B. Anleihenmarkt) existiert im Derivatemarkt ein deutlich höheres Ausmaß an Preisschwankungen und damit verbundenen Gewinn- oder Verlustrisiken. Das bedeutet: Die (erfolgreiche) Umsetzung der Wissenspraktiken – Beobachtung der Märkte, Deutung der Marktbewegungen und Entscheidungen über Investitionen – ist an die laufende Synchronisierung mit dem Takt des Marktes gekoppelt. Im Folgenden werden vier Formen charakterisiert, in denen der Körper im untersuchten Derivatehandel präsent und an der zeitlichen Koordination der Tätigkeiten der Finanzmarktteilnehmer beteiligt ist:
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Handelnde Körper (2.), technologisch erweiterte Körper (3.), sensorische Körper (4.) und formulierende Körper (5.). Der handelnde Körper beschreibt die Leistungen des Körpers als Handlungsträger, der ohne bewusste Reflexion oder formalisierte Instruktionen lernen und handeln kann. Er beschreibt ein kontextspezifisches körperliches Können, das sich in »Dingen wie Fingerspitzengefühl, Orientierungssinn, Geschicklichkeit, Kniffen und Tricks« (Hirschauer 2008: 977) zeigt. Im vorliegenden Fall des Derivatehandels sorgt das körperliche Können der Teilnehmer für eine umfassende Synchronisierung mit den Zeitstrukturen des Marktes. Darüber hinaus fungieren die Körper der Händler auch als technologisch erweiterte Körper. Finanzbildschirme werden von Händlern als Erweiterungen und Modifikation ihres visuellen Sehsinns, als »Auge zum Markt« (Händleraussage) begriffen. Der sensorische Körper kommt ins Spiel, indem Händler körperliche Sinne als Instrumente der Beobachtung und Deutung sich ständig wandelnder Marktinformation verwenden. Überraschenderweise kommt in diesem Zusammenhang dem Hörsinn als sensorisches Instrument eine besonders wichtige Rolle zu, denn er ergänzt als ungerichteter Sinn die visuelle Inspektion des Marktgeschehens. Der sensorische Körper im Handelsraum richtet sich dabei auf die Leistungen von formulierenden Körpern. »Formulierungen« (Garfinkel/Sacks 1970) meint ursprünglich diejenigen Äußerungen, die von Teilnehmern typischerweise in Gesprächen zur Deutung der Gesprächssituation eingesetzt werden. Der Begriff wird hier insofern erweitert, als er nicht auf Gesprächssituationen, sondern auf Marktsituationen im Handelsraum angewandt wird: Im Kontext des untersuchten Finanzhandels kommen lautmalerische und körpergestische Darstellungen (»Aufmerksamkeitsrufe«) sich ständig wandelnder Preise zum Einsatz, die in diesem Aufatz als »Formulierungen« sich ständig ändernder Marktsituationen betrachtet werden. 2. Handelnde Körper Die Arbeit der untersuchten Derivatehändler besteht aus zwei Basistätigkeiten: Erstens übernehmen sie die Aufgabe, für Kunden Handelsorder auszuführen. Das bedeutet, sie finden eine Gegenseite für das gewünschte Geschäft im Markt. Zweitens betreibt das Unternehmen einen spekulativen Eigenhandel. Händler gehen zu diesem Zweck kurzfristige »Positionen« (ein native term) im Markt ein, d.h. sie kaufen und leerverkaufen Finanzprodukte mit dem Ziel, diese zu einem
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späteren Zeitpunkt mit Gewinn zu verkaufen oder – im Fall eines Leerverkaufs – mit Gewinn zu kaufen. Das Grundproblem für die Ausführung dieser Tätigkeiten, insbesondere im Rahmen des spekulativen Finanzhandels, besteht darin, dass »Marktbewegungen« nicht vorhersehbar sind. Im Derivatehandel verschärfen sich diese Probleme durch die Volatilität des Derivatemarkts, in dem im Vergleich zu anderen Märkten (z.B. Anleihenmarkt) ein deutlich höheres Ausmaß an Preisschwankungen und damit verbundenen Gewinn- oder Verlustrisiken existiert. Zum einen ist die volatile »Natur« des Marktes im Rahmen handelsraumspezifischer symbolischer Klassifikationen des Derivatemarkts als »sprunghaftes« und »nervöses« Wesen höchst präsent (Laube 2012). Zum anderen impliziert die volatile »Natur« des Derivatemarkts ein spezifisches, eingekörpertes Wissen, ein körperliches Können der Händler im Finanzhandelsraum. Diese »Körpertechniken« (Mauss 1975 [1936]) sind speziell auf die volatile »Natur« des Derivatemarkts abgestimmt und ermöglichen Händlern im zeitlichen Rhythmus dieses Marktes zu agieren. Dabei kommt der handelnde Körper auf zwei unterschiedliche, aber miteinander verzahnten Formen ins Spiel: Erstens werden die Körper der Händler durch disziplinierende Selbstpraktiken mit den Zeitstrukturen des Marktes synchronisiert. Zweitens ist der Körper der Händler nicht nur ein behandelter Körper, sondern auch ein ausführender Körper, ein trainierter Träger sekundenschneller Handlungen und Entscheidungen. Selbstpraktiken sorgen zunächst dafür, die Teilnahme am volatilen Markt über längere Zeiträume hinweg aufrechtzuerhalten. Die manchmal mehrere Stunden lang dauernde Koppelung des eigenen Körpers an die Trading Desks schränkt die körperliche Bewegungsfreiheit in mehrfacher Hinsicht ein. Dieser Autonomieverlust betrifft Tätigkeiten, die durch ein Verlassen des Arbeitsplatzes gekennzeichnet sind: Gang auf die Toilette, Einnahme von Nahrung, Arbeitspausen. Alle diese Tätigkeiten müssen für die Dauer der Arbeit am Desk aufgeschoben oder soweit kontrolliert werden, dass die Beobachtung und Verarbeitung der Marktinformation gewährleistet bleibt. Dementsprechend besteht eine zentrale Form körperlichen Könnens im Handelsraum in der Verzögerung oder Unterdrückung körperlicher Bedürfnisse. Dass es sich hierbei um erworbene Kompetenzen, um Körpertechniken im Sinne von Marcel Mauss (1975 [1936]) handelt, zeigte sich daran, dass nicht alle Teilnehmer im Handelsraum sie gemäß den dort geltenden Standards beherrschten. So konnte bspw. ein Praktikant seinen Toilet-
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tengang nur für ein bis zwei Stunden aufschieben und verließ seinen Arbeitsplatz am Trading Desk trotz äußerst volatiler Marktdynamik. Dies zog den Ärger und Spott der anderen Händler auf sich, die den Praktikanten wegen seiner »schwachen Damenblase« aufzogen. Solche Ausdrücke verweisen darauf, dass im Handelsraum für die Kompetenz den Harndrang zu unterdrücken kein entwickeltes Vokabular existiert. Allerdings thematisierten die Teilnehmer in der Kommunikation untereinander und in Gesprächen mit dem Ethnographen das dafür nötige Können mit Metaphern und Umschreibungen. Ein Händler im Interview: Es gibt Tage, da ist so viel Bewegung, da haben wir hier konstant 50 bis 100 aktuelle Hits (ausführbare Order am Schirm). Und da kannst du nicht mal auf die Toilette gehen, da musst du hier quasi in Windeln dasitzen.
Selbstverständlich tragen Finanzhändler nicht wirklich »Windeln«, worauf der Ausdruck »quasi« in der Erzählung des Händlers hinweist. »In-Windeln-dasitzen« umschreibt vielmehr die Kontrolle, die der Körper an Tagen mit »so viel Bewegung« im Markt zu leisten im Stande sein muss. Neben dem Verzicht auf Toilettengänge existieren noch weitere, im Diskurs der Teilnehmer aber weniger spektakulär aufbereitete Selbstdisziplinierungen des Körpers. Diese betreffen die Einschränkung der Einnahme von Mahlzeiten. Anhaltende Bewegungen im Markt haben zur Folge, dass Händler nicht mehr zum Mittagstisch in Restaurants gehen, sondern dass das Mittagessen zu ihnen in den Handelssaal gebracht wird. Dazu eine Händlerin im Interview: Ich habe den DAX-Zusammenbruch ein paar Mal mitgemacht. Da hast du halt nur mehr Hits (ausführbare Order). Normalerweise haben wir so am Tag 1000 bis 1500 Orders, an argen Tagen haben wir 5000 bis 6000. Ich weiß noch, ich habe mir zu Mittag eine Portion Nudeln bestellt und am Abend habe ich gerade drei Nudeln gegessen gehabt. Das musst du aushalten lernen, auch wenn’s anfangs hart ist.
Dieser Gesprächsausschnitt ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Erstens tätigt die Händlerin einen Transfer von Handlungsträgerschaft an den Markt, indem sie auf seine wiederkehrenden »Zusammenbrüche« verweist. Zuschreibungen von Handlungsträgerschaft an Objekte
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– etwa an den Markt – sind aus praxeologischer Sicht weniger ein psychologischer Mechanismus der Rationalisierung, sondern auf vielfältige Weise mit dem praktischen Wissen und Können der Teilnehmer verknüpft (dazu Laube 2012). Die »animistische« Eigenschaft des DAX, nämlich zusammenbrechen zu können, impliziert ganz bestimmte Verhaltensweisen, wie etwa den Verzicht auf Nahrungsaufnahme. Die Charakterisierung des DAX durch Verweise auf wiederkehrende, aber unvorhersehbare Zusammenbrüche erinnert an einen Notfallarzt, der im Fall des Zusammenbruchs eines Patienten zur Stelle sein muss, egal ob er gerade seinen Hunger stillen möchte. Wichtiger ist hier aber folgender Punkt: Das »Verhalten« volatiler Märkte ist aus Sicht der untersuchten Händler äußerst »sprunghaft« und »nervös«. Die Potentialität von Marktbewegungen erfordert die Anwesenheit des Körpers und seiner andauernden Stillstellung vor den Bildschirmen. Mit anderen Worten: Das Zeitverhältnis des Marktes wird in die Verfügbarkeit von Menschenkörpern übersetzt, die – im Takt des Marktes – sehen, hören und entscheiden. So konnten immer wieder Phasen beobachtet werden, in denen es mehrere Stunden oder auch Tage lang nicht zu größeren Marktbewegungen kam, ungeachtet dessen, dass Händler Preisschwankungen erwarteten. Ebenso konnten Basiswerte wie der F-DAX2 aus heiterem Himmel und jedenfalls aus Sicht der Händler unerwartet steigen oder fallen, ohne dass Händler sich auf eine mehrstündige Berg- und Talfahrt der Märkte vorbereiten konnten. Erst die Disziplinierung des eigenen Körpers, d.h. die umfassende Kontrolle seiner Bedürfnisse, erlaubt Händlern die Beobachtung solch erratischer Marktphasen auszuhalten und zu gestalten. Durch Selbstpraktiken wird der Körper mit den Zeitstrukturen des Marktes synchronisiert. Der handelnde Körper, der durch Selbstpraktiken auch ein behandelter Körper ist, kommt aber wesentlich auch als Träger von Handlungen und Entscheidungen, die die Teilnahme am volatilen Derivatemarkt notwendig machen, ins Spiel. Wie ein Händler erklärt, bieten Derivate große Gewinnchancen, aber auch große Verlustrisiken:
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Derivate ermöglichen Anlegern von der Wertentwicklung eines anderen Wertes wie bspw. eines Aktienkorbs oder eines Aktienindex’ zu profitieren, ohne diesen selbst kaufen zu müssen. Dieser andere Wert wird »Basiswert« genannt.
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Man kann auch gut auf Öl spekulieren. Öl ist super volatil. Also da kannst du echt innerhalb von ein paar Sekunden 20 Cent verlieren, bei einer Stückzahl von 10.000 (Zertifikaten) würde das dann gleich einmal 2000 Euro ausmachen.
Der Ausschnitt verdeutlicht, dass Derivatehändler im Vergleich zu Aktien- oder Anleihehändlern unter dem besonderen Druck stehen, im zeitlichen Rhythmus des Marktes zu agieren.3 Dies kann bedeuten, Transaktionen in Sekundenschnelle zu entscheiden und umzusetzen. Die Forderung nach sekundenschnellen Handlungen ist im Handelsraum in verschiedenster Weise präsent. Zum einen in Gesprächen mit dem Ethnographen, die sich immer wieder um eine zentrale Verhaltensanweisung im Handelsraum drehten: »Du musst schnell sein«. Der Anspruch auf Schnelligkeit zeigt sich nicht nur in den mündlichen Selbstverpflichtungen der Händler, die diese vielfach gegenüber dem Ethnographen äußerten, sondern in den Ausführungen der Händlertätigkeiten im Handelsraum: Die Tasten der Computerkeyboards werden jäh gedrückt oder sogar gehämmert, Computermäuse werden mit zielsicheren Handgriffen blitzschnell ergriffen, manövriert und geklickt, temporär verwaiste Händlerarbeitsplätze werden im Laufschritt angesteuert. Die reflexartige Schnelligkeit im Handelsraum, als ständig geäußertes Verhaltensgebot einerseits und als Merkmal der Spekulationsarbeit an den Finanzbildschirmen andererseits, eröffnet eine überraschende Einsicht. Diese professionellen Tätigkeiten im von Bildschirmmedien durchdrungenen Finanzmarkt lassen sich nicht auf das Bild von Wissensarbeit im Sinn von Denkarbeit reduzieren. Die Arbeit im untersuchten Handelsraum erfordert gleichermaßen mentalen und körperlichen Einsatz, wobei der Unterschied zwischen beiden im Vollzug der Handelsraumpraxis verschwimmt, da der Eigentakt des Deri-
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Mit »Öl« ist hier nicht der Rohstoff gemeint, sondern ein Index (Brent Crude Oil Future Index). Dieser Index fungiert als Basiswert für das derivative Zertifikat, das die hier interviewte Händlerin in einer Stückzahl von 10.000 handelt. Dieses Zertifikat bildet den Preis des Basiswerts (des Index’) im Verhältnis eins zu eins ab. Steigt der Preis des Index um 20 Cent, steigt auch der Wert des Zertifikats um 20 Cent. Umgekehrt kann ein fallender Basiswert auch innerhalb von »zehn Sekunden« zu einem ebenso großen Verlust führen.
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vatehandels Entscheidungen im Rahmen von Sekunden abverlangt. Das Verhältnis zwischen Denken und Tun lässt sich treffend mit einer Charakterisierung beschreiben, die Loic Wacquants praxeologischer Studie des Boxens entlehnt ist: »Der Kopf wird zum Körper, der Körper zum Kopf« (2003: 248). Der folgende Ausschnitt aus einem Interview mit einem Händler, in dem es um die Unterschiede zwischen Derivatemarkt und anderen Finanzmärkten geht, zeigt einen Versuch, das eingekörperte Handlungswissen (Bourdieu 2001: 184f.) des Derivatehandels, in dessen Rahmen Denkvorgänge und körperliche Ausführungen ununterscheidbar werden, in Worte zu fassen: Beim Rentenhandel (Handel mit Anleihen) kann man auch einmal eine Minute überlegen oder zwei, was man tut. Das wird auch akzeptiert. Wenn man ein Derivat auf den DAX handelt springt das schon wieder in dieser Minute zehn oder 15 Punkte, dann ist wahrscheinlich der Anleger, der die Order erteilt hat, beleidigt. Und das kann ja auch gegen die eigene Position (des Händlers im Markt) sein. Also man muss viel schneller die Order ausführen, möglichst noch innerhalb weniger Sekunden.
Zwei Punkte aus diesem Versuch eines Händlers, das praktische Wissen des Derivatehandels zu explizieren, sind besonders aufschlussreich: Erstens weist die Schilderung auf eine Entsprechung zwischen der Art des Finanzmarkts (z.B. Aktien oder Derivate) und den zur Teilnahme als notwendig erachteten Handlungskompetenzen hin. Der Anleihenmarkt, bei dem sich Preise nur langsam verändern, ermöglicht eine Form des Handelns, die es erlaubt auch »einmal eine Minute« zu »überlegen«. Den Derivatemarkt hingegen assoziiert der Gesprächspartner mit geradezu gegenteiligen Verhaltensanforderungen: sekundenschnelle Ausführungen, die eben nicht auf der Basis von (zu langem) Überlegen erfolgen. Zweitens umschreibt der Interviewpartner in seiner Schilderung des praktischen Wissens des Derivatehandels eine Variante dessen, was Bourdieu (2001: 184) mit Begriffen wie »körperliche Intelligenz« zu fassen sucht. Die Schilderung charakterisiert den Derivatemarkt im Unterschied zu zeitlich anders strukturierten Finanzmärkten wie dem Anleihenmarkt als einen Tätigkeitsbereich, der von Praktiken bestimmt ist, die »intellektuelles und diskursives Verstehen […] suspendieren« (Bourdieu 2001: 184) und eine Form »praktischer Erkenntnis« (Bourdieu 2001: 184) favori-
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sieren. Kurz gesagt: ein Prozessieren und Verstehen, Denken und Erkennen mit dem Körper. 3. Technologisch erweiterte Körper Die bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, dass der untersuchte Finanzhandel im Wesentlichen von einer Disziplinierung des Körpers gekennzeichnet ist. Doch die Beobachtung und Verarbeitung des bildschirmvermittelten Finanzgeschehens ist nicht nur von der Unterdrückung und Anpassung körperlicher Bedürfnisse abhängig. Die Bildschirme erweitern auch die Möglichkeit der Händler, den Markt visuell zu erfahren. Die Präsenz technologisch erweiterter Körper zeigt sich in der Klassifikation der Bildschirme durch die Händler – eine Klassifikation, die zunächst so natürlich erscheint, dass sie gar nicht überrascht. Das Besondere dieser Klassifikation besteht jedoch darin, dass sie die Bildschirme als Erweiterung des Händlerkörpers und seines Sehsinns konzipiert. Diese Klassifikation kommt bspw. zum Ausdruck, wenn Händler ihre Bildschirme, genauer gesagt einen der insgesamt vier an jedem Händlerarbeitsplatz vorhandenen Monitore, als »unser Auge zum Markt« bezeichnen. Derartige Bezeichnungen sind bemerkenswert, da sie die Art und Weise darstellen, in der Händler ausdrücken, dass ihre Tätigkeit sowohl von der materiellen Präsenz menschlicher Körper als auch von Technologien abhängt. Mehr noch: Das Verschmelzen von physischen und technologischen Elementen, das sich in derartigen Ausdrucksweisen zeigt, stellt die vermeintlich klare Grenzziehung zwischen Technologien und Körpern in Frage. Das Auflösen von Gegensätzen, wie etwa zwischen Menschen und Artefakten oder zwischen Körpern und Technologien, ist ein wesentlicher Beitrag der Science and Technology Studies. Ein in diesem Feld entwickelter Begriff, der darauf ausgerichtet ist, klar gezogene Grenzen (etwa die zwischen Menschen und Artefakten) in Frage zu stellen, ist das Konzept des »Cyborgs« (Haraway 1988; Gray 1995). Obwohl der Begriff auf futuristische Wesen verweist, wurde er insbesondere zur Beschreibung zeitgenössischer Koppelungen von Mensch und Maschine benutzt. So wurden Wissenschaftler und andere Wissensarbeiter als »Cyborgs« konzeptualisiert und ihre materiellen Wissensinstrumente als »prosthetic devices« (Harraway 1988: 583) gefasst. Prothesen werden hier nicht im medizinischen Sinne als Ersatz für fehlende Körperteile verstanden, sondern vielmehr als Erweiterung und Modifi-
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kation menschlicher Körper. Sie erweitern die menschlichen Möglichkeiten, Umwelten wahrzunehmen und zu manipulieren. Vor dem Hintergrund des Konzepts des »Cyborgs« und der Metapher der Prothese können ansonsten unbemerkte Vollzugselemente des bildschirmvermittelten Finanzhandels in den Blickpunkt gerückt werden. Zunächst stellen die Bildschirme eine Prothese dar, oder wie ein Händler es ausdrückt, einen »Sehapparat«. Im Vergleich zum OpenOutcry-Parkett ist das Neue oder Besondere an diesem Sehapparat weniger seine Fähigkeit, Finanzmarktinformationen in Echtzeit zu visualisieren, sondern die Möglichkeit, gleichzeitig Verschiedenes in verschiedener Form sichtbar zu machen. So beschreibt ein Händler im Interview seinen Reuters-Schirm, dessen Funktion in der Darstellung indikativer Preise von Finanzprodukten besteht, folgendermaßen: SL
Was ist der Reuters-Schirm? Worin besteht seine Aufgabe?
R
Das ist wie ein Sehapparat. Zum Beispiel liefert der Chart hier oben (zeigt auf die animierte F-DAX-Preiskurve, siehe Abb.1 links oben) ein schnelles Gesamtbild für unseren Markt. In den anderen Fenstern kann ich mir alle anderen Markplätze oder Finanztitel heranholen […] z.B. den historischen Verlauf über die letzten drei Monate.
Die Bildschirmoberfläche des »Sehapparats«, den der Händler hier beschreibt, besteht aus etwa zwanzig kleinen und größeren Fenstern, die alle jeweils andere Aspekte und Bereiche des Marktes sichtbar machen (Abb. 1). Ein Fenster ist auf alle wichtigen Aktienindices gerichtet; ein anderes hat die einzelnen Aktien, die den DAX bilden, im Visier; ein weiteres Fenster zeigt laufend neueste Wirtschaftsnachrichten und den Börsenkalender. Das, was den Reuters-Schirm zu einem multiplen Sehapparat macht, ist, dass jedes seiner Fenster das, worauf es ausgerichtet ist, in einer spezifischen visuellen Form darzustellen vermag. Neben stabilen Visualisierungsstrukturen (Zeilen-Spalten-Formate, Farbunterscheidungen) bietet Reuters verschiedene Formate der Visualisierung des Echtzeit-Marktgeschehens: blinken, graphische und numerische Dynamik. Findet ein Umsatz im Handel eines Wertpapiers statt, so signalisiert Reuters dies mit blinkenden Preisen. Je mehr Transaktionen verschiedener Wertpapiere gerade stattfinden, desto mehr gleicht der Reuters-Schirm einem Blinklichtgewitter; numerische Dynamik kommt ins Spiel, wenn sich die Preise in den einzelnen Zellen der Zeilen- und Spaltenstrukturen auf Reuters (Indikativpreise)
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kontinuierlich dem aktuellen Kurs anpassen; graphische Dynamik zeigt sich am Beispiel des F-DAX-Tagescharts. Dieser ist beides: eine dynamisch-strömende und eine stabile Visualisierungsform zugleich. Einerseits begleitet er den Handel den ganzen Handelstag lang in Echtzeit, d.h. die Kurve erstellt mit der Zeit ein Abbild der gesamten Preisentwicklung. Dieses kann analysiert und zeitlich zurückverfolgt werden.4 Andererseits spiegelt die Chart-Kurve stets die augenblickliche Preissituation ohne Zeitverlust und kommt dabei nie zum Stillstand. Sie bewegt sich mit jeder Transaktion entweder nach oben (Preisanstieg), geradeaus (gleich bleibender Preis) oder nach unten (Preisabfall). Da viele Wertpapiere des untersuchten Derivatemarkts als Basiswert den F-DAX haben, ist seine Performanz ein Indikator für den gesamten Derivate-Handel. Aus Sicht der Händler liefert dieser Echtzeit-Chart ein »schnelles Gesamtbild« des Markts. Abbildung 1: Reuters-Schirm eines Derivatehändlers (Auszug)
Der Reuters-Schirm stellt in der Welt des Handelsraums aber nicht nur eine technologische Erweiterung des Sehsinns dar. Die Klassifikation des Bildschirms wird im Sinne der Metapher des »Cyborgs« noch weiter radikalisiert, wenn Teilnehmer die Geräte nicht nur als Instrument, sondern als Teil des eigenen Körpers identifizieren. Diese Identifikation mit den Bildschirmen geschieht im Handelsraum durch die Vergabe gebräuchlicher anatomischer Ausdrücke. So bezeichnen Händler, wie
4
In der Tat stellt die Chart-Analyse, auch Technische Analyse genannt, eine verbreitete finanzmarktinterne Methode zur Deutung und Prognose zukünftiger Marktentwicklungen dar (Mayall 2006).
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bereits erwähnt, ihre Reuters-Monitore als ihr »Auge zum Markt«. Diese Adoption des Bildschirms als Teil des eigenen Körpers erscheint nicht übertrieben, wenn man sie in Zusammenhang mit der Abhängigkeit der Marktteilnehmer von der Bildschirmtechnologie sieht. Die Beobachtung sich ständig ändernder Preise ist nicht nur eine Angelegenheit des Körpers als qualifizierter Handlungsträger und als sensorisches Werkzeug. Sie ist auch eine Sache seiner technologischen Erweiterung, oder wie ein Händler es ausdrückt: »Ohne Reuters wären wir ziemlich blind«. 4. Sensorische Körper Die Präsenz des technologisch erweiterten Körpers verdeutlicht, dass im Handelsraum der Sehsinn entscheidend vorausgesetzt wird. Die Bildschirmoberflächen im Handelsraum sind in vielfältiger Weise darauf ausgerichtet, inspiziert und verarbeitet zu werden. Somit können die Körper der Händler auch als sensorische Instrumente begriffen werden, als Wissenswerkzeuge zur Prozessierung und Verarbeitung von Marktinformation. Diese Rolle des Körpers, die man mit dem Begriff des sensorischen Körpers umschreiben kann, kommt dann zum Tragen, wenn körperliche Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) als epistemische Werkzeuge genutzt werden.5 Allerdings beschränkt sich die Beobachtung von Marktinformation im Handelsraum keineswegs auf den visuellen Sehsinn, d.h. die Händler fungieren nicht nur als »kinematic investors« (Zwick 2005: 32ff.). Das zeigt sich bspw. in Teilnehmerausdrücken, die die Tätigkeit der Marktbeobachtung nicht als visuelle, sondern als multisensorische Aktivität rahmen. Niemand spricht im Handelsraum etwa davon, dass Händler einen guten Blick für den Markt bräuchten: Die Ausdrücke, die unter Händlern zirkulieren, lauten »man muss schnell was erkennen können« oder »laufend mitkriegen, was passiert«. Mit diesem multisensorischen Begriff von Beobachtung korrespondiert eine Praktik des auditiven Beobachtens, der Beobachtung mit dem Ohr, die die Inspektion der Bildschirme ergänzt oder in gewissen Situationen sogar ersetzt. Im Handelsraum ist nicht nur wichtig, was sich auf den Bildschirmen abspielt, sondern auch, was sich im Han5
Knorr Cetina (1988) für eine ethnographische Analyse des Körpers von Naturwissenschaftlern als manueller und sensorischer Träger von Wissenspraktiken im Labor.
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delsraum selbst ereignet. Händler richten stets ein Ohr auf den Handelsraum, da sich dort die »virtuell« übermittelten Marktsituationen in spezifischen Lauten und Verbalisierungen fortsetzen. So ermöglicht der Einsatz des Hörsinns, dass Händler auf Marktbewegungen aufmerksam werden, die sie selbst nicht am Bildschirm verfolgen. Der folgende Ausschnitt aus meinen Feldnotizen verdeutlicht dies an einem Beispiel: C
(nur hör-nicht sichtbar): GLEICH KOMMEN ZA::::HLEN!
B
(blickt vom Fernseher weg und fokussiert Reuters)
In diesem Beispiel ersetzt der Hörsinn zeitweise die visuelle Inspektion der Bildschirme. B., der direkt neben dem Ethnographen sitzt, geht zwar einer Nebenbeschäftigung nach, indem er via Fernsehgerät eine Pokersendung eines Sportkanals mitverfolgt. Gleichzeitig bleibt er aber auditiv mit dem Geschehen des Handelsraums verbunden, sodass er diesen als auditive Informationsquelle nutzen kann. Verlangt der Sehsinn die körperliche Ausrichtung am Objekt, das betrachtet werden soll, so ist der Hörsinn ein ubiquitärer Sinn: ungerichtet und unabschließbar. Die Kompetenz, mit dem Hörsinn verfolgen zu können, was im Markt vor sich geht, weist darauf hin, dass im Handelsraum besonderer Wert darauf gelegt wird, Marktinformationen »vor Ort« zu verarbeiten. Der Handelsraum stellt nicht nur eine technologische Infrastruktur zur Verfügung, sondern produziert strukturierte Gelegenheiten nicht nur für die visuelle Beobachtung des Marktgeschehens, sondern auch für dessen »Formulierung« und Beobachtung mit dem Ohr. Die so geschaffene Transparenz von Preisänderungen wird von den Teilnehmern wahrgenommen und als strategischer Informationsvorteil gesehen. So wurde in einer Diskussion angeführt, in der es um die Möglichkeit ging, den großen Handelsraum zugunsten kleinerer Büros aufzugeben, in denen die Händler allein oder zu zweit arbeiten sollten, dass alleine sitzende Händler dann »nicht mehr so viel mitkriegen« würden wie Händler, die gemeinsam in einem Handelsraum sitzen. Das bedeutet: Hören ist ein mitlaufender und abkürzender Koordinationsmechanismus der Händler, der es ermöglicht, dass sie – gewissermaßen en passant – auf dem Laufenden bleiben. Dieser Koordinationsmechanismus ist keine unbeabsichtige Folge des Bürodesigns des Handelsraums, sondern ein relevanter und von den Fi-
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nanzhandelsprofessionisten wertgeschätzter Bestandteil handelsinterner Wissenspraktiken. 5. Formulierende Körper Die Bedeutung des Hörsinns als sensorisches Instrument im Handelsraum wird besonders deutlich, wenn man sich die dort üblichen vielfältigen Weisen der lautmalerischen und körpergestischen Thematisierung visueller Markbeobachtungen vergegenwärtigt. Derivatehändler praktizieren eine Form der In-Szene-Setzung des Marktgeschehens, die ich Aufmerksamkeitsrufe nenne. Das folgende Transkript vermittelt einen Eindruck. Den darin laut geäußerten »Aufmerksamkeitsrufen« ging eine steile Aufwärtsbewegung eines für den Derivatemarkt wichtigen Basiswerts voraus. Die namentlich genannten Händler sitzen direkt neben dem Ethnographen, Händler 1 und Händler 2 sind für die namentlich genannten Händler und den Ethnographen nur auditiv wahrnehmbar, da ihre Arbeitsplätze durch eine Trennwand abgeschirmt und nicht einsehbar sind. Händler 1
HO::I! (0.2)
Gerhard
DER DA::X!
Peter
DER DA::::X!
Händler 2
HO::::I!
Peter
UND IM PLUS
Das Transkript lässt erkennen, dass das Vokabular von Aufmerksamkeitsrufen aus lexikalischen und nicht-lexikalischen Elementen besteht. Der wichtigste lexikalische Ausdruck ist die im Handelsraum übliche Bezeichnung für Basiswerte (z.B. »DAX« für den DAX Future Index; andere Ausdrücke sind »Gold«, »Öl«, »Bund« etc.). Das laut geschriene Wort »DAX!« spiegelt den Moment, in dem die Preiskurve des Index auf dem Reuters-Schirm ausschlägt. Händler verwenden weitere gerufene Worte, die die Richtung des Ausschlags anzeigen. »Im Plus« oder »Es steigt« steht für einen Preisanstieg; »Im Minus« oder »Es fällt« für einen Preisabfall. Nicht-lexikalische Elemente sind etwa der Ruf »Hoooi« und andere Nicht-Worte. Sie fallen umso erregter und intensiver aus, je länger die Preiskurve sich steil nach oben schreibt oder nach unten ausschlägt. Man könnte sagen: Je imposanter die Preisfluktuation, umso intensiver der Einsatz nicht-lexikalischer »Aufmerksamkeitsrufe«. Außerdem werden »Aufmerksamkeitsrufe«
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nicht nur von den im Transkript vorkommenden Verbalisierungen, sondern von handelsraumtypischen körperlichen »Zeigequalitäten« (Schmidt 2006) begleitet. Das Konzept der »Zeigequalitäten« betont, dass soziale Praktiken immer auch Darstellungspraktiken sind: »Sie zeigen in ihrem Vollzug zugleich an, um was es sich handelt. Sie machen sich für andere erkennbar« (Schmidt 2006: 306). Die »Zeigequalitäten« von »Aufmerksamkeitsrufen« bestehen bspw. im Fall des Einsetzens einer Marktbewegung aus Gesten wie dem Aufstehen, Aufspringen oder Stehenbleiben – solange bis die Real-Time-Preiskurve am Reuters-Schirm wieder waagrecht verläuft. Die Preiskurven werden folglich gleich mehrfach nachgebildet – körperlich, begrifflich und lautlich; die Intensität der Ausrufe steht dabei für die Form, die die Kurve nimmt. Zugleich wird die Kurve auch vervielfacht, so als würde eine Ausdrucksform die Kurvenbewegung nur unvollständig wiedergeben können. »Aufmerksamkeitsrufe« können im Sinne der Ethnomethodologie als Praktiken der »Formulierung« (Garfinkel/Sacks 1970) beschrieben werden. Laut Garfinkel und Sacks stellen Formulierungen eine Praktik dar, mit deren Hilfe die Teilnehmer die Gesprächssituation selbst zum Thema machen und diese ent-indexikalisieren. Gesprächsteilnehmer tun dies z.B. mittels Titelsetzungen, definitorischer Zuspitzungen, Visualisierungen, Beispielumschreibungen etc. Volatile Finanzmärkte müssen aus Sicht der sie beobachtenden Händler ständig entindexikalisiert werden, sie verlangen ihre ständige »Formulierung«, man könnte sagen, nicht nur mit Lauten, sondern auch, wie die Zeigequalitäten von »Aufmerksamkeitsrufen« verdeutlichen, mit Händen und Füßen. Verkörperte »Aufmerksamkeitsrufe« stellen ein handelsraumspezifisches Repertoire für die »Formulierung« erratischer, sich konstant wandelnder Marktsituationen dar. Damit können »Aufmerksamkeitsrufe« als Bearbeitung des Problems der zeitlichen Koordination der Marktakteure angesehen werden. Diese Bearbeitung besteht im Falle der »Aufmerksamkeitsrufe« in einer Praktik der umgehenden und laufenden Anpassung an sich ändernde ökonomische Umstände. Mit »Aufmerksamkeitsrufen« machen die Handelsraumteilnehmer die aktuelle Preisentwicklung des Marktes in umfassender verbaler und körperlich-gestischer Form transparent, maximieren so die Möglichkeit, die richtigen Augenblicke für Transaktionsentscheidungen zu identifizieren und minimieren das Risiko, diese Augenblicke zu verpassen. Der richtige Augenblick für eine Transak-
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tion ist bspw. dann erreicht, wenn die aktuelle Preisentwicklung die persönliche Verlustgrenze, die sich die Händler für spekulative Positionen setzen (»Stop-Losses«) berührt. »Aufmerksamkeitsrufe« verdeutlichen das Eintreten von sich selbst gesetzten »Stop-Loss«-Grenzen und identifizieren damit entscheidende Augenblicke zur Durchführung ökonomischer Transaktionen. Sie sind eine institutionalisierte Form der laufenden Synchronisation mit dem zeitlichen Rhythmus des Marktes, die das Risiko falscher oder verpasster Entscheidungen minimiert. 6. Fazit Ohne Zweifel spielen Technologien eine wichtige Rolle in Finanzmärkten, sei es in der symbolischen Außenwirkung (man denke an die in den Medien allgegenwärtigen Bilder elektronischer Preiskurven) oder im Rahmen ihrer internen Abläufe. Auch der vorliegende Fall des Derivatehandels ist abhängig von Bildschirmmedien, die das Finanzmarktgeschehen für Händler in verschiedenster Weise verfügbar machen. Allerdings – und das zeigen die ethnographischen Beobachtungen im Handelsraum auf breiter Basis – werden diese Bildschirmmedien durch ein ganzes Bündel verkörperter Praktiken ergänzt. Die Bedeutung dieser körperlichen Praktiken liegt in ihrer Relevanz für das im untersuchten Finanzhandel zum Einsatz kommende Aufmerksamkeits- und Beobachtungsregime. Dieses Aufmerksamkeits- und Beobachtungsregime beinhaltet sowohl technologisch vermittelte Visualisierungen, als auch mit ihnen verzahnte körperliche Praktiken der Aufmerksamkeit und Beobachtung. Jede der vier in diesem Beitrag charakterisierten Formen des Körpers im Finanzhandel übernimmt im Rahmen dieser Aufmerksamkeits- und Beobachtungspraktiken relevante Aufgaben: Der handelnde Körper leistet, neben der im Handelsraum notwendigen Kontrolle körperlicher Bedürfnisse, eine Form des blitzartigen Handelns und (Re-)Agierens, die auf dem eingekörperten Wissen und Können der Teilnehmer beruht. Der technologisch erweiterte Körper erfasst die Finanzbildschirme als technologische Erweiterung und Modifikation der Fähigkeit der Händler, den Markt zu beobachten. Der sensorische Körper ergänzt die visuelle Beobachtung von Preisen durch den Einsatz des Hörsinns. Dabei richtet er sich insbesondere auf die von Händlern praktizierten verkörperten Formulierungen des Marktes mittels Aufmerksamkeitsrufen.
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Worin besteht nun aber die Bedeutung des Gesagten für die Erforschung von Finanzmärkten? Inwiefern trägt die Beachtung des Körpers zum soziologischen Verständnis von Finanzmärkten bei? Erstens erweitert eine körpersensitive Perspektive die innerhalb der Social Studies of Finance prominente Konzeptualisierung von Finanzmärkten als technologievermittelte Praxis. Sie portraitiert Finanzmärkte als Arenen, in denen spezialisierte Wissenspraktiken von besonderer Bedeutung sind, deren materielle Basis nicht nur in der Abhängigkeit und Beeinflussung durch materielle Artefakte und (finanz-)mathematische Zeichen, sondern auch in ihrer Verkörperung zu sehen ist. Zweitens ergeben sich damit auch Impulse für die wirtschaftssoziologische Frage nach der Koordination in Märkten. Die in diesem Beitrag untersuchten körperlichen und sensorischen Verhaltensweisen stellen eine konkrete und beobachtbare Praktik der Bearbeitung des insbesondere in volatilen Finanzmärkten relevanten Problems der zeitlichen Koordination der Marktakteure dar. Im Fall des Derivatehandels wird das Risiko falscher oder verpasster Entscheidungen durch kontextspezifische Praktiken der Aufmerksamkeit und Beobachtung bearbeitet. Diese umfassen nicht nur eine multisensorische Beobachtung sich ständig wandelnder Marktpreise, sondern auch ihre Deutung und Darstellung mittels multimodalem Handeln: ein Sehen und Hören, ein Gestikulieren, Formulieren und Entscheiden im Takt des Marktes.
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Die Performanz des Portfoliomanagements Eine Fallstudie L UISE K LUS
1. Einleitung Mit dem positiven Trend auf den Aktienmärkten bis zum Jahr 2007 wurde auch in Deutschland wieder mehr Kapital angelegt. Dabei fand eine starke Entwicklung von Anlageprodukten statt und eine immer steigende Anzahl von privaten und institutionellen Anlegern investierte ihr Vermögen in von Kapitalanlagegesellschaften aufgelegte Fonds. Im Jahr 2007 wurden somit 1.409 Milliarden Euro in Fonds verwaltet und das Fondsvolumen ist in den 15 Jahren zuvor durchschnittlich um 15,5 Prozent jährlich gestiegen (Schwertfeger 2007: 112). Diese Entwicklung hat sich durch die Finanzmarktkrise im Jahr 2008 verlangsamt, dennoch kommt dem Portfoliomanagement in Kapitalanlagegesellschaften nach wie vor eine große Bedeutung zu. Der bis 2007 andauernde Trend zeigte verschiedene Effekte: Er führte zu einer Popularisierung des Portfoliodenkens, zur Attraktivität von Investmentfonds als Anlagemöglichkeit und zu einer Intensivierung des Wettbewerbs in diesem umkämpften Bereich der Finanzmärkte. Zu jener Zeit operierten etwa 200 deutsche und ausländische Anbieter mit über 9.000 Investmentfonds auf dem deutschen Finanzmarkt (Schwertfeger 2007). Die Zahlen der Jahresstatistik 2010 sind auf einem ähnlichen Stand wie drei Jahre zuvor, der stetige Wachstumstrend wurde also unterbrochen. Die durch die Finanzkrise hervorgerufene Konsolidierung führt zumindest temporär zu einem verstärk-
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ten Wettbewerb unter den Anbietern, die mit ihren Fonds Marktanteile zu sichern und zu optimieren suchen. Insbesondere die Anbieter von Spezialfonds für institutionelle Kunden spüren den erhöhten Wettbewerbsdruck, der sich in einer stetigen Verringerung der Anzahl der Anbieter ausdrückt.1 Im Zuge dieses sich kontinuierlich restrukturierenden Marktes rückte auch die Praxis des Portfoliomanagements und damit auch seine Verkörperung im Portfoliomanager sowie der gesamte Prozess der Fondsbildung in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. In der wirtschaftssoziologischen Forschung spielte die Untersuchung des Bank- und Finanzwesens lange Zeit keine ausgewiesene Rolle. Vereinzelt gab es etwa Studien zu den Formen der Verflechtung von Produktionssektoren der Wirtschaft und den nationalen Bankensystemen (Pfeiffer 1993), über verschiedene Bankgeschäfte (Compton 1983), zur Rolle der Weltbank (Hanke 1996) oder über das internationale Bankwesen (Mullineux 1987). Dies änderte sich langsam durch Publikationen, in denen die Bankwirtschaft und Finanzmärkte systematischer erörtert wurden (Mizruchi/Stearns 1994). Diese wachsende Aufmerksamkeit der Wirtschaftssoziologie hat zumindest zwei Gründe: erstens die zunehmende Bedeutung des global vernetzten Finanzsektors, zweitens die »Auswanderung« des Gegenstandes in andere Gebiete der Sozial- und Kulturwissenschaften. Ein prominentes Beispiel hierfür sind die Social Studies of Finance – und damit die neue Finanzsoziologie. Ihr Ziel ist es, die methodisch-empirischen und theoretischen Perspektiven der neuen Wissenschaftssoziologie auf die Finanzwelt zu übertragen. In den Fokus der empirischen Aufmerksamkeit geraten so die alltäglichen Praktiken und Wissensformen des Finanzsektors, die Rolle der implementierten Technologien sowie die Logik ökonomischer Darstellungen (de Goede 2005). Beobachten lässt sich also eine verstärkte Tendenz, die Akteure und die beobachtbaren Handlungen auf Märkten und in Organisationen selbst in den Blick zu rücken, ökonomische Modelle nicht als Repräsentation von Wirklichkeit zu verstehen, sie aber auch nicht in ihrer Wirkung für die Praxis zu unterschätzen. Im Einzelnen einige Studien, die für diesen Beitrag relevant sind: Die Untersuchungen von Karin Knorr Cetina und Urs
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Quelle: BVI Bundesverband Investment und Asset Management e.V http://www.bvi.de/de/statistikwelt/Investmentstatistik/download/ZR_FVM A_1950_bis_2010.pdf; 30.03.2012.
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Brügger (2002) beziehen sich auf einen ganz spezifischen Finanzmarkt, und zwar den global operierenden Devisenmarkt (FX-Market). Sie führen aus: »Financial markets, however, are primarily concerned with neither the production of goods nor their distribution to clients, but with trade – the trading of currencies and financial instruments not designed for consumption« (Knorr Cetina/Brügger 2002: 912).
Zentrale Merkmale dieses Marktes, der einer ganz und gar eigenen sozio-materiellen Logik und zeitlichen Dynamik folgt, sind u.a. global vernetzte Rechnersysteme, schriftlich standardisierte Interaktionsformen und Zeitrrwartungen. Die Trader treffen ihre Kauf- bzw. Verkaufsentscheidungen auf der Basis einer technisch gestützten Visualisierung ökonomischer Informationen, die den Tradern eine Beobachtung von Märkten und Devisenkursen erlaubt. Diese spezifische Form der Vergegenwärtigung und Darstellung von ökonomischen Informationen beschreiben Knorr Cetina/Brügger (2002) mit dem phänomenologischen Konzept der Appräsentation. Das Appräsentationsmodell Karin Knorr Cetinas steht in der Tradition einer phänomenologisch und interaktionstheoretisch ausgerichteten Soziologie; im Zentrum stehen hier die Wissenspraktiken der Akteure, die Rolle technischer Objekte und die Mikrofundierung globaler Prozesse. Anders das Formatierungsmodell Michel Callons (1998): Es steht in der Tradition der posthumanistischen Perspektive der Actor Network Theory, die den Artefakten einen akteursanalogen Status zuweist (Latour 2001). Zwei Überlegungen sind kennzeichnend für die Optik Michel Callons: Erstens wird argumentiert, dass die Ökonomie in die Wirtschaftstheorie eingebettet ist. Begründet wird diese Einbettung mit dem formatierenden und praktischen Effekt der Wirtschaftstheorie (economics) auf das praktische Handeln ökonomischer Akteure (economy) (Callon 1998: 23). Zweitens geht Callon (1998: 51) davon aus, dass rationale Kalkulation vorhanden, aber nicht das Ergebnis individueller Eigenschaften ist, sondern durch technische und theoretische Artefakte ermöglicht wird (Kalthoff 2004). In diesen theoretischen Rahmungen liegen eine Vielzahl von (empirischen) Untersuchungen vor (bspw. Preda 2009; Lepinay 2011; Kalthoff 2011; Muniesa 2007); sie können in ihrer Gesamtheit hier nicht dargestellt werden. Wichtig für die Analyse des Portfoliomana-
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gements sind hier zwei weitere Arbeiten: Nach Donald MacKenzie (2005) ist Arbitrage der Hauptmechanismus auf den Finanzmärkten. Unter Arbitrage wird ein Handel verstanden, durch den eine Rendite über Preismechanismen erwirtschaftet wird. Wenn zwei gleichwertige Vermögensgegenstände temporär nicht zum gleichen Preis gehandelt werden, kann durch geschicktes Verkaufen und Kaufen des gleichen Wertes ein Überschuss erzielt werden. Für MacKenzie (2005) ist das Öffnen der Black Box Arbitrage ein entscheidender Hebel für das Verständnis der Finanzwelt. Für die hier vorzustellende Untersuchung des Portfoliomanagements stellt sich die Frage, welche Rolle das Momentum des Arbitrage-Gewinns im Portfoliomanagement spielt und zu welcher Arbeitsweise das Streben nach Arbitrage führt. Dabei muss auch das Verständnis des Begriffs Arbitrage geklärt werden. Michel Abolafia (1996) untersucht die Praxis von Bond Tradern, d.h. Finanzmaklern, die mit Rentenpapieren handeln. Er beschreibt ihre Arbeit als ein rationales Spiel – »situations in which the actors actually train for the choice situations they are likely to face on a daily basis« (Abolafia 1996: 230). Abolafia zeigt im Detail, wie die Prozesse der Informationsbeschaffung, Kalkulation und Interpretation der Daten das Spiel der Bond Trader bestimmen. Es verstrickt sich dann situativ in Widersprüche, wo Wachsamkeit und intuitives Urteil nicht mehr komplementär organisiert sind. Der Beitrag schließt an die hier kurz skizzierten Arbeiten an und will die praktische Umsetzung des Portfoliomanagements analysieren. Festzustellen ist, dass bisher nur wenige finanzsoziologische Untersuchungen zum Portfoliomanagement vorliegen, was Gegenstand dieses Beitrags ist (etwa Vormbusch in diesem Band). Das professionelle Portfoliomanagement von Kapitalanlagegesellschaften ist weniger volatil und unterliegt auch einem weit geringeren Zeitdruck als die Arbeit eines Traders auf dem Trading Floor. Im Gegenteil, in seiner Konstruktion enthält ein Portfolio sehr strategische Elemente und ist abhängig von der Produktentwicklung; dies liegt u.a. an der längerfristigen Anlagestrategie, den Anforderungen der Investoren und den Zielen der Finanzinstitution. Der andere Zeithorizont lässt intuitive und ad-hoc-Entscheidungen, die innerhalb weniger Sekunden gefällt werden, in den Hintergrund treten. Ist die andauernde Interaktion konstitutiv für den Devisenhandel, so findet im Portfoliomanagement eine Beobachtung zweiter Ordnung statt – man beobachtet Aktienmärkte und andere Kapitalanlagegesellschaften –, welche die Basis der Entschei-
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dungen ist. Ein Portfoliomanager muss zwar auch situativ schnell reagieren und handeln können (etwa bei der Umschichtung eines Portfolios), aber konstitutiv ist eine langsamere Zeit für sein Handeln. Hinzu kommt, dass sich die Entscheidungsspielräume von Devisenhändlern und Portfoliomanagern stark unterscheiden. Werden im Portfoliomanagement strategische Anlageentscheidungen in der Regel in entsprechenden Entscheidungsgremien beschlossen und dann von den Portfoliomanagern umgesetzt, so verkörpert der Devisenhändler Entscheidung und Umsetzung in seiner Person. Das Management eines Fonds erfolgt abhängig von der Strategie und auch vom Unternehmensstil der jeweiligen Kapitalanlagegesellschaft; es kann daher auch nach sehr unterschiedlichen Kriterien vorgenommen werden. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in die Welt des Portfoliomanagements, zeigt Spielarten seiner Gestaltung auf und untersucht die Rolle des Portfoliomanagers. Zunächst erfolgt eine Darstellung der ökonomischen Modellierung und damit theoretischen Rahmung des Portfoliomanagements in den Wirtschaftswissenschaften (2.). Darauf folgt die Beschreibung und Analyse des Portfoliomanagements am Beispiel einer Bank und ihrer Kapitalanlagegesellschaft (3.). Die empirischen Daten, die der Beitrag vorstellt, basieren auf Interviews mit Portfoliomanagern. 2. Grundlagen der Portfolio- und Kapitalmarkttheorie Eine allgemeine Definition des Portfolios wurde von Spremann (2005: 6) formuliert: »Ein Portfolio ist eine gedankliche und rechnerische Zusammenfassung der Kapitalanlagen und Vermögensteile einer Person, eines Haushaltes oder einer Institution zum Zweck der rechnerischen Zusammenfassung, Darstellung und Kontrolle finanzieller Eigenschaften des Portfolios und seiner Komponenten, vor allem der Werte, der Rendite sowie der Exponiertheit (Exposure) gegenüber Risiken. Die vom Investor gewünschten Merkmale Sicherheit, Rendite und Liquidität sollen durch das Portfolio insgesamt zustande kommen«.
Aus dieser allgemeinen Definition geht hervor, dass es bei der gezielten Erstellung eines Portfolios, wie es beim professionellen Portfoliomanagement geschieht, vor allem darum geht, die Kontrolle über Investitionen und Transaktionen zu bewahren. Durch vielfältige Berechnungen und Beobachtungen sowie durch die Aufteilung des Vermö-
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gens auf unterschiedliche Wertpapiere, die in ihrer Wertentwicklung in keinem direkten Zusammenhang stehen, wird versucht, das durch die einzelnen Anlagen eingegangene Risiko kontrollierbar und ausgleichend zu gestalten. Abbildung 1: Risikominderung durch Diversifikation
Risiko des Portfolios
Unsystematisches (unternehmensspezifisches) Risiko Systematisches (Markt-)Risiko Anzahl der Wertpapiere
Quelle: Achleitner (2000: 638)
Hintergrund dieser Konzeption sind folgende Überlegungen: Ziel der Portfoliotheorien ist es, Leitlinien beim Investitionsvorgang aufzuzeigen und damit Handlungsanweisungen zur bestmöglichen Konstruktion eines Portfolios zu liefern. Der Grundgedanke besteht in der Idee, dass mit einer höheren Anzahl investierter Werte ein geringeres Risiko eines Wertverlustes des Portfolios insgesamt erreicht wird. Bei der Vermögensanlage dient die Bildung eines Portfolios also vor allem der Streuung des Risikos, d.h. es werden mehrere Anlagealternativen in verschiedenen Wirtschaftssektoren verfolgt. Die Verringerung des Risikos durch die Aufnahme mehrerer Werte in ein Portfolio wird in Abb. 1 dargestellt. Dabei stellt das unsystematische Risiko dasjenige Risiko dar, welches durch die Akquisition einer bestimmten Anlage entsteht, während das systematische Risiko das allgemeine Marktrisiko beschreibt. Während das unsystematische Risiko durch die Portfoliobildung gering miteinander korrelierender Werte verringert werden kann, bleibt das Marktrisiko trotz der Bildung eines Portfolios bestehen (Achleitner 2000: 637ff.; Steiner/Bruns 2002: 3f.). Dabei wird versucht, das gewünschte Renditeziel mit einem vorab definierten kontrollierten Risikoprofil zu erzielen. Ein Portfolio kann aus verschiedenen Werten gebildet werden, die unterschiedliche Charakteristika aufweisen. Sie werden in sogenannte »Asset-Klassen« eingeordnet (Gantenbein et al. 2000: 32ff.);
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Tabelle 1 gibt einen Überblick über verschiedene Arten von Fonds, die auf dem Kapitalmarkt angeboten werden. Bei den Fonds, über die im Rahmen dieser Arbeit gesprochen wird, handelt es sich vor allem um Aktienfonds, Rentenfonds und gemischte Fonds (Aktien und Renten). Tabelle 1: Charakteristika verschiedener Fondstypen Fondstyp
Risikograd (relativ)
Anlagehorizont
Ertragspotential
Einschätzung
Aktien
mittleres bis hohes Risiko
mittelbis langfristig
Hohe Wertsteigerung
Ertragsstarke, inflationsneutrale Anlagemöglichkeit
Renten
mittleres bis geringes Risiko
mittelbis langfristig
am Zinsniveau orientiert
risikoarme Alternative, geeignet zur Altersvorsorge
Immobilien
Geringes Risiko
mittelbis langfristig
Beständige Wertentwicklung
sichere und oft steuerbegünstigte Anlage
Geldmarkt
Geringes Risiko
kurz- bis mittelfristig
am Zinsniveau des Geldmarktes orientiert
Möglichkeit zum sicheren Parken von Liquidität
Gemischt
mittleres Risiko
mittelbis langfristig
wie oben
flexible Anlageform, alle Vorteile einer Investition in Aktien bzw. Anleihen
Hedge
hohes Risiko
kurz- bis mittelfristig
hohes Ertrags-/ Verlustpotenzial
insbesondere zur spekulativen Anlage geeignet
Quelle: Achleitner (2000: 612)
Die historische Entwicklung der Portfolio-Theorie Im Talmud wurde bereits vor mehr als 2000 Jahren die Diversifikation des Vermögens mit der Maßgabe empfohlen, ein Drittel davon in Land, ein Drittel in Geschäften anzulegen und ein weiteres Drittel liquide zu halten. Übertragen auf heutige Umstände heißt das, ein Drittel des Vermögens in Immobilien und ein Drittel in Aktien zu investieren. Die Liquiditätsforderung entspräche einem Konto bzw. der Investition in jederzeit verkaufbare Staatsanleihen. Dieser Diversifikationsansatz wird als naive Diversifikation bezeichnet. Bei der Herausbildung der wissenschaftlich fundierten Portfoliotheorie nennt Spremann (2008: 55ff.) zwei für ihn hervorstehende
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Meilensteine: zum einen die Entwicklung der technischen Analyse, angestoßen durch Charles Dow, der um 1910 in New York Börsenkurse aufzeichnete. Die Ergebnisse der Analyse dieser Kursverläufe waren die Basis für die Erarbeitung von Prognosen. Der Anknüpfungspunkt für die technische Analyse besteht in der Annahme, dass die Marktteilnehmer Kursverläufe beobachten, diese Beobachtungen in die öffentliche Diskussion und Bewertung einfließen und die Investoren daraufhin ähnlich auf diese Marktinformationen reagieren. Aus diesen Reaktionen und daran gekoppelte Transaktionen entstehen Kursmuster und Formationen, die anhand von Erfahrungswerten prognostiziert werden können. Den zweiten Meilenstein sieht Spremann in der Entwicklung der Fundamentalanalyse. Diese wurde durch das Buch »Security Analysis« von Benjamin Graham und David Dodd (1934) begründet. Graham/Dodd votieren für das sogenannte »Stock Picking«, d.h. sie empfehlen den Anlegern, den Kauf oder Verkauf der Aktien erst nach einer genauen Analyse der Einzelwerte vorzunehmen. Der Ansatz besteht darin, herauszufinden, ob der »wahre Wert« der Unternehmensaktie von dem an der Börse gehandelten Aktienkurs abweicht und daraus als Anleger Vorteile zu erzielen. 1990 wurde der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften an Harry Markowitz, Merton Miller und William Sharpe verliehen. Dadurch rückte die sogenannte moderne Portfoliotheorie, deren grundlegende Werke Markowitz und Roy schon in den 1950er Jahren geliefert hatten, vermehrt in die öffentliche Aufmerksamkeit (Mertens 2004). Die Neuheit des von Markowitz vorgeschlagenen Ansatzes lag in der Einbeziehung des Faktors »Risiko« in den Auswahlprozess und der Bereitstellung einer Formel, die dieses Risiko quantifizierbar machte (Spremann 2006: 52ff.). Markowitz’ Arbeit über die Portfoliotheorie hatte erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der modernen Finanzmathematik und ihre Übertragung auf praktische Anwendungsgebiete (Wang/Xia 2002; Ferri 2010). Milne (1995) skizziert die Entwicklung der Finanztheorie seit den 1950er Jahren unter Hervorhebung der bedeutendsten Theoretiker und ihrer Modelle. Er kommt zu dem Schluss, dass die abstrakten Ideen der 1950er und 1960er Jahre, die in ihrer praktischen Anwendung als höchst begrenzt eingeschätzt wurden, heute die gemeinsame Sprache der Finanzmärkte darstellen.
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Tabelle 2: Wandel der Grundidee zur Zusammenstellung von Portfolios Talmud
Naive Diversifikation
Weder Renditeerwartung noch Risiko muss explizit bestimmt werden
Dow um 1910
Technische Analyse anhand von Kursverläufen
Die Prognose der Reaktion der übrigen Markteilnehmer bestimmt die Anlagestrategie
Graham und Dodd um 1934
Selektion unterbezahlter Aktien durch Fundamentalanalyse
Unternehmensbewertung durch Finanzanalyse
Moderne Portfoliotheorie: Markowitz, Roy, Sharpe, Tobin u.a. um 1960
Messung des Risikos anhand der Renditestreuung und Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
Beschreibung der Einzelanlagen durch die Verteilungsparameter
Neuere Ansätze um 1990
Fokus auf diverse Risikofaktoren
Beschreibung der Wertsensitivität des Kurses einer Anlage
Quelle: Spremann (2003: 25)
Portfoliotheorie nach Markowitz Markowitz’ Portfolio Selection-Modell begründet sich auf der empirischen Beobachtung, dass Anleger ihre Vermögensanlage in verschiedenen Werten realisieren. Eine solche Diversifikation macht nur Sinn, wenn neben der zu erzielenden Rendite noch andere Kriterien bei der Investitionsstrategie hinzugezogen werden. Richtet sich der Fokus allein auf die zu erzielende Rendite, so würde die Investition in einen einzigen Anlagetitel, der die höchste Renditewahrscheinlichkeit hat, die logische Konsequenz darstellen. Da dies aber der empirischen Beobachtung widerspricht, geht Markowitz davon aus, dass dem Anlageverhalten eines Investors keine monovariable Zielfunktion zugrunde liegt. Daher analysiert er die Zusammenstellung von Portfolios anhand zweier Größen: der Rendite (ȝ) und des Risikos (ı). Es wird angenommen, dass die individuellen Akteure zwischen der maximalen Renditeerwartung und dem Eingehen des minimalen Risikos ihr Gleichgewicht finden, das zu ihrer individuellen Investment-Entscheidung führt (Steiner/Bruns 2002; Nickel 2005; Wang/Xia 2002). Die erwartete Rendite eines Portfolios (ȝp) ergibt sich dabei aus dem Durchschnitt der Renditen der im Portfolio enthaltenen Einzeltitel:
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beziehungsweise2
ȝp = erwartete Portfoliorendite xi = Anteil des Wertpapiers i am Portfolio ȝi = Erwartungswert der Rendite des Wertpapiers i n = Anzahl der im Portfolio enthaltenen Wertpapiere
Das Risiko eines Portfolios wird mit Hilfe der Varianz, einem aus der Statistik bekannten Streuungsmaß, gemessen. Die Varianz wird wie folgt errechnet:
ıp² = Varianz der Rendite des Portfolios p T = Anzahl der beobachteten Renditen des Portfolios (Zeitperioden) Rpt = Rendite des Portfolios p in der Periode t ȝp = erwartete Portfoliorendite
Anstelle der Varianz wird häufig die Standardabweichung als Risikomaß verwendet. Die Standardabweichung stellt die Wurzel aus der Varianz dar: ı=¥ı² (Steiner/Bruns 2002: 7f. ; Wang/Xia 2002: 2ff.). Das zentrale Konzept im Markowitz-Modell stellen »effiziente Portfolios« dar. Das bedeutet: Bei einer gegebenen gewünschten Renditeerwartung wird das Portfolio ausgewählt, welches das geringste Risiko trägt. Bei einer gegebenen Risikobereitschaft eines Investors wird dementsprechend das Portfolio mit der höchsten Renditeerwartung ausgewählt. Dieses Verhalten wird unter dem Schlagwort der ȝ-ı-Effizienz zusammengefasst. Die Menge der ȝ-ı-effizienten Portfolios bildet die sogenannte Effizienzkurve (efficient frontier). Das Modell versucht nicht, die genauen Präferenzen eines jeden Individuums darzustellen, da dies angesichts der individuell unterschiedlichen Gewichtungen von Rendite und Risiko schwer zu leisten ist. Fest steht jedoch, dass sich die Auswahl der Investoren auf Portfolios be-
2
Beide Terme haben die gleiche Aussage und unterscheiden sich lediglich durch die mathematische Schreibweise.
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schränkt, welche auf der Effizienzkurve liegen (Wang/Xia 2002: 3; Steiner/Bruns 2002: 9). Es lassen sich folgende zentrale Aussagen des Portfolio-SelectionModells festhalten (Steiner/Bruns 2002: 7): Maßgeblich für die Konstruktion eines Portfolios sind die Größen »erwartete Rendite« und »Risiko«; aus Gründen der Risikoreduktion ist die Bildung von Wertpapieren sinnvoll; als effizient werden solche Portfolios bezeichnet, zu denen es bei gleicher Rendite kein Portfolio mit einem geringerem Risiko gibt, und zu denen es bei gleichem Risiko kein Portfolio mit einer höheren Rendite gibt; hohe Bedeutung für die Risikosteuerung eines Portfolios besitzt das Ausmaß des Gleichlaufs (Höhe der Korrelation) der Renditen der einzelnen Wertpapiere im Portfolio. Wang/Xia (2002: 22) stellen in ihrer Betrachtung der PortfolioTheorie von Markowitz und den daran anknüpfenden Theorieansätzen fest, dass trotz der fortwährenden Weiterentwicklung dieser Theorie bestimmte Probleme und Faktoren auch heute noch nicht zufriedenstellend gelöst sind. Darunter fallen Transaktionskosten, Mehrperiodenbetrachtung, unvollständige Information und Einflussstärke anderer Faktoren, wie Finanzrestriktionen, sich ändernde Zinsen und die jeweilige Kapitalstruktur. Somit dauert die fortwährende Weiterentwicklung und Optimierung theoretischer Modelle an, in der Hoffnung, dass durch sie die Praxis besser abzubilden ist. Capital Asset Pricing Model (CAPM) Das von Sharpe Anfang der 1960er Jahre entwickelte CAPM basiert auf den Erkenntnissen der Portfoliotheorie (Sharpe 1963). Das CAPM liefert eine genaue Prognose über das Verhältnis des Risikos und der Renditeerwartung eines Wertes. Die im Vergleich zur Portfoliotheorie weiter gefasste Fragestellung des CAPM zielt darauf ab, welche Rendite von einem Portfolio im Kapitalmarktgleichgewicht erwartet werden kann, wenn neben den mit Risiko behafteten Anlagemöglichkeiten auch eine Anlage ohne Risiko getätigt werden kann. Die Antwort erschließt sich graphisch durch die sogenannte Kapitalmarktlinie, während die Wertpapierlinie beschreibt, welchen Preis ein Wertpapier des Portfolios im Kapitalmarktgleichgewicht hat und von welchem Risiko für ein solches Wertpapier auszugehen ist (Steiner/Bruns 2002: 22). Das CAPM stellt die einfachste und zuerst entwickelte Form eines »general equilibrium model« dar, welches von der Portfoliotheorie abgeleitet wurde, aber seinerseits wiederum Impulse für die Erstellung
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eines optimalen Portfolios liefert. Das CAPM basiert auf einer Reihe von Annahmen, u.a.: keine Transaktionskosten, keine Steuern, Teilbarkeit der Anlagen, vollkommene Konkurrenz, unbegrenzte Leerverkäufe, homogene Erwartungen der Investoren und alle Anlagegüter sind handelbar (Elton et al. 2003: 292f.; Wang/Xia 2002: 146; Steiner/Bruns 2002: 22ff.). Die Gültigkeit des Modells konnte trotz zahlreicher empirischer Untersuchungen weder bestätigt noch eindeutig verworfen werden. Der Hauptkritikpunkt am Modell besteht in der Realitätsferne der Annahmen. Dennoch stellt das CAPM das bekannteste Erklärungsmodell des Zusammenhangs zwischen der Renditeerwartung und dem Risiko von Wertpapieren dar. Einerseits beschreibt es den Trade-Off zwischen Rendite und Risiko, andererseits wird das Modell aber auch normativ im Bereich der Performance-Messung der Anlageergebnisse von Investmentfonds angewendet (Steiner/Bruns 2002: 29f.). Eine Weiterentwicklung des CAPM stellt das Intertemporal CAPM (ICAPM) dar, welches prinzipiell ähnlich aufgebaut ist. Der Unterschied liegt darin, dass das ICAPM in Abgrenzung vom CAPM nicht von ȝı-effizienten Portfolios ausgeht, sondern in die Entscheidungsstruktur der Investoren mehrere Faktoren (multi-factor-efficient portfolio) mit einbezieht (Fama 1996). 3. Gestaltung und Messung des Portfolios Zunächst wird aktives und passives Portfoliomanagement voneinander unterschieden. Hinter der Entscheidung zum passiven oder zum aktiven Portfoliomanagement steht die Einstellung der Verantwortlichen zu der Theorie der effizienten Märkte. Wird der These eines effizienten Marktes gefolgt, trifft man die Annahme, dass alle Informationen verfügbar sind und sich in den Preisen der verschiedenen Anlagegüter widerspiegeln. Diese Annahme führt zu dem Schluss, dass es keine Fehlbewertungen gibt und es somit auch nicht möglich ist, durch eine gezielte Auswahl von Anlagen mehr zu verdienen als es die Marktentwicklung zulässt. Dies führt dann dazu, dass ein sogenanntes passives Portfoliomanagement als Strategie verfolgt und somit versucht wird, den annahmegemäß effizienten Markt im Portfolio nachzubilden. Bei einem aktiven Portfoliomanagement wird die These der informationseffizienten Märkte abgelehnt. Somit kann durch die Auswahl von marktseitig unterbewerteten Papieren, die durch eine Fundamentalanalyse ermittelt werden, und durch geschicktes Kaufen und Verkaufen
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eine Rendite erzielt werden, die höher ist als die Marktrendite (bspw. Nickel 2005; Zimmermann 2006; Spremann 2008). Um die Anlage und Performance eines Portfolios zu beurteilen, werden verschiedene Kennzahlen herangezogen. Die Bewertung und Gewichtung der verschiedenen Kriterien und Kennzahlen führt zu dem jeweiligen Anlagenstil, der die Asset-Allokation bestimmt. Der Anlagestil legt fest, welche Informationen gesammelt, wie sie bewertet werden und an welchem Zeitpunkt diese zu Veränderungen am Portfolio führen sollten. Nachfolgend werden die wichtigsten Kriterien und Kennzahlen, die in der Praxis zu Anlagenentscheidungen führen, beschrieben. Anhand dieser Kriterien werden die drei Haupt-AssetKlassen (Bonds, Aktien, Cash) in der Praxis in weitere untergeordnete Asset-Klassen eingeteilt. Rentenpapiere könnten z.B. in diese fünf Asset-Klassen eingeteilt werden: Kurzläufer-Staatsanleihen (bis ca. drei Jahre Laufzeit), Längläufer-Staatsanleihen in Referenzwährung (acht bis 15 Jahre), Ultralangläufer (mehr als 20 Jahre), Unternehmensanleihen, Fremdwährungsanleihen (Spremann 2008). Weiterhin spricht man bei Renten von einer Länderallokation, weil sie nach den jeweiligen Wirtschafts- und Währungsräumen ausgewählt werden. Bei Staatsanleihen spielen auch die Ratings, d.h. die Einschätzung des Kreditausfallrisikos des jeweiligen Landes durch unabhängige Ratingagenturen, eine große Rolle, wie man es bei der momentanen Eurokrise in der Presse verfolgen kann. Weiterhin spielt beim Entscheidungsprozess von Investitionen im Rentenmarkt das Konzept der Duration eine wesentliche Rolle. Der Wert eines Rentenpapiers verhält sich gegensätzlich zum Wert des Marktzinses. Dies bedeutet, ein Rentenpapier mit langer Laufzeit (long) gewinnt an Wert und ein Rentenpapier mit kurzer Laufzeit (short) verliert an Wert, wenn der Marktzins sinkt. Anhand der Duration wird das Marktrisiko eines Rentenpapiers berechnet. Die Duration wird auf zwei Arten ausgedrückt: zum einen als Zeitraum (Jahre), in dem das Einstiegskapital des Anlegers gebunden ist, d.h. der Zeitpunkt, an dem er seinen Einstandsbetrag unter Berücksichtigung der Couponauszahlungen zurück erhält; zum anderen als Maß für die Zinssensibilität eines Rentenpapiers. Ein Rentenpapier hat eine hohe Zinssensibilität, wenn sich der Wert des Papiers bei einer größeren Veränderung des Marktzinses entsprechend stark verändert (Bellke/Polleit 2009: 256ff.). Ein weiteres Kriterium bei der Auswahl von Rentenpapieren besteht darin, an welcher Stelle auf der Zinskurve das jeweilige Papier
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angesiedelt ist. Durch die Zinskurve wird die Verteilung der Rentenrenditen über die unterschiedlichen Laufzeiten beschrieben. An dieser Stelle wird nur auf die normale Zinskurve eingegangen (in Abgrenzung zur inversen oder zur flachen Zinskurve) und es werden die unterschiedlichen Anlageentscheidungen beschrieben, die anhand der Zinskurve getroffen werden können. Sie sollen als Beispiel dafür dienen, dass je nach Marktprognose unterschiedliche Vorgehen gewählt werden und dass diese in der Praxis entwickelten Vorgehensweisen von der Theorie aufgegriffen und unter speziellen Begriffen systematisiert werden. Die Rendite von Rentenpapieren mit langfristigen Laufzeiten ist bei der normalen Zinskurve größer als die von Renten mit kurzen Laufzeiten. Dies wird mit langfristiger Inflationserwartung oder mit Liquiditätspräferenz3 erklärt. Diese »Nachteile« eines längeren Anlagehorizontes muss der Markt durch eine Laufzeitenprämie für das höhere Risiko ausgleichen. Bei den sogenannten Zinskurvenstrategien wird versucht, ein Portfolio zu strukturieren, welches optimal auf das Eintreten des erwarteten Zinskurvenszenarios abgestimmt ist. Hierbei werden die Barbellstrategie (Hantel), die Bulletstrategie (Kugel) und die Ladderstrategie (Leiter) als häufigste Strategien unterschieden. Bei der Barbellstrategie wird das Portfolio aus Werten gebildet, die zwei unterschiedliche Laufzeitenbereiche abbilden. Zum Beispiel wird zur Hälfte in kurzfristige Anlagen mit Laufzeiten von drei Monaten bis zu zwei Jahren (z.B. Geldmarktanlagen oder variabel verzinsliche Anlagen) investiert und zur anderen Hälfte in langfristige Papiere mit 10 bis 30 Jahren Laufzeit. Die Barbellstrategie wird gewählt, wenn mit einer Zinserhöhung an einem Ende, höchstens kombiniert mit einer Zinssenkung am anderen Ende gerechnet wird. In diesem Fall würde die Zinskurve sich verflachen oder steiler werden. Da die Portfoliowerte auf beiden Enden der Zinskurve positioniert sind, ist der Anleger gegen solche Drehungen abgesichert. Bei der sogenannten Bulletstrategie wird das Portfolio aus Werten mit mittleren Laufzeiten von fünf bis sieben Jahren gebildet. Diese Strategie bietet also einen geringeren Schutz vor Zinsänderungen, aber erreicht auch eine bessere Verzinsung. Die Bulletstrategie macht dann Sinn, wenn erwartet wird, dass
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Es wird davon ausgegangen, dass Anleger in der Regel kurzfristige Laufzeiten bevorzugen, da längere Laufzeiten mit größeren Zinsänderungs- und Kreditrisiken verbunden sind.
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sich der mittlere Laufzeitenbereich als Drehpunkt einer Zinskurvenbewegung erweist und von Renditeveränderungen weitgehend verschont bleibt. Obligationen mit Laufzeiten von fünf bis sieben Jahren weisen für viele Anleger sehr gute Risiko-/Rendite-Eigenschaften auf, da sie bei fallenden Zinsen Kursgewinne versprechen, der Anleger vor stark steigenden Zinsen jedoch weitgehend geschützt ist. Daher ist die Bulletstrategie im Privatkundengeschäft beliebt. Bei der Ladderstrategie wird das Portfolio aus Werten gebildet, die gleichmäßig auf der ganzen Zinskurve angesiedelt sind. Diese Strategie ist relativ defensiv und vorsichtig, da Zinserwartungsprognosen nicht notwendig sind. Gleichzeitig bietet die Strategie ein relativ hohes Einkommen und die Möglichkeit, mit einem relativ niedrigen Risiko an Kursgewinnen teilzunehmen (Gantenbein et al. 2000). Bei Aktien entsteht eine Unterteilung durch Kriterien wie Unternehmensgröße (Small Cap/Large Cap), betriebliche Kennzahlen (Gewinnrendite oder Dividendenrendite) oder Charakteristiken des Unternehmens wie Value oder Growth. Aktien werden der Gruppe Value zugeordnet, wenn mehr als vier Prozent vom Kurswert als Dividende ausgeschüttet werden und dafür nur ein langsames Wachstum vorliegt. Unter die Bezeichnung Growth fallen Aktien, wenn die betreffende Aktiengesellschaft eine geringe Dividende von vielleicht einem Prozent ausschüttet und dafür ein höheres Wachstum aufweist. Außerdem wählen die Entscheider Aktien nach ihrer Branchenzugehörigkeit (Automobil, Versicherungen etc.) aus. Das Verteilen des zur Verfügung stehenden Geldbetrags auf die unterschiedlichen Branchen wird als Branchenallokation bezeichnet. Die Auswahl nach Ländern ist bei Aktien aufgrund des immer globaleren Aktionsradius’ von Aktiengesellschaften in den Hintergrund gerückt (Spremann 2008). Die Einteilung von Aktien durch unterschiedliche Kriterien und die daran anknüpfende Auswahl kann von Experten sehr detailliert mit präzisen und komplexen Analysen erfolgen. In seinem auf den amerikanischen Finanzmarkt konzentrierten Buch »Portfolio Design« untersucht Marston (2011) bspw. ausführlich das Renditeverhalten von Small-Cap-Aktien und Large-Cap-Aktien über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. Hierzu nimmt er entsprechende Indexe zur Hilfe (etwa: Russell 2000, Russell 1000; Marston 2011:60ff.) und versucht zu ergründen, ob die Annahme, dass die Investition in Aktien kleinerer Unternehmen größere Renditen verspricht, zulässig ist. Weiterhin stellt er Modellportfolien mit bspw. 70 Prozent Renten und 30 Prozent Ak-
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tien auf und prüft, wie sich die Renditen über einen langen Vergangenheitszeitraum verhalten, wenn in Small-Caps oder alternativ in Large-Caps bei den Aktien investiert wird. Hierbei arbeitet Marston (2011) mit unterschiedlichen statistischen Kennzahlen. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass sich die aus der statistischen Analyse abgeleiteten Empfehlungen für die Bildung eines Portfolios deutlich unterscheiden, je nachdem welche Kennzahlen, welche Bewertungszeiträume und welche Datengrundlagen (in diesem Fall Russell-Index oder SBBI Small-Cap-Index) herangezogen werden. Dieser kurze Exkurs soll deutlich machen, dass bei der Beurteilung und Bewertung von Daten und Kriterien für den Selektionsprozess eines Portfolios ein großer Spielraum vorliegt, je nachdem welche Schwerpunkte von den Entscheidern gesetzt werden. 4. Die Praxis des Fondmanagements Im Rahmen dieses Beitrags wurden Interviews mit verantwortlichen Asset Managern einer deutschen Kapitalanlagegesellschaft (KAG) geführt; in den Interviews ging es thematisch um die Praxis des Portfoliomanagements sowie um die Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf diesen Bereich der Finanzmärkte. Im weiteren Text bezieht sich die Bezeichnung »die KAG« ausschließlich auf die spezielle Institution, der die Gesprächspartner angehören. Da der Geschäftsbetrieb einer Depotbank und das Management von Fonds streng voneinander getrennt sein müssen, bildet die KAG eine eigene Gesellschaft innerhalb einer Bank. Bei den Gesprächspartnern handelte es sich zum einen um Balance Manager, die für die Fondsproduktion verantwortlich zeichnen und maßgeblich für die taktische Ausrichtung des Fondsmanagements zuständig sind. Innerhalb des Hierarchiesystems der KAG bekleiden Balance Manager die Position eines Direktors. Ein weiteres Gespräch wurde mit einem Vertriebsgeschäftsführer der KAG geführt. Als Vertriebsverantwortlicher steht er in direktem Kontakt zu institutionellen Anlegern. Spremann (2006) charakterisiert die Berufsgruppen, welche innerhalb des Asset Managements tätig sind (siehe Tab. 3). Der Vetriebsgeschäftsführer kann der ersten Kategorie zugeordnet werden, der Balance Manger gehört zur zweiten Kategorie.
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Tabelle 3: Berufsgruppen im Portfoliomanagement Profession
Anforderung
Kompetenzen
Kunden-
Kunden orientieren, ihre Situation
Soziale Kompetenz,
berater
erheben, beraten und begleiten
finanzielles Grundwissen
Portfolio-
Anlageobjekte im Hinblick auf Si-
Methodik, kalkulati-
manager
cherheit, Rendite und Liquidität be-
ves Wissen, ›objek-
werten, Asset-Allokation festlegen
tiver‹ Blick
etc. Makler,
Markt schnell überblicken und die
Schnelles Erkennen,
Market-
Stimmung der Marktteilnehmer ein-
Handlungsbereit-
Maker,
schätzen können
schaft
Aufbereitung von Informationen
Beurteilung von An-
Broker Analyst
lagen anhand ökonomischer Daten
Quelle: in Anlehnung an Spremann (2006: 26)
Im Folgenden wird versucht, einen Eindruck über die von dieser spezifischen KAG verfolgte Arbeitsweise zu geben. Das einzige Arbeitsfeld der KAG ist die Auflage und das Verwalten von Fonds. In der Organisationsstruktur der KAG werden drei Verantwortungsbereiche abgebildet, die jeweils von einem oder mehreren Geschäftsführern verantwortet werden: Kundenbetreuung und Vertrieb, Portfoliomanagement sowie Administration (d.h. Fondsbuchhaltung sowie Risikocontrolling). Alle Entscheidungen des Fondsmanagements finden in einem Entscheidungsprozess statt, in dem die verschiedenen Verantwortungsbereiche und die jeweils beteiligten Ebenen eng ineinander greifen. Es muss daher von einem Teamansatz gesprochen werden und nicht von einem Ansatz, bei welchem der einzelne Fondsmanager die alleinige Verantwortung für die Erstellung und Verwaltung eines Fonds trägt. Die Konstruktion der Fonds Wie bereits erläutert, werden Fonds in Publikumsfonds und Spezialfonds unterschieden. Publikumsfonds stellen Fonds dar, deren Anteile von einer unbegrenzten Anzahl von Anlegern erworben und jederzeit weiter verkauft werden können. Spezialfonds können nur von juristi-
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schen Personen gezeichnet werden. Die KAG legt jeweils etwa zur Hälfte Publikumsfonds und Spezialfonds auf. Publikumsfonds sind dabei in der Regel für die KAG profitabler, da es sich um vollständig standardisierte Produkte handelt, deren Anteile an eine unbegrenzte Anzahl von Investoren verkauft werden, welche zudem einen standardisierten Gebührensatz zahlen. Ein Spezialfonds kann von einer höheren Anzahl von institutionellen Anlegern gemeinsam aufgelegt werden. In der Praxis hat sich jedoch herausgestellt, dass die meisten Spezialfonds von nur einem einzigen institutionellen Anleger gezeichnet werden. Jeder Fonds umfasst in der Regel ein Kapital von 50 Millionen Euro aufwärts, es gibt jedoch auch kleinere Fonds mit einem Volumen von 30 Millionen Euro. Insgesamt verwaltet die KAG ein Vermögen von 16 Milliarden Euro in Spezialfonds. Die Erstellung bzw. der Vertrieb dieser Fonds erfolgt auf zwei verschiedene Arten, zum einen über eine Ausschreibung durch den Investor (etwa 40 Prozent), auf welche die KAG sich bewirbt; zum anderen durch die direkte Akquisition von potentiellen oder bestehenden Kunden durch die KAG (etwa 60 Prozent). Beim Ausschreibungsverfahren sind die Vorstellungen des Investors in Bezug auf den Fonds sehr genau vorgegeben. Der Ausschreibungsprozess erfolgt in 75 Prozent der Fälle durch einen zwischengeschalteten Investment Consultant, eine Art Vermittler zwischen Investor und Kapitalanlagegesellschaft, in den übrigen Fällen gestaltet der jeweilige Investor, d.h. das Unternehmen, die Ausschreibung. Spezifische Kriterien wie Asset Klassen (Renten, Aktien, Gemischt), Regionen (International, Europa, Ost-Asien etc.), bei Renten die gewünschte Rating-Kategorie oder das Maß der Duration, bei Aktien Large Caps oder Small Caps, das Benchmark bzw. ein Referenzindex werden durch den Investor festgelegt. Bei dem Angebot der KAG geht es dann darum, wie sie diese Anforderungen, d.h. das Renditeziel des Kunden, konkret umsetzen will, wobei der Investor stark auf den Anlagestil und die Art des Entscheidungsprozesses innerhalb der KAG und darauf, wie überzeugend ihm dieser erscheint, achtet. Oft wird auch vorgegeben, welcher Anlagestil (passiv, klassisch-aktiv, quantitativ-aktiv) gewünscht wird. Der Investor wertet alle auf seine Ausschreibung erfolgten Angebote aus und wird dabei durch einen von den »Bewerbern« auszufüllenden, detaillierten Fragebogen unterstützt, der »request for proposal« genannt wird. Außerdem spielt der Track Record der anbietenden Kapitalanlagegesellschaft, also die Wertentwicklung (Perfor-
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mance) in der Vergangenheit, für die Auswahl eine entscheidende Rolle. Dieser Track Record lässt sich an quantitativen PerformanceWerten, also dem Vergleich mit dem Marktdurchschnitt ersehen. In der Regel werden die besten drei Anbieter schließlich zu einem intern als Beauty Contest bezeichneten Termin mit dem Investor gebeten. Die entscheidenden Werte bei der Messung der Performance eines Portfolios sind Į und ȕ. Hierbei misst ȕ die allgemeine Marktentwicklung, während Į für die Differenz zwischen der Wertentwicklung des jeweiligen Portfolios und der allgemeinen Marktentwicklung steht. Entscheidend ist also, dass Į positiv ist und somit das Portfolio den Markt outperformt. Selbst wenn das Portfolio an Wert verliert, ist in erster Linie entscheidend, dass es weniger an Wert verliert, als der Markt insgesamt. Ein Beispiel: Ist ȕ = -20 Prozent und der Wertverlust des Portfolios -19 Prozent, beträgt Į = 1 Prozent, was den Akteuren zufolge im Falle eines Marktabstiegs eine sehr gute Leistung darstellt. Bei der direkten Akquisition durch die KAG liegt die Initiative bei ihrem Vertrieb. Auch hier ist jedoch das Vorgehen der KAG derart, dass zunächst die Informationen des Anlegers, seine Vorstellungen und seine Voraussetzungen aufgenommen werden, bevor es zu Ideen und Vorschlägen durch die KAG kommt. Entscheidend bei diesem Vorgehen ist also die Kommunikation zwischen dem Kunden und der KAG, es findet ein ständiger Austausch statt und es gibt somit kein statisches, durch die KAG festgelegtes Fondskonzept. Ein Interviewpartner bezeichnet es als entscheidend, dass die Risikotragfähigkeit4 des Investors richtig eingeschätzt wird, um eine für ihn geeignete Anlagestrategie zu erstellen. Ein Investor verfügt normalerweise nicht nur über einen Fonds, sondern über mehrere, die in ihrer Strategie wiederum variieren. Sind die Fonds nach den Assets aufgeteilt, in die investiert wird, so nennt man das »reine Fonds«, nämlich reine Aktienfonds oder reine Rentenfonds. In diesen Fällen liegt die Asset Allocation nicht beim Fondsmanager. Es gibt jedoch auch Fonds, in denen in verschiedene Assets investiert wird und der Portfoliomanager auch über die Asset Allocation entscheidet. Bei diesen »gemischten Fonds« verfügt der Portfoliomanager bzw. die KAG wieder über mehr Interpretationsmöglichkeiten.
4
Risikotragfähigkeit: Die finanzielle Situation des Investors. Die Risikotragfähigkeit eines Investors hängt davon ab, ob er über weiteres Vermögen verfügt und ob er Verbindlichkeiten hat (Spremann 2006: 16).
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Die KAG unterscheidet intern zwischen strategischer und taktischer Asset Allocation. Die Frage nach der Asset Allocation, also der Gewichtung der verschiedenen Asset-Klassen, kommt wie beschrieben bei gemischten Portfolios zum Tragen. Dabei geht es um das Verhältnis von Aktien, Renten und Kasse (Liquidität) in dem betreffenden Portfolio. Die strategische Asset Allocation umfasst die individuelle langfristige Anlagestrategie des jeweiligen Investors, die wie oben beschrieben häufig auch gemeinsam mit der KAG ausgearbeitet wird. Für die strategische Asset Allocation benötigt die KAG ein präzises Profil des Investors, also z.B. über welche Vermögenswerte er verfügt, welche Verbindlichkeiten er erfüllen muss und welche Zahlungen (z.B. bei Rentenversicherungen) voraussichtlich zu welcher Zeit getätigt werden müssen. Die taktische Asset Allocation umfasst die kurzfristigen Handlungen und Anpassungen, welche die Portfoliomanager innerhalb des jeweiligen Portfolios vornehmen, um die langfristig eingeschlagene Strategie einzuhalten und um in der Abhängigkeit von der jeweiligen Kapitalmarktprognose das Portfolio so auszurichten oder zu gewichten, dass es eine Mehrrendite gegenüber dem Vergleichsmaßstab erwirtschaftet. In der taktischen Asset Allocation wird bspw. auch entschieden, wann ein sogenanntes Rebalancing vorgenommen werden muss. Dies ist dann der Fall, wenn die strategische Asset Allocation ein Verhältnis von z.B. 30 Prozent Aktien zu 70 Prozent Renten entschieden hat, sich die Wertentwicklung innerhalb des Portfolios aufgrund von Erträgen und Marktbewegungen aber von diesem Verhältnis wegbewegt hat. Dann wird durch Umschichtung und Kauf/ Verkauf im Rahmen der taktischen Asset Allocation das Ursprungsverhältnis wieder hergestellt (Spremann 2008: 45). Anlagestrategien und Entscheidungen Nachdem die Rahmenbedingungen des Fondsmanagements erläutert wurden, wird nun das Vorgehen zur konkreten Anlageentscheidung und somit die Arbeit des einzelnen Fondsmanagers untersucht. Wie bereits oben erwähnt, verfolgt die KAG einen Teamansatz, bei dem die zu verfolgenden Strategien gemeinsam beschlossen werden und dann wie besprochen für die einzelnen Portfolios umgesetzt werden, sodass die Fondsmanager für die von ihnen verwalteten Fonds nur eine begrenzte Handlungsmöglichkeit haben. Ein Fondsmanager verantwortet in der Regel zwischen 20 und 30 Fonds, die sowohl Publikumsfonds als auch Spezialfonds sein können. Diese verwaltet er entsprechend
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der von der KAG vorgegeben Anlagepolitik, die nachfolgend geschildert wird. Die Portfoliomanager der KAG haben ihren Arbeitsplatz in einem Großraumbüro, in dem sie nach den von Ihnen verwalteten AssetKlassen angeordnet sitzen. Vom allgemeinen Arbeitsklima ist dieses Büro mit den Trading Floors zu vergleichen und die Kommunikation der Portfoliomanager spielt im informellen Miteinander für die persönliche Meinungsbildung eine Rolle. Der Prozess, welcher zur konkreten Strategiebildung und Anlagepolitik der KAG führt, ist jedoch institutionalisiert und entspricht einem festen Muster. Innerhalb der KAG gibt es nach Asset-Klassen gebildete Investmentteams: Aktien klassisch, Aktien quantitativ, Renten und Währungen, taktische Asset Allocation und Structure Products (Wertsicherungskonzepte). Diese Teams setzen sich aus mehreren Portfoliomanagern zusammen. Jeder Portfoliomanager ist Mitglied eines Investmentteams. Innerhalb des Teams gibt es jedoch auch Mitglieder, die sogenannte Experten für das jeweilige Segment sind und kein Portfolio verwalten. Innerhalb von Gremien wird so monatlich eine für das gesamte Haus geltende Anlagepolitik beschlossen, die dementsprechend für alle Portfolios umgesetzt wird. Diese allgemeine Anlagepolitik wird allerdings von den jeweiligen Portfoliomanagern mit den speziellen Anlagerichtlinien der Investoren für die einzelnen Fonds abgeglichen. Hierbei hat der Portfoliomanager eine gewisse individuelle Entscheidungsbefugnis von der Anlagepolitik der KAG abzuweichen, sofern diese sich nicht mit den Anlagenrichtlinien des Kunden deckt. Diese Interpretation des Portfoliomanagers wird regelmäßig vom Geschäftsführer des Portfoliomanagements überprüft. Darüber hinaus gibt es in der KAG eine eigene Abteilung »internes Controlling«, die überprüft, ob die von den Gremien festgelegte Anlagepolitik im Portfoliomanagement eingehalten wird. Diese Abteilung berichtet an den Geschäftsführer Administration, sodass der Geschäftsbereich Portfoliomanagement einer zusätzlichen Kontrollschleife unterworfen ist. Die jeweils festgelegte Anlagepolitik kann natürlich auch innerhalb des Monats den aktuellen Entwicklungen entsprechend adjustiert werden. Entscheidungen werden je nach Asset-Klasse innerhalb bestimmter Kategorien und anhand von Kennzahlen getroffen. Hierbei spielen Kennzahlen eine wichtige Rolle: Die KAG greift auf die allgemein üblichen Kennzahlen, die unter 3.4 beschrieben wurden, zurück und bewertet diese nach den eigenen Analyseerkenntnissen und
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Marktprognosen. Bei Renten sind diese Entscheidungskategorien z.B. Ratings, Anleihensegment, Duration, Ländermärkte und Positionierung auf der Zinskurve. Bei der Entscheidung der Zinskurvenstrategie wählt die KAG in der Regel zwischen der Barbell- und der Bulletstrategie, die Ladderstrategie findet kaum Anwendung. Bei Aktien betrachtet die KAG im Unterschied zu anderen Kapitalanlagegesellschaften immer Einzelwerte und nicht Branchen. Hier handelt es sich um Entscheidungskriterien wie Unternehmensgröße, Unternehmensentwicklung und Gewinnwachstum. Die Entscheidungsverantwortung eines Portfoliomanagers findet also nicht im direkten Zusammenhang mit den von ihm verwalteten Fonds statt, sondern ist in die Teamarbeit vorgelagert. Seine Marktbeurteilung findet innerhalb der Gremien statt, die über die Anlagepolitik entscheiden; ebenso wird sein Input innerhalb dieses gemeinsamen Entscheidungsprozesses regelmäßig evaluiert. In der KAG werden auch aktives und passives Fondsmanagement unterschieden; sie wendet im operativen Geschäft auch beide Verfahren an. Der überwiegende Teil der Fonds wird allerdings »aktiv« verwaltet. Ein Interviewpartner beschrieb die Motivation der KAG beim aktiven Portfoliomanagement so: Die KAG nimmt an, dass der Markt nicht immer vollkommen effizient ist, sondern zeitweise zu Fehlbewertungen neigt. Andererseits ist das Vertrauen der KAG in die Effizienz des Marktes wiederum so groß, dass sie annimmt, dass der Markt seine Fehlbewertung korrigieren wird. In dem Erkennen einer Fehlbewertung, also indem die KAG die zur Verfügung stehenden Informationen anders bewertet als der Markt und der später erfolgenden Korrektur durch den Markt, liegt das Delta, das den »Gewinn« der KAG darstellt. An einem Beispiel: Der Markt bewertet einen bestimmten Aktientitel als weniger stark als die KAG. Die KAG kauft sodann den Titel für einen nach ihrem Ermessen zu niedrigen Preis. Sie erwartet, dass der Markt seine zu geringe Bewertung korrigiert. Passiert dies, verkauft sie den Titel für den nun nach ihrer Ansicht »richtig« bewerteten Preis. Die Differenz des Kaufpreises zum Verkaufspreis stellt den »Gewinn« dar, die Möglichkeit zum »Arbitragegewinn«. Dieses Vorgehen entspricht den Annahmen, die von den Vertretern der Fundamentalanalyse getroffen werden (auch Staudinger 2008: 551ff.). Beim aktiven Fondsmanagement unterscheidet man wiederum das klassische und das quantitative Portfoliomanagement. Auch hier werden beide Varianten innerhalb der KAG verwendet, wobei der ökono-
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mische Erfolg beim quantitativen Management deutlich höher liegt. Bei den reinen Aktienmandaten verwaltet die KAG 90 Prozent der Portfolios mit dem quantitativen Verfahren. Die gemischten Portfolios (Balance Mandate) unterliegen ebenfalls überwiegend einem quantitativen Management. Auch bei den reinen Rentenmandaten, die bisher immer nach dem klassischen Ansatz verwaltet wurden, wird nun quantitatives Management eingeführt. Beim quantitativen Aktien Portfoliomanagement werden subjektive Entscheidungskriterien der Fondsmanager weitgehend ausgeblendet und die Ergebnisse von quantitativen Modellanalysen angewendet. Dieses Verfahren nennt sich »fundamentale Erfolgsfaktorenanalyse« (Multi-Factor-Screening). Die entsprechenden Computermodelle bzw. statistischen Berechnungsgrundlagen werden von der KAG selbst entwickelt. Hierbei nimmt die KAG an, dass der Markt durch mehr Analyse und schneller zur Verfügung stehende Informationen immer informationseffizienter wird. Sie geht also davon aus, dass in der Bewertung der einzelnen Unternehmenstitel kein bedeutender Wissensvorsprung zu erreichen ist. In der Bewertung des gesamten Marktes und der Umsetzung der zur Verfügung stehenden Informationen durch grundsätzliche Modelle sieht die KAG jedoch die Chance, einen systematischen Wissensvorsprung zu generieren. Der Erfolg des quantitativen Managements besteht also in der weitgehend standardisierten »richtigen« Aufbereitung allgemein verfügbarer Informationen. Beim quantitativen Management besteht kein Spielraum für situative, individuelle Entscheidungen. Gerade darin sieht ein Gesprächspartner die besondere Stärke des quantitativen Managements, durch das »menschliche« Verhaltensweisen bewusst unterbunden würden, wie sie z.B. die Behavioral Finance, die sich mit irrationellem Verhalten auf den Finanzmärkten befasst, beschreibt. Mit Hilfe der fundamentalen Erfolgsfaktorenanalyse wird ermittelt, welche Faktoren in der Vergangenheit unter bestimmten volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei outperformenden Unternehmen signifikant waren. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden auf die heutige Entwicklung übertragen. Monatlich laufen somit 600-700 Aktiengesellschaften durch diesen quantitativen Filter und können eine Wertung zwischen -5 und +5 erreichen. Dass ein Unternehmen die Wertung +5 erhält, ist überaus selten. Unternehmen mit einem Ergebnis von +3 oder +4 kommen zur Anlage in Frage. Diese Unternehmen laufen nun nochmals durch ein quantitatives Modell, den »Optimizer«.
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Hier werden die Aktien unter Diversifikationsgesichtspunkten auf Korrelation untersucht. Diese Ergebnisse werden dann nochmals vom Portfoliomanager auch in Hinblick auf Transaktionskosten überprüft. Gerade beim quantitativen Management finden theoretische Modelle wie das von Markowitz oder CAPM als Grundlage starken Eingang in die Praxis und werden für die Bedürfnisse und nach den Annahmen der KAG weiter entwickelt. Am Ende dieses festgelegten Prozesses führt der Portfoliomanager die durch das Modell ermittelten Vorgaben aus. Die Qualität des Portfoliomanagers liegt somit darin, wie er die technischen Konstruktionsmerkmale umsetzt und nicht in seiner Entscheidungsfindung an sich. Ein Interviewpartner beschreibt, dass die Stärke des von der KAG verfolgten quantitativen Portfoliomanagements darin liege, dass es der KAG gelingt, durch den oben beschriebenen Prozess der Informationsbewertung durch eigene Modelle in 54 Prozent der Fälle einen Wissens- und Bewertungsvorsprung gegenüber dem Markt zu erreichen. Mit diesem Prozentsatz erklärt er, dass vor allem die quantitativen Aktienportfolios aus einer großen Anzahl von Titeln bestehen und somit sehr weit gefächert sind. Zur Veranschaulichung bringt er das Beispiel einer gezinkten Münze, die zu 54 Prozent Kopf zeigt und zu 46 Prozent Zahl. Wirft man diese Münze nur einmal oder wenige Male, macht sich die geringe »Zinkung« mit dem Vorteil für Kopf nicht besonders bemerkbar. Wirft man die Münze viele Male, fällt der Vorteil für Kopf eindeutig aus. Wendet man also den Wissensvorteil der KAG auf eine große Anzahl von Werten an, so ergibt sich für die KAG ein interessantes Gewinndelta – so die Annahme der Akteure. Klassische Aktienportfolios bestehen in der Regel aus deutlich weniger Titeln, da der Schwerpunkt hier auf der Bewertung der einzelnen Unternehmen liegt. Auch in dem schwierigen Marktumfeld der letzten Jahre habe die KAG – so die Interviewpartner – weiterhin Erfolg mit dem quantitativen Portfoliomanagement; man habe auch die Kompetenz in diesem Verfahren weiterhin stärken und seine Anwendung ausdehnen können. Im Zuge der sogenannten Banken- und Finanzkrise habe aber das quantitative Portfoliomanagement in vielen Finanzinstitutionen gegenüber dem klassischen Portfoliomanagement deutlich verloren. Die Gründe für die unterschiedliche Bewertung verschiedener Institute sind unklar und noch nicht erforscht; nicht erforscht ist ebenfalls das Misstrauen gegenüber dem quantitativen Management in schwierige-
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ren Marktzeiten (siehe Vormbusch, in diesem Band). Daran schließen sich weitere Fragen an: Welche Voraussetzungen müssen für ein (erfolgreiches) quantitatives Management erfüllt sein? Inwieweit liefern Annahmen der Behavioral Finance Argumente für oder gegen die Praxis des quantitativen Managements? Wie ist die Sichtweise der Anleger in Bezug auf quantitatives oder klassisches Management? Im Rahmen dieses Beitrages können diese Fragen nicht beantwortet werden. Sie deuten jedoch an, dass unterschiedliche Annahmen zu grundsätzlich verschiedenen Vorgehensweisen führen. 5. Schlussbemerkung Dieser Beitrag hat sich mit den theoretischen Grundlagen und praktischen Umsetzungen des Portfoliomanagements beschäftigt. Deutlich wurde, dass die theoretischen Modelle das alltägliche ökonomische Handeln nicht determinieren, aber dennoch als Vorstellung über die Gestaltung von Portfolios in den Prozess hineinwirken und ein gemeinsam geteiltes Verständnis der Akteure erzeugen. In diesem Zusammenhang steht die Beobachtung, dass in dem untersuchten Fall der KAG quantitative Verfahren deutlichen Vorzug gegenüber dem klassischen Portfoliomanagement erhalten. Entscheidungsprozesse über Investitionen sind ihrerseits durch die »Kultur« (so ein Teilnehmer) der KAG geprägt. Die Einbettung von Entscheidungen in Teamarbeit steht für ein Verfahren der sozialen Objektivierung; der Rückgriff auf quantifizierbare Werte und Kennzahlen verweist dagegen auf Verfahren der kalkulativen Objektivierung. Die soziale Objektivierung kontextiert die ermittelten Kennziffern und Werte und relativiert subjektive Urteile einzelner Portfoliomanager. Die Qualität der Kapitalanlagegesellschaft muss sich also sowohl in der Produktion der Fonds als auch in ihrem Vertrieb unter Beweis stellen. Bei der Produktion gilt die besondere Beachtung den jeweils verwendeten Modellen und Verfahren. Der Vertrieb wird von seiner glaubwürdigen Vermittlung der Anlageprodukte getragen, die in der Interaktion und Kommunikation mit Kunden, über die bislang keine Forschungen vorliegen, hergestellt wird. Die Komplexität des gesamten Fondsprozesses, die Abhängigkeit des Portfoliomanagers von vorund nachgelagerten Ebenen sowie die Bedeutung und Komplementarität von Objektivierungsverfahren warten auf die weitere Erforschung durch die Wirtschafts- und Finanzsoziologie.
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Zahlenmenschen als Zahlenskeptiker Daten und Modelle im Portfoliomanagement U WE V ORMBUSCH
1. Einleitung Im Gegensatz zu den 1970er und 1980er Jahren (MacKenzie/Millo 2003: 113ff.; Stäheli 2007) stehen komplizierte Finanzmarktinstrumente und Risikomodelle heute in dem Ruf, Auslöser und Verstärker von Finanzmarktkrisen, also gefährlich oder gar »toxisch« zu sein. Dies gilt vor allem für die sogenannten strukturierten Finanzmarktprodukte (Collateralized Debt Obligations [CDO] und Credit Default Swaps [CDS]; Kalthoff/Maesse in diesem Band). Zugespitzt: Während mathematische Formeln und Modelle noch in den 1970er und 1980er Jahren zur Legitimation bestimmter Marktpraktiken, insbesondere von Derivaten, beitrugen, sind es heute die Modelle und modellgestützten Bewertungspraktiken (im Falle von CDOs) sowie Risikokalkulationen (im Falle absurd fehlerhafter Ratings dieser CDOs durch hiermit beauftragte Ratingagenturen sowie das interne Risikomanagement der Banken), welche im Mittelpunkt der Krise und der gesellschaftlichen Kritik stehen. Die gegenüber dem Publikum glaubhaft zu machenden Leistungsversprechen professioneller Finanzmarktakteure in Form von überdurchschnittlicher Rendite bzw. überdurchschnittlicher Sicherheit der Anlage können jedoch nur auf der Grundlage einer spezifischen Rationalisierung des Investmentprozesses erzielt werden. Die Rationalität des Finanzmarktgeschehens steht und fällt also mit der Rationalität und dem rationalen Gebrauch finanzökonomischer Modelle, wobei hier im Folgenden unter »Rationalität« nicht nur eine instrumentelle
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Beziehung von Zwecken und Mitteln, sondern auch der mit Modellen verbundene Legitimitätsglaube und ihre Wirklichkeitsgeltung (ihr epistemischer Status also) verstanden wird. Dies macht eine vertiefte Auseinandersetzung mit Marktmodellen und ihrem praktischen Gebrauch durch die Marktakteure als Teil der Social Studies of Finance (Kalthoff 2009) notwendig. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden untersucht werden, welche Rolle ökonomische Formeln und Modelle im Prozess der Portfoliokonstruktion bzw. der Herbeiführung von Anlageentscheidungen spielen. Die These ist, dass sich die Macht der Zahlen im Zentrum des Finanzmarktkapitalismus’ weder im Sinne der Performativitätsthese (Callon 1998) noch der Subjektivierungsthese (Foucault 1977 [1975], 2005 [1982]) beschreiben lässt. Das praktische Handeln der von uns interviewten Portfoliomanager ist vielmehr durch eine spezifische Form der Selbstbehauptung geprägt: Handlungs- und Entscheidungsautonomie nicht etwa durch einen systematischen Zahlengebrauch zu erlangen, sondern gegen die scheinbare Objektivität der Zahlen und die Zwangsläufigkeit hieraus abgeleiteter Entscheidungen. Der Artikel basiert auf qualitativen Interviews mit überwiegend fundamental orientierten Portfoliomanagern in Fondsgesellschaften, öffentlichen und privaten Geschäftsbanken im deutschsprachigen Raum.1 2. Finanzwirtschaftliches Portfoliomanagement Der moderne Finanzmarkt ist ohne die Arbeit am Investmentportfolio und die hier verwendeten Modelle nicht denkbar. Ebenso wie die Modellierungs- und Simulationsarbeit der Finanzmathematiker (Kalthoff/ Maesse in diesem Band) können die Investitionspraktiken von Portfoliomanagern als epistemische Praktiken der Erzeugung von und des Umgangs mit ökonomischem Wissen gedeutet werden. Diese sind eingebettet in eine bislang eher unscharf zu erkennende finanzmarktspezifische Wissensordnung, welche sich historisch variabler und feldbezogener Darstellungsformate und -medien bedient (Preda 2005; Vormbusch i.E.). Das Investmentportfolio verbindet als ein besonderes Repräsentationsformat – wie die Grafik, die Tabelle, die Zeitreihe in an1
Die Interviews wurden im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Ökonomisches Rechnen« im Zeitraum von 2007 bis 2009 von Ekaterina Svetlova, Herbert Kalthoff und dem Autor durchgeführt.
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deren Feldern – die Denk- und die Handlungsformen der Finanzmarktakteure in paradigmatischer Weise. Das Portfolio macht die unterschiedlichen Gewinnchancen, aber auch die ökonomischen Risiken eines Bündels von Investitionsmöglichkeiten erst sicht- und bearbeitbar – z.B. in Form der Suche nach einem »effizienten« Portfolio im analytischen Rahmen des Capital Asset Pricing Model (CAPM; hierzu Klus in diesem Band; Svetlova 2008). Das Investmentportfolio stellt gewissermaßen den Faustkeil des Finanzmarktkapitalismus’ dar, mittels dessen Finanzmarktakteure nicht lediglich abbilden und sehen, was am Markt geschieht, sondern auch diesbezüglich handeln und entscheiden. Es ist ebenso ein Instrument der Konstitution des Marktes qua Beobachtung, wie es spezifische Handlungsmuster (Vergleiche, Analysen, Optimierungs- und Selektionsprozesse von Anlageobjekten) erst ermöglichen. Die Konstruktion und der Gebrauch von Portfolios durch professionelle Akteure verdeutlichen, dass Märkte nicht lediglich – wie in der Systemtheorie unterstellt – durch die autopoietische Reproduktion von Zahlungsvorgängen konstituiert werden (indem Zahlungen an Zahlungen angeschlossen werden), sondern vor allem den Zahlungsvorgängen gewissermaßen unterliegend, durch strukturierte Formen einer technisch mediatisierten wechselseitigen Beobachtung und Selbstbeobachtung (Knorr Cetina/Brügger 2002: 914). Dass Finanzmarktakteure sich überhaupt der Technik des Portfoliomanagements bedienen, erscheint dem externen Beobachter unter Umständen selbstverständlich. Gleichwohl setzt die empirische Tatsache der Allgegenwart des Investmentportfolios die implizite Ablehnung der Modellannahmen des neoklassischen Gleichgewichtsmarktes voraus, wäre es in dessen Rahmen doch überflüssig, technische Analysen oder ein aktives Management von Portfolios zu betreiben, da per definitionem keine nicht-transitorische Unterbewertung von Vermögensgegenständen stattfinden kann. Die Praxis des Portfoliomanagements – und das bestätigen unsere Interviews durchgängig – basiert auf der Annahme imperfekter Märkte durch die Marktteilnehmer selbst. Portfoliostrategien können in verschiedener Weise kategorisiert werden. Beunza/Stark (2005: 87ff.) weisen erstens auf die fundamentale Unterscheidung von »value-« und »momentum investing« hin. Während ersteres mittels verschiedener Modelle wie DCF (Discounted Cash Flow) und fair value-Analysen versuchen, den »wahren« bzw. »realen« Wert einer Aktie zu berechnen, um gezielt unterbewertete
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Anlageobjekte zu identifizieren, verzichten (chart-)technisch orientierte Anleger auf die Unterstellung eines außerhalb der Selbstbeobachtung des Finanzmarkts ermittelbaren Unternehmenswertes. Ihre Aufmerksamkeit verschiebt sich folgerichtig von der Beobachtung finanzmarktexterner, »realwirtschaftlicher« Entwicklungen auf die Beobachtung der für sie mittels verschiedener Informationssysteme wie z.B. Bloomberg-Terminals sichtbaren Aktivitäten anderer Marktteilnehmer. Auf der technischen Ebene stehen sich zweitens zwei Methoden gegenüber: Im Rahmen »aktiver« Ansätze wird versucht, durch eine bewusste Auswahl von Titeln »den Markt zu schlagen«, während sich »passive« Ansätze durch das möglichst genaue Nachvollziehen des Marktes bzw. bestimmter Marktsegmente auszeichnen (Sharpe 1991; Ortiz 2009; Sturm 2007: 58ff.). Obwohl empirische Untersuchungen eine durchschnittliche Underperformance aktiv gemanagter Portfolios belegen, bevorzuge »das Gros der privaten und institutionellen Anleger […] weiterhin den aktiven Ansatz« (Sturm 2007: 1) – ein möglicher Hinweis auf das spezifische Kontrollbewusstsein der Finanzmarktakteure bzw. ihre Strategien, Kontrollverlust zu vermeiden und ihre subjektive Handlungs- und Entscheidungsautonomie zu bewahren. Dass Subjekte generell weniger »objektive« Wahrscheinlichkeiten für die Auswahl von Entscheidungsalternativen heranziehen als vielmehr subjektiv geprägte Prämissen und Ziele, haben Kahneman/ Tversky (1979) als Vertreter der verhaltenswissenschaftlich geprägten Finanztheorie gezeigt. Das Portfoliomanagement stellt hinsichtlich der unmittelbaren Marktnähe im Vergleich zur Finanzmathematik und dem Devisenhandel ein intermediäres Feld dar. Zwar gilt – in Abwandlung eines bekannten Bonmots Niklas Luhmanns – auch für das Portfoliomanagement: »Man kann nicht nicht investieren«. Gleichwohl unterscheidet es sich in seinem Zeithorizont von den finanzmarktsoziologisch besser untersuchten Feldern des »split-second-trading« am Devisen- (Knorr Cetina/Brügger 2002) und Arbitragemarkt (Beunza/Stark 2005). Die alltägliche Arbeit von Portfoliomanagern besteht nicht im kurzzyklischen Tausch von Eigentumstiteln oder Derivaten hiervon. Vielmehr ist ein Großteil ihrer Aktivität auf die wechselseitige Beobachtung der Aktivitäten anderer Marktteilnehmer und die Konstruktion entsprechender Beobachtungsinstrumente (Modelle, Spread Sheets, Graphen und Tabellen) gerichtet. Diese systematische Beobachtungstätigkeit läuft zwar keinesfalls handlungsentlastet ab, sie unterliegt jedoch nicht
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dem aus anderen Praxisfeldern des Finanzmarkts bekannten Zwang zur kontinuierlichen Aktion. Der Geschäftsführer einer großen Investmentgesellschaft, welche im Jahr 2010 weltweit etwa 140 Milliarden Euro verwaltete und sich als long-only-Investor versteht, charakterisiert diese Zeitstruktur folgendermaßen: Wenn Sie einen eher langfristigen Fokus haben, ist es eigentlich nicht wichtig zu wissen, was heute am Markt passiert. Ich würde sogar eher sagen, es ist manchmal zu schädlich, wenn Sie den ganzen Tag gebannt vorm Bloomberg sitzen und diese ganzen kleinen, scheinbar wichtigen Meldungen versuchen zu verarbeiten. Besser mal Abstand gewinnen, das Marktgeschehen ausblenden, […]. […] aber es wäre nicht sträflich oder negativ, wenn man auch mal einen Tag gar nichts macht. Das würde nicht auffallen. Also wir handeln nicht um des Handelns willen. Wir handeln nur, wenn es sinnvoll ist. Und es ist nicht jeden Tag sinnvoll zu handeln.
In dieser Distanz zum Markt äußert sich eine deutlich andere Positionalität der Akteure als im Devisenhandel (Faust/Bahnmüller 2007: 68f.; Langenohl/Schmidt-Beck 2007). Obwohl selbst dieses Unternehmen, ein konservativer »Tanker« auf dem Finanzmarkt, sich seit 2001 sukzessive von der bis dato dominanten buy-and-hold-Strategie verabschiedet hat und der Zwang, »kurzfristig Opportunitäten wahrzunehmen«, auch im sehr langfristig orientierten Lebensversicherungsbereich »deutlich stärker geworden ist« (Geschäftsführer Investmentgesellschaft), bleibe es wichtig, »von diesen Verrücktheiten, von denen man selber dann gepackt wird, ein Stück weit Abstand zu gewinnen«. Distanz zum Markt bedeutet hier gerade, sich aus dem »Bann« der Bloomberg-Terminals und der beinahe instinktiven Körperlichkeit des split-second-Handels an Spotmärkten zu lösen und sich zu fragen: »Was passiert in der Welt?« (Geschäftsführer Investmentgesellschaft). Für diese Distanzierung spielt die Organisation des Investitionsprozesses insofern eine bedeutende Rolle, als sie die Herstellung kognitiver Rahmungen zu einem expliziten, dem alltäglichen Trading vor- und übergeordneten Ziel macht. Die Frage ist damit, wie innerhalb global operierender Finanzunternehmen diejenigen kognitiven Rahmungen erst erzeugt werden, die den praktisch-alltäglichen Investmententscheidungen der Portfoliomanager zugrunde liegen. In drei größeren Investmentgesellschaften, die u.a. untersucht wurden, sind diesbezüglich sehr ähnliche Strukturen der Herstellung kognitiver Rahmungen
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zu beobachten. Sie verlaufen – mit diversen feedback-Schleifen – topdown. Die folgende Darstellung orientiert sich an dem Fall einer großen und global operierenden Versicherungsgesellschaft. Hier werden auf der obersten Ebene, in zyklisch (meist dreimonatig) tagenden Arbeitsgruppen von Experten und Topmanagern Deutungsmuster der makroökonomischen Entwicklung generiert, welche eine kleinere Anzahl (in der Regel drei bis fünf) alternativer Szenarien enthalten. Dabei geht es explizit nicht um das »Füttern« eines bestehenden Modells mit festen Indikatoren, sondern darum, aus mehreren hundert Indikatoren zunächst ein Szenario aufzubauen (»Das heißt wir denken mehr, welche Szenarien könnten in der Zukunft eintreten …«) und im Anschluss die verfügbaren quantitativen Zeitreihen nach Anzeichen für dieses projizierte Szenario abzusuchen. Dementsprechend steht auf diesen globalen Zusammenkünften die Frage im Mittelpunkt, »… was wird die Welt die nächsten Monate, Jahre treiben, was sind die Risiken, was die Chancen?«, und die Modelle stellen Heuristiken bereit, sich dieser Frage zu nähern. In einer großen Lebensversicherungsgesellschaft finden jährlich »säkulare Foren« statt, auf denen »legt dann die Firma quasi für sich fest, wo sie hingeht für die nächsten drei bis fünf Jahre« (Bereichsleiter Portfoliomanagement). Auf diesen Treffen werden bewusst Persönlichkeiten mit vom Mainstream abweichenden Ansichten – Häretiker gewissermaßen – eingeladen. Die hier entwickelten Deutungsmuster sollen den kognitiven Rahmen abgeben, innerhalb derer die Investitionspraktiken in den kommenden Jahren stehen sollen. Auf einem dieser Treffen während der Finanzkrise wurde dementsprechend der Begriff des »new normal« geprägt: Das heißt wir haben die Prognose getroffen für die nächsten Jahre, es wird alles anders sein als in der Vergangenheit. Also es gibt kein mean reverting zu irgendwelchen Zuständen, die man in der Vergangenheit immer hatte, wir werden halt eine Welt sehen mit geringeren Wachstumsraten, wo Banken eine viel geringere Rolle spielen, wo die Staaten eine größere Rolle spielen, wo man vielleicht wieder mehr Reregulierung sieht, vielleicht auch wieder mehr nationales Denken, also mehr Abschotten der nationalen Volkswirtschaften […].
Dieser »new normal« soll in den verschiedenen, global, regional und funktional differenzierten Steuerungsgremien der Gesellschaft heruntergebrochen werden, d.h. es soll bis auf die Ebene einzelner Geschäftseinheiten abgeleitet werden, »was das für unsere Portfolioposi-
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tionierung bedeutet« […]; »Also es ist nicht so, dass wir irgendwie dezentrale Einheiten haben und der eine glaubt jetzt die Märkte steigen und der andere die Märkte fallen und das wird auch überwacht. Also die Portfolien sind konsistent auch auf diese eine Meinung umgesetzt« (Bereichsleiter Portfoliomanagement). Und der Manager der Fondsgesellschaft einer Landesbank ergänzt ganz ähnlich: »Wir wollen nicht, dass 'n Einzelner sich so löst und irgendwie was anderes macht…«. Die Investitionsentscheidungen einzelner Portfoliomanager und der ihnen zugeordneten Trader (welche die Portfolios »befüllen«) sind also nicht allein das Ergebnis dessen, was Zahlen und Modelle signalisieren. Stattdessen erhalten diese ihren handlungsleitenden Sinn erst im Rahmen von kollektiv erarbeiteten Deutungsmustern, die organisatorische Legitimität beanspruchen. Große Fondsgesellschaften sind damit ebenso in den Prozess des »frame-making« involviert wie Analysten (Beunza/Garud 2007; Faust/Bahnmüller 2007; Wansleben in diesem Band), besitzen aber im Falle der Nichtbeachtung dieser Rahmungen andere Sanktionsmöglichkeiten. Im Hinblick auf die Frage, welche Rolle ökonomische Formeln und Modelle im Prozess der Portfoliokonstruktion und bei Anlageentscheidungen spielen, werden im Folgenden drei Problemfelder skizziert: der schwache epistemische Status von Finanzmarktzahlen und die korrespondierende Skepsis professioneller Finanzmarktakteure gegenüber Daten und Modellen, das Problem der strategischen Manipulation von Daten sowie der praktische Stellenwert von Formeln und Modellen im Anlageprozess. 3. Schwache Zahlen und subjektive Datenwelten Der Finanzmarkt weist eine vergleichsweise hohe kommunikative Geschlossenheit auf. Anders gesagt: Finanzmarktrelevante Ereignisse können sich nicht anders repräsentieren als in Form abstrakter Symbole in der »screen world« der Finanzhändler, Analysten, Portfoliomanager. Damit unterscheiden sie sich von Arbeits- und Gütermärkten, in denen das Marktgeschehen weniger appräsentiert wird (Knorr Cetina/Brügger 2002) als vielmehr in vielfältiger Weise sinnlich erfahrbar bleibt (Gütermärkte) oder gar die spezifischen Tauschobjekte sich als eine besondere Ware selbst präsentieren, zu einem nicht unerheblichen Teil in Interaktionen unter Anwesenden (Arbeitsmärkte). Dagegen geht im Prozess der Übersetzung »realwirtschaftlichen« Wissens in finanzmarktgängige Symbolsysteme (den analytischen Rahmen des
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Capital Asset Pricing Model, finanzökonomische Kategorien und Maße wie »Volatilität«, »Renditeerwartung« oder »beta«; Bruns/MeyerBullerdiek 2003) erstens ein Großteil der praktischen Wissensbestandteile verloren. Zweitens rekrutiert sich die »Dienstklasse« des Finanzmarktkapitalismus’ überwiegend aus jüngeren Männern ohne längere Management- oder Branchenerfahrung (Windolf 2005: 41 zum Berufsbild des Analysten). Diese verfügen erwerbsbiografisch kaum über praktisches Wissen, das ein Korrektiv zu dem innerhalb des Finanzmarkts zirkulierenden, abstrakten Wissen darstellen könnte, sondern sind entweder »on the job« ausgebildet (Knorr Cetina/Brügger 2002: 919 zu Wertpapierhändlern) oder Absolventen von business schools mit homologen Curricula. Damit lässt sich ihre Position im Hinblick auf die Realökonomie und im Gegensatz zu den sich wechselseitig verpflichteten »Insidern« der ehemaligen »Deutschland AG« (Streeck/Höpner 2003) – als »outsider« bestimmen. Diese strukturelle Distanz in Gestalt eines professionellen, sozialen und raumzeitlichen Abstands zur »Realökonomie« und ihren Akteuren respektive Funktionen (Management, Vertrieb, Forschung und Entwicklung) und der von ihnen je verkörperten Handlungsrationalität teilen alle Finanzmarktakteure – im Unterschied zu der bereits angesprochenen Distanzierung gegenüber der Zeitstruktur und den »Verrücktheiten« des (Spot-) Marktes, welche sich vorwiegend in marktferneren Finanzsegmenten wie dem Portfoliomanagement beobachten lässt. Portfoliomanager sind demzufolge auf spezifische Weise von der Umwelt des Finanzsystems und dem dort zirkulierenden Wissen getrennt. Spezifisch insofern, weil sie es – im Unterschied zur Hochenergiephysik und der Molekularbiologie (Knorr Cetina 1988) a) nicht mit »referenzlosen Zeichen« zu tun haben und b) über kein faktisches Monopol der Interpretation dieser Zeichen verfügen. Das bedeutet, dass Finanzmarktakteure anders als Teilchenphysiker damit rechnen müssen, dass die Interpretation wirtschaftsbezogener Zeichen auch außerhalb des Finanzmarkts regelmäßig erhebliche Konsequenzen für das Handeln innerhalb des Finanzmarkts hat. Auch wenn der Körper in der »flow-Welt« direkten Markthandelns eine Rolle in der Interpretation und Manipulation dieser Zeichen spielt (Laube in diesem Band), so können Portfoliomanager die Dinge nicht in ähnlicher Weise »in Augenschein nehmen«, »Hand anlegen« und damit auf ihren Wirklichkeitsgehalt prüfen, wie erfahrene Laboranten das tun. Die Ausgangsüberlegung ist damit, dass im Vergleich von Labor und Echtzeithandel
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einerseits, dem marktferneren Segment des Portfoliomanagements andererseits der Körper als Erzeugungsverfahren von Wissen (Knorr Cetina 1988: 88; Herv. i.O.) zugunsten kognitiver und diskursiver Erzeugungspraktiken zurücktritt.2 Für das Portfoliomanagement stellt sich deshalb das Problem des Wissens und der Repräsentation weniger als eines der Interpretation referenzloser Zeichen als vielmehr als ein Problem der arbeitsteiligen Transformation finanzmarktexterner Wissensbestände sowie der Evaluation dieses Wissens. Damit gewinnt das Problem der Validität und Reliabilität, mit anderen Worten: der Güte der verfügbaren Daten, ein besonderes Gewicht. Dies gilt insbesondere für die Schnittstelle zwischen »eigenen« und »fremden« Datenwelten, d.h. für die Beurteilung jener Daten, welche Portfoliomanager von Analysten, Informationsdiensten wie Bloomberg und durch das Abfragen abonnierter Datenbanken erhalten. Diese stellen die primäre Informationsquelle der interviewten Portfoliomanager dar. Umso problematischer ist die über alle Befragungen hinweg konsistente Beobachtung, dass die Portfoliomanager weder eine Kontrolle über die Produktion und Aggregation dieser Daten besitzen, noch zuverlässige Instrumentarien ihrer Evaluation. Stattdessen beruht die subjektive Beurteilung der Daten auf dem sozialen und symbolischen Kapital ihrer Produzenten und dem Vertrauen in den individuellen Arbeitsstil derselben. Und da gehe ich nach den Namen. Wenn das Email von jemandem kommt, den ich schätze – ich weiß, er ist gut, oder einen Ansatz hat, den ich sympathisch finde (also meinem ähnlich ist, nah ist), dann lese ich seine Emails.
Die Ähnlichkeit im »Herangehen«, d.h. ein spezifischer Arbeitsstil bzw. die Zugehörigkeit zu einer »Schule« des Portfoliomanagements sowie die Reputation und schließlich die spezifische Marktbehauptung des Anbieters (»Ja es gibt ein paar Anbieter, denen traut man das
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Das ist bei näherer Betrachtung nur eingeschränkt richtig, insofern zumindest der Sehsinn in der screen world von Händlern und Analysten sowie – eingeschränkt – auch der Portfoliomanager eine herausgehobene Rolle bei der Interpretation der Daten, z.B. in Form der räumlichen Darstellung von Größenverhältnissen und Abständen spielt. Eine entsprechend des praktischen Gebrauchs der Sinne differenzierte Betrachtung und ihrer Verknüpfung mit je spezifischen Repräsentationsformaten kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.
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schon zu und wenn die nicht auch gute Daten liefern würden, dann würden die auch rausfallen …«; Geschäftsführer Fondsgesellschaft Frankfurt) fungieren als funktionales Äquivalent für einen aus Sicht der Experten sowieso nicht haltbaren Objektivitätsanspruch der Daten. Deren Beurteilung beruht auf dem sozialen bzw. symbolischen Kapital ihrer Produzenten und dem Vertrauen in ihren individuellen Arbeitsstil. Dies wird durch die hochgradige Asymmetrie zwischen dem »unendlichen Feld an Datenfülle« (Versicherungsmanager Fondsgesellschaft München) und knapper Zeit noch verschärft. So laufen bei einem Portfoliomanager eines Lebensversicherers in der Regel etwa 400 Emails am Tag ein. Dies zwingt zu radikalen Selektionsstrategien, die auch aus anderen Bereichen verdichteter Expertenarbeit bekannt sind: Wegdrücken! […] Ich lese nicht alles, manche les’ ich gar nicht. Also wenn ich den Absender nicht kenne und ich seh schon in dem Betreff, dass es für mich irrelevant ist, dann lösch ich auch sofort weg.
Daten bilden die Grundlage aller formalen Modellierungen und als solche genießen sie eine besondere Aufmerksamkeit der Professionellen: »Daten sind ein knappes Gut, vor allen Dingen gute Daten…« (Geschäftsführer Fondsgesellschaft Frankfurt). »Gute« Daten aber sind nicht einfach zu bekommen, sie sind nicht nur teuer, sie werden auch sorgsam gehütet, denn »so’n Datenschatz ist was unheimlich Wertvolles«, der vor den Blicken der Konkurrenz verborgen wird: »Oder sie geben’s einfach nicht her, weil sie’s selber nutzen«. Gute Daten bekommt man „nur wenn man sich länger kennt und gut kennt […] Verschenken tun die das nicht. Bezahlen tut man’s in dem Sinne echt auch nicht wirklich, sondern man fängt an, miteinander zu reden … wir machen es immer so, dass wir sagen, keiner kriegt Geschäft deswegen, weil er uns Daten gibt, aber er hat ’ne Chance, auf der Liste zu sein« (Geschäftsführer Fondsgesellschaft Frankfurt).
Diese Zitate verweisen auf den Reziprozitäts- und Netzwerkcharakter der hier zu beobachtenden Tauschpraktiken und verdeutlichen die Differenz von Portfoliomanagement und Devisenhandel, »marktfernen« Tauschpraktiken und dem »globalen Reflexsystem« des Echtzeitmarktes. Die Antworten hinsichtlich der Qualität der Inputdaten für quantitative Modelle sind in diesem Zusammenhang ausgesprochen konsistent. Von der überwiegenden Mehrheit der interviewten Portfolio-
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manager wird die Datenlage im Small-Cap-Bereich, d.h. bei gering kapitalisierten Unternehmen sowie in Bezug auf die osteuropäischen Märkte als schlecht eingestuft. »Das ist nämlich Osteuropa tatsächlich und Asien/Ex-Japan. Also China, Indien, all das. Da gibt's noch keine Daten richtig, die kann man auch nicht interpretieren. Russland war dabei, kann man auch nicht interpretieren, vor allem nicht quantitativ« (Analystin Fondsgesellschaft Frankfurt). Aber auch makroökonomische Daten für die größten Ökonomien sind mit hoher Unsicherheit behaftet: Selbst in den USA sind diese Daten mit teilweise horrenden Korrekturen versehen, die wirklich dann drei bis sechs Monate nachkommen. Man hat es jetzt wieder gesehen, Wirtschaftswachstum viertes Quartal. Erstes Quartal wurden massivst korrigiert und auch diese gesamten Arbeitslosendaten. Da kommen ja wirklich teilweise massive Korrekturen rein, die einem ein Stück weit zweifeln lassen an der Datenqualität. Und USA ist sicherlich noch eines der Länder, wo die Daten mit am besten erhoben werden. Wenn sie natürlich auch mal versuchen sich ein Bild von den Emerging Markets oder gar Japan zu machen, wird’s unheimlich schwierig. Deswegen ist vor allem wichtig, eher ein Stück weit den Trend zu beobachten als immer nur, sag ich mal, die letztverfügbare Datenzahl, die rauskommt (Geschäftsführer Lebensversicherung). Wichtiger als über »exakte«, gewissermaßen objektive Daten zu verfügen sei es, sich zu fragen: »Wie empfinden wir die Entwicklung dieser Volkswirtschaften, passt das zusammen. Wo passt es nicht zusammen?« (Geschäftsführer Lebensversicherung; Herv. U.V.)
Die Mehrzahl der von uns interviewten Manager charakterisiert die Qualität der erhältlichen Inputdaten als »bloß subjektiv«: Ja das war unser großes Problem im letzten Jahr, wenn (XY-Bank) schlecht performt hat. Weil die Inputdaten für die Modelle bloße subjektive Schätzungen sind. […] Jede Annahme im DCF-Modell ist eine Prognose, eine Schätzung (Fondsmanager einer Schweizer Bank).
Aus der Sicht dieses Managers nimmt die Qualität der Inputdaten aber auch empirisch-historisch immer weiter ab:
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Man kriegt diese Zahlen von den Unternehmen nicht, es wird grundsätzlich immer schwieriger, etwas Vernünftiges von den Unternehmen über ihre Zukunft herauszubekommen, man kriegt nur einen groben Ausblick, auf jeden Fall keine Zahlen für künftige fünf Jahre.
Die Problematik der subjektiven Datenqualität beschränkt sich dabei nicht auf »zugelieferte« Daten. Ein generelles Problem ist die Reproduktion bzw. Verstärkung falscher Ausgangsdaten im Laufe ihrer Verarbeitung. So seien den Analysten im eigenen Hause schwerwiegende Fehleinschätzungen unterlaufen und das für 2006 prognostizierte Wachstum in China zu niedrig angesetzt – und dementsprechend auch der Ölpreis, der zu einem gewichtigen Teil von der steigenden Nachfrage Chinas abhängt. Das führte dazu, dass die Makrodaten, die in das Modell gefüttert wurden, falsch waren; Alles war dann falsch. ›Garbage in – garbage out‹, das ist unser zentrales Problem.
Eine Lösung für dieses Problem wird darin gesehen, die resultierenden Bewertungsmodelle »pragmatischer, d.h. nicht so rigoros« anzuwenden (Fondsmanager Emerging Markets). Eine erhöhte Treffsicherheit der Modellaussagen soll demzufolge durch eine weniger präzise Anwendung des formalen Rechenmodells erreicht werden. Diese Einstellung ist einerseits unter den interviewten, stärker fundamental orientierten Portfoliomanager weit verbreitet, andererseits stellt sie offensichtlich keine grundsätzliche Lösung des zugrunde liegenden Problems dar, sondern eine Strategie der »satisficing rationality« (March/ Simon 1958), welche Rationalitätsdefizite des Entscheidungsprozesses mit einer Absenkung der Rationalitätsansprüche beantwortet. In anderen Fällen wird implizit eine Trennung zwischen den Daten interner und externer Analysten respektive ihren Daten eingeführt, indem Misstrauen gegenüber solchen Datenbanken artikuliert wird, welche »auf den subjektiven Erwartungen der fremden Analysten« (Fondsmanager Deutschland Emerging Markets) beruhen. Einige Portfoliomanager halten in diesem Zusammenhang die Kommunikation mit Vertretern anderer Marktsegmente wie Brokern und Analysten »für völlig überflüssig« (Fondsmanager Deutschland für Aktien Europa Nebenwerte): »Ich rede sehr ungern mit Brokern. So gut wie gar nicht«. Die aus standardisierten Modellen zugelieferten Daten erlaub-
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ten es weder, ihren Entstehungskontext kritisch zu reflektieren, noch vor dem Hintergrund anderer interessanter Entwicklungen (»Wenn ich den russischen Markt wegen hohem Ölpreis weiter spielen will …«) datenkonforme Entscheidungen zugunsten »weicherer Informationen« und des professionellen Gespürs zu suspendieren: »Gerüchte sind wichtig und ein Thema, das man spielen kann« (Herv. U.V.). Insbesondere für die Anwendung quantitativer Modelle wird die Subjektivität der Inputdaten aus der Sicht der vorwiegend fundamental orientierten Portfoliomanager als problematisch herausgestellt. Diese berücksichtigten entscheidende Faktoren wie die aktuelle Börsenpsychologie nicht, welche »extrem wichtig« sei. Deshalb seien quantitative Bewertungs- und Entscheidungsmodelle aus Sicht eines fundamental orientierten Investors »nutzlos: Alle eben besprochenen qualitativen Faktoren wie Managementqualität etc. sind nicht quantifizierbar« (Fondsmanager Aktien Europa). Nicht nur die Qualität der Inputdaten und die Entscheidungsbindung formaler Modelle werden skeptisch beurteilt. Darüber hinaus sind Investitionsentscheidungen auf der Grundlage organisierten Zahlengebrauchs generell unterdeterminiert. Die Auswahl und Relevanz bestimmter Anlagemöglichkeiten folge, zumindest auf der Ebene der analytischen Tools, individuellen Arbeits- und Investitionsweisen: Wir haben hier eine große Freiheit in der Arbeitsweise. Jeder hat sein eigenes System der Spreadsheets, jeder findet andere Zahlen wichtig (Fondsmanager Aktien Europa Nebenwerte).
Daten und Modelle sind aus Sicht der Interviewten also sowohl ubiquitär als auch (in Form »guter Daten«) knapp und schwer zu bekommen. Sie repräsentieren den subjektiven bzw. kollektiven Arbeitsstil ihrer Produzenten (»XY hatte vorher für Rohstoffe z.B. gute Daten ... die ganze Truppe ist jetzt bei UBS …«) und sind damit alles andere als »objektiv« oder »perspektivlos«. Insgesamt verfügen sie nur über einen schwachen epistemischen Status. 4. Creative Accounting als Regelunterstellung Das Problem opportunistischen Verhaltens nimmt im Rahmen der Wirtschaftstheorie einen breiten Raum ein, von der »Verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie« (March/Simon 1958) bis zur »Neuen Institutionellen Ökonomie« (Williamson 1979). Und die Pra-
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xis des »cooking the books« ist spätestens seit dem Enron-Skandal (Sablowski 2003) auch über den engeren Kreis von Bilanzexperten hinaus ein Begriff. Es ist deshalb keine Überraschung, dass alle Interviewten grundsätzlich mit bewussten Täuschungen und Manipulationen der Daten »rechnen«. Ihr Dilemma besteht darin, dass einerseits jeder Fondsmanager bereits negative Erfahrungen mit dem »creative accounting« gemacht hat. Vor dem Hintergrund eines strukturell auf die Produktion und Konsumtion von Zahlen angewiesenen Marktes sehen sie sich gleichwohl gezwungen, die bereitgestellten Daten in ihren Analysen zu verwenden – selbst bei solchen Unternehmen, bei denen in der Vergangenheit Manipulationen beobachtet wurden. Denn unter dem Eindruck einer umfassenden Beschleunigung finanzmarktbasierter Transaktionen müsse man immer darauf vorbereitet sein, dass »sich die Sachen dort schnell ändern können« – und damit Handlungs,sprich Investitionsbedarf entsteht. Gleichzeitig sehen sich die Portfoliomanager in der Situation, dass »man selbst den Betrug nicht aufdecken kann« (Fondsmanager Aktien Europa). Sie sehen sich also mit einer Situation konfrontiert, in der sie auf einen stetigen Strom an Daten angewiesen sind, zugleich aber der Qualität dieser Daten mit Misstrauen begegnen und keine Kontrolle über diese Daten besitzen. Dieses Unvermögen, die Daten, auf deren Grundlage Investitionsentscheidungen gefällt werden, in ihrem Entstehungskontext kontrollieren zu können, führt bei einem Teil der Interviewten zu fatalistischen Einstellungen. Ein Fondsmanager führt z.B. an, er mache sich trotz einschlägiger Erfahrungen hierüber »überhaupt keine Gedanken. Ich übernehme die Zahlen so, wie sie von den Unternehmen kommuniziert werden«. Andere Fondsmanager wählen ein Verfahren, das sie vor gewissen Aspekten des »cheating« schützen soll. So äußert sich ein Fondsmanager hinsichtlich absichtlich manipulierter Daten in folgender Weise: Er mache sich »keine großen Gedanken«: Die von den Unternehmen berichteten Zahlen werden in den Spreadsheets so übernommen, wie sie kommen, obwohl ich der möglichen Manipulation bewusst bin. Ich tue so, als ob die Zahlen wahr wären.
Es geht an dieser Stelle jedoch nicht allein um absichtsvolle Täuschung, d.h. die Manipulation von Daten und Modellen durch strategisch handelnde Akteure. Es geht um eine – im Hinblick auf den schwachen epistemischen Status von Berechnungen und Modellen
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(s.o.) relevante – tiefer liegende – Skepsis gegenüber finanzökonomischen Daten und Modellierungen: […] Nehmen Sie ein einfaches wie das Discount Modell, wenn Sie sich damit beschäftigen, dann sehen Sie, dass Sie alles manipulieren können, wie Sie jede Ihrer Meinungen mit diesem Modell darstellen können.
Tieferliegend als der Verdacht einer etwaigen Manipulation »richtiger« bzw. »objektiver« Daten wird hier der Wahrheitsgehalt jedweder Form der Modellierung ökonomischer Prozesse kritisch betrachtet. Denn das »Discount-Modell« bildet aus Sicht dieses Managers keineswegs die Realität ab; repräsentiert wird nicht eine dem Modell vorgängige »externe« Realität, sondern etwas bislang Unsichtbares, nämlich bestimmte Meinungen und Einstellungen interessierter Akteure. Mittels von Manipulationen am Modell können Entscheidungen im Hinblick auf X manipuliert werden. Die Modellierung repräsentiert nicht, sondern bringt die Entscheidungsalternativen erst in spezifischer Weise hervor. Diese argumentative Flexibilität gilt darüber hinaus nicht allein für den Gebrauch von Zahlen und Modellen, sondern auch für andere Darstellungsformate: Die Analysten haben in ihren Präsentationen nur die Charts, die ihre Meinung bestätigen. Man könnte leicht die Charts finden, die ihre Meinung widerlegen. Diese [negativen; U.V.] Charts und Bilder werden aber einfach ignoriert.
Zahlen und Graphen werden hier vor allem als rhetorische Instrumente charakterisiert (McCloskey 1998 [1985]), mit denen Entscheidungen ex post oder ex ante legitimierbar sind; sie werden aber nicht als valide Repräsentation eines Marktes oder seiner »underlyings« verstanden und auch nicht so behandelt. Dies kann als Beleg für das bei den Finanzmarktakteuren vorherrschende »post-objektivistische« Verständnis von Repräsentationspraktiken bei gleichzeitiger Konstitution des Finanzmarktes durch nichts anderes als eine »Lawine an Zahlen« (Hacking 1991: 189) bzw. an formalen Repräsentationen und Modellen interpretiert werden. Die verfügbaren Zahlen und Modelle werden nicht als »richtige« im Sinne von »wahren« Zahlen verwendet. Ihre Legitimität resultiert nicht aus der Repräsentanz einer (finanzmarkt-)externen Wirklichkeit, sondern aus ihrem Gebrauch durch eine Vielzahl relevanter Akteure des Finanzmarktes, in welchem ihr Charakter als
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nützliche Unterstellungen alltäglich bestätigt wird. Die Güte der Maße ist hier nicht eine Funktion der Übereinstimmung mit dem externen Referenten, sondern eine Funktion ihrer intersubjektiven Geltung innerhalb der Sphäre des Finanzmarktes bzw. lokaler »Schulen«, sowie ihrer Nützlichkeit als Zahlenrhetorik und im Hinblick auf isomorphistische Risikominimierung (s.u.). Versicherung im Umgang mit den Daten wird also nicht durch eine (aussichtslose) Prüfung der externen Validität zu erreichen versucht, sondern im Gegenteil durch die Schließung des Systems der Finanzmarktkommunikation gegenüber externen Referenzen. Mit diesen außerhalb des Finanzmarkts weitgehend nutzlosen, d.h. feldspezifischen Techniken und Modellen lassen sich relative Risiken bestimmen, Investments vergleichen, Entwicklungen prognostizieren etc. Sie stellen damit Instrumente und Technologien zur Vermessung des »epistemischen Objekts« Finanzmarkt dar, welches in seiner Vollumfänglichkeit unbestimmbar ist. Dies macht sowohl den unstillbaren Hunger der Marktteilnehmer nach weiteren Zahlen und immer weiteren Kalkulationen plausibel als auch ihren Zahlenfatalismus. Dieser resultiert aus der Gleichzeitigkeit eines Zwangs zur Konsumtion von Zahlen und der Unmöglichkeit, diese überprüfen zu können. Die Interviewten gehen mit den für sie erhältlichen Daten pragmatisch und in der Konsequenz so um, als »ob die Zahlen wahr sind« (Portfoliomanager). 5. Formale Modelle und individuelle Entscheidungsautonomie Der Stellenwert formaler Modelle für die Investitionspraxis wird von den interviewten Portfoliomanagern nicht mit ihrer Wirklichkeitstreue begründet – im Gegenteil ist die Feststellung ihrer grundsätzlichen Kontingenz der Ausgangspunkt der Frage, was man mit Modellen anfangen kann, wenn man mit ihnen keine Wahrheit über den Markt repräsentieren kann. Modelle, so die Interviewten, seien für die Praxis vor allem von Bedeutung, weil sie die Welt in eine begrenzte Anzahl von Entscheidungsmöglichkeiten einteilen, Entscheidungsparameter anbieten und Entscheidungen zu legitimieren vermögen. Man kann mittels Modellierung also Entscheidungen in Form alternativer Szenarien strukturieren – ohne die Entscheidung selbst aus dem Algorithmus des Modells herzuleiten. Dabei existieren auch innerhalb eines Unternehmens oft erhebliche Differenzen hinsichtlich der (Rationalitäts-) Erwartungen, welche an formale Modelle gerichtet werden. Ein Port-
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foliomanager setzt sich in diesem Zusammenhang sehr deutlich von der Anwendung formaler Modell und den anderen Akteuren im eigenen Hause ab: (Die Investmentgesellschaft; U.V.) […] kann natürlich alles machen. Sie haben da Modelle, die ganze Maschinerie, wie ich es nenne. Sie schauen, was die Modelle sagen. Wenn die Mehrheit der Modelle (z.B. drei von fünf) grünes Licht zeigen, dann diskutieren wir. Ist das ein Fehlsignal? Können wir die Modellaussagen nachvollziehen? (Herv. U.V.) Sheet in – sheet out. Was soll man davon halten? Modelle sind für uns bloß eine Unterstützung. Wir nehmen ihre Aussagen auf und diskutieren. […] Also die (Muttergesellschaft) bringt diese ganzen formalen Sachen und wir vertreten die fundamentale Seite.
An diesen beiden Zitaten werden stellvertretend eine Reihe von Differenzierungen deutlich: Zunächst und vor allem die Differenz inkongruenter Modellaussagen, die aus den verwendeten Annahmen und Algorithmen resultiert und dazu führt, dass inkompatible Signale (nur drei aus fünf »zeigen grünes Licht«) erzeugt werden. Die modellgestützte Beobachtung determiniert nicht aus sich heraus eine bestimmte Entscheidung, sondern öffnet den Raum der Alternativen, anhand derer die Bedeutung der widerstreitenden Signale diskutiert wird. Modelle bilden in diesem Zusammenhang also den konfliktbesetzten Hintergrund, vor dem die Bedeutung der fabrizierten Signale situativ ausgehandelt werden muss. Und diese Aushandlung findet im Kontext weiterer Differenzen statt, auf die der Interviewte hier nur kursorisch verweist: der von Muttergesellschaft und marktnahem Vertrieb sowie von technischer versus fundamentaler Analyse. Kennzahlen als solche entscheiden also keineswegs über das Investitionsverhalten. Sie bilden eher den Ausgangs- als den Endpunkt von Diskussionen über ökonomische Chancen. Hieran anknüpfend heben die Akteure ihre Entscheidungsautonomie gegenüber formalisierten Modellen und Computerberechnungen hervor. Diese, so der Fondsmanager einer deutschen Bank, stellten »keinen Zwang für mich dar: Ich habe genug Freiraum, um abzuweichen«. Der Fondsmanager einer Lebensversicherungsgesellschaft kritisiert in diesem Zusammenhang am Beispiel finanzmathematischer Dienstleister ein zu arbeitsteiliges und zu formales Vorgehen in der Entwicklung von Modellen:
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Und diese Einheiten sind durch eine Zerlegung der Prozesskette so weit weg vom Kapitalmarkt, die leben in einer, würd’ ich schon sagen, mathematisch modellhaften Welt, in dem es wichtiger ist, dass das Modell kohärent aufgebaut ist, keine Inkonsistenz bietet und allen schönen Output liefert. Ob es die Realität am Markt abbildet, da fehlt den Kollegen oftmals das Wissen, weil sie zu stark nur in ihrer mathematischen Welt leben.
Ein weiteres Zitat verdeutlicht dagegen die stärker imaginative (im Gegensatz zu: objektivierende, quantifizierende) Seite des Entscheidungsprozesses: Ich betrachte Modelle als nutzlos: Alle eben besprochenen qualitativen Faktoren wie Managementqualität etc. sind nicht quantifizierbar. Sie tragen dazu bei, dass in meinem Kopf ein Bild entsteht, das ich nicht in Zahlen übersetzen kann.
Weiterhin kann mit Modellen – ähnlich wie mit impliziten Prozessen der normativen Isomorphie (Meyer/Rowan 1977) – Risikominimierung betrieben werden. Sie sollen »vor eklatanten Fehlern schützen« (Wirtschaftsmathematiker): Wer Modelle sauber implementiert und in der Begründung von Marktpositionen berücksichtigt hat, kann auch bei mangelnder Performance auf eine technisch saubere, d.h. professionelle Arbeit verweisen. Diese pragmatische Legitimationsfunktion kann dann besonders wirkungsvoll entfaltet werden, wenn das Modell auch für Nicht-Experten wie z.B. Vorstände verständlich ist: »Ich denke, dieses Modell war so erfolgreich, weil es einfach ist: Das konnte jeder Vorstand verstehen«. Die Funktionen von Modellbildungen: Die Produktion von Entscheidungsalternativen, die Minimierung nicht nur von sachlichen, sondern auch von persönlichen Entscheidungsrisiken, die nachträgliche Legitimation von Entscheidungen und im Rahmen der beruflichen Sozialisation erworbenen, implizit bleibenden »Einstellungen zum Markt«; sie decken sich nicht mit den von der Neoklassik behaupteten Informations- und Entscheidungsfunktionen von Modellen. Sie drücken stattdessen eine tiefliegende Skepsis gegenüber mathematischen Modellen des Marktes aus: Wichtig wäre vielleicht, dass man sich wieder ein Stück weit von einer zu starken Modellgläubigkeit verabschiedet. Was ich halt die letzten zehn Jahre als
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Trend gesehen hab’, das ist wirklich auch in unserem Haus ein Trend, und ich meine, unser Haus ist ja auch in vielen Bereich nicht anders als die anderen großen Spieler. Das Risikomanagement wird immer stärker modellgetrieben ausgerichtet. Die Verfahren im Mathematischen werden immer besser, und trotzdem können sie die Krisen eigentlich nicht sehen (Geschäftsführer Fondsgesellschaft Lebensversicherungsbereich). Und das ist, was ich so ein bisschen kritisch sehe, diese starke Modellgläubigkeit, wo man sich dahinter versteckt, wo man dann sagt, na ja das Modell hat es halt so gesagt, dann steuern wir so (Geschäftsführer Fondsgesellschaft Lebensversicherungsbereich).
6. Fazit Die Zahlen und Modelle sind in der Wahrnehmung der interviewten Portfoliomanager nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen: eine perspektivlose, objektive und distanzierte Darstellung ökonomischer Prozesse. Die Tatsache ihrer sozialen Konstruiertheit, ihrer Zweck- und Stilgebundenheit ist allen Akteuren bewusst – eine Wahrheit, die gewissermaßen wahrer als die Wahrheit der Zahlen selbst ist. Die Akteure tun so »als ob die Zahlen wahr sind«. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Der sich hier ausdrückende Fatalismus hat eine ganz pragmatische Funktion: Er ermöglicht ein »Weiterhandeln« diesseits der begründeten Annahme, dass die Zahlen manipuliert sein könnten. Die Betroffenen unterliegen keineswegs in naiver Weise einer Täuschung, innerhalb derer sie über die angemessenen Deutungsschemata des Zahlengebrauchs im Unklaren blieben. Stattdessen ist ihnen jederzeit präsent, dass hier nicht eine der Darstellungspraxis vorgängige »externe« Realität lediglich gespiegelt wird, sondern etwas bislang Unsichtbares, nämlich bestimmte Meinungen und Einstellungen interessierter Akteure in das Medium von Graph und Zahl transformiert und hierdurch erst in einer Weise hervorgebracht werden, die es ihnen erlaubt, Investitionsentscheidungen zu treffen und zu legitimieren. Die Finanzmarktakteure schaffen durch ihren kontrafaktischen Umgang mit Daten, deren Wahrheitsgehalt sie als schwach, deren Repräsentationalität sie als gebrochen und deren Manipulierbarkeit sie als hoch ansehen, erst die Grundlage für ein systemkonstitutives »Weiterhandeln« und damit für die systemische Reproduktion des Finanzmarktes. Dieses »Weiterhandeln« ist die pragmatische Umsetzung ei-
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nes sich unter hohem Performance- und Wettbewerbsdruck abspielenden »nicht Aufhören Könnens«. Mittels Manipulationen am Modell können Entscheidungen herbeigeführt oder unwahrscheinlich gemacht werden. Dies bedeutet: Ökonomisches Rechnen repräsentiert nicht ein von der Repräsentation epistemisch unabhängiges Wissensobjekt (im Sinne des Erkenntnisideals der »mechanischen Objektivität«; Daston/Galison 2007), sondern bringt Entscheidungsalternativen sowie diesbezügliche Legitimationsmöglichkeiten erst in spezifischer Weise hervor. Auch dies ist den beteiligten Akteuren bewusst, stellt aber zugleich eine entscheidende Differenz zu anderen Handlungsfeldern dar. Anders als Pfarrer, künftige Eheleute und Publikum misstrauen die Finanzmarktakteure der durch sie performativ hervorgebrachten Finanzmarktwirklichkeit grundsätzlich. Sie erleben sie als eine Welt fragmentierter, unzuverlässiger und manipulierter Aussagen (Daten) und gebrochener Versprechen. Im Fall der Ehe und der Black-Scholes-Formel stellen sich performative Wirkungen dadurch ein, dass Akteure immer schon oder empirisch zunehmend an Aussagen bzw. Setzungen glauben und diese aufgrund dieses Glaubens in ihrem Handeln bestätigen (Deutschmann in diesem Band). Im hier betrachteten Fall steht dagegen die Frage im Mittelpunkt, in welcher Weise Aussagen (hier: Daten und Modelle), an die die Akteure kaum oder gar nicht glauben, deren Wahrheitswert innerhalb der community of practice (Wenger 1999) also gering ist, performative Wirkung entfalten können. Das Paradox besteht darin, dass dieses im Portfoliomanagement beobachtbare NichtTrauen der Zahlen selbst ohne Zahlen nicht auskommt. Die Mikrorationalität der Akteure im Zentrum des Finanzmarktes folgt dabei weniger den Rationalitätsannahmen der wirtschaftlichen Neoklassik als dass sie durch ein Spektrum idiosynkratischer Praktiken geprägt ist, welche organisations- und subjektabhängig sind. Es lässt sich eine große Spannweite von Stilen und Routinen im Hinblick auf die Konstruktion von Investmentportfolios als eines der wesentlichen Selbstbeobachtungsinstrumente des Finanzmarktes feststellen. Die Handlungsrationalität der befragten Portfoliomanager scheint durch den Versuch geprägt zu sein, Handlungs- und Entscheidungsautonomie nicht etwa durch einen systematischen Zahlengebrauch zu erlangen, sondern gegen die scheinbare Objektivität der Zahlen und die scheinbare Zwangsläufigkeit der hieraus abgeleiteten Entscheidungen. Dies kann als wesentlicher Aspekt ihres Kontrollbewusstseins inter-
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pretiert werden, »das sie selbst als Entscheider einsetzt, obwohl sie tatsächlich weder autonom noch a priori rational sind« (Beckert et al. 2007: 37). Die Portfoliomanager erzeugen feldspezifisch rationale Begründungen von Entscheidungen mittels eines Gebrauchs ökonomischer Repräsentationen, der nicht auf der Unterstellung der Objektivitätsgeltung dieser Repräsentationen basiert, sondern im Gegenteil auf die Bedeutung sozialer Netzwerke, geteilter Leitbilder für die Organisation von Erfahrung und die kognitive Einbettung in organisationsspezifische Rahmungen der Finanzmarktpraxis verweist. Aus der Sicht der Wirtschaftssoziologie und ihrer Thematisierung von »Unsicherheit« im ökonomischen Prozess würde es nahe liegen, sich in der Analyse dieses Feldes einseitig auf die Frage zu konzentrieren, wie Kalkulation zur Beherrschung ökonomischer Risiken beiträgt. Die Fokussierung auf Praktiken der »Unsicherheitsabsorption« qua Kalkulation ist unter Umständen jedoch irreführend. Denn sowohl auf der Ebene des ökonomischen Wissens der Akteure als auch auf der Ebene der Konstruktion und Anwendung analytischer Tools geht es weniger um Komplexitätsreduktion oder Unsicherheitsabsorption als Voraussetzung ökonomischen Handelns, als vielmehr um die Frage, wie Akteure angesichts der systematischen Unmöglichkeit, qua Zahlengebrauch Unsicherheit zu reduzieren, »weiter zu machen« gezwungen sind. Auf der einen Seite stellt die Produktion, Interpretation und Zirkulation von Zahlen die basale, für Finanzmarktakteure unhintergehbare Grundlage ihrer Arbeit dar. Gleichzeitig werden die hierfür verwendeten Zahlen als wenig tauglich für eben diese Arbeit charakterisiert: als irreführend, gefälscht, unvollständig, beliebig manipulierbar etc. Ähnlich wie im Fall der Verbriefung von Kreditrisiken vollzieht sich hier eine selbstreferentielle Entkoppelung des Finanzmarktes von seinen realökonomischen Referenzen. Die Zahlen bilden in dieser Perspektive weniger das Verbindungsglied zwischen Real- und Finanzökonomie, sondern stellen das Medium der Transformation finanzmarktexterner Ereignisse in das Kommunikationssystem des Finanzmarktes dar. »Draw a distinction« sagt die neuere Systemtheorie, aber dieser fundamentale Einschnitt in die Welt wird von den postobjektivistischen Akteuren des Finanzmarktes als immer schon kontingent und manipulativ beschrieben. Im Bewusstsein der interviewten Manager äußert sich dies in einem durchgängig »post-objektivistischen« Verständnis des ökonomischen Zahlengebrauchs (Vormbusch 2012).
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Im Zentrum des Finanzmarktkapitalismus’ operiert eine ökonomische Elite von Experten, welche den Zahlen sowie ihrem Gebrauch durch andere Experten zutiefst misstraut. Die Wissensordnung des Finanzmarkts lässt sich als eine Art Zahlenbulimie beschreiben, in welcher Daten und Modelle (dem Substrat bzw. bildlich gesprochen: dem »Körper« des Finanzmarkts) einerseits eine höchstmögliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung zuteil wird – und diese gleichzeitig mit fundamentalem Misstrauen besetzt sind: Objekte brüchigen Vertrauens und »schwachen« Wissens, die gleichwohl erst den Raum öffnen, innerhalb dessen gehandelt werden kann. Die Akteure sorgen sich weniger um die externe Validität ökonomischer Repräsentationen als dass sie sich beständig auf die Nützlichkeit, Optimierung und kritische Reflexion ihrer Modelle konzentrieren. Die feldspezifischen Wissenstechnologien wie Spread-Sheets, Charts, Tabellen und Portfolios besitzen vor diesem Hintergrund nicht den Charakter eines schlichten Werkzeugs, das im Gebrauch unsichtbar wird, sondern den eines »epistemischen Dings«: eines offenen Wissensobjekts, das eher Fragen generiert als Sachverhalte abbildet (Rheinberger 1992; Knorr Cetina 1998: 95ff.). Epistemische Dinge entfalten im Gebrauch beständig neue Aspekte – ihrer selbst und der durch sie hervorgebrachten Welten. Wenn Wissensobjekte als generative Mechanismen (»Was kann ich sehen?«; »Wie kann ich fragen?«; »Welche alternativen Blickwinkel gibt es?«) auf der einen Seite einen Mangel an Beständigkeit und Materialität aufweisen, so sind sie gerade hierdurch prädestiniert, »einem ständig sich erneuernden Interesse an einem Wissen, das niemals durch endgültiges Wissen erfüllt wird«, zu dienen (Knorr Cetina 1998: 99). Bilden Modelle, Charts und Spread-Sheets als »zusammengesetzte« epistemische Dinge das Substrat der Finanzmärkte, dann ließe sich auch hiermit deren inhärente Unruhe und Nicht-Kalkulierbarkeit begründen. Und damit wird deutlich, in welche Gefahr sich Gesellschaften begeben, die ihre Gegenwart und ihre potentiellen Zukünfte auf das Prozessieren instabiler, beweglicher, offener Mechanismen (ver-) wetten.
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Der Staat handelt Finanzmarktpraktiken im transnationalen Schuldenmanagement B ARBARA G RIMPE
1. Einleitung Oft wird davon ausgegangen, dass sich die Finanzmärkte und die Nationalstaaten als unvereinbare Funktionsbereiche mit je eigenen Dynamiken gegenüberstehen.1 Beispiele für diese Perspektive finden sich vor allem im öffentlichen und speziell tagespolitischen Diskurs, zuletzt explizit in Bezug auf die jüngste internationale Finanzkrise.2
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Dieser Beitrag wurde unterstützt durch den SNF. Ich danke Jakob Tanner, Tobias Straumann, Mischa Suter, Marietta Meier und den Teilnehmern der Mainzer Autorentagung für wichtige Hinweise und Kritik. Ganz besonders danke ich den Schuldenexperten dafür, dass sie mir Einblick in ihre tägliche Arbeit gewährten.
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Am 24.02.2011 hielt der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble unter dem Titel »Über das Verhältnis von Staat und Markt – Lehren aus der Finanzmarktkrise« eine Rede am Center for Financial Studies der Goethe-Universität Frankfurt a.M. (Schäuble 2012; CFS 2012). Er konstatierte u.a., dass ein »neues Gleichgewicht zwischen Markt und Staat« nötig sei. Der Markt brauche einen von Staat oder internationaler Staatengemeinschaft geschaffenen »Regulierungsrahmen«. Allerdings seien »die modernen Finanzmärkte« auch derart volatil, dass sie »mit Leichtigkeit« die Stabilisierungsbemühungen politischer Akteure, die oft »schlicht und einfach […] keine Zeit mehr« hätten, konterkarieren könnten. Im Jahr 2008 veröf-
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Die Arbeitsteilung zwischen Märkten und Staaten scheint dabei klar umrissen: Während Märkten eine Dynamik innewohnt, die ihre Geschäfte immer wieder an andere Orte und in andere Produktbereiche ausdehnen lässt, beschränkt sich die Rolle des Staates innerhalb territorialer Grenzen auf die politisch-juristische Regulierung derjenigen Operationen und Transaktionen, die diese Märkte kennzeichnen. Manchmal wird zudem die Fähigkeit des Staates, diese Steuerung rechtzeitig und adäquat umsetzen zu können, bestritten. Der Staat führt, so scheint es, einen geradezu aussichtslosen Kampf gegen die ökonomischen Kräfte der Moderne. Hartmut Rosa (2005) hat diese Perspektive wie folgt zusammengefasst: »[D]ie Wirtschaft, die Wissenschaft, die Technik […] [sind] zu schnell geworden für eine politische Steuerung und rechtliche Regulierung […]. Wirtschaft, Wissenschaft und Technik auf der einen und Recht und Politik auf der anderen Seite […] [sind] ›aus dem Tritt‹ geraten, also desynchronisiert […] Die in Sekundenbruchteilen weltumspannend operierenden […] Finanzmärkte […] [lassen sich] nach Auffassung der überwiegenden Mehrzahl aktueller Beobachter […] politisch und teilweise selbst rechtlich nicht mehr steuern. […] Nationalstaaten sind zu langsam geworden für das Transaktionstempo der globalisierten Moderne« (Rosa 2005: 46, 48; Herv. i.O.).
In der Praxis sind Finanzmärkte und Staaten jedoch eng ineinander verflochten. Staaten können sogar selbst als rege Finanzmarktakteure angesehen werden. Dies lässt sich an den Märkten für Staatsanleihen verdeutlichen. Ohne staatliches Handeln gäbe es diese Märkte gar nicht erst. Die nationalen Schuldenexperten emittieren die Papiere per Auktionsverfahren, wodurch sie sich als »Marktmacher« bezeichnen
fentlichte die SPD ein Arbeitspapier zur Finanzkrise, das ebenfalls mit der Markt-Staat-Dichotomie operiert und u.a. problematisiert, dass Nationalstaaten, sofern sie nicht international kooperierten, kaum noch »auf Augenhöhe mit der internationalen Finanzindustrie« stünden (SPD 2012: 10). Unter dem Titel »Banken an die Leine! Wie bekommen wir die Finanzmärkte in den Griff?« thematisierte auch die Talkshow »Günter Jauch« am 30.10.2011 die Eigendynamik der Finanzmärkte. Auf der dazugehörigen Website heißt es u.a., dass der Finanzmarkt »noch lange nicht gebändigt« sei und »die Politik vermutlich weiter vor sich hertreiben« werde (Das Erste 2012).
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lassen: Sie verwandeln illiquides Anlagegut in liquidere Mittel (Carruthers/Stinchcombe 1999: 353, 358ff.). Liquidität wiederum gilt neben Effizienz als eine der »großen Tugenden perfekt kompetitiver Märkte« (Carruthers/Stinchcombe 1999: 352, eigene Übersetzung). Der vorliegende Beitrag zeigt eine Reihe weiterer Beispiele staatlichen Handelns, oder zumindest Mithandelns, an und in Finanzmärkten auf, um zu einem differenzierteren Bild des Verhältnisses von Staat und Markt zu kommen. Er schließt damit an diejenigen Arbeiten an, welche eine einfache Dichotomisierung unterlaufen (Fligstein 2003: 1f.; Slater/Tonkiss 2001: 147; Carruthers/Stinchcombe 1999: 355, 379; Mackert 2006: 44, 51; Tellmann 2007: 243). Empirisch untersucht wird das Management staatlicher Schulden – darunter speziell diejenigen Praktiken, die dem Wissensbestand einer transnationalen epistemischen Gemeinschaft zugerechnet werden können (Haas 1992; Ikenberry 1992). Neben nationalen Schuldenmanagern umfasst diese Gemeinschaft Vertreter internationaler Regulierungsbehörden oder supranationaler Instanzen (etwa UN, IWF oder Weltbank). Das Schuldenportfolio ist oft das größte Finanzportfolio eines Staates (IMF/World Bank 2003: 3; Wheeler 2004: 6). Es ist häufig sehr komplex, in der Reichweite global und sehr dynamisch. Dies gilt bereits für sogenannte Entwicklungs- und Schwellenländer. Beispielhaft seien dazu Daten zu Indonesien und Argentinien aus der eigenen Feldforschungszeit von 2004 bis 2006 (s.u.) genannt (Bank Indonesia 2004; Mecon 2005; Nielsen 2003, 2004). Im Jahr 2004 hatte Indonesien ca. 78 Milliarden US-Dollar externe öffentliche Schulden, weit über 900 verschiedene laufende Kredite von 28 Ländern (bilaterale Kredite) und 415 multilaterale Kredite bei internationalen Gläubigerorganisationen wie dem IWF. Die Kredite waren insgesamt in 14 Währungen vergeben. Staatsanleihen spielten zum Erhebungszeitpunkt mit etwas mehr als 1,3 Milliarden US-Dollar nur eine geringe Rolle. Bei Argentinien hingegen machten Staatsanleihen Ende 2005 ca. 50 Prozent von insgesamt über 128 Milliarden US-Dollar öffentlichen Schulden aus. Am Beispiel Argentiniens lässt sich auch die Dynamik vieler nationaler Schuldenportfolios aufzeigen: Im Erhebungszeitraum waren diverse argentinische Anleihen an das Bruttoinlandsprodukt oder an die Inflation gekoppelt, d.h. sie waren indexiert. Außerdem hatte ca. ein Drittel der Anleihen einen variablen Zinssatz. Entsprechend schwankte der Wert des Gesamtportfolios ständig. Auch andere Länder hatten
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oder haben noch verschiedentlich indexierte Anleihen und operieren mit variablen Zinssätzen (Hain 2004: 34ff.). Die Ausgangsthese des vorliegenden Beitrags lautet: Staat-MarktDichotomien werden unscharf, sobald man versucht, sich möglichst weit auf die Ebene der Teilnehmer des Feldes zu begeben, d.h. sich ihren täglichen Praktiken und dem Expertendiskurs zuwendet. Hier schwindet die Dichotomie, ohne dass dabei die Kategorien des Marktes und des Staates ganz irrelevant würden. Staatlichkeit etwa bleibt im transnationalen Schuldenmanagement immer im folgenden Sinn zentral: Es wird alltäglich mit den Definitionen »externer« und »öffentlicher« Schuld operiert, welche das Konzept des »souveränen Territorialstaats mit seiner Beständigkeit und Ausschließlichkeit des Territoriums« (Sassen 2008: 49) und eine entsprechend eindeutig definierte Einwohnerschaft voraussetzen (z.B. für externe Schulden: »contractual liabilities of residents of a country to nonresidents«, IMF 2003: 1). Für die internationalen Regulierungsbehörden bilden außerdem die nationalen Rechtsrahmen eine unvermeidliche Referenzgröße. Die globalen Vergleichsordnungen, die sie konzipieren, sind buchstäblich durchwachsen von nationalstaatlichen Gesetzen und Durchführungsbestimmungen (Grimpe 2010: 126ff.). Die im Schuldenmanagement beobachteten Formen staatlicher Handlungsträgerschaft an und in Märkten können im Sinn der Social Studies of Finance als auf Finanzmärkte gerichtete »Wissenspraktiken« bezeichnet werden (Kalthoff 2009: 266). Damit erweitert der vorliegende Beitrag diese neuere, oft börsen- und bankenorientierte Finanzsoziologie (Kalthoff 2009: 267) um einen eher ungewöhnlichen Problembereich. Herbert Kalthoff zufolge sind »Marktakteure« mit der »immer wieder erfolgenden Herstellung und Bewahrung von Ordnung [beschäftigt], die mit einer Zuschreibung von Sinn« einhergeht (Kalthoff 2009: 270). Diese Praxis habe eine »materiale Basis« im doppelten Sinn: Sie sei erstens oft verkörpert und zweitens stark auf technische Artefakte ausgerichtet bzw. von diesen beeinflusst. Die Objekte seien »Teilhabende« im fortwährenden Prozess der Herstellung sozialer Ordnung, ohne diese absolut zu determinieren; insgesamt könne die »Objektpraxis […] starke stabilisierende und integrierende Wirkungen« erzielen (Kalthoff 2009: 271; MacKenzie 2009: 2f., 10ff.).3 Auch
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Genauer gesagt charakterisiert Kalthoff das Forschungsprogramm der Social Studies of Finance als eine an »Goffmans Paradima der interaction or-
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im transnationalen Schuldenmanagement findet man eine solche Verwicklung von (staatlichen) Praktiken und Technologie. Letzteres umfasst im vorliegenden Feld Schuldenmanagementsoftware sowie Internetplattformen – je für sich genommen, aber gerade auch im (globalen) Zusammenspiel. Ordnung – und zwar eine, die immer schon zwischen Markt und Staat aufgespannt ist – wird im Feld ebenfalls ständig wieder hergestellt, etwa, wie später noch ausgeführt wird, durch formale Standards. Auch Sinnzuschreibungen finden ständig statt; dies zeigt ein Blick in den Diskurs von Schuldenexperten. Beispielsweise wurde die Tatsache, dass in den 1990er Jahren in vielen Ländern separate, d.h. vom Finanzministerium oder von der Zentralbank getrennte Schuldenmanagementbüros geschaffen wurden, anscheinend oft als Loslösung vom »politischen Prozess« und als »Professionalisierung« gedeutet (Currie et al. 2003: 17, eigene Übersetzung; Hain 2004: 236). Insgesamt können eine Praxis- und Expertendiskursanalyse feste Vorabdefinitionen von Staat und Markt irritieren und alternative, sozusagen quer verlaufende Handlungs- und Bedeutungsmuster aufzeigen. Empirische Grundlage dieses Beitrags ist eine ca. zehnmonatige »multi-sited ethnography« (Marcus 1998), die von 2004 bis 2006 beim »DMFAS-Programm« (DMFAS 2011a) in Genf sowie in nationalen Schuldenbüros in Argentinien, Indonesien und Burkina Faso durchgeführt wurde. Ergänzend wurden im Juni 2009 semi-strukturierte Interviews mit sechs Mitarbeitern dieses Programms sowie im August 2011 ein Interview mit zwei Vertretern des nationalen Schuldenmanage-
der orientierte […] Forschungsstrategie, die eine empirische Mikroperspektive (Interaktionsordnung) auf ihre strukturierende Wirkung ausdehnt (Interaktionsordnung)« (Kalthoff 2009: 273f.; Herv. i.O.). Diese Interaktionsordnung zeichne sich durch das Zusammenspiel nicht nur von sozialen Akteuren (Marktakteuren) und technischen Objekten, sondern auch »auf Zeichen basierende[n] Darstellungen« aus (Kalthoff 2009: 273). Handlungsträgerschaft entstehe aus den interaktiven Wechselbeziehungen zwischen diesen drei Dimensionen – Akteure, Objekte und Zeichen. Auch im transnationalen Schuldenmanagement ist ein Wechselspiel von Akteuren, Objekten und Zeichen zu beobachten; auf die Zeichendimension wird hier aus Platzgründen aber nicht näher eingegangen (Grimpe 2010: 262ff.).
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ments der Schweiz geführt.4 Das DMFAS-Programm ist eine bei UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) in Genf angesiedelte Schuldenmanagementorganisation. »DMFAS« steht für »Debt Management and Financial Analysis System«, eine Software, die diese UN-Organisation von ca. 1979 an für sogenannte Entwicklungs- und Schwellenländer konzipiert hat; inzwischen verwalten damit rund 80 Finanzministerien und Zentralbanken ihre Schulden (DMFAS 1999/2000: 1; World Bank 2008a: 14). In Genf, Buenos Aires, Jakarta und Ouagadougou konnten einige Interaktionssituationen, in denen DMFAS-Experten auf nationale Schuldenmanager oder IWF- und Weltbank-Vertreter trafen, teilnehmend beobachtet werden. Es gab auch einige Zusammenkünfte – internationale Konferenzen, informelle Treffen – all dieser Akteure, die ebenfalls Gegenstand der Untersuchung wurden. Zudem galt es, die Rolle, die der DMFASSoftware in diesen weltweit verteilten Interaktionssituationen zugesprochen wurde, genauso wie deren konkrete technische Entwicklung und Benutzung an den verschiedenen Orten näher zu untersuchen. Methodisch gesprochen beinhaltete diese Ethnographie damit, die beiden von George Marcus formulierten Forschungsvarianten »follow the people« (hier: folge den DMFAS-Experten in ihrer Zusammenarbeit mit anderen Schuldenexperten) und »follow the thing« (hier: folge der DMFAS-Software in ihre Entwicklungs- und Benutzungskontexte) zu realisieren (Marcus 1998: 90ff.). Auf diese Weise konnte sukzessive ein spezifischer globaler Sinnzusammenhang rekonstruiert werden, an dem verschiedene Akteure mit teils verschiedenen Perspektiven und auf teils verschiedene Arten – hier: bald diskursiv, bald technischpraktisch – mitwirken. Im vorliegenden Fall lässt sich dieser spezifische globale, trotzdem mikrosozial gestrickte Sinnzusammenhang als ein weit verzweigter elektronischer Beobachtungsraum bezeichnen, der neue schnelle Vergleichsmöglichkeiten ganzer Nationalökonomien erlaubt. Auf diesen globalen Beobachtungsraum wird noch näher eingegangen. Der weitere Aufbau ist wie folgt: In den nächsten Abschnitten werden drei staatliche Finanzmarktpraktiken besprochen, und zwar skopisches Formatieren (2.), rastloses Projizieren von Zukunft bzw.
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Aus diesem Interview darf im Weiteren nicht wörtlich zitiert werden; nur eine Wiedergabe des eigenen Eindrucks in eigenen Worten wurde gestattet.
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Erwartungsbildung (3.) und Trading (4.). Dies sind Formen soziotechnischen Handelns, die in wirtschafts- und finanzsoziologischer Literatur als Markthandeln begriffen werden. Nun lässt sich zeigen, dass sie – in teils modifizierter Weise – auch in staatlichen bzw. transnationalen Arbeitskontexten zu finden sind. Am Schluss werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst. Dabei wird Andreas Langenohls und Kerstin Schmidt-Becks (2007) differenzierte Analyse der unterschiedlichen Marktverhältnisse von Traders und Analysten in Banken aufgegriffen. Es kann nun die These aufgestellt werden, dass ihre Argumentation sozusagen nicht an den Außenmauern von Banken Halt machen muss, sondern konsequent für verschiedenste mögliche Organisationen (darunter Staaten und internationale Regulierungsbehörden) und Orte (darunter nationale Schuldenbüros und die Sitze der Regulierungsbehörden) weiter zu denken ist. Staaten sind nicht unausweichlich passive Empfänger vorherrschender Marktdynamiken oder gar »ohnmächtige Opfer« (Mackert 2006: 11). Staaten agieren auch nicht in total abgekoppelten und grundsätzlich zu langsamen Zeitstrukturen, sondern handeln in diversen Märkten mit – ein Mithandeln, das durchaus umstritten sein kann (siehe Abschnitt 4). 2. Skopisches Formatieren Don Slater und Fran Tonkiss gehen davon aus, dass die Grenze zwischen Staat und Markt »höchst durchlässig« und eigentlich ein Raum ständiger »Interaktion, Regulation und Vermittlung« ist (Slater/Tonkiss 2001: 147, eigene Übersetzung). Märkte würden weniger durch »Regierungen« (»governments«) als durch »Taktiken der Regulierung« (»governmentality«), die den Staat als zentrale formale Autorität gar nicht mehr voraussetzten, geformt. Das nachfolgend besprochene Konzept der Marktformatierung schließt zum Teil an diese Perspektive an. Doch dabei ist, in Abgrenzung zu Slater und Tonkiss, vorwegzunehmen: Der Staat, so wie er sich praktisch in Schuldendefinitionen, in Rekursen internationaler Regulierungsbehörden auf nationale Gesetzgebungen oder auch in den Beamtenverhältnissen vieler Schuldenmanager manifestiert, bleibt immer in Marktformatierungsarbeit involviert. »Governments«, so lässt sich verkürzt sagen, sind eben auch an »govermentality«-Praktiken beteiligt. Jens Beckert und Christoph Deutschmann zufolge ist die zentrale Annahme der neueren Wirtschaftssoziologie, dass wirtschaftliches Handeln im Allgemeinen und Märkte im Besonderen in »soziale
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Strukturen […] eingebettet« seien (Beckert/Deutschmann 2009: 8). Mit dieser Einbettungsthese habe sich die klare disziplinäre Aufgabenteilung zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie, die noch bis in die 1980er Jahre wirksam gewesen sei, aufgelöst: Die Wirtschaft könne nicht länger als gesellschaftliches »Subsystem« konzipiert werden, das vorrangig von den Wirtschaftswissenschaften untersucht werde, während der Soziologie nur die Analyse der »Rahmenbedingungen« bleibe (Beckert/Deutschmann 2009: 9). Vielmehr sei nun »[w]irtschaftliches Handeln als soziales Handeln und nicht länger nur als sozial ‚kontextualisiertes’ Handeln zu begreifen« (Beckert/Deutschmann 2009: 10; Herv. i.O.). Die Soziologie findet demnach inzwischen ihren Gegenstand im wirtschaftlichen Handeln selbst – und nicht etwa in einem vermeintlichen sozialen, kulturellen oder politischen Außen. Richard Rottenburg et al. (2000: 10) schärfen diese Perspektive weiter, indem sie die Metapher der »Einbettung« genauer prüfen – und im Unterschied zu Beckert und Deutschmann als theoretischen Begriff letztlich ablehnen. Denn die Einbettungsmetapher suggeriere immer noch eine Eigenständigkeit des Marktes, die nicht gegeben sei; der Markt erscheine als ein »natürliches Phänomen«, welches zu »zügeln« und in sein zivilisatorisches Bett zu verweisen sei (Rottenburg et al. 2000: 10; Carruthers/ Stinchcombe 1999: 379). Es bleibe immer noch bei der Vorstellung eines »ex ante gegebenen Objekts« mit eigenen inneren Kräften, dem äußere gesellschaftliche Gesetze und Sitten gegenüber stünden (Rottenburg et al. 2000: 24). Als alternativen Theorieansatz schlagen die Autoren das Konzept der »Formatierung« vor (Thévenot 1984). Märkte seien »die Konsequenz von Formatierungsarbeit«: ein »Prozess, bei dem rechtlich-politische Regelsetzung in einer irgendwie behutsamen und teils unbeobachteten Weise durch technische Standardisierung und Prozeduren ersetzt« werde (Rottenburg et al. 2000: 22). Auch das transnationale Schuldenmanagement beinhaltet eine solche Markt-Formatierungsarbeit.5 Dies wird nun anhand eines bestimm-
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Sie vollzieht sich in der Tat teils unbeobachtet, d.h. auf Expertenkonferenzen, in internen Diskussionen und informellen Zwiegesprächen oder in alltäglicher Softwareentwicklung – allerdings nicht immer »behutsam«, wie Rottenburg et al. postulieren. Die Expertengemeinschaft ist vielstimmig, und es gibt immer wieder Streitpunkte, die sich an kleinsten Klassifikationsfragen entzünden können (Grimpe 2010: 57ff., 87ff.).
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ten Teilbereichs des Managements nationaler Schulden ausgeführt, nämlich Statistiken. Die Erstellung und Publikation standardisierter Schuldenstatistiken unterschiedlichster Art gehören zum Tagesgeschäft sowohl staatlicher Schuldenmanagementbüros als auch internationaler Organisationen. Historisch gesehen bedeuten gerade Statistiken eine wichtige Form spezifisch staatlichen Wissens und letztlich auch staatlicher Herrschaft (Desrosierès 1998: 8, 13). Es soll nun erstens gezeigt werden, wie eng heutige transnationale Schuldenexperten Statistiken auf Finanzmarktprozesse beziehen. Zweitens wird auf einen bestimmten Modus von Formatierungsarbeit näher eingegangen, der in Anlehnung an Karin Knorr Cetina (2005: 40f.) »skopisch« genannt werden kann. Damit ist Folgendes gemeint: Wird Formatierungsarbeit mit Hilfe elektronischer Medien wie Managementsoftware und Internet umgesetzt und sind diese verschiedenen Medien untereinander verknüpft, so kann ein neuer globaler, elektronischer Beobachtungsraum für Verschuldung entstehen. Dieser neue elektronische Beobachtungsraum zeichnet sich, so die hier vertretene These, dadurch aus, dass er das Prinzip globaler Chancengleichheit inkorporiert, welche mit – umständlich verschickten – Papierberichten allein kaum zu etablieren wäre: Die verschiedensten Finanzmarktakteure, wo auch immer sie sich auf der Welt gerade befinden mögen, können nun gleichzeitig mit den gleichen Informationen versorgt werden; auf diese Weise lässt sich (der Intention nach) ein auf globaler Ebene perfektkompetitiver Markt formen. Dieser Sinnzusammenhang ist nun näher zu erläutern. In mehreren Handbüchern und Richtlinien diverser Makroakteure des Feldes findet sich das Argument, dass die Herstellung und Publikation standardisierter staatlicher Schuldenstatistiken die globalen Finanzmärkte in eine bessere Ordnung bringt. Jüngstes Beispiel ist das 2011 erschienene Handbuch zu Statistiken für öffentliche Schulden, welches von der Task Force on Finance Statistics verfasst wurde, die sich aus Vertretern von IWF, Weltbank und UNCTAD sowie der OECD, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, des Commonwealth Secretariat, der EZB, von Eurostat und des Paris Club zusammensetzt (TFFS 2012a). Ein etwas älteres Beispiel stellt ein Statistik-Handbuch für die externen Schulden eines Staates dar, welches im Jahr 2003 von denselben Akteuren (aber noch ohne die EZB) verfasst wurde (IMF 2003). Die in beiden Handbüchern auf über 200 bzw. fast 300 Seiten angeführten Schuldendefinitionen, -klassifikationen und -berichtsformate
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sind durch eine fast identische Textpassage im jeweiligen Vorwort sehr ähnlich diskursiv gerahmt. Mit Bezug auf die noch anhaltende Krise (TFFS 2012a: vii) bzw. frühere Krisenerfahrungen (»die Finanzkrisen der 1990er«, s.u.) wird auf die Notwendigkeit »umfassender«, »verlässlicher« sowie international »vergleichbarer« Statistiken hingewiesen – und dass solche standardisierten Statistiken neben politischen Entscheidungsträgern und anderen Nutzern auch den »Finanzmärkten« dienen würden. Es könnten »weitreichende ökonomische Kosten« entstehen, über die Grenzen eines Staates hinaus, sofern externe Schulden nicht »gemessen« und »überwacht« werden. Nachfolgend ist das entsprechende Zitat aus dem älteren Handbuch zu externen Schulden wiedergegeben: »The need for comprehensive, comparable, and reliable information on external debt to inform policymakers, financial markets, and other users of statistics has long been recognized. This was once again reinforced by the international financial crises in the 1990s […] [E]xternal debt liabilities have the potential to create circumstances that render an economy vulnerable to solvency and liquidity problems. Moreover, as experience has shown, external vulnerability can have widespread economic costs, and not just for the initially affected economy. It is clear, therefore, that external debt needs to be measured and monitored« (IMF 2003: xi).
Dieser über mehrere Jahre sehr ähnliche schriftliche Diskurs war auch alltagspraktisch relevant, was den Zeitraum der Feldforschung angeht – in diesem Fall speziell in der Phase der teilnehmenden Beobachtung in Genf (2004 bis 2005) sowie in Buenos Aires während einer internationalen Konferenz (2006). Beim DMFAS-Programm in Genf war von 2004 bis 2005 wiederholt zu beobachten, dass die Experten, wollten sie ihre Präferenz für ein bestimmtes Statistikformat begründen (in internen Diskussionen, im Designprozess für neue Softwarefunktionen oder gegenüber ihren weltweiten Benutzern der Software), auf letztgenanntes Handbuch referierten. Auf der internationalen Konferenz in Buenos Aires hielt ein IWF-Vertreter vor Repräsentanten lateinamerikanischer Länder eine Rede, die ebenfalls einen buchstäblich globalen Bogen zwischen staatlichen Schuldenstatistiken einerseits und Finanzmarktprozessen andererseits spannt. Genauer gesagt, wie das Zitat zeigt, formuliert er eine neue Rolle, eine neue Aufgabenstellung für die »Bürokraten« (Übersetzung aus dem Spanischen):
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Es gibt viele Länder, die Information sammeln, produzieren, aber nicht notwendigerweise bekannt machen […]. [Die Statistiken] werden nicht notwendigerweise mit der Welt, d.h., mit dem Nutzer geteilt. Und – was das angeht, der Internationale Währungsfonds und der aktuelle internationale Trend – in Anführungsstrichen sagen wir mal, verurteilt diese Art von Praxis, ja? […] Und wenn wir als Bürokraten statistische Informationen sammeln, erfüllen wir eine ausgesprochen wichtige Rolle, in dem Maße in dem diese den Bedürfnissen der Nutzer genügen müssen, ja?
Der IWF-Experte versucht seinen Zuhörern das Konzept einer WeltÖffentlichkeit nahe zu bringen. Dieser Weltöffentlichkeit seien die »Bürokraten«, wie er wörtlich sagt, in ihrer Berichterstattung verpflichtet. Die Weltöffentlichkeit bzw. Nutzer staatlicher Statistiken bestimmt er im Weiteren genauer. Gegenüber denjenigen, »die in unseren Ländern Entscheidungen im Bereich der politischen Ökonomie treffen«, hebt er diejenigen, die »dem Privatsektor angehören«, die »Teilnehmer des Marktes«, hervor: Für diese sind die statistischen Informationen manchmal sogar noch wichtiger […] Entscheidungen von allen möglichen Arten von privaten Unternehmen, nationalen wie ausländischen Körperschaften, Entscheidungen, in Argentinien zu investieren, oder auch in Peru, können statistischen Informationen unterworfen sein, welche es dem Investor ermöglichen, zu sehen, dass die eine oder die andere Ökonomie ihm in Zukunft eine größere Rentabilität gibt.
Viele Staaten scheinen sich in diese neue »Bürokraten«-Rolle und den Informationsdienst zugunsten einer u.a. aus Investoren bestehenden Weltöffentlichkeit tatsächlich einzufinden. Beispielsweise führte das »Dissemination Standards Bulletin Board«, eine Internetplattform des IWF, im Jahr 2008 insgesamt 64 Länder auf, die ihre Schulden dort gemäß des »Special Data Dissemination Standard« (SDDS) darstellen (IMF 2008). Im selben Jahr betrug die Zahl der Staaten, die gemäß Weltbank-Standards auf der Plattform »Global Development Finance« Bericht erstatteten, 134 (World Bank 2008b). Dabei sind die Staaten aufgefordert, ihre Berichte quartals- oder jahresweise zu aktualisieren, je nach Schuldenart (IMF 2007: 11f.; World Bank 2000: 6). Insgesamt erlauben diese Übersichten potentiellen Investoren einen weit reichenden, relativ schnellen Vergleich eigentlich extrem komplexer nationaler Verschuldungssituationen. Im Sinne von Bettina
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Heintz kann sich dank solch weitreichender (quantitativer) Vergleichsmöglichkeiten erst ein bestimmter Typus von Gesellschaft herausbilden: die Weltgesellschaft (Heintz 2010: 166, 175). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Statistiken nicht nur in Papierform, sondern auch elektronisch und speziell online publiziert werden. Die o.g. Task Force on Finance Statistics verweist selbst auf »Online-Datenbanken« wie die eben erwähnten IWF- und Weltbank-Platt-formen, welche »vergleichbare« nationale Schuldenstatistiken »zusammenbringen« und so »makroökonomische Analyse und länderübergreifenden Datenvergleich« erlauben würden (TFFS 2012b, eigene Übersetzung). Auf diese Weise wird, so die hier aufgestellte These, eine globale Gleichzeitigkeit von Schuldenbeobachtungen ermöglicht: Auf wenigen Zentimetern Bildschirmoberfläche können ganze Nationalökonomien überschaut und buchstäblich augenblicklich miteinander verglichen werden; und bei einer Aktualisierung der Daten lässt sich der neue Informationsstand wiederum allen Nutzern weltweit gleichzeitig zuspielen. Dass mindestens der IWF eine solche globale Chancengleichheit intendiert, lässt sich der Rede des bereits zitierten IWF-Experten entnehmen: Es ist so wichtig, dass die Nutzer statistischer Information, dass sie diese alle gleichzeitig erhalten – so dass wir alle unter den gleichen Bedingungen Entscheidungen treffen können, sei es […] individuell oder unternehmerisch, oder auf der Regierungsebene, oder von internationalen Organisationen. Und es genügt nicht, Informationen über Daten zu verbreiten. [D]as Wichtige ist, es periodisch, es häufig zu tun […] Das Element der Häufigkeit ist in unserem Geschäft zentral.
Das Zitat verweist im Grunde auf die neoklassische Markttheorie. So bezieht sich der Experte auf die Vorstellung, dass in einem perfekten Markt alle Marktteilnehmer über die gleichen Informationen verfügen. Genauer gesagt, er nimmt eine Prozessperspektive auf Märkte ein und weist den Anwesenden die Aufgabe zu, einen gleichen Informationsstand herzustellen und dann immer wieder neu (»häufig«) zu gewährleisten, damit alle unter den gleichen Bedingungen Entscheidungen treffen könnten.6 Zusätzlich verweist er, wie das nächste Zitat zeigt,
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Slater und Tonkiss (2001: 52f.) zum »österreichischen Ansatz« in den Wirtschaftswissenschaften.
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auf das Problem, dass Daten oftmals mit Hilfe sogenannter »Metadaten« nochmals erklärt werden müssen (»dokumentiert«), gerade weil es die »perfekte Welt« eben doch nicht gebe: Es reicht nicht, gewisse Statistiken zu veröffentlichen, oder schöne Tabellen anzufertigen, wenn man nicht auch die Konzepte dokumentiert, die man in diesen Statistiken anlegt. In der Theorie wäre das nicht nötig, wenn die Welt perfekt wäre, und jedes Land und jeder Sachbearbeiter auf der Welt strikt den internationalen Standards und Handbüchern folgen würde […] Außerdem lassen die Schuldenhandbücher […] dem Sachbearbeiter gewisse Freiheit und einen Entscheidungsraum, denn es ist ja klar, alle Ökonomien sind verschieden, nicht wahr?
Die DMFAS-Software fungiert als wichtige Schnittstelle zu solch einer möglichst immer wieder auf den neuesten Informationsstand gebrachten globalen Vergleichsordnung von Nationalökonomien in einer so weit wie möglich standardisierten »perfekten Welt«. Die ITEntwickler sorgen dafür, dass die Länder ihre Schuldenberichte möglichst problemlos gemäß Weltbank- und IWF-Vorgaben erstellen können. Dies ist Formatierungsarbeit in dem Sinn, dass formale Standards in technische Managementfunktionen übersetzt werden. Da die Software von über 60 Ländern benutzt wird, nimmt diese technische Formatierungsarbeit globale Dimensionen an. Im Jahre 2005 bezeichnete einer der IT-Experten die eigene Arbeit als Teil der Bemühungen um Transparenz, als etwas, das »der Rest der Welt« nachfragen würde. Konkret werden in die Software »Systemverbindungen« oder »Interfaces« zu verschiedenen »globalen Systemen« – darunter Weltbankund IWF-Systeme – eingebaut, wie er sich ausdrückte (Übersetzung aus dem Englischen).7
7
Noch konkreter beinhaltet die Formatierungsarbeit des DMFAS-Programms bspw. Folgendes: Die Weltbank fordert von ihren Mitgliedsländern Informationen in bestimmten Standardformaten, wörtlich u.a. »form 1« und »form 2«. »Form 1« sieht z.B. 21 Daten je aufgenommenem Kredit vor, darunter etwa die Angabe des »Schuldnertyps«; dafür muss eine Auswahl unter sieben vorgegebenen Kategorien getroffen werden, bspw. »Zentralbank« und »offizielle Entwicklungsbank« (World Bank 2000: 7ff., eigene Übersetzung). Die Richtlinien umfassen insgesamt 38 Seiten Text. In Reaktion auf diese umfangreichen und gleichzeitig je Datum eng defi-
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Auch im Fall des von Knorr Cetina (2005: 40f.) untersuchten Interbanken-Devisenhandels gibt es das Moment der globalen Chancengleichheit dank standardisierter elektronischer Medien. Die Perspektive ist hier auf die Nutzerseite verschoben: Die Traders, die für verschiedene Banken an verschiedenen Orten weltweit tätig sind, arbeiten alle mit den gleichen Informations- und Kommunikationstechnologien. An deren Bildschirmen verfolgen sie alle grundsätzlich gleichzeitig dieselbe Marktrealität, auf die sie jeweils grundsätzlich gleichzeitig reagieren können. Ihre Reaktionen (Kaufs- und Verkaufsentscheidungen) werden von eben diesen Technologien auch aufgenommen, mit allen Eingaben der übrigen Traders aggregiert und als neue (Bildschirm-)Marktrealität wieder – chancengleich – an jeden einzelnen Arbeitsplatz zurückgespielt. Durch die elektronischen Medien werden die Handlungen der Traders also indirekt aufeinander bezogen, weshalb Knorr Cetina von »skopischer« Koordination spricht: Dies ist eine auf räumlich verteilter und doch gleichzeitiger Bildschirmbeobachtung beruhende Form sozialer Koordination. Im vorliegenden Untersuchungsfeld lässt sich ein solcher Koordinationszusammenhang (noch) nicht empirisch nachweisen, u.a. weil dazu auch die Nutzerseite – in diesem Fall etwa Bankexperten, die mittelfristige Investitionsentscheidungen treffen – genauer untersucht werden müsste. Es kann aber festgehalten werden: Die von den transnationalen Schuldenexperten geförderte, buchstäblich bildschirmfixierte Informationspraxis der Staaten stellt eine ganz eigene, indirekte Form der Normierung dar, die sich durch verschiedene elektronische Medien weltweit »windet« und von Regulierung im Sinn expliziter Gesetzgebung und Sanktionen sehr verschieden ist.
nierten Ansprüche hat das DMFAS-Programm eine »automatische Brücke« entwickelt. Dies ist ein von den DMFAS-Experten selbst verwendeter Sammelbegriff für eine Reihe von Softwarefunktionen, mit denen nationale Schuldenmanager die Weltbank-»Formulare« relativ schnell an ihren lokalen (Bildschirm-)Arbeitsplätzen ausfüllen und nach Washington schicken können. Ähnliche Formatierungsarbeit leistet das DMFAS-Programm in Bezug auf IWF-Standards.
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3. Rastlose Zukunftsprojektionen Staatliches Schuldenmanagement spielt Marktteilnehmern nicht nur weltweit Daten zu. Umgekehrt nimmt es aktuelle Marktdaten auch ständig auf und versucht, »Was-wäre-wenn«-Fragen in Bezug auf die zukünftige Verschuldung zu beantworten – bspw., wie potentielle Wechselkurs- und Zinsschwankungen das Profil der zukünftigen Zahlungen verändern würden (Borresen/Cosio-Pascal 2002: 11f., eigene Übersetzung). Währungskurse etwa werden mindestens zu den zuvor besprochenen quartalsweisen oder jährlichen Berichtsterminen, die von IWF und Weltbank gesetzt werden, eingespielt. Die UN-Experten empfehlen darüber hinaus die tägliche Aktualisierung dieser Kurse (DMFAS 2004, Kap. 6: 15f., 19). Die jüngste DMFAS-Softwareversion 6.0 bietet dafür eine neue technische Funktion für Downloads von den Websites von Reuters und Bloomberg (DMFAS 2011b: 6). Das Interessante ist nun, dass Staaten im Schuldenmanagement nicht in dieser relativen Passivität, also der bloßen Übernahme von Wechselkursen und Zinsraten, die durch die Handelsgeschäfte anderer Akteure etabliert werden, verhaftet bleiben. Vielmehr fließen solche Marktdaten in eine rege Planungstätigkeit über die zukünftige Entwicklung der staatlichen Finanzen ein. Die eigenen Untersuchungsergebnisse legen nahe: Staaten mit verhältnismäßig finanzstarken, komplexen, global ausgedehnten und dynamischen Schuldenportfolios sind in prinzipiell rastloser Weise damit beschäftigt, angesichts immer wieder neuer Marktdaten auch immer wieder neue Erwartungen über ihre finanzielle Zukunft zu bilden. Solche rege Erwartungsbildung bzw. Zukunftsprojektionstätigkeit kann in Anlehnung an verschiedene Autoren als spezifisch ökonomisches Handeln und noch enger Markthandeln bezeichnet werden (Keynes 1936: 50; Tellmann 2007: 241). Langenohl geht noch weiter: Für ihn ist die Erwartungsbildung das für Finanzmärkte typische Handeln (Langenohl 2010: 243, 248, 251). Nachfolgend wird ein besonders eindringlicher Fall rastloser staatlicher Projektionsarbeit rekonstruiert. Er betrifft das Management von Krediten des Asiatischen Entwicklungsfonds (ADF). Viele asiatische Staaten wie z.B. Indonesien, Philippinen oder Vietnam erhalten Kredite vom ADF. Im Falle Indonesiens etwa hatten ADF-Kredite im Jahr 2004 einen Anteil von über 25 Prozent an den multilateralen Schulden und über 10 Prozent am Gesamtschuldenstand (Bank Indonesia 2004: 8). Bis Ende 2005, als der ADF seine Kreditvergabe reformierte (ADB 2011: 377), waren diese Länder während der Laufzeit der be-
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treffenden Kredite mit einer relativ großen Unsicherheit konfrontiert: Der ADF behielt sich gegenüber seinen Schuldnern vor, situativ immer wieder neu zu bestimmen, ob der Staat diese oder jene Ausschüttung in dieser oder jener Währung erhält, und dann später, in der Phase der Rückzahlung, ob die Schuld in dieser oder jener Währung zu begleichen ist (»Währungspriorisierungsarbeitsprinzip«; ADB 2005: 3, eigene Übersetzung). Die Motivation im Hintergrund war, dass er so selbst am besten von den Kursschwankungen am Währungsmarkt profitieren konnte. Er hielt Währungen mit relativ schlechtem Wechselkurs möglichst kurz und solche mit relativ gutem Kurs eher lang im eigenen Portfolio. Über die Laufzeit eines Kredits betrachtet heißt das: Ungünstig stehende Währungen schüttete er möglichst früh aus, und Rückzahlungen in ungünstigen Währungen wurden möglichst spät zurückgefordert. Für gut stehende Währungen wurde entsprechend umgekehrt verfahren. Für den Gläubiger erlaubte diese Praxis die Maximierung des eigenen Investitionseinkommens (ADB 2005: 3). Für den Schuldner (den Staat) entstanden entsprechend finanzielle Nachteile, und zusätzlich eine außerordentliche Unsicherheit, was die gesamte zukünftige Struktur des Kredits anging: Wann würden welche Beträge in welcher Währung ausgeschüttet oder zurückgefordert werden (ADB 2005: 5)? Was die übergeordnete Fragestellung, also das Verhältnis von Staat und Markt angeht, so suggeriert dieser Fall bis zu diesem Punkt: Die betreffenden Staaten waren dem Markthandeln des Gläubigers ohne eigenen Entscheidungsspielraum passiv ausgesetzt. Man könnte sogar meinen, sie waren auf diese Weise »ohnmächtige Opfer« der Finanzmärkte (Mackert 2006: 11). Ein Blick in die Praxis – in diesem Fall die IT-Entwicklungspraxis für die DMFAS-Software, welche die betreffenden Länder benutzen – zeigt, dass das in dieser Schärfe nicht stimmt. Die Software versetzte die Staaten in die Lage, die relativ große, lang anhaltende Unsicherheit in eine überschaubare Menge mehr oder weniger wahrscheinlicher Zukünfte zu transformieren. Auch wenn dies das Grundproblem, die Entscheidungshoheit des Gläubigers über die benutzten Währungen, nicht behob, so konnten die Staaten doch in neuer Weise handeln: Sie konnten methodisch kontrolliert Zukunftsprojektionen erstellen, die eine gewisse Plausibilität in einem nun klarer umgrenzten Möglichkeitsraum hatten. Dieser neu gewonnene Handlungsspielraum ist näher zu erläutern. Die Entwickler der DMFAS-Software programmierten in ihr System
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eine neue Kalkulationsmethode ein, mit der die situativen Währungsentscheidungen des ADF buchstäblich in Rechnung gestellt werden konnten (DMFAS 2004, Kap. 13: 3ff., 9). Immer dann, wenn der ADF sich an einem bestimmten Ausschüttungs- oder Rückzahlungstermin für eine bestimmte Währung entschied, konnte mit der Software die verbleibende Kreditstruktur rekalkuliert werden. Dabei stellte die Software dem Schuldenmanager nicht bloß eine, sondern verschiedene mögliche Kreditstrukturen vor Augen: Eine Variante mit lauter Restbeträgen in dieser Währung, genauso aber auch alternative Kreditstrukturen mit Restbeträgen in anderen Währungen. Denn bei der nächsten Gelegenheit, d.h. beim nächsten anstehenden Ausschüttungsoder Rückzahlungstermin, konnte sich der ADF ja wiederum für eine andere Währung entscheiden – genauso aber auch wieder für dieselbe Währung. Bei den darauffolgenden Ausschüttungs- oder Rückzahlungsterminen galt das Gleiche: Zwar konnte der Schuldner jedes Mal im Voraus nicht sicher wissen, für welche Währung sich der ADF effektiv entscheiden würde; und doch war nun das Spektrum an Möglichkeiten nicht mehr unendlich. Wie sieht dieser spezifizierte Möglichkeitsraum konkret aus? Das hängt von der Komplexität des jeweiligen Kredits ab. Als relativ einfaches Beispiel kann hier ein Kredit mit einer Rückzahlungsperiode von nur viereinhalb Jahren, bei dem nur drei Ausschüttungen in bloß drei Währungen erfolgen, und bei dem nur zehn halbjährliche Rückzahlungstermine gesetzt sind, herangezogen werden (DMFAS 2004, Kap. 13: 13ff.). Von Vertragsschluss an und über die verschiedenen Ausschüttungs- und Rückzahlungstermine hinweg operiert ein Schuldenmanager, wenn er die entsprechende Kalkulationsmethode in der Software voll ausnutzt, mit bis zu 31 Zukunftsprojektionen. Jede Projektion ist eine Aktualisierung der jeweils vorausgegangenen (bis auf die allererste). Der ADF gab das »Währungspriorisierungsarbeitsprinzip« ab Dezember 2005 auf (ADB 2011: 377). Die Staaten konnten ihre existierenden Verpflichtungen ab diesem Zeitpunkt in eine einzige Rechnungswährung, das sogenannte »Special Drawing Right«, konvertieren (ADB 2011: 377). Dies dürfte das Schuldenmanagement der Länder vereinfacht haben; ob die gesamte eben dargestellte rastlose Projektionsarbeit dadurch obsolet geworden ist, wäre erst noch empirisch zu ermitteln.
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Es bleibt historisch festzuhalten, dass staatliches Schuldenmanagement hier ein theoretisch interessantes Doppelgesicht zeigte. Zwar musste der betreffende Staat die Währungsentscheidungen seines Gläubigers hinnehmen. Er war so, was Wertänderungen am Währungsmarkt anging, systematisch benachteiligt. Aber mit diesen von außen aufgenötigten, nachteiligen Marktentwicklungen konnte er immerhin bestimmte Zukunftserwartungen entwickeln und diese methodisch kontrolliert immer wieder revidieren, sobald er mit einer neuen Datenlage konfrontiert war. Letzteres erinnert an Keynes Metapher der »ökonomischen Maschine« (Keynes 1936: 50). Sie steht für den Umstand, dass Produzenten, Investoren und Spekulanten ständig neue Erwartungen bilden, die ihrerseits auf vorausgegangenen, nie vollständig realisierten Erwartungen aufbauen: »[T]he state of expectation is liable to constant change, a new expectation being superimposed long before the previous change has fully worked itself out; so that the economic machine is occupied at any given time with a number of overlapping activities, the existence of which is due to various past states of expectation« (Keynes 1936: 50).
4. Trading Im Unterschied zu allen anderen Märkten zeichnet sich der heutige Handel an Devisenmärkten laut Karin Knorr Cetina und Urs Bruegger (2002: 912) dadurch aus, dass er weder der Produktion noch der Distribution von Gütern dient, und dass das, was gehandelt wird, auch nicht zum Konsum bestimmt ist. In Anlehnung an Donald MacKenzie (2011) lässt sich ergänzen, dass Handel als Finanzmarkthandel auf das Ausschöpfen kleinster momentaner Preisunterschiede abzielt: Ein Händler stellt »kontinuierlich« einen Preis, z.B. für Unternehmensaktien, bei dem er bereit ist zu verkaufen, und einen niedrigeren Preis, zu dem er bereit ist, zu kaufen – »in der Hoffnung, diese Differenz zwischen beiden Preisen, den ›Spread‹, zu gewinnen« (MacKenzie 2011, eigene Übersetzung). Zu dieser situativen Gewinnorientierung gehört notwendigerweise eine kontinuierliche Revision der einmal gesetzten Preise im Verhältnis zu den permanenten Marktbewegungen (MacKenzie 2011). Dabei können Informationstechnologien, welche inzwischen nahezu in »real time« Daten übermitteln, die von weltweit verteilten Händlern gestellten Preise immer schneller aufeinander beziehen – sodass alle Beteiligten in der Folge darum bemüht sind, immer
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kürzere Preisdifferenzen auszunutzen (»microseconds«, MacKenzie 2011; Knorr Cetina/Bruegger 2002: 906, 909). Insgesamt ist Handel im engeren Sinne von Finanzmarkthandel heute ein stark auf sich selbst bezogenes soziales System, in dem alle Beteiligten versuchen, bei ständiger Marktbeobachtung aus sehr kurzfristigen Marktbewegungen heraus situativ Gewinn zu erzielen. Für diese Form des Markthandelns ist alltagssprachlich der Begriff »Trading« – also Handel schlechthin – geläufig; alternativ wird von »Spekulation« gesprochen (Knorr Cetina/Bruegger 2002: 913). Gibt es Trading auch beim Staat, sind nationale Schuldenmanager auch Traders? Eine erste einfache Antwort lautet: Für einige Länder trifft das offenbar zu, für andere gerade nicht. Dies geht aus den Interviews mit zwei Schweizer Schuldenmanagern und mit einem Weltbank-Experten hervor. Und aus beiden Interviews heraus lässt sich der Begriff des Trading weiter präzisieren. Das Interview mit den Schweizer Experten vermittelt folgenden Eindruck: »Trading« heißt, kurzfristig einen dem Risiko angepassten Ertrag zu generieren, und in einem entsprechenden institutionellen Rahmen, etwa einem Profitcenter, an diesem Ertrag gemessen zu werden. Es setzt ein größeres, in sich komplexes (diversifiziertes) und auch auf ausländische Kapitalmärkte ausgerichtetes Schuldenportfolio voraus, mit sozusagen stark an Marktbewegungen angeschmiegten Finanzinstrumenten, d.h. etwa mit Wertpapieren, die inflationsindexiert sind oder eine variable Zinsrate haben. Für einige Länder trifft diese Situation zu, jedoch nicht für die Schweiz. »Trading« ist für das Schweizer Schuldenmanagement entsprechend eine vollkommen unzutreffende Selbstbeschreibung. Aus dem Interview mit dem Weltbank-Experten entsteht ein anderer Eindruck. Denn im Unterschied zu den Schweizer Schuldenmanagern zögerte dieser nicht, im Fall einiger Länder von »Trading« zu sprechen: 8 WB-Experte [T]here are debt offices (that) trade. And ehm – BG
Yeah you mentioned this today, tactical trading.
WB-Experte Yaya, tactical trading. They buy and sell. Buy and sell, they – ehm – and eh – I mean, quite literally what they are normally buying and selling are derivatives […].
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Verwendete Transkriptionszeichen: (that) = unsichere Transkription.
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Der Experte spricht vom Derivatehandel und erwähnt im Weiteren insbesondere Swap-Geschäfte; zudem würden einige Staaten Rückkäufe eigener Schuldtitel tätigen (Hain 2004: 70ff.).9 In solchen Fällen müssten die Staaten in der Lage sein, »kontinuierlich ihre Wertpapiere einzupreisen« (»they need to be able to price their securities continuously«). Er ergänzt: [T]he middle office eh job when there is a trading function is to monitor and control (the) risk exposures (of) the trading portfolio. And that requires […] monitoring […] in almost real-time. So the systems – they really should be able to track – as should the front office portfoliomanagers should be able to track (their/the) debt issues almost real-time.
Das Zitat verweist nicht nur auf eine »real time«-Orientierung, die nötig sei, sobald ein Staat handle.10 Der Experte benutzt interessanterweise außerdem den Ausdruck »Portfoliomanager«, nicht einfach »Schuldenmanager«. Auch im Schweizer Schuldenbüro gilt explizit die Berufsbezeichnung »Portfoliomanager« (Bundestresorerie 2011). Damit wird ein Bedeutungszusammenhang mit privater Finanzbewirt-
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Laut einer Publikation des IWF von 2007 haben Rückkäufe und SwapGeschäfte in Bezug auf externe Schulden bei Schwellenländern – untersucht wurden 13 Länder – von 2003 bis 2006 stark zugenommen, von unter ein Prozent auf 5,3 Prozent der gesamten externen Schulden (Medeiros et al. 2007: 3f.).
10 Die eben genannte IWF-Publikation macht in dieser Hinsicht eine weitergehende Unterscheidung auf: Markt-Timing (»timing the market«) sei notwendig, sofern nationale Schuldenmanager für Anleihen-Rückkäufe einen »opportunistischen Ansatz« wählten (Medeiros et al. 2007: 42f., eigene Übersetzung). Dabei würden die staatlichen Schuldenmanager »temporäre Schwächen der Marktpreise« ausnutzen, was auf ihrer Seite zu höheren Einsparungen führen könne; dies erfordere aber »fundiertes Marktwissen« und berge auch die Gefahr von Erwartungsunsicherheit auf Seiten der Investoren, insofern die Gefahr von Marktinstabilität. Beim »regelbasierten Ansatz« hingegen würden Umfang und Zeitpunkt der Rückkäufe im Voraus aufgrund fester Regeln bestimmt, was auf Investorenseite grundsätzlich zu Erwartungssicherheit führe.
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schaftung etabliert.11 Zudem verwendet der Weltbank-Vertreter die Ausdrücke »middle office« und »front office«. Zusammen mit »back office« dienen diese Begriffe für eine im nationalen Schuldenmanagement übliche Unterscheidung wesentlicher Managementfunktionen (Wheeler 2004: 69f.). Dabei steht »front office« buchstäblich für Arbeiten an der Marktfront, u.a. folgende: »Front-office activities include […] designing and executing trading and hedging transactions […] Because front-office portfoliomanagers work closely with the market, they are able to offer a wide range of portfolio management services, including design of funding, hedging, investment, and buyback strategies […] and exploration of market opportunities to help move the actual debt portfolio closer to the strategic benchmarks« (Wheeler 2004: 69f., Herv. B.G.).
Trading- und Hedging-Transaktionen designen und durchführen sowie »Marktgelegenheiten« ausnutzen, um das Schuldenportfolio näher an strategisch gesetzte »benchmarks« zu bringen – dies sind staatliche Handlungen, die ganz eng auf situative bzw. kurzfristige Marktprozesse bezogen sind. Doch gerade diese explizite Annäherung an und Ausnutzung von Marktdynamiken auf Seiten des Staates wird unter Schuldenexperten anscheinend kontrovers diskutiert, wie sich bereits mit der o.g. Schweizer Perspektive andeutete. Teil dieser Kontroverse sind offenbar Normen wie fiskalische Verantwortung und der nicht »opportunistische«, durch keine kurzfristigen Interessen gestörte Dienst am Allgemeinwohl (Currie et al. 2003: 17, eigene Übersetzung). Dies veranschaulicht die nachfolgend skizzierte Debatte über separate Schuldenmanagementbüros. Über die genannten beiden Normen wird, wie man hier sehen kann, die Finanzmarktpraxis des Trading gewissermaßen staatlich aufgeladen.
11 Currie et al. (2003: 15) weisen darauf hin, dass in den 1990er Jahren bei vielen Ländern im Bereich des nationalen Schuldenmanagements ein Sinneswandel (»shift of thinking«) eingesetzt habe bzw. dass das Schuldenmanagement »in wichtigen Hinsichten redefiniert« worden sei; zu Beginn habe dieser Wandel in der Imitation privatwirtschaftlichen Portfoliomanagements bestanden (»mimic portfoliomanagement practices in the private sector«).
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Separate Schuldenmanagementbüros (»seperate debt management offices« bzw. SDMOs) sind Institutionen, die ganz oder teilweise unabhängig vom Finanzministerium operieren und einen gewissen Spielraum für »aktives« bzw. »taktisches Trading« eröffnen (Currie et al. 2003: 9, 15ff.). Frühe Beispiele sind Neuseeland, Irland, Dänemark und Schweden, die im Verlauf der 1990er Jahre SDMOs einrichteten. An die Stelle einer nur »passiven« Ausgabe und Bedienung der staatlichen Schuldtitel sollte »systematisches Risikomanagement« treten; das Schuldenmanagement würde besser laufen, da es an Prinzipien des »Privatsektors« und des »Marktes« ausgerichtet würde; die SDMOs wären die richtige Umgebung für »schnelle Entscheidungsfindung« (Currie et al. 2003: 9, 15ff.) bzw. genauer, um »schnell auf aktuelle Entwicklungen an den Finanzmärkten zu reagieren« (Hain 2004: 236). Dabei wurde die Einrichtung eines SDMO offenbar häufig mit der Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler begründet: Die Erreichung der »fiskalischen Ziele« sollte so nicht mehr »gefährdet« sein (Currie et al. 2003: 9, 15ff.). Neuseeland bspw. habe 1994 ein Fiscal Responsability Act verabschiedet, welches die Regierung dafür »verantwortlich und haftbar« machte, das Verhältnis von Schulden zum Bruttosozialprodukt auf ein »umsichtiges« Niveau zu reduzieren (Currie et al. 2003: 9, 15ff.). Umgekehrt wurde aber anscheinend eben diese Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler auch angeführt, um den Spielraum für taktisches Trading wiederum einzugrenzen. So wird über das neuseeländische Schuldenmanagement auch berichtet, dass es grundsätzlich »risikoavers« operiere (Currie et al. 2003: 25). Diese Risikoaversion basiere ihrerseits auf der »Risikoaversion des durchschnittlichen Steuerzahlers« und dessen »Unvermögen, [selbst] Kosten zu vermeiden, die ihm durch Verluste im Portfolio der Regierung auferlegt« würden (Currie et al. 2003: 25). Wie das Konzept der fiskalischen Verantwortung changiert auch das Konzept des nicht-opportunistischen Dienstes am Allgemeinwohl. Es findet sich ebenfalls in der Argumentation für SDMOs, aber auch in der Argumentation gegen zu viel Handlungsspielraum, d.h. gegen deren komplette Autonomisierung. Zum einen könnten SDMOs die Gefahr verringern, dass Politiker auf das Schuldenmanagement »politischen Druck« ausüben und es kurzfristig »opportunistisch« nutzen, um die Schulden zu senken (Currie et al. 2003: 17; Hain 2004: 235). Zum anderen wird der Regierung aber die Rolle des »Prinzipals« zugeschrieben, der die Schuldenmanager in den SDMOs ständig zu
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kontrollieren habe. Graeme Wheeler spitzt dies auf die Frage zu, inwieweit unter staatlichen Schuldenmanagern »personal views« erlaubt seien, also eigene Marktsichten, mit denen sich die Märkte (im besten Fall) schlagen ließen (Wheeler 2004: 94). Es müssten »performance benchmarks« als Grenzen für taktisches bzw. aktives Trading gesetzt werden, damit die Manager »für ihre Handlungen haftbar bleiben« (Currie et al. 2003: 9, 36). Je weiter die Schuldenmanagementeinheit vom »Prinzipal« entfernt sei, desto »formaler« müssten die Handlungen des »Agenten« überwacht und kontrolliert werden; es solle »klar definierte Portfolio-Richtlinien« geben, und nur ein kleiner Teil des gesamten Portfoliomanagements einer Regierung dürfte in Trading bestehen (Currie et al. 2003: 3; Wheeler 2004: 96, eigene Übersetzung). 5. Schluss Es wurden verschiedene Marktverhältnisse von Staaten untersucht. Ausgehend von einer Diskussion der wirtschaftssoziologischen Einbettungsthese zeigte Abschnitt zwei am Beispiel staatlicher Schuldenstatistiken auf, inwiefern transnationale Schuldenexperten sich darum bemühen, mit Hilfe verschiedener, untereinander verknüpfter elektronischer Medien einen globalen Beobachtungsraum für Verschuldung aufzubauen, der es ermöglicht, dass Finanzmarktteilnehmer weltweit gleichzeitig mit den gleichen (standardisierten) Informationen versorgt werden. Es wurde die These entwickelt, dass damit gemäß des Ideals perfekt-kompetitiver Märkte eine globale Chancengleichheit für Investoren geschaffen werden soll. Diese transnationale bzw. staatliche Informationspraxis ist eine indirekte Form der Regulierung von Märkten, die sich von expliziten Gesetzen und Sanktionen deutlich unterscheidet. In Abschnitt drei wurde untersucht, welche elaborierten Zukunftsprojektionen Schuldenmanager in Abhängigkeit von den Schwankungen am Währungsmarkt erstellen können. Der letzte Abschnitt ging auf staatliches Trading ein und gab Einblick in den kontroversen Diskurs, der sich um diese für manche Länder offenbar relevante, für andere Länder nahezu irrelevante Form staatlichen Markthandelns aufspannt. Insgesamt lässt sich nun eine von Langenohl und Schmidt-Beck (2007) eingeführte Differenzierung, was die Marktverhältnisse unterschiedlicher Marktakteure angeht, auf den Fall staatlichen Handelns übertragen und weiter ausbauen. Die beiden Autoren kritisieren an der
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Theorie postsozialer Objektbeziehungen nach Knorr Cetina (1997) bzw. Knorr Cetina und Bruegger (2002), dass diese auf einer zu einseitigen empirischen Datenlage beruhe. Es seien nur bestimmte Finanzmarktakteure – Traders im Interbanken-Devisenhandel – untersucht worden, deren Marktnähe durchaus als postsoziale Objektbindung gedeutet werden könne (Langenohl/Schmidt-Beck 2007: 10f.). Studiere man aber die tägliche Arbeit anderer Finanzmarktteilnehmer, etwa Analysten, so offenbare sich ein ganz anderes Verhältnis: Der Markt sei hier kein »lebendes Etwas mit eigenen Launen und Rhythmen«, wie bei den Traders, sondern eine »langfristige, gesetzartige rationale Ordnung, die auf fundamentalen ökonomischen Daten beruht« (Langenohl/Schmidt-Beck 2007: 11, eigene Übersetzung). Es sei außerdem ein anderer Umgang mit Technologien zu beobachten. Ein Trader sei von seinem System sehr abhängig: Stürze dieses ab, ginge ihm nicht einfach Information, sondern der »Partner« (der Markt) verloren. Beim Analysten hingegen herrsche ein »instrumenteller« Umgang mit den Technologien vor: Diese seien nur eine »Werkzeugkiste«, aus der dieser sich bediene, um eine eigene »reflexive und distanzierte Haltung zum Markt einzunehmen« (Langenohl/Schmidt-Beck 2007: 11; eigene Übersetzung). Diese Idee unterschiedlicher Marktdistanzen kann vom privatwirtschaftlichen Bankensektor, auf den sich die beiden Autoren konzentrieren (Langenohl/Schmidt-Beck 2007: 8), auf Staat und Bürokratie ausgedehnt werden. Es zeigt sich: Staatliche Schuldenmanager nehmen in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen in zeitlicher Hinsicht unterschiedliche Positionen zum oder eben sogar im Markt ein. Es ist längerfristiges distanziertes, den Markt eher passiv aufnehmendes Verhalten zu beobachten (siehe Abschnitt drei). Doch schon in diesem Fall muss der Staat nicht in seiner Empfänger-Lage verharren: Potente Schuldenmanagementtechnologie versetzt ihn in den Stand, mit den gegebenen Marktdaten relativ plausible Zukunftsentwürfe zu produzieren und rastlos zu revidieren. Und es gibt sehr deutliches unmittelbares Engagement im Markt, wie der Abschnitt zum Trading ausführte. Die eingangs unter dem Stichwort der skopischen Formatierung behandelte Informationspraxis kann demgegenüber als nichtunmittelbares Engagement im Markt bezeichnet werden, indem sie auf die Etablierung einer globalen kalendarischen Marktordnung (monatliche bis jährliche elektronische Veröffentlichungen) und dergestalt auf ein Wohlfunktionieren der Finanzmärkte weltweit abzielt.
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Bei diesem vielfältigen Handeln und Mithandeln von nationalen und transnationalen Schuldenexperten an und in Finanzmärkten geht Staatlichkeit, die sich verschiedentlich ausprägen kann, nicht verloren. Beispielsweise sprach der im Abschnitt zwei zu Wort kommende IWF-Vertreter seine Zuhörer, allesamt Vertreter nationaler Schuldenmanagementeinheiten, explizit als »Bürokraten« an, und propagierte gleichzeitig eine neue Rolle für diese Gruppe – nämlich als Berichterstatter gegenüber einer Weltöffentlichkeit zu fungieren. Auch im Trading bleiben Begriffe von Staatlichkeit präsent. Und gleichzeitig wurde anhand des diskutierten Fallbeispiels der separaten Schuldenmanagementbüros erkennbar, wie ambivalent diese argumentativ in Anschlag gebracht werden können. So werden die Konzepte der fiskalischen Verantwortung und des nicht-opportunistischen Dienstes am Allgemeinwohl offenbar von einigen Teilnehmern des Feldes dazu herangezogen, um Trading in Bezug auf nationale Schulden zu verurteilen – andere aber versuchen damit gerade, diese Form staatlichen Handelns zu rechtfertigen.
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Autorinnen und Autoren
Deutschmann, Christoph, Professor (em.) für Soziologie an der Universität Tübingen, Studium, Promotion (1975) und Habilitation (1987) an der Universität Frankfurt a.M.; Scholar in Residence am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln (2008-2009). Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Wirtschaftssoziologie. Aktuelle Publikationen: Limits to Financialization. Sociological Analyses of the Financial Crisis (Archives Européennes de Sociologie LII, 3 (2011): 347-389); Kapitalistische Dynamik – eine gesellschaftstheoretische Perspektive (Wiesbaden 2008); Der kollektive BuddenbrooksEffekt. Die Finanzmärkte und die Mittelschichten (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Working Paper 09/5). Diaz-Bone, Rainer, Studium der Sozialwissenschaften und der Soziologie in Bochum und Hannover. Promotion an der Universität Trier (2001), Habilitation an der FU Berlin (2008). Seit 2008 Professor für Soziologie an der Universität Luzern. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftssoziologie und soziologische Theorie, qualitative und quantitative Methoden. Aktuelle Publikationen: Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie (Frankfurt a.M. 2011); Diskurs und Ökonomie. Diskurstheoretische Perspektiven auf Märkte und Organisationen (hrsg. mit Gertraude Krell, Wiesbaden 2009). Märkte als soziale Strukturen (hrsg. mit Jens Beckert und Heiner Ganßmann; Frankfurt a.M. 2007). Grimpe, Barbara, Studium der Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder, Promotion in Soziologie in Konstanz (2010). Gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären Projekt »Vertrauen verstehen», Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Wissen, Ökonomie
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und Vertrauen in soziologischer und kulturanthropologischer Perspektive; Wissens-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Publikationen: Ökonomie sichtbar machen. Die Welt nationaler Schulden in Bildschirmgröße. Eine Ethnographie (Bielefeld 2010). Kalthoff, Herbert, Studium der Soziologie in Hannover, Bielefeld und Paris, Promotion (1995) und Habilitation (2003); Gastwissenschaftler an der London School of Economics (2003) und am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung (2007); seit 2008 Professor für Soziologie an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Finanzsoziologie, Praxis- und Artefakttheorien. Publikationen u.a.: Un/Doing Calculation. On Knowledge Practices of Risk Management (Distinktion. Scandinavian Journal of Social Theory 12 (2011): 3-21); Practices of Calculation (Theory, Culture & Society 22 [2005]: 69-97); Facts and figures. Economic representations and practices (Marburg 2000; hrsg. mit Richard Rottenburg und HansJürgen Wagener). Klus, Luise, Studium der Betriebswirtschafslehre in Lausanne, Poznan und Freiberg. M.A. in Public Management and Governance an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Publikation: Zwischen Gemeinnützigkeit und Marktgesetzen: Steuerung in Nonprofit-Organisationen (in: Birger Priddat (Hg.): Nonprofit-Wirtschaft. Marburg 2009). Promoviert an der Universität Mainz zur Soziologie des Portfoliomanagements. Knorr Cetina, Karin, Studium der Kulturanthropologie und Soziologie an der Universität Wien, 1972 Postdoc-Diplom in Soziologie, 1981 Habilitation, 1982-1983 Professorin für Sociology and Science in Society an der Wesleyan University, 1983-2001 Professorin für Soziologie an der Universität Bielefeld, 2001-2010 Professorin für Soziologie an der Universität Konstanz, seit 2004 Visiting Professorin am Department of Sociology, University of Chicago, 2005 Ehrendoktorwürde der Universität Luzern. Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts- und Finanzsoziologie, Mikroglobalisierung und Weltgesellschaft, Epistemische Kulturen und Postsozialität. Wichtige Publikationen: The Manufacture of Knowledge (Oxford 1981, dtsch. Fassung 1984); Epistemic Cultures (Cambridge MA, 3. Auflage 2003; dtsch. Fassung 2002); Global Microstructures (American Journal of Sociology 107 (2002): 905-950; mit Urs Brügger).
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Langenohl, Andreas, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Allgemeiner Gesellschaftsvergleich an der Justus-Liebig-Universität Gießen (seit 2010). Zuvor Leiter der Nachwuchsgruppe »Idiome der Gesellschaftsanalyse« am Cluster EXC16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz (2007-2010) sowie Leiter des Teilprojekts »Erinnerung an der Börse« im Gießener SFB 434 »Erinnerungskulturen« (2003-2008). Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsund Finanzsoziologie, Prozesse transnationaler Zirkulation, Epistemologie der Sozialwissenschaften. Publikationen u.a.: Sinnformen an Finanzmärkten (Themenschwerpunkt des Berliner Journal für Soziologie 2011, H. 4; mit Dietmar Wetzel); Kulturalisierung (Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Kulturphilosophie 2011, H. 2; mit Bernhard Kleeberg). Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft (Stuttgart 2007). Laube, Stefan, Studium der Soziologie an der Universität Graz (19992005), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz (2006-2010), promoviert dort mit einer ethnographischen Studie zur »Praxis von Wissensarbeit im Finanzhandel«. Derzeit Stipendiat am Institut für Höhere Studien, Wien. Publikationen: Der Markt als Lebewesen. Zugeschriebene Handlungsträgerschaft als Bearbeitung von Ungewissheit und Informationsarmut in Finanzmärkten (in: Klaus Kraemer und Sebastian Nessel (Hg.): Entfesselte Finanzmärkte. Frankfurt a.M. 2012); Barrieren, Brücken und Balancen: Gefühlsarbeit in der Altenpflege und im Call-Center. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 2 [2008]: 19-42 (mit M. Egger de Campo). Maesse, Jens, Studium der Philosophie und Soziologie in Magdeburg und York, Promotion in Magdeburg (2009). Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und dort seit 2011 Leiter des durch die Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojektes Financial expert discourse (Fed). Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts-, Bildungs- und Wirtschaftssoziologie, Diskursanalyse, Globalisierungsforschung, Poststrukturalismus. Publikationen: Die vielen Stimmen des Bologna-Prozesses. Zur diskursiven Logik eines bildungspolitischen Programms (Bielefeld 2010); Ökonomie, Diskurs, Regierung. Interdisziplinäre Perspektiven (Wiesbaden, 2012).
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Neckel, Sighard, Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. (seit 2011); Promotion (1990) und Habilitation (1996) an der FU Berlin; Professuren für Soziologie an den Universitäten Siegen (1997-2000), Wuppertal (2000-2001), Gießen (2001-2007) und Wien (2007-2011). Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Ökonomischen, Symbolische Ordnungen sozialer Ungleichheit, Emotionssoziologie, Kulturforschung, Gesellschaftstheorie. Publikationen u.a.: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt (Berlin 2010; gemeinsam mit Claudia Honegger und Chantal Magnin); Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft (Frankfurt a.M. 2008); Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit (Frankfurt a.M. 1991). Reichert, Ramon, Studium der Philosophie und der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien, Berlin und London; Promotion in Wien (2001), Habilitation in Linz (2008). Seit 2009 Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. 2008/09 Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Forschungsschwerpunkte: Technologien und Medien der Finanzmärkte, Epistemologie, Digitale Ästhetik, Soziale Medien und Visuelle Politik. Publikationen: Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens (Bielefeld 2007); Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechniken im Web 2.0 (Bielefeld 2008); Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes (Bielefeld 2009). Vollmer, Hendrik, Studium der Soziologie und der Science and Technology Studies in Bielefeld und Edinburgh. Promotion (2002) und Habilitation (2011) in Bielefeld, dort gegenwärtig Akademischer Oberrat auf Zeit an der Fakultät für Soziologie. Seit 2008 Redakteur und Geschäftsführer der Zeitschrift für Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Organisationssoziologie, Mikrosoziologie, Wirtschaftssoziologie, Spieltheorie, Accounting. Publikationen: Punctuated Cooperation. The Sociology of Disruption, Disaster and Social Change (Cambridge 2012); How to Do more with Numbers (Accounting, Organizations and Society 32 [2007]: 577-600); Folgen und Funktionen organisierten Rechnens (Zeitschrift für Soziologie 33 [2004]: 450-470).
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Vormbusch, Uwe, Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Bochum) und Soziologie (Frankfurt a.M.); Promotion in Frankfurt a.M. (2004), Habilitation in Jena (2009); Gastwissenschaftler an der London School of Economics (2009). Gegenwärtig Vertretungsprofessor für Soziologische Gegenwartsdiagnosen an der FernUniversität Hagen. Forschungsschwerpunkte: Arbeits-,Wirtschafts- und Finanzsoziologie, Soziologie der Kalkulation. Publikationen: Die Herrschaft der Zahlen. Zur Kalkulation des Sozialen in der kapitalistischen Moderne (Frankfurt a.M. 2012); Karrierepolitik. Zum biografischen Umgang mit ökonomischer Unsicherheit“ (Zeitschrift für Soziologie 38 [2009]: 282-299); Accounting. Die Macht der Zahlen im gegenwärtigen Kapitalismus (Berliner Journal für Soziologie 14 [2004]: 33–50). Wansleben, Leon, Studium der Philosophie (Witten/Herdecke) und Soziologie (London School of Economics), Promotion in Konstanz (2011). Seit 2011 Forschungsmitarbeiter im Forschungsverbund eikones (Universitäten Basel und Luzern) und dort Forschung zum Thema visuelle Semantiken und ihre Bedeutung für Finanzmärkte. Publikationen: Financial Analysts (in: Karin Knorr Cetina und Alex Preda (Hg.): Handbook of the Sociology of Finance, Oxford 2012); Wie wird bewertbar, ob ein Staat zu viele Schulden hat? Finanzexperten und ihr Bewertungswissen in der griechischen Schuldenkrise (Berliner Journal für Soziologie 21 [2011]: 495–519).
Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus November 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7
Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Oktober 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3
Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze März 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5
Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung Februar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8
Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Oktober 2012, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5
Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme Mai 2012, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4
Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hg.) Diskurs und Hegemonie Gesellschaftskritische Perspektiven Oktober 2012, ca. 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1928-7
Michael Heinlein, Katharina Sessler (Hg.) Die vergnügte Gesellschaft Ernsthafte Perspektiven auf modernes Amüsement September 2012, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2101-3
Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart Oktober 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6
Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0
Sven Lewandowski Die Pornographie der Gesellschaft Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens Juni 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2134-1
Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3
Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft Oktober 2012, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6
Birgit Riegraf, Dierk Spreen, Sabine Mehlmann (Hg.) Medien – Körper – Geschlecht Diskursivierungen von Materialität Juli 2012, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2084-9
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